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German Pages 267 [272] Year 1965
MANFRED
BRELAGE
STUDIEN ZUR TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE
WALTER
DE
G R U Y T E R
&
CO.
/
B E R L I N
VORMALS G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G · J . G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG · G E O R G REIMER · KARL J. T R Ü B N E R · VEIT & COMP.
1965
G E D R U C K T MIT U N T E R S T Ü T Z U N G DER DEUTSCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT U N D DER ERNST-REUTER-GESELLSCHAFT
Mit einem Geleitwort von Michael Landmann Herausgegeben von Aenne Brelage
Ο Archiv-Nr. 36 38 651 1965 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer - Karl J Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30
GELEITWORT von Michael Landmann Schon durch seinen ersten Lehrer Hans Wagner wurde Manfred Brelage für eine erkenntniskritische, geltungstheoretische Reflexionsphilosophie gewonnen und zugleich auf den Neukantianismus — Wagner ist der Herausgeber des Nachlasses von Richard Hönigswald — hingelenkt. Für die ältere Generation war nicht nur der Transzendentalismus, sondern die Erkenntnistheorie überhaupt zurückgetreten gegen die phänomenologische Methode, gegen die neuen Disziplinen Ontologie und Anthropologie. Es war das Bestreben der Philosophie der 20er Jahre, hinter die gesetzt-konstituierte Gegenständlichkeit zum Sein vorzudringen und audi nach dem Menschen als realem Geist und Dasein und nicht mehr nur insofern zu fragen, als er bedingendes Subjekt der Erkenntnis ist. Allein Brelages Studium fiel in eine Zeit des Traditionsbruchs und der Skepsis. Nur durch ein Denken, das ohne Prätentionen bei den ersten Voraussetzungen einsetzt und eine »Letztbegründung« zu leisten verspricht, schien es möglich, zu neuen Sicherheiten zu gelangen. Brelage, der starke Neigungen zur Orientalistik hatte, entschied sich für die Philosophie, weil er sich in jener Nachkriegssituation verpflichtet fühlte, die fundamentalen Fragen von vorn zu durchdenken. Dazu trat ein weiteres Motiv. Brelage hat es oft ausgesprochen, daß die bisherige philosophische Gegenwart sich heute anschickt, historisch zu werden. Sie hat nicht mehr die Naivität des Glaubens an sich selbst. In diesem Augenblick wird deutlich, daß die Argumente, mit denen sie seinerzeit gegen die neukantische Erkenntnistheorie polemisiert hatte, mehr Ausdruck und Rechtfertigung ihres eigenen Wollens waren, als daß sie den Neukantianismus in seinem Kern trafen. Deshalb stellt sich für uns, nachdem die ehemaligen Kämpfe abgeklungen sind, die Aufgabe, das unverlierbar Berechtigte am Neukantianismus wiederzuentdecken, zu verteidigen und weiterzuführen. Brelages zweiter philosophischer Lehrer war Heinz Heimsoeth. Durch ihn öffnete sich für Brelage der Raum d'er Philosophiegeschichte, die Heimsoeth, wiewohl er seinerzeit noch vom Marburger Neukantianismus ausgegangen war, als erster wieder als Metaphysikgesdiidite betrieb. Durch Heimsoeth wurde Brelage audi mit Nicolai Hartmann vertraut, zu dem er als einer der wenigen unentwegt gestanden hat. Es ist diese doppelte philosophische Provenienz, durch die Brelage zum Systematiker am Leitfaden des Historischen wurde und für die er die
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Synthese fand in seiner Dissertation »Fundamentalanalyse und Regionalanalyse«. In ihr sucht er den Marburger Neukantianismus, für den er Paul Natorp als repräsentativ wählt, und Nicolai Hartmann, der sich selbst als Antipode des Neukantianismus empfand und von diesem als Apostat betrachtet wurde, sich in Wahrheit ergänzen zu lassen und ihnen so beiden gerecht zu werden. Während man Hartmanns Ontologie gern als eine Weiterbildung der objektivistischen Phänomenologie begreift, gelang Brelage, der zu diesem Zweck sogar Referate heranzog, die der junge Hartmann noch in Natorps Seminar gehalten hat, die Herleitung von Hartmanns Kategorienlehre aus derjenigen seiner Marburger Lehrer. Diese Auffassung Hartmanns erwies sich als so überzeugend, daß wenig später Landgrebe in seiner Darstellung der »Philosophie der Gegenwart« sie sich zu eigen machte. Während freilich die Marburger die Kategorien als die Möglichkeitsbedingungen der Wissenschaft durch die Methode der Hypothesis aus dem reinen Denken gewinnen wollten, will Hartmann sie aus dem Seienden herausheben und als Gegebenheiten beschreiben. Die These der Dissertation ist nun die, daß die Neukantianer für die Fundamentalkategorien recht haben, die allein erfahrungsvorgängig gewinnbar sind, während Hartmann für die hier im Anschluß an das Husserlsche Programm sogenannten Regionalkategorien recht behält, deren Apriori sich am Empirischen bewähren muß und deren Erkenntnis darum auch vom Prozeß der Einzelwissenschaften abhängig ist. Die zweite größere Arbeit, die zu vollenden Brelage noch vergönnt war, ist seine Habilitationsschrift »Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität«. Wieder behandelt er auch hier den Kritizismus und Nicolai Hartmann. Dazu treten aber einmal noch Husserl und Hönigswald. Von beiden Denkern sind in den Jahren nach dem Kriege bis heute mehrere Nachlaßwerke erschienen. Schon allein dadurch, daß Brelage diese Nachlaßwerke berücksichtigen kann, geht seine Arbeit über die bisherige Literatur hinaus. Sodann wird mit Heidegger auch die Existenzphilosophie einbezogen, während zwei ursprünglich geplante Kapitel über Scheler und Plessner in der endgültigen Fassung nicht zur Ausführung kamen. Bei allen diesen Denkern geht Brelage der Frage nach, in welcher Dimension sie vom zunächst und zumeist Bekannten, dem welthaft Gegenständlichen, auf das erkennende Subjekt, durch das allein es uns vermittelt wird, zurückgehen. Brelages liebevollstes und eingehendstes Verständnis gilt dabei dem Kritizismus in seinen verschiedenen Spielarten. Die Voraussetzungen, auf denen die Wissenschaft beruht, deren Loslösung von der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Philosophie selbst eine neue Selbstbegreifung aufnötigt, können weder im gegebenen Seienden selbst liegen, das bereits von den vorausliegenden nichtgegebenen Grundgestalten unseres Bewußtseins bedingt ist, noch in einem psychologisch oder metaphysisch begriffenen Subjekt, da das, was den Grund aller IV
Seinserkenntnis bilden soll, nicht selbst ein Seiendes unter anderem Seienden sein kann. Der Kritizismus verlegt das Fundament der Erkenntnis ins reine Denken, das angeblich keinen Ursprung außer sich selbst hat. Die objektive Gültigkeit des Gedachten wird nur gesichert durch autonom-unableitbare transzendentale Logik. Deshalb ist es töricht, die Metaphysikfremdheit des Kritizismus zu rügen. Seine Zielsetzung selbst ist es, die Metaphysik ausschließt. Und ebensowenig trifft ihn der Vorwurf der Gegner, er erfasse nicht das Erkennen in seinem ganzen Umfang und sein Erkenntnissubjekt sei kein wahrhaftes Ich: denn das Ich hat er gar nicht gesucht, sondern nur den Inbegriff der Prinzipien, die unsern wissenschaftlichen Urteilen Allgemeingültigkeit verleihen, »die Subjektivität, welche die Objektivität korrelativ begründet«. Im Aufweis dieses transzendentalen Prinzipienichs liegt nach Brelage das bleibende Recht des Kritizismus. Bei Husserl erscheint die erkennende Subjektivität durch Pluralität und Zeitlichkeit welthaft verdichtet. Urquell des Rechts unserer Erkenntnis sind für ihn nicht Kategorien oder Grundsätze, sondern die noetischen Akte. Während der Kritizismus die Wissenschaft als Faktum hinnimmt und nur fundieren will, will Husserl, indem er die von der Wissenschaft in Vergessenheit belassenen impliziten Konstitutionsleistungen des Bewußtseins aufdeckt, die Wissenschaft als ganze durch phänomenologische Philosophie erst zu sich selbst kommen lassen. So wird von Brelage die Diskussion zwischen der Phänomenologie und dem Kritizismus, die zu früh und zum Teil nur aus äußeren Gründen unterbrochen wurde, wieder aufgenommen. Wohl als erster bestimmt Brelage die Stellung, die in der Philosophie der Gegenwart Hönigswald einnimmt, in dessen Monadologie der bisher unaufgelöste Dualismus zwischen menschlich-psychischer und transzendentaler Subjektivität, zwischen dem Denken als Seiendem und als Prinzip ausgeglichen erscheint, da der Begriff der Wahrheit auch ontologische Voraussetzungen fordert. Innerhalb der Erkenntnistheorie Nicolai Hartmanns unterscheidet Brelage, viel sorgfältiger als man das bisher tat, vier Phasen. Indem er auch den impliziten erkenntnistheoretischen Gehalt im »Problem des geistigen Seins« von 1933 herauslöst, gelingt es ihm, Hartmanns Erkenntnistheorie vielschichtiger darzustellen, als Hartmann selbst es getan hat, wobei er auch die seinerzeit von Cassirer geübte Kritik wieder aufnimmt. Mag bei Hartmann auch das Subjekt-Objekt-Verhältnis in ein ursprünglicheres Seinsverhältnis eingebunden und von ihm getragen sein, so bildet nach Brelage doch auch bei Hartmann das Subjekt nicht nur ein Glied der realen Welt, sondern enthält ein welthaft Unreduzierbares. Endlich erweist sich Heideggers Kritik an der Erkenntnistheorie als mitmotiviert durch Emil Lask und durch die Begegnung mit dem Marburger Kollegen Hartmann. Wenn die Fundamentalontologie die Seinsverfassung des Daseins herausstellt, so nicht in psychologischer oder anthropologischer Absicht, sondern nur V
deshalb, weil das Dasein in seinem schon natürlichen Seinsverstehen die Stätte ist, an der Sein überhaupt offenbar wird und für die es Sinn gewinnt. Die Existentialien sind audi Transzendentalien, sind Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Sein kann nicht aus Seiendem erklärt werden. So lebt selbst bei Heidegger, so sehr er zu denen gehört, die das von Haus aus weltlose Subjekt der älteren Erkenntnistheorie preisgegeben haben, doch ihr Problemansatz als solcher noch weiter. Indem Heidegger den transzendierenden Entwurf des Horizontes der Welt der bloß ontischen Intentionalität zum Seienden hin als Bedingung ihrer Möglichkeit vorhergehen läßt, steht er dem Kritizismus ebenso nah wie seinem Lehrer Husserl. Jeder Denker wird so für Brelage, der im Historischen nur das Philosophische sucht, repräsentativ für eine typische Position. So sehr es auch seine letzte Triebfeder ist, das unverlierbare Recht des Kritizismus nachzuweisen, so spielt er ihn doch nicht abwertend gegen die andern Philosophien aus. Die erkenntnistheoretische Subjektsproblematik ist mehrdimensional, in jeder uns vorliegenden Philosophie aber kommt nur eine einzige Dimension zur Sprache. Daher will Brelage die verschiedenen Philosophien zueinander Stellung beziehen lassen und in ein wechselseitiges Gespräch ziehen. Sie von seinem eigenen Ansatz aus weiter denkend, weist er jeder ihre Stelle und ihre Funktion zu und baut so aus ihnen ein höheres Gefüge auf, das sich erst dem später Gekommenen erschließt. Durch diese Methode werden Bezogenheiten der Philosophien untereinander sichtbar, die in ihrer literarischen Gestalt nicht manifest geworden und darum audi bisher nicht beachtet worden sind. »Daß sich die behandelten Philosophien zu einem System zusammenschließen ließen, ist allerdings«, so sagt Brelage selbst, »ausgeschlossen, da jede von ihnen die ganze Philosophie zu sein beansprucht.« Wohl dagegen hält er die unterschiedlichen Denkansätze, gerade deswegen, weil jeder von ihnen wieder in anderer Richtung greift, für miteinander verträglich. Jede Philosophie läßt nicht nur neue Probleme hervortreten, sondern auch alte in Vergessenheit geraten. Daher gilt es immer wieder, das zu Unrecht Abgetane neu aufzunehmen und so die volle Problemweite der Philosophie aus ihrer Geschichte zurückgewinnen. Brelage behandelt diese Probleme auch in seinem Vortrag »Die Geschichtlichkeit der Philosophie und die Philosophiegeschichte«, der eine Reflexion auf die eigene Arbeitsweise, auf die Verbindung von systematischem mit historischem Bemühen darstellt und so Brelages Position und Art nochmals in besonderer Weise profiliert. Die Auffassung des Wahrheitsanspruchs der Philosophie und die Auffassung ihrer geschichtlichen Verlaufsform, so führt er hier aus, gehen immer zusammen. Bei Nicolai Hartmann wird die Philosophiegeschichte noch nach Analogie der Wissenschaftsgeschichte aufgefaßt. Alle Philosophien arbeiten an denselben Problemen, die im Laufe der Jahrtausende durch successiven Fortschritt, VI
durch Accumulation und Verfeinerung der Erkenntnisse, der Lösung zugeführt werden. Demgegenüber ist etwa bei Dilthey die Philosophie nicht "Wissenschaft, sondern Ausdruck einer Weltanschauung, mit der wir leben, oder, bei Späteren, ein Akt der Existenz, Stellungnahme zum Ganzen des Seins und zum eigenen Dasein. Die Philosophiegeschichte bildet kein Kontinuum mehr, sondern eine inkohärente Folge monadisch atheoretischer Entscheidungen. So wird die Philosophie zu einem nur noch Geschichtlichen, geht in ihrer eigenen Geschichtlichkeit unter. Einheit der Philosophie besteht nur in der Einheit einer Uberlieferung, in der frühere Philosophie wiederholend angeeignet wird. Brelages dritter Weg angesichts dieser Kontroverse ist nun der, daß er für die Philosophie als letztbegründende und sich selbst begründende Erkenntnis einen eigenen Typus der Wahrheit annimmt, der sich von der Wahrheit der Wissenschaft unterscheidet, ohne daß man ihn deswegen irrationalistisch deuten müßte. Die Vielheit der Philosophien folgt aus dem Wesen der Philosophie selbst. Sie bilden weder eine Linie, die sich dem gemeinsamen Resultat annähert, noch in ihrer Unvereinbarkeit einen Skandal, der den Anspruch jeder Philosophie auf Gültigkeit Lügen straft. Antwort auf philosophische Fragen kann immer nur hier und jetzt im Wagnis eines geschlossen-abschlußhaften Entwurfs erfolgen. Die Systeme entspringen nicht, wie Hartmann will, bloß spekulativer Vorwegnahme, sondern alle Philosophie muß ihrer Natur nach die Form des Systems tragen, weil in ihr immer ein Einzelner auf das Grundsätzliche zielt. Aber jeder Entwurf fordert in seiner Endlichkeit zugleich den Bezug auch auf die andern Entwürfe, die er teils aufnimmt, teils revidiert und die neben ihm in einer ewigen Gegenwart erhalten und gerettet bleiben. Alle Entwürfe stehen in ihrer notwendigen Pluralität untereinander in Konkurrenz und stellen sich gegenseitig in Frage. Wie der Historiker Systematiker, so muß daher der Systematiker Historiker sein. Brelage hatte bereits eine erstaunlich hohe Zahl begabter Schüler um sich gruppiert. Seine starke pädagogische Wirkung beruhte nicht nur auf der Feinheit und Zucht seines Denkens, sondern auch auf der menschlichen Noblesse, Fairness und Verläßlichkeit, die von ihm ausgingen und die bei allen, die ihm begegneten, spontan Achtung und Sympathie auslösten. Im Gespräch, dem er nie auswich, vermochte er in einer Weise zuzuhören, daß der Fragende sich verstanden wußte, und nur in der Erörterung der vorgebrachten Bedenken suchte er zu überzeugen. Zu den unausgeführten Plänen Brelages gehörte in Weiterführung seiner bisherigen Arbeiten eine Geschichte der Kantinterpretation und -rezeption in Deutschland, eine Geschichte des Neukantianismus und eine Geschichte der Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert. Den im Husserlarchiv in Löwen liegenden Briefwechsel zwischen Husserl und Natorp hatte er sich schon photokopieren lassen, wollte ihn herausgeben und die Bezie-
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hung der beiden darstellen. Mehr systematische Pläne aus diesem Bereich waren Abhandlungen »Zum Problem des philosophischen Systems«, »Der Selbstaufbau des Geistes« und »Die Gliederung der Welt und des Denkens«. Brelages Neigungen, der in seinen Mußestunden aquarellierte, galten aber auch der Ästhetik. Eine »Geschichte der deutschen Ästhetik von Baumgarten bis Hegel«, eine »Philosophie der Kunst und der Künste« sowie Aufsätze über »Die Hieroglyphe in der Sprach- und Kunstphilosophie«, über die »Sonderstellung der Dichtung im Reich der Künste«, über »Denken und Dichten« und über »Marx und die Ästhetik des deutschen Idealismus« schwebten ihm vor. All diese Pläne, für die kein anderer so leicht einspringen wird und mit denen er empfindliche Lücken der Forschung gefüllt hätte, sinken mit ihm ins unerbittliche Grab.
VORWORT Der vorliegende Band enthält das Werk, das Manfred Brelage hinterlassen hat. Erste Erwägungen sahen vor, die Habilitationsschrift »Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert« gesondert zu verlegen. Für den Druck hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg, schon zu Lebzeiten des Verfassers ihre Unterstützung zugesagt. Manfred Brelage hatte beabsichtigt, die Aufsätze »Schillers Kritik an der Kantischen Ethik«, »Recht und Grenzen der Typologien«, »Uber das Begründungsproblem in Philosophie und Wissenschaft« und »Zur gegenwärtigen Kritik an der Erkenntnistheorie« weiter auszuarbeiten und sie in einem größeren Rahmen der Öffentlichkeit vorzulegen. Sein plötzlicher Tod setzte seinen Plänen ein Ende. So enthält dieser Band neben der Habilitationsschrift die obengenannten Aufsätze, die noch nicht veröffentlicht waren, und die hier wieder unverändert abgedruckte Schrift »Die Geschichtlichkeit der Philosophie und die Philosophiegeschichte«. Für das freundliche Entgegenkommen des Verlages Anton Hain, Meisenheim/ Glan, die Arbeit hier aufnehmen zu dürfen, danke ich an dieser Stelle herzlich. Bis auf den Aufsatz »Recht und Grenzen der Typologien« werden die noch nicht veröffentlichten Arbeiten nicht in der ursprünglichen Gestalt wiedergegeben: Ergänzungen und Randbemerkungen des Verfassers wurden an den entsprechenden Stellen wörtlich aufgenommen und eingearbeitet. In der Habilitationsschrift war nur »Der Kritizismus«, und zwar vor allem das Kapitel der »Geltungslogik«, vom Verfasser überarbeitet worden.
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Mein ganz besonderer Dank gebührt den Ordinarien für Philosophie an der Freien Universität Berlin, Herrn Professor Michael Landmann, der dem vorliegenden Werk ein persönliches Geleitwort gab, und Herrn Professor Dieter Henrich (jetzt Heidelberg), der mir bei allen entscheidenden Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand. Ferner danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg, und der Ernst-Reuter-Gesellschaft, Berlin, für ihr Sachinteresse und ihre finanzielle Beteiligung. Herrn cand. phil. Wolfgang Schräder bin ich zu Dank verpflichtet für die Mitarbeit bei der Zusammenstellung des Registers und für das Mitlesen der Korrektur. Nicht zuletzt möchte ich Herrn Dr. Wenzel und dem Verlag Walter de Gruyter & Co. danken für das Interesse und die Sorgfalt, die sie dem Buch entgegenbrachten. Ich möchte wünschen, daß der Leser von der persönlichen Fragestellung, die hinter dem Werk Manfred Brelages steht, angerührt wird. Berlin, Ostern 1965
AENNE BRELAGE
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INHALTSÜBERSICHT
Seite Geleitwort Vorwort
von Michael L a n d m a n n
v o n A e n n e Brelage
III VIII
I. Studien z u r Transzendentalphilosophie 1. D i e Geschichtlichkeit der Philosophie u n d die Philosophiegeschichte . . . .
1
2. Z u r gegenwärtigen K r i t i k an der E r k e n n t n i s t h e o r i e
31
3. Ü b e r d a s Begründungsproblem in Philosophie und Wisssenschaft
45
4. Recht und G r e n z e n der Typologien
63
E i n Beitrag z u m Verhältnis v o n Philosophie u n d Geisteswissenschaften I I . T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e und konkrete S u b j e k t i v i t ä t Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. J a h r h u n d e r t . . . .
72
(Besonderes Inhaltsverzeichnis Seite X I , Literaturverzeichnis Seite 245) I I I . Schillers K r i t i k an der Kantischen E t h i k
230
Schriftennachweis
254
Namenregister
255
Transzendentalphilosophie
und
konkrete
Subjektivität
Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert
Inhaltsverzeichnis
zu
II. Seite
Einleitung I. Der Kritizismus
72 80
1. Die Geltungslogik
81
2. Der kritizistische Subjektsbegriff
94
I I . Die transzendentale Phänomenologie
104
1. Die Idee einer transzendentalphänomenologischen Erkenntnisbegründung
105
2. Die phänomenologische Theorie des reinen und transzendentalen Bewußtseins
115
3. Transzendental-phänomenologische und transzendental-logische Erkenntnisbegründung
119
I I I . Erkenntnistheorie und Denkpsychologie
126
1. Die Theorie der Gegenständlichkeit
130
2. Die Monadologie
140
3. IV.
Die Monadologie in ihrem Verhältnis zur Geltungstheorie und transzendentalen Phänomenologie
149
Gnoseologie und Ontologie
157
1. D i e Metaphysik der Erkenntnis
164
2. Das Subjekt der Erkenntnis als realer Geist
174
3. Konfrontationen
179
V. Ontologie und Analytik des Daseins
188
1. Die Seinsfrage und die Erkenntnis
198
2. Die Transzendenz des Daseins und die Ciszendenz des Seins
206
3. Transzendentalphilosophien und Ontologien
212
Literaturverzeichnis
24$
XI
I. S T U D I E N Z U R T R A N S Z E N D E N T A L P H I L O S O P H I E 1. DIE GESCHICHTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE UND DIE PHILOSOPHIEGESCHICHTE
Veritas temporis filia Aulus Gellius Die Frage nach der Geschichtlichkeit gilt heute vielfach als das philosophische Thema schlechthin. »Geschichtlichkeit« ist das Grundwort der Epoche, in der oder an deren Rande wir stehen, so wie andere Epochen sich von dem Gedanken an Fortschritt oder Entwicklung, an Vernunft oder Natur faszinieren ließen. Von nichts ist das Zeitalter zwischen den beiden Weltkriegen so tief überzeugt gewesen wie von der radikalen, das gesamte menschliche Dasein ergreifenden Geschichtlichkeit, — und diese Grundüberzeugung bestimmt auch noch das eigentliche philosophische Modewort dieser Epoche, »Existenz«, und gibt ihm seine spezifische Färbung. Das alles deutet aber darauf hin, daß die philosophische Problematik der Geschichtlichkeit selbst ihre Geschichte hat. Mit einem Teil der Geschichte dieser Problematik, und zwar unter dem besonderen Aspekt der Geschichtlichkeit der Philosophie selbst, wollen wir uns heute beschäftigen. Wir verstehen dabei unter der Geschichtlichkeit der Philosophie die Art und Weise, wie die Philosophie als eine jeweils gegenwärtige in der Geschichte ist. Und wir verstehen unter der Philosophiegeschichte die eigentümlich strukturierte Vergangenheit der Philosophie, die sie auf Grund ihrer spezifischen Geschichtlichkeit hat. Wir werden sehen, wie die beiden Auffassungen von der Geschichtlichkeit der Philosophie und der Struktur der Philosophiegeschichte, die sich in unserem Jahrhundert ablösen, von zwei grundsätzlich verschiedenen Begriffen der Philosophie selbst getragen werden. Vorblickend können wir diese beiden Grundtypen so charakterisieren: 1. Wo die Philosophie als Wissenschaft angesetzt wird, wird auch ihre Geschichtlichkeit gedadit als die wissenschaftlicher »Forschung«; die Philosophiegeschichte zeigt demgemäß die Struktur eines kontinuierlichen Progresses. 2. Wo die Philosophie als Ausdruck einer Weltanschauung oder als Akt der Existenz verstanden wird, erhält ihre Geschichtlichkeit den Cha1
Brelage
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rakter einer atheoretischen »Entscheidung«; die Philosophiegeschichte erscheint als diskontinuierliche Folge philosophischer Entwürfe. In beiden Fällen ist also je eine Auffassung von der spezifischen Gegenständlichkeit der Philosophie, von ihrem eigentümlichen Wahrheitsanspruch, kombiniert mit einer Ansicht von ihrer spezifischen geschichtlichen Verlaufsform. Für den ersten Grundtypus spricht der theoretische Wahrheitsanspruch jeder Philosophie (und zwar auch der Weltanschauungs- oder der Existenzphilosophie selbst). Für den zweiten Grundtypus sprechen das Bewußtsein der Unterschiedenheit der Philosophie von allen Fach- oder Einzelwissenschaften und die geschichtlichen Tatsachen. Unsere Rede von zwei »Grundtypen« will dabei nicht mehr besagen, als daß diese beiden Formen für die jeweilige Epoche zeittypisch sind. Wir verhärten nicht die beiden sich ablösenden Positionen zu zeitlosen und irreduziblen Gegensätzen, zwischen denen nur eine theoretisch nicht legitimierbare Entscheidung getroffen werden könnte. Nichts ist in der Philosophie so verfänglich wie das Denken in Alternativen oder sich ausschließenden Gegensätzen. Wir werden daher zunächst die beiden Positionen in ihre charakteristischen Momente entfalten, um uns abschließend zu fragen, ob sich der theoretische Wahrheitsanspruch der Philosophie, d. h. der Anspruch aller ihrer Behauptungen auf prinzipiell uneingeschränkte Allgemeingültigkeit, und die auf ihre spezifische Geschichtlichkeit gegründete Diskontinuität ihrer geschichtlichen Entfaltung notwendig ausschließen, wie es in beiden Grundtypen stillschweigend vorausgesetzt wird. I Die erste Phase der Entwicklung, die wir in Betracht ziehen wollen, ist gekennzeichnet durch die Konzeption der Philosophiehistorie als einer »Problemgeschichte«. Sie fand ihre Ausbildung um die Jahrhundertwende innerhalb des Neukantianismus und steht auch heute noch überall dort in Ansehen, wo an der theoretischen Verbindlichkeit der Philosophie festgehalten wird. Primär ist diese Theorie eine Wissenschaftstheorie der Philosophiehistorie, deren zentrales Anliegen es ist, den philosophischen Charakter und die philosophische Bedeutung der Philosophiehistorie zu erweisen. In ihr kommt aber auch eine ganz bestimmte Philosophie der Philosophiegeschichte selbst zum Ausdruck. Da sich dem Neukantianismus die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie und der Struktur der Philosophiegeschichte nur in der Gestalt einer philosophischen Grundlegung der Philosophiehistorie stellt, müssen wir uns an diese Theorie der »Problemgeschichte« halten, wenn wir wissen wollen, wie unsere Thematik in der ersten von uns zu berücksichtigenden Phase der Entwicklung in den Blick kommt. Der Begriff der »Problemgeschichte« — von Wilhelm Windelband 2
geprägt und von fast allen neukantianischen Denkern unseres Jahrhunderts vertreten1 — hat diejenige spezifische Ausprägung, auf die wir hier vor allem rekurrieren wollen, innerhalb der »Marburger Schule« gefunden. Die Praxis reicht dabei weiter zurück als die theoretische Fundierung, wenn wir von Hegel und der Philosophiegeschichtsschreibung der Hegelianer im 19. Jahrhundert, der audi Windelband (als Schüler Kuno Fischers) verpflichtet war2, einmal absehen. Innerhalb der Marburger Schule verweist ihr Begründer Hermann Cohen die Philosophie auf ihre Geschichte, die es im Interesse der philosophischen Forschung anzueignen und auszuwerten gelte, und eröffnet selbst mit seinen drei Kant-Büchern3 die Reihe der problemgeschichtlichen Darstellungen, von denen die bekannteste vielleicht Ernst Cassirers vierbändige Geschichte des Erkenntnisproblems1 ist, während den meisten Widerstand Paul Natorps PlatonBuch5 geweckt haben dürfte. Für die Begründung der Problemgeschichte orientieren wir uns hier vor allem an Nicolai Hartmann, dessen 1910 in den Kantstudien erschienener Aufsatz »Zur Methode der Philosophiegeschichte« eine besonders klare Formulierung des Programms der Problemgeschichte enthält". Dieser Aufsatz bildet auch die Zielscheibe für die etwa zehn Jahre später einsetzenden Auseinandersetzungen mit der Problemgeschichte, auf die wir im Anschluß zu sprechen kommen werden. Hartmann hat das Thema 1936 in der bekannten AkademieAbhandlung »Der philosophische Gedanke und seine Geschichte« einer erneuten Bearbeitung unterzogen, die die Grundlagen der Idee der Pro1
Vgl. W. Windelband, Geschichte der Philosophie. In: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift f. Kuno Fischer, Bd. II, 1905, S. 175 ff. — Auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen neukantianischen Denkern können wir hier nicht eingehen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß sich Heinrich Rickert etwa seit 1910 in zunehmendem Maße von der Idee der »Problemgesdiichte« distanziert hat, indem er — in der Wiederaufnahme wesentlicher Motive des deutschen Idealismus — die Untersdiiedenheit von Philosophie und Einzelwissenschaft, ihrem Begriff wie auch ihrem geschichtlichen Entfaltungstypus nach, hervorhob. Vgl. Vom Begriff der Philosophie, Logos I, 1910/11, S. 1 ff.; Vom System der Werte, Logos IV, 1913, S. 295 if.; System der Philosophie I, 1921, l . K a p . ; Geschichte und System der Philosophie, Archiv f. Gesch. d. Philos. XL, 1931, S. 7 ff. und 403 ff.
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Vgl. H . Rickert, Das .Lehrbuch der Geschichte der Philosophie' von W. Windelband, Die pädagogische Hochschule III, 1931, S. 89 ff. Kants Theorie der Erfahrung, 1871; Kants Begründung der Ethik, 1877; Kants Begründung der Ästhetik, 1889. Als Vorläufer darf audi die »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart«, 2 Bde., 1866, von Friedrich Albert Lange, Cohens Vorgänger auf dem Lehrstuhl in Marburg, gelten. Das Erkenntnisproblem in der Philos. und Wissenschaft der neueren Zeit, 4 Bde., 1906 ff. Piatos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. 1903. Vgl. auch seine »Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum«, 1884. Kant-Studien XV, 1910, S. 459 ff., abgedruckt in: Kleinere Schriften, Bd. III, 1958, S. 1 if. Seitenzahlen im Text mit vorgesetztem »M« beziehen sich auf diesen Neudruck.
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blemgeschichte beibehält7; wir werden sie, ebenso wie die entsprechenden Partien aus dem »Problem des geistigen Seins«8, soweit mit zugrunde legen, als sie als Ergänzungen oder 'Verdeutlichungen der Position von 1910 gelten können. Eine Erörterung der Entwicklung Hartmanns ist dagegen nicht beabsichtigt. Die Idee der »Problemgeschichte« ist bestimmt durch den Gedanken einer Autonomie der Philosophie, sowohl dem nichtphilosophischen Geistesleben in den übrigen Kulturbereichen als auch dem psychisch-personalen Leben des Philosophen gegenüber. Und zwar bedeutet Autonomie bei Hartmann £zge«gesetzlichkeit, ohne daß sie zugleich Selbstgesetzgebung einzuschließen brauchte. Hartmann spricht von Autonomie überall dort, wo sich vereinzelte Phänomene durch die Beziehung auf einen Inbegriff eigentümlicher Gesetzlichkeiten oder Prinzipien als zu deren Geltungsbereich gehörige Concreta zusammenfassen lassen. So betrachtet audi die Problemgeschichte die Geschichte der Philosophie in ihrer eigenen Gesetzlichkeit und ihrer autonom geregelten geschichtlichen Entfaltung; sie sieht von der faktisch-unlösbaren Verflochtenheit des konkreten Geistes auf allen Stufen seiner Entfaltung, auf denen sich jeweils alle Leistungsbereiche durchdringen, ab, um die Geschichte der Philosophie in ihrer Eigenständigkeit herauszupräparieren. Durch diese methodische Abstraktion unterscheidet sie sich von der geistesgeschichtlichen Betrachtung der Philosophiegeschichte. — Die Problemgeschichte abstrahiert aber auch von der Individualgeschichte des jeweiligen Philosophen, von der „Geschichte der Denker", und zwar zunächst aus einem methodischen Grunde: Die philosophierende Persönlichkeit ist nicht das primär Gegebene, sondern vielmehr das am schwersten Zugängliche. Sie läßt sich nur von den philosophischen Problemen aus, als »Schneidepunkt historischer Problemlinien« bestimmen (M. 5). Für die Denkerpersönlichkeit gilt also die These Natorps, daß sich die konkrete Subjektivität nur einer »rekonstruierenden Methode« erschließt9. Weil die »Denkereigen7
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Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Jg. 1936, Phil.-Hist. Kl. N r . 5. Zitiert nach dem Neudrude in: Kl. Sehr., Bd. II, 1957, S . I i i . Vgl. audi meine Rezension dieses Bandes in den Kant-Studien L, 1959, S. 395 ff., sowie die Besprechung von G. W o landt, Arch. f. Rechts- und Sozialphilos. X L V , 1959, S. 117 ff.; ferner H . Plessner, Offene Problemgeschichte, in: N. Hartmann, Der Denker u. s. Werk. Hg. von H . Heimsoeth u. R . Heiß, S. 97 ff. — Vielfach ähnlich wie Hartmann argumentiert auch K . Oehler, Die Geschichtlichkeit der Philosophie. Zeitschr. f. philos. Forschung X I , 1957, S. 504 ff. Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 1933. Zitiert nach der 2. Aufl. 1949. Vgl. vor allem S. 41 ff., 221 ff., 350 f., 367 ff., 391 ff. Vgl. P . N a t o r p , Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, 1888; Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode I, 1912; vgl. auch N . Hartmann, Systembildung und Idealismus, Festschr. f. H . Cohen, 1912, jetzt Kl. Sehr. I I I , 1958, S. 76 ff. — Natorp hatte bereits in der Vorrede zu »Descartes Erkenntnistheorie. Eine Studie zur Vorgeschichte des Kritizismus«, 1882, S. IV, von der Philo-
tümlichkeit« und die Probleme für die Geschichtsforschung »Gegenpole« bilden, ist die methodische Abstraktion von ihr unumgänglich; denn nur die philosophischen Probleme lassen sich ohne Umweg bestimmen, da sie »etwas in sich Einfaches, auf sich selbst Beruhendes, in nichts anderem als in der Vernunft Gegründetes« sind (M. 7). Geschichte der Philosophie ist also nicht Geschichte der philosophierenden Menschen, sondern des »philosophischen Gedankens«. Mag dieser auch von Menschen hervorgebracht worden sein und seinem realen Sein nach von der konkreten, leistenden Subjektivität abhängen, — sein philosophischer Gehalt erschließt sich nur, wenn wir, wie bei jeder wissenschaftlichen Leistung, von dieser konkreten Subjektivität absehen. Problemgeschichtliche Betrachtung der Philosophie ist daher auch von der biographischen oder psychologischen Behandlung der Philosophen unterschieden. Sie allein erforscht das eigentlich Philosophische in der Philosophiegeschichte, indem sie sie als zeitliche »Selbstentfaltung« der Idee der Philosophie, die sich in die ewigen philosophischen Probleme differenziert, versteht (M. 9). In der bisher entwickelten Konzeption der Problemgeschichte erkennen wir leicht dieselbe Tendenz, die auch in Husserls Kritik des logischen Psychologismus oder in der Kritik der biographischen Methode in der Literaturwissenschaft wirksam war. Bei Hartmann aber nimmt diese Kritik an der psychologistisch-biographischen Verflüchtigung der Philosophiehistorie — unter dem Einfluß des Marburger Erkenntnisbegriffs — eine Gestalt an, die der individuellen Denkerpersönlichkeit des Philosophen innerhalb der »eigentlichen« Geschichte der Philosophie nicht mehr Bedeutung zugesteht, als sie der Persönlichkeit des Physikers innerhalb der Geschichte der Physik oder der des Mathematikers in der Geschichte der Mathematik zukommt. Die monadische Gliederung der Philosophie, die darin zum Ausdruck kommt, daß wir es in der Philosophiegeschichte stets mit der Philosophie eines bestimmten Denkers zu tun haben, bleibt so unbegründet. Der Rücksicht auf diese Gliederung haftet der Verdacht des Psychologismus an, d. h. der Metabasis aus der Sphäre des philosophischen Gedankens in die des Denkens. Das zeigt sich darin, sophiehistorie gefordert, »Einheit und Kontinuität in der Entwicklung philosophischer Erkenntnis darzustellen; nicht durch Hegeische Geschichtskonstruktion, wohl aber durch eine solche Geschichtsuntersuchung, welche von dem Bewußtsein der systematischen Aufgabe der Philosophie geleitet ist: das ist das klare Ziel der Geschichte dieser Wissenschaft, welche nicht bloß der Befriedigung antiquarischer Neugier, sondern dem Fortgange der Erkenntnis selbst dienen soll. Das begriff schon Leibniz, der ja wohl einiges Verdienst hat um die Begründung einer Geschichte der Philosophie, welche nidit bloß Geschichte der Philosophien ist: in diesem Geiste stellte sdion er die Forderung, die, wenn auch entstellten Züge der ewigen Wahrheit, weldie perennis quaedam philosophia — zu allen Zeiten vorhanden gewesen sei, in den früheren Systemen bemerklidi zu machen, und so das Gold aus dem Koth, den Edelstein aus der Schladce, Licht aus der Finsternis zu ziehen.«
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daß für Hartmann die Geschichte der Denker Diskontinuität, diejenige des philosophischen Gedankens aber (prinzipielle) Kontinuität aufweist — analog zu seinem späteren Grundsatz, daß das Bewußtsein trenne, der Geist aber verbinde —, während doch die Gliederung der Philosophie in Philosophien einzelner Denker in Wahrheit der Sphäre des philosophischen Gedankens selbst angehört. Die Grundlegung der Philosophiehistorie als Problemgeschichte wird von Hartmann nach dem Vorbild von H. Cohens Grundlegung der exakten Wissenschaften entwickelt. Wie die von Cohen so genannte »transzendentale Methode« von dem »Faktum« der Naturwissenschaft auf ihre Bedingungen der Möglichkeit zurückfragt, so lautet auch hier die Ausgangsfrage: »Wie ist reine Problemgeschichte möglich?« (M. 13). Wie exakte Wissenschaft dadurch möglich ist, daß das reine Denken Kategorien zugrunde legt, die die Bestimmung des Gegenstandes ermöglichen, so erfordert auch die wissenschaftliche Behandlung der Philosophiegeschichte solche Grundlegungen, solche — wie Hartmann sagt — »transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Geschichte« (M. 14), die nicht dem historischen Denken selbst entnommen werden können, sondern dem »reinen« Denken entstammen müssen. Als solche fungieren die philosophischen »Probleme«. Durch das »reine«, d. h. systematische Denken bereitgestellt, ermöglichen sie es, die vorliegenden Texte auf ihren philosophischen Gehalt hin auszulegen. Sie setzen den Philosophiehistoriker in den Stand, dasjenige aus den geschichtlich gegebenen Philosophien herauszulösen, was an echten, überzeitlich bedeutsamen »Einsichten« in ihnen enthalten ist, und so aus dem mannigfaltigen Gegebenen die »historische Kontinuität herzustellen« (M. 8), die für die Geschichte der Philosophie als Wissenschaft charakteristisch ist. Erst die problemgeschichtliche Methode macht es somit möglich, die Philosophiehistorie als Wissenschaftshistorie zu betreiben, und z;war als eine solche, die ganz und gar von dem Interesse des diese Wissenschaft selbst betreibenden Systematikers geleitet ist. Wie wir uns eine Historie der mathematischen Wissenschaft denken können, die nur das enthält, was im Laufe der Geschichte an mathematischen Einsichten zutage gefördert worden ist, so müssen wir uns auch das Ideal dieser Problemgeschichte vorstellen, die alle philosophischen Einsichten — und nichts anderes — verzeichnen will10. Die Problemgeschichte abstrahiert also nicht nur von den außerphilosophischen, geistesgeschichtlichen und personalen Grundlagen der Philosophie, sondern auch von den — nach Hartmanns Ansicht stets durch sie bedingten — »Irrtümern« und »Konstruk10
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Das Beispiel der Historie der Mathematik wird von H . selbst angeführt; vgl. Der philos. Gedanke, S. 5. — In vorbildlicher Weise sieht Hartmann diese Auswertung der Philosophiegeschichte verwirklicht in der Aporetik des Aristoteles. Vgl. hierzu O. Gigon, D i e Geschichtlichkeit der Philosophie bei Aristoteles, Arch, di filosofia 1954, S. 129 ff.
tionen«, von allem, was bloß Sache der jeweiligen »Lehrmeinung«, des »Standpunkts« und des »Systems« ist, um die »Kette« der sich stetig ergänzenden Einsichten herzustellen, die sich zu dem Stand des bisher errungenen philosophischen Wissens ergänzen11. Die Geschichte der Philosophie wird also, wie die einer jeden Wissenschaft, als ein »aufsammelnder Prozeß« gedacht12; genauer, sie würde — in ihrer Reinheit — einen Progreß von sich beständig akkumulierenden philosophischen Erkenntnissen darstellen, wenn nicht immer wieder wissenschaftsfremde Mächte ihren gradlinigen Progreß ablenkten. Wie in der Aufklärung, etwa bei Voltaire, die Universalgeschichte als ein Kampf zwischen Dogma und Moral, d. h. zwischen Aberglauben und Vernunft, interpretiert wird, so sieht auch Hartmann die Geschichte der Philosophie als einen fortwährenden Kampf zwischen einem von außerphilosophischen Motiven beherrschten »Systemdenken« und einem rein theoretischen »Problemdenken« an. Jenes verschuldet die Tatsache, daß die Geschichte der Philosophie — wenigstens »bisher« — in widerstreitende philosophische »Systeme« zerklüftet ist; diesem verdanken wir alles, was in ihr als kontinuierlicher Prozeß wachsender Einsichten zu verzeichnen ist. Im Ganzen des geschichtlichen Ganges der Philosophie sind jedoch die »Systembauten« nur vorübergehende Ablenkungen, seitlichen Pendelausschlägen vergleichbar, die den geraden Fortschritt nicht zu verhindern vermögen13. Die Ablehnung aller »Systeme«, in der die Philosophie der Aufklärung 14 , wie auch der Positivismus und die Wissenschaftsphilosophie des 19. Jahrhunderts 15 , sowie in unserem Jahrhundert die Marburger Neukantianer, Hartmann, aber auch Husserl und die frühen Phänomenologen 18 übereinkommen, hat in dieser Sorge um den Wissenschaftscharakter der Philosophie und die Möglichkeit ihres unendlichen Fortschritts ihre Wurzeln17. 11
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Der philos. Gedanke u. s. G., S. 6; Methode, S. 3. Schon Hegel nennt, unter Berufung auf Herder, die philosophische Tradition eine »heilige Kette«; Einleitg. in die Gesch. d. Philos. hg. v. J. Hoffmeister, 3. Aufl., S. 13. Zum Begriff des »aufsammelnden Prozesses« vgl. »Geistiges Sein«, 41. Kap., S. 376 f. Vgl. Der philos. Gedanke, S. 22 u. ö. sowie: Diesseits von Idealismus und Realismus. Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantisdhen Philosophie. Kant-Studien X X I X , 1924, jetzt: Kl. Sehr. II, S. 278 ff. Zum Kampf gegen das System im 18. Jahrhundert, dessen Motive auch Kants Versuch einer »Kritik der reinen Vernunft« bestimmen, vgl. E. Cassirer, Die Philos. der Aufklärung, 1932, S. 6 ff., und R. Heiß, Formalismus und Antiformalismus in der neueren Philos., Bl. f. dt. Philos. X I , 1937/38, S. 379 ff. Vgl. M. Landmann. Problematik. Nichtwissen und Wissensverlangen im philosophischen Bewußtsein. 1949, S. 277 ff. Vgl. E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Logos I, 1910/11, S. 289 ff. In dieser Unendlichkeit des geschichtlichen Ganges der Philosophie sieht H. Rickert (a.a.O.) den wesentlichsten Unterschied zwischen Windelbands Begriff der Problemgesdiichte und Hegels Grundkonzeption der Philosophiegeschichte.
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Fragen wir also nach der eigentümlichen Geschichtlichkeit, die der Philosophie in dieser Theorie der Problemgeschichte zugedacht wird, so fällt sie grundsätzlich mit der Art und Weise zusammen, in der die einzelwissenschaftliche »Forschung« der exakten Wissenschaften in der Geschichte ist. Die Geschichtlichkeit der jeweiligen philosophischen Einzelleistung ist gedacht als ihre Lokalisiertheit in einem einigen, übergreifenden Kontinuum. Wie sich jede einzelwissenschaftliche Einzelleistung im Bereich der exakten Wissenschaften als »Teil« dem einigen, sich geschichtlich entfaltenden Ganzen der einen Wissenschaft (»der« Mathematik oder »der« Physik) einfügen läßt und in dieser Stellenbestimmtheit aufgeht, so macht auch für die einzelne Philosophie ihr Eingefügtsein in eine bestimmte Stelle des unendlichen Ganges »der« Philosophie ihr Dasein in der Geschichte aus. Die Philosophie hat also hinsichtlich ihrer Geschichtlichkeit gegenüber diesen Einzelwissenschaften keinen ausgezeichneten Charakter. Auch der Philosoph fängt nicht »von vorne« an, auch er fußt auf den Leistungen seiner Vorgänger. Wie der Einzelwissenschaftler benötigt auch der Philosoph den »langen Atem der Forschung«. Wie für die geduldige Arbeit des Einzelwissenschaftlers so ist auch für sein Ethos, das neben Hartmann auch H. Cohen und E. Husserl eindringlich beschworen haben 18 , die Aufgabe bestimmend, »Beiträge« zu dem einen großen Bau der Philosophie zu liefern 19 . Auch für den Philosophen ist die aus ihrer Geschichtlichkeit resultierende Endlichkeit seiner Philosophie durch ein doppeltes Verhältnis von Teil und Ganzem bestimmt: Nur ein Teil jeder konkreten Philosophie bewährt sich als echte Einsicht, und dieser Teil geht als Teil in das Ganze des jeweiligen Standes der philosophischen Forschung ein. Auch in der Geschichte der Philosophie gehen die Einzelleistungen im großen Strom der beständig fortschreitenden Erkenntnis auf und werden, soweit sie sich bewähren, anonym und Einsicht aller. Daß ausgerechnet der Neukantianismus der Marburger Schule sich dieser Idee der Problemgeschichte mit solchem Eifer angenommen hat, ls
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Vgl. H . Cohen, Kants Begründung der Ethik, Vorrede S. V : Dem »Philosophieren auf eigne Faust muß ein Ende gemacht werden: ein in bezug auf die Methode abzuschließender Friede muß einen gesetzmäßigen Stand herbeiführen, in welchem die Selbständigkeit ihre in allen Wissenschaften gültige und selbstverständliche Einschränkung findet. Man muß aufhören, in der Nachfolge die Nachahmung zu scheuen, aus Furcht Kärrner zu sein, Kartenhäuser zu bauen.« Nach H. Cohen bewahrt gerade die Philosophiehistorie, sofern sie »als eine philosophische Wissenschaft« betrieben wird, die Philosophie vor dem Fehler, »in jedem Kopfe von neuem ansetzen« zu wollen; Zur Kontroverse zw. Trendelenburg und Kuno Fischer 1870), in: Schriften z. Philos. u. Zeitgesch., Bd. I, 1928, S. 274. — Vgl. E. Husserl, a.a.O., S. 3 3 8 : Wissenschaft ist als »kollektive Arbeitsleistung der Forschergenerationen« »unpersönlich«. Was der Wissenschaftler »beiträgt, bereichert den Schatz ewiger Gültigkeiten«. Zur Vorgeschichte im 19. Jahrhundert vgl. Th. Litt, Hegels Begriff des »Geistes« und das Problem der Tradition. Studium Generale IV, 1951, S. 311 ff.
ist kein Zufall; denn die Problemgeschichte gestattet es, die Geschichte der Philosophie den Bedingungen strenger Bestimmbarkeit zu unterwerfen. Was an sich das komplexeste und abhängigste Gebilde des Geistes darstellt, läßt sich mit Hilfe der Methode der Problemgeschichte als »selbständigste und am sichersten in sich beruhende Kontinuität« auffassen (M. 3); » . . . die reine Problemgeschichte hat die strengste Stetigkeit des Ganges, die genaueste historische Kontinuität, weil sie im Grunde ja schon vielmehr systematische Kontinuität ist« (Μ. 12 f.)*". Die Problemgeschichte bietet also die Handhabe, die Unberechenbarkeit der Geschichte an einem Punkte zu überwinden, aus ihr den Einfluß der Individualität und Subjektivität, geschichtlichen Zufälligkeit und Willkür auszuschalten und sie einem exakten Denken verfügbar zu machen. Hartmann sagt selbst von ihr: »Die Methode der Philosophiegeschichte hat sich der Methode der exakten Forschungsgebiete, und namentlich der der Philosophie selbst, in einem wichtigen Punkt genähert« (M. 18). Wie innerhalb des Naturprozesses durch die Isolation einzelner Kausalreihen die Prozeß-Stadien eindeutig bestimmbar werden, so ist auch das herausgehobene philosophische Einzelproblem die Bedingung der Bestimmbarkeit des Einzelstadiums, und zwar auch dort, w o uns die Quellen im Stich lassen. Denn durch das philosophische Problem ist »die Gesamtrichtung seines Ganges durch die Geschichte bestimmt . . . Dieser Gang ist von innen heraus notwendig aus der Natur des Problems selbst, und 20
Die »reine« Problemgeschichte steht somit in der Nachfolge von K a n t s Idee einer »philosophischen Geschichte der Philosophie«: »Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d. i. apriori möglich.. Denn ob sie gleich Fakta der V e r n u n f t aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der N a t u r der menschlichen V e r n u n f t als philosophische Archäologie.« Lose Blätter F. 3. Ak. Ausg. Bd. X X , S. 341. — Wie sehr im übrigen das von der »Problemgeschichte« angesetzte Verhältnis von Systematik und Historie Gemeingut der A u f k l ä r u n g war, zeige das folgende Z i t a t : »So nützlich und interessant eine pragmatische Geschichte der A u f klärung sein mag, so ist diese doch nur nach einer auf Prinzipien gegründeten Theorie möglich. D e r Gang, den die A u f k l ä r u n g wirklich nach der Erfahrung ging, kann kein anderer sein, als den sie nach der N a t u r des menschlichen Geistes nehmen mußte. Der empirisch schiefe G a n g k a n n aber nur dann als schief beurteilt werden, wenn man unabhängig von aller Erfahrung, und bloß aus und nach der N a t u r des menschlichen Verstandes den einzig geraden Weg kennt. Die Gründe der Möglichkeit der A u f k l ä r u n g müssen auch bei der wirklichen A u f k l ä r u n g anzutreffen s e i n . . . Wenn nun der Geschichtsforscher der Grundsätze des Philosophen nicht entbehren kann, indem diese Grundsätze die Leistungsprinzipien sind, die Masse von Materialien zu sichten, aufzunehmen, zu ordnen, zu benützen und der toten Masse durch Philosophie Leben einzuhauchen, so k a n n doch auch nicht geleugnet werden, daß der Historiker den Theoristen wiederum belehren, mit neuen Ansichten überraschen und zur Vervollkommnung der Theorie an seinem Teile beitragen muß. Der Philosoph übergibt dem Historiker die Resultate der philosophierenden Vernunft, damit dieser mit den Resultaten der E r f a h r u n g jenem ein Gegengeschenk mache.« (Johann Christoph Greiling, Ideen zu einer künftigen Theorie der allgemeinen practischen A u f k l ä r u n g , Leipzig 1795, S. X I I ff.).
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jedes seiner historischen Stadien ist notwendig aus der Stetigkeit seines Ganges heraus . . . Wenn man daher auf den historischen Gang als Ganzes hinblickt, so muß aus ihm auch das Einzelstadium bestimmbar werden« (M. 10 f.). Wenn Hartmann auch eine apriorische Konstruktion des Geschichtsverlaufs, wie sie Hegel vorgeworfen wird, ablehnt, so unterwirft er ihn doch den Bedingungen exakter Analyse, wobei die identischen Probleme die Rolle von Grundfaktoren spielen, die, in begrenzter Anzahl, allen philosophiegeschichtlichen Verläufen zugrunde liegen. Die Geschichte der Philosophie wird so in das Prokrustesbett der identischen Probleme gezwängt (Hartmann spricht von den »Geleisen«, innerhalb deren die Stadien einander ablösen; Μ 8), und alles unvorhersehbar Neue in ihr wird als »Kreuzung«, »Spaltung« und »Differenzierung« der verschiedenen identischen Problemlinien erklärt (M. 11). Hartmann denkt, wie wir sahen, die identischen Probleme nicht nur als transzendentale Bedingungen der Möglichkeit der Philosophiebistorie, sondern zugleich auch als immanente Gesetzlichkeiten, die den realen Ablauf der Philosophiegeschichte selbst beherrschen. Die Geschichte der Philosophie erscheint — wie bei Hegel, dem sich die Konzeption der Problemgeschichte verpflichtet weiß — als der anonyme Prozeß der »zeitlichen Selbstentfaltung« objektiver »Vernunfteinheiten« (M. 9). Damit ist nicht nur die Einheit der Geschichte der Philosophie apriori, d. h. unabhängig von dem Aufweis faktischer geschichtlicher Zusammenhänge, begründet, sondern die Geschichte der Philosophie erscheint als eine von einem immanenten Telos beherrschte Entwicklung, mag diese audi »unendlich« sein. Gegenüber dieser Selbstentfaltung der Probleme als objektiver Vernunfteinheiten verliert die Individualität und Spontaneität des einzelnen Denkers ihre Bedeutung. Der einzelne Denker bringt nicht von Hause aus ein eigenes Prinzip mit, demgemäß sich ihm die Probleme abwandeln; die Individualität des Denkers tritt nicht in eine fruchtbare Wechselbeziehung zu den Problemen der Philosophie, sondern sie wird von dem Prozeß der Selbstentfaltung der Philosophie zur Ohnmacht verurteilt oder tritt nur als Störungsfaktor in Erscheinung. Das Individuum wird zum bloßen Sachwalter der Probleme und empfängt allen Wert und alle Würde nur im Maße seines Dienstes am Fortschritt der Problementfaltung 21 . So lesen wir denn bei Hartmann: »Zwischen der Individualität des Denkers und dem philosophischen Problem ist immer dieses Verhältnis: der Denker kann das Problem nicht ändern. Es ist nicht durch ihn geworden und nicht von ihm zu vernichten. Das Problem seinerseits dagegen, sofern es von ihm aufgegriffen und behan21
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Vgl. auch, was Hans Heß, Epochen und Typen der philosophischen Historiographie, Kant-Studien X X V I I I , 1923, S. 356, über die »objektive Dynamik der Probleme« sagt, »in deren Verlauf die geschichtlichen Persönlichkeiten nur als bewußte Funktionäre, als Erfüller und Vollstrecker gesetzmäßiger und überpersönlicher Denknotwendigkeiten erscheinen.«
delt, womöglich gar gefördert wird, kann sehr wohl die Individualität mitbestimmen . . . Das Problem als solches steht fest; . . . und alle historische Variabilität an ihm betrifft nicht es selbst, sondern nur die Grade oder Stufen seines Hindurchdringens zum Selbstbewußtsein. Der einzelne Denker kann nichts Anderes, Heterogenes hineintragen. Er kann sich freilich ablenken lassen, er kann das Problem verfehlen, oder es doch nur halb und unrein erkennen. Aber mit alledem ändert er nicht das Problem, sondern nur seine Stellung zu ihm« (M. 10). Die konkrete Subjektivität der philosophierenden Individuen tritt also nur als »schlechte Subjektivität« in Erscheinung, während alles philosophisch Bedeutsame ihrer Leistung von dem anonymen Prozeß der Selbstentfaltung der Philosophie aufgesogen wird. Wie in Heinrich Wölfflins zeitgenössischem Ideal einer »Kunstgeschichte ohne Künstler«22, so bestimmt auch hier das individualistische Verlangen nach Anonymität der Leistung (die nach Husserl den Index der Wissenschaftlichkeit überhaupt darstellt) das Bild der Philosophiegeschichte. Die »histoire sans noms« Auguste Comtes findet in der Gestalt der Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte ihre Nachfolge23. Dabei ist das, was als Methodologie der Philosophiehistorie begann, unter der Hand zu einer Metaphysik der Philosophiegeschichte geworden, wobei die Ubereinstimmung in der Methode der Wissenschaftsgrundlegung, die zwischen den exakten Wissenschaften und der Philosophiehistorie angesetzt wird, stillschweigend auch die Ansicht von der Seinsverfassung des Gegenstandes der Philosophiehistorie mitbestimmt. Daß sich Hartmanns Auffassung von der Geschichte der Philosophie am Wissenschaftstypus der Mathematik oder der Naturwissenschaften orientiert, ist leicht zu konstatieren. Schwieriger ist es, den Grund herauszufinden, aus dem die Struktur der Geschichte der »exakten« Wissenschaften und diejenige der Geschichte der Philosophie auseinandertreten. Man macht es sich jedenfalls bei der Beurteilung dieses Hartmannschen Lehrstückes zu leicht, wenn man einfach voraussetzt, daß etwa die Naturwissenschaften eine solche kontinuierliche, aufsammelnde Progressivität aufwiesen, wie sie nach Hartmann auch der »eigentlichen« Geschichte der Philosophie eigentümlich ist, während die Philosophie überhaupt keine Erkenntnisprogressivität kenne. In Wahrheit ist auch für die Historie der Naturwissenschaften der kontinuierliche Erkenntnisprogreß keine schlichte Gegebenheit, sondern nur unter bestimmten Bedingungen herauszuschälen. Auch der Progreß der Naturwissenschaft 22
Vgl. Arnold Hauser, Philosophie der Kunstgeschichte, München 1957, S. 127 ff.
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Als ihre vorwegnehmende Realisation könnte man Hegels »Phänomenologie des Geistes« ansprechen, die Kants Idee einer »philosophischen Geschichte der Philosophie« verwirklicht. In ihr zeigt sich jedoch audi, daß die Kontinuität der »reinen« Problemgeschichte »im Grunde ja sdion vielmehr systematische Kontinuität ist« (M. 13).
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wird durch Vorlieben oder Abneigungen, durch epochale Vorurteile oder Moden gehemmt oder gefördert; Galilei oder Newton waren nicht minder individuelle und audi in ihrer Forschung vom Geist der Zeit geprägte Denkerpersönlichkeiten als Descartes oder Leibniz. Was dennoch die historische Darstellung der Geschichte der Naturwissenschaft als »Kontinuum sich ergänzender Einsichten« möglich macht, ist dies, daß hier Bedingungen erfüllt sind, deren Erfüllung für die Philosophiegeschichte ausgeschlossen oder doch nur in abgewandelter Weise möglich ist. Zu diesen Bedingungen gehört einmal die Möglichkeit einer doppelten Isolation von Einzelerkenntnissen24, zum anderen aber als Bedingung der Möglichkeit dieser doppelten Isolation das Vorhandensein von als gültig anerkannten Grundlagen und Methoden der betreffenden Wissenschaft. Beide Bedingungen sind in der Mathematik und Naturwissenschaft in optimaler Weise erfüllt, die sich durch eine besonders günstige Kriterienlage und das Vorhandensein allgemein anerkannter Methoden der Verifikation auszeichnen. Bereits in den Geisteswissenschaften liegen die Verhältnisse ungleich komplizierter, so daß sich für ihre Geschichte ein Kontinuum der Einsichten nicht mehr so ohne weiteres (ich sage nicht: gar nicht) herstellen läßt. Geisteswissenschaftliche Theorien, die sich geschichtlich ablösen, ergänzen sich nicht mehr so ohne weiteres zu einem jeweiligen Gesamtbestand geltender Einsichten. Weist schon die Geschichte der »exakten« Wissenschaften an ihren entscheidenden Punkten einen Progreß durch Revolution ihrer Grundlagen, nicht aber durch Akkumulation positiver Einsichten auf — Hartmanns Begriff des »aufsammelnden« Prozesses erinnert demgegenüber zu stark an die positivistische Vorstellung von sich ergänzenden Daten-Erkenntnissen —, so ist die Progressivität der Geisteswissenschaften erst recht an die beständig mitlaufende Revision ihrer Grundlagen gebunden. In jeder Einzelwissenschaft ist die »Forschung« abhängig von einem vorgängigen Begriff davon, was denn der Gegenstand dieser Wissenschaft überhaupt ist; in den Geisteswissenschaften kommt jedoch hinzu, daß dieser Begriff in aller Einzelforschung stets zugleich mit in Frage gestellt ist. Wenn man einmal gesagt hat, daß ein jeder Psychologe seinen eigenen Begriff der Psychologie mitbringe, so ist darin die Schwierigkeit bezeichnet, die der Konstruktion einer linearen Fortschrittsreihe bereits in den Geisteswissenschaften entgegensteht. Alle Verständigung über einen Fortschritt in Einzelerkenntnissen setzt eben eine Verständigung über die Grundlagen und Methoden der Wissenschaft voraus. Ist also die Kontinuität 24
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Vgl. hierzu H . Rickert, Geschichte und System der Philos., Arch. f. Gesch. d. Philos. X L , S. 28 ff. Rickert folgert aus der Unmöglichkeit einer Isolation der philosophischen Erkenntnisse (von der konkreten Subjektivität des Philosophen und dem jeweiligen Sj'stem), daß es eine Problemgeschichte im strengen Sinne nur f ü r die Einzelwissenschaften geben könne. Wir werden sehen, daß audi dieses Verdikt der Problemgesdiichte seinerseits eingeschränkt w e r d e n muß.
in der Geschichte einer Wissenschaft eine Funktion der Identität und geschichtlichen Konstanz ihrer apriorischen Grundlagen und Methoden, so kann es strenge Kontinuität der geschichtlichen Entfaltung einer Wissenschaft nur dort und nur soweit geben, als sich ihre Aufgabe in der Bestimmung von Einzelgegenständen in einem vorgegebenen einigen Horizont der Grundverfassung dieser Gegenstände vollzieht. Wir werden in unserer abschließenden Erörterung untersuchen, welche Konsequenzen sich aus dieser Bedingung für die geschichtliche Entfaltung der Philosophie ergeben25. Wir schließen damit unsere Analyse des Hartmannschen Begriffs der Philosophiegeschichte ab. Die Problemgeschichte Hartmanns hat ihr Verdienst darin, allen Anfechtungen durch den Historismus zum Trotz in unserem Jahrhundert den Anspruch der Philosophie auf prinzipielle Allgemeingültigkeit aufrecht erhalten zu haben. Insofern sie jedoch diesen Anspruch nur dadurch verteidigen zu können glaubt, daß sie die Progressivität dem Entfaltungstypus der Einzelwissenschaften, und zwar der »exakten« Wissenschaften, annähert, ist sie geistesgeschichtlich noch stark im 19. Jahrhundert, diesem »Jahrhundert des Fortschritts der Wissenschaften«, verwurzelt. Und eben dadurch hat sie auch die Kritik der folgenden Phase hervorgerufen. Darin liegt die Rechtfertigung für uns, mit ihr unsere Darlegungen zu beginnen. Zwar entspringt auch die Idee der Problemgeschichte bereits einer historischen Beunruhigung durch die Geschichte. Das wird deutlich, wenn man daneben eine Idee der Philosophiegeschichte hält, deren Einheit durch die Konstanz eines bestimmten LeÄrbestandes gesichert ist; gegenüber dem Traditionszusammenhang einer solchen »philosophia perennis« beharren für Hartmann innerhalb der Geschichte der Philosophie nur noch die identischen Probleme, welche wie die »logischen Grundlagen« der exakten Wissenschaften P. Natorps darin aufgehen, ein unendliches »Fieri« des Erkenntnisprozesses zu ermöglichen. Aber diese Beunruhigung durch die Geschichte ist hier noch getragen vom Vertrauen auf eine in der Geschichte erkennbare Progressivität der gesamten menschlichen Kultur, der Wissenschaften im besonderen. Hartmann hat die Voraussetzung einer unbegrenzten Perfektibilität später auf den Bereich der Erkenntnis (und der von ihr abhängigen Technik) eingeschränkt. Für ihn als das »Reich reiner Echtheit« hat er jedoch stets daran festgehalten28. In das Dedikationsexemplar eines seiner 25
Hartmann hat die Notwendigkeit einer Revision der wissenschaftlichen Grundlagen in seiner späteren Philosophie ausdrücklich zum Problem gemacht (vgl. die Nachweise in meiner Arbeit »Fundamentalanalyse und Regionalanalyse«, Diss. Köln 1957, S. 95 ff.), ohne dodi die Folgerungen für die philosophische Erkenntnis und ihre geschichtliche Entfaltung zu ziehen.
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Vgl. Das Problem des geistigen Seins, 41. Kap. Wenn nun audi in der Abwandlung der Geschichtlichkeit des Geistes Technik und Religion und innerhalb der Erkenntnis Naturwissenschaften und Philosophie als Extreme erscheinen, so blieb es doch 13
Werke schrieb er die Worte (ich zitiere aus dem Gedächtnis): »Im eigenen Denken aufräumen tut niemand gerne. Darum gibt es jahrtausendealte Vorurteile«, und sprach damit den Glauben aller Aufklärung noch einmal aus, daß nur die »selbstverschuldete Unmündigkeit« (Kant) den Menschen im Irrtum festhalte, oder wie es in der Gegenwart einmal formuliert worden ist: »Nicht Bösartigkeit, sondern Trägheit ist der schlimmste Feind des Menschengeschlechts«27. II Wir treten in eine völlig neue Atmosphäre ein, wenn wir von dieser Konzeption der Philosophiegeschichte als »Problemgeschichte« zu den philosophischen Theorien über die Geschichtlichkeit der Philosophie und die Struktur der Philosophiegeschichte übergehen, die nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland zur Wirkung gekommen sind. Wir müssen es uns audi hier versagen, die entfernteren geschichtlichen Wurzeln aufzuweisen und etwa auf Kierkegaard und Nietzsche einzugehen, deren geschichtliche Wirksamkeit erst in den Jahren kurz vor dem ersten Weltkrieg begann. Wie die Lehrstücke der von uns bisher behandelten Phase sich über die positivistische und evolutionistische Philosophie des 19. Jahrhunderts bis in die Aufklärung hinein verfolgen lassen, so besteht auch zwischen der Geschichtsphilosophie der nun zu besprechenden Epoche und der Philosophie der Romantik (von Herder bis Hegel) ein — bei Dilthey ζ. B. durch die Historische Schule vermittelter — Traditionszusammenhang. Vor allem aber darf der Protest, den Kierkegaard, Feuerbach, Stirner gegen die Mediatisierung des Individuums in der Hegeischen Philosophie des Geistes erheben, als ein Vorläufer der Problementwicklung in unserem Jahrhundert gelten. Wir beschränken uns hier auf die unmittelbaren Quellen unserer gegenwärtigen Problemlage, und für diese sind — neben Dilthey oder Simmel, deren Optimismus sie noch anderen Zeitzusammenhängen zuweist — vor allem die Fortbildungen des Begriffs der Geschichtlichkeit in den Lehren der Existenzphilosophie repräsentativ. Denn hinsichtlich der Einstellung zur Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins im allgemeinen (das Wort Geschichtlichkeit gewinnt nun erst seinen magischen Klang), zur Geschichtlichkeit der Philosophie im besonderen, bildet der erste Weltkrieg eine Art Grenzscheide, gekennzeichnet durch den Zusammenbruch des Glaubens an eine unendliche Perfektibilität der Kultur unter der Führung der Wissenschaften. Das
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Hartmanns Tendenz, stärker die »Kontinuität« zwischen einzelwissenschaftlidier und philosophischer Erkenntnis als ihre Unterschiedenheit herauszustellen (vgl. a.a.O., 2. Α., S. 546 ff.). In diesem Punkt hat er sein Marburger Erbe nie verleugnet. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 1957, S. 90.
tiefgreifende Bewußtsein einer weltgeschichtlichen Krise, das audi den Untergrund der zeitgenössischen »dialektischen Theologie« bildet, verweist den Menschen in einer neuen Eindringlichkeit auf die Philosophie, aber auf eine Philosophie, die sich selbst in radikaler Weise wandelt, um den neuen Ansprüchen gerecht zu werden. Man erwartet von ihr nicht mehr die Grundlegung der Kultur und der Wissenschaften in Wert- oder Kategoriensystemen, sondern Hilfe in der allgemein empfundenen »Lebensnot«, von der auch Husserl bereits 1910 gesprochen hatte. Während dieser jedoch von dem Gedanken her, daß die konkrete Situation des Menschen jeweilige, abgeschlossene Entscheidungen hic et nunc fordere, die Wissenschaft aber prinzipiell unabschließbar sei, einen radikalen Schnitt zwischen der »Weltanschauung« als Grundlage solcher jeweiligen Entscheidungen und der Philosophie als »strenger Wissenschaft« gezogen hatte, wird nun aus demselben Grunde eine solche Philosophie als strenge Wissenschaft abgelehnt. Philosophie soll mehr bieten als wissenschaftliche, all gemeingültige und somit für den einzelnen als solchen unverbindliche Einsichten, nämlich — um mit Karl Jaspers zu sprechen — »Wahrheit, . . . mit der wir leben«28. Diesem neuen Begriff der Philosophie entsprechend wird nun auch die Philosophiegeschichte nicht mehr als Wissenschaftsgeschichte verstanden. Die Inbrunst, mit der sich das seines Haltes in der Gegenwart verlustig gegangene Denken an die Geschichte wendet, kann durch die bisherige Art einer mehr oder minder doxographischen Philosophiehistorie, aber audi durch die Problemgeschichte nicht mehr befriedigt werden. Man will weder wissen, »wie es gewesen ist«, noch auch einen Bestand zeitlos geltender Einsichten herausheben, sondern man sucht aus dem Bewußtsein der eigenen Endlichkeit heraus die Begegnung mit den gleichfalls endlichen philosophierenden Subjekten der Vergangenheit. Wir beziehen uns im folgenden bei der Charakteristik dieser neuen Phase weitgehend auf eine kleinere Arbeit von Hans-Georg Gadamer aus dem Jahre 1924, weil sie ohne große Interpretationsprobleme die Grundzüge der neuen Entwicklung erkenen läßt 29 ; wir finden übereinstimmende Tendenzen aber auch und erst recht bei Martin Heidegger und Karl Jaspers sowie in der von ihnen inaugurierten Geschichtsphilosophie dieser Phase30. Der Aufsatz von Gadamer bietet sich uns deshalb 28
Philosophie, Bd. I, Philosophische Weltorientierung. Nachwort zur 3. Aufl. 1956, S. X I X . Das »Nachwort« gibt einen Rückblick auf die hier in Rede stehende Entwicklung und weist audi eindrücklich auf die Bedeutung von Husserls Logos-Aufsatz hin.
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Zur Systemidee in der Philosophie. Festsdir. f. Paul Natorp, 1924, S. 55 ff. Wir fügen die Seitenzahlen in Klammern ein. — Vgl. neuerdings auch von Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, S. 358 f.
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Vgl. von M.Heidegger vor allem das 5. Kap. von »Sein und Zeit«, I.Teil 1927, unter dem Titel »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«; Die Zeit des Weltbildes. In:
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als Ausgangsbasis an, weil er selbst die Frage behandelt, »wie Philosophie überhaupt da ist, und was ihre Geschichtlichkeit in der Weise ihres Daseins ausmacht« (56). U n d zwar geht es Gadamer dabei ausdrücklich um den »Zusammenhang der Systemstruktur der Philosophie mit ihrer Geschichtlichkeit« (ebd.); audi die an manchen Stellen spürbare implizite Bezugnahme auf Hartmanns Konzeption der Problemgeschichte kommt unseren Absichten entgegen. Wir beginnen mit dem neuen Begriff der Philosophie, der im Gegensatz zur Idee der Philosophie als strenger Wissenschaft konzipiert wird. Jaspers spricht in einem Rückblick von seiner damaligen »Empörung angesichts einer Philosophie, die als Wissenschaft auftrat und allgemeingültig zu beweisen unternahm« 31 . Gerade an Husserls Logos-Aufsatz, der den Anspruch der Philosophie auf »strenge Wissenschaft« in geradezu provozierender Weise formulierte, wurde Jaspers »damals deutlich, welch radikaler Unterschied sei zwischen eigentlicher Wissenschaft und Philosophie. In den Wissenschaften gelangen wir zu zwingendem, allgemeingültigem und faktisch anerkanntem Wissen, — aber um den Preis, immer im Partikularen, mit je besonderer Methode auf besondere Gegenstände unter bestimmten Voraussetzungen gerichtet zu sein. Die Philosophie erhellt den Lebensgrund, das was ich selbst bin und will, und was an den Grenzen fühlbar wird, — aber um den Preis, bei wesentlicher, ja allein wesentlicher Wahrheit in den Aussagen keine Holzwege, 1950, S. 69 ff.; Was ist das — die Philosophie? 1956; vgl. d a z u ferner: F . K a u f m a n n , Geschichtsphilosophie der Gegenwart, 1931; L. Landgrebe, Philosophie der Gegenwart, 1942, 4. Kap.; M. L a n d m a n n , D a s Zeitalter als Schicksal, 1956, S. 11 ff.; ders., Die fünf Begriffe der Geschichtlichkeit, in: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 77 ff.; K. Schilling, Heideggers Interpretation der Philosophiegeschichte, in Arch. f. Rechts- u. Soz.philos. 41, 1954/55. — Von K . J a s p e r s das 4. K a p . der »Philosophie«, I I . Bd.; ferner Bd. I, Kap. 5 ff.; Uber meine Philosophie (1941), Philosophie und Wissenschaft (1948), Mein Weg zur Philosophie (1951), in: Rechenschaft und Ausblick, 1951; vgl. d a z u ferner: O . F. Bollnow, Existenzphilosophie und Geschichte, Versuch einer Auseinandersetzung mit K . J.; Bl. f. dt. Philos. XI, 1937/38, S. 337; J. Thyssen, Die wissenschaftliche Wahrheit in der Philosophie, 1950; J. Henning, K . J.'s Einstellung zur Geschichte, in: K . J . , hg. von P. Schilpp, 1957, S. 556 ff.; H . Zeltner, Existentielle Philosophiehistorie? Kritische Bemerkungen zu K. J.'s Theorie der Philosophiegeschichtsschreibung, i n : Arch. f. Gesch. d. Philos. 42, 1960, S. 2 8 9 f f . — Wir finden verwandte Zusammenhänge in verschiedener Abstufung aber auch bei F. Heinemann, Die Geschichte der Philosophie als Geschichte der Menschen, Kant-Studien X X X I , 1926, S. 212 ff.; H . Noack, Geschichte und System der Philosophie, 1928; auch beim späten H a r t m a n n finden sich Annäherungen an typische Lehrstücke dieser Phase, und zwar stärker im »Problem des geistigen Seins« als in der Akademie-Abhandlung. D a wir keine erschöpfende Charakteristik der jeweiligen Phasen geben können, mußte auch die Analyse der interessanten Stellung Husserls unterbleiben. Vgl. D . Henrich, Uber die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophischen Tradition, in: Philos. Rundschau VI, 1958. 31
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Philos. I , N a c h w o r t zur 3. Aufl., S. X V I I I .
zwingende, all gemeingültige Erkenntnis zu bringen«52. Gadamer sieht das Wesen der Philosophie in einer »Haltung« des philosophierenden Menschen, für die entscheidend die Kraft ist, die »offene Ungewißheit aushalten« und den »Verfall an eine zu billige Sicherheit« vermeiden zu können (58). Es bedeutet eine Verfälschung des Wesens der Philosophie, sie am Maßstab der Wissenschaft zu messen, weil, wie Jaspers sagt, Philosophie »ohne Einsatz des Wesens des Denkenden selber nur intellektuelle Spielerei ist«33. »Wissenschaften sind als Werkzeug der Philosophie zu ergreifen, nicht aber ist die Philosophie als audi noch eine Wissenschaft danebenzustellen. Denn Philosophie ist, obgleich an Wissenschaften gebunden und niemals ohne sie, etwas ganz anderes als Wissenschaft.«34 Zugleich treten Philosophie und Wissenschaft hinsichtlich ihrer Geschichtlichkeit und ihrer geschichtlichen Entfaltung auseinander. Für die Philosophiehistorie bedeutet das ein Abrücken von der Idee der Problemgeschichte, sofern diese unter der Voraussetzung der Idee der Philosophie als Wissenschaft stand. »Philosophiegeschichte ist nicht mit dem bloßen Verstand zu treiben wie die Geschichte der Wissenschaften. Was in uns hört und was uns aus der Geschichte entgegenkommt, das ist die Wirklichkeit des im Denken sich eröffnenden Menschseins.«35 Damit entfällt die Idee der Problemgeschichte oder sie erfährt doch eine radikale Umwandlung. Jaspers lehnt es ab, sich »mit sogenannten philosophischen Problemen abzugeben«36; Heidegger spricht von den »Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als ,Probleme' breitmachen«37. Gadamer wendet sich gegen die Voraussetzung identischer, in der Vernunft verwurzelter Probleme, die dem geschichtlichen Wesen der Philosophie nicht gerecht werde. Sie bedeute eine »Objektivierung des Problembegriffs«, die an der naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientiert sei (60 ff.). In der Geschichte der Philosophie wandeln sich nicht nur die »Problemstellungen« und »Problemlösungen«, sondern auch die »Problemgehalte«; denn philosophische Probleme sind überhaupt nur »als jeweils aktual aufgegebene« (61), d. h. als in einer bestimmten geschichtlichen Situation des Menschen verwurzelte. Diese Geschichtlichkeit der Probleme entreißt sie der Unverbindlichkeit »ewiger« Problemgehalte. »Eine prinzipielle Sichtbarkeit von Problemen, die von der Geschichtlichkeit des Sehenden unabhängig wäre, wäre eine Sichtbarkeit und ein Problem für niemand« 32
Rechensch, u. Ausblick, S. 388. Vgl. audi Heideggers Charakteristik des Wesens wissenschaftlicher »Forschung« in: Die Zeit des Weltbildes. Holzwege, 1950, S. 70 ff.
33
Nachwort, S. X V I I .
34
Rechensch, u. Ausbl., S. 350.
35
Jaspers, a.a.O., S. 337.
30
Nachwort, S. X I X .
37
Sein und Zeit, S. 28.
17 2
Brelage
(ebd.); sie widerspräche »schlechtweg dem Sinne des geschichtlichen Seins der Philosophie« (61). D a Philosophie »seinsmäßig... im Dasein des Menschen selbst« verwurzelt ist, bildet das »Ganze der jeweiligen Welterfahrung« des geschichtlichen Menschen auch die ontologische Bedingung der Möglichkeit der Philosophie und ihrer Probleme. »Was zum Problem wird und überhaupt werden kann, ist immer von dieser Daseinserfahrung her einheitlich bestimmt« (61 f.) 38 . Die geschichtliche Faktizität der Philosophie und ihrer Probleme widerstreitet somit von vornherein der Isolation der Philosophie aus den jeweiligen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in der Hartmann den Vorzug der Problemgeschichte sah. Schon Dilthey hatte von der echten Philosophiehistorie gefordert: »Sie erklärt im Gegensatz gegen Hegel die Entwicklung der Philosophie nicht aus den Beziehungen der Begriffe gegeneinander im abstrakten Denken sondern aus Veränderungen in dem ganzen Menschen nach seiner vollen Lebendigkeit und Wirklichkeit« 39 . Nun wird — im Gegenzug gegen Hartmann — die geschichtliche Entfaltung der Philosophie auf eine Abfolge letzter, irreduzibler Stellungnahmen zum Ganzen des Seins und des eigenen Daseins zurückbezogen. Damit wird nicht nur die Herauslösung der jeweiligen Philosophie aus dem geistesgeschichtlichen Mutterboden einer Epoche, sondern auch die Herauslösung von Einzelgedanken aus dem jeweiligen System eines Denkers als dem Wesen der Philosophie widersprechend behauptet. Als Ausdruck letzter »Entscheidungen« verfällt die Philosophie radikaler Vereinzelung. »Immer als Einzelner wird der Mensch zum Philosophen.« 40 M . a. W . »die« Philosophie existiert nur in der Gestalt jeweiliger konkreter Philosophien. Die Konsequenz dieser radikalen Vereinzelung »der« Philosophie in die jeweiligen, »geschichtlichen« Philosophien ist, daß die Einheit und Kontinuität der Philosophiegeschichte in Frage gestellt wird. Die Einheit und Kontinuität der Philosophiegeschichte kann nicht mehr als eine in der Identität der menschlichen Vernunft begründete, apriorische Voraussetzung der Philosophiehistorie in Anspruch genommen werden, sondern sie muß als eine geschichtlich-faktische jeweils aufgewiesen werden. Die Einheit der Philosophie ist nur als Einheit einer Uberlieferung, die auf der verwandelnden Wiederholung einer überkommenen Aufgabe beruht. Daher gilt der Bewahrung dieser Einheit in der wiederholenden »Aneignung« der geschichtlich überlieferten Philosophien auch die Sorge dieses »geschichtlichen« Philosophierens. Dem frohgemuten Vertrauen auf die von der geschichtlich-faktischen Uberlieferung unabhängige, 38
39 40
18
Ähnlich kritisiert auch F. Heinemann (Die Geschichte der Philosophie als Geschichte der Menschen, Kant-Studien X X X I , 1926, S. 212 ff.) die »Auseinanderreißung von Mensch und Problem« (S. 214). W W II, V. Jaspers, Rechensch, u. Ausbl., S. 338.
weil in der Idee der philosophischen Erkenntnis begründete Einheit der Philosophie tritt das besorgte Bemühen um die Bewahrung ihrer konkreten geschichtlichen Einheit gegenüber. Die »Geschichtlichkeit« der Philosophie bedeutet also nicht nur die selbstverständliche Tatsache, daß auch der »in« der Geschichte stehende Philosoph nicht »von vorne« anfangen kann, sondern stellt die Forderung einer ausdrücklichen »Aneignung« der geschichtlichen Uberlieferung. Diese Aneignung unseres geschichtlichen Erbes ist die Bedingung unseres eigenen »ursprünglichen« Fragens in der Philosophie. Damit ist nicht nur die methodische »Trennung« von philosophischer Systematik und Philosophiehistorie aufgegeben, die — wenngleich nicht als Trennung, sondern als Unterscheidung korrelativer Glieder — eine Voraussetzung der Problemgeschichte bildete, sondern das Bedingungsverhältnis von philosophischer Systematik und Philosophiehistorie wird zugunsten der Historie auf den Kopf gestellt. In wesentlich radikalerer Weise, als dies in der Problemgeschichte versucht wurde, wird nun alles Philosophieren auf die Geschichte verwiesen. Daß gegenwärtiges Philosophieren nur als ein »geschichtliches« möglich ist, besagt nun, daß es als ein solches, das seine eigene Geschichtlichkeit nicht zu »überspringen« versucht, sich aus der gegenwärtigen geschichtlichen Lage an anderes philosophierendes Dasein wendet. Geschichtliches Philosophieren hat sich daher dem Anspruch des Augenblicks, der Forderung des Tages, zu stellen; und es kann dabei nur den Weg über die Geschichte nehmen. Die Geschichtlichkeit der Philosophie schließt ihre Historizität ein, und zwar ohne die Möglichkeit einer vorgängigen philosophischen Systematik, welche der Philosophiehistorie die Direktiven zu geben hätte. Heidegger zitiert zustimmend den Grafen Yorck: Es gibt »kein wirkliches Philosophieren, welches nicht historisch wäre«41, und audi nach Gadamer entspringt die »Trennung« von Systematik und Historie der »irrigen Konstruktion, daß das Ansichsein der Probleme und das der Geschichte zwei verschiedene Einstellungen . . . forderten. Die Problemlage heutiger Philosophie ist nur zu gewinnen aus einer gründlichen Besinnung auf die Geschichte« (75). Damit haben wir die heutige Situation erreicht, in der die Philosophie in ihrer Geschichtlichkeit unterzugehen droht, in der historische Interpretationen weithin das Feld beherrschen. Wir können nur noch andeuten, wie sich diese radikal veränderte Situation in dem neuen philosophischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff ausprägt. Für die gesamte Philosophie nach dem ersten Weltkrieg ist das Verlangen kennzeichnend, der von Dilthey vorgezeichneten Forderung einer Grundlegung der Geisteswissenschaften nachzukommen. War der Erkenntnisbegriff der bisherigen Philosophie vor allem an einem Erkenntnistypus orientiert, wie er in den Naturwissenschaften 11
A.a.O., S. 402. 19
2*
ausgebildet worden ist, so wird nun der gesamte Erkenntnisbegriff auf die hermeneutisdie Situation des Verstehens zugeschnitten, in der sich »Leben« an »Leben«, »Existenz« an »Existenz« wendet. Diese Situation ist primär gar keine solche der Erkenntnis, sondern der »Begegnung«, »Aneignung« oder »Wiederholung«, wie die charakteristischen Termini lauten; aber auch die Erkenntnis wird nun nicht mehr bezogen gedacht auf objektiv Gegenständliches, »Ansidiseiendes«, sondern auf »SichZeigendes«. Das gilt nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern auch für die Philosophie selbst. Dadurch, daß die Situation der Verständigung als Grundlage aller Erkenntnis angesetzt wird, erscheint alles Verhalten zu »Ansichseiendem« (in der nunmehr verengten Bedeutung bloßer »Sachen«) als ein abkünftiger Modus der hermeneutischen Situation. Damit wird nicht nur das naturwissenschaftliche Erkenntnisideal in seine Schranken verwiesen, sondern zugleich jegliches Absehen auf wissenschaftliche, theoretische, prinzipiell allgemeinverbindliche Einsicht überhaupt diskreditiert. — Charakteristisch für diesen neuen Erkenntnisbegriff im Unterschied zu dem bisherigen ist der Wandel der Metaphern, der nun innerhalb der philosophischen Terminologie Platz greift. Während noch in der Phänomenologie die Metaphern zur Bezeichnung der theoretischen Erkenntnis vorwiegend dem Wortfeld des Gesichts und damit dem Aspekt des Anschaulich-Naturalen entnommen waren (Sehen, Schauen usf.), wird der neue, hermeneutische Erkenntnisbegriff mit Worten aus dem Felde des Gehörs, diesem Medium menschlicher Verständigung, ausgedrückt (Vernehmen, Hören, ja Horchen, Gehorchen, Antworten usw.)42. Das Sehen richtet sich auf ein Objekt, eine Sache, während ich hörend dem aufgeschlossen bin, was ein anderes Subjekt mir zu sagen hat. Damit wird die Ablösbarkeit einer solchen Erkenntnis von dem jeweils Hörenden fraglich. Die Unterordnung des Begriffs der philosophischen Erkenntnis unter den hermeneutischen Erkenntnisbegriff hat zur Folge, daß der Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit aufgegeben wird. Philosophie wendet sich nach Jaspers nur »an den Einzelnen« 48 . Und auch Gadamer bejaht die »letzte Bindung des Begriffs objektiver philosophischer Wahrheit an die persönliche Existenz des Philosophen« (73). Fassen wir die Grundthesen dieser Position, soweit sie sich unmittelbar auf die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie und dem Entfaltungstypus der Philosophiegeschichte beziehen, zusammen: 1. Die Geschichtlichkeit der Philosophie und ihr Anspruch auf prinzipiell allgemein-verbindliche Einsichten treten auseinander. Sie schließen sich nicht ein, sondern aus. Wahrheitsanspruch im Sinne einer streng 42
Schon der Graf Yorck setzte das »Ontisdie« dem »Okularen« gleich und dieses dem »Historischen« gegenüber. Vgl. M. Heidegger, a.a.O., S. 402.
43
Nachwort, S. X X V .
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allgemein-verbindlichen Theorie kann es nur in den Einzelwissenschaften geben. Einzelwissenschaftliche Wahrheit und theoretische Wahrheit überhaupt werden also gleichgesetzt und von dem Wahrheitsanspruch der Philosophie, der sich stets an den Einzelnen als solchen wendet, unterschieden. Philosophie ist nicht in der Weise wissenschaftlicher Forschung geschichtlich da, wobei sie, auf fraglos anerkannten Ergebnissen fußend, neue Teilergebnisse zum jeweiligen Stande der Forschung beiträgt, sondern sie ist in radikal vereinzelten Akten einer jeweiligen Entscheidung, in der stets das Ganze der Geschichte in Frage gestellt wird. 2. Entsprechend dieser Art der Geschichtlichkeit der Philosophie wird auch die Struktur der Philosophiegeschichte von derjenigen wissenschaftlicher Forschung radikal unterschieden. Während sich die Wissenschaft — und nur sie — in einem kontinuierlichen Progreß entfalten kann, in dem sich zwingend beweisbare Teilergebnisse aneinander anschließen, ist die Struktur der Philosophiegeschichte die einer offenen, diskreten Mannigfaltigkeit vereinzelter Philosophien, die nur durch jeweilige, konkrete Traditionsverhältnisse der Aneignung oder des Widerspruchs miteinander verbunden sind. Philosophie ist nur als die Philosophie Kants oder die Philosophie der Griechen, d. h. sie ist stets an eine bestimmte Person oder Epoche gebunden und nicht von ihr ablösbar. Die Struktur der geschichtlichen Entfaltung der Wissenschaft ist die eines Kontinuums, die der Philosophie die eines Disk returns monadisch gegliederter Philosophien. III Suchten wir eine Illustration für die Behauptung der Geschichtlichkeitsphilosophen, daß sich die Geschichte der Philosophie nicht in einem Wandel von Teillösungen identischer Probleme, sondern in einem Wandel der philosophischen Grundhaltung vollziehe, so könnten wir kaum ein eindrücklicheres Beispiel in der neueren Geschichte finden als die soeben von uns skizzierte Entwicklung selbst. Denn man bemerkt bei näherem Hinsehen, daß in den beiden von uns geschilderten Phasen dieser Entwicklung gar nicht ein und dieselbe Problematik zwei verschiedene Lösungen gefunden hat, sondern daß sich dabei zugleich die gesamte Problematik der Philosophie, ihr Begriff und ihre Aufgabe, auf dem Boden einer radikal veränderten »Gestimmtheit« des Daseins gewandelt haben. Darum wurde auch die Polemik von beiden Seiten dem Gegner nicht gerecht und bot damit wiederum ein Beispiel für die Endlichkeit und Geschichtlichkeit des philosophischen Geistes. Aber auch der entschiedenste Verfechter der Endlichkeit und Geschichtlichkeit des philosophischen Geistes — und gerade er — wird nicht leugnen wollen, daß sich in dem Übergang zwischen den beiden von uns unterschiedenen Phasen nicht nur ein Wechsel, sondern ein echter »Fortschritt« in der Einsicht in die wesenhafte Geschichtlichkeit der Phi-
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losophie vollzogen hat. Andererseits aber müssen wir uns fragen, ob nicht in der alten Theorie der »Problemgeschichte« — unter der Verdeckung durch andere, vordergründige Vorurteile und den Zeitgenossen selbst nicht immer gegenwärtig — einige Momente enthalten waren, die nicht hätten aufgegeben werden dürfen und die nur voreiligerweise mit den rechtmäßig kritisierten Vorurteilen über Bord gefegt worden sind: Mit dem Anspruch der älteren Philosophie, »strenge Wissenschaft« nach Art der positiven, exakten Wissenschaften zu sein, wurde zugleich ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit überhaupt und damit auf prinzipiell allgemein-verbindliche Erkenntnis aufgegeben. Mit der Idee »identischer Probleme« verzichtete man zugleich auch auf die Notwendigkeit, die eigenen, jeweiligen Probleme systematisch zu rechtfertigen. Nachdem man das Verlangen nach einem ein für allemal und für alle zwingend beweisbaren »Fortschritt« in der Philosophie als Illusion erkannt hatte, ließ man sie zu einer Sache der jeweiligen, letztlich unbegründbaren »Entscheidung« des Einzelnen werden. — Wir wollen versuchen, wenigstens an einer Stelle die auf uns gekommene Problemlage einer Prüfung zu unterziehen. Die beiden sich ablösenden Theorien gehen von dem gemeinsamen, unbefragt übernommenen Vor-Urteil aus, daß gewisse Momente, die für die Entfaltung der Philosophie in jeweiligen »Systemen« aufkommen, mit dem Anspruch jeder Philosophie auf streng theoretische Allgemeingültigkeit in Widerstreit stehen. Sie versuchen daher entweder, das Phänomen einer monadischen Gliederung der Philosophiegeschichte zu eliminieren, es als vorläufig oder als außertheoretisch bedingt zu erweisen, als etwas, was der »eigentlichen« Geschichte der Philosophie äußerlich sei; — oder aber sie machen aus der Not einer Philosophie, die um ihre »Wissenschaftlichkeit« ringt, die Tugend einer Philosophie, die diesen falschen Wissenschaftsanspruch abgetan hat. Hier schließt man, daß in der »eigentlichen« Geschichte der Philosophie nicht sein kann, was in der Geschichte einer Wissenschaft nicht sein darf; — dort versucht man, durch den Hinweis auf dieses Phänomen die These von der radikalen Unterschiedenheit von Philosophie und Wissenschaft zu stützen. Wir fragen daher, ob sich die unbestreitbare Tatsache, daß sich »die« Philosophie in eine unabsehbare Vielheit geschichtlicher Philosophien vereinzelt, mit dem Anspruch jeder dieser Philosophien auf prinzipiell uneingeschränkte Allgemeingültigkeit ihrer Einsichten verträgt oder nicht. Wir nehmen also noch einmal den von Dilthey vorausgesetzten Widerspruch zwischen der Tatsache der sogenannten »Anarchie der phisophischen Systeme« und ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, um ihn auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen 44 . Und wir fragen zugleich 44
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Vgl. W. Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, (1911) W W V I I I . Vgl. audi F. Kröner, Die Anarchie der philosoph ischen Systeme, 1929, der den Widerstreit der Systeme als notwendig zu erweisen sucht.
danach, ob sich einige weitere Momente an der konkreten Gestalt der Philosophie, die man immer wieder gegen ihren Wissenschaftscharakter auszuspielen versucht (die Notwendigkeit einer »Entscheidung« in ihr, die Notwendigkeit, zu einem jeweiligen Abschluß zu kommen, die Nichtübertragbarkeit ihrer Einsichten und die Unmöglichkeit einer Übereinstimmung über einen Erkenntnisprogreß in ihr), mit ihrem Anspruch auf prinzipiell uneingeschränkte Anerkennung ihrer Erkenntnisse vertragen oder nicht45. Greifen wir auf unsere Ausführungen über die Bedingungen der Möglichkeit eines »Fortschritts« in den Einzelwissenschaften zurück. Wir sahen, daß ein streng linearer Fortschritt, bei dem die neuen Ergebnisse die alten jeweils ergänzen, nur soweit möglich ist, als ein apriorischer Horizont für alle der Bestimmung aufgegebenen Einzelgegenstände und eine im Hinblick auf diese apriorische Gegenstandsbestimmtheit gerechtfertigte Methode vorausgesetzt werden können, deren Geltung durch den Progreß der Einzelforschung selbst nicht wieder in Frage gestellt wird. Ob diese Bedingung in irgendeiner Wissenschaft wirklich erfüllt wird, ist eine andere Frage. Jedenfalls aber vermögen die sog. exakten Wissenschaften ihr besser zu genügen als die Geisteswissenschaften und die Philosophie. Seit Descartes hat daher die Philosophie immer wieder versucht, sich durch eine einheitliche »Methode« ebenfalls auf den »sicheren Gang seiner Wissenschaft« zu helfen und einen »ewigen Frieden« in der Philosophie abzuschließen46. Aber alle Versuche zu einer solchen Szientifizierung der Philosophie haben bisher, nur zu einer permanenten Revolution geführt. Es spricht jedoch nicht nur die bisherige geschichtliche Erfahrung gegen die Hoffnung, daß sich auch die Philosophie dem Entfaltungstypus wissenschaftlicher »Forschung« werde annähern können, sondern es läßt sich zeigen, daß die objektive Unmöglichkeit eines einheitlichen, von allen Mitforschenden anerkannten Grundlagen- und Methodengefüges, welches die Voraussetzung eines kontinuierlichen Progresses der Philosophie bilden würde, aus der spezifischen Idee der philosophischen Wahrheit (und zwar im Sinne theoretischer, prinzipiell allgegemeingültiger Wahrheit) folgt. In allen Wissenschaften wird die Originalität eines Forschers, der nicht nur überkommene Methoden anwendet, sondern selbst neue entwickelt, mit Recht hoch geschätzt; denn in allen Wissenschaften ist der echte, nicht nur »quantitative« Erkenntnisfortschritt an die Revision der jeweiligen wissenschaftlichen Grundlagen (der Grundbegriffe und Me45
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Vgl. zum Folgenden audi: W. Cramer, Die Philosophie und ihre Geschichte. Bl. f. dt. Philos. X I V , 1941, S. 343 ff.; W.Ritzel, D i e Philosophie und ihre Geschichte, Zeitschr. f. philos. Forschung XI, 1957, S. 235 ff.; Th. Litt, Philosophie und Zeitgeist, 1934, S. 33 ff.; H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 1959, S. 375 ff. Vgl. R. Heiß, Formalismus und Antiformalismus in der neueren Philosophie, Bl. f. dt. Philos. X I , 1937/38 S. 379 ff.
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thoden) geknüpft. In der Philosophie potenziert sich die Bedeutung der Individualität des Denkers; denn die Philosophie bestimmt nicht Einzelgegenstände in einem vorausgesetzten Horizont, so gewiß sie es immer mit diesem Horizont selbst (der »Welt«) und dem Denken dieses Horizontes zu tun hat. Weil sich Philosophie stets als jeweiliger Entwurf des Ganzen, nicht aber als Einzelforschung, zu entfalten hat, deshalb lebt sie gleichsam in einer ständigen »Grundlagenkrise«. Deshalb aber können sich die einzelnen philosophischen Entwürfe (»Systeme«), weil sie alle Entwürfe desselben Ganzen (nicht aber Bestimmung von Einzelseiendem auf Grund eines vorausgesetzten Entwurfs) sein wollen, nicht einfach »ergänzen«. Während sich einzelwissenschaftliche Einsichten grundsätzlich aneinander anschließen, schließen sich alle Philosophien wechselseitig aus 47 . Die nachfolgende Philosophie »enthält« nicht die vorauf gegangene als einen Teil in sich, wie etwa die Riemannsdie Geometrie die Euklidische oder die moderne Physik die klassische »enthält«. Weil durch die ergänzende Prozessualität der Einzelwissenschaften die Richtung vom sachlich früheren zum sachlich späteren Stadium eindeutig bestimmt ist, deshalb bildet sich dieser nicht-umkehrbare Prozeß der Entfaltung der Wissenschaften auch ohne weiteres auf die lineare »äußere« Zeit ab. Dem realzeitlichen Nacheinander der Philosophien korrespondiert hingegen keine ebenso eindeutig gerichtete sachliche Folge. Die jeweils neue Philosophie ist nicht dadurch über die voraufgegangenen hinaus, daß sie diese in sich enthält, sondern sie tritt ihnen als eine neue Philosophie gegenüber, neben der alle bisherigen erhalten bleiben. (Wenn daher nach Hartmann der Epigone schon allein deshalb weiter zu sehen vermag, weil er der zeitlich spätere ist, so wird auch dies dem geschichtlichen Sein der Philosophie nicht voll gerecht.) In der Philosophie tritt also an die Stelle der linearen Folge zunächst ein Zugleich aller Entwürfe ihrem sachlichen Gehalt nach. Daher erscheint auch das realzeitliche Nacheinander der Philosophien unter sachlichem Gesichtspunkt zugunsten einer ewigen Gegenwart aufgehoben, in der alle real nacheinander in Erscheinung getretenen Philosophien in Konkurrenz miteinander treten. In dieser ewigen Gegenwart sind daher audi die einzelnen Philosophien in 47
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D a s hat bereits H e g e l gesehen, d e r v o n den Einzelwissenschaften s a g t : »Diese Wissenschaften schreiten durch eine J u x t a p o s i t i o n fort. E s berichtigt sich wohl M a n ches im Fortschritt der Mineralogie, B o t a n i k usf. an dem Vorhergehenden; aber der allergrößte Teil bleibt bestehen u n d bereichert sich ohne Veränderung durch d a s N e u h i n z u k o m m e n d e . Bei einer Wissenschaft wie der M a t h e m a t i k hat die G e schichte, w a s den Inhalt betrifft, vornehmlich nur das erfreuliche Geschäft, Erweiterungen zu e r z ä h l e n . . . D i e Geschichte der Philosophie dagegen zeigt weder d a s Verharren eines zusatzlosen einfacheren Inhalts, noch nur den Verlauf eines ruhigen Ansetzens neuer Schätze an d i e bereits erworbenen; sondern sie scheint vielmehr das Schauspiel nur immer sich erneuernder Veränderungen des G a n z e n z u geben, welche zuletzt auch nidit mehr d a s bloße Ziel z u m gemeinsamen B a n d e habe(n).« Einl. i. d. Gesch. d. Philos. S. I .
ihrer vollen geschichtlichen Individualität »gerettet«, während die Geschichte der Einzelwissenschaften nur die Erhaltung dessen kennt, was in das jeweils neue Stadium der Erkenntnis einzugehen vermag, und alles übrige als »von nur historischer Bedeutung« ausscheidet. So scheinen jede mögliche sachliche Progressivität, jedes Mehr oder Weniger an Erkenntnisgehalt und damit zugleich audi jeder Anspruch auf allgemeinverbindliche Wahrheit im Felde der Philosophie aufgehoben. Die Frage nach einem Fortschritt in der Abfolge der Philosophien scheint ihrem Wesen zu widerstreiten; die »Gleichzeitigkeit« aller Philosophien scheint ihre Gleichberechtigung als notwendige Folge nach sich zu ziehen. — Aber diese Folgerungen schießen wiederum über das Ziel hinaus. Zwar gibt es in der Philosophie — was die Geschichtlichkeitsphilosophien mit Recht betonen — keinen ein für allemal herauslösbaren Bestand an Einsichten, der von allen Philosophierenden faktisch anerkannt wird, und den »die« Philosophiehistorie als eine gleichsam neutrale Instanz verzeichnen könnte, — aber damit entfällt nicht der Anspruch jeder Philosophie auf prinzipielle Allgemeingültigkeit. Um dies einzusehen, müssen wir nur zwischen dem prinzipiellen Wahrheitsanspruch eines Theorems und der Möglichkeit, diesen Anspruch auch faktisch für alle zwingend durchzusetzen, unterscheiden. Die Möglichkeit, andere zur Anerkennung zu zwingen und damit den Verbindlichkeitsanspruch auch einzulösen, ist an die jeweilige Kriterienlage des betreffenden Geltungsgebietes geknüpft. So ist — nach Kant — das ästhetische Urteil dadurch von dem theoretischen Urteil unterschieden, daß das ästhetische Geschmacksurteil (prinzipiell oder »apriori«) auf die Beistimmung aller übrigen Subjekte Anspruch erhebt, ohne daß den anderen seine Gültigkeit aus obersten Grundsätzen andemonstriert werden könnte, wie dies im Felde der Theorie grundsätzlich möglich ist48. Ein vergleichbarer Unterschied ist aber auch noch einmal zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie zu konstatieren. Was die Philosophie von allen übrigen Wissenschaften radikal unterscheidet, ist dies, daß die Mitphilosophierenden bei der Prüfung des Rechtsanspruchs einer gegebenen Philosophie die obersten Grundsätze, von denen ihre und die Geltung aller Philosophie abhängt, nicht einfach als gegeben voraussetzen dürfen, sondern diese Grundsätze zugleich mit auf ihre Berechtigung prüfen müssen. Eine Prüfung eines gegebenen philosophischen Urteils ist also nicht etwa unmöglich, weil es uns an obersten Prinzipien gebricht; sie ist aber auch nicht so möglich, daß wir die Gültigkeit der obersten Prinzipien einfach voraussetzen. Die damit geforderte Prüfung der Prinzipien selbst führt auch nicht etwa in einen unendlichen Regreß, sondern sie führt — zum Entwurf einer neuen Philosophie. Nur im eige48
Vgl. H . Heimsoeth, Die Objektfrage in der Kantischen Ästhetik. Festschrift für H . Cohen, 1912.
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nen Philosophieren, d. h. im Entwurf einer neuen Philosophie neben der zur Prüfung aufgegebenen, können die Prinzipien, von denen die Gültigkeit aller philosophischen Erkenntnis abhängt, ihre Begründung erlangen. Daher führt in der Philosophie der Prozeß der Prüfung nicht zu einer gemeinsamen Verständigung auf den Boden der einen Wissenschaft, sondern zu der immer erneuten Vereinzelung »der« Philosophie in »die« Philosophien. Philosophie erhebt allen übrigen Wissenschaften gegenüber den Anspruch auf Zeiztbegründete (und daher auch alle übrigen Wissenschaften begründende) Erkenntnis; sie vermag dies jedoch nur, weil und sofern sie sich, und d. h. ihre obersten Prinzipien, selbst zu begründen in der Lage ist. Aus eben diesem Grunde aber kann es in der Philosophie nicht zu dem Consensus kommen, der die Einzelwissenschaften auszeichnet. Daß es in der Philosophie keinen herauslösbaren Bestand allgemein-anerkannter Einsichten gibt und geben kann, kann nur ein einseitig an den positiven Wissenschaften orientiertes Denken dazu verleiten, der Philosophie den Wissenschaftscharakter abzusprechen; es begründet in Wahrheit jedoch gerade die Würde und den ausgezeichneten Rang der Philosophie im Reich der Wissenschaften. Philosophie ist also im Sinne aller übrigen Wissenschaften keine Wissenschaft, — aber nicht weil sie hinter deren Anforderungen hinsichtlich der Strenge und Notwendigkeit der in ihr geforderten Begründungen zurückbliebe, sondern weil sie deren Anforderungen radikal überbietet. Wenn daher, um eine Formulierung Hartmanns zu benutzen, »die Geschichtlichkeit eines jeweils Gegenwärtigen an dem Hineinragen des Vergangenen hängt«49, so ist für die spezifische Geschichtlichkeit der Philosophie charakteristisch, daß sie keinen überlieferten Lehrbestand kennt, auf dem fußend sie weiterbaut, sondern daß sie an jedem Punkte ihrer Entwicklung ihre gesamte Vergangenheit wieder in Frage stellen muß. Der Streit der Philosophen ist nicht eine Folge davon, daß es in der Philosophie keine Erkenntnisse gibt, welche das Recht hätten, die Anerkennung aller zu fordern, sondern folgt aus ihrem einzigartigen Wissenschaftscharakter. Weder die Grundlagen, noch die Methoden können in ihr zum Behuf gemeinsamer »Forschung« stillschweigend vorausgesetzt werden. Nur faktisch-geschichtlich sind solche Einigungen, die eine »kollektive Arbeitsleistung« (Husserl) ermöglichen, vollziehbar. Aber audi wenn sich alle lebenden Philosophen auf der Basis einer Ubereinkunft über Wesen und Methode der Philosophie zu einer planetarischen »Schule« zusammenschlössen, so bliebe die daraus resultierende »eine« Philosophie doch immer nur eine konkrete, faktisch-geschichtliche, neben der es prinzipiell unbegrenzt viele mögliche Philosophien geben könnte; sie bliebe als »eine« Philosophie von »der« Philosophie grundsätzlich unterschieden und würde als diese »eine« Philosophie die durch 49
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Geistiges Sein, 2. Α., S. 4 3 .
sie zusammengeschlossenen Denker in anderer Weise aneinander binden, als etwa »die« Physik die Gemeinschaft aller physikalisch Forschenden konstituiert. Die Vielheit der Philosophien ist aber so wenig ein Skandal der Philosophie, daß sie vielmehr die Bedingung darstellt, unter der »die« Philosophie überhaupt nur sein kann. Weil der Bestand »der« Philosophie an ihre mögliche Pluralität gebunden ist, deshalb hebt derjenige, der die Vielheit der Philosophien mit Mitteln der Gewalt aufzuheben trachtet, die Philosophie überhaupt auf; denn er nimmt ihr die Möglichkeit, der Radikalität ihres Anspruchs auf Leizibegründung genüge zu tun. Weil jede Philosophie (als ein Entwurf »der« Philosophie) alle anderen ausschließt, gerade darum ist die Vielheit der Philosophen gefordert. Daß es »die« Philosophie nicht gibt und nicht geben kann, hat also tiefere Wurzeln, als die banale Feststellung auszudrücken vermag, daß jeder seine »eigene« Philosophie habe. Daher öffnen unsere Überlegungen auch nicht der subjektiven Willkür Tür und Tor und geben die Philosophie nicht dem Belieben des Einzelnen preis, wenn sie das Recht des individuellen Entwurfs in ihr zu erweisen suchen; denn sie erweisen das Recht des individuellen Entwurfs als die Kehrseite der Notwendigkeit, die Philosophie immer wieder in ihrer Möglichkeit zu begründen. Von den verschiedensten Ansatzpunkten aus gelangen wir dazu, die fundamentale Unterschiedenheit der Philosophie von den Wissenschaften einzusehen, ohne doch den theoretischen Wahrheitsanspruch der Philosophie aufgeben zu müssen. Das zeigt sich auch, wenn wir nach dem »Gegenstand« der Philosophie fragen. Philosophie »hat« im Sinne der Einzelwissenschaften keinen Gegenstand, weil sie einen solchen nicht einfach als gegeben voraussetzen darf. »So wenig nämlich der Gegenstand der Philosophie außerphilosophisch vorweisbar ist, so wenig ist die Frage nach ihm außerphilosophisch abgrenzbar.«50 Nur innerhalb der Philosophie ist eine Verständigung darüber möglich, was denn überhaupt ihr Gegenstand ist. Innerhalb ihrer — und das heißt innerhalb einer jeden Philosophie — muß diese Frage audi notwendig beantwortet werden. Wie allen philosophischen Fragen, an deren Beantwortung die »Möglichkeit« der Philosophie selbst haftet, kann ich ihr nicht ausweichen; ich kann sie auch nicht auf die lange Bank der »Forschung« schieben, indem ich sie vorerst suspendiere; denn solange ich sie nicht — implizit oder explizit — beantwortet habe, ist Forschung überhaupt nicht möglich. Ich muß sie hier und jetzt beantworten oder aber eine Antwort ungeprüft voraussetzen, was dem Anspruch der Philosophie auf letztbegründete Erkenntnis widerspräche. Daß alle philosophischen Fundamentalfragen eine Antwort von mir als diesem Einzelnen hier und jetzt 50
H . Plessner, Die Frage nach dem Wesen der Philosophie. In: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1953, S. 87. Vgl. auch ebd.: Gibt es einen Fortschritt in der Philosophie?
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in einem jeweiligen abgeschlossenen Entwurf »der« Philosophie verlangen, bringt ein Moment der Irrationalität in die geschichtliche Abfolge der Philosophien, das wiederum gegen den Erkenntnisanspruch der Philosophie zu sprechen scheint. In Wahrheit folgt jedoch audi diese Notwendigkeit der Entscheidung und des jeweiligen Abschlusses aus der spezifischen Struktur der philosophischen Erkenntnis, die als eine letztbegründete und sich selbst begründende nur jeweils vollzogen werden kann. Wo der Einzelwissenschaftler auf den Progreß der »Forschung« vertrauen darf, muß der Philosoph das Wagnis einer Antwort auf sidi nehmen, weil er keine der Antworten, von denen der Sinn seines Tuns abhängt, voraussetzen darf, ohne sie selbst begründet zu haben. So ist eben das Moment der geforderten Selbstbegründung, das die Würde und den Rang der Philosophie im Reich der Wissenschaften konstituiert, der Grund für den Wagnischarakter jeder Philosophie. Welchen der Züge, die die eigentümliche »Geschichtlichkeit« der Philosophie ausmachen, wir auch herausgreifen, stets erweist sich uns, daß die Philosophie im Vergleich mit allen übrigen Wissenschaften nicht »etwas ganz anderes als Wissenschaft« (Jaspers), sondern die ganz andere Wissenschaft ist. Die »Geschichtlichkeit« der Philosophie und ihr Wahrheitsanspruch sind so gewiß keine konkurrierenden, sich wechselseitig ausschließenden Instanzen, als die eigentümliche Weise, in der die Philosophie jeweils gegenwärtig ist, in dem spezifischen Geltungsanspruch philosophischer Erkenntnis begründet ist. Aber auch die Weise, in der sich die Philosophie als jeweils gegenwärtige zu ihrer Geschichte verhält, findet darin ihren Grund. Wir versuchen daher abschließend zu begreifen, warum sich die Philosophie in einer grundsätzlich anderen Weise auf ihre Geschichte verwiesen sieht als die positiven Wissenschaften, und in welcher Weise sich die Philosophie als solche zu ihrer Geschichte verhält. — Die Einsicht, daß die Frage nach ihrer eigenen Geschichte der Philosophie in einer anderen Weise gestellt ist als den übrigen Wissenschaften, steht bereits am Anfang der Konzeption der Problemgeschichte. Für Hartmann ist (in der Nachfolge Hegels) die Philosophiegeschichte das letzte Systemglied der Philosophie selbst (M. 3). Aber seine Begründung dafür, warum sich die Philosophie notwendig und aus ihrem eigenen Interesse heraus ihrer Geschichte zuwendet, blieb unzureichend. Denn wenn die Philosophie in sich selbst einen »aufsammelnden Prozeß« darstellt, so kann die Hinwendung zur Geschichte, um zu sehen, wie der jetzige Erkenntnisstand geworden ist, nur eine »doppelte Buchführung«51 bedeuten, die für mein eigenes Philosophieren gleichwohl ohne Folgen ist. Daß die Geschichte der Philosophie die Bedingung meines gegenwärtigen Philosophierens ist, bedeutet noch nicht, daß die Zuwendung zu ihr audi dessen 51
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Ich entnehme den Ausdruck einem Aufsatz von W. Goldschmidt, Die Aufgabe des Philosophiehistorikers, Z. f. philos. Forschung I X , 1955, S. 594.
Voraussetzung sei. Aber auch das Bewußtsein der Geltungsendlichkeit meiner eigenen Philosophie verweist mich noch nicht notwendig auf die Geschichte, denn eben dies Moment der Geltungsendlichkeit .gilt audi für jedes Stadium der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis in gleicher Weise. Auch das jeweilige Stadium der Entfaltung der Einzelwissenschaften ist ein endliches, ohne daß diese Endlichkeit den Einzelwissenschaftler auf die Geschichte zurück verwiese. Im Vertrauen darauf, daß das sachlich Bedeutsame der Vergangenheit in das gegenwärtige Stadium seiner Wissenschaft eingegangen ist, kann er auf eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verzichten und sich allein denjenigen Theorien zuwenden, die mit der eigenen sachlich »gleichzeitig« sind. Da aber in der Philosophie auch alle vergangenen Entwürfe dem eigenen nicht nur sachlich vor-, sondern «eingeordnet sind, sieht sich der Philosoph auf die gesamte Vergangenheit verwiesen. Weil »jede« Philosophie als Entwurf »der« Philosophie ihrem Geltungsanspruch nach alle anderen Philosophien ausschließt, muß sie sich mit ihnen allen auseinandersetzen. Durch jede Philosophie wird die gesamte Geschichte der Philosophie prinzipiell »aufgehoben«, d. h. in Frage gestellt; umgekehrt stellt aber auch das Dasein jeder anderen Philosophie den Geltungsanspruch der eigenen in Frage. Gerade weil die Philosophie von Hause aus keinen kontinuierlichen, »aufsammelnden« Progreß kennt, sondern sich als Vielheit mit einander konkurrierender Entwürfe der einen Philosophie entfaltet, ist der Bezug auf die Allheit aller vorliegenden Philosophien mit jedem Entwurf implizit gefordert. Deuten wir nun noch an, unter welchen Bedingungen die Verwirklichung dieses Bezuges steht. Daß das Bewußtsein der Endlichkeit der eigenen Philosophie den Grund bildet, aus dem heraus sich jede Philosophie auf die Geschichte verwiesen sieht, dürfen wir als die Lehre der Geschichtlichkeitsphilosophien herausschälen. Daß aber dieser Bezug nur unter der Voraussetzung »identischer Probleme« möglich sei, behauptete die Konzeption der Problemgeschichte. Beide schienen sich auszuschließen, und auch wir mußten der Kritik an der Hartmannschen Konzeption der Problemgeschichte zunächst weitgehend beipflichten. Weil es »die« Philosophie nur in der Gestalt vereinzelter, geschichtlicher Philosophien geben kann, darum kann ich audi meiner Hinwendung zur Geschichte der Philosophie »die« philosophischen Probleme immer nur in der jeweiligen, geschichtlichen Gestalt zugrunde legen, die sie in meinem eigenen Denken gewonnen haben. Nur in einer, konkreten Philosophie können die philosophischen Probleme ihre Bestimmtheit erlangen; nur von jeweils einer aus kann es daher auch gelingen, in den Gehalt fremder Philosophien einzudringen. Nur weil der Philosoph als Historiker, auch was die Fühlung mit den »ewigen« Problemen angeht, seinem »Gegenstande« grundsätzlich ohne Vorrang gegenübersteht, kann es für ihn zu einer echten »Begegnung« kommen, in der nicht nur die fremde Philosophie auf Vor29
Stadien eigener Einsichten abgeklopft, sondern die eigene Sicht der Probleme mit in Frage gestellt wird. — Wenngleich somit die Perspektive auf die Gefliehte der Philosophie immer nur die aus einer Philosophie sein kann, so verliert die Voraussetzung »der« philosophischen Probleme doch ebensowenig ihren Sinn, wie wir es vermeiden konnten, von »der« Philosophie im Unterschied zu den vielen Philosophien zu sprechen. Würden wir darauf verzichten, die konkreten geschichtlichen Philosophien als Entwürfe der einen Philosophie zu begreifen, so lösten sich für uns gewiß manche Schwierigkeiten. Ihr »Widerstreit« fiele dahin, ihre Vielheitlichkeit würde problemlos. Wo ich die Vielheit der Philosophien dadurch zu erklären versuche, daß ich Philosophie überhaupt als »Ausdruck« eines Menschen oder Menschentyps, als Ausdruck einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung oder des jeweiligen Zeitgeistes begreife, dort gebe ich mit der Idee der einen Philosophie auch die Voraussetzung auf, die dem Mit- und Zueinander der Philosophien erst ihre Schärfe verleiht. — Dasselbe gilt aber auch von der Voraussetzung, daß ich in den Problemen meiner Philosophie die Probleme der Philosophie ergreife. Rücke ich von dieser Voraussetzung ab, so entfällt mit dem Anspruch auf prinzipiell uneingeschränkte Gültigkeit meiner Philosophie auch die Notwendigkeit, meine Probleme dem Belieben zu entreißen und sie als philosophische Probleme zu rechtfertigen. Zugleich hebe ich aber audi das Verhältnis der Konkurrenz auf, daß alle Philosophien in so einzigartiger Weise aneinander bindet und aufeinander verweist. Die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer echten »Begegnung« zwischen den Philosophien ist also dort ebenso aufgehoben, wo auf die Voraussetzung der Idee »der« Probleme der Philosophie verzichtet wird, wie dort, wo aus dieser Voraussetzung die beruhigte Gewißheit eines sicheren Besitzes geworden ist. Wenn ich wüßte, daß ich in »meinen« Problemen »die« Probleme der Philosophie ergriffen hätte, dann würde die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie für mich ebenso zu einer nebenamtlichen Tätigkeit, wie dies die historische Betätigung für den Einzelwissenschaftler ist; andererseits aber würde mein Verhältnis zu fremden Philosophien zu einem bloß ästhetischen oder einer rein historischen Einfühlung in fremde Geistigkeit, wenn ich davon ausginge, daß jede Philosophie nur ihre »eigenen« Probleme zum Austrag bringt. In beiden Fällen wird mit der Spannung zwischen der Idee »der« philosophischen Probleme und den jeweiligen Problemen der konkreten Philosophien auch die Voraussetzung eines durch die Zeiten gehenden Gesprächs der Philosophien aufgehoben; denn nur unter der Voraussetzung des Bezugs auf ein und dieselbe Aufgabe ist der Dialog der Philosophien sinnvoll, der in der Prüfung der Gründe und im Geltendmachen von Gegengründen erst die Geschichtlichkeit unseres gemeinsamen Philosophierens bewährt. 30
2. ZUR GEGENWÄRTIGEN KRITIK AN DER ERKENNTNISTHEORIE
Die Gegenwart ist weithin vom »Ende der Erkenntnistheorie« überzeugt. Nachdem schon Lebensphilosophie und Phänomenologie, Ontologie und Anthropologie die Vorherrschaft des einseitig erkenntnistheoretischen Philosophierens erschüttert hatten, trat Heidegger mit einer radikalen Kritik hervor, die sich nicht mehr als Kritik innerhalb der Erkenntnistheorie, an diesem oder jenem ihrer Lehrstücke, sondern an der Erkenntnistheorie überhaupt verstand. Unser spät-historisches Zeitalter hat die Verkündung des »Endes der Erkenntnistheorie« nur zu gern aufgegriffen, wie es ja auch sonst schnell bei der Hand ist, von dem »Ende der Ontologie«, dem »Ende der Metaphysik«, der philosophischen Ethik, Ästhetik usf. zu reden. Heideggers Philosophie, die wir hier als wirksamsten Repräsentanten von Gedanken wählen, die zum Teil in abgewandelter Form audi vor und neben ihr vertreten worden sind, enthält aber nicht nur besagte Kritik an der Erkenntnistheorie, sondern selbst — wie in einer Philosophie der Neuzeit nicht anders möglich — eine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Wir wollen nicht jene Kritik an der Erkenntnistheorie referieren, die wir hier als bekannt voraussetzen dürfen, sondern vielmehr Heideggers eigene, meta-erkenntnistheoretische Grundlegung der Erkenntnis analysieren, um sie auf den Punkt zu führen, wo sich zeigen muß, ob diese Grundlegung der Erkenntnis wirklich als gesichertes Fundament zu dienen vermag, oder ob sie dies Geschäft letzter Begründung der Erkenntnis an eine, wenngleich neue und durch neue Ansätze und Aufgaben bereicherte »Erkenntnistheorie« übergeben muß. I Wir beschränken uns von vornherein auf einen einzigen Gedankenzusammenhang, in den wir ohne Umschweife einsteigen. Heideggers Denken ist gewiß nicht nur und nicht primär, wohl aber auch, und nicht nur beiläufig, der Versuch einer Grundlegung der Erkenntnis. Nur darum kann er glauben, die Erkenntnistheorie entbehren zu können. Und zwar ist seine Grundlegung eine ontologische Grundlegung der Erkenntnis. Dabei lassen sich zwei Frage-Schritte unterscheiden, die wir einmal die ontologische, dann die fundamental-ontologische Grundlegung der Erkenntnis nennen können: 1. Die ontologische Grundlegung der Erkenntnis fragt, wie ontische Erkenntnis (Erkenntnis von Seiendem, Wahrheit oder Unverborgenheit des Seienden) möglich ist. Der begründende Rückgang führt von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis, vom Seienden in seiner Unverborgenheit zum Sein, das das Seiende in seine Unverborgenheit bringt. Die 31
Antwort lautet also kurz: Ontische Erkenntnis ist nur möglich auf Grund der ontologischen Erkenntnis. 2. Die fundamental-ontologische Grundlegung geht noch einen Schritt weiter. Ihr Problem ist nicht mehr das einer Grundlegung der ontischen Erkenntnis oder »Erfahrung« im Kantischen Sinne, sondern das einer Grundlegung der Ontologie. Sie fragt nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Seins, der Wahrheit des Seins. Da, wie seit alters her bekannt, der Begriff des Seins nicht aus einer höheren Erkenntnis abgeleitet werden kann, biegt hier die Begründung in eine neue Dimension um; sie führt nicht mehr Erkenntnis auf Erkenntnis, sondern eine Erkenntnisart auf die Seinsverfassung des durch Seinsverständnis ausgezeichneten Seienden, genannt »Dasein«, zurück. Entsprechend diesen beiden Schritten fragen auch wir im ersten Teil nach dem Recht und der Durchführbarkeit des Versuchs, die Erkenntnistheorie durch eine ontologische Grundlegung der Erkenntnis zu ersetzen, und prüfen sodann den Gedanken, die ontologische Erkenntnis durch eine Ontologie des erkennenden Daseins zu fundieren. Wir beginnen mit der Analyse der ontologischen Grundlegung der Erkenntnis: Wie jede Philosophie spricht auch diejenige Heideggers in eine bestimmte Problemsituation hinein, — hier in die sogenannte Wendung von der Erkenntnistheorie zur Ontologie in den zwanziger Jahren. Ohne Zweifel stellt es gegenüber der Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts und der Neukantianer, die allein die Aufgabe einer Grundlegung der positiven Erfahrung (Wissenschaft) und die Methode der Analyse der erkennenden, urteilenden Subjektivität kannte, ein Novum dar, daß der Weg der Grundlegung der ontischen Erkenntnis bei Heidegger auf eine Ontologie führt. Dennoch handelt es sich von der Durchführung her um einen reinen Apriorismus, allerdings einen solchen, der sich, wie in der frühen, sogenannten »realistischen« Phänomenologie oder bei Emil Lask, von jeder Belastung durch einen Subjektivismus des Apriori befreit hat. Er besagt nun nur noch: Alle Erkenntnis von Einzeltatsachen gründet in Wesenserkenntnis des betreffenden Seienden, d. h. alle Erkenntnis von Seiendem in Erkenntnis des Seins. Es kann hier nicht gezeigt werden, wie dies Thema der aristotelisch-scholastischen Transzendentalphilosophie auf dem Wege über den Kritizismus von Heidegger in die Phänomenlogie transponiert worden ist (wie wir uns auch sonst mit einer Ausnahme aller Rücksicht auf die Genese der Heideggerschen Philosophie enthalten müssen), genug, daß auch das Sein von ihm als »Phänomen« verstanden wird. Es ist einerseits Grund der ontischen, zum anderen aber selbst »Gegenstand« der ontologischen Erkenntnis. Entscheidend ist dabei zunächst, daß Heidegger den Grund der Wahrheit des Seienden in einer Wahrheit des Seins, den Grund ontischer 32
Erkenntnis in ontologischer Erkenntnis findet. Er begeht also nicht den Fehler, den der sogenannte Realismus und zum Teil auch die Neo-Ontologie so leicht begehen, nämlich Erkenntnis auf Seiendes gründen zu wollen, sondern er gründet Erkenntnis auf Erkenntnis, Wahrheit auf Wahrheit, Wissen auf Wissen. Dies ist also die erste Eigentümlichkeit der Heideggerschen Erkenntnisbegründung, daß eine Aufgabe, die als echtes Reflexionsproblem gestellt ist (wie ist ontische Erkenntnis möglich?), durch eine Ontologie gelöst, bzw. daß die Ontologie als Reflexion begriffen wird; als eine Reflexion allerdings, die nicht auf Urteile und Urteilsfunktionen, sondern auf das »Sein« führt. Unsere Frage wird sich daher so stellen, ob der Weg der Erkenntnisbegründung auf das Sein und die Ontologie als letzte Instanzen oder über das Sein und die Ontologie führt. Um ein echtes Reflexions-Problem handelt es sich bei der Ontologie so gewiß, als ja die Frage nicht geradehin auf vereinzeltes Seiendes gerichtet wird, um es in seinem Dasein oder Sosein zu bestimmen, sondern auf schon erschlossenes, unverborgenes Seiendes, dessen Unverborgenheit gerade bedacht werden soll. In der Frage nach dem »Sinn von Sein«, der in aller Erkenntnis von Seiendem immer schon eingeschlossen liegt, und zwar so, daß das Sein (in seinem Scheinen) erst das Seiende in seine Unverborgenheit treten läßt, tritt der Reflexionscharakter offen zutage, und der Ausdruck Reflexion vermag nur denjenigen zu stören, der — in den Bahnen alter Alternativen denkend — alle Reflexion immer schon und nur als Reflexion auf die urteilende Subjektivität zu denken vermag. Nicolai Hartmann hat hier, aus seiner kritischen Position einer Ontologie in der intentio recta, den Reflexionscharakter der Heideggerschen Ontologie durchaus richtig erkannt, wenn er ihren Ansatz bei der Frage nach dem »Sinn von Sein« tadelte. Wir haben auf diese Kritik, die der Hartmannschen Ontologie wiederum den Vorwurf der bloßen »Ontik« eintrug, nur angespielt, weil sie hervortreten läßt, daß Heidegger das Sein nicht als Grund der Seiendheit des Seienden, sondern nur als Grund seiner Unverborgenheit denkt. »Sein« leistet — im Unterschied zur gesamten alten und neuen Ontologie — bei Heidegger nur dies, Seiendes in seine Unverborgenheit zu bringen und, was dasselbe besagt, ontische Erkenntnis von Seiendem möglich zu machen. Auch dort, wo Heidegger sagt: Seiendes »ist« nie ohne das Sein, bzw. ohne Sein »gibt es« kein Seiendes, handelt es sich nur um diese »transzendentale« Funktion des Seins. Weil aber Heidegger das Sein ausschließlich als Grund der Unverborgenheit des Seienden denkt, gilt andererseits auch notwendig, daß das Sein nur als Scheinendes, Sich-Zeigendes, als Wahrheit des Seins, die Wahrheit des Seienden zu gewährleisten vermag. Daher macht Heidegger der gesamten Tradition ebenso den Vorwurf, sie habe das Sein 33 3
Brelage
selbst, wie audi, sie habe die Wahrheit des Seins nicht bedacht. Nur sofern Sein sich lichtet und es Seinsverständnis gibt, vermag Seiendes in die Unverborgenheit zu treten. Hier liegt der Ursprung der — für die alte Ontologie wie audi für die Neu-Ontologie so anstößigen — »Vergeschiditlichung« des Seins. Gewiß unterscheidet Heidegger das Sein selbst von dem je endlichen und geschichtlichen Seinsverständnis, aber ebenso gewiß denkt er dem Sein selbst Endlichkeit und Geschichtlichkeit zu. Der Grund dafür liegt darin, daß Heidegger das Sein nie losgelöst vom Seinsverständnis, daß er es nur von seiner transzendentalen Begründungsfunktion her zu denken vermag. Nur als endliches und geschichtliches Seinsverständnis, nur als Verstandenes eines jeweiligen Verständnisses, vermag das Sein seine transzendentale Begründungsfunktion auszuüben und Seiendes in die Unverborgenheit zu bringen. Daher liegt es daran, ob und in welcher Gestalt das Sein sich dem Dasein im jeweiligen Seinsverständnis zuschickt, ob und in welcher Gestalt sich Seiendes entbirgt. Hier steht jedoch nicht das Problem der Seinsgeschichte zur Debatte, sondern der Versuch einer ontologischen Grundlegung der Erkenntnis. Führt diese ontologische Grundlegung von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis zurück, so ist damit nicht die philosophische Ontologie gemeint, sondern das vorontologische und vorbegriffliche Seinsverständnis, das in der philosophischen Ontologie nur nach-gedacht und begrifflich expliziert wird. Dieses vor-ontologische Seinsverständnis ist erst der wahrhafte Grund der ontischen Erkenntnis; es ist aber zugleich auch der Grund der philosophischen Ontologie. Es begründet auf Grund seiner Vorgängigkeit oder Apriorität die Unverborgenheit des Seienden — und es begründet als ursprüngliches und unmittelbares Seinsverständnis, in dem sich das Sein an ihm selbst zeigt, das begriffliche ontologische Erkennen. Heidegger untersdieidet also zwei Arten des Gründens, die er beide dem vorontologischen Seinsverständnis zudenkt: die »transzendentale« Grundfunktion des vorgängigen Verstehens und die begründende Valenz der ursprünglichen Selbsthabe des Gegenstandes (des Seienden wie des Seins), auf die alle begriffliche Erkenntnis zurückgeführt werden muß. Hingegen fehlt bei ihm eine Dimension der Grundlegung, die man in gewisser Hinsicht als die letztlich entscheidende ansehen darf, dann nämlich, wenn es dem Denken wirklich auf Begründetheit und Einsicht in die Gründe seines Wissens ankommt. Wie wenig diese Dimension mit den beiden von Heidegger erwogenen zusammenfällt oder durch sie ersetzt werden kann, wird schon daran deutlich, daß sich in ihr die Richtung der Abhängigkeit geradezu umkehrt. In ihr ist nämlich die begriffliche ontologische Erkenntnis, jenes letzte und abkünftigste Glied in der Erkenntnisordnung Heideggers, die Grundlage — wenngleich auch noch 34
nicht die letzte Grundlage — sowohl für die ontische Erkenntnis wie für das vor-ontologische Seinsverständnis. Wir können diese Dimension — in Anlehnung an Hans Wagner, der sie in der Gegenwart am eindringlichsten ausgearbeitet hat — die Dimension der transzendental-logischen Geltungsreflexion nennen. In ihr gilt: Nur unter der Voraussetzung der Gültigkeit der begrifflichen ontologisdien Erkenntnis ist auch die ontische Erkenntnis gültig; d. h. nur sofern die reine Erkenntnis des Seins, in ihrer begrifflichen wie vorbegrifflichen Gestalt, sich als gültig ausweisen läßt, kann dies auch mit der Erkenntnis des Seienden geschehen. Gesetzt also den Fall, daß es eine Methode gibt, die ontologische Erkenntnis auf ein sicheres Fundament zu stellen, so läßt sich von ihr aus nicht nur die ontische Erkenntnis sichern, sondern wir können auch an Hand dieser gesicherten ontologischen Erkenntnis den wirklichen Seinsgehalt des vor-ontologischen Seinsverständnisses herausheben und prüfen, von dem wir bisher immer nur voraussetzen mußten, daß es echtes Seinsverständnis, wenngleich in vor-begrifflicher Gestalt, ist. Damit würde zwar nicht diejenige Abhängigkeit der ontologischen Erkenntnis vom vor-ontologischen Seinsverständnis aufgehoben, die darin besteht, daß die ontologische Erkenntnis der Philosophie durch die ontische Erkenntnis des Seienden vermittelt und nur als Reflexion auf die vor-ontologischen Grundlagen der ontischen Erkenntnis möglich ist (diese Abhängigkeit ist unaufhebbar, weil philosophische Erkenntnis nicht erste, sondern letzte Erkenntnis ist), — aber die Gültigkeit der ontologischen Erkenntnis würde vom vor-ontologischen Seinsverständnis — ganz oder partiell — unabhängig. Vergegenwärtigen wir uns die Unumgänglichkeit dieser Aufgabe: Es ist eins der interessantesten Lehrstücke Heideggers, daß er solchen Verhaltungen des Menschen wie Angst, Sorge, Befindlichkeit usf., die wir gewöhnlich auch heute noch der Psychologie zuzuschieben bereit sind, Erfahrungscharakter, und zwar ontologischen Erfahrungscharakter, zuzudenken vermocht hat. Erst dadurch wurden sie überhaupt zu legitimen philosophischen Gegenständen. Daß sie ontologischen Rang haben, heißt, daß ihnen eine Leistung bei der Erschließung (nach Heidegger sogar die Leistung der primären Erschließung) des Seins, des Nichts, des Grundes, der Welt usf., also bei der Erschließung echter ontologischer Gründe, zukommt. Sie sind also weder pures psychisches Seiendes, noch aber auch von »intentionaler« Struktur, d. h. auf Einzelseiendes in seiner Vereinzelung bezogen; in ihnen geschieht vielmehr schon Semsverständnis und, wie Heidegger glaubt, ursprünglich gerade nur in ihnen. Die spezifisch menschliche Seinsverfassung des Daseins als In-der-Welt-Sein, vermöge derer er sich zu innerweltlichem Seienden verhalten kann, ist nicht auf die begriffliche Erkenntnis eingeschränkt oder gar von ihr ursprünglich geleistet, sondern alle Sdiichten des menschlichen Daseins bis hinein 3*
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in seine abgründigste Angst, Sorge und Stimmung sind bereits von ihr beherrscht. Aber durch die Voraussetzung, daß sich in diesen Bereichen das ursprüngliche Seinsverständnis ereignet und daß es die Grundlage aller ontisdien und ontologischen Erkenntnis ist, sieht sich die Philosophie vor bedeutende Probleme gestellt, und es gehört schon eine gute Portion Verliebtheit in das Ursprüngliche und Sub-Logische dazu, um diese Probleme nicht sehen und nicht wahrhaben zu wollen. Denn mag das vor-ontologische Seinsverständnis auch seinem Gehalt nach Seinsverständnis und Seinsdenken sein, seiner Form nach ist es alles andere als Erkenntnis, nämlich vor-prädikatives und prä-kognitives Verstehen in der Gestalt der Befindlichkeit, Sorge, Angst usf. Weil es aber nicht Erkenntnis ist, darum vermag es sich auch nicht selbst zu interpretieren und zu begründen. Angst, Befindlichkeit und Sorge blieben stumm, wenn sie nicht das philosophische Denken erlöste und ihnen die Worte in den Mund legte, die sie schon immer haben sagen wollen. Erst die philosophische Erkenntnis kann herausheben, was in diesen vor-prädikativen und prä-kognitiven Akten an echtem Seinsgehalt steckt. Erst durch die philosophische, und zwar begriffliche Erkenntnis erlangt das Dasein echtes Für-Sich-Sein, wird es sich als das offenbar, was es an ihm selbst und schon vor aller begrifflichen philosophischen Erkenntnis ist: nämlich In-der-Welt-Sein, Seinsverständnis in der Gestalt der Angst, Sorge, Befindlichkeit und unter welcher Vermummung immer. Wenn wir ein Beispiel für diese Leistung der begrifflichen Erkenntnis aus einem anderen Bereich suchen: Wir wissen heute, wieviel echte Einsicht in den Praktiken der Medizinmänner alter und fremder Völker steckt; aber daß wir dies wissen und nun wirklich scheiden können, wieviel an dieser gewiß nicht wissenschaftlichen Kenntnis echte Einsicht, wieviel aber eventuell auch bloß Aberglaube oder Humbug war, das verdanken wir ja einzig und allein unserem eigenen gesicherten Wissen. Wir können also einen doppelten Vorrang der Erkenntnis konstatieren: 1. Mag auch das vor-prädikative und prä-kognitive menschliche Dasein schon seinserschließend sein, — daß es das ist und in welchem Maße und in welcher Weise, das alles sagt ihm erst die Erkenntnis — erst durch die Erkenntnis wird es sich als das offenbar, was es an ihm selbst ist. Aber das Für-Sich-Sein, das das ursprüngliche Dasein dadurch erlangt, ist im Falle der vor-prädikativen und prä-kognitiven Akte in Wirklichkeit noch ein Für-Anderes-, nämlich Für-die-Erkenntnis-Sein. Erst im Falle der Reflexion der Erkenntnis auf sich selbst gilt im strengen Sinne, daß hier echtes Für-Sich-Sein vorliegt. Das heißt aber, daß das Erkennen, und zwar das begriffliche Erkennen, aller fundamental-
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ontologischen Abkünftigkeit ungeachtet, eine wahrhaft ausgezeichnete Seinsweise menschlichen Daseins ist; denn nur das Erkennen kann nicht nur alle anderen Weisen menschlichen Sich-Verhaltens auf ihr Wie und Was, ihre Qualität und ihren Gehalt hin prüfen, sie allein kann auch sich selbst diese Leistung angedeihen lassen und sich selbst prüfen und begründen. 2. Wer Heideggers Analysen der Angst, der Befindlichkeit usf. unbefangen liest, mag wohl staunen, mit welcher nachtwandlerischen Sicherheit er in ihnen einen Gehalt findet, der wirklich ontologische Valenz hat. Ein Pendant hierzu ist seine etymologische Methode, die in allen Wurzelworten der deutschen und griechischen Sprache immer wieder dieselben genuin phänomenologisch ontologischen Sachverhalte als Denken ausgedrückt findet. Er vermag dies aber nur, weil sein Denken schon, wie wir noch sehen werden, über einen ontologischen Leitfaden verfügt; nicht also, weil er sich etwa zuvor geängstet hatte, sondern weil er aus seinem reinen Denken bereits wußte, was ein letzter Grund und die Differenz zwischen Grund und Begründetem ist. Hier liegt der zweite Vorrang der ontologischen Erkenntnis vor dem vor-ontologischen Seinsverständnis, daß diese Erkenntnis nicht nur allein die Gültigkeitsprüfung des vor-ontologischen Seinsverständnisses leisten, sondern allein auch den ontologischen Gehalt des vor-begrifflichen Verstehens herausheben kann. Ohne diesen Vorrang wüßten wir nicht, was dieses vor-ontologische Verstehen an ontologischem Gehalt enthält, ohne den ersten Vorrang wüßten wir es nicht und nimmer wirklich.
II Wir werden diese Behauptung noch, so gut und so schlecht es in dieser knappen Zeit geht, zu begründen haben, wenn wir uns nunmehr der Frage nach der »Möglichkeit« ontologischer Erkenntnis zuwenden. Wir bewegen uns bereits seit geraumer Zeit im Vorfeld dieser Frage; denn die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ontisdier Erkenntnis führte mit Notwendigkeit auf die ontologische Erkenntnis und von ihr weiter auf die Frage nach der Möglichkeit ontologischer Erkenntnis. Wenn Ontologie ontische Erkenntnis soll begründen können, so nur unter der Bedingung, daß diese Ontologie ihrerseits begründet ist. So treibt das echt philosophische Verlangen nach Begründung unabweisbar zur Forderung einer »Grundlegung der Ontologie« fort. Es spricht für den Rang und die Radikalität des Heideggerschen Denkens, daß er dieser Forderung nicht ausgewichen ist. Ja, er ist es recht eigentlich gewesen, der, allem Uberschwang der neu-ontologischen Anfänge 37
der zwanziger Jahre zum Trotz, diese Frage als eine unabweisbare philosophische Frage erkannte und auszuarbeiten versuchte. "Wir wissen inzwischen bereits, wie Heideggers eigene Antwort auf die Frage nach der Grundlegung der Ontologie aussieht: Fassen wir Ontologie als begriffliche philosophische Erkenntnis, so ist diese nur möglich als begriffliche Explikation des vor-ontologischen Seinsverständnisses. So führt die Frage nach der Grundlegung der Ontologie letztlich auf das vor-ontologische Seinsverständnis und erhält nun die Gestalt: Wie ist vor-ontologisches Seinsverständnis, wie ist ursprüngliche Erschlossenheit des Seins möglich? Hier aber schlägt die Frage aus der ontisch-ontologischen Dimension der Erkenntnis-stufen um in die Dimension der Fundamental-Ontologie. Heidegger glaubt, auf die Frage nach der Möglichkeit der Ontologie antworten zu können durch eine Ontologie des ursprünglich seinsverstehenden Daseins. Wie Heidegger an der gesamten philosophischen Tradition kritisiert, daß sie das Sein oder die Wahrheit des Seins nicht bedacht hätte, so macht er gegenüber der erkenntnistheoretischen, vor allem der kritizistischen und Husserlschen Art der Erkenntnisbegründung immer wieder geltend, daß in ihr das »Sein« des Subjekts oder Bewußtseins, seine spezifische Seinsverfassung unbestimmt geblieben sei. Wenn Heideggers Frage nach der Grundlegung der Ontologie über Husserls Konstitutionslehre hinaus zu einer Fundamental-Ontologie wird, so heißt dies, daß sie von der Frage: In welchen Akten ereignet sich ursprünglich Seinsverständnis? fortschreitet zu der Frage: Welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich dies ursprüngliche Seinsverständnis ereignet? Und wie ist im Sein dieses Seienden die Möglichkeit und Notwendigkeit von so etwas wie Seinsverständnis gegründet? Die Fundamental-Ontologie führt also von dem vorausgesetzten ursprünglichen ontologischen Gehalt auf die Akte, in denen sich dieser Gehalt konstituiert oder erschließt, und von diesen Akten auf ihren »Vollzieher« und seine Seinsverfassung. Mag von Akten und ihrem Vollzug auch insofern nur noch schwer die Rede sein können, als es sich ja um diejenigen Akte handelt, die als immer schon vollzogen vorausgesetzt werden müssen, damit ein Vollzug von »intentionalen« oder ontischen Akten möglich ist, so gibt es doch keinen zwingenden Grund, nicht auch von ontologischen Akten oder der allen intentionalen Akten zugrunde liegenden Horizont-Intentionalität zu sprechen. Die Seinsverfassung des Vollziehers solcher Akte und erst sie soll den letzten Grund abgeben; dann nämlich, wenn begreifbar geworden ist, warum und wieso aus ihr die Notwendigkeit von Seinsverständnis folgt. Die Fundamentalontologie ist dabei ontologisch im doppelten Sinne: Sie ist einerseits Grundlegung der Ontologie, und sie ist andererseits selbst Ontologie eines bestimmten, allerdings ausgezeich38
neten Seinsbereiches, des Daseins, dessen Seinsverfassung Grund für sein Seinsverständnis ist. Wir haben hier den Punkt erreicht, an dem Heidegger von Rudolf Zocher der Vorwurf gemacht wurde, daß er Ontologie durch Ontologie zu begründen versuche, — ein Vorgehen, das allerdings unmöglich sein würde, wenn wir dabei an Begründung im Sinne der kritizistischen Geltungslogik dächten. Es kommt daher alles darauf an, den spezifischen Sinn von Begründung zu erfassen, der hier im Spiel ist, wenn wir über Recht und Grenzen der Heideggerschen Fundamental-Ontologie urteilen wollen. Die Gegenwart, die sich leicht damit abgefunden hat, daß sich »ontologische« Erkenntnis als letztbegründende und letztbegründende Erkenntnis als »Ontologie« vorstellt, mag solche Skrupel leicht für überflüssig erachten. Dennoch hängt von ihrer Überwindung nicht weniger ab als unser ganzes Ausgangsproblem, nämlich ob und wie weit die gegenwärtige Kritik an der Erkenntnistheorie berechtigt ist, und ob und wie weit sich eventuell die Erkenntnistheorie — in einer neuen Gestalt — gegenüber und über der Ontologie zu behaupten vermag. Heideggers Fundamental-Ontologie ist Ontologie des seinsverstehenden Daseins. In ihr geht es um die generelle Seinsverfassung eines je vereinzelten Seienden, das sich inmitten von anderem Seienden »befindet« und auf Grund seiner »Angewiesenheit« auf anderes Seiendes notwendig so etwas wie Seinsverständnis ausbildet. Das »Sich-Befinden-inmittenvon-anderem-Seienden« und die »Angewiesenheit« auf dieses sind aber nicht ontisch, sondern ontologisch zu verstehen. Heidegger macht nicht etwa den anthropologischen Versuch, aus der Angewiesenheit des Menschen als Mängelwesen sein Seinsverständnis abzuleiten. So bleibt die Fundamental-Ontologie bis zuletzt Ontologie und wird nicht Ontik, wenngleich sie es mit der Seinsverfassung eines Seienden zu tun hat, zu dessen Sein seine Jeweiligkeit und Vereinzeltheit gehört. Angewiesenheit ist nur der Ausdruck für die wesenhafte Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, die sich selbst durch ihr Seinsverständnis auf die Hinnahme von Seiendem anweist, mit anderen Worten gerade für die Tatsache, daß sich menschliches Erkennen selbst dazu bestimmt, daß ihm Seiendes und wie ihm solches begegnen kann. Ebenso ist auch die »Befindlichkeit« des Daseins nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache der wesenhaften »Transzendenz« des Daseins, das alles Seiende immer schon auf das Sein hin überstiegen haben muß, um sich inmitten von anderem Seienden befinden und zu ihm verhalten zu können. In dem Vorgehen Heideggers, das immer nur ganzheitliche ontologische Strukturen zu fassen bekommt, liegt aber audi die Grenze der Leistungsfähigkeit seiner Fundamental-Ontologie beschlossen. Denn, was habe ich wirklich Neues und Zusätzliches begriffen, wenn ich weiß, daß das vor-ontologische Seinsverständnis in der Seinsverfassung des Daseins 39
wurzelt? Wie wir noch sehen werden, kehren in bezug auf die Ontologie und die Fundamental-Ontologie die nämlichen Probleme wieder. Dennoch ist schon etwas geleistet, weil ich nun weiß, wer das Seinsverständnis leistet, und daß er es nicht zufällig tun oder auch eventuell lassen kann; daß ihm vielmehr dieses Seinsverständnis notwendig ist, weil er ohne es das Seiende nicht zu sein vermöchte, das er ist. Wenn es mit dieser Wesensnotwendigkeit seine Richtigkeit hat, so ist dadurch allerdings ein ganz bestimmter Typus erkenntnistheoretischer Fragen ausgeschlossen, alle Fragen nämlich, die von einem zunächst »weltlosen« Subjekt oder Bewußtsein ausgehen. Ist die Subjektivität des Subjekts sein »In-der-Welt-Sein« oder seine »Transzendenz«, so kann ich nicht fragen, wie dies Subjekt seine eigene »Sphäre« überschreitet; denn dies Subjekt ist auf Grund seiner Subjektivität immer schon »draußen«. Heidegger denkt also das Subjekt von vornherein tiefer und voller, als die landläufige Erkenntnistheorie es gewohnt war. Er denkt ihm eine Leistung zu, die es erst in den Stand setzt, Innerweltliches oder Seiendes zu denken. Ein Subjekt, das nichts als Innerweltliches oder Seiendes zu denken vermöchte, könnte auch dies Innerweltliche und Seiende nicht denken; es könnte im Ernst gar kein Subjekt der ontischen Erkenntnis sein. Damit ist die Analytik der sogenannten Intentionalität des Bewußtseins um einen entscheidenden Schritt vorwärts gebracht worden. Besagte der Begriff der Intentionalität bisher in der Phänomenologie nur, daß alles Bewußtsein »Bewußtsein von etwas« sei, so ist nun diese Intentionalität auf ihren Grund zurückgeführt. Dasein kann sich als das Seiende, das es ist, zu anderem Seienden, das es nicht ist, verhalten, weil es immer schon »Sein« verstanden oder »Welt« entworfen hat; weil es »im Grunde« nichts anderes ist als die »Ortschaft der Lichtung des Seins«, oder wie die Wendungen Heideggers sonst lauten mögen. Aber diesen Vorzügen der Fundamental-Ontologie stehen eine Reihe von Bedenklichkeiten gegenüber, und man sollte nicht länger in der Freude darüber, jene Probleme losgeworden zu sein, das Gewicht dieser dafür eingehandelten neuen Probleme für nichts achten. Zunächst, und wir berühren damit die Quelle aller weiteren Schwierigkeiten, ist die Methode der Fundamental-Ontologie, wenngleich in hermeneutisch modifizierter Weise, die einer »Phänomenologie«. Das heißt aber, daß alle ihre Ergebnisse den Charakter einer aufgewiesenen und aufweisbaren Seins- oder Wesensverfassung haben, nicht hingegen haben sie den Charakter einer Einsicht der Prinzipien und aus Prinzipien. Heidegger denkt dem Dasein als Transzendenz und Seinsverständnis echte Konstitutivität und Begründungsvalenz zu; aber er denkt es ihm nur als zu seinem Wesen gehörig zu; er fragt nicht, kraft welcher Prinzipien ihm dies möglich ist. Auf Grund welcher in diesem In-der4C
Welt-Sein immer schon stillschweigend vorausgesetzten Leistung vermag das Dasein dieses In-der-Welt-Sein, das es ist, zu sein? Muß es nicht immer schon mehr und anderes als In-der-Welt-Sein und Seinsverständnis sein, damit es überhaupt In-der-Welt-Sein und Seinsverständnis soll sein können? Wir wollen die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit hier nur in zwei Richtungen etwas weiter entfalten: 1. Wir begreifen auf Grund der Fundamental-Ontologie nicht, wie es überhaupt solches Dasein in seiner Vereinzeltheit oder Jeweiligkeit geben kann. Denn die »Jeweiligkeit« des Daseins und die »Jemeinigkeit« seiner Welt sind von Heidegger, wie alles übrige, nur als generelle Seinsverfassung phänomenologisch konstatiert. Die Vereinzeltheit gehört zum Wesen dieses Seienden, so daß es, wenn es Seiendes solcher Seinsverfassung gibt, es solches notwendig als jeweiliges und vereinzeltes gibt. Nicht aber ist geklärt, wie es solch Seiendes überhaupt geben kann. Denn dazu wäre erforderlich, die Dimension der Fundamental-Ontologie zu verlassen und die transzendentale Ontologie der Subjektivität in einer Ontologie der realen Welt zu verankern. Wir verfolgen diesen Faden hier nicht weiter, der uns nicht so sehr zur Erkenntnistheorie zurück, sondern zu einer Philosophie der realen Welt und in eine Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Wolfgang Cramer führen würde. Dennoch aber handelt es sich hier zweifellos um eine Problematik, der Heideggers Fundamental-Ontologie auf Grund ihres Ansatzes nicht gewachsen ist. 2. Entscheidender aber ist für uns die zweite Grenze der Fundamental-Ontologie, die eine Problemgrenze zur Erkenntnistheorie hin ist: Es ist nichts damit getan, in immer neuen Analysen aufzuweisen, daß das Dasein »immer schon« Seinsverständnis ist. Denn mit diesem »immer schon« wird das Problem nicht gelöst, auf Grund wovon das Dasein solches Verständnis des Seins und des Seins in seiner Unterschiedenheit vom Seienden sein kann. Gewiß ist es wahr, daß das Dasein sich Seiendes nur deshalb begegnen lassen kann, weil es zuvor, in welcher Gestalt immer, das Sein in seiner Unterschiedenheit vom Seienden gedacht hat. Dafür aber, daß es Denken des Seins sein kann, daß es die Wahrheit des Seins erfahren kann, muß der Grund in ihm selbst, dem Dasein oder Denken selbst liegen. Ist die Wahrheit des Seins nur für das (Dasein oder) Denken, so kann sie auch nur eine solche durch das (Dasein oder) Denken sein. Es muß dem Dasein also eine eigene Bestimmtheit zukommen, die seiner fundamental-ontologischen Bestimmtheit als »Dasein« oder »SeinsVerständnis« noch voraufliegt und dieses Seinsverständnis erst ermöglicht. Wir nannten diese in allem Dasein als In-derWelt-Sein und Seinsverständnis immer schon vorausgesetzte Bestimmtheit »Denken«. Die Theorie dieser Bestimmtheit kann aber nicht mehr Ontologie oder Fundamental-Ontologie sein, sie kann nur noch Reflexion des Denkens auf das Denken und seine eigenen Prinzipien sein. 41
Damit führt aber audi von der Fundamental-Ontologie her der Weg zu eben der Erkenntnis der Erkenntnis selbst zurück, auf die uns schon die Frage nach der Möglichkeit der ontischen Erkenntnis verwiesen hatte. Es kann hier nicht mehr gezeigt werden, wie diese Erkenntnis der Erkenntnis sich entfaltet und vollendet, sondern nur noch angedeutet werden, daß sie sich nur als Frage an die Erkenntnis und als Frage nach den Prinzipien der Gültigkeit der Erkenntnis entfalten und vollenden kann. Von ihnen und der Reflexion auf sie hängt aber in doppelter Weise die ontologische Erkenntnis oder das menschliche Seinsverständnis ab. Einmal sind sie Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß es neben dem Seienden und dem Sein audi noch die Erkenntnis des Seienden und ein Verständnis des Seins geben kann; zugleich aber entspringt aus der Reflexion auf sie auch erst die Möglichkeit, nun wirklich das »Sein« selbst in seiner fundamentalen Unterschiedenheit von allem Seienden zu denken. Wir machen an Stelle einer systematischen Begründung die Probe aufs Exempel, indem wir ausnahmsweise unsere philosophiehistorische Abstinenz durchbrechen und uns fragen, auf Grund welcher Voraussetzungen denn Heidegger selbst den für ihn so entscheidenden Begriff des »Seins« in seiner Unterschiedenheit von »Seiendem« oder den Begriff der »ontologischen Differenz« gewonnen hat. Es ist bekannt, daß Heidegger die ontologische Differenz erstmals in seiner Schrift »Vom Wesen des Grundes« ausdrücklich erläutert hat und daß er dies anhand einer Reflexion auf den Unterschied von ontischer und ontologischer Erkenntnis getan hat. Die ontologische Differenz hat aber auch im Denken Heideggers und über dies Denken hinaus eine Vorgeschichte, die bislang aus mancherlei Motiven vergessen worden ist. Es war nämlich Emil Lask, der als einer der entscheidendsten Anreger des jungen Heidegger gelten darf, welcher die Differenz der logischen Gegenständlichkeit des Gegenstandes der Erfahrung von diesem Gegenstande selbst erstmals ausdrücklich bedacht und mit eben den Ausdrücken Sein und Seiendes bezeichnet hat. (Die Terminologie geht freilich innerhalb der Südwestdeutschen Schule bis auf Hermann Lotze zurück.) Lask entdeckte, daß sich eine konsequente, meta-grammatische Urteilstheorie nur dann aufbauen läßt, wenn man auch in der Analyse der ExistenzialUrteile das Sein als kategoriale Form und das in dieser Form »Seiende, das heißt das in der Kategorie ,Seinc Stehende« unterscheidet. (Ich zitiere aus seiner Schrift ,Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre' [1911], und zwar nach der Ausgabe in den ,Gesammelten Schriften', II, S. 31 und 46 f.): »Es spaltet sich so das Reich der Gegenstände in das Moment der Gegenständlichkeit und in das, was gegenständlich ist, ins Sein und in die seienden Inhalte oder kurz ins Sein und ins Seiende . . . « (31). Dieses Seiende ist der Gegenstand der positiven Erkenntnis oder 42
Erfahrung, jenes Sein aber der Gegenstand der Philosophie. Dem entspricht, daß zwischen dem Seienden und dem Sein eine letzte Heterogeneität besteht, die Lask als Kluft zwischen Seinssphäre und Geltungssphäre zum Ausdruck bringt: »Auf dem Seinsgebiet ist alles seiend, der kategoriale Seinsgehalt selbst dagegen ein Geltendes. Das Sein des Seienden gehört schon zum Geltenden, somit zum Nicht-Seienden. . . . Dieses Kategorienmaterial ,ist'. Aber dies sein ,Seinc gilt. Man darf jenes Material nur mit Rücksicht darauf das ,Seiende' nennen, daß es in der Kategorie ,Seinc steht.« (46 f.) »Es ist somit zwischen dem Seienden oder dem Seinsmaterial, dem Sein des Seienden oder der Seinskategorie und dem Seinsgebiet zu unterscheiden. . . . Nicht zwischen den Gebieten, sondern zwischen den Elementen des Denkbaren besteht jene letzte Kluft und Heterogeneität, die die Einleitung als die Unvergleichbarkeit zwischen der Seins- und der Geltungssphäre zutreffend gekennzeichnet hat.« Ich bitte diese kurzen historischen Hinweise, die ich an anderer Stelle ausgeführt habe, nicht mißzuverstehen: Ich behaupte nicht etwa, daß Heidegger seine Lehre von der ontologischen Differenz von Emil Lask übernommen oder sozusagen gestohlen habe, sondern nur dies, (was für midi in unserm Zusammenhang allerdings viel wichtiger ist!), daß hier (in der Logik Lasks) die Grundlagen, die Bedingungen der Möglichkeit für Heideggers Begriff der ontologischen Differenz liegen. Gewiß ist der Begriff der Gegenständlichkeit und des Gegenstandes (und beider in ihrer fundamentalen Unterschiedenheit) nicht identisch mit dem Begriff des Seins und des Seienden und der ontologischen Differenz. Aber erst jene Reflexion auf die begründende Gegenständlichkeit der Gegenstände der Erfahrung im Unterschied zu den durch sie begründeten Gegenständen macht dieses reine ontologische Denken des Seins und des Seienden möglich, von dem audi Heidegger selbst weiß, daß es nur nach erfahrungsmäßig nicht beizubringenden Gründen erfolgen kann. Der junge Heidegger hat sich vielfach gerade auf Lask und seine »Logik der Philosophie« bezogen und er hat auch den Begriff des vorgängigen Seinsverständnisses erstmals noch ganz in der Terminologie dieser Philosophie zum Ausdruck gebracht, wenn er in seinem DunsScotus-Buch (1915) schrieb: »Nur sofern ich im Geltenden lebe, weiß ich um Wirkliches.« Der reine ontologische Begriff der ontologischen Differenz entspringt also einer Reflexion auf das Denken, in der diese zwischen dem Gedachten als Endlichem und Begründetem und dem Denken als absolutem Grund unterscheidet. Nur weil das Denken zwischen Geltung und Geltendem oder, in anderer Wendung, zwischen Idee und endlichem Begriff zu unterscheiden vermag, vermag es auch die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem zu denken. Hier und nur hier könnte das Problem von Idee und ontologischer Differenz bzw. von Hegel und Heidegger zureichend gestellt werden. 43
Wir begreifen nun auch, warum der späte Heidegger so scharf zwischen dem Sein selbst und dem Sein des Seienden, desgleichen zwischen dem mit dem »Sein selbst« konvertiblen »Grund« und dem Sein als Grund des Seienden unterscheidet. Und wir begreifen, daß er es mit Recht tut, und daß ihm dies Wissen wirklich »aus der Erfahrung des Denkens« zugeflossen ist, aus der Erfahrung nämlich, die das Denken mit sich selbst macht. Denn diese für das Seinsdenken des späten Heidegger so bedeutsamen Unterscheidungen haben ihren Ursprung in dem Unterschied, den das Denken erfährt, wenn es sich einmal als den absoluten Geltungsgrund (auch für das Denken seiner selbst) begreift, dann aber diesen absoluten Grund als Grund alles endlichen, begründeten Denkens erfaßt. Entsprechend verbleibt das reine Denken dort im Bereich des Seins selbst, während es hier das Sein in seiner Begründungsfunktion für das Seiende begreift. III Kommen wir zum Schluß auf Heideggers Kritik an der Erkenntnistheorie zurück und fragen, welche Gestalt der Erkenntnistheorie durch seine Kritik wirklich überwunden worden ist, welche neue oder modifizierte Gestalt auch noch nach seiner Kritik möglich, ja auf Grund seiner Kritik notwendig ist: 1. Überwunden ist durch Heideggers Kritik derjenige erkenntnistheoretische Problemansatz, der von der Immanenz-Situation des Subjekts oder Bewußtseins ausgeht und fragt, wie dies Subjekt oder Bewußtsein aus seiner immanenten Sphäre herauskommen, sie transzendieren könne, also die Gestalt, die die Erkenntnistheorie in der NachHegelschen Philosophie des 19. Jahrhunderts — im Gefolge Schopenhauers, Fries' und Herbarts — angenommen und durch manche Wandlungen bis in unser Jahrhundert tradiert hat, und die im gleichen Jahrzehnt mit Heideggers »Sein und Zeit« Nicolai Hartmann noch einmal zur Grundlage seiner »Metaphysik der Erkenntnis« gemacht hat. (Es läßt sich nachweisen, wie von »Sein und Zeit« bis zum späten Heidegger die Kritik an der Erkenntnistheorie überhaupt in ganz entscheidenden Punkten gerade durch Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« motiviert worden ist.) (Hartmann ist einer der großen, stets präsenten Widersacher, an denen sich Heideggers Polemik entzündet.) Heidegger hat also nur dann Recht mit seiner Oberzeugung vom »Ende der Erkenntnistheorie«, wenn er diese bestimmte Gestalt und nur sie meint. 2. In Frage zu stellen ist jedoch Heideggers Kritik an der Erkenntnistheorie, sofern sie sich nicht als Kritik innerhalb des Feldes der Erkenntnistheorie und an einer ihrer konkreten geschichtlichen Gestalten, sondern an der Erkenntnistheorie überhaupt versteht. Denn auch gegenüber seiner Ontologie und Fundamental-Ontologie erhebt sich das Pro44
blem der Möglichkeit und Gültigkeit der Erkenntnis, und nur die Erkenntnistheorie ist in der Lage, dies Problem aufzunehmen und einem befriedigenden Abschluß entgegenzuführen; eine Erkenntnistheorie, die mit jener z w a r noch den N a m e n , nicht aber den spezifischen Problemansatz gemein hat; und die zudem nicht zuletzt auch auf G r u n d der K r i t i k durch zwei entscheidende neue Aufgabendimensionen bereichert worden ist: 1. die A u f g a b e einer Grundlegung der ontischen Erkenntnis in einer Ontologie des Seins des Seienden, und 2. die A u f g a b e einer Grundlegung der Ontologie und nicht nur der konkreten Gegenstandserkenntnis.
3. UBER DAS BEGRÜNDUNGSPROBLEM IN PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT » I n der abendländischen geistigen Situation ist es zur dringenden, im allgemeinen Bewußtsein noch gar nicht klaren Frage geworden, wie sich Philosophie und Wissenschaft zu einander verhalten. Beide sind aneinander gebunden, aber im U r s p r u n g ihrer Gewißheit geschieden. N u r in der Helligkeit ihrer Scheidung und ihres Bündnisses können sie zu ihrem Wesen gelangen.« (Nachwort zur »Philosophie«, 1955, X X I V ) »Wissenschaften sind als Werkzeuge der Philosophie zu ergreifen, nicht aber ist die Philosophie als eine Wissenschaft danebenzustellen. D e n n Philosophie ist, obgleich an Wissenschaften gebunden und niemals ohne sie, etwas ganz anderes als Wissenschaft . . . « (Reden u. Aufsätze, 1951, S. 350) Ich habe diese Worte von K a r l Jaspers meinen Ausführungen vorangestellt, weil sie auf die Bedeutung hinweisen, die unserem T h e m a in der gegenwärtigen Situation der Philosophie zukommt. D a s spannungsreiche Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft ist heute selbst ein wesentlicher Anstoß des Philosophierens. D a s ist sachlich gerechtfertigt; denn die F r a g e nach ihrem Verhältnis zur Wissenschaft ist f ü r die Philosophie keine beliebige und sekundäre Frage, sondern eine solche, in der es um das ihr notwendige Selbstverständnis geht. A u f dieses Selbstverständnis kann die Philosophie nicht verzichten, wenn sie ihrem Wesen treu bleiben will. Wenngleich Philosophie nicht darin aufgeht, »Reflexion auf sich selbst« zu sein, so gleicht sie doch — f o r m a l betrachtet — dem Fichtesdien Affen, von dem der boshafte H e i n e berichtet, daß er a n einem großen Kupferkessel saß und seinen eigenen Schwanz mitkochte, weil er der Meinung war, es genüge nicht, objektiv gut zu kochen, sondern m a n 45
müsse sich auch subjektiv des eigenen Kochens bewußt sein52. Weil es in der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft um das Selbstverständnis der Philosophie geht, darum ist sie nicht nur eine durch unsere geschichtliche Situation besonders aktualisierte Frage, sondern weist zugleich in ihrer Bedeutung über diese Situation und die konkreten Anlässe, aus denen heraus sie gestellt wird, hinaus. Am nächsten liegt dem heutigen Denken der Versuch, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft »geschichtlich« zu verstehen und durch den Rückgang auf seine geschichtlichen Ursprünge zu erhellen. Einem kurzen Uberblick stellt sich die Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft so dar: Als sich die Philosophie bei den Griechen aus dem Mythos losringt, da konstituiert sie sich als die theoretische Wissenschaft schlechthin im Unterschied zum praktischen Wissen und der bloßen Doxa. Zwar erörtert bereits Aristoteles das Verhältnis der »besonderen« theoretischen Wissenschaften zur »ersten Philosophie«, aber diese Differenzierung bleibt eine Angelegenheit innerhalb der Philosophie, die mit der Wissenschaft identisch ist. Auch die Differenzierung in »rationale« oder »Vernunftwissenschaften« und »empirische« oder »Tatsachenwissenschaften« am Beginn der Neuzeit steht noch unter der unbestrittenen Vorherrschaft der Philosophie. Aber zum ersten Mal sieht diese sich nun theoretischen Leistungen gegenüber, die — wie die Mathematik und mathematische Naturwissenschaft — in nicht geringerem Maße als sie selbst den Anspruch erheben, vollgültiges und von der Philosophie unabhängiges Wissen zu sein. Kant trägt dieser neuen Lage Rechnung, indem er die Kompetenzen der Philosophie gegenüber der Erfahrung einschränkt und deren Autonomie begründet. Mit dem Ende des deutschen Idealismus, welcher noch einmal die Idee der universalen, philosophischen Wissenschaft zu rechtfertigen versuchte, bricht dann die Einheit von Philosophie und Wissenschaft endgültig auseinander. Wir stehen damit an der Schwelle unserer eigenen Epoche, in der die positiven Wissenschaften die Situation bestimmen. Wie stellt sich nun heute das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft dar? Beginnen wir mit dem Verhalten der die Philosophie und die Wissenschaft Betreibenden: Eduard May sprach einmal im Hinblick auf die »hundertjährige Entfremdung« zwischen Philosophie und Wissenschaft von dem »abgrundtiefen Haß . . . , den ein Großteil der Naturwissenschaftler und Mathematiker gegen die Philosophie und ihre Träger hegt«53. Milder gestimmte Naturwissenschaftler bevorzugen entweder eine positivistische Erkenntnistheorie, die ihrer Indifferenz gegenüber der Philosophie ein gutes Gewissen leiht oder versuchen sich in einem Philosophieren auf eigene Faust. — Auf der Seite der Geisteswissen62 53
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Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland. Naturwissenschaft,Religion,Weltanschauung. In:Philosophianaturalis1,1950,S. 141.
schaften ist die Lage z. Zt. weniger gespannt; denn die spekulativen Einschlüsse dieser Wissenschaften blieben im Zuge des Relativismus und Historismus-Streites auch den Geisteswissenschaftlern nicht verborgen. Das Wissen, mit der Philosophie von der gleichen Problematik betroffen zu sein, erzeugte ein Anlehnungsbedürfnis, das sich von der Haltung der meisten Naturwissenschaftler unterscheidet. Im großen und ganzen erschöpft sich jedoch das Verhältnis des Geisteswissenschaftlers zur Philosophie weitgehend in einer »Anwendung« der jeweils aktuellsten Philosophie. In beiden Fällen mangelt eine von Stimmungen unabhängige Einsicht in das Verhältnis, das zwischen Philosophie und einzelwissenschaftlicher Forschung auf Grund ihrer beiderseitigen Prinzipien waltet. Es ist sinnlos, den Einzelwissenschaftlern hieraus einen Vorwurf machen zu wollen; denn auf der Seite des zeitgenössischen Philosophen ist die Entfremdung meistens nicht weniger deutlich zu spüren. Er begegnet dieser Situation, indem er sich seinerseits ebenfalls von den Wissenschaften zurückzieht, den in den Einzelwissenschaften geltenden positivistischen Wissenschaftsbegriff zementiert, um dann den dergestalt depotenzierten Titel einer Wissenschaft für sein eigenes Denken stolz zu verschmähen. Positivistisch-pragmatische Wissenschaftstheorie, Logistik und Existenzphilosophie spielen sich dabei in die Hände, ohne daß die Verständigung zwischen Philosophie und Wissenschaft über ihre jeweiligen Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander dadurch gefördert würde. Diese Verständigung ist aber unumgänglich, wenn anders es für die jeweilige geschichtliche Gestalt der Wissenschaft und Philosophie und für ihre Zukunft nicht gleichgültig ist, was für einen Begriff sie von sich selbst und ihrem Verhältnis zu einander haben. Ob man das skizzierte Bild unserer gegenwärtigen geistesgeschichtlichen Situation nun für zutreffend hält oder nicht und wie man diese Situation auch beurteilen mag, so setzt eine solche Beurteilung, wenn sie begründet sein will, immer schon ein Wissen darum voraus, was Philosophie und Wissenschaft im Grunde sind. Was sie im Grunde sind und wie sie sich im Grunde zueinander verhalten, begreifen wir nur, wenn wir in die Gründe oder Prinzipien zurückgehen, die beide Bereiche des Denkens und ihr Verhältnis zueinander regieren; denn die Identität oder Verschiedenheit von Philosophie und Wissenschaft muß ihren Grund in der Identität oder Verschiedenheit ihrer Prinzipien haben. In den folgenden Erörterungen soll aus dem komplexen Problem des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft nur die Frage nach dem zwischen ihnen waltenden prinzipiellen Begründungsverhältnis herausgegriffen werden. Das heißt, daß Philosophie und Wissenschaft nicht als nebeneinanderliegende Inhaltsbereiche des Geistes gefaßt werden, sondern sofern sie in einer noch zu explizierenden Dimension der Begründung aufeinander verweisen. Für die Philosophie hat das zur Folge, daß sie von uns nur in ihrer Funktion als Grundlehre der Wissenschaft be47
griffen wird, obwohl sie selbstverständlich nicht darin aufgeht, Philosophie der Wissenschaft zu sein. Zunächst betrachten wir rein formal mögliche Grundformen des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft (I); dann fragen wir, welche Bedeutung der Philosophie für die Wissenschaft zukommt (II), und wie sich die Philosophie auf die Wissenschaft bezieht (III). Abschließend erörtern wir den ausgezeichneten Wissenschaftscharakter der Philosophie selbst, der aus ihrer Beziehung auf die Wissenschaft fließt (IV). Das Ergebnis unserer Betrachtung wird sein, daß Philosophie und Wissenschaft in je verschiedener Weise einander bedürfen (V). I Wir haben bisher stillschweigend vorausgesetzt, daß Philosophie und Wissenschaft unterschiedene, voneinander getrennte Bereiche des Denkens seien. Das ist keineswegs selbstverständlich. Eine formale Charakteristik ergibt bereits drei verschiedene mögliche Grundformen des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft. Wir analysieren sie zunächst ohne eine Stellungnahme: 1. Das Nächstliegende ist, mit Rücksicht auf die eingangs geschilderte Situation, das Verhältnis als ein solches wechselseitiger Exklusion zu denken. Die Konjunktion Philosophie und Wissenschaft drückt dann aus, daß es sich bei der Philosophie um etwas anderes als Wissenschaft und bei der Wissenschaft um etwas anderes als Philosophie handelt. Das dürfte auch am ehesten unserem heutigen Sprachgebrauch entsprechen; denn wenn wir von der Wissenschaft — oder in dem bezeichneten Plural von »den« Wissenschaften — sprechen, so denken wir dabei an den Inbegriff der sogenannten Einzel- oder Fachwissenschaften. Die zu Beginn zitierten Äußerungen von K. Jaspers setzen dieses Verhältnis wechselseitiger Exklusion voraus. Die erste mögliche These würde also lauten: Nur die Einzelwissenschaft ist echte Wissenschaft, wobei es zunächst noch gleichgültig ist, ob Wissenschaft als ein zu hoher oder zu geringer Titel für die Philosophie angesehen wird. 2. Eine zweite Möglichkeit ergibt sich dort, wo die Zugehörigkeit der Philosophie zu den Wissenschaften bejaht wird. Dann erhalten wir ein Verhältnis, bei dem das eine Glied (die Wissenschaft) das andere (die Philosophie) umgreift. Philosophie wird hier als eine spezifische Wissenschaft neben anderen, nicht-philosophischen Wissenschaften gedacht, wobei die Frage nach der Abgrenzung der philosophischen Wissenschaft von den nicht-philosophischen Wissenschaften offen bleibt. Diese Deutung begegnet uns überall dort, wo die Philosophie als »Vernunftwissenschaft« allen »empirischen« Wissenschaften, als »Prinzipienwissenschaft« den Wissenschaften vom »Konkreten«, als »Wesenswissenschaft« den »Tatsachenwissenschaften« gegenübergestellt wird. 48
3. Die dritte Deutungsmöglichkeit ergibt sich dort, wo die Philosophie allein als echte Wissenschaft angesehen wird, während allen übrigen Wissenschaften ein vollgültiger Wissenschaftsrang abgesprochen wird. Wir finden diesen Gedanken etwa in der Philosophie der Romantik und im deutschen Idealismus ausgedrückt. In unserem Jahrhundert nannte Emil Lask die Philosophie Wissenschaft kat' exochen, »Urwissenschaft«54. Meistens schließt sich an diese Ansicht von der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis als bloßem Modus deficiens echter Wissenschaft die Forderung, alle Wissenschaften wieder in Philosophie umzuwandeln und aufzuheben 55 . Diese 3 Grundformen des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft erschöpfen natürlich nicht alle in der Geschichte auftretenden Standpunkte. Doch es geht uns audi gar nicht darum, alle möglichen Standpunkte zu erfassen, sondern darum, die Struktur des Grundverhältnisses im Ausgang von den denkbaren Formen philosophisch aufzuhellen. In der Frage nach der Struktur des Verhältnisses Philosophie — Wissenschaft ist die Frage nach der Bestimmtheit der Philosophie selbst beschlossen. Nicht die Wissenschaften stellen diese Frage. Die Frage nach der Bestimmtheit der Philosophie ist eine philosophische Frage. Philosophie fragt nach ihrem eigenen Grund, und sofern die Beziehung einer Sache auf ihren Grund ihre Begründung ist, wird Philosophie mit Notwendigkeit dazu angetrieben, sich selbst zu begründen. Doch beginnen wir nicht mit der Frage nach dem Wesen der Philosophie, sondern wir fragen, was die Philosophie als Prinzip und als Tatsache für die Wissenschaft bedeutet. II Wir gehen vom Begründungsproblem aus. Unsere erste Sorge wird sein, die Begründungsbedürftigkeit aller Wissenschaften zu begründen. Alle Wissenschaften bestehen aus Urteilen, die den Anspruch erheben, daß in ihnen etwas gedacht ist, was audi unabhängig von der Tatsache des Denkens selbst ist. Diese intentionale Bezogenheit auf einen unabhängigen Gegenstand ist die Eigentümlichkeit des theoretischen Denkens, auch dort, wo das Denken selbst Gegenstand ist. Aber dieser Anspruch der theoretischen Urteile, einen ansichseienden Gegenstand zu treffen, 54
Vgl. WW III, S. 240: »Nun Frage: wie kann es daneben noch andere Wissenschaften geben? N u r durch Verzidit auf die eigentliche Aufgabe der Theorie, der Wissenschaft, durch Preisgabe der höchsten theoretischen Kontemplation. Darauf beruht der Unterschied zwischen den philosophischen und empirischen Wissenschaften. Die empirischen sind Auch-Wissenschaften, Halbwissenschaften, bei denen der eigentliche Nerv des Wissens abgetötet ist; mit ausdrücklichem Verzicht auf die absolute Ergründung. Sog. bloße Darstellung des Tatsächlichen ohne absolute Beurteilung. Kastriertes, blasiertes Erkennen.«
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Vgl. E. Husserl, Philolosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos I, 1910, S. 333.
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Brelage
ist zunächst ein bloßer Geltungsanspruch und bleibt solange ein bloßer Anspruch, wie er nicht begründet wird. Die prinzipielle Begründungsbedürftigkeit aller Wissenschaften beinhaltet also die Geltungsdifferenz aller ihrer Urteile, d. h. die Frage, ob sie wahr oder falsch sind. Ob sie aber wahr oder falsch sind, ob die Wissenschaft also zureichende Gründe für ihre Urteile hat, weiß sie erst, wenn sie die Prüfung anhand der Gültigkeitsprinzipien vollzogen hat. Deshalb kann die Wissenschaft nicht gleichgültig der Frage gegenüber bleiben, ob sie begründbar ist oder nicht. Zwar mag mancher Wissenschaftler der Notwendigkeit einer Geltungsbegründung seiner Wissenschaft gegenüber abgestumpft sein und glauben, dieser Notwendigkeit ausweichen zu können, indem er auf den Wahrheitsanspruch seiner Urteile entschlossen Verzicht leistet, und sich auf die Kriterien des savoir pour prevoir oder der Brauchbarkeit zurückzieht; oder er mag es bereits als ein ausreichendes Kriterium ansehen, daß man mit gewissen Formeln »weiterrechnen« kann. Man kann mit einer Philosophie des »Man kann« faktisch natürlich allerhand, ohne daß dadurch doch die prinzipielle Begründungsbedürftigkeit der Wissenschaften aufgehoben würde. Diese Begründungsbedürftigkeit gilt also prinzipiell für alle Wissenschaften, auch für die Philosophie selbst, wenn sie Wissensdiaft zu sein beansprucht. Dabei ergeben sich zwei Möglichkeiten: entweder ist das Denken, das die Begründung leistet, selbst wiederum ein wissenschaftliches oder aber es ist ein nicht-wissenschaftliches. Ist es ein nicht-wissenschaftliches, und d. h. selbst nicht zu begründendes, dann bleibt auch die zu begründende Wissensdiaft ohne Begründung. Ist aber das begründende Denken selbst ein wissenschaftliches, so erhebt sich audi ihm gegenüber die Frage nach seiner Begründung. Wir erhalten somit den Ausblick auf einen unendlichen Regreß, was zur Folge hätte, daß die zu begründende primäre Wissenschaft bis in alle Ewigkeit ohne Begründung bliebe. Soll sich also der Geltungsanspruch der Wissenschaft begründen lassen, so muß diese Begründung erstens wiederum durch eine Wissenschaft geleistet werden und weiter letztlich auf eine Wissenschaft hinausführen, welche dadurch ausgezeichnet ist, daß sie sich selbst begründen kann. Wenn eine notwendige Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft gedacht werden soll, dergestalt, daß die Philosophie Grundwissenschaft der Wissenschaften ist, dann ist das nur möglich, wenn die Philosophie Wissenschaft von den Gründen ist, von welchen der Geltungsanspruch der Wissenschaften abhängt. Eine Grenzwissenschaft, neben der primären, zu begründenden Wissenschaft ist jedoch nur dann anzusetzen, wenn die primäre Wissenschaft die Gründe, von denen ihre Gültigkeit abhängt, nicht selbst zum Gegenstand machen kann. Dies kann sie aber dann nicht, wenn sie mit Ausschließlichkeit Wissenschaft vom Begründeten ist. 50
Wir vergewissern uns, worauf sich die Rede von der Begründungsbedürftigkeit der Wissenschaft bezieht: Alle Wissenschaft, entfaltet sich in Urteilen über unabhängige Gegenstände, über Ansichseiendes. Diese Gegenstände der Wissenschaft sind als konkretes Seiendes etwas Begründetes. Sie haben ihre eigenen Gründe. Diese vorauszusetzenden Gründe des konkreten Ansichseienden sind aber selbst etwas Ansichseiendes. Das Seiende an sich selbst hat es nicht nötig, durch das Denken begründet zu werden. Doch audi die Erkenntnis dieses Seienden erhebt den Anspruch, etwas Begründetes zu sein, und ihr kann es nicht gleichgültig sein, ob sich dieser Anspruch audi einlösen läßt. Die Aufgabe der Begründung richtet sich also hinsichtlich der Wissenschaften nicht auf ihre Gegenstände, sondern auf die wissenschaftlichen Urteile selbst. Gewiß ist das Denken selbst der letzte Grund der Philosophie; das Denken ist audi die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das reine, apriorische Denken sich durch die Erfahrung bestimmen läßt. Das reine Denken entwirft Prinzipienbegriffe als Leitfäden für die Entdeckung der jeweiligen Seinsprinzipien. Die Bedingung der Möglichkeit für das »Ablesen« der Prinzipien vom C:;' ist das reine Denken. Aber die echten Prinzipienbegriffe selbst sind nicht reine Entwürfe. In sie ist »Erfahrung« mit eingegangen. Sie sind das Ergebnis der Erfahrung, die das reine Denken mit dem konkreten gemacht hat. Wenn man will, ist es eine Erfahrung, die das reine Denken mit sich selbst gemacht hat, indem es sich dazu bestimmt, sich durch die Erfahrung bestimmen zu lassen. Die Erfahrung, die hier in die Prinzipienbegriffe eingeht, ist nicht empirische Einzelerfahrung, nicht Erfahrung auf der untersten Stufe. Es bleibt dabei, daß audi diese Prinzipienbegriffe der empirischen Erfahrung gegenüber apriori sind. Auch sie sind Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von Einzelseiendem dieser Seinsart, aber nicht mehr nur reine Begriffe und Grundsätze; sie sind Bedingungen, die selbst durch die Erfahrung vom Einzelseienden bedingt sind. Sie stehen also in jedem Falle gleichsam eine Stufe höher als die Erfahrung vom Einzelseienden, die sog. empirische Erfahrung. Ihr Progreß ist daher auch ein anderer als der der Einzelerfahrung. Bedingend und bedingt zugleich! Ihnen gelten die Überlegungen E. Mays zum Apriorismus. Was dieser Prinzipienerkenntnis die größere Konstanz und Beharrlichkeit gegenüber den Revolutionen der Einzelwissenschaft sichert, ist, daß sie die reine und unaufhebbare Apriorität des reinen Denkens mit seinen logisdien Prinzipien und seinen reinen Seinsbegriffen im Rücken hat. Diese bilden gleichsam das Skelett, das allen radikalen Deformationsversuchen Halt gebietet. Denn von ihnen ist absolut einsichtig zu machen, * Abkürzung im Manuskript nicht zu entziffern.
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daß sie nicht aufgehoben werden können, wenn nicht die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt hinfällig werden soll. III Eine weitere Klärung der prinzipiellen Begründungsbedürftigkeit aller Wissenschaften wird sich uns ergeben, wenn wir nach der Weise fragen, in der sich die Philosophie auf die Wissenschaft bezieht. Wir setzen voraus, daß die Philosophie die durch die prinzipielle Begründungsbedürftigkeit der Wissenschaft geforderte Grundwissenschaft ist. Wir setzen also voraus, daß die Wissenschaften in ihrer Begründungsbedürftigkeit in eine Dimension verweisen, in die hinein sie selbst nicht fragen können. Durch diese Dimension wäre die Anwesenheit der Philosophie als Prinzip in allen Wissenschaften bezeichnet, gesetzt den Fall, daß eben die Philosophie den geforderten Grund der Wissenschaften zu legen vermag. In diesen Voraussetzungen steckt aber eine Schwierigkeit: Wir müssen klären, was eine philosophische Begründung der Wissenschaften durch die Philosophie leisten kann und was nicht. Die These von der Begründungsbedürftigkeit aller Wissenschaften könnte dem ernstzunehmenden Einwand begegnen, daß alle Wissenschaften je auf ihre Weise selbst ihre Behauptungen zu begründen - versuchen: der Mathematiker etwa durch mathematische Beweise, der Naturwissenschaftler durch Experiment und Beobachtung usf. Philosophische Begründung der Wissenschaften darf also nicht besagen, daß die Philosophie in dieses einzelwissenschaftliche Begründungsverfahren kraft eines angemaßten höheren Richterspruches eingreifen, daß sie es anzweifeln oder überbieten solle. Ohne Frage gelten innerhalb des Feldes der Einzelwissenschaften allein deren eigene Begründungsverfahren. Der Philosoph, der diese Begründung kritisieren wollte, müßte also den Anspruch erheben, der bessere Mathematiker, der bessere Physiker usw. zu sein. Es ist also die Unterschiedenheit von philosophischer Begründung der Wissenschaften einerseits und einzelwissenschaftlicher Begründung andererseits zu bestimmen. Einzelwissenschaftliche Begründung kann stets in einem doppelten Sinne geschehen: einmal, indem der Wissenschaftler einen Gegenstand A als Wirkung durch Zurückführung auf eine Ursache Β erklärt und begründet, und zum anderen, indem er ein Urteil oder Urteilsgefüge auf ein anderes Urteil oder Urteilsgefüge zurückführt und stützt. In beiden Weisen der Begründung ist aber der Einzel wissenschaftier autonom und wehrt sich mit Recht gegen jeden Eingriff einer konkurrierenden, sich auf vermeintlich höhere Einsicht stützenden Philosophie. — In beiden Hinsichten der Begründung setzt aber der Einzelwissenschaftler etwas voraus, worüber er selbst in der Weise der einzelwissenschaftlichen Be52
gründung keine Rechenschaft abzulegen vermag. Er setzt nämlich einerseits voraus, daß der Gegenstand seines einzelwissenschaftlichen Erklärens notwendig eine Ursache in einem anderen Seienden haben müsse, daß also der Versuch einer Verknüpfung des Gegenstandes Α mit dem Gegenstande Β als Wirkung und Ursache prinzipiell möglich und sinnvoll sei. Er nimmt also den ontologischen Grundsatz der Kausalität und darüber hinaus den allgemeinen Seinsgrundsatz, daß jedes Seiende den zureichenden Grund seines Seins in anderem Seienden habe, in Anspruch. Auf der anderen Seite, im Falle der logischen Begründung seiner Urteile, setzt er ebenso fraglos voraus, daß die Zurückführung seines Urteils auf ein anderes Urteil oder Urteilsgefüge als auf seinen Geltungsgrund grundsätzlich sinnvoll und notwendig sei. Er nimmt also den logischen Satz vom Grunde, daß jedes Urteil den Grund seiner Gültigkeit in anderen Urteilen habe, in Anspruch. Ontologischer Grundsatz der Kausalität und logischer Grundsatz vom Grund sind also die Grundlagen seiner einzelwissenschaftlichen Begründung, weil sie die Prinzipien des Urteils und die Prinzipien des Gegenstandes sind, die sich jedem Versuch, sie selbst auf die Weise einzelwissenschaftlicher Begründung zu rechtfertigen, entziehen. Philosophische Begründung der Wissenschaften besagt aber nichts anderes als die Aufdeckung und Begründung derjenigen Grundbegriffe und Grundsätze der Wissenschaften, deren Gültigkeit in diesen immer schon vorausgesetzt werden muß, und von deren Gültigkeit die Gültigkeit aller einzelwissenschaftlichen Erkenntnis abhängt. Wir wissen nunmehr, auf welche Weise sich die Philosophie auf die Wissenschaft bezieht. Wir wissen, worin das Recht und die Notwendigkeit dieser Beziehung beschlossen liegen: darin, daß die Wissenschaften aller Orten Voraussetzungen in Anspruch nehmen müssen, deren Gültigkeit sie gleichwohl mit ihren eigenen Mitteln nicht zu erweisen in der Lage sind. Insofern die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrer Gültigkeit von der Gültigkeit dieser Voraussetzungen abhängt, handelt es sich bei ihnen um Geltungsgründe der wissenschaftlichen Erkenntnis. Indem die Philosophie diese Gründe ans Licht zieht und ihre Gültigkeit begründet, begründet sie zugleich auf ihre spezifische Weise, die die Kompetenzen des Einzel Wissenschaftlers nicht antastet, die Gültigkeit der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis. Die Philosophie hat es also niemals unmittelbar mit der Gültigkeit oder Ungültigkeit einzelner einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern nur mit der Gültigkeit ihrer Voraussetzungen zu tun. Wir sehen also, daß sich unsere These von der prinzipiellen Begründungsbedürftigkeit der Wissenschaften mit der Autonomie der Wissenschaften sehr wohl verträgt. Eine befriedigende Einsicht in die Weise, in der die Philosophie das Amt einer Grundlegung der Wissenschaft zu erfüllen vermag, ergibt sich 53
jedoch erst, wenn wir von der bisher geübten globalen Betrachtung »der« Philosophie abrücken. A u f der Seite der Philosophie enthüllen sich uns dabei Aufstufungen, von deren Analyse eine befriedigende Klärung des Grundlegungsproblems abhängt. Wir können an dieser Stelle die Differenzierung der philosophischen Probleme nur insoweit verfolgen, als sie für das Verständnis der Grundlegungsproblematik unumgänglich ist 58 .
IV Eine erste Differenzierung der philosophischen Grundlegungsaufgabe ergab sich uns bereits daraus, daß die Philosophie 1. Grundsätze der gegenständlichen Verknüpfung (Seinsgrundsätze für das Denken seiender Relationen zwischen Seiendem) und 2. Grundsätze der logischen Verknüpfung (der Geltung einer logischen Beziehung zwischen Urteilen) thematisierte. Daraus entspringen als zwei Weisen philosophischer Grundlegung: (Ich bediene mich der üblichen Bezeichnungen) 1. die allgemeine und spezielle Ontologie, 2. die allgemeine Logik und Erkenntnistheorie bzw. die spezielle Wissenschaftstheorie. Die allgemeine Ontologie erörtert dabei Grundsätze gegenständlicher Verknüpfung, welche für theoretische Gegenstände überhaupt, d. h. f ü r Seiendes im allgemeinen und als solches, gelten, die spezielle Ontologie (als allgemeine Kosmologie oder Realphilosophie, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes usf.) erörtert Grundsätze gegenständlicher Verknüpfung, welche für eingeschränkte Gegenstandsbereiche gelten. Entsprechend thematisiert die allgemeine Logik und Erkenntnistheorie die Grundsätze der Geltung theoretischer Urteile überhaupt, die spezielle Wissenschaftstheorie aber spezielle Regeln der logischen Verknüpfung (sog. Methoden), welche für einzelne Wissenschaften Geltung haben. Beide Hinsichten der Grundlegungsproblematik laufen aber nicht einfach parallel, sind nicht unabhängig voneinander. U n d zwar waltet zwischen beiden Hinsichten philosophischer Grundlegung selbst wiederum das gleiche Verhältnis wie zwischen der Wissenschaft überhaupt auf der einen Seite, der philosophischen Grundlegung überhaupt auf der anderen Seite, nämlich das Verhältnis von begründungsbedürftiger Wissenschaft und ihrer Grundlegung. 56
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Eine entsprechende Erörterung der A u f s t u f u n g im Bereich der positiven Wissenschaften — in N a t u r - und Geisteswissenschaften — ist für eine genaue E x p l i k a t i o n der Grundlegungsproblematik ebenfalls unumgänglich, mußte hier aber aus Zeitgründen unterbleiben. Die philosophische Grundlegungsproblematik fordert audi ein Abrücken von der globalen Betrachtung » d e r « Einzelwissenschaft, weil sich N a t u r u n d Geisteswissenschaften durchaus nicht in gleicher Weise zur Philosophie verhalten.
Ontologie ist als Wissenschaft wie alle Wissenschaften begründungsbedürftig; sie vermag sich aber nicht selbst zu begründen. Sie ist begründungsbedürftig, da sie es mit den ansichseienden Prinzipien der ansichseienden, theoretischen Gegenstände zu tun hat. Ihr Gegenstand, den sie in Urteilen (den ontologischen Seinsgrundsätzen) ergreift, ist nicht selbst ein Denken. Daher ist eine mögliche Selbstanwendung ausgeschlossen. Es bleibt also die Frage offen, worin die Ontologie ihre Grundlegung zu finden vermag. Gefordert ist eine philosophische Grundlegung der Ontologie. Diese kann nicht selbst von der Ontologie geleistet werden; sie muß also eine vor-ontologische Grundlegung sein. Daraus ergibt sich bei schematischer Betrachtung hinsichtlich der Begründung der Ontologie dieselbe Differenzierung der Grundlegungshinsichten in eine Grundlegung der ontologischen Verknüpfung zwischen den Gegenständen der Ontologie (den Seinsprinzipien) und einer logischen Grundlegung der Ontologie als theoretischer Disziplin. Da wir uns nunmehr einem Problemkreis nähern, von dem die Möglichkeit eines Abschlusses der gesamten Grundlegungsaufgabe und damit die Möglichkeit einer wirklichen Begründung der Wissenschaften abhängt, werden wir gut tun, die geforderten Schritte in aller Umständlichkeit zu vollziehen: Die Aufgabe einer Grundlegung der Ontologie führt uns auf den problematischen Begriff einer wiederum ontologischen, sozusagen metakategorialen Disziplin, in der es um die Grundsätze der gegenständlichen Verknüpfung zwischen den Seinsprinzipien (als den Gegenständen der zu begründenden Ontologie) geht. Diese geforderten Grundsätze entsprächen inhaltlich etwa den von N. Hartmann analysierten sog. »kategorialen Gesetzen«. Nun zeigt sich aber, daß diese kategorialen Gesetze selbst nichts anderes als Seinsprinzipien sind. Damit fällt aber die Aufgabe ihrer Erforschung in den Bereich der Ontologie selbst. Die Notwendigkeit einer Aufstufung ist vermieden. Es bleibt somit die Aufgabe einer logischen Grundlegung der Ontologie. Diese ist in ihrer allgemeinen Form in der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie bereits für alle Theorien mit geleistet. Daher verbleibt nur noch die Aufgabe einer speziellen Logik der ontologischen Begriffsbildung. Diese ist jedoch inhaltlich nichts anderes als das Thema von Kants Theorie des »Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«, nämlich die Methodologie der Ableitung der reinen Prinzipienbegriffe aus den Begriffen und Grundsätzen der allgemeinen Logik. Vor uns steht nun nur noch die Frage nach dem Grunde der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie. Auch diese ist als Theorie begründungsbedürftig; jede Theorie ist begründungsbedürftig. Die Frage kann also nur sein, wer diese Grundlegung leistet. Auch hier stehen wir, formal betrachtet, vor zwei Möglichkeiten: 55
1. Die Aufgabe der Grundlegung der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie konstituiert eine neue philosophische Disziplin und so eventuell in infinitum. Oder 2. diese Grundlegung wird von der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie selbst geleistet, fällt inhaltlich mit ihr zusammen. Die allgemeine Logik und Erkenntnistheorie vermöchte dann Selbstbegründung zu leisten. (Selbstbegründung muß geleistet werden, denn sie hat nichts mit Evidenz zu tun). Der unendliche Regreß wäre vermieden. Ich gebe wiederum das Schema der beiden Möglichkeiten: Logik und Erkenntnistheorie handelt von Urteilen (ihre Gegenstände sind Grundsätze logischer Verknüpfung) und besteht aus Urteilen. Die Forderung von Grundsätzen für die in ihr vollzogene gegenständliche Verknüpfung ist in der Logik und Erkenntnistheorie selbst bereits erfüllt, denn diese handelt von Grundsätzen logischer Verknüpfung. Eine materiale Grundlegung der Logik und Erkenntnistheorie fällt daher mit dieser selbst zusammen. — Die Forderung von Grundsätzen logischer Verknüpfung der Urteile, aus denen die Logik und Erkenntnistheorie besteht, ist ebenfalls in dieser bereits erfüllt. — Also ist die Logik und Erkenntnistheorie zwar nicht in sich selbst »evident«, aber diejenige Wissenschaft, die sich selbst zu begründen berufen ist. Lassen Sie mich hier einige Konsequenzen anschließen, die sich aus dem Unterschied von begründungsbedürftiger und sich selbst begründender Wissenschaft im Hinblick auf den Typus der konkreten Entfaltung von Philosophie und Wissenschaft ergeben. Ich habe hierbei vor allem drei Dinge im Auge: einmal den Unterschied zwischen der vielgerühmten »kontinuierlichen Entfaltung« in den Wissenschaften und der »Anarchie der Systeme« in der Philosophie; zweitens die Tatsache, daß einzelwissenschaftliche Erkenntnisse sich prinzipiell aneinander anschließen, während die geschichtlich aufeinander folgenden Philosopheme den Anspruch erheben, sich gegenseitig auszuschließen; und schließlich, mit beidem zusammenhängend, den Gegensatz, der zwischen echtem Philosophieren und wissenschaftlicher »Forschung« besteht. Ich behaupte folgendes: 1. Die Tatsache, daß sich die Philosophie nicht kontinuierlich, sondern in der Gestalt einer Pluralität von Entwürfen der Philosophie entfaltet, widerstreitet nicht ihrem Wissenschaftscharakter. 2. Der Anspruch, den prinzipiell jede Philosophie erhebt, ihre Vorgänger nicht nur zu ergänzen, sondern abzulösen, ist legitim. 3. Philosophie kann sich nicht ganz und gar dem Entfaltungstypus wissenschaftlicher »Forschung« nähern, ohne sich selbst aufzugeben. Wenn etwas dem Selbstbewußtsein der Philosophie und ihrem Selbstverständnis im Zeitalter der Wissenschaften zu schaffen gemacht hat, 56
dann die Tatsache, daß sie sich nicht in einem Progreß sich aneinander anschließender Denkschritte entfaltet, sondern in einer Vielheit vereinzelter Systementwürfe, von denen jeder einzelne den Anspruch erhebt, die Philosophie zu repräsentieren. Diese »Anarchie der Systeme« schien der sicherste Index dafür zu sein, daß es die Philosophie, wenigstens »noch nicht«, zum Range einer Wissenschaft gebracht hat. Mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit folgen einander daher in der Geschichte der Philosophie seit dem Beginn der Neuzeit die Versuche, den gleichsam vorwissenschaftlichen Zustand der Philosophie zu beheben und die Philosophie ebenfalls auf den »steten Gang« einer Wissenschaft zu weisen. Da aber die Einheit einer Methode offenbar dasjenige zu sein schien, was die Kontinuität der Einzelwissenschaften verbürgt, waren es vor allem Versuche der Entdeckung einer neuen Methode der Philosophie, von denen man sich eine endgültige Abhilfe versprach. Nur daß sich eben auch in der Abfolge dieser Versuche dieselbe Anarchie wiederholte, der jeder von ihnen glaubte steuern zu müssen. Es ist gewiß, daß die Tatsache einer Pluralität der Systeme eine echte Crux der Philosophie darstellt, wenigstens solange sie nicht einfach bereit ist, aus dieser Not einer Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, eine Tugend derjenigen Philosophie zu machen, die auf einen solchen Anspruch von vornherein feierlich Verzicht leistet. — Wir werden bei der Erörterung der Frage, ob diese Tatsache einer Abfolge jeweiliger Systementwürfe dem Wissenschaftscharakter der Philosophie widerstreitet, so vorgehen, daß wir die Kontinuität der einzelwissenschaftlichen Forschung auf ihre Bedingungen hin analysieren und uns fragen, ob nicht gerade derjenige Erkenntnisanspruch der Philosophie, der ihren Rang im Reich der Wissenschaften begründet, ihr eine solche kontinuierliche, lineare Entfaltung verbietet. Zunächst einmal wäre das Ideal einer kontinuierlichen Entfaltung einer jeden echten Wissenschaft daraufhin zu prüfen, ob es sich denn auch genügend ausweisen kann. Zu augenscheinlich entspringt das Idealbild einer möglichst kontinuierlichen Forschung einem Wissenschaftsbegriff, für den das wichtigste eben dies ist, daß der Prozeß der Forschung weiterrollt. Es dürfte daher auch nicht allzu schwer fallen, nachzuweisen, daß diese Verabsolutierung einer kontinuierlich, in einem stetigen quantitativen Zuwachs fortschreitenden Wissenschaft nicht sowohl auf rein erkenntniswissenschaftlichen, sondern auf weltanschaulichen Motiven beruht. (Im Anschluß daran wäre auch zu fragen, inwieweit nicht unsere vielberufenen »Krisen« der Wissenschaften nur insofern Krankheiten zum Tode sind, als in ihnen eben dieser Wissenschaftsbegriff in eine Krise geraten ist.) Jedenfalls enthüllt sich das Bild von dem »aufsammelnden Prozeß« der Erkenntnis, durch das N . Hartmann einmal sehr anschaulich die ge57
schichtliche Entfaltungsweise aller Wissenschaften gegenüber dem sich ablösenden Wandel des Wertbewußtseins und des künstlerischen Geschmacks abzugrenzen versuchte, bei näherer Betrachtung als eine Vereinfachung, die zum mindesten durch eine differenzierende Betrachtung hinsichtlich der verschiedenen Wissenschaftsgruppen ergänzt werden muß. Angesichts der »Grundlagenkrisen« innerhalb der Physik mag man schon zweifeln, ob das Bild von den sich nahtlos ergänzenden einzelwissenschaftlichen Ergebnissen auch nur auf diesen Bereich zutrifft. Immerhin aber wird man dennoch »klassische« und »moderne« Physik als in einem Ergänzungsverhältnis stehend ansehen dürfen. Schwieriger wird jedoch bereits die Lage, wenn wir auf die geschichtliche Entfaltung der Psychologie und Geisteswissenschaften blicken. Der Gegensatz von naturwissenschaftlicher, experimenteller Elementenpsychologie und sogenannter geisteswissenschaftlicher Psychologie, wie er die Diskussion im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts beherrschte, läßt sich nicht ohne weiteres mehr mit dem Bilde der ihre Ergebnisse akkumulierenden Forschung zur Deckung bringen. Ähnlich ist es, wenn wir etwa die Arbeit positivistisch eingestellter Literaturwissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit derjenigen der gegenwärtigen Literaturhistorie vergleichen. Und zwar ergibt sich die Schwierigkeit hier daraus, daß beide Gruppen offenbar gar nicht mehr von »demselben« Gegenstande sprechen. Das führt uns auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn es innerhalb einer Wissenschaft eine »kontinuierliche« Progressivität soll geben können: Diese Bedingungen sind nur dort und nur insofern erfüllt, als sich die Forschung auf dem Boden eines und desselben Gefüges von Voraussetzungen bewegt. Wir können auch sagen, nur insoweit eine Wissenschaft ihre Gegenstände in einem einigen, unabänderlichen Horizonte bestimmt, werden ihre Ergebnisse sich in der Form der Ergänzung und Erweiterung aneinander anschließen. Umgekehrt aber wird die geschichtliche Entfaltung einer Wissenschaft immer stärkere Sprünge aufweisen, je mehr es ihrer Erkenntnisaufgabe entspricht, stets zugleich mit den Einzelgegenständen auch den apriorischen Horizont ihrer Bestimmung zu thematisieren. — Eben aus diesem Grunde aber wird sich die Philosophie, die nicht auf der Basis ein für allemal gegebener Voraussetzungen »forschen« darf, sondern die in einem Krebsgang nur fortschreitet, indem sie in ihre eigenen Voraussetzungen zurückgeht, niemals einer kontinuierlichen Entfaltung erfreuen dürfen, solange sie ihrer eigenen Bestimmung treu bleibt, sich selbst rechtfertigende Wissenschaft zu sein". ÄT
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Auf die Kehrseite dieses Verhältnisses, die für die Historie der Wissenschaften und die Philosophiehistorie von Bedeutung ist, kann hier nicht näher eingegangen werden, — daß nämlich die Eigenbedeutung der einzelnen konkreten Entwürfe einer Wissenschaft, ihre Bedeutung über den jeweiligen Beitrag zur »Forschung hinaus«,
Weil also die philosophische Erkenntnis sich nicht in einem vorausgesetzten System bewegen darf, sondern das System selbst stets auch zum Thema und Gegenstand ihrer Begründung machen muß, darum vollzieht sie sich legitimerweise in der Gestalt einzelner Systementwürfe. Mit dem spezifischen Wissenschaftscharakter der Philosophie hängt aber auch der Gegensatz zusammen zwischen dem prinzipiellen Anspruch aller einzelwissenschaftlichen Ergebnisse auf Anschließbarkeit und dem Ausschließlichkeitsanspruch einer jeden Philosophie. — Einzelwissenschaften schreiten, wie man es oft genug dargestellt hat, zu neuen und neuen Problemen fort, dergestalt, daß die Ergebnisse von heute die mumifizierten Probleme von gestern sind, und zwar weil sie es mit der Bestimmung einer Vielheit von Einzelgegenständen in einem vorausgesetzten Horizont zu tun haben. Philosophie aber fragt, wenigstens in ihrem Kernbereich, immer wieder nach dem einen, nur uneigentlich so zu nennenden »Gegenstand«, dem Inbegriff der Bedingungen der Möglichkeit von Einzelgegenständen und ihrer Erfahrung. Daher entwirft jeder Philosoph immer wieder die eine Philosophie und erhebt seinen Entwurf kraft des in seiner Erkenntnisaufgabe angelegten Geltungsanspruchs das Recht, alle übrigen Entwürfe auszuschließen. Anspruch der Philosophie auf Wissenschaftlichkeit und Ausschließlichkeitsanspruch einer jeden konkreten Philosophie schließen sich nicht aus, sondern ein. Immer muß daher die Philosophie, eben weil sie ihre Wissenschaftlichkeit nicht einfach voraussetzen darf, sondern selbst begründen muß, nach der einen philosophischen Methode suchen müssen, die diesen Anspruch zu rechtfertigen vermag. Eben derselbe Kant, von dem die Forderung erhoben wurde, die Philosophie durch die Entdeckung einer neuen Methode auf den sicheren Gang der Forschung zu bringen, sagt daher einmal (in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten, AK 6, 207) zu der Frage: »ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne. Verschiedene Arten zu philosophieren und zu den ersten Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf mit mehr oder weniger Glück ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige ein Verdienst hat, geben; aber da es doch, objektiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann; so kann es audi nicht viele Philosophien geben, d. i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophiert haben mag. . . . Wenn also jemand ein System der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es ebensoviel, als ob er sagte: vor dieser Philosophie sei gar keine andere noch gewesen. Denn wollte er einräumen, es wäre eine andere (und wahre) gewesen, so würde es über dieselben Gegenstände zunimmt, je weniger die betreffende Wissenschaft in sidi selbst einen »aufsammelnden Prozeß« darstellt.
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zweierlei wahre Philosophien gegeben haben, welches sich widerspricht. — Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so thut sie nichts anderes, als was alle gethan haben, thun werden, ja thun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plane entwerfen.« Wir erörtern nun noch die Konsequenzen, die sich aus dem spezifischen Wissenschaftscharakter der Philosophie für den Begriff einer philosophischen »Forschung« ergeben: Wir haben bereits gesehen, daß sich wissenschaftliche Forschung im strengen Sinne immer nur dort entfalten kann, wo es der Wisenschaft erlaubt ist, Voraussetzungen einfach in Anspruch zu nehmen. Nun ergibt sich aber für die Philosophie die einzigartige Verwicklung, daß sie solche Voraussetzungen nicht nur »in Anspruch nehmen« darf, sondern selbst begründen muß. Daher darf sie gewisse Probleme, von deren Beantwortung zugleich der Sinn und die Möglichkeit ihres eigenen Vorhabens abhängen, nicht ad calendas graecas vertagen, wenn anders sie nicht unbegründet bleiben will. Da sie die Begründung nicht auf fremde Schultern abwälzen darf, von dem Maße, in dem sie sich selbst zu begründen vermag, aber auch alles Recht abhängt, mit dem sie sich anmaßt, das nicht-philosophische (theoretische, wie auch außertheoretische) Leisten zu begründen, muß sie die Aufgabe der Selbstbegründung wirklich zu einem Abschluß zu bringen suchen, und d. h. immer wieder aufs neue den Umschwung des philosophischen Systems vollziehen. Wir haben also in dem Bereich der philosophischen Fundamentalprobleme, d. h. derjenigen, welche Voraussetzungen der Philosophie selbst implizieren, einen Komplex von Fragen vor uns, welche die Philosophie nicht auf die lange Bank der Forschung schieben darf, in der ihr vielmehr eine Entscheidung hic et nunc abgefordert wird, wenn anders Sie nicht aufhören will, Philosophie zu sein.
V Wir lenken an dieser Stelle auf die Erörterung des Begründungsverhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft zurück. Wissenschaft bedarf, wie wir sahen, der Philosophie. Wenn wir unsere anfängliche Behauptung begründen wollen, daß auch Philosophie umgekehrt auf die Wissenschaften angewiesen ist, so müßten wir nachweisen, in welchem Sinne auch die Philosophie der Wissenschaft bedarf. Erst dann hätten wir das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft hinsichtlich der zwischen ihnen bestehenden Begründungsverhältnisse wirklich zureichend analysiert. Was hier zu leisten wäre, kann ich jedoch nur noch andeuten; und zwar möchte ich dabei an unsere letzte Erörterung anschließen, die innerhalb der philosophischen Problematik einen Bereich von sogenannten Fundamentalproblemen ausgrenzte, von solchen Problemen, welche 60
Voraussetzungen auch das Philosophieren selbst betreffen. In diesem Bereich, so sahen wir, ist philosophische »Forschung« im eigentlichen Sinne verboten. Daneben aber können wir einen Bereich von sozusagen »fundierten« philosophischen Aufgaben ausgrenzen, welche einerseits die Lösung der Fundamentalfragen immer schon voraussetzen, andererseits aber einen eigenen Typus von Erkenntnisaufgaben innerhalb der Philosophie darstellen. Und zwar ergibt sich das Recht einer solchen Differenzierung der philosophischen Probleme gerade aus ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Auch die Fundamentalphilosophie setzt, als allgemeine Ontologie und allgemeine Erkenntnistheorie, immer schon eine gewisse Erschlossenheit des konkreten Seienden voraus, denn wo kein Erkenntnisanspruch geltend gemacht worden ist, da kann audi keiner begründet werden. Gleichwohl aber macht sich die Fundamentalphilosophie in der Sicherung ihrer Ergebnisse von jeder Rücksicht auf den jeweiligen Stand der positiven Forschung frei. Anders im Bereich der fundierten philosophischen Erkenntnis. In ihm handelt es sich um die Erkenntnis spezieller Prinzipien, deren Erforschung immerzu abhängig bleibt von dem jeweiligen Stand der Erforschung des Konkreten. Zugespitzt an einem Beispiele ausgedrückt, das wie alle Beispiele in der Philosophie seine Grenzen hat, — allgemeine Ontologie und allgemeine Logik waren zu Aristoteles' Zeiten prinzipiell ebenso möglich wie heute, der Inhalt von N. Hartmanns »Naturphilosophie« ist nicht denkbar, aber auch nicht zu begründen ohne die Entfaltung der konkreten naturwissenschaftlichen Forschung. (Damit ist nicht etwa einem prinzipientheoretischen Empirismus hinsichtlich der speziellen Grundlagen der Wissenschaften das Wort geredet. Auch die spezielle Philosophie bleibt philosophisch, und d. h. ihre Ergebnisse sind einzelwissenschaftlich nicht zu verifizieren und zu falsifizieren.) Aus dieser Angewiesenheit auf die Entfaltung des konkreten Geistes resultiert eine Annäherung der philosophischen Spezialdisziplinen an den Typus der Forschung. Wie aber die Fundamentalprobleme der Philosophie in jeder Philosophie gelöst werden mußten, so haben wir es hier umgekehrt mit Problemen zu tun, deren Lösung innerhalb eines philosophischen Entwurfs eventuell auch einmal dispensiert werden mag. Sofern aber auch die Philosophie der realen Welt und des realen Geistes eine legitime Erkenntnisaufgabe der Philosophie ist, bedarf also auch die Philosophie in einer genau bestimmbaren Weise der wissenschaftlichen Forschung in ihrer progressiven Entfaltung. Blicken wir nodi einmal zurück: Wir haben die Grundlegungsproblematik bis zu dem Punkte verfolgt, an dem sie ihren legitimen Abschluß zu finden vermag. Die Philosophie, und nur die Philosophie, so sahen wir, vermag sich selbst zu begründen. Von ihr aber ist diese Selbstbegründung audi schlechterdings gefordert. Darin liegt die Sonderstellung der Philosophie im Reiche der Wissenschaften beschlossen. Auf diese 61
Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbstbegründung allein bezieht sich die Redewendung von dem ausgezeichneten Wissenschaftscharakter der Philosophie. (Sie besagt also nicht, daß die Philosophie in einem ausgezeichneteren Sinne Wissenschaft sei als die übrigen Wissenschaften!) Wissenschaft bedarf der Philosophie, weil sie prinzipiell begründungsbedürftig ist, ohne sich selbst begründen zu können. Philosophie aber muß selbst ebenfalls Wissenschaft, und zwar eine sich selbst begründende Wissenschaft sein, wenn sie selbst und damit audi die Einzelwissenschaften nicht immerzu unbegründet bleiben sollen. Philosophie ist also 1. eine Wissenschaft neben allen übrigen Wissenschaften; sie ist 2. die Wissenschaft von allen übrigen Wissenschaften; und sie kann 3. Wissenschaft neben allen übrigen Wissenschaften und von allen übrigen Wissenschaften nur sein, weil und insofern sie die Wissenschaft von sich selbst ist. Wenn wir noch einmal an unsere einleitenden formalen Betrachtungen zurückdenken, so sehen wir nunmehr, daß sowohl die erste als auch die dritte dieser formalen Möglichkeiten des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft auszuschließen sind. Ausgeschlossen ist der Ansatz autonomer Wissenschaften, welche keiner philosophischen Begründung bedürfen. Philosophie als Grundwissenschaft entläßt die Einzelwissenschaften in ihre Selbständigkeit, indem sie sie zugleich in ihrem Grund einbehält. Daß sich die Einzelwissenschaften in voller Autonomie entfalten können, geschieht kraft der Grundlagen, die die Philosophie ihnen sichert. So unabsehbar daher audi alle zukünftige Entwicklung der Einzelwissenschaften sein mag, immer werden sie in dem Räume einbehalten bleiben, in den die Philosophie sie in Freiheit entläßt. Immer wird die Philosophie jeden möglichen Punkt dieser Entwicklung schon überholt haben und, wie der Igel des Märchens den Hasen, die Wissenschaften mit dem Rufe empfangen: »Ich bin schon da!« Wissenschaft bedarf der Philosophie. Sie setzt sie als ihren geschichtlichen Ursprung voraus. Sie bedarf ihrer zur Erhellung ihres Grundes, wenn sie nicht in eine bewußtlose Technik abgleiten will. Nur die philosophische Reflexion schützt die Wissenschaften vor der Hybris eines seiner Grenzen nicht ansichtigen Dogmatismus. Philosophie begleitet als Grundlegung und Kritik die Wissenschaften auf allen Wegen. Aber die Philosophie bedarf auch der Wissenschaften. Ausgeschlossen ist daher ebenfalls, daß die Philosophie irgendwann einmal die Autonomie der Wissenschaften rechtmäßig widerrufen und sie in mütterlichen Schoß zurücknehmen könnte. Weder die Isolation und das sich Abschließen der Wissenschaften gegen die Philosophie, noch der Versuch, die Wissenschaften in Philosophie aufzuheben, sind durch das zwischen Philosophie und Wissenschaft waltende Verhältnis von Panarchie der Philosophie und Autonomie der Wissenschaften gedeckt. 62
4. RECHT UND GRENZEN DER TYPOLOGIEN Ein Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Geisteswissenschaften Nachdem die Vorherrschaft des spezifisch wissenschaftstheoretischen Philosophierens im Beginn unseres Jahrhunderts gebrochen worden ist, und die Philosophie sich wieder auf ihre größeren und fundamentaleren Aufgaben als die einer Grundlegung und Kritik der Wissenschaften besonnen hat, ist es im Augenblick zu einem ausgesprochenen Mißverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaften gekommen. Der Rüdszug der Philosophie aus den Problemen der konkreten wissenschaftlichen Arbeit hat diese einem praktizierten Positivismus überantwortet, gegen den keine Kapuzinerpredigt der Philosophie über den bloßen »Betrieb« der Wissenschaften helfen kann, sondern nur eine Philosophie, die sich wieder den Sorgen der wissenschaftlichen Forschung zuwendet. Zu den umstrittensten Problemen der geisteswissenschaftlichen Arbeit gehörte bis in die jüngste Vergangenheit die Frage nach Recht und Grenzen der typologischen Forschung. Wenn es im Augenblick zu einer Beruhigung in dem langanhaltenden Streit gekommen ist, so mag das auch darauf hindeuten, daß das typologische Denken seine spekulative Phase hinter sich gelassen hat und zu einem bescheideneren, aber unentbehrlichen Instrument einzelwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Dies aber dürfte für uns der rechte Zeitpunkt sein, eine besonnene philosophische Untersuchung in Gang zu bringen. Die folgenden Ausführungen fragen philosophisch nach Recht und Grenzen der geisteswissenschaftlichen Typologien; sie'greifen also weder in die Auseinandersetzung um eine bestimmte typologische Theorie ein, noch wollen sie bestimmte Methoden typologischer Forschung entwerfen. Beides ist ausschließlich Sache der Wissenschaft selbst. Daher beschränken wir uns auf die Erörterung dreier Fragenkomplexe, die der Einzelwissenschaftler mit seinen Mitteln nicht zu behandeln vermag, von deren Klärung aber die Sicherheit seiner Arbeit abhängt. Unsere Analysen betreffen 1. die wissenschaftstheoretische Struktur des TypusbegrifFs, 2. eine ontologische Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Typologien und 3. das Verhältnis der geisteswissenschaftlichen Typologien zur Philosophie. Ich erläutere kurz die drei Fragenkomplexe: 1. Die empiristische und positivistische Wissenschaftstheorie betrachtet seit Helmholtz den Typusbegriff als bloße Vorstufe und Ersatz des Gesetzesbegriffs. Wir werden daher zunächst fragen, ob der Typusbegriff ein bloßer Vorläufer des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs ist, oder ob beide gleichrangige und nicht aufeinander reduzierbare Formen des wissenschaftlichen Begreifens sind. 63
2. Die bisherige Kontroverse um Recht und Grenzen des Typusbegriffs in den Geisteswissenschaften hat den Typus gern als Repräsentanten einer spezifisch «^«wissenschaftlichen Erkenntnisweise gewertet. (So etwa in dem Streit um Lamprecht, als dessen Erneuerung in unserem Jahrhundert die Kontroverse um Spengler gelten mag.) In eine ähnliche Richtung zielt der Einwand, daß die Typologien der Individualität und Geschichtlichkeit des Geistigen nicht gerecht würden. (Auf das Versagen gegenüber der Individualität zielt etwa die Wissenschaftstheorie Windelbands und Rickerts, auf die Verfälschung der Geschichtlichkeit die Kritik der Existenzphilosophie ab.) Die Frage nach der Bedeutung der typologischen Erkenntnis für die Geisteswissenschaften läßt sich jedoch nicht schon auf Grund der formalen Unterschiedenheit von Gesetz und Typus klären, sondern fordert den Rückgang auf eine ontologische Grundlegung. Diese ontologische Grundlegung hat das Verhältnis der Typologie zu der spezifischen Seinsverfassung der Gegenstände der Geisteswissenschaften zum Thema. In ihr wird zu klären sein, ob zwischen der typologischen Erkenntnis und der Individualität und Gesdiichtlichkeit des konkreten Geistes ein Gegensatz oder aber eine positive Beziehung besteht, die die Anwendung typologischer Begriffe innerhalb der Geisteswissenschaften grundsätzlich rechtfertigt. Die Frage spitzt sich also so zu: Welche ontologische Verfassung der Gegenstände der Geisteswissenschaften fordert den Typusbegriff geradezu als die ihr adäquate Form der Begrifflichkeit heraus? 3. Die Typologien stellen aber nicht nur ein spezifisch einzelwissenschaftliches Problem dar, sondern beunruhigen auch die Philosophie selbst. Zugleich mit der sogenannten Entdeckung des geschichtlichen Bewußtseins (um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert) brach auch der Sinn für die Vielfalt alles menschlichen und kulturellen Seins auf. Während diese Vielfalt zunächst aber noch als Reichtum der Offenbarungen eines und desselben Absoluten betrachtet wurde, trat mit dem Verlust dieser metaphysischen Grundlage (etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts) eine radikale Verschärfung ein; die Vielheit des geschichtlichkulturellen Seins wird nun als Ausdruck des endlichen, typologisch differenzierten Menschen verstanden. Wie nach Dilthey das Wesen des Menschen im Prozeß der Geschichte zerschmilzt, so löst sich audi das Wesen der Erkenntnis, des Ethos, der Kunst usf. in eine Vielfalt irreduzibler, endlicher Typen auf. Zugleich mit dem »Historismus«, und als Ausdruck derselben Problemlage, entspringt nun ein philosophischer »Typologismus«, der schließlich audi die Philosophie in eine letzte Pluralität von Typen auflöst. — Unsere Frage wird daher lauten, ob die Philosophie bei einer Typologie des konkreten Geistes stehen bleiben kann, oder ob sie diese Vielheit noch auf die Einheit eines Grundes zurückzuführen hat, welche Basierung nun auch den geisteswissenschaftlichen Typologien erst einen letzten Halt verleiht. 64
Dabei folgt aus der Begrenzung des Rechts der Typologie innerhalb der Philosophie ihre unaufhebbare Bedeutung für das Begreifen des konkreten Geistes, wie aus dem Recht der Typologie gegenüber dem konkreten Geist ihre eingeschränkte Bedeutung im Felde der Natur folgt. I Schon von seinem Ursprung her haftet dem Typus eine charakteristische Doppeldeutigkeit an: τύττος ist sowohl die (hohle oder erhabene) Form, als auch der Abdruck einer Form; ist ebenso Vorbild wie Abbild; ebenso Vorbild für Dinge wie auch Grundform an Dingen. In beiden Bedeutungen kommt dem Typos eine genuine Beziehung zur Anschauung zu. Daher seine enge Verwandtschaft mit Figur und Gestalt, Umriß und Charakter, aber auch mit Piatons Idea. Wo der Typos zum erstenmal terminologische Bedeutung erlangt, in der sogenannten Methode der »typologischen« Bibelauslegung, handelt es sich um eine spezifische Form des »figürlichen«, nicht »wörtlichen« Textverständnisses. Und Goethe schreibt in seinem »Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie« (1795): »Deshalb geschieht hier ein Vorschlag zu einem anatomischen Typus, zu einem allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämtlicher Tiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschreibe.« Der Typus ist also einerseits ein Singuläres und Anschauliches, das erschaut und beschrieben werden kann, er ist aber zugleich audi ein Allgemeines im Hinblick auf eine Vielheit möglicher Exemplare. Daher läßt er Einzelseiendes beschreibbar und erkennbar werden, indem dies sich als Exemplar eines bestimmten Typus begreifen läßt. Wodurch ist diese Funktion des Typus von der des Gesetzes unterschieden? Ein Vergleich von Typus und Gesetz hat zunächst eine Reihe von Ubereinstimmungen zu konstatieren: Typus und Gesetz (wobei wir vor allem an das Naturgesetz denken) sind beide ein Allgemeines, das in der Form des Begriffs ausgedrückt werden kann; und zwar Allgemeines, das nicht, wie etwa die Vielheit nicht-euklidischer Räume oder möglicher Zahlensysteme, frei entworfen und axiomatisch konstruiert werden kann, sondern als iJeaZ-Allgemeines an Realem wiederkehrt und daher auch an die Bedingung gebunden ist, sich an Realem zu bewähren. Sowohl der Typusbegriff als auch der Gesetzesbegriff gehören darüberhinaus der Ebene der wissenschaftlichen Theorie an. Das heißt, daß sie immer schon auf wissenschaftlichem Denken beruhen; daß in sie eine Vielfalt von methodisch gesicherten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung eingegangen ist; daß ihre eigene Sicherheit von der Sicherheit dieser Methoden und ihrer Ergebnisse abhängt. Zum anderen aber sind sie nicht nur ein Ergebnis der Erkenntnis, sondern ermöglichen ihrerseits audi die 65 5
Brelage
Erkenntnis von Seiendem. Sie ermöglichen eine Erkenntnis-Ordnung, die, obwohl dem realen Seienden nicht einfach abgelesen, doch eine Ordnung des realen Seienden selbst ist. All das bedeutet, daß die wissenschaftliche Typologie ebenso wie die naturwissenschaftliche Gesetzeserkenntnis von einem überaus komplexen Bedingungsgefüge getragen wird, das vollständig nur im Rahmen einer universalen Wissenschaftstheorie zu analysieren wäre. Jede Typologie ist Glied einer Wissenschaft und daher einerseits von dem jeweiligen Gesamtstand der Wissenschaft abhängig; andererseits beruht sie auf den Prinzipien, die das wissenschaftliche Denken als solches und seine Bezogenheit auf einen bestimmten Gegenstandsbereich beherrschen. — Hier kann es uns nur darum gehen, eine Binnen-Analyse der Struktur des Typus zu geben, die die Art und Weise, in der der Typus eine Vielheit von »Typen-Exemplaren« beherrscht, von derjenigen abhebt, in der das Naturgesetz seine »Fälle« regiert. Wählen wir zwei einfache Beispiele: Das Galileische Fallgesetz (s = t 2 y) unterwirft die Allheit aller wirklichen und möglichen Fälle von Fall einer theoretischen Ordnung, indem es eine bestimmte Abhängigkeit zwischen variablen Maßwerten definiert, die sich in Gestalt einer mathematischen Funktion ausdrücken läßt. Daher die Exaktheit, aber auch die Unanschaulichkeit des Naturgesetzes. Dabei ist das Fallgesetz nicht selbst ein Fall von Fall; es gehört nicht als Glied in die von ihm beherrschte Reihe, sondern ist das reine Gesetz dieser Reihe. — Halten wir daneben Paul Tillichs Glaubenstypologie, die die zwei Grundtypen des ontologischen und moralischen Glaubens mit je mehreren Untertypen unterscheidet. Hier werden zwei Formen des Glaubens beschrieben, so daß sich zwischen ihnen eine Dimension möglicher Annäherungsformen an den einen oder anderen Grundtypus ergibt. Alle vorhandenen realen geschichtlichen Glaubenshaltungen lassen sich als Abwandlungen dieser Grundtypen begreifen und in eine Reihenordnung bringen, die ihre mehr oder weniger große Annäherung an den einen oder den anderen Typus angibt. Die Grundtypen kehren also in einer graduellen, aber nicht metrisch bestimmten Abwandlung in den realen Typenexemplaren wieder. Ob sie dabei als Extreme oder als Mittelwerte die Reihe regieren, ist nicht prinzipiell entscheidend. Weder haben wir es dabei bei den Grundtypen mit wirkenden Prinzipien oder substantiellen Formen zu tun, noch audi sind sie etwa notwendig als werthafte Maxima ausgezeichnet. Vielmehr handelt es sich um ein rein theoretisches Ordnungsprinzip, das einzelne Exemplare nicht klassifikatorisch nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten entweder der einen oder der anderen Klasse zuordnet, sondern eine Anordnung nach einem Mehr oder Weniger der Annäherung an den einen oder anderen Typus ermöglicht. — Ähnlich liegen die Dinge überall, wo wir mit Ding- oder Persontypen, Gestalt- oder Verlaufstypen, Stil- oder 66
Motivtypen, Ideal- oder Durchschnittstypen arbeiten. Stets handelt es sich darum, daß sich die Typenexemplare als Abwandlung eines oder mehrerer Grundtypen begreifen lassen. Wiederkehr und Wiederholung gelten dabei nicht von den realen Exemplaren, was von vornherein den Typusbegriff aus der Geschichte verbannen würde, sondern von den sich abwandelnden Typencharakteren. Jede Typologie ermöglicht also auf dem Wege der Abwandlung oder Variation eines oder mehrerer Typen die Bildung einer ein- oder mehrdimensionalen Reihenordnung, in der jedes Typenexemplar seine theoretische Stelle findet. Die Ordnung in dieser Reihe muß nicht der Ordnung der Abfolge in der realen Welt entsprechen, sie muß nicht etwa einer Entwicklung korrespondieren. Aber sie ermöglicht unter Umständen Rückschlüsse auf eine Entwicklung. So eröffnet in vielen Fällen erst die Typologie ein ganzes Feld wissenschaftlicher Forschung. Erst durch die Anwendung typologischer Methoden auf die vorgeschichtlichen Funde oder durch Windkelmanns Entdeckung der Stiltypen der griechischen Plastik wurde in beiden Feldern das Stadium bloßer Sammlung und Katalogisierung überwunden. Die typologische Methode erweist sich also als eine spezifische Methode wissenschaftlicher Systematik, die die theoretische Ordnung eines vorgegebenen Feldes von Gegenständen ermöglicht, ohne auf die Gesetzeserkenntnis zurückgeführt werden zu können. Von der Gesetzeserkenntnis ist sie durch die Art und Weise streng unterschieden, wie sich in ihr das Allgemeine zu dem von ihm beherrschten Einzelnen verhält. Diese prinzipielle Unterschiedenheit schließt es audi aus, den Typusbegriff als eine bloße Vorstufe des Gesetzesbegriffs zu betrachten, oder die Rolle des Gesetzesbegriffs einseitig zum Index der Wissenschaftlichkeit einer Erkenntnis zu erheben. Beide sind vielmehr zunächst als gleichrangige Weisen wissenschaftlichen Begreifens anzuerkennen, deren Verhältnis zueinander von der ontologischen Struktur der Gegenstände der jeweiligen Wissenschaft abhängt. Wir haben daher nunmehr zu fragen, welches das Moment an der Seinsverfassung der Gegenstände der Geisteswissenschaften ist, das die Anwendung der typologischen Methode in ihnen prinzipiell rechtfertigt und zu besonderer Fruchtbarkeit kommen läßt. II Wenn wir die Reihe der Wissenschaften durchgehen, so zeigt sich, daß das typologische Denken in den Wissenschaften der anorganischen Natur nur dort seine Stätte hat, wo es, wie etwa in der Kristallographie, Geographie oder Astronomie, um die Systematik einer Vielheit gestalthaft verschiedener Gefüge geht. In den Wissenschaften der organischen 67 5*
Natur: in Zoologie, Botanik und physischer Anthropologie steigt seine Bedeutung sprunghaft an. In gesteigertem Maße aber gilt dies von der Psychologie und Charakterologie. Und schließlich ist die Systematik aller Geisteswissenschaften durchsetzt mit typologischen Begriffen. Wenn wir eine Darstellung in Gestalt einer Kurve versuchten, so erreichte diese ihr Maximum in den mittleren Bereichen. Jedenfalls herrscht das typologische Denken in den Wissenschaften des objektiven, geschichtlichen Geistes nicht mehr unumschränkt und unumstritten, sondern tritt in eine eigentümliche Konkurrenz mit dem spezifisch historischen Denken. Wie uns unsere formale Analyse des typologischen Begreifens im Unterschied zum Gesetzesdenken gezeigt hat, ist das Typendenken diejenige Form der wissenschaftlichen Forschung, die sich die Systematik einer spezifischen Mannigfaltigkeit von Formen zur Aufgabe gesetzt hat. Daher muß der Grund für das Vor- oder Zurücktreten der typologischen Methode in den verschiedenen Wissenschaften in der Zu- oder Abnahme der Diskretion und Vereinzelung ihrer Gegenstände gesucht werden. Umgekehrt aber hat der exakte Gesetzesbegriff dort seinen Anwendungsbereich, wo sich Einzelseiendes als Ausschnitt eines homogenen Kontinuums bestimmen läßt. Innerhalb des Feldes des Geistes hat die Diskretion die besondere ontologische Struktur, die wir mit Leibniz und neueren Philosophen »Monadizität« nennen können. Sie bildet den Grund für die unübersehbare kulturelle und geschichtliche Individualisierung alles Geistigen. Weil der konkrete Geist monadisch strukturiert ist, darum ist jede geistige Leistung nur möglich als Geleistetes eines jeweiligen und jemeinigen Leistens. Weil das Leisten selbst nicht übertragbar ist, darum ist alle Tradition geistiger Leistungen nur als Reproduktion möglich und schließt immer eine Abwandlung des Tradierten ein. Diese Individualität des Geistes ist daher von der Individualität bestimmbarer, kategorial betroffener Gegenstände der Natur grundsätzlich unterschieden, weil sie nicht nur Gegenstandsbestimmtheit, sondern Bedingung der Möglichkeit jeglicher Gegenstandsbestimmung ist. Die geisteswissenschaftlichen Typologien sind nun die auf diesen konkreten monadischen Geist zugeschnittene Form der systematischen Begriffsbildung. Was sie erfassen, ist entweder die leistende Geistigkeit selbst, oder es sind spezifische Weisen ihres Leistens oder aber schließlich Leistungen in ihrer Rückbezogenheit auf den leistenden Geist; und zwar ermöglicht es gerade der Typusbegriff, die schier unübersehbare Mannigfaltigkeit des konkreten Geistes überschaubar zu machen, weil er eine Methode darstellt, Individuelles als je diskrete Abwandlung eines Allgemeinen zu begreifen. Diese Fähigkeit des typologischen Denkens bewährt sich nicht nur an der kulturellen und individuellen Differenzierung des jeweils koexistierenden Geistes, sondern auch angesichts seiner 68
geschichtlichen Entfaltung. Bereits die typologische Methode der Bibelauslegung wurde in diesem Sinne der Geschichtlichkeit der Ereignisse der Heilsgeschichte durchaus gerecht; denn in ihr handelt es sich um den Versuch einer Verknüpfung von Personen, Ereignissen oder Sachen des Alten und Neuen Testaments, die ihre geschichtliche Stellenbestimmtheit (im Unterschied zur allegorischen Methode) gerade nicht aufhebt oder zu einem belanglosen Moment herabsetzt, sondern in aller Schärfe voraussetzt. Es ist die Voraussetzung dieser typologischen Vergleichung, daß die verknüpften Personen, Ereignisse oder Sachen verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte (sub lege oder sub gratia) angehören. Dadurch, daß die verschiedene heilsgeschichtliche Stellenbestimmtheit das Prinzip der Abwandlung der zu vergleichenden Glieder bildet, zeigt sich bereits an dieser vorwissenschaftlichen Form des typologischen Denkens, daß dies durchaus eine innere Affinität zur Geschichte besitzt. Ich muß es mir versagen, auf die interessante Geschichte dieser typologischen Methode, die eine der verborgenen Quellen unseres abendländischen Geschichtsdenkens darstellt, hier näher einzugehen. Wie eng aber die Typologie überhaupt mit dem Gedanken der geistesgeschichtlichen »Epoche« verknüpft ist, ließe sich auch am Beispiel Schillers aufweisen, der Goethe als naiven Dichter in einer sentimentalischen Zeit bestimmt. Das typologische Begreifen in den Geisteswissenschaften hat also seine ontologische Grundlage in der monadischen Struktur alles Geistigen, die das Prinzip seiner unerschöpflichen kulturellen und geschichtlichen Abwandelbarkeit ist. Aus demselben Grunde entfaltet die Typologie innerhalb der Naturwissenschaften, vor allem im Bereich der Biologie, ihre besondere Fruchtbarkeit; denn das Organische hat quasimonadische Struktur oder läßt sich — um mit Heidegger zu sprechen — als privativer Modus des menschlichen Daseins begreifen. Deshalb entfaltet es sich nicht in Gestalt eines Kontinuums, sondern auf dem Wege der Produktion und Reproduktion einer Vielheit von Individuen. — Aber auch innerhalb der Geisteswissenschaften wandelt sich die Bedeutung des typologischen Denkens noch einmal nach dem Vor- oder Zurücktreten des monadischen Elements ab. So sind etwa Typologien der Philosophie für das geisteswissenschaftliche Begreifen sinnvoller als Typologien der Mathematik oder Physik; denn die Philosophie entfaltet sich in einer offenen Vielzahl vereinzelter Philosophien, während sich alle mathematischen oder physikalischen Forschungsergebnisse dem homogenen Kontinuum der einen Mathematik oder Physik einfügen. Hier — in Mathematik und Physik — sind es daher weniger die Forschungsergebnisse als vielmehr die Forscher oder die individuellen Wege der Wahrheitsfindung, die eine typologische Begriffsbildung herausfordern. (Ich erinnere etwa an Ostwalds Typologie der Klassiker und Romantiker unter den Naturforschern.)
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III Der hier angedeutete Versuch einer wissenschaftstheoretisdien und ontologischen Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Typologien beschneidet zwar alle übertriebenen Hoffnungen, die sich seit den Tagen Goethes an den Typus geheftet haben; aber er vermag dafür auch die Bedenken der Wissenschaft zu zerstreuen, die eben dieser Uberschwang der Erwartungen heraufbeschworen hat. Weder vermag die Typologie eine der Empirie überhobene Wesensschau des Geistigen zu leisten, noch aber auch ist sie dazu verdammt, bei ihrer Berührung das Individuelle und Geschichtliche in ein überzeitlich Allgemeines zu verwandeln. Typologische Erkenntnis ist nicht schon historische Erkenntnis; aber sie vermag dieser ebenso zu dienen, wie sie sich den psychologischen oder ethnologischen, sozialen oder kulturellen Individualitäten anzuschmiegen vermag. Denn ihre eigentümliche Funktion ist ja nicht die Schau weniger idealer Gestalten, sondern — wie schon Max Weber erkannte — die Bereitstellung von Mitteln für die Erkenntnis des unübersehbar Mannigfaltigen. Wenn so die Typologie in den Geisteswissenschaften zwar nicht die einzige und nicht eine isolierte Methode, sondern Glied in einem Methodengefüge ist, so tritt hierzu noch ihre philosophische Bedingtheit. Es mag so scheinen, als enthielten die großen geisteswissenschaftlichen Typologien, die eine Ordnung je eines gesamten Leistungsbereiches (der Malerei oder der Religion überhaupt) entwerfen, schon in sich eine solche Philosophie, oder als sei die Philosophie solcher Bereiche des Geistes selbst nur in Gestalt einer Typologie möglich. Diese Ansicht von der philosophischen Selbstgenügsamkeit der geisteswissenschaftlichen oder philosophischen Bereichs-Typologien hat ihren Grund in ihrem in der Tat ausgezeichneten Verhältnis zur Philosophie, das von der Art, wie etwa physikalische Grunddisziplinen eine Philosophie implizieren, spezifisch verschieden ist. Der Naturwissenschaftler rnttß kein schlechter Naturphilosoph sein, aber er darf es; denn seine naturwissenschaftliche Forschung ist relativ unabhängig von der privaten Philosophie ihres Urhebers. Eine Typologie der Dichtung oder der Malerei, des Glaubens oder der Staatsformen wird hingegen in ihrem wissenschaftlichen Wert ganz und gar von dem philosophischen Begriff abhängen, den der Typologe mitbringt. Das ist der Kern der sogenannten »weltanschaulichen Bedingtheit« geisteswissenschaftlicher Forschung, nicht aber gelegentliche Abweichungen von der Forderung wissenschaftlicher Objektivität. Daß hier (immer noch) von »weltanschaulicher« und nidit»philosophischer« Bedingtheit der Geisteswissenschaften gesprochen wird, hat seinen Ursprung in der Verzweiflung der Philosophie an sich selbst, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Platz griff, die gerade die höchsten Interessen des Geistes von denkender, philosophischer Durchdringung
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ausschloß und zu einer Sache unkontrollierbarer Entschlüsse und ungeistiger Einflüsse herabsetzte. Weil der Geisteswissenschaftler ohne die Philosophie keinen Schritt über die simpelste Empirie hinaus tun kann, darum darf es nicht dabei bleiben, daß die philosophischen Grundlagen seiner Wissenschaft dem Zufall seiner Ausbildung oder der Vorliebe seiner Epoche f ü r eine bestimmte Philosophie überantwortet sind, sondern müssen sie zu einer Aufgabe ständiger, methodischer Reflexion gemacht werden. Eine philosophische Theorie des Geistes kann aber auch ihrerseits nicht bei einer Pluralität von Typen als letzter, irreduzibler Gegebenheiten stehen bleiben, sondern hat sie auf die Einheit eines durchgängigen und gemeinsamen Prinzipiengefüges zurückzuführen. Wenn es Typen der Dichtung gibt, so muß es auch einen identischen Grund dafür geben, daß sie allesamt Typen der Dichtung sind und als Typen der Dichtung etwa von schlechter Theorie oder Metaphysik unterschieden werden können. Zwar schärft die Typologie den Blick der Philosophie für die Mannigfaltigkeit der Formen des Geistes und bewahrt sie davor, ihre Analyse von vornherein an einer zu schmalen Basis anzusetzen. Aber nur eine philosophische Prinzipientheorie, nicht aber eine Wesensschau isolierter Typen, vermag die Autonomie und Eigenbestimmtheit der Leistungsbereiche des Geistes, die auch noch die Voraussetzung aller Abhängigkeiten zwischen ihnen ist, zu sichern. Dieser notwendige Rückgang auf die Einheit des jeweiligen Prinzipiengefüges hat nichts mit einer monistischen Vereinfachung des konkreten Geistes zu tun, weil diese Prinzipien, im Unterschiede zu den Kategorien der N a t u r , Prinzipien monadischer, d. h. durch und durch individualisierter Leistungen sind. Es hängt von dem Unterschied zwischen der Allgemeinheit der Prinzipien und der Allgemeinheit des Typus ab, daß eher noch der Typendenker als der Prinzipientheoretiker Gefahr läuft, die Individualität des Geistes schematisierend zu vereinfachen.
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II. T R A N S Z E N D E N T A L P H I L O S O P H I E
UND
KONKRETE SUBJEKTIVITÄT Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert EINLEITUNG I Wer sich in der heutigen philosophischen Situation der Transzendentalphilosophie zuwendet, um ihre Beziehungen zur konkreten Subjektivität in einer historisch gerichteten Untersuchung zu analysieren, kann dies nicht ohne den Versuch einer Rechtfertigung tun. Zu sehr scheint die Transzendentalphilosophie ein für allemal tot und die Uberwindung der Lehre von der transzendentalen Subjektivität durch eine Philosophie, welche den Menschen in seiner vollen Konkretheit ins Zentrum aller ihrer philosophischen Überlegungen stellt, endgültig zu sein. Eine Rekonstruktion dieses Kampfes scheint daher keinerlei Aktualität, sondern nur noch historisches Interesse beanspruchen zu können. Hinzukommt, daß die Gegenwart erkenntnistheoretischen Fragen überhaupt in einem solchen Maße abhold ist, daß auch eine Kernfrage der früheren Erkenntnistheorie wie die nach dem Subjekt der Erkenntnis kaum noch auf Verständnis stößt. Aber vielleicht verlangt gerade unsere gegenwärtige Situation danach, diese alten und für erledigt gehaltenen Fragen noch einmal zu durchdenken. Die gegenwärtige philosophische Lage ist von der herangewachsenen und heranwachsenden Generation nicht mehr selbst herbeigeführt, sondern als etwas Fertiges vorgefunden worden. Diejenigen Denker, für die unsere jetzige Problemsituation das Ergebnis ihres eigenen Ringens darstellt, müssen zu ihr notgedrungen ein anderes Verhältnis haben als die, welche kaum noch die Motive für das Heraufkommen des von ihnen Vorgefundenen zu würdigen wissen. Unter diesen Umständen ist es nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, sondern unseres notwendigen Selbstverständnisses, dem Werk unserer philosophischen Väter nicht einfach den Rücken zu kehren, sondern zu fragen, wie und aus welchen Motiven das, was ist, geworden ist. Es ist aber auch darüberhinaus nicht einzusehen, wie wir selbst einen Schritt weiter wollen gelangen können, ohne uns wenigstens über das letzte Halbjahrhundert unserer Vergangenheit kritisch Rechenschaft ab-
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zufordern. Nicht als könnte auf diesem Wege mit leichter Hand ein »Ergebnis« des gedanklichen Ringens der Vergangenheit geerntet werden. Die Philosophie ist — man mag es beklagen oder aus dieser Not eine Tugend machen wollen — nun einmal in der mißlichen Lage, daß das Vokabular der einzelwissenschaftlichen »Forschung« nur mit tiefgreifenden Modifikationen auf ihre eigene Arbeit angewandt werden kann. Und diese Modifikationen sind so fundamental, daß die Zweifel jedenfalls nicht abwegig sind, ob sich von philosophischen »Ergebnissen« und philosophischer »Forschung« überhaupt noch mit Sinn reden lasse. Die Skepsis, die den Versuch begleiten würde, das »Ergebnis« der philosophischen Arbeit sicherzustellen, macht die Hinwendung zu unserer unmittelbaren philosophischen Vergangenheit jedoch nicht weniger sinnvoll, sondern erhöht nur noch ihre Dringlichkeit. Zwar gilt dies grundsätzlich von der gesamten Vergangenheit der Philosophie; dennoch aber kommt der jeweils jüngsten Vergangenheit dabei ein entscheidender Vorrang zu. Was man auch anführen mag, um die Schwierigkeiten oder gar die Unmöglichkeit einer historischen Betrachtung derjenigen Vergangenheit darzutun, die für uns ihrem Gehalte nach noch zur Gegenwart gehört, das spricht im Falle der Philosophie dafür, daß diese Aufgabe sogar mit Vorrang aufzunehmen ist. Der philosophiegeschichtliche Zeitraum, dem sich die folgende Untersuchung zuwendet, ist der uns geschichtlich nächste und zugleich historisch fernste. Seine eine Hälfte liegt im Schatten unseres historischen Bewußtseins deshalb, weil es sich dabei um diejenige letzte Strecke der Vergangenheit handelt, die von der gegenwärtigen Philosophie abgelöst und überwunden wurde. Seine andere Hälfte aber gehört bereits mit zur Gegenwart und ist deshalb bisher nicht in das Licht des historischen Bewußtseins getreten, weil sie selbst das »Subjekt« eben dieses historischen Bewußtseins ist. Daß wir heute damit beginnen, auf das Schicksal der Philosophie in den Jahrzehnten zwischen 1900 und 1930 zu reflektieren, zeigt an, daß sich die bisherige philosophische Gegenwart anschickt, zu einer Vergangenheit zu werden. Dieser Vorgang der Uberwindung der Gegenwart vollzieht sich zunächst noch in der leisen und unauffälligen Form ihrer historischen Objektivierung, nicht im offenen systematischen Kampf gegen ihre Grundthesen. Aber indem die Gegenwart auf diese Weise für uns selbst geschichtliche Objektivität erlangt, schärft sich zugleich auch unser Blick für ihre Endlichkeit und bereitet sich ihre systematische Uberwindung vor. Damit muß sich auch unser Verhältnis zu derjenigen Epoche der Philosophiegeschichte wandeln, die der von uns zu objektivierenden Gegenwart unmittelbar voraufgegangen ist. Solange das Verhältnis dieser Gegenwart zu ihrer jüngsten Vergangenheit ein sachlich-polemisches war, konnte der Vergangenheit historisch ihr Recht nicht widerfahren. Daher 73
sind alle die Versuche, in denen die neue Philosophie ihr Recht gegenüber der alten zu begründen suchte, für uns nur mit Einschränkungen als Vorarbeiten zu betrachten; sie gehören vielmehr selbst mit zu unseren Quellen. Eine jede Gegenwart schafft sich zugleich ihr Bild der Vergangenheit, wie eine jede neue Generation ein Bild ihrer Väter entwirft. Aber dieses Bild ist nicht nur aus dem Verlangen nach historischer Objektivität geworden, sondern auch aus dem Interesse, sich selbst vom anderen zu unterscheiden. Was etwa N . Hartmann vom Marburger Neukantianismus oder Heidegger von der Phänomenologie Husserls gedacht hat, bestimmt zwar auch heute noch weitgehend unser Wissen, deckt sich aber keineswegs mit deren eigenem Rang, ja nicht einmal mit der Bedeutung, die die Philosophie der Marburger für Hartmann oder die Phänomenologie Husserls für Heidegger gehabt hat. Erst indem auch das Subjekt dieses uns überkommenen philosophiehistorischen Wissens für uns zu einem Gegenstande wird, gelangen wir in die Lage, die Grenzen dieses Wissens zu erkennen. Wenn wir im Folgenden die geschichtlichen Beziehungen erforschen, die die Philosophie der Gegenwart mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit verbinden, so wird dies zugleich eine Revision des in der Philosophie der Gegenwart herrschenden Verständnisses dieser Vergangenheit vorbereiten. Was hier von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Revision unseres philosophiehistorischen Bewußtseins gesagt wurde, gilt in abgewandelter Weise auch von dem systematischen Problemhorizont der Gegenwartsphilosophie. Zu den charakteristischsten Merkmalen dieses Problemhorizontes gehört die Überzeugung, daß die Erkenntnistheorie überhaupt, die erkenntnistheoretische Subjektsproblematik insbesondere, überwunden oder doch nur noch in einer systematisch abkünftigen Weise aufrechtzuerhalten sei. Der Schritt, der die Philosophie der unmittelbaren Vergangenheit von der Philosophie der Gegenwart trennt, ist zugleich der Schritt von der Erkenntnistheorie oder einer Philosophie, in der die Erkenntnistheorie als die philosophische Fundamentaldisziplin galt, zu einer Ontologie oder einer Philosophie, in der die Erkenntnistheorie nur noch als eine fundierte philosophische Disziplin in Geltung ist. Indem wir den geschichtlichen Grundlagen nachspüren, in denen unsere gegenwärtige Uberzeugung von der Erkenntnistheorie wurzelt, schaffen wir uns selbst die Voraussetzung, der Problematik dieser Erkenntnistheorie wieder mit größerer Offenheit zu begegnen. Die Erkenntnistheorie in ihrer kritizistischen und phänomenologischen Gestalt einerseits, Ontologie und Daseinsanalytik andererseits, treten uns zunächst als verschiedene geschichtliche Entwürfe gegenüber. Daß sie als geschichtliche Gegenstände Gleichrangigkeit erlangen, ist aber die Voraussetzung dafür, daß auch dem systematischen Gehalt des vergangenen Philosophierens Gerechtigkeit widerfahren kann. Wenn bisher 74
die Erkenntnistheorie gleichsam als das letzte Verfallsstadium der Philosophie erschien, so konnte dadurch kaum die Neigung gefördert werden, dem systematischen Recht dieser Erkenntnistheorie nachzufragen. Zwar glauben audi wir nicht, daß die Erkenntnistheorie in ihrer alten Gestalt einfach wiederbelebt werden könne. Ein solcher Glaube wäre ebenso ungeschichtlich, wie er sich borniert weigern müßte, das Recht des neuen nicht-erkenntnistheoretischen Denkens anzuerkennen. Doch sind wir davon überzeugt, daß in der Erkenntnistheorie in ihrer kritizistischen und phänomenologischen Gestalt Probleme zum Austrag drängten, die durch Ontologie und Daseinsanalytik nicht abgelöst werden können und die daher neben diesen ihr sachliches Recht fordern dürfen.
II Der Titel unserer Arbeit deutet zunächst auf den Zusammenhang zweier systematischer Probleme. Er umreißt zugleich jedoch auch den geschichtlichen Rahmen unserer Untersuchung. »Transzendentalphilosophie« und »konkrete Subjektivität« sind zwei Titelbegriffe, die die Epochen der deutschen Philosophie vor und nach dem ersten Weltkrieg bezeichnen. Aus ihnen ergibt sich also sowohl die systematische als auch die zeitliche Begrenzung der Untersuchung. Nicht eine Gesamtdarstellung der deutschen Philosophie eines bestimmten Zeitraumes soll in ihr versucht werden, sondern nur eine, wenngleich bedeutsame Vorarbeit für eine solche. Wir thematisieren ausschließlich den entscheidenden Ubergang von der Philosophie, die in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg herrschte, zu der im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ausgebildeten Philosophie der Gegenwart, sofern dieser Ubergang sich durch das Thema von Transzendentalphilosophie und konkreter Subjektivität begreifen läßt. Die zeitliche Begrenzung, die sich daraus ergibt, läßt sich nicht exakt angeben. Der entscheidende Zeitraum dürfte für uns der zwischen 1900 und 1930 sein, philosophiegeschichtlich etwa durch die Erscheinungsjahre von Husserls »Logisdien Untersuchungen« und Heideggers »Sein und Zeit« annähernd genau bestimmbar. Aber die Voraussetzung sowohl für die das erste Jahrzehnt beherrschende kritizistische Transzendentalphilosophie als auch für die Husserlsche transzendentale Phänomenlogie werden bereits in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geschaffen. 1871 erscheint von Cohen »Kants Theorie der Erfahrung« in erster Auflage, 1873 Windelbands Habilitationsschrift »Uber die Gewißheit der Erkenntnis«, 1874 Brentanos »Psychologie vom empirischen Standpunkt« I, 1891 Husserls »Philosophie der Arithmetik«, 1892 die erste Auflage von Rickerts »Der Gegenstand der Erkenntnis«. — Entsprechend unscharf verläuft auch die obere Grenze zur Gegenwart hin.
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Wichtige Werke, die für die Wendung von der Transzendentalphilosophie zur konkreten Subjektivität repräsentativ sind, erschienen erst in den dreißiger Jahren oder wurden gar noch später herausgegeben. Das gilt etwa für Hartmanns »Problem des geistigen Seins« (1933) sowie für seine dreibändige »Ontologie« (1935—40). Hönigswalds »Philosophie und Sprache« erschien 1937, während wichtige Arbeiten erst heute aus seinem Nachlaß herausgegeben werden. Bei Heidegger gar sind fast alle die Schriften, in denen sich seine um etwa 1935 vollzogene sog. »Kehre« dokumentiert, erst nach dem letzten Kriege publiziert worden. All das kann nicht einfach aus rein chronologischen Erwägungen ausgeschlossen werden. Eine Begrenzung ergibt sich daraus, daß. nur solche späteren Werke Berücksichtigung finden sollen, deren Grundlagen unmittelbar in der Wende von der Transzendentalphilosophie zur Problematik der konkreten Subjektivität wurzeln. Ausgeschlossen sind alle die Werke der Philosophie der Gegenwart, die diese Wende bereits voraussetzen und auf ihrer Basis weiterarbeiten bzw. zu ihr Stellung nehmen. Das gilt etwa von den wichtigen Arbeiten zu unserem Thema, die wir Theodor Litt verdanken, die jedoch erst nach 1930 konzipiert worden sind. Das gilt nicht minder auch von neuesten Untersuchungen von W. Cramer und H. Wagner, die bereits versuchen, ein systematisches Fazit aus der Entwicklung der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Obwohl die folgende Arbeit einen relativ geschlossenen Themenkomplex behandelt, erhebt sie audi innerhalb ihres eigenen Feldes keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dies gilt sowohl für die mit dem Thema von Transzendentalphilosophie und konkreter Subjektivität zusammenhängenden Probleme als auch für die Auswahl der Denker, die wir unserer Untersuchung zugrunde gelegt haben. Als Auswahlgesichtspunkt war bestimmend, jeweils die Denker der Analyse zu unterziehen, die durch einen bedeutsamen eigenen Philosophieentwurf zu Trägern dieser Entwicklung geworden sind. Selbstverständlich bietet jede Auswahl Ansatzpunkte für eine mögliche Kritik. Doch muß einer Arbeit, die ihre Hauptaufgabe nicht in der geschichtlichen Zusammenschau, sondern in der Analyse des Gehalts und der Bestimmtheit philosophischer Systeme erblickt, erlaubt sein, dort anzusetzen, wo sich ihr die besten Handhaben bieten. Als Repräsentanten der kritizistischen Transzendentalphilosophie berücksichtigen wir Cohen, Cassirer und Natorp, für den wertphilosophischen Kritizismus steht in unserer Untersuchung allein H. Ridkert, der als der eigentliche Begründer der Südwestdeutschen Schule gelten darf und in seinen Werken die von uns thematisierte Problementwicklung zum Teil getragen, zum Teil kritisierend begleitet hat. Husserl vertritt die transzendentale Phänomenologie, die im übrigen auch zu seiner Zeit 76
fast ohne Nachfolge geblieben ist. Mit N . Hartmann, Hönigswald und Heidegger haben wir bereits die Grenze zur zweiten Phase unserer Problemen twicklung überschritten. Alle drei Denker repräsentieren charakteristische und jeweils für die Gegenwartsentwicklung tragende Möglichkeiten der Uberwindung des transzendentalphilosophischen Idealismus der Jahrhundertwende. Auf eine ausdrückliche Erörterung der Lebensphilosophie und des kritischen und phänomenologischen Realismus ist verzichtet worden, weil diese weniger durch umfassende Systeme als durch die Breite ihres allgemeinen Einflusses wirksam geworden sind. So dürfen in dieser Arbeit für den kritischen und phänomenologischen Realismus gewisse Momente in der Erkenntnistheorie Hönigswalds und Hartmanns stellvertretend stehen, während der Einfluß der Lebensphilosophie sich vor allem im Werke Heideggers widerspiegelt. Ganz Verzicht geleistet wurde auf die Erörterung der Existenzphilosophie von Karl Jaspers und des Neopositivismus, deren Entwicklung an und für sich in unseren Zeitraum fällt. Beide stehen jedoch so weit außerhalb des von uns thematisierten relativ geschlossenen Problembereiches, daß eine Analyse ihrer Entwicklung und ihrer Voraussetzungen späteren Arbeiten vorbehalten bleiben muß. Die vorliegende Untersuchung überschneidet sich zum Teil mit neueren Darstellungen der Entwicklung der Gegenwartsphilosophie, in denen die Schrittfolge vom Neukantianismus über die Phänomenologie zur Existentialontologie untersucht worden ist. Wie F. J. Brecht oder L. Landgrebe schließen auch wir die Reihe der behandelten Denker mit Heidegger. Aber während dieser dort an das Ende der Reihe tritt, weil in ihm eine konsequente Entwicklung an ihr vorläufig letztes Ziel gekommen sein soll, ergibt sich für uns diese Schlußstellung Heideggers aus wesentlich äußerlicheren Gründen. Wir setzen nicht voraus, daß es sich bei der Abfolge der Philosophieentwürfe, mit denen wir uns beschäftigen, um eine aufsteigende Entwicklung handelt, so daß der letzte der Reihe auch den »letzten Stand der Forschung« repräsentierte. Dergleichen gibt es in den Einzelwissenschaften, aber nur dort. Abgesehen davon handelt es sich bei unseren Denkern fast durchweg um Zeitgenossen, zwischen denen zum Teil innige Wechselbeziehungen bestanden haben. In gewissem Sinne mag es sich erweisen lassen, daß der Neukantianismus durch N . Hartmann oder Husserl durch Heidegger »überwunden« worden ist. Aber solche Uberwindungen beziehen sich doch zumeist nur auf eine ganz bestimmte Seite der überwundenen Philosophie, und zwar auf eine Seite, die nicht die für ihren Gehalt selbst entscheidende zu sein braucht. — Unsere Untersuchung geht von der Uberzeugung aus, daß diese in der Geschichte abgelösten Philosophien auch im Zeitalter der Existentialontologie ein Recht haben, in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt zu werden. Aber nicht um die Anerkennung der geistigen Originalität ihrer Schöpfer 77
geht es uns dabei, sondern um den Versuch, nachzuweisen, daß ihnen — gegenüber einer jeden einzelnen, sich universal setzenden Philosophie — ein sachliches Recht eignet. Hat die Existentialontologie die Realontologie, diese die Phänomenologie und diese wiederum die Geltungslogik überwunden? Oder steckt nicht in der Verschiedenheit der gleichzeitigen philosophischen Ansätze eine echte und legitime Vielheit philosophischer Aufgaben? So einfach freilich, die Vielheit der tatsächlichen Philosophien schon für einen Beweis ihrer legitimen Pluralität zu halten, dürfen wir es uns nidht machen, wenn wir nicht einem ästhetisch-geistesgeschichtlichen Relativismus das Wort reden wollen. Das Recht der Vielheit ist nicht durch den Hinweis auf eine Pluralität von »Standpunkten« zu erbringen, sondern erschließt sich nur eingehender Analyse. Denn nicht die Neuheit eines Ansatzes entscheidet letzten Endes über seinen philosophischen Wert, sondern der erst zu erbringende Beweis, daß er sich allen bestehenden gegenüber als ein notwendiger und unumgänglicher zu bewähren vermag. Wenn wir gleichwohl in unserer Untersuchung eine Reihenfolge einhalten, die in etwa der im gegenwärtigen philosophiehistorischen Bewußtsein kanonisierten Abfolge entspricht, so im wesentlichen aus Gründen der Chronologie und Bedürfnissen der Darstellung. Husserl hat, als er an die Ausarbeitung seines eigenen phänomenologischen Idealismus ging, den Kritizismus der Marburger und Südwestdeutschen Schule bereits fertig vorgefunden; sein Philosophieren ist daher, wenigstens von einem bestimmten Zeitpunkt an, von seinem Verständnis der kritizistischen Philosophie mitbestimmt, während zumindest die älteren Neukantianer durch die Phänomenologie kaum, allenfalls noch durch die »Logisdien Untersuchungen« Husserls motiviert worden sind. Entsprechend setzen Hönigswald oder Hartmann die Philosophie der frühen Neukantianer wie diejenige Husserls, oder setzt schließlich Heidegger die Phänomenologie Husserls und Schelers, aber auch die Anfänge der neuen Ontologie bei Lask und Hartmann voraus, ohne daß man deshalb ein Kontinuum zu konstruieren brauchte. Wenn also in unserer Darstellung Heidegger den Abschluß bildet, so deshalb, weil in seiner Philosophie als der zeitlich spätesten die Ansätze der meisten übrigen Denker systematisch oder polemisch eingeschmolzen sind. In all diesen Fällen die Abfolge willkürlich zu ändern, hätte bedeutet, die Darstellung mit unnötigen Schwierigkeiten zu belasten. Von vornherein Verzicht geleistet wurde auf den Versuch, die verschiedenen systematischen Ansätze zu einem philosophischen Ganzen zu vermitteln. Unsere Untersuchung ist zwar von der Uberzeugung getragen, daß in den von uns thematisierten Philosophien auch verschiedene systematische Probleme ausgearbeitet worden sind, deren wechselseitige Ergänzungsbedürftigkeit sie auch in sachlicher Beziehung einander zu78
ordnet. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, daß unser Ausschnitt immer nur ein zufälliger bleibt und niemals eine systematische Vollständigkeit zu garantieren vermag. Außerdem müßte ein jeder Versuch, die verschiedenen Ansätze in einem System aufzuheben, eingedenk sein, daß er als ein neuer Philosophieentwurf an die Seite, nicht aber an die Stelle der bereits vorliegenden Philosophien treten kann. Wir sehen unsere Aufgabe in systematischer Hinsicht bereits dann als erfüllt an, wenn es uns zu zeigen gelingt, daß die verschiedenen Ansätze nicht aufeinander reduziert werden können, weil sie je in eine eigentümliche und unaufhebbare Problemdimension der Erkenntnistheorie zurückfragen. Jede unserer Philosophien fragt in einen letzten Grund zurück. Wenn die Vielheit letzter Gründe legitim sein soll, so darf keiner von ihnen durch einen anderen ersetzbar sein. Darauf deutet auch hin, daß die wechselseitige Polemik, die zwischen den verschiedenen Philosophien unseres Zeitraums hin und her geht, zwar fast immer ein wirklich zu kritisierendes Moment an der gegnerischen Philosophie trifft, ohne diese jedoch in ihrer Ganzheit dadurch aufzuheben. Darum kann auch diese Polemik zu einer wichtigen Quelle für uns werden, wenn es darum geht, die eigentümliche Dimensionsbestimmtheit der einzelnen Ansätze zu eruieren. Den systematischen Absichten der folgenden Analysen entsprechend beschränken wir uns auf einige wenige Denker, die jeweils als repräsentativ für bestimmte philosophische Grundpositionen in der Philosophie der jüngsten Vergangenheit gelten dürfen. Da es sich dabei nicht um eine Philosophiehistorie eines bestimmten Zeitraumes handeln soll, kann auch die Entwicklung der einzelnen Denker nicht hauptthematisch behandelt werden. Die Entwicklungsgeschichte unserer Denker verläuft weitgehend parallel und in enger wechselseitiger Verflechtung. Für uns muß es sich darum handeln, den eigentümlichen Beitrag eines jeden Denkers zum Thema des Verhältnisses von Erkenntnistheorie und konkreter Subjektivität auf der Stufe seiner charakteristischsten Entfaltung herauszuarbeiten. Dies muß nicht immer das Endstadium sein. So treten etwa die Grundgedanken des Kritizismus viel schärfer in den ersten Veröffentlichungen der neukantianischen Denker hervor als in ihren Spätwerken, die in vielen Fällen den Einfluß neuerer philosophischer Bewegungen wie etwa der Ontologie widerspiegeln. Wenigstens gilt dies von den Gründern der neukantianischen Schulen, während ihre Schüler in vielen Fällen erst spät den Bann des Systems zu durchbrechen und eine eigene Problematik zu entfalten vermochten. D a der Neukantianismus für unsere Untersuchungen die Ausgangsposition darstellt, an der alle folgenden Schritte gemessen werden können, analysieren wir hier nicht nur einen Denker in monographischer Weise. Eine Zusammenschau der dem Kritizismus überhaupt eigentümlichen Grundgedanken ist für unsere Absichten zweckmäßiger als die Analyse eines einzelnen Denkers, weil sich die 79
folgende Entwicklung gegen den Neukantianismus oder doch den ursprünglichen Kritizismus überhaupt richtet und nicht gegen die Philosophie eines einzelnen Denkers. Der starke systematische Zusammenhalt der neukantianischen Schulen läßt den Versuch einer solchen Zusammenschau unbedenklich erscheinen. Die Analyse der jeweiligen persönlichen Leistung der einzelnen Neukantianer und die Untersuchung ihrer Entwicklungen, die durchaus interessante Beiträge zum Verständnis der Genese der Gegenwartsphilosophie zu liefern vermöchte, muß daher hier zurücktreten. In der Epoche der Philosophie von 1900 bis 1930 läßt sich der entscheidende Einschnitt zeitlich durch den ersten Weltkrieg markieren 58 . Wir gliedern daher die folgenden Analysen in zwei Gruppen. Zur ersten Gruppe derjenigen Denker, die mit ihren systematischen Grundgedanken bereits vor dem ersten Weltkrieg hervorgetreten sind, rechnen wir neben den Neukantianern auchHusserl! Die zweite Gruppe wird durch Hönigswald, Hartmann und Heidegger gebildet. Das hat den Vorteil, daß wir die drei zuletzt genannten Denker zusammen erörtern können, die die Problematik der konkreten Subjektivität zu der Entfaltung gebracht haben, die auch noch das Denken der Gegenwart bestimmt. Gerade für sie stellt eine solche Konfrontation ein besonderes Desiderat dar. Einmal berühren sich ihre Gedanken, mit denen sie alle drei fast gleichzeitig hervorgetreten sind, thematisch auf das engste. Zum anderen aber haben zwischen ihren Gedanken kaum mehr' als gelegentliche polemische Berührungen stattgefunden, so daß erst eine nachfolgende Reflexion ihr objektives Verhältnis zueinander zu bestimmen vermag. In den Analysen der Theoreme dieser Denker wird daher unsere Arbeit kulminieren, denn sie vertreten drei Möglichkeiten des Philosophierens, die auch noch in der Gegenwart unmittelbare Nachfolge finden, während unser geschichtliches Verhältnis zu den frühen Neukantianern und zu Husserl durch sie bereits vermittelt ist.
I. D E R K R I T I Z I S M U S
Der Kritizismus der neukantianischen Schulen steht uns heute bereits so fern, daß es schwer fällt, ihm eine grundsätzliche und nicht nur historische Bedeutung zuzuerkennen. Daß es ihm gelungen ist, entgegen dem Drucke weitverbreiteter antiphilosophischer Ressentiments und in einer Zeit positivistischer und empiristischer Beschränkung und Verflachung des philosophischen Niveaus der Philosophie ein Eigenrecht gegenüber 58
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Zwar datieren die für die Begründung des Neukantianismus entscheidenden Werke bereits aus den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Aber erst um 1900 ist das neukantianische System voll ausgebildet und auf dem Höhepunkt seiner philosophiegeschichtlidien Wirksamkeit.
den positiven Wissenschaften zu sichern und zugleich — obzwar in einer stark reduzierten Form — an die großen Traditionen der Philosophie wieder anzuknüpfen und das Bewußtsein für ihre Probleme zu erwecken, wird von Einsichtigen auch heute nicht bestritten. Anders steht es hingegen mit dem Anspruch auf prinzipielle und d. h. immer auch aktuelle Bedeutung. Die nachfolgende Philosophie ist in mannigfachen Richtungen über den Kritizismus hinausgeschritten und hat einen jeden ihrer Fortschritte stets auch gerade durch den Abstand vom Kritizismus zu legitimieren versucht. Das Selbstverständnis der deutschen Philosophie des beginnenden 20. Jahrhunderts ist überall zugleich ein Verständnis des neuen Philosophierens als einer Form des Antikritizismus. Von verschiedenen Seiten aus werden Einseitigkeiten der kritizistischen Philosophie als solche entlarvt und überwunden, so daß es für einen rückblickenden Betrachter so aussehen muß, als habe die kritizistische Philosophie nur aus einer Summe solcher Einseitigkeiten bestanden. Ihre Beschränkung oder doch Zentrierung auf Erkenntnistheorie, durch die diese wenn nicht als einzige Form wissenschaftlicher Philosophie überhaupt, so doch als philophische Grundlehre einen Primat behauptet, die vermeintliche Identifikation von Erkenntnis überhaupt und wissenschaftlicher Erkenntnis, die auch für den Begriff der Philosophie selbst bestimmend ist, die Definition der Erkenntnis durch Denken und Urteil, durch die die Erkentnisbedeutung der Anschauung bestritten oder dodi unziemlich eingeschränkt wird, sind nur einige Beispiele dafür. Entscheidender aber als die Kritik solcher Einseitigkeiten, die das Verhältnis des nachkritizistischen Philosophierens zum Kritizismus doch immer noch als ein Ergänzungsverhältnis begreifen lassen, ist die Tatsache, daß die Kritik sich ihrer Intention nach gegen die gesamten Grundlagen des kritizistischen Philosophieansatzes richtet. Erst dies gibt der Kritik ihre Schärfe und hat in der Folge dazu geführt, daß die gesamte Philosophie der Neukantianer, die noch vor 50 Jahren das philosophische Leben Deutschlands beherrschte, im gegenwärtigen philosophischen Bewußtsein so gut wie ausgelöscht worden ist. Wie steht es unter diesen Umständen mit der Vermutung, daß dem Kritizismus aller globalen Verdikte zum Trotz ein unaufgebbares und selbständiges philosophisches Motiv immanent gewesen sei? Dem Nachweis eines solchen Motivs sollen die folgenden Analysen dienen. 1. Die
Geltungslogik
Daß der Kritizismus primär »Erkenntnistheorie« gewesen ist, genügt in keiner Weise zu seiner Charakterisierung. Die Bornierung der Philosophie auf Erkenntnistheorie teilt er mit anderen zeitgenössischen philosophischen Strömungen wie etwa dem Positivismus. Auch mit der spezi81 6
Brelage
fisch »wissenschaftstheoretischen« Orientierung steht er am Ausgang des Jahrhunderts der positiven Wissenschaften durchaus nicht allein. Erst die Art und Weise, wie der Kritizismus die Aufgabe der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie begreift, sichert ihm seine Sonderstellung. Dabei ist die Orientierung der kritizistischen Theorie der Erkenntnis an der wissenschaftlichen Erkenntnis durch einen spezifischen Erkenntnisbegriff bedingt, im Hinblick auf welchen der wissenschaftlichen Erkenntnis von vornherein eine ausgezeichnete Stellung zukommt. Daß sich die kritizistische Erkenntnistheorie als Wissenschaftstheorie entfaltet, ist daher kein dem bloßen Zeitgeist zuzuschreibendes Faktum, sondern findet seine Begründung darin, daß die Erkenntnis der Wissenschaften dem spezifisch kritizistischen Begriff der Erkenntnis in besonderer Weise zu genügen vermag. Der oft wiederholte Vorwurf, der Kritizismus habe das ,Faktum der Wissenschaft' unbesehen vorausgesetzt und ebenso unbesehen die wissenschaftliche Erkenntnis mit der Erkenntnis überhaupt identifiziert, trifft — jedenfalls in dieser verallgemeinernden Form — nicht zu. Was den ersten Teil des Vorwurfs betrifft, so ist das .Faktum der Wissenschaft' von der kritizistischen Erkenntnistheorie vorausgesetzt nur als ein Problem, d. h. als etwas, für das der Grund gerade erst noch zu suchen ist, wobei die Richtung dieser Begründung, wie wir noch sehen werden, allerdings nicht auf das geistesgeschichtliche (oder .metaphysische') Faktum des Auftretens der positiven Wissenschaft in der abendländischen Neuzeit zielt. Nur hinsichtlich dieses Problems läßt sich der Vorwurf aufrechterhalten, daß der Kritizismus das Faktum der Wissenschaft (als geschichtliche Tatsache oder ,Ereignis') unbesehen, d. h. unbegründet vorausgesetzt habe. Vor jeder weiteren Fassung des Vorwurfs, der dem Kritizismus einen Mangel an Radikalität auch innerhalb seiner eigenen Problemdimension glaubt vindizieren zu müssen, hätte allein schon die Kenntnis des allgemeinen kritizistischen Grundsatzes bewahren müssen, daß jedes ,Faktum' für die Erkenntnis — und also auch das Faktum der Wissenschaft für die Erkenntnistheorie — zunächst nur als Unbegriffenes und Unbegründetes, daher zu Begreifendes und Begründungsbedürftiges, kurz als,Problem', in den Ansatz zu bringen ist. Anders steht es zwar mit dem zweiten Teil des Vorwurfs, der das Verhältnis von Erkenntnis überhaupt und wissenschaftlicher Erkenntnis betrifft. Hier können vor dem Eintritt in die Analyse nur einige Hinweise gegeben werden. Erstens geht die Intention der kritizistischen Erkenntnistheorie erklärtermaßen auf eine Grundlegung, die die Bedingungen der Gültigkeit jeder Erkenntnis entfalten soll. Und in der Tat ist das, was er an fundamentalen Erkenntnisvoraussetzungen eruiert hat, nicht ohne weiteres als eine spezielle Prinzipienschicht des spezifisch einzelwissenschaftlichen Denkens zu deklarieren. Hier hätte erst eine Kritik, die sich wirklich auf diese Problemssphäre einläßt, zu zeigen, in wel82
chem Maße sich der Kritizismus auch in diesem Felde von der Orientierung an der spezifisch wissenschaftlichen Erkenntnis oder gar der Erkenntnis einer bestimmten Wissenschaft zu verstoßen hat führen lassen, die die beanspruchte Universalität seiner Ergebnisse in Frage stellen. Darüber hinaus hat der Kritizismus — wenigstens in der Gestalt, die er bei Rickert erfahren hat — selbst ausdrücklich die Unterscheidung von fundamentalen Erkenntnisgrundlagen und solchen, die die spezifisch wissenschaftliche Erkenntnis begründen, durchzuführen. — Die Kritik am Kritizismus betrifft jedoch zumeist gar nicht diesen Punkt, der ein Eingehen auf die hier vorliegende Problematik vorausgesetzt hätte, sondern bezieht ihre Motivation aus dem allgemeinen Umschwung des Verhältnisses des philosophischen Geistes zu den Wissenschaften, der zu der auf breiter Front nach dem ersten Weltkrieg einsetzenden Wissenschaftskritik geführt hat. In ihr wird die Wissenschaft und (mit ihr die Technik) zum bevorzugten Gegenstand eines Protestes, mit dem die sich in ihrer Eigentlichkeit bedroht-fühlende Subjektivität sich gegen die Versachlichung des modernen Lebens wendet. Aus welchen Gründen dieser Protest gerade in diesem Zeitpunkt und vor allem in Deutschland eine solche Intensität und Wirksamkeit erreicht, muß hier unbefragt bleiben. Da er jedoch auch nach dem letzten Kriege mit vermehrter Stärke aufgenommen worden ist und noch heute weithin die Szene beherrscht, bedarf es besonderer Anstrengungen, das Verständnis für das sachliche Recht des kritizistischen Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriffs wieder zu erwecken. Hier sei nur auf zwei Argumente hingewiesen, die es ausschließen, die kritizistische Bevorzugung der wissenschaftlichen Erkenntnis als Analysandum der Erkenntnistheorie einfach als Folge eines noch ungebrochenen Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus zu verstehen und damit als sachlich unbegründet abzuschreiben: Erstens muß es einer Erkenntnistheorie freistehen, an welchem Konkretum sie ihre Analyse ansetzt, wenn es ihr nur gelingt, sich im Zuge der Analyse von dieser Bedingung zu befreien und eine universale Theorie der Erkenntnis aufzubauen. In dieser Hinsicht steht es um die Bevorzugung der Dingwahrnehmung, wie sie etwa für die Phänomenologie in ihrer prä-hermeneutischen Form charakteristisch ist, nicht besser und nicht schlechter. Fraglos ist in beiden Fällen die Wahl der konkreten Erkenntnis, an der die Theorie der Erkenntnis ansetzt, bereits von einem allgemeinen Begriff der Erkenntnis überhaupt beziehungsweise der Erkenntnis im Vollsinne geleitet. Gleichwohl sind die Chancen, von beiden Ansätzen aus zu einer universalen Erkenntnistheorie vorzustoßen, nicht gleich. Das beweisen die Schwierigkeiten, die etwa der intuitionistischen Erkenntnistheorie der Phänomenologie begegnen, wenn sie versucht, hochkomplexen Formen wissenschaftlicher oder philosophischer Erkenntnis zu genügen. Es ist bekannt, wie diese Schwierigkeiten zumindest bei
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Husserl zu einer immer stärkeren Berücksichtigung konspektiver und diskursiver Momente in seiner Theorie der Wesensschau geführt haben. Umgekehrt ist es leichter, von einer Analyse hochstufiger wissenschaftlicher Begriffsbildung zu fundamentalen Erkenntnisprinzipien durchzudringen, aber auch die Eigenart andersgearteter Erkenntnisweisen in ihrem Recht zu erweisen, da und soweit wir bei der Analyse auf sie als Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis geführt werden. Jedenfalls muß eine Erkenntnistheorie in der Lage sein, auch der wissenschaftlichen Erkenntnis gerecht zu werden, wenn sie wirklich das Gewissen und nicht nur das schlechte Gewissen der Wissenschaften sein will. Neben diese Argumente, die für das relative Recht einer methodisch an der Wissenschaft orientierten Erkenntnistheorie sprechen, läßt sich zweitens ein tiefer gelegener Grund für die Bevorzugung der wissenschaftlichen Erkenntnis anführen. Gerade eine Erkenntnistheorie, die das Problem der Geltung der Erkenntnis ernst nimmt, muß der wissenschaftlichen Erkenntnis eine ausgezeichnete Stellung einräumen; denn Geltung der Erkenntnis besagt einerseits Unabhängigkeit der Geltung von der Tatsache des Vollzugs, andererseits daß in ihr der Gegenstand so bestimmt wird, wie er als Glied der einen, universalen Welt ist. Darin aber besteht der Vorzug der wissenschaftlichen Erkenntnis, daß sie ihrer Intention nach ihre Gegenstände in einem einigen, universalen Horizont bestimmt, während der Horizont der Wahrnehmung, aber auch des vorgeisteswissenschaftlichen Verstehens stets ein eingeschränkter, partikulärer ist. Hier liegt das tiefere Motiv dafür verborgen, daß eine Erkenntnistheorie, die wie die kritizistische mit dem Problem der Geltung ringt, eine begründete Affinität zur wissenschaftlichen Erkenntnis besitzen muß. Der Freilegung der Dimension dieses Geltungsproblems wenden wir uns nunmehr zu. Erkenntnistheorie kann sich in den verschiedensten Dimensionen entfalten: als Psychologie oder Ontologie des Erkennens, als Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse und Erkenntnisgegenständlichkeiten, als Metaphysik der Erkenntnis u.s.f. Von all diesen Weisen, die Erkenntnis zum Problem zu machen, weiß sich der Kritizismus unterschieden. Sein ausdrücklich formuliertes Thema sind die Prinzipien, die die »Gültigkeit« der Erkenntnis verbürgen, sein Ziel ist eine Bestimmung des Rechts und der Grenzeil der Erkenntnis aufgrund einer Analyse dieser Prinzipien. Insofern ist die kritizistische Erkenntnistheorie eine Erkenntniskritik. Nicht Erkenntnistheorie schlechthin, sondern Erkenntniskritik, die die quaestio juris an die Erkenntnis stellt, soll das Fundament jeder wissenschaftlichen Philosophie sein59. 08
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Vgl. H . Cohens Abwehr des Terminus »Erkenntnistheorie« zugunsten der »Erkenntniskritik« in: »Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte«, 1883, weil die Erkenntnistheorie mit dem Verdacht der Erkenntnispsydiologie
Erst in der Vorrangstellung des Geltungsmotivs konstituiert sich der Kritizismus und grenzt er sich von jeder anderen Erkenntnistheorie ab. Die philosophische Tradition kennt drei typische Antworten auf die Frage nach derjenigen Instanz, die die Gültigkeit menschlicher Erkenntnis verbürgt. Einmal kann das Seiende selbst, als reales oder ideales, als dasjenige angesehen werden, was die Gültigkeit unserer Erkenntnis garantiert. Zweitens kann ein jenseits des Seienden liegendes metaphysisches Prinzip den letzten Grund der Gewißheit menschlicher Erkenntnis bilden, und drittens kann das Subjekt in sich selbst die Gründe für die Gültigkeit seiner Erkenntnis zu entdecken suchen. Erst der dritte Typus stellt die spezifisch neuzeitliche Theorie der Erkenntnistheorie dar. Er bildet jedoch nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die mannigfaltigen Abwandlungen dieses Grundgedankens halten. Ob das Subjekt, das den Grund der Gültigkeit der Erkenntnis bilden soll, als reales oder ideales, als individuelles oder überindividuelles, als mundanes oder extramundanes, als vorhandenes oder daseiendes oder schließlich überhaupt als seiendes oder aber als geltendes gedacht wird, das macht fundamentale Unterschiede innerhalb der neuzeitlichen Philosophie aus. Daher hat sich das Subjektsproblem in der Philosophie der Neuzeit — bis hin zu dem Versuch Heideggers, es fundamental-ontologisch oder seinsgeschichtlich zu desavouieren — als das Zentralproblem der Erkenntnistheorie schlechthin erwiesen. Für den Kritizismus ist, wie noch zu zeigen sein wird, gerade der Gegensatz von Sein und Geltung charakteristisch. Worin besteht er und läßt er sich so durchführen, daß er gegen eine jede »ontologistische« Aufhebung gefeit ist? Läßt sich der Gegensatz von Sein und Geltung als ein letzter erweisen? Eine jede Erkenntnistheorie ist in gewisser Weise ein Bedenken des Denkens; aber nicht jede Reflexion auf die Erkenntnis führt auf das Denken selbst als den letzten Grund der Erkenntnis hinaus. Der Kritizismus spricht das Prinzip der Autonomie des Denkens in aller Entschiedenheit aus: »Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst.« »Wir haben unbezwinglichen Verdacht gegen eine Wahrheit, die auf anderen Gerechtsamen beruht als auf denen der erkennenden Vernunft.«60 Daß sidi im Bedenken des Denkens das Denken selbst als Grund der Gültigkeit alles Gedachten enthüllt, macht den Nerv des philosophischen Kritizismus aus und begründet die kritizistische Erkenntniskritik als (transzendentale) »Logik«; wie der Kritizismus das Denken (die Vernunft, den Logos o.a.), das den Grund aller
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behaftet ist. — Bereits Kant hatte »Psychologie« und »Kritik der Erkenntnis« gegenübergestellt. Im übrigen soll das Sonderproblem des kritizistischen KantVerständnisses in unserer Arbeit nicht berührt werden. H.Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 2. Aufl., S. 13; und: Ethik des reinen Willens, l.Aufl. 1907, S. 18.
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theoretischen Gültigkeit abgibt, begreift, unterscheidet ihn von der spekulativen Logik des absoluten Idealismus. Zunächst ist es jedoch keine Frage, daß der Kritizismus mit seiner These der Autonomie der erkennenden Vernunft in die Nachbarschaft des deutschen Idealismus rückt, gleichgültig, ob er selbst um diese Nähe weiß und sie wahrhaben will oder nicht. Er selbst sieht zunächst im deutschen Idealismus vor allem nur die spekulative Vergewaltigung der einzelwissenschaftlichen Erfahrung, also das, was das gesamte 19. Jahrhundert als den Grund für den legitimen Zusammenbrach des deutschen Idealismus betrachtete. Ihm gegenüber weiß er sich durch den Respekt vor der Autonomie und Unableitbarkeit der positiven wissenschaftlichen Erkenntnis gesichert. Wo jedoch der Kritizismus auf seine eigene Erkenntnis und nicht nur die der Einzelwissenschaften reflektiert, wird die latente Berührung mit dem spekulativen Idealismus (Hegel) offenkundig und die Abgrenzung von ihm zu einem vitalen Interesse des Kritizismus. Diese Abgrenzung vollzieht sich im Namen Kants, aber doch in einer Weise, die erst einem nachkantischen und nachidealistischen Denken nahegelegt sein konnte, nämlich durch den Versuch einer strengen und durchgängigen Unterscheidung von Geltung und Sein, die es dem Kritizismus verwehrt, von einem Absoluten, sei es ein absolutes Subjekt oder absolutes Objekt oder die Identität von Subjekt und Objekt, auszugehen. In jedem Falle handelte es sich um den Ausgang von einem Gegebenen, um ein Sein, das sich von vornherein der Forderung einer Rechtfertigung entzöge. Die eigentliche Sorge des Kritizismus gilt aber zunächst nicht der Abgrenzung vom spekulativen Idealismus. Zwischen dem deutschen Idealismus und dem Neukantianismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts liegt die anthropologische, und das heißt hier vor allem noch empirisch-psychologische Wendung der Philosophie, aus der recht eigentlich das Problem einer philosophischen »Erkenntnistheorie« entsprungen ist. Weder bei Kant noch auch im spekulativen Idealismus, sondern erst etwa von Schopenhauer ab gibt es das spezifische Problem der »Erkenntnistheorie«. Der bedeutende Einfluß Schopenhauers um die Mitte des Jahrhunderts, die das 19. Jahrhundert beherrschende mechanistische Psychologie Herbarts und die neu aufkommende Psycho-Physiologie der Sinneswahrnehmungen bilden den geschichtlichen Hintergrund dieser Erkenntnistheorie 01 , deren Grundproblem das der Transzendenz der Erkenntnis bzw. der Gegensatz von psychologischer Immanenz und transzendenter »Außenwelt« ist. Auch die kritizistische Erkenntniskritik setzt diesen 61
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Vgl. etwa den Vortrag von H. Helmholtz »Das Sehen des Menschen«, 1855, in dem dieser im Gegensatz zur spekulativen Naturphilosophie eine Kritik der E r kenntnisquellen und Maßstäbe gefordert hat. In diesem Sinne weist er auf Kant hin. Vgl. A. Riehl, Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant, in: Kantstudien I X , 1904, S. 261 ff. Besonders Riehl steht dieser Erkenntnistheorie noch nahe.
Gegensatz voraus, und zwar so, daß sie ihn zugleich zu überwinden trachtet. Damit sind die beiden Hauptstoßrichtungen der neukantianischen Erkenntniskritik angedeutet: Sie richtet sich einmal gegen einen »metaphysischen« Erkenntnisansatz, der die Erkenntnis als Relation zwischen real wirklichen psychischen Subjekten oder psychophysischen transzendenten, ansichseienden Gegenständen zu begreifen sucht, und vertritt ihm gegenüber die ursprüngliche Korrelativität von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand; und sie richtet sich zum anderen gegen eine psychologisch-physiologische Interpretation des Erkenntnisverhältnisses, die die objektive Gültigkeit der Erkenntnis antastet. Metaphysische und psychologische Erkenntnistheorien und ihre agnostizistischen und relativistischen Konsequenzen sind es, gegen die der Kritizismus zu Felde zieht. Dieser Gegensatz, in dem er sich konstituiert und seine geschichtliche Urstiftung vollzogen hat, prägt auch noch sein Verständnis der späteren erkenntnistheoretischen Philosopheme, in denen er nur psychologistische oder aber metaphysizistische Abirrungen von der Idee der Erkenntniskritik zu erblicken vermag. Beiden erkenntnistheoretischen Abirrungen vom Zentralproblem der Erkenntnisbegründung sucht der Kritizismus durch den Ausgang vom »Faktum« der wissenschaftlichen Erkenntnis zu begegnen. Die Erkenntnis, mit der es die Erkenntniskritik zu tun hat, ist die Erkenntnis der Wissenschaften (im Falle der Marburger Schule vor allem die der exakten Wissenschaften), wie sie »in gedruckten Büchern vorliegt« (Cohen) und sich der Analyse darbietet. Terminus a quo der Erkenntniskritik ist die konkrete wissenschaftliche Erkenntnis, ihr Terminus ad quem sind die Voraussetzungen, auf denen die Gültigkeit dieser wie jeder wissenschaftlichen Erkenntnis beruht. Die Bewegung vom »Faktum« der Wissenschaft zu den Bedingungen seiner Möglichkeit macht das Eigentümliche der transzendentalen Methode aus. Die transzendentale Methode ist der Ausdruck für das korrelative Verhältnis von positiver Wissenschaft und Erkenntniskritik, in dem die Philosophie die Autonomie der positiven Wissenschaften begründet und sich zugleich damit selbst als »wissenschaftliche Philosophie« konstituiert 62 . Diese Selbstkonstitution der wissenschaftlichen Philosophie als Erkenntniskritik der positiven Erkenntnis spiegelt geistesgeschichtlich die Situation des 19. Jahrhunderts wider, in dem zum ersten Mal positive wissenschaftliche Erkenntnis sich als solche aus ihrem Gegensatz zur Philosophie begreift. In der These der Korrelativität von positiver Wissenschaft und wissenschaftlicher Philosophie kommt sowohl der antispekulative Zug zum Ausdruck, den der Neukantianismus mit dem zeitgenössischen Positivismus teilt, als auch seine Unterschiedenheit vom Positivismus, der an die Ablösbarkeit der Philosophie überhaupt durch positive Erkenntnis glaubt. Der Gedanke e2
Vgl. A.Riehl, Uber wissenschaftliche und - nicht wissenschaftliche Philosophie, 1883.
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der unaufhebbaren Unterschiedenheit und Wechselbezogenheit von Philosophie und Wissenschaft stellt ein Novum dar. Es ist verständlich, daß eine Philosophie, die in dieser Weise autonome Wissenschaften außerhalb der Philosophie anerkennt, ein anderes Selbstverständnis entwickeln muß als eine Philosophie, für die es keine wissenschaftliche Einsicht außerhalb ihrer selbst gibt. Die Bindung der Erkenntniskritik an das Faktum der wissenschaftlichen Erkenntnis wehrt sowohl das psychologistische als auch das metaphysische Mißverständnis der Aufgabe der »kritischen« Philosophie ab. Sie hat es nicht mit den Bedingungen des Erkennens, sondern mit den Voraussetzungen der Erkenntnis zu tun. Nicht auf den erkennenden Geist, sondern auf den Inhalt der Erkenntnis richtet sich die Erkenntniskritik; »nicht auf den Vorgang und Apparat des Erkennens, sondern auf das Ergebnis derselben, die Wissenschaft«.63 Nicht die physio-psychische Organisation der Menschen ist ihr Gegenstand, »sondern das erkennende Bewußtsein hat nur in der Tatsache der wissenschaftlichen Erkenntnis diejenige Wirklichkeit, auf welche eine philosophische Untersuchung sich beziehen kann. . . . Daher ist solche Untersuchung, die das Bewußtsein nicht in den persönlichen Individuen anspricht, sondern in der objektiven Wissenschaft: kritischer Idealismus, oder sie heißt transzendental, oder erkenntniskritisch«.64 Die Bedingungen, auf denen die Möglichkeit alles Seinsdenkens beruht, können selbst kein Seiendes sein, sondern nur »Prinzipien«, »Ideen«, geltende transzendente »Werte«, die darin aufgehen, gültiges Denken von Seiendem zu ermöglichen. Das »reine Denken« als Grund der Gültigkeit alles Seinsdenkens kann daher nicht selbst ein psychologisch-anthropologisches oder auch metaphysisches Seiendes sein. Darin ist die Philosophie als das Denken des »reinen Denkens«, der »Ideen« oder »Werte« von allem empirischen oder metaphysischen Seinsdenken radikal unterschieden. Neben dieser Abwehr eines »Ontologismus in der philosophischen Grundlehre«, wie wir mit R. Zocher sagen können05, die sowohl die psychologistisch-anthropologische als auch die metaphysische Erkenntnisbegründung betrifft, läuft eine andere Kritik der Psychologie und Biologie in der Erkenntnistheorie. Die Geltungsvoraussetzungen liegen auch noch der psychologischen oder biologischen Erkenntnis zugrunde, sofern diese auf wissenschaftliche Gültigkeit Anspruch macht. Es geht daher nicht an, die Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis psychologisch oder biologisch begründen zu wollen. Sie erschließen sich als spezifisch »logische« Voraussetzungen nur der Methode der Erkenntniskritik, die sich als (transzendentale) Logik 63
H . Cohen, Infinitesimalmethode, S. 5 und S. 10.
1,4
A.a.O., S. 133.
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Vgl. »Die philosophische Grundlehre«, 1939.
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von der Psychologie wie von jeder sonstigen Einzelwissenschaft unterschieden und unabhängig weiß. Die kritizistische Polemik gegen die psychologistische und biologistische Erkenntnistheorie vollzieht sich in der Form des Nachweises, daß diese Theorien mit ihrem Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit die Geltung der logischen Prinzipien voraussetzen müssen, welche sie innerhalb ihrer Theorie psychologistisch oder biologistisch zu relativieren versuchen. Bei den logischen Grundlagen der Erkenntnis handelt es sich also nicht um Tatsachen, sondern um Geltungsvoraussetzungen, die sich jeder einzelwissenschaftlichen Erklärung oder Begründung entziehen. Daraus ergibt sich andererseits die einzigartige Struktur der Geltungslogik als Wissenschaft. Insofern sie die Prinzipien erforscht, auf denen die Gültigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnis beruht, erweist sie zugleich die letzten Geltungsvoraussetzungen auch ihrer eigenen Urteile. Nur die Philosophie als Erkenntniskritik vermag Letztbegründung zu leisten, weil nur sie auf die letzten nicht weiter ableitbaren oder erklärbaren Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis zurückgeht. Und sie allein vermag sich damit auch selbst in ihrer wissenschaftlichen Geltung zu begründen, d. h. die Gründe anzugeben, auf denen ihr eigener Anspruch auf Gültigkeit beruht. Neben der Kritik der Ontologisierung der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zu einem empirischen oder metaphysischen Seienden und der Widerlegung des Relativismus steht die Abwehr desjenigen Mißverständnisses, das den kritischen Idealismus selbst als Metaphysik zu desavouieren sucht. Erst in der Kritik dieser Verdächtigung des kritischen Idealismus, die ihn als metaphysischen »Subjektivismus« entlarven will, kann sein rein geltungslogischer Sinn gesichert werden. Hatte es sich bisher darum gehandelt, daß die Bedingungen, auf denen die Gültigkeit allen Seinsdenkens beruht, nicht selbst als ein Seiendes gedacht werden dürfen, so geht es nun nicht um den Zielpunkt, sondern um den Ausgangspunkt der geltungslogischen Reflexion. Ebensowenig wie es die Erkenntniskritik mit den psychologischen oder biologischen Grundlagen des Erkennens zu tun hat, ebensowenig hat sie es mit dem Dasein der Dinge zu tun. Wie der Kritizismus in der Abwehr aller subjektivistischen und relativistischen Erkenntnistheorien auf das Faktum der Wissenschaft und seine Voraussetzungen verweist, so dient ihm andererseits auch der Hinweis auf die Wissenschaft zur Abwehr aller metaphysischen Mißverständnisse, die sich an die Aufgabenstellung der Erkenntnistheorie heften können. Nicht Dinge, sondern die Gültigkeit der Erkenntnis von Dingen ist das Thema der kritischen Erkenntnistheorie. H. Cohen versucht die spezifische Einstellung der »transzendentalen« Fragestellung einmal durch ein platonisches Beispiel zu kennzeichnen: »Nicht die Sterne am Himmel sind die Objekte, die jene Methode betrachten lehrt, um sie zur Erkenntnis zu bringen; sondern die astronomischen Rechnungen, jene 89
Fakten wissenschaftlicher Realität sind gleichsam das Wirkliche, das zu erklären steht, auf welches daher der transzendentale Blick eingestellt wird. Worauf beruht jene Realität, welche in solchen Fakten gegeben ist? Welches sind die Bedingungen jener Gewißheit, von welcher das sichtbar Wirkliche seine Realität entlehnt? Jene Fakten von Gesetzen sind die Objekte; nicht die Sternendinge.«86 Nicht auf transzendentes Seiendes, sondern auf die Erkenntnis von Seiendem und die Bedingungen ihrer Gültigkeit richtet sich die philosophische Erkenntniswissenschaft. Seiendes wird daher in der kritizistischen Geltungslogik nur thematisch im modus obliquus, d. h. als gedachtes, erkanntes, gewußtes Seiendes; Seiendes ist für den Standpunkt der Reflexion nur das als seiend prädizierte (Rickert). Andererseits aber weiß die transzendentale Logik sich dadurch von der formalen unterschieden, daß sie auf die Prinzipien der Gültigkeit des Bedenkens von Seiendem abzielt. Sie sieht nicht von aller Bezogenheit der Erkenntnis auf einen Gegenstand ab, sondern fragt gerade nach der Möglichkeit der Beziehung der Erkenntnis auf einen Gegenstand. Insofern ist sie »Logik des Seins«, d. h. des Seinsdenkens67. Von hier aus erst läßt sich der Sinn des kritischen Idealismus, den die kritizistische Transzendentalphilosophie lehrt, begreifen. Er behauptet die »Drehung der Gegenstände um die Begriffe«.68 Das soll der Sinn der »kopernikanischen Wende« sein. Gegenstände sind uns gegeben nur in der Erkenntnis. All unsere Erkenntnis vom Sein der Gegenstände hängt ab von den Prinzipien, auf denen die Gültigkeit unserer Erkenntnis vom Seienden beruht. Das ist der Nerv des gesamten kritizistischen Argumentationsverfahrens. Thema der Geltungslogik sind die Prinzipien, deren Geltung vorausgesetzt ist, wenn irgendeine Feststellung über Seiendes getroffen werden soll. »Ihr Problem sind nur die Werte, die gelten müssen, wenn Antworten auf Fragen, was ist, überhaupt einen Sinn haben sollen«; sie »handelt von dem, was begrifflich allen Wissenschaften, ja ihrem als seiend und wirklich angenommenen Material vorausgeht. Sie handelt, wie man auch sagen kann, von dem a priori der Wissenschaften«68. Weil all unser Wissen von Seiendem als Wissen auf den Voraussetzungen beruht, von denen die Gültigkeit dieses Wissens abhängt, darum können diese Voraussetzungen selbst nicht von irgendeiner Erkenntnis von Dingen abhängen. Keine Form ontischer oder ontologischer Erkenntnis vermag die Geltung der Prinzipien aller Erkenntnis zu begründen. Mit dieser These macht sich der Kritizismus 68
Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl. 1910, S. 27 f.; vgl. E. Cassirer, Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 662: »Nidit die Dinge, sondern die Urteile über die Dinge bilden ihren Vorwurf.«
67
Vgl. N . Hartmann, Piatos Logik des Seins, 1909.
68
H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 3. Aufl. S. 676.
69
H . Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, in: Kantstudien X I V , 1909, S. 208.
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frei von allen Voraussetzungen, in denen ein Sein impliziert ist. Die Gültigkeit der Erkenntnis kann nicht durch Seinserkenntnis begründet "werden, denn alle Berufung auf Seiendes setzt die Gültigkeit dieser Seinserkenntnis und damit die Gesetze des Denkens, auf denen diese Gültigkeit beruht, voraus. Nur in diesem Sinne sind die Sätze H. Cohens zu verstehen: »daß die Welt der Dinge auf dem Grunde der Gesetze des Denkens beruht; daß die Dinge nicht schlechthin als solche gegeben sind, wie sie auf unsere Sinne einzudringen scheinen; daß es vielmehr die Grundgestalten unseres denkenden Bewußtseins sind, mit denen wir die sogenannten Dinge in und aus letzten angeblichen Stoffteilchen zusammensetzen, und die Normen, mit denen wir die Gesetze und Zusammenhänge jener entwerfen und als Gegenstände wissenschaftlicher Erfahrung beglaubigen. Das ist das Bestimmende der Idee im Idealismus: keine Dinge anders als in und aus Gedanken. Aber daraus entsteht der Schein des Subjektivismus: daß die Dinge nur Ideen, nicht außerhalb der menschlichen Gehirne in selbsteigener Gegebenheit ihres Daseins mächtig wären«70. Da die Geltungslogik keine »Gegebenheit« der Dinge unabhängig vom Denken und seinen Prinzipien voraussetzen darf, weil sonst eine radikale Aufklärung der Möglichkeit des Denkens von Dingen schon im Ansatz vereitelt wäre, muß sie jede ontologische oder realistische These in der Erkenntnistheorie abweisen. Nur wenn wir in der Erkenntniskritik nicht von der Gegebenheit von Seiendem ausgehen, können wir die Gründe erforschen, auf denen alle Rede von gegebenem Seienden beruht. Die Aufhebung alles Seienden in ein als seiend Beurteiltes gilt nur für den Standpunkt der Erkenntnistheorie, die nur so den natürlichen Dogmatismus des Alltags und der positiven Wissenschaften zu begründen vermag. Die vom Kritizismus behauptete Priorität des Denkens vor dem Sein, wie es sich etwa in dem Satze H. Cohens ausspricht: »Das Sein ruht nicht in sich selbst; sondern das Denken erst läßt es entstehen«71, hat also trotz der material-idealistischen Ausdrucksweise vor allem formal-idealistische Bedeutung72. Die Abhängigkeit alles Seins vom Denken besagt nur die Abhängigkeit all unseres Wissens vom Seienden von den Prinzipien gültigen Wissens. Und sie besagt zugleich, daß die Prinzipien gültigen Wissens nicht durch einen Rekurs auf Seiendes, sei es reales oder ideales oder auch metaphysisches Seiendes, begründet werden können. Der kritische Idealismus lehrt also einmal den Vorrang des reinen Denkens, d. h. des Denkens der Prinzipien, die in aller Erfahrung vorausgesetzt sind, vor 70
Infinitesimalmethode, S. 131.
71
Logik der reinen Erkenntnis, S. 2 8 .
72
In diesem Sinne unterscheidet A . Riehl zwischen dem formalen und materialen Idealismus (Kritizismus I., 2. Aufl., S. 4 0 3 ) : der kritische Idealismus ist ein Idealismus der Formen unseres Denkens der Dinge, kein Idealismus der Dinge selbst.
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der Erfahrung. Und er lehrt zum anderen die Unabhängigkeit der reinen Geltungslogik von aller Seinserkenntnis. Wenn dies als die Grundüberzeugung des Kritizismus gelten darf, daß es reine Begriffe und Grundsätze gibt, deren Geltung der Gültigkeit aller Seinserkenntnis vorausliegt, und daß die Erkenntnis dieser reinen Begriffe und Grundsätze und ihr Ausweis als Prinzipien allen Seinsdenkens von aller Seinserkenntnis unabhängig sein müsse, so stellt sich die kritizistische Polemik gegen eine psychologistische oder biologistische Erkenntnisbegründung nur als ein Spezialfall dieses allgemeinen Grundverhältnisses dar. Weil die Psychologie oder Biologie Tatsachenwissenschaften sind und als solche die Geltung der Prinzipien aller Tatsachenerkenntnis voraussetzen müssen, darum ist eine psychologische oder biologische Erkenntnisbegründung unmöglich. Keine Berufung auf Seiendes ist verstattet, wo nach den Bedingungen der Gültigkeit der Erkenntnis von Seiendem gefragt wird. Der Kritizismus hat diese seine Kernthese zunächst in der Form ausgebildet, daß er die Unabhängigkeit der Erkenntniskritik von aller vorausgesetzten Erkenntnis erfahrungsimmanenter oder erfahrungstranszendenter Seinsbestände herausgearbeitet hat. Er hat die Unabhängigkeit der Erkenntniskritik von der Erfahrung, um deren Möglichkeit es in ihr ja gerade gehen soll, und er hat die Unabhängigkeit der Erkenntniskritik von aller metaphysischen Erkenntnis, von deren Unmöglichkeit er überzeugt war, betont. Für den ursprünglichen Kritizismus geht also die theoretische Philosophie in der Korrelation von Wissenschaft und Geltungslogik, Erfahrung und erfahrungsfreier Philosophie, positiver Gegenstandserkenntnis und Reflexion auf die ungegenständlichen Prinzipien positiver Gegenstandserkenntnis auf. Weder kennt er auf der Seite der zu begründenden Erkenntnis eine philosophische Seinserkenntnis (Ontologie) neben der positiven Erkenntnis des Seienden, noch kennt er eine Weise der philosophischen Reflexion, die nicht reine Geltungslogik ist. Nur der späte Rickert und Zocher haben die kritizistische These von der Unabhängigkeit der Erkenntniskritik auch gegenüber der neuen Ontologie zu behaupten gesucht73. Rickert bewegt sich dabei noch ganz in den ursprünglichen kritizistischen Bahnen, insofern er Sein nur als »Prädikat« gelten läßt und also an der Umwandlung der Ontologie in transzendentale Logik festhält. Für Rickert gibt es also im Felde der Theorie neben der positiven Erkenntnis keine philosophische Erkenntnis, die nicht Logik oder das Logikartige wäre. Zocher hingegen bemüht sich gerade darum, die Notwendigkeit einer reinen Geltungslogik auch gegenüber der Möglichkeit einer philosophischen Ontologie zu sichern. Dabei wird jedoch das »Faktum« der Neu-Ontologie als gegeben und in seiner Möglichkeit zu begründendes 73
92
Vgl. H. Rickcrt, Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, 1930, sowie R. Zocher, a.a.O.
angesetzt. Es fehlt an einer Radikalisierung, die nicht nur den logischen Ort einer philosophischen Ontologie formal bestimmt, sondern die Notwendigkeit einer »Kehre« der philosophischen Reflexion zum Sein ableitet74. Können die Prinzipien, die dafür aufkommen, daß das Denken gültige Erkenntnis vom Seienden gewinnt, zugleich das leisten, daß das Denken das Seiende als solches zu denken vermag? Muß es nicht neben den Prinzipien, die es ermöglichen, daß Seiendes Gegenstand der Erkenntnis wird, auch Prinzipien geben, durch die Seiendes als das gedacht wird, das nicht darin aufgeht, »Gegenstand« zu sein? — Der ursprüngliche Kritizismus hat sich den Zugang zu diesem Problem dadurch versperrt, daß er das Seiende nur als Gegenstand betrachtete. Weil unabhängig vom Denken nichts gedacht werden kann, glaubte er audi folgern zu müssen, daß nichts als unabhängig vom Denken gedacht werden könne. Daher verlagerte sich die Problematik in den nachkritizistischen Theorien audi von der Frage: Wie ist es möglich, einen gültigen Begriff vom Gegenstande zu bilden? auf die zureichende Erfassung und Begründung der Tatsache, daß das Denken Seiendes als unabhängig vom Denken begreift. Für den Fortbestand des kritizistischen Motivs in Gegenwart und Zukunft ist es natürlich entscheidend, wie weit es gelingt, diese Enge des kritizistischen Erkenntnisbegriffs zu überwinden. Wenn der frühe Kritizismus das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie in der Korrelation von positiver Erfahrung und geltungslogischer Reflexion aufgehen ließ, so genügt dies in der Gegenwart nicht mehr, seitdem das positivistische Dogma, das der Kritizismus aus dem Uberzeugungsgut des 19. Jahrhunderts unbefragt übernommen hatte, gefallen ist. Im geschichtlichen Gange des nachkritizistischen Philosophierens hat man jedoch geglaubt, die Möglichkeit philosophischer Seinserkenntnis nicht nur unabhängig von einer reinen Geltungslogik, sondern auch nur im Gegensatz zu ihr begründen zu können. Die neue Ontologie hat sich nicht nur unabhängig von der Geltungsthematik, sondern geradezu in der Form einer Kritik der Geltungstheorie entfaltet. Die Entscheidung darüber, ob die Geltungslogik, die den Kern der kritizistischen Erkenntnistheorie bildet, durch die neueren Entwicklungen in der Philosophie überwunden ist oder nicht, hängt ganz und gar davon ab, ob sich der Primat der reinen Geltungstheorie nicht nur gegenüber der positiven Erfahrung, son74
Damit stehen wir vorausdeutend an der Stelle, an der das Problem einer Grundlegung der Ontologie spruchreif geworden ist. Heidegger, von dem der Ausdruck der »Kehre« stammt, hat sie so verstanden, daß sie überhaupt aus der Transzendentalphilosophie, der noch »Sein und Zeit« verhaftet war, herausführen sollte. Einen Versuch, die »Kehre« als eine innerhalb der Geltungsreflexion mögliche und notwendige zu begründen, unternimmt neuerdings H . Wagner (vgl. Philosophie und Reflexion, 1959, § 24), dem wir uns hier anschließen; zum Begriff der »Kehre« vgl. a.a.O., S. 223.
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dern audi gegenüber jeder Form philosophischer Seinserkenntnis begründen läßt oder nicht. Es steht heute nach weiterführenden Forschungen Zodiers und Wagners außer Frage, daß die Möglichkeit einer solchen Erweiterung und Vertiefung der Geltungstheorie durchaus möglich ist, wenn man daran denkt, daß auch eine jede philosophische Seinswissenschaft als Wissenschaft die Bedingungen objektiv gültiger Erkenntnis erfüllen muß. Es kann jedoch ebensowenig zweifelhaft sein, daß eine solche Erweiterung der transzendentallogischen Fragestellung auf den Bereich philosophischer Seinserkenntnis nur durch eine Umgestaltung der ursprünglichen kritizistischen Systematik, und d. h. durch eine Differenzierung innerhalb der Aprioritätenlehre, möglich ist. Die kritizistische Geltungslogik behauptet, daß das »Denken« selbst (Vernunft, Logik etc.) der absolute Grund aller Erkenntnis und alles Erkannten als eines solchen sei. Dieses reine und absolute Denken ist als absoluter Geltungsgrund selbst keine Seinsgröße. Es ist weder ein Seiendes von metaphysischer Dignität (worauf etwa die behauptete Absolutheit hinweisen könnte), noch ist es ein reales Seiendes von biologischer, psychologischer oder geistiger Artung (was die Rede vom Denken nahelegen könnte). Der folgende Abschnitt soll daher den spezifisch kritizistischen Begriff derjenigen Subjektivität, die den absoluten Geltungsgrund aller Erkenntnis und alles Erkannten bildet, herausarbeiten. 2. Der kritizistische
Subjektsbegriff
Die Kritik am Kritizismus in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hat sich weitgehend in der Form einer Kritik am kritizistischen Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts vollzogen. Alle nachkritizistischen Denker, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen werden, haben es sich als Verdienst angerechnet, den Subjektsbegriff des Kritizismus überwunden zu haben. Wenn audi die Richtungen, in denen man über die Subjektstheorie des Neukantianismus hinausging, untereinander mannigfach divergieren, so bleibt für sie alle doch ihr gemeinsamer Gegner bestimmend. Es ist daher für den Fortgang unserer Untersuchung unumgänglich, den kritizistischen Begriff der theoretischen Subjektivität in seiner Reinheit herauszuarbeiten. Wie die kritizistische Erkenntnistheorie vor allem Geltungstheorie ist, so ist auch der Subjektsbegriff, den der Kritizismus entwickelt, ein spezifisch geltungstheoretischer und nur im Zusammenhang mit der Geltungsproblematik zu verstehen. Obwohl der Kritizismus sich selbst als kritischen Idealismus begreift, ist sein eigentlicher Gegenstand nicht das Subjekt, sondern der Inbegriff der Prinzipien, die unseren Gedanken Gültigkeit verleihen und sie zu wahren Gedanken machen. Der kritische Idealismus ist kein Idealismus des Subjekts, sondern der Idee; nicht der 94
»idea« Lockes in ihrer Bedeutung als Vorstellung, sondern der Idee Piatons in ihrer Auslegung als Hypothesis, Gesetz, geltender Wert verdankt er seinen Namen. Dieses Gesetz — und nicht der Geist — ist das Absolute, das aller Erkenntnis zugrunde liegt. Es ist letzten Endes das »Subjekt« aller Erkenntnis, das ihr Objektivität verleiht. Was gültige Vorstel lungs Verknüpfungen von ungültigen unterscheidet, ist nicht ihr Verhältnis zu einem in ihnen abgebildeten Ansichseienden, sondern ihre »Form«. Als vermeintliche Interpretation Kants erklärt daher Rickert: »Die Beziehung unserer Erkenntnis auf den Gegenstand ist nicht auf ein Abbildverhältnis zurückzuführen, sondern allein darauf, daß die Verbindung der Vorstellungen, mit denen wir erkennen, wie Kant sagt, einer Regel unterworfen wird. Das aber bedeutet: bringen wir einen Inhalt nach einer Regel unter die Form, die zu ihm gehört, dann haben wir ihn als Gegenstand erkannt. . . . Erkennen ist nach Kant nicht ein Abbilden für sich bestehender Gegenstände, sondern das Formen eines Inhaltes nach Regeln, die gelten.«™ Diese geltenden Regeln bilden den Gegenstand der kritizistischen Erkenntnistheorie, das, was der Willkür des empirischen Subjekts entgegensteht; dies Entgegensie^e» ist (nach Lask) ein Entgegen gelten. Weil sie, jene geltenden Regeln, dasjenige sind, wonach sich das Erkennen »richten« muß, nennt Rickert sie audi in einer paradoxen Verwendung des Gegenstandsbegriffs den eigentlichen »Gegenstand der Erkenntnis«. Diese Wendung wendet sich gegen den Ansatz des Erkenntnisverhältnisses, für den sich das Subjekt in der Erkenntnis nach transzendentem Seienden zu richten habe. Nach Rickert bildet jedoch nicht ein transzendentes Sein, sondern ein transzendentes Sollen das Richtmaß der Erkenntnis und also ihren »Gegenstand«, d. h. dasjenige, wonach sich das Erkennen zu richten hat und was unseren Vorstellungen Objektivität verleiht. Wenn auch das Problem, von dem die kritizistische Erkenntnistheorie ihren Ausgang genommen hat, das »Transzendenzproblem« ist78, so bildet ihr Thema doch nicht etwa das Verhältnis von 75
78
Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 156 f. Rickert spielt auch in dieser Interpretation wieder auf die Kant-Stelle (Kritik der reinen Vernunft Β 242) an, die er bereits der ersten Auflage des »Gegenstandes der Erkenntnis« vorangestellt hatte: »Wenn wir untersudien, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, daß sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen.« Diese Stelle enthält in nuce die gesamte kritizistische Erkenntnistheorie, die das Erkenntnisproblem auf die logische Form der Erkenntnis zurückführt. Vgl. H. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 4. und 5. Auflage, S. 20: »Eine Untersuchung, die sich mit dem Transzendenten in der Weise beschäftigt, daß sie seine Bedeutung für die Objektivität der Erkenntnis untersucht oder nach den transzendenten Gegenständen als letzten Maßstäben der Erkenntnis fragt, nennen wir transzendental, und deshalb ist die vom Transzendenzproblem ausgehende Philosophie des Erkennens am besten als Transzendentalphilosophie zu bezeichnen.«
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Ich und äußerem Gegenstand. Man kann sagen, daß die gesamte kritizistische Grundkonzeption vielmehr geradezu ersonnen ist, um dieses Transzendenzproblem zu überwinden. Sie überwindet es, indem sie die erkenntnistheoretische Ursprünglichkeit des Verhältnisses von Ich und äußeren Gegenständen leugnet und das Erkenntnisproblem in einer Sphäre ansiedelt, die diesem Subjekt-Objekt-Gegensatz voraufliegt. So lesen wir auch bei Cassirer in einer Interpretation Kants: »Den wesentlichen Inhalt der Kantischen Lehre bildet nicht das Ich, noch sein Verhältnis zu den äußeren Gegenständen, sondern worauf sie sich in erster Linie bezieht, das ist die Gesetzlichkeit, und die logische Struktur der Erfahrung. Gegenstände, ,innere' wie ,äußere1, sind nicht an und für sich vorhanden, sondern immer nur unter den Bedingungen der Erfahrung gegeben. Die Normen und Regeln der Erfahrung gilt es daher zu entwickeln, bevor wir irgendeine Aussage über das Sein der Dinge tun. Was gesucht wird, ist die allgemeingültige logische Grundform der Erfahrung überhaupt, die für die innere wie für die äußere Erfahrung in gleicher Weise verbindlich sein muß.«77 Wie für Rickert, so soll audi für die Marburger Form des Kritizismus durch die geltungstheoretische Wendung des Erkenntnisproblems die Auffassung der Erkenntnis als eines Abbildes überwunden werden. »Die eigentliche Frage lautet jetzt nicht mehr, ob eine Vorstellung in uns ein einzelnes äußeres Dasein unmittelbar nachbildet, sondern ob in einer bestimmten einzelnen Aussage die allgemeinen Bedingungen und Kriterien des echten Wissens erfüllt sind.«" Wenn man unter dem Subjekt der Erkenntnis nichts anderes zu denken vermöchte als das, was ich und du und wir alle sind, so ließe sich die Behauptung wagen, daß wir es bei der kritizistischen Erkenntnistheorie mit einer Erkenntnistheorie ohne Subjekt zu tun hätten. Denn die geltungstheoretische Reflexion sieht gerade von der Bezogenheit der Erkenntnis auf jeweilige Ich-Subjekte ab, ebenso wie sie von der Bezogenheit der solchen jeweiligen Ich-Subjekten immanenten Vorstellungsinhalte auf »äußere« Gegenstände absieht, und betrachtet allein die »Form« der Erkenntnis, die ihr Gültigkeit und Gegenstandsbezogenheit verleiht79. 77
Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 662.
78
Ebenda, S. 657.
79
Am schärfsten ist dieser Charakter der »objektiven« Begründung der Erkenntnis im Unterschied von jeder »subjektiven«, die auf das psychische Subjekt und seine Gesetze rekuriert, von P. Natorp herausgearbeitet worden. Vgl. Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis, in: Philosophische Monatshefte 23, 1887, S. 257 ff.: Die objektive Begründung der Erkenntnis, wie sie in der Logik im Unterschied von der Psychologie vollzogen wird, hat von jeder Bezogenheit der Erkenntnis auf das Subjekt abzusehen. »Jeder Rekurs auf das Subjekt des E r kennens, auf die Art der Beteiligung, des Bewußtseins dabei, muß uns vielmehr von vornherein als μετάβασι; eis άλλο γένος erscheinen... Das Begründende muß
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Daß der kritische Idealismus in diesem Sinne ein »Idealismus ohne Subjekt« ist, kommt überall dort zum Ausdruck, wo er sich gegen eine Fundamentalität des Ich-Begriffes wendet. Durch diese Kritik setzt er sich vom subjektiven Idealismus, sei er psychologischer oder metaphysischer Art (Fichte) ab. Die Situation verliert jedoch ihren paradoxen und verwirrenden Charakter, wenn man einmal davon abgeht, die Frage nach dem Subjekt der Erkenntnis sofort auf das jeweilige Ich-Subjekt zu beziehen. Das jeweilige konkrete Ich ist ja immer audi schon mehr und anderes als bloßes Erkenntnissubjekt, und es ist als konkretes Ich in seiner vollen Faktizität niemals reines Subjekt der Erkenntnis, sondern ebenso Subjekt des Irrtums. Was es in der einen und in der anderen Dimension der Betrachtung zu einem spezifischen Subjekt der Erkenntnis macht, kann daher nicht schon in seiner bloßen Faktizität als konkretes Ida beschlossen sein. Wenn wir danach fragen, was das konkrete Ich des Lebens (jenen viel berufenen »ganzen Menschen«) zum Subjekt der Erkenntnis macht, und wenn wir zugleich danach fragen, was das konkrete Ich zum Subjekt der Erkenntnis und nicht des Irrtums macht, so werden wir auf beiden Wegen dazu geführt, einen Begriff des Subjekts der Erkenntnis zu bilden, der nur dasjenige Moment enthält, durch das er Subjekt der Erkenntnis und zwar gültiger Erkenntnis ist. In diesem spezifisch erkenntnistheoretischen Sinne sind allein die Überlegungen der kritizistischen Denker zur Subjektsproblematik zu verstehen und zu würdigen. Die Subjektivität, auf die sich die kritizistische Reflexion richtet, ist eben diejenige »Subjektivität, welche die Objektivität begründen soll«80. Nur wenn der Zusammenhang mit der Geltungsproblematik anerkannt wird, kann auch eine sinnvolle Kritik bzw. eine Uberwindung der kritizistischen Subjektstheorie in Angriff genommen werden. Denn ein jeder Begriff der Subjektivität, der an die Stelle des kritizistischen treten soll, muß die Bedingung erfüllen, daß er wenigstens auch zu begründen vermag, wie das Subjekt es fertigbringt, Subjekt gültiger Erkenntnis zu sein. Was das konkrete Subjekt dazu befähigt, allgemeingültige Erkenntnis zu leisten, kann nidit ein bloßes Moment seiner Konkretheit sein. Das dürfte das bleibende Verdienst der kritizistischen Subjektstheorien sein, daß sie einen Begriff von derjenigen Subjektivität auszuarbeiten versucht haben, die die Bedingung der Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis bildet. Damit ist nicht gesagt, daß eine vollgültige Erkenntnistheorie es bei einer solchen Subjektstheorie bewenden lassen dürfe. nicht nur, sondern kann gar nidit einem anderen γένος angehören, wie das, was begründet wird.« (A.a.O., S. 263 f.) Das Begründende kann daher nur das Gesetz der Erkenntnis sein. Auf dem Boden dieser Abstraktion von der Subjektivität ist die »Logik des Seins« erwachsen, die die Voraussetzung der Hartmannsdien Ontologie bildet. 80
Rickert, System I, S. 157.
97 7
Brelage
Die nachkritizistische Philosophie hat gerade audi der Reflexion auf die Subjektivität neue Dimensionen erschlossen, die zu radikalen Umgestaltungen des Begriffs der Subjektivität geführt haben. Wodurch jedoch die kritizistische Subjektstheorie sich allen Überwindungsversuchen gegenüber behauptet, ist, daß sie sie unter die Frage stellt, ob ihr Begriff von Subjektivität zu begründen vermag, daß und wodurch das Subjekt seinen Gedanken Allgemeingültigkeit verleihen kann. Ein jeder erkenntnistheoretisch befriedigende Begriff von Subjektivität muß eben audi das Moment der Subjektivität als Grund und Prinzip der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis enthalten, und zwar schon allein deshalb, weil er sonst nicht seinen eigenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen vermag. Wäre das Subjekt der Erkenntnis nichts als ein Weltstück, so wäre in keiner Weise auszudenken, wie es eine gültige Erkenntnis der Welt soll leisten können. Ist aber das Subjekt der Erkenntnis nicht oder doch nidit nur ein Weltstück, so kann es als solches auch nicht in der natürlichen, gegenständlichen Einstellung entdeckt werden; es muß sich innerhalb der erkenntnistheoretischen Reflexion, und zwar der geltungslogischen Reflexion enthüllen. Wie alle geltungslogische Reflexion muß audi diejenige, die nach dem Subjekt der Erkenntnis fragt, um von ihm einen zureichenden Begriff zu bilden, von dem »Faktum« der Erkenntnis ausgehen. Wie die Geltungslogik generell nach den nichtgegebenen Prinzipien gültiger Urteile fragt, so forscht audi die geltungslogische Subjektsreflexion im Ausgang von gültigen Urteilen nach dem nicht-gegebenen Subjekt dieser Urteile. Wie muß dieses Subjekt beschaffen sein, über welche Leistungen muß es verfügen, um Subjekt gültiger Urteile sein zu können? Das Problem der Reflexion auf die geltungslogische Subjektivität kompliziert sich dadurch, daß die Subjektivität, von der ich einen gültigen Begriff erlangen will, zugleich das Subjekt eben dieses gültigen Begriffs der Subjektivität muß sein können. Im Marburger Kritizismus gestaltet sich die Problematik der geltungslogischen Subjektsfrage zunächst dadurch paradox, daß die Erkenntnisbegründung die Frage nach dem Subjekt radikal ausgeschaltet hatte. Nicht nach dem psycho-physiologischen Subjekt und seiner Organisation, dem Bewußtsein oder Selbstbewußtsein, hat die Erkenntniskritik zu fragen, sondern nach dem »Transzendentalen«, von dem alle Vermischung mit dem Subjektiven um der Reinheit der Geltung willen ferngehalten werden muß. Die Subjektivität wurde so zum Gegenbegriff der Objektivität. Die Forderungen, die sich von hier aus an eine geltungslogische Subjektstheorie stellen, sind klar: erstens darf diejenige Subjektivität, zu der die Geltungslogik hinführt, nicht die Objektivität der Erkenntnis einschränken oder vernichten; zweitens kann sie nur im Zusammenhang mit und im Ausgang von dem Inbegriff der transzendental-logischen Prinzipien gedacht werden, 98
die die Geltungsreflexion im Absehen von der Subjektivität erschließt. Das »transzendental-logische« Subjekt muß also von dem Objekt der Psychologie unterschieden und es muß Subjekt gültiger Urteile sein. Die kritizistischen Denker haben auf verschiedene Weisen versucht, ihren spezifisch geltungstheoretischen Subjektsbegriff vor einer Verwechslung mit der konkreten Subjektivität zu schützen. Sie haben aus eben diesem Grunde eine eigene Terminologie ausgearbeitet, wobei sie zumeist lose an Kantische Termini anknüpften. Bei Cohen etwa ist es der Begriff des »erkennenden« oder »wissenschaftlichen Bewußtseins«, bei Rickert der Begriff des »Bewußtseins überhaupt«, der den spezifisch geltungstheoretischen Subjektsbegriff repräsentieren soll. In beiden Fällen soll der Zusammenhang mit dem Problem der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis streng gewahrt werden. Wissenschaftliche Urteile sind durch ihre Notwendigkeit ausgezeichnet. »Wie sind Urteile, welche notwendige Allgemeinheit aussprechen, wie sind Erfahrungsurteile möglich? Dies ist die transzendentale Frage. Wir kennen bereits die einzig mögliche Antwort. Nur, wenn wir die Notwendigkeit selber hervorbringen.«81 Und »wir« bringen diese Notwendigkeit selber hervor, indem wir unsere Vorstellungen unter reine Verstandesbegriffe subsumieren und dadurch erst in einem objektiv gültigen Urteil verknüpfen. Dadurch werden zugleich unsere empirischen Vorstellungen auf einen Gegenstand bezogen, denn ihre Objektivität besteht nur darin und nur soweit, als sie als Fälle einer allgemeinen Gesetzlichkeit untergeordnet sind. »Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile ist daher der Satz der transzendentalen Apperzeption. Die Erscheinungen müssen, um den Wert objektiver Realität, objektiver Geltung zu erlangen, unter Gesetzen stehen, als einzelne Fälle Gesetze ausdrücken, — das ist die Bedeutung der transzendentalen Apperzeption, der Einheit des Bewußtseins als einer transzendentalen Bedingung. Ihr Verhältnis zu den Kategorien ist daher das Verhältnis der Gattung zu den Arten. Jene sind die Regeln, deren allgemeinen Charakter die Apperzeption bezeichnet: daß sie nämlich transzendentale Gesetze sind, nicht besondere, den Erfahrungen abgefragte.«82 Das Bewußtsein, von dem hier die Rede ist, ist also nichts anderes als diejenige apriorische Synthesis unserer Vorstellungen, die ihnen Objektivität, d. h. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verleiht. Weil aber in der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit geltungstheoretisch betrachtet der Erkennnischarakter aller Erkenntnis oder die »Form« aller Erkenntnis besteht, ist die Synthesis der transzendentalen Apperzeption Prinzip aller Erkenntnis. Ähnlich stellt sich der Gedankengang bei H. Rickert dar. Dieser hat weitläufige Überlegungen zum Problem der reinen, geltungstheoretischen 81 82
7*
Kants Theorie der Erfahrung, l.Aufl., S. 112. Kants Begründung der Ethik, 1. Aufl., S. 47 f.
99
Subjektivität angestellt, die repräsentativ für die gesamte Subjektstheorie der Neukantianer stehen können. Da sie jedoch auf weiten Strecken mit polemischen Absichten verknüpft sind, die ihren Kerngehalt mehr verdunkeln als erhellen und ihre Aktualität heute verloren haben, dürfen wir uns auf die Grundgedanken beschränken. Diese lassen sich in zwei Thesen zusammenfassen. Einmal ist das erkenntnistheoretische Subjekt als das reine, ungegenständliche S\ib]ektskorrelat zu allen erkannten Gegenständen zu denken (und mit anderen Gegenständen als erkannten bzw. zu erkennenden hat es die Erkenntnistheorie nicht zu tun). Zum anderen ist das erkenntnistheoretische Subjekt kein bloß vorstellendes, sondern ein urteilendes Subjekt. Die Betonung des Urteilscharakters jeder Erkenntnis, mit der Rickert gegen alle Formen des Intuitionismus zu Felde zieht, ist für den geltungstheoretischen Charakter seiner Überlegungen schlechthin entscheidend. Denn nur insofern wir urteilen, d. h. Stellung nehmen zu geltenden Werten, erlangen unsere Gedanken diejenige Notwendigkeit, die die Form gültiger Erkenntnis ausmacht. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist also dasjenige Subjekt, das die Vorstellungen in Urteilen dergestalt verknüpft, daß dieser Verknüpfung Notwendigkeit zukommt. Alles Urteilen antwortet auf eine Frage. Allgemein gesprochen antwortet alles theoretische Urteilen auf die Frage, ob einem bestimmten Gegebenen das Prädikat des »Seins« der Realität oder Wirklichkeit zukommt. Eine Entscheidung, die Allgemeingültigkeit beansprucht, kann das Subjekt der Erkenntnis nur treffen, sofern es sich dabei nach den geltenden Regeln der Erkenntnis richtet. Das erkenntnistheoretische Subjekt oder Bewußtsein überhaupt ist daher nach Rickert zu denken »als urteilendes Subjekt, das die Objekte als seiend real bejaht und damit das irreale Sollen anerkennt« 83 . Wie in der Marburger Schule so ist auch bei Rickert das erkenntnistheoretische Subjekt das Subjekt gültiger Urteils-Synthesis. Wie bei Cohen so ist audi bei Rickert das erkenntnistheoretische Subjekt der Inbegriff derjenigen logisdien Leistungen, auf denen die Gegenständlichkeiten aller erkannten Gegenstände beruht. Daher kann dieses Subjekt in keiner Weise selbst als ein Gegenstand gedacht werden. Die kritizistisdien Denker wehren übereinstimmend die Verwechslung dieser erkenntnistheoretischen Subjektivität mit dem »Ich« ab. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist kein Selbstbewußtsein84. Insofern jedes 83
Der Gegenstand der Erkenntnis, 4. und 5. Aufl., S. 283.
84
Nach E. Cassirer ist der spezifisch kritische Begriff der Subjektivität geradezu im methodischen Gegensatz zum psychologischen und religiösen Begriff des Selbstbewußtseins geschaffen worden. »Dieser Begriff stammt nicht aus der psychologischen Selbstbeobachtung, noch aus der religiösen Stellung zur Wirklichkeit, sondern aus der Untersuchung der ,objektiven' begrifflichen Fundamente des exakten und empirischen Wissens.« Noch bei Descartes scheint ihm beides nicht genügend getrennt zu sein. Sein Ego cogito »steht ebensowohl für den ,Intellekt' als den In-
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Selbstbewußtsein eine Einheit von Subjekt und Objekt darstellt, muß das erkenntnistheoretische Subjekt als »reines Ich« begriffen werden, das auch noch der Objektivation des Ich-Objekts als Bedingung der Möglichkeit vorausliegt. (Die Spitze gegen die Subjekt-Objektivität des spekulativen Idealismus ist darin nicht zu überhören.) Rickert hat diesen Gedanken durch die Aufstellung einer Subjektsreihe zu sichern versucht. Der Fortgang in dieser Subjektsreihe ergibt sich dadurch, daß jeweils in dem vorhergehenden Subjekt aufs neue Subjekt und Objekt unterschieden werden. So ergibt sich als Grenzbegriff der Begriff eines reinen Subjekts, das in keiner Weise als Gegenstand gedacht werden kann, weil es Subjekt aller gültigen Gegenstandsgedanken ist. Es ist dasjenige Subjekt, für das alle Objekte, und zwar audi alle konkreten Ich-Objekte mögliche »Gegenstände« sind. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist also das Korrelat zur Welt als dem Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung, wobei zur Welt audi alle konkreten Subjekte in ihrer Konkretheit gehören. Das Verhältnis der vom Kritizismus bedachten Subjektivität zu der konkreten Subjektivität, die wir alle sind, ist von den kritizistischen Denkern vor allem in zwei Richtungen bestimmt worden. Einmal läßt sich dieses reine Subjekt als die spezifische Subjekts/owi betrachten, durch die alle konkreten Subjekte eben Subjekte der Erkenntnis sind. Zum anderen läßt sich das Verhältnis von reiner und konkreter Subjektivität als ein Verhältnis von Norm und Normiertem denken. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist dann gedacht als dasjenige Subjekt, welches Erkenntnis im Vollsinne, in intensiver und extensiver Vollendung geleistet hat. Damit wird das »Bewußtsein überhaupt« für uns zum Ideal der Erkenntnis. Die Wirklichkeit in ihrer Totalität erkennen wollen heißt dann, Bewußtsein überhaupt werden wollen. Denn nur ein Bewußtsein, das das Sollen in seinem ganzen Umfange anerkannt hätte, würde wissen, was wirklich ist. Wir können also die Aufgabe der Erkenntnis auch so bestimmen, daß wir »unser individuelles Subjekt erweitern müssen zum Bewußtsein überhaupt, das alle Urteile bejaht, die gelten«85. Ob wir das erkenntnistheoretische Subjekt als die Form aller konkreten Subjekte oder ob wir es als deren Norm und Idee betrachten, stets ist es als Prinzip gedacht, durch das das konkrete jeweilige Subjekt erst zum Subjekt im spezifisch theoretischen Sinne wird. Im übrigen ist das Verhältnis des reinen Subjekts zu den konkreten begriff der Regeln und Prinzipien des Wissens, wie für das Sein der individuellen Seele und ihre Unterscheidung von der Körperwelt.« Erkenntnisproblem, Bd. II, S. 6 5 9 f. Vgl. auch Cohens »Einleitung mit kritischem Nachtrag von Langes Geschichte des Materialismus« in: Schriften II, S. 192 f. 85
Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 1. Aufl., S. 83.
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Ich-Subjekten vom ursprünglichen Kritizismus nicht weiter geklärt worden. Sein Interesse war eindeutig fixiert auf eine Herausarbeitung des Begriffs der reinen Subjektivität. Dieses Versäumnis hat seine Ursache vor allem darin, daß der Kritizismus die Theorie der konkreten Subjektivität von vornherein mit dem Thema der Psychologie identifizierte. Für Rickert kam hinzu, daß er vorbehaltlos den naturalistischen Begriff der Psychologie als einer kausalerklärenden Einzelwissenschaft übernahm. Daher wurde die von der reinen Subjektivität unterschiedene reale und individuelle Subjektivität zu einem puren innerweltlichen Gegenstand. Die Marburger Schule — und innerhalb ihrer besonders P. Natorp — bemüht sich zwar darum, der Psydhologie einen Ort im System der notwendigen philosophischen Aufgaben zu sichern und gelangte dabei zu einer Kritik des herrschenden naturalistischen Psychologiebegriffes, die dann in verwandter Weise auch von Husserl und Hönigswald aufgenommen wurde. Da für die Marburger Schule jedoch der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität vor allem ein Wertgegensatz war, der die Geltung der Erkenntnis betrifft, und sie die Psychologie auf die Theorie der subjektiven Erkenntnisstufen einschränkte, vermochte auch sie nicht, die Geltungstheorie und die Theorie der konkreten Subjektivität in ein positives Verhältnis zu setzen. Erst Hönigswald hat hier, unter Beibehaltung der geltungstheoretischen Fragestellung, Abhilfe zu schaffen versucht. Will man die Verdienste der kritizistischen Geltungs- und Subjektstheorie würdigen, so muß man sie auf die Frage beziehen: Vermöge welcher Bedingungen leistet es das erkennende Subjekt, daß es neben der Welt des Ansichseienden auch noch eine Welt gültiger Gedanken über dieses Ansichseiende gibt? Was befähigt das Subjekt dazu, das Reich der Wissenschaft, diesen Inbegriff allgemeingültiger Erkenntnis, aufzubauen? Nur sofern das Subjekt hierzu in der Lage ist, ereignet sich dies, daß Seiendes nun auch »Gegenstand« der Erkenntnis wird. Mag es Ansichseiendes auch unabhängig von der Erkenntnis geben, »Gegenstände« der Erkenntnis gibt es nur für und durch die Leistung der erkennenden Subjektivität. Der Begriff dieser erkennenden Subjektivität, der hier in Rede steht, muß also zweierlei leisten: Er muß erklären können, vermöge welcher Prinzipien das Subjekt in sich ein Reich gültiger Gedanken aufbaut, und er muß zugleich erklären können, vermöge welcher Prinzipien sich das Subjekt eine Welt von »Gegenständen« der Erkenntnis gegenüberstellt. Beide Aufgaben gehören zusammen und sind daher audi vom Kritizismus mit Recht zusammen in Angriff genommen worden. Die Beschränkung auf diese Problematik ist der Grund für die einseitige Ausgestaltung des Apriorismus-Problems im Kritizismus. Denn die angedeuteten Fragen stellen den legitimen Horizont des reinen ApriorismusProblems dar. Die Prinzipien, die den Aufbau einer Welt gültiger Er-
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kenntnisgedanken und korrelativ hierzu den Aufbau einer Welt erkannter Gegenstände ermöglichen, können in keiner Weise aus dem Seienden selbst abgelesen sein. Sie müssen daher im strengen Sinne Prinzipien des Subjekts selbst sein. Auf diese reinen Prinzipien des Denkens und die aus ihnen entspringenden reinen Gegenstandsbegriffe oder Kategorien, die das Denken von Gegenständen ermöglichen, ist die kritizistische Erkenntnistheorie von Hause aus eingestellt. Wenn der Kritizismus den Ausgang vom Ansichseienden ablehnt und eine ursprüngliche Bezogenheit von Subjekt und Objekt, Erkenntnis und Gegenstand behauptet, so kann sich diese These nur auf diejenige Struktur der Gegenstände beziehen, die ihnen als Gegenständen der Erkenntnis notwendig eignen muß. Die Leistung der reinen Gegenstandsprinzipien ist von der Voraussetzung einer Übereinstimmung mit den Prinzipien des Ansichseienden unabhängig. Durch sie wird noch nichts am Gegenstand erkannt, sondern sie ermöglichen allein dies, daß es überhaupt Gegenstände für die Erkenntnis gibt. Diese reinen Gegenstandsprinzipien lassen sich daher auch in strengster Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit für alle Gegenstände der Erkenntnis entwickeln. Sie lassen sich daher im Kantischen Sinne »deduzieren«, d. h. es läßt sich der Nachweis führen, daß sie von Gegenständen überhaupt gelten müssen, weil es nur durch sie überhaupt »Gegenstände« gibt, bzw. daß sie für jede Erkenntnis von Gegenständen gelten müssen, weil nur durch sie sich das Denken auf Gegenstände beziehen kann. Die Erkenntnis dieser Gegenstandsprinzipien kann daher unabhängig von aller Erfahrung, die die Erkenntnis am Seienden gewonnen hat, und für alle mögliche Erfahrung erfolgen. Mit Recht hat also audi der Kritizismus die Theorie dieser Prinzipien als transzendentale Logik von jeder Ontologie unterschieden. Das reine Denken, Bewußtsein überhaupt, Vernunft, Logos und wie die Titel lauten, unter denen der Kritizismus den Inbegriff der Prinzipien analysiert hat, auf denen die ursprüngliche Bezogenheit von Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis beruht, bildet in der Tat einen Grund, bei dem die erkenntnistheoretische Reflexion auf ein letztes Fundament stößt. Auf ihnen beruht alle Autonomie der Erkenntnis. Insofern die Erkenntnis durch sie ermöglicht wird, richtet sie sich nicht nach dem Ansichseienden, sondern nach reinen Begriffen und Grundsätzen, die ihr selbst entspringen. Das reine Denken als absoluter Grund der Erkenntnis, das ist das Thema der kritizistischen transzendentalen Logik. Der Kritizismus hat sich dabei vor allem bemüht, die Absolutheit dieses Grundes in zweifacher Hinsicht zu sichern. Er hat einmal die Unabhängigkeit dieses reinen Denkens von jeder Voraussetzung eines Ansichseienden und er hat zum anderen die Unabhängigkeit des reinen Denkens von der konkreten Subjektivität betont. Ihre Sicherung vollzog sich dadurch, daß er die Unabhängigkeit der transzendentalen Logik von der 103
Metaphysik, diese dadurch, daß er ihre Unabhängigkeit von der Psychologie verteidigte. In beiden Richtungen wollte der Kritizismus dem, wovon er sich abzusetzen bemühte, keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die folgende Philosophie hat daher auch beide Grundpositionen des Kritizismus angegriffen, wobei sie glaubte, den Kritizismus nicht nur ergänzen, sondern von Grund auf destruieren zu müssen. Wir werden im Folgenden eine Reihe dieser Versuche analysieren und von ihnen aus jeweils audi auf den Kritizismus zurückblicken. Als erstem wenden wir uns der Phänomenologie Edmund Husserls als der für die Entwicklung der nachkritizistischen Philosophie einflußreichsten zu. II. D I E T R A N S Z E N D E N T A L E
PHÄNOMENOLOGIE
Die Phänomenologie ist die erste große Gegenspielerin des Kritizismus in unserem Jahrhundert. Alle nachkritizistischen Denker, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, sind durch die Phänomenologie oder aber durch die Auseinandersetzung mit ihr entscheidend bestimmt. Die Bestimmung des Verhältnisses von Phänomenologie und Kritizismus wird dadurch erschwert, daß E. Husserl von einem gewissen Zeitpunkt seiner Entwicklung ab die Phänomenologie ebenfalls in Gestalt eines transzendentalphilosophischen Idealismus ausgebildet hat. Die intensive Auseinandersetzung, die zwischen Phänomenologie und Kritizismus in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts stattgefunden hat, geht noch nicht von dieser transzendental-phänomenologischen Konzeption Husserls aus, sondern von der Phänomenologie als Methode, wie sie vor allem in der Münchener und Göttinger Phänomenologiesdiule ausgebildet worden war. In ihrem Zentrum steht daher auch vor allem der Begriff der »Wesensschau«. Die transzendentale Phänomenologie Husserls wurde demgegenüber allzu schnell als eine bloße Spielart des neukantianischen Idealismus verstanden86. Hinzu kommt, daß sie innerhalb der Phänomenologie bald durch den überragenden Einfluß Heideggers verdeckt wurde, dessen Existenzialontologie zunächst als eine Konkretisierung und zugleich Uberwindung der Husserlschen Phänomenologie des »reinen Bewußtseins« verstanden wurde. Erst die Veröffentlichungen des Husserlschen Nachlasses im letzten Jahrzehnt haben die Eigenart der transzendentalen Phänomenologie Husserls in ihrer Unterschiedenheit vom kritischen Idealismus der Neukantianer und von der allem Idealismus abholden Philosophie Heideggers deutlich hervortreten lassen. Daher sind die älteren Arbeiten von Kynast, Metzger, Kreis, Folwart und Zocher, in denen das Verhältnis von Phänomenologie und Kritizis86
So etwa schon von Karl Joel, D i e philosophische Krisis der Gegenwart, 1914, der in Husserls »Ideen I « eine dritte Form des Kopernikanismus neben derjenigen der Marburger und der Südwestdeutschen Schule erblickte.
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mus thematisiert wurde, heute zum Teil durch die neuen Editionen überholt. Die neueren Auseinandersetzungen mit Husserl haben hingegen kaum noch die kritizistische Position gegenüber Husserl ins Spiel gebracht87. Das ist bei der fast vollständigen Vergessenheit, in die der Kritizismus inzwischen geraten ist, nicht verwunderlich. Unsere Überlegungen stehen daher vor der Aufgabe, die Auseinandersetzung zwischen kritizistischer und phänomenologischer Transzendentalphilosophie, die in der Geschichte selbst nur noch sporadisch stattgefunden hat, zu rekonstruieren und auf ihr Ergebnis hin zu analysieren. Wie bei der Behandlung des Kritizismus kann es uns auch bei der Analyse der Husserlschen Erkenntnistheorie und ihrer Subjektsproblematik nur auf die Herausarbeitung der Grundgedanken ankommen. Die damit gegebene Vereinfachung kommt den prinzipiellen Absichten unserer Untersuchung zugute, die gerade auf das Eigentümliche des jeweiligen Ansatzes und sein prinzipielles Recht gerichtet ist. Wir beginnen mit einer Erörterung der Husserlschen Idee einer transzendentalphänomenologischen Erkenntnisbegründung und gehen dann zu einer Analyse der in ihr enthaltenen Subjektstheorie über. 1. Die Idee einer transzendentalpbänomenologischen Erkenntnisbegründung Audi die Husserlsche transzendentale Phänomenologie hat zum Ziel eine radikale Erkenntnisbegründung, die auf einen absoluten Grund zurückgeht. Das ist nicht selbstverständlich, denn es hat den Anschein, als sei Husserl nur in einer mittleren Phase seiner Philosophie, die etwa durch seinen Logos-Aufsatz über »Philosophie als strenge Wissenschaft:' und den ersten Band der »Ideen« repräsentiert wird, »erkenntnistheoretisch« orientiert gewesen. In der voraufliegenden Phase seines Denkens scheint Husserl ein reiner Theoretiker der Mathematik und Logik gewesen zu sein, während er von etwa 1920 ab das erkenntnistheoretische Philosophieren dadurch hinter sich gelassen zu haben scheint, daß er auf die geschichtliche Genese der neuzeitlichen Idee der wissenschaftlichen Erkenntnis zu reflektieren begann88. In Wahrheit ist jedoch die Husserlsche Entwicklung auch hinsichtlich der Erkenntnisproblematik kontinuierlicher, als es eine solche Abgrenzung verschiedener Phasen erkennen läßt. Auch die »Philosophie der Arithmetik« und die »Logischen Untersuchungen« zielen bereits auf eine phänomenologische Aufklärung der87
88
Eine Ausnahme bilden die »Kritischen Bemerkungen zu Husserls Nachlaß« von H.Wagner, in: Philosophische Rundschau I, 1953, und die Husserl-Kritik W. Cramers in: »Die Monade«, 1954, die sich jedodi zugleich gegen wichtige Momente des frühen Kritizismus wendet. Vgl. E. Fink in der Vorbemerkung zu Husserls »Entwurf einer .Vorrede' zu den ,Logischen Untersuchungen' (1913)«, in: Tijdschrift voor Philosophie, 1939, S. 106 ff.
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jenigen Akte, in denen sich die mathematische bzw. logische Gegenständlichkeit konstituiert. Diesem Ziel soll die Unterscheidung des Gegenstandes der reinen Logik von dem Gegenstande der Psychologie nur vorarbeiten, indem sie die Leitfäden bereitstellt für die Aufklärung derjenigen Bewußtseinserlebnisse, in denen die Gegenstände der reinen Logik als solche zur Gegebenheit kommen. Auch Husserls Abrücken von der Philosophie als Erkenntnistheorie stellt keinen Bruch in seiner Entwicklung dar. Was fällt, ist die wissenschaftstheoretische Abzweckung der Phänomenologie. Die Phänomenologie war jedoch bereits vorher niemals in derselben Einseitigkeit auf eine Aufklärung der Fundamente der Wissenschaften (vor allem aber nicht auf ihre logischen Fundamente) gerichtet wie die kritizistische transzendentale Logik. In den Jahren zwischen 1900 und 1920 bildete die wissenschaftstheoretische Aufgabe für Husserl stets nur einen Teil eines weit universaler gefaßten Themas, das auf die Gewinnung eines absolut gewissen Bodens aller unserer Erkenntnis abzielte. Bereits hier fordert Husserl die Aufhebung aller positiven Wissenschaften in Phänomenologie, die dadurch von der positiven Wissenschaft unterschieden ist, daß sie nicht in objektivistischer Weise das transzendentale Bewußtseinsleben in der Vergessenheit beläßt. Die späten Arbeiten Husserls über »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« ergänzen diese Kritik an der Positivität der positiven Wissenschaften nur durch eine Analyse ihrer geschichtlichen Herkunft. Gleichbleibend ist für alle Phasen des Husserlsdien Philosophierens die zugrunde liegende Idee einer radikalen Aufklärung der Erkenntnis jeder Art und Stufe durch den Rückgang auf das in dieser Erkenntnis selbst verborgene Bewußtseinsleben. Die Husserlsche transzendentale Phänomenologie versteht sich selbst als Idealismus. Als solcher enthält sie eine Reihe von Momenten, die sie mit jeder Form des erkenntnistheoretischen Idealismus teilt. Dies ist vor allem das Moment einer radikalen Richtungsänderung des philosophischen Erkennens gegenüber dem natürlichen Erkennen und Leben und das Moment eines Rückganges auf die Subjektivität, in der der Grund der Gegenständlichkeit der Gegenstände des natürlichen Bewußtseins enthüllt werden soll. Beides zusammen macht die spezifische Reflexivität aller idealistischen Philosophie aus. Erst auf dem Boden dieser Gemeinsamkeiten kann die Eigentümlichkeit des phänomenologischen Idealismus hervortreten. Der phänomenologische Idealismus ist transzendentaler Idealismus und weiß sich dadurch vom psychologischen und metaphysischen Idealismus unterschieden. Diese Abgrenzung betrifft die Fassung des Subjekts, auf das die Reflexion zurückführt. Bestimmend für die gesamte Ausgestaltung des phänomenologischen Idealismus ist das Transzendenzproblem. Von ihm leitet Husserl den Ter106
minus transzendental ab. Das natürliche Bewußtsein ist auf als transzendent vermeinte Gegenstände gerichtet, deren Inbegriff die Welt in ihrem Ansichsein ist. Das Problem der Transzendenz, das sich die Phänomenologie stellt, hat jedoch nichts zu tun mit der gewöhnlich »erkenntnistheoretisch« genannten Fragestellung89. In ihm wird nicht gefragt, wie ein in sich beschlossenes Bewußtsein seinen Bannkreis durchbricht und sich des Ansidiseienden bemächtigt. Versteht man das Problem der Erkenntnistheorie in diesem Sinne, so ist die Husserlsche transzendentale Phänomenologie keine Erkenntnistheorie. Denn wie die Philosophie des Kritizismus stellt auch die transzendentale Phänomenologie eine Überwindung dieses Transzendenzproblems von ihrem Ansatz her dar. Und zwar erfolgt diese Überwindung durch eine Kritik des in der landläufigen erkenntnistheoretischen Problemstellung vorausgesetzten Subjektsbegriffs. Wird das Subjekt in diesem erkenntnistheoretischen Problemansatz gemäß dem Satz der Bewußtseinsimmanenz als ein von der Welt der transzendenten Gegenstände isoliertes Subjekt verstanden, so erhält das Transzendenzproblem bei Husserl durch die Einführung des phänomenologischen Bewußtseinsbegriffs eine völlig neue Fassung. Bewußtsein ist im phänomenologischen Sinne ursprünglich auf Transzendentes bezogen, ist »Bewußtsein von etwas«. Die Transzendenz, um deren Aufklärung es in der Phänomenologie Husserls geht, ist daher eine »Transzendenz in der Immanenz«, eine Transzendenz »im« Bewußtsein. »Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter.«90 In dieser ursprünglichen Bezogenheit auf Transzendenz steckt die Transzendentalität des Bewußtseins. »Heißt die W e l t . . . transzendent, so heißt dieses mein reines Sein oder mein reines Ich transzendental.«91 Transzendentale Phänomenologie ist daher nichts anderes als die universale und systematische Enthüllung der Transzendentalität des Bewußtseins. Diese Transzendentalität erscheint bei Husserl unter dem von seinem Lehrer F. Brentano übernommenen Ausdruck der Intentionalität. Die »Enthüllung der impliziten Intentionalität« 92 , die im 89
90
Vgl. hierzu G.Brand, Husserl-Literatur und Husserl in: Philosophische Rundschau VIII, 1961, S. 279. Cartesianische Meditationen, S. 117.
91
A.a.O., S. 10. — Wir können vorgreifend audi sagen, daß Husserl das erkenntnistheoretische Transzendenzproblem dadurch zu lösen versucht, daß er den Gegensatz von Immanenz und Transzendenz, wie er in der Erkenntnistheorie gewöhnlich verstanden wird, durch einen phänomenologischen Gegensatz von Immanenz und Tranzsendenz ersetzt. Er fragt nämlich nicht mehr nach der »Möglichkeit der reellen Transzendenzen«, d. h. wie kann das Erlebnis sozusagen über sich hinaus?, sondern nach der »Möglichkeit der Transzendenz über die Sphäre evidenter Gegebenheit«, d . h . wie kann Erkenntnis etwas als seiend setzen, das in ihr nicht direkt und wahrhaft gegeben ist? Zu den beiden Begriffen von Immanenz und Transzendenz vgl. »Die Idee der Phänomenologie», S. 35 f.
92
A.a.O., S. 118.
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natürlichen Leben dem Bewußtsein nicht in ihrer transzendentalen Bedeutung bewußt wird, ist das Problem des gesamten Husserlschen Philosophierens. Husserls Entwicklung besteht demgegenüber nur in der Entfaltung der ihm selbst zunächst ncxii verborgenen Universalität und Radikalität dieser Fragestellung. Wenn wir diese Fragestellung lieber durch den Terminus der Transzendentalität des Bewußtseins als durch den der Intentionalität charakterisieren, so berücksichtigen wir dabei die ungeheuren Anstrengungen, die es Husserl gekostet hat, seine Intentionalitätsproblematik als transzendentale von der psychologischen zu unterscheiden, und nehmen die Intentionalität von vornherein in ihrer philosophischen Bedeutung. Wie von der psychologischen Bewußtseinsforsdiung, so will der phänomenologische Idealismus auch vom metaphysischen Idealismus durchaus unterschieden werden: Transzendentale Phänomenologie handelt nicht von der »Erzeugung« des Seienden durch eine Subjektivität, sondern von der »Konstitution« alles Seienden als solchen im Bewußtsein. Die Konstitutionsforschung, deren Grundlagen Husserl bereits im zweiten Band der »Logischen Untersuchungen« gelegt hat, geht aus von dem Grundgedanken, »daß alle Gegenstände und gegenständlichen Beziehungen für uns nur sind, was sie sind, durch die von ihnen wesentlich unterschiedenen Akte des Vermeinens, in denen sie uns vorstellig werden, in denen sie eben als gemeinte Einheiten uns gegenüberstehen.«93 Husserl hat sich bereits früh gegen eine metaphysische Interpretation des KonstitutionsbegrifFs gewandt. Seine reine Phänomenologie will aller Metaphysik vorausliegen und daher audi von ihr unabhängig sein. Sie hat es mit der als transzendent vermeinten Welt, nicht aber mit einer transzendenten Welt zu tun. Wie es mit einer Welt »hinter« der von uns als transzendent vermeinten bestellt ist, bleibt für sie zunächst gleichgültig, da es ihr nur um das Redxt der natürlichen primären Transzendenzvermeinung geht94. Phänomenologie als Erkenntnistheorie liegt »vor aller Metaphysik«95. Es geht daher nicht an, in der Husserlschen Konstitutionstheorie sogleich eine dogmatische Leugnung der Unabhängigkeit des Ansichseienden zu erblicken. Daß das natürliche Bewußtsein die Welt als eine ansichseiende, transzendente erlebt, soll durch die Phänomenologie nicht geleugnet, sondern in seiner »Möglichkeit« aufgeklärt werden. 93
Logische Untersuchungen, Bd. II 1, 2. Aufl., S. 42. (Sperrungen von H.).
94
Vgl. Husserl, a.a.O., S. 2 0 : »Von der reinen Erkenntnistheorie geschieden ist die Frage nach der Berechtigung, mit der wir bewußtseinstranszendente .psychische' und .physische' Realitäten annehmen . . . . ob es Sinn und Recht hat, der erscheinenden Natur, der N a t u r als Korrelat der Naturwissenschaften, noch eine zweite, in potenziertem Sinne transzendente Welt gegenüberzusetzen und dergleichen mehr. Die Frage nach der Existenz und N a t u r der .Außenwelt' ist eine metaphysische Frage.«
95
L . U . II 1, S. 21.
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Mag die ansichseiende Welt auch vom Bewußtsein unabhängig sein, so setzt die als an sich seiend vermeinte Welt doch gewiß das Bewußtsein voraus. Die Welt, von deren Konstitution die Phänomenologie spricht, ist nur diese als unabhängig, als an sich seiend, als transzendent gemeinte Welt, die »Welt« oder das Weltphänomen und Weltnoema. Die Phänomenologie setzt also ein mit dem Schritt von der ansichseienden Welt, die den natürlichen Boden unseres gesamten Weltlebens bildet, zum »Weltphänomen«, der sogenannten »phänomenologischen Reduktion«. Er bildet den entscheidenden Ubergang von der natürlichen zur phänomenologischen Geisteshaltung. Husserl hat diesem Ubergang Zeit seines Lebens umfangreiche Überlegungen gewidmet, die alle dazu dienen, die spezifisch philosophische Einstellung in ihrer Notwendigkeit zu begründen und vor Mißdeutungen des natürlichen Bewußtseins zu sichern. Er hat dabei schon früh an die Zweifelsbetrachtung der Meditationen Descartes' angeknüpft. Die Schwierigkeiten aller dieser Überlegungen erwachsen vor allem daraus, daß die phänomenologische »Einklammerung« der Welt, die »Epoche« und »Reduktion«, die die Phänomenologie vollzieht, gegen die Verwechslung mit dem skeptischen Zweifel oder der dogmatischen Leugnung der Welt gesichert werden müssen. Daher sagt Husserl in der zweiten Vorlesung seiner »Idee der Phänomenologie«, daß kein Vernünftiger an der Existenz der Welt zweifeln werde96. Was die phänomenologische Zweifelsbetrachtung einleiten will, ist nur die Aufklärung der »Vernunft«, die wir überall und stets voraussetzen, wenn wir im natürlichen Weltgedanken leben. Die phänomenologische Epoche und Reduktion ist also nach Husserl im methodischen Sinne zu verstehen, als eine Methode, die eine wirklich radikale und universale Selbst-Besinnung in Gang bringen will. Ihr Gegenstand bin ich, ist jeder von uns, wenn wir uns nicht nur als dieser individuelle Mensch betrachten, der einen Teil der Welt bildet, sondern als diejenige Subjektivität, die der Grund unseres natürlichen und, wie wir voraussetzen, auch vernünftigen Glaubens an die Welt ist. Weil diese Subjektivität durch den natürlichen Weltglauben immer zugleich ver96
Vgl. die Ausführungen in »Ideen I« (1. Aufl., S. 56) zur phänomenologischen »Einklammerung« der Welt: »Tue ich s o . . . , dann negiere ich diese ,Welt' also nicht, als wäre ich Sophist, idi bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker.« U n d : »der phänomenologische Idealismus leugnet nicht die wirkliche Existenz der realen Welt (und zunächst der Natur), als ob er meinte, daß sie ein Schein wäre, dem das natürliche und positiv-wissenschaftlidie Denken, obschon unvermerkt, unterläge. Seine einzige Aufgabe und Leistung ist es, den Sinn dieser Welt, genau den Sinn, in welchem sie jedermann als wirklich seiend gilt, aufzuklären. Daß die Welt existiert, daß sie in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben ist, ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist es, diese Leben und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen und ihren Rechtsgrund aufzuklären.« (Ideen III, S. 152 f.).
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deckt ist, und wir normalerweise in der Selbst-Vergessenheit leben, ist es für uns so schwer, uns nicht nur als Menschen in der Welt zu bedenken, sondern als diejenige Subjektivität, die dafür aufkommt, daß es für uns überhaupt eine Welt und uns selbst und unsere Mitmenschen in ihr gibt. Die Aufgabe einer solchen Selbst-Besinnung reicht dabei über die phänomenologische Aufklärung der Wissenschaften hinaus und erstreckt sich auf unser gesamtes Bewußtseinsleben. Während für Husserl zunächst noch die wissenschaftstheoretische Aufgabe im Vordergrund steht, tritt, etwa um die Zeit des ersten Weltkrieges, die letztlich religiöse Motivation seines Philosophierens stärker hervor 97 . D i e radikale Umkehr, die sich in seiner Betonung der völligen Richtungsänderung der phänomenologischen gegenüber der natürlichen Einstellung äußert, hat für ihn nicht nur die Bedeutung einer Aufdeckung der logischen Geltungsgründe der Wissenschaften, sondern soll eine Umkehr des ganzen Menschen und seine völlige Verwandlung einleiten 98 . So erwartet Husserl schon in dem Aufsatz über »Philosophie als strenge Wissenschaft« von der Philosophie nicht eine Ergänzung der wissenschaftlichen Erkenntnis durch die Behandlung der in diesen selbst nicht zu lösenden Grundlagenprobleme, sondern eine gänzliche Verwandlung aller Wissenschaft in Philosophie 99 . Audi in den späteren Überlegungen zur »Krisis der europäischen Wissenschaften« konstruiert Husserl den Gang der Geschichte aus dem Antago97
In einem Brief an A . M e t z g e r (vom 4 . 9 . 1 9 1 9 ) schreibt Husserl über die Zeit der Abfassung der »Logischen Untersuchungen«: »Noch hatte ich kein Auge f ü r praktische und kulturelle Realitäten, noch keine Menschen — und Völkerkenntnis, noch lebte ich einem fast ausschließlich theoretischen Arbeitswillen — mochten auch die entscheidenden Antriebe (die mich von der Mathematik in die Philosophie als Berufsstätte gedrängt hatten) in übermächtigen religiösen Erlebnissen und völligen Umwendungen liegen. D e n n die gewaltige Wirkung des N T (Neuen Testaments) auf den 23jährigen lief doch in d e m Triebe aus, mittels einer strengen philosophischen Wissenschaft den Weg zu G o t t und zu einem w a h r h a f t e n Leben zu finden.«
88
Vgl. auch Husserls Ausführungen zur absoluten und radikalen Lebensentscheidung des Philosophen, »in der sein Leben zu einem Leben aus absoluter Berufung wird«, i n : »Erste Philosophie«, II. Teil, »Theorie der phänomenologischen Reduktion« (1923/24), Huss. Bd. V I I I , l . K a p . , S . l l . U n d : »Vielleicht wird es sich sogar zeigen, daß die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoche zunächst wesensmäßig eine völlige personale Wandlung zu erwirken berufen ist, die zu vergleichen wäre zunächst mit einer religiösen Umkehrung, die aber darüber hinaus die Bedeutung d e r größten existenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist.« (Nach A. Diemer, E. Husserl, 1957, S. 25).
99
Vgl. auch »Formale und transzendentale Logik«, 1929, S. 207: »Wir müssen uns über die Selbstvergessenheit des Theoretikers erheben, der von der Innerlichkeit seines Leistens nichts w e i ß . . . N u r eine im phänomenologischen Sinne transzendental aufgeklärte und gerechtfertigte Wissenschaft k a n n echte Wissenschaft sein, nur eine transzendental-phänomenologisch aufgeklärte Welt k a n n letztverstandene Welt sein. »Und ebd. S. 240: »es ist nur Eine Philosophie, Eine wirkliche und echte Wissenschaft.«
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nismus des natürlichen Objektivismus der Wissenschaften und der geforderten phänomenologischen Selbst-Besinnung und erhofft von dieser nicht nur eine Lösung der gegenwärtigen Krise der Wissenschaften, sondern darüber hinaus der gesamten Krise unserer Kultur und unseres Menschseins100. Phänomenologische Reduktion soll ein Leben in der absoluten Wahrheit und Gewißheit ermöglichen. Daher hatte Husserl schon in den »Logisdien Untersuchungen« allen skeptischen und relativistischen Konsequenzen der psychologistischen Logik nachgespürt. Für uns steht hier nicht die Bedeutung der phänomenologischen Reduktion für die Krise unserer Kultur im Zentrum, sondern ihre Leistung für die Aufklärung der Erkenntnis. Um die erkenntnistheoretische Valenz der phänomenologischen Reduktion zu erfassen, müssen wir an Husserls Begriff der Erkenntnis, der erkennenden Intentionalität, anknüpfen. Die Phänomenologie der Erkenntnis will die Möglichkeit der Erkenntnis aufklären. Ihre Aufgabenstellung ist daher wie die der Kantischen Erkenntnistheorie eine erkenntniskritische. Vor allem in den Vorlesungen über die »Idee der Phänomenologie« hat Husserl diese Aufgabenstellung mit Wendungen erläutert, die eine Verwechslung mit der 100
Vgl. auch seinen Brief an E. Hocking vom 3.7. 1920: »Wem sonst, denn uns Philosophen ist die Klärung, wissenschaftliche Festlegung und Auseinanderlegung der Idee der Humanität anvertraut; uns ihre beständige Verteidigung gegen die wuchernden Skeptizismen, die mit dem Glanz, den sie der Ideenwelt abgeborgt haben, ihr verführerisches Spiel treiben und die Seelen herabziehen, statt sie aufwärts zu richten. Was ist solche philosophische Leistung anders als die klare Herausstellung des Ewigen als Telos des Empirischen, als die Hinwendung des elenden, irrenden, sündenden empirischen Ich auf das reine Ich aller überzeitlich gültigen Normen. Gibt es schließlich einen anderen Weg zu Gott, an den wir doch nicht glauben, um uns im Sinne der Fiktionen der Als-Ob-Philosophie einen erträumten Halt zu geben, sondern weil wir in uns die wahre Kraft der reinen Idee und ihrer wahren Norm so oft erfahren, als wir, freie Menschen, entschlossen sind, sie in unserem tätigen Willen aufzunehmen und ein wahres Leben zu leben. Schließlich gilt doch unsere ganze höchst mühselige, abstrakte, scheinbar weit- und lebensfremde Arbeit, schließlich gelten all unsere Abstiege in das eisig dunkle Reich der ,Mütter', nur dieser Rettung des Menschen durch seine eigene reine Idee und nur der Ermöglichung einer universalen Aufklärung und erzieherischen Umbildung der Menschheit, die sie allererst in eine wahre und echte Menschheit verwandeln würde. Leben wir Philosophen nicht in dieser Gesinnung, streben wir nicht nach solchen Zielen, was sind wir besseres als eitle Sportsleute, die den Ruhm des gelehrten Champions anstreben und den Applaus eines sensationssüchtigen Publikums. Was der Krieg enthüllt hat, ist das unsägliche nicht nur moralische und religiöse, sondern auch philosophische Elend der Menschheit. Die herrschenden Philosophien sind offene oder versteckte Skeptizismen, ihre Herrschaft bedeutet in der Epoche wissenschaftlicher Kultur Herrschaft über die gesamte Kulturmenschheit, und damit, für sie im ganzen. Entwertung der ethischen und religiösen Ideen als praktischer Mächte. Aus dem geistigen Elend ist nun auch das physische Elend geworden.« (Die Anklänge an Fichte, zu dem allein von allen deutschen Idealisten Husserl ein engeres Verhältnis gewonnen hatte, sind auch in diesem Brief nicht zu überhören.)
111
kritizistisdien Erkenntnistheorie nahelegen. Entscheidend ist für die Differenz jedoch nicht, daß die Phänomenologie vom direkt anschaulich aufweisbaren Wesen der Erkenntnis und korrelativ dazu der Erkenntnisgegenständlichkeiten handelt101, sondern die Art und Weise, wie sie die Fraglichkeit der Erkenntnis aufklären will. Vordeutend läßt sich etwa sagen, daß für Husserl die Frage nach der »Möglichkeit« der Erkenntnis nicht darauf zielt, auf Grund wovon Erkenntnis möglich ist, d. h. welche Prinzipien gültige Erkenntnis garantieren, sondern wie und wodurch absolut gewisse Erkenntnis vorliegt. Die eigentümliche Problemstellung der Husserlschen Erkenntnisphänomenologie ist durchaus nicht leicht zu erfassen. Bekanntlich hat Husserl das Bewußtsein durch den von Brentano übernommenen Begriff der »Inten tionalität« zu klären versucht. Alles Bewußtsein ist Bewußtsein von Gegenständen, Intentionalität also der allgemeine Charakter des Bewußtseins, sich auf Gegenständlichkeiten zu beziehen. Erkenntnis ist ein besonderer Modus des Bewußtseins. Daher müssen sich auch alle Wesensunterscheidungen, die sich auf die Intentionalität überhaupt beziehen, an der Erkenntnis aufweisen lassen. Die entscheidende Wesensbestimmung der Intentionalität ist die Unterscheidung von Noesis und Noema, von Erlebnissen und Gegenständlichkeiten, die in diesen Erlebnissen erlebt sind. Versucht man, von diesem Begriff der Intentionalität aus die Problemstellung der Erkenntnisphänomenologie zu begreifen, so ergibt sich, daß sich die Phänomenologie nur auf die Seite der Erkenntniserlebnisse bezieht. Die phänomenologische Reflexion wird dann als spezifisch »noetische« Reflexion begriffen und von der »noematisdien« unterschieden102. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß die Problemstellung der Husserlschen Erkenntniskritik von diesem gleichsam statischen Begriff der Intentionalität aus nicht zureichend begriffen werden kann. Zwar spricht Husserl generell von der Intentionalität des Bewußtseins, so daß diese als die Grundkategorie der Region des Bewußtseins erscheinen könnte. Daneben kennt Husserl jedoch einen dynamischen Begriff von Intentionalität, in dem das Moment des Tendierens, des Strebens entscheidend ist. Und zwar sind es zunächst nur ganz bestimmte Akte, die als »bloß intentionale« Akte bestimmt werden. Intentionalität scheint also hier nur der Charakter einer bestimmten Aktklasse zu sein, nämlich solcher Akte, die sich auf Gegenstände in der Weise der bloßen Meinung beziehen, ohne daß sie die anschauliche gegenständliche »Erfüllung« besitzen. Was somit in einem eingeschränkten Sinne von Intentionalität nur ein Wesenszug bestimmter Bewußtseinserlebnisse zu sein scheint, ist in Wahrheit für Husserl ein Grundzug allen Bewußtseins. Alles Bewußtsein, vor allem aber alles erkennende Bewußtsein ist intentional in dem 101
A.a.O., IV. Vorlesung.
103
Vgl. H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 1959, §§ 4 und 30.
112
Sinne, daß es auf anschauliche Erfüllung, auf Evidenz tendiert. Das zeigt sich eindeutig an solchen Stellen, an denen Husserl den Korrelatbegriff zur Intentionalität, den der Evidenz behandelt. »Evidenz ist zwar hinsichtlich irgendwelcher Gegenstände nur ein gelegentliches Vorkommnis des Bewußtseinslebens, aber es bezeichnet doch eine Möglichkeit und zwar als Ziel einer strebenden und verwirklichenden Intention für jedes irgend schon Vermeinte und zu Vermeinende, und somit einen wesensmäßigen Grundzug des intentionalen Lebens überhaupt. Jedes Bewußtsein überhaupt ist entweder schon vom Charakter der Evidenz, d. i. hinsichtlich seines intentionalen Gegenstandes ihn selbstgebend, oder es ist wesensmäßig auf Uberführung in Selbstgebung angelegt, also auf Synthesen der Bewährung, die wesensmäßig zum Bereich des Ich kann gehören.«103 Wenn die Möglichkeiten der Evidenz »als Ziel einer strebenden und verwirk]ichenden Intention« ein »Grundzug des intentionalen Lebens überhaupt« ist, so ist verständlich, in welchem Sinne Husserl von der Intentionalität als einem Grundzug des Bewußtseins überhaupt spricht104. Diese teleologische Bezogenheit des Bewußtseins auf Erfüllung der bloßen Intention105 in der Evidenz der Selbstgegebenheit der gemeinten Sache ist für die Problemstellung der Husserlschen Erkenntniskritik entscheidend. Von ihr sagt Husserl ausdrücklich, daß sie die teleologischen Zusammenhänge der Erkenntnis zu klären habe. Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis transzendenter Gegenstände betrifft also die Möglichkeit der Uberführung des im bloß symbolischen Denken leer Vermeinten in den Modus anschaulicher Erfüllung. Aufklärung der Grundbegriffe und Fundamente der Wissenschaften soll vollzogen werden im Rückgang auf das anschaulich gegebene Wesen ihrer Gegenstände. In ihr erlischt alle Fraglichkeit, denn evidente Erkenntnis ist zweifelsfrei. Auch die Husserlsche Erkenntnisbegründung will also die wissenschaftliche Erkenntnis auf einen absoluten Boden zurückführen, genauer gesagt, sie will alle wissenschaftliche Erkenntnis erst in den Modus absolut evidenter, phänomenologischer Erkenntnis überführen. Auch Husserls Phänomenologie geht auf Prinzipien, auf Ursprünge zurück. Aber Prin1 0 3 Cartesianisdie Meditationen, S. 93. 104 v g i . a u c Ji Cartesianisdie Meditationen, S. 92 f.: »Im weitesten Sinne bezeichnet Evidenz ein allgemeines Urphänomen des intentionalen Lebens — gegenüber sonstigem Bewußthaben, das a priori leer, vormeinend, indirekt, uneigentlich sein kann, die ganz ausgezeichnete Bewußtseinsweise der Selbstersdieinung, des Sidi-selbst-darstellens, des Sidi-selbst-gebens einer Sadie, eines Sachverhaltes, einer Allgemeinheit, eines Wertes usw. im Endmodus des Selbst da, unmittelbar anschaulich, orginaliter gegeben. Für das Ich besagt das: nicht verworren, leer vormeinend, auf etwas hin meinen, sondern bei ihm selbst sein, es selbst schauen, sehen, einsehen.« 105
Vgl. L . U . II, 2, § 3 8 : » . . . daß die Rede von einer Intention, von einem Abzielen, eigentlich nur auf die setzenden Akte zu passen scheint. Die Meinung zielt auf die Sache, und sie erreicht ihr Ziel oder erreicht es nicht, je nachdem sie zur W a h r n e h m u n g . . . in gewisser Weise stimmt oder nicht stimmt.«
113 8
Brelage
zipiencharakter hat für ihn die im Modus der Selbstgegebenheit anschaulich gegebene Sache für alle bloß denkende Erkenntnis 108 . In diesem Sinne, nicht aber als Programm einer realistischen Philosophie, ist die Forderung »Zu den Sachen selbst!« zu verstehen. Husserl hat als Grundsatz der phänomenologischen Erkenntnisbegründung formuliert: »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition' originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. « lü1 Selbstgegebenheit ist also das Grundmaß für jede Erkenntnis. Trotz der Devise Husserls: »Möglichst wenig Verstand, aber möglichst reine Intuition« 108 ist seine Erkenntnistheorie kein reiner Intuitionismus. Sein Ideal der Erkenntnis ist nicht pure Anschauung ohne Denken, wenn ihm auch das Denken, für sich allein genommen, suspekt ist, sondern Anschauung als Erfüllung von Denkintentionen. Der Grundsatz der phänomenologischen »Aufklärung« ist also der der Autopsie, nichts als vorgegeben vorauszusetzen, nichts auf Treu und Glauben anzunehmen, was sich nicht absolut einsichtig machen läßt. Die Frage nach der Möglichkeit objektiver, wissenschaftlicher Erkenntnis, die Konstitutionsproblematik und die Lehre von der Evidenz gehören zusammen. Phänomenologische Erkenntniskritik will Wesenslehre derjenigen Denk- und Erkenntniserlebnisse sein, in denen sich die Gegenständlichkeit der Gegenstände der objektiven Wissenschaften, der anorganischen und organischen Natur u.s.f. konstitutiert 109 . Die Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse enthüllt die teleologischen Zusammenhänge der Erfüllung, Bewährung usw., in denen uneigentlich und eigentlich gebende Akte verbunden sind. In diesen teleologischen Zusammenhängen konstituiert sich die jeweilige Gegenständlichkeit der Gegenstände der objektiven Wissenschaft110. Sein, wirkliches, objektives Sein, ist Korrelat von Wahrheit. Sein als vermeintes bewährt sich in der Erfahrung oder muß durchgestrichen werden. Die Phänomenologie der Erkenntnis fragt also jeweils: In Akten welchen Wesens und welchen Aufbaus konstituiert sich Seiendes einer bestimmten Seinsart? — Der Zusammenhang von Konstitutionsproblematik und Evidenztheorie er106
Ideen I, 1. A u f l . , S . 4 4 : In der E v i d e n z liegt »ein absoluter A n f a n g , im echten Sinne zur G r u n d l e g u n g berufen, p r i n c i p i u m . «
107
Ideen I, § 24.
D i e Idee der Phänomenologie, S. 62. 109 y g [ v o r a U e m ( J a s I I . Buch der » I d e e n « : Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution; Husserliana IV. 108
110
Vgl. » I d e e n « , I I I . Buch: D i e Phänomenologie und die F u n d a m e n t e der Wissenschaften; H u s s . V.
114
gibt sich dadurch, daß Evidenz der letzte Rechtsgrund ist für das Sein von Seiendem jeglicher Art, d. h. dafür, daß Gegenstände einer bestimmten Seinsart für uns ihren Sinn als seiende haben. Daher sagt Husserl von der Evidenz, »daß sie es allein ist, wodurch wirklich seiender, wahrhafter, rechtmäßig geltender Gegenstand, welche Form und Art immer, für uns Sinn hat« 111 . So bildet etwa für die Natur die originäre äußere Wahrnehmung den Maßstab, »an dem ich messen kann als an einem letzten Maß, was Sein und Gegebensein besagen kann und hier besagen muß«112. Das Reifste, was Husserl zum Zusammenhang von Konstitutionsproblematik, Wahrheit und Wirklichkeit ausgeführt hat, findet sich in der dritten der »Cartesianischen Meditationen«. Hier ist der anfängliche statische Begriff der Intentionalität ganz und gar zugunsten des dynamischen überwunden, indem die gesamte natürliche Welterkenntnis als ein einziger teleologischer Erfahrungszusammenhang begriffen wird, dessen Korrelat die eine objektive Welt ist. In diesem Sinne sagt Husserl, »daß wirkliches Objekt einer Welt und erst recht eine Welt selbst eine unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrungen bezogene Idee ist — eine Korrelatidee zur Idee einer vollkommenen Erfahrungsevidenz, einer vollständigen Synthesis möglicher Erfahrungen«113.
2. Die phänomenologische des reinen und transzendentalen
Theorie Bewußtseins
Um der Enthüllung solcher Zusammenhänge der Konstitution willen geschieht alle phänomenologische Reduktion. Die Konstitution der Gegenstände im Bewußtsein läßt sich nur dann phänomenologisch aufklären, wenn wir die Erlebnisse nicht mehr in der Weise der natürlichen psychologischen Apperzeption als Erlebnisse realer menschlicher Individuen auffassen. Solche realen menschlichen Individuen sind Teile der einen objektiven Welt. Wenn wir die Möglichkeit der »Konstitution« der einen objektiven Welt im Bewußtsein aufklären wollen, dürfen wir dies Bewußtsein nicht als menschliches Bewußtsein apperzipieren, da wir sonst den Boden der natürlichen Weltauffassung nicht verließen. Aller Skeptizismus und Relativismus ergibt sich gerade daraus, daß auf der einen Seite zwar auf das Bewußtsein als Quelle aller Geltungen zurückgegangen wird, daß aber in dieser Reflexion zugleich dies Bewußtsein in natürlicher Weise anthropologisch, biologisch, psychologisch, historisch 111
Cartesianische Meditationen, S. 95.
113
Die Idee der Phänomenologie, S. 31.
113
Cartesianische Meditationen, S. 97.
8*
115
aufgefaßt wird. Der Fehler des logischen Psychologismus ist somit nur ein Spezialfall, der von Husserl später unter dem Titel des »phänomenologischen Scheins« thematisierten Tendenz des Bewußtseins, sich selbst von seinen Gegenständen her rückläufig aufzufassen, gegen die »Versuchungen der natürlichen Denk- und Urteilsweise« 114 . Die umfangreiche Theorie der phänomenologischen Reduktion richtet sich gegen die natürliche Selbstauffassung des Menschen. In der Phänomenologie der Erkenntnis, die die Konstitution des Weltphänomens im Bewußtsein aufklären will, sollen die Denk- und Erkenntniserlebnisse ja gerade in ihrer konstitutiven Bedeutung thematisiert werden. Um ihren transzendentalen, d. h. die Transzendenz der Welt bildenden Charakter zu enthüllen, müssen sie in phänomenologischer Reinheit gefaßt werden. Die phänomenologische Reduktion führt also auf das »reine Bewußtsein«, das nicht als Bewußtsein eines Menschen in der Welt, wohl aber als Weltbewußtsein verstanden wird. Sie ermöglicht gerade dies, das Bewußtsein nicht als Teil, sondern als Korrelat der Welt, also »die Korrelation von Welt selbst und Weltbewußtsein« zu verstehen115. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit für die transzendentale Frage, wie sich die objektive Welt mit ihrem Index der Objektivität und Transzendenz im Bewußtsein konstituiert. Denn: »Eine Welt, Seiendes überhaupt jeder erdenklichen Artung, kommt nicht 'θύραθεν* in mein Ego, in mein Bewußtseinsleben hinein« 116 . »Hätte ich keine Welterfahrung . . . , so wäre Welt für mich kein Wort mit Sinn . . . « m Auf die Enthüllung dieser Welterfahrung, durch die alles innerweltliche und transzendente Seiende seinen Sinn als Seiendes für mich erhält, ist die Methode der phänomenologischen Reduktion gerichtet. Sie führt auf das Feld des reinen und transzendentalen Bewußtsein, in dem sich alle Sinnstiftung ereignet. Husserls Lehre von der reinen und transzendentalen Subjektivität begegnet zwei Schwierigkeiten, die ihr Verhältnis zur realen, faktischen 114
D i e I d e e der Phänomenologie, S . 39. D a h e r spricht H u s s e r l bereits in den » L o g i schen Untersuchungen« ( I I , 1, S. 8) v o n dem » a u s Wesensgründen entquellenden und daher zunächst unvermeidlichen Schein, der uns so sehr nahelegt, das o b j e k t i v Logische in ein Psychologisches u m z u d e n k e n . « Vgl. auch die Ausführungen a . a . O . , S. 10 über » . . . die f a s t unausrottbare N e i g u n g , immer wieder von der p h ä n o menologischen D e n k h a l t u n g in die schlicht-objektive zurückzufallen, Bestimmtheiten, die im naiven Vollzuge der ursprünglichen A k t e deren Gegenständen z u gesprochen waren, diesen Akten s e l b s t . . . zu unterschieben.«
115
D i e K r i s i s der europäischen Wissenschaften und die transzendentale logie; H u s s . V I , S . 154.
11(5
F o r m a l e und transzendentale L o g i k , S . 221. D a s gilt auch v o n G o t t : » A u d i G o t t ist f ü r midi, w a s er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung, audi hier d a r f ich aus A n g s t v o r einer Blasphemie nicht wegsehen, sondern muß das P r o b l e m sehen. A u d i hier wird wohl, w i e hinsichtlich des Alterego, Bewußtseinsleistung nidit besagen, d a ß ich diese höchste Transzendenz erfinde und m a d i e . « (A.a.O., S. 2 2 2 ) .
117
Ideen I., S. 399.
116
Phänomeno-
Subjektivität des individuellen Menschen betreffen. Die transzendentale Phänomenologie ist ihrem Anspruch nach in einer doppelten Weise Grundwissenschaft. Sie begründet auf der einen Seite die Möglichkeit aller Erkenntnis, aller Wertung usw., und sie bildet zugleich die apriorische Grundlage der Psychologie. Innerhalb der transzendental-phänomenologischen Fragestellung ergibt sich die Problematik des Verhältnisses von reiner und innerweltlicher Subjektivität auf folgende Weise. Der Index der Objektivität wächst der Welt in meinem Bewußtsein nur insofern zu, als ich sie als Korrelat einer intersubjektiven Erfahrung denke118. Ich muß also in meinem Bewußtsein eine Sphäre anderer Subjekte konstituiert haben, damit es mir möglich wird, die Welt als die eine, ansichseiende zu erfahren. Diese anderen Subjekte müssen gleich mir als transzendentale Subjekte gedacht werden. Zugleich begegnen sie mir jedoch nur in der Welt als menschliche, an einen menschlichen Leib gebundene Subjekte. Wie ist es also möglich, dem alter ego Gleichrangigkeit mit mir zuzudenken und doch die Extramundanität des transzendentalen Subjekts aufrechtzuerhalten? Halte ich an der Extramundanität fest, dann scheint die Möglichkeit einer Subjektsvielheit hinfällig zu werden. Andererseits scheint diese Vielheit nur dadurch denkbar zu sein, daß ich die Extramundanität aufgebe. — Husserl hat sich aus dieser Schwierigkeit zu helfen gesucht, indem er gezeigt hat, wie sich im reinen Bewußtsein gleich ursprünglich die Selbstkonstitution des eigenen Ich und die Konstitution einer Monadengemeinschaft ereignet. Eine verwandte Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß alle in phänomenologischer Reinheit erfaßten Erlebnisse durch eine bloße Einstellungsänderung anthropologisch-psychologisch apperzipiert werden können. Daher kann die transzendentale Phänomenologie zugleich als Grundlage der empirischen Psychologie dienen. In beiden Fällen ergibt sich das Problem daraus, daß die reine Subjektivität zugleich als innerweltliche aufgefaßt werden kann. Wie steht es unter diesen Umständen mit der von Husserl eingeschärften Notwendigkeit der transzendentalen Reduktion und dem von ihm behaupteten absoluten Vorrang der reinen Subjektivität? Der Gedanke legt sich nahe, das Verhältnis »dialektisch« zu denken, so daß das Bewußtsein zugleich als »Korrelat« wie als »Teil« der Welt bestimmt würde. Wenn diese Auskunft mehr als ein Trick sein soll, mit dem das Problem einfach aus der Welt geschafft wird, dann muß sich dem »Zugleich« ein Sinn geben lassen, durch den die Unterschiedenheit beider Hinsichten der Bestimmung und der Vorrang der transzendentalen erhalten bleiben. Husserl hat dieser Forderung dadurch zu genügen versucht, daß er den Unterschied von empirischem und transzendentalem Ich auf zwei verschiedene Apperzeptionsweisen eines und desselben Ich zuii8 Vgl. dazu die Dissertation von D. Sinn, Die transzendentale Intersubjektivität mit ihren Seinshorizonten bei Edmund Husserl, Heidelberg 1958.
117
rückführte119. Er erkennt an, daß »das transzendentale Ich dasselbe ist, das in der Weltlichkeit menschliches Ich ist«120. Daher kann er sagen: »Es gibt so viele reine Ich als es reale Ich gibt . . . « m Die transzendentale Phänomenologie denkt sich nicht hin zu einem von mir geschiedenen Seienden, sondern enthüllt nur mein Sein in denjenigen Leistungen, die zuvor nur fungierten und in ihrem Fungieren mir als solche verborgen waren. Das transzendentale Ich ist kein anderes Ich, sondern ich selbst mit den Funktionen, durch die ich überhaupt ein Ich und ein Weltbewußtsein bin. Aber als dieses transzendentale Ich stehe ich mir in meinem natürlichen Weltleben selbst im Wege. »Audi als natürlich lebendes Ich war ich transzendental, aber ich wußte davon nichts. Um meines absoluten Eigenseins inne zu werden, mußte ich aber phänomenologische Epoche üben.«122 Husserl bestimmt also den Unterschied von mundanem und transzendentalem Subjekt als einen Unterschied der Auffassungsweise, wobei allerdings seine ganze Sorge der transzendentalphilosophischen gilt. Er hat dabei vorausgesetzt, daß nur auf diesemWege das Weltbewußtsein aus seinen Ursprüngen aufgeklärt werden könne. Begreiflich ist seine Polemik gegen die psychologische und anthropologische Apperzeption, die sich im 19. Jahrhundert als eine rein objektivistische ausgebildet hatte. Es bleibt jedoch unbefriedigend, daß er das Recht und die (begrenzte) Notwendigkeit dieser natürlichen und wissenschaftlichen Apperzeption nicht begründet hat, so daß sie mit dem Verdacht behaftet bleibt, einer bloßen Verfallens-Tendenz des natürlichen Bewußtseins entsprungen zu sein123. Husserls Feststellungen zum Verhältnis von transzendentaler und mundaner Subjektivität lassen die Frage offen, ob die Seinsthesis des natürlichen Bewußtseins hinsichtlich der Welt in ihrem Geltungsanspruch aufgeklärt werden kann, ohne daß zugleich gerechtfertigt wird, daß sich das natürliche Bewußtsein selbst als Bewußtsein in der Welt begreift. Kann das transzendentale Bewußtsein das leisten, was es leisten soll, nämlidi das Weltphänomen in sich hervorbringen und der Welt zugleich den Index einer transzendenten, unabhängigen zudenken, ohne daß es ein mundanes, innerweltliches Seiendes ist} Diese Fragen zielen darauf, daß nicht die Selbstkonstitution des Bewußtseins als mundanes allein schon genügt, um die Konstitution der Welt im Bewußtsein zu begründen, sondern daß das Sein des Be119
Vgl. Ideen II, S. 141 f.; weitere Belege bei A. Diemer, E. Husserl, 1957, S. 243, 255, 283.
120
Krisis, S. 268.
121
Ideen II, S. 110.
122
Cartesianische Meditationen, S. 15.
123
In der von Husserl autorisierten Auseinandersetzung E. Finks mit der RickertSchule tritt dies in starker Anlehnung an Heidegger deutlich hervor: »Zum Wesen der natürliAen Einstellung gehört die Verschlossenheit gegen die Dimension des .Transzendentalen', das Verfangensein in der 'Welt.« (Kant-Studien 38, S. 347).
118
wußtseins selbst in der Philosophie nicht unbefragt bleiben dürfe. In dieser Richtung ist die folgende Entwicklung audi über Husserl hinausgegangen, indem sie das Sein des Subjekts als ein notwendiges Thema der Philosophie vindizierte. Dieses Sein des Subjekts ist aber ein bedingtes. Das mundane Subjekt hat die Bedingungen seines Seins wenigstens zum Teil außer sich. Daher muß eine philosophische Theorie dieser Subjektivität ihr Verhältnis zur Welt noch in einer gänzlich neuen Weise zum Thema machen. Nicht nur die transzendentale Beziehung von Bewußtsein und »Welt« (als Weltphänomen), sondern das Seinsverhältnis des Bewußtseins zur Welt, die nicht geleistete seines Leistens ist, bedarf der Klärung. Das Versäumnis dieser Klärung ist es, das Husserls Transzendentalphilosophie mit dem Verdacht des Idealismus belastet. Wenn die Kritik von Celms, Ingarden bis Fink nachzuweisen suchte, daß Husserl seinen ursprünglich nur methodisch gemeinten Idealismus in einen spekulativen hinübergespielt habe, so ließ sich dem eventuell noch entgegenhalten, daß alle aus der Tradition übernommenen Bestimmungen des transzendentalen Bewußtseins als »Substanz« etc. in der Phänomenologie in einem radikal verwandelten Sinne zu begreifen seien. Entscheidend kann daher für die Kritik an Husserl nicht sein, ob er an dem methodischen Sinne der Reduktion festgehalten hat, sondern ob die Philosophie bei der methodischen Reduktion auf das reine Bewußtsein stehen bleiben darf. — Bevor wir uns jedoch diesen neuen Problemen zuwenden, soll zunächst das Verhältnis der transzendentalen Phänomenologie zur kritizistischen Erkenntnistheorie, als deren Nachfolgerin sie weithin gilt, besprochen werden. 3. Transzendental-phänomenologische und Erkenntnisbegründung
transzendental-logische
Husserls transzendentale Phänomenologie hat schon früh den Vergleich mit dem kritizistischen Philosophieren herausgefordert. Ein solcher Vergleich lag nahe, weil der Kritizismus die herrschende Philosophie der Jahrzehnte war, in denen Husserl seine eigene Phänomenologie ausbildete. Wenn diese auch zunächst als die große Gegenspielerin des Neukantianismus aufgefaßt wurde, so schien die Übernahme entscheidender Termini der Transzendentalphilosophie doch auf eine sachliche Annäherung hinzudeuten. Für den heutigen Rückblick stellt sich die Sachlage jedoch eher umgekehrt dar: Die bedeutsamen Ubereinstimmungen Husserls mit dem Kritizismus scheinen der Grundschicht seines Denkens anzugehören und auf dem gemeinsamen Ursprung seines Denkens und dessen der frühen Neukantianer in denselben Jahrzehnten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beruhen, während umgekehrt gerade die ähnlich 119
lautende transzendental-philosophische Terminologie die Divergenzen von Phänomenologie und Kritizismus verbirgt. Die Ubereinstimmungen liegen vor allen Dingen im Felde der tragenden Ideen der Philosophie. Husserl betont in nicht minder radikaler "Weise wie die kritizistischen Denker den Wissenschaftscharakter, der der Philosophie durch eine Revolution ihrer gesamten Denkart gesichert werden soll. J a , seine Radikalität übertrifft noch die der Neukantianer, weil er nicht den »natürlichen Dogmatismus« der Einzelwissenschaften (Rickert) hinzunehmen und zu rechtfertigen bereit ist, sondern die Verwandlung aller Wissenschaft in Philosophie fordert 124 . Diese Idee der Philosophie als einziger und absoluter wissenschaftlicher Erkenntnis deutet auf die spekulative Idee einer philosophischen Universalwissenschaft zurück, wenngleich Husserl nicht weniger rigoros als die frühen Kritizisten die Philosophie der Romantik verwirft und den Nachkantianern eine Schwächung und Verfälschung des Triebes zu strenger Wissenschaft vorwirft 125 . Wenn der Kritizismus sich selbst als Philosophie der modernen Kultur begriff und in der Korrelativität von philosophischer Reflexion und einzelwissenschaftlicher Gegenstandserkenntnis die Autonomie der Erfahrung gegenüber der Philosophie sicherstellte, so tritt bei Husserl eine Kritik der neuzeitlichen Entwicklung auf, die sich gegen den Objektivismus der positiven Wissenschaften überhaupt wendet. Wir werden noch sehen, wie dieser Unterschied letzen Endes auf eine andere Herkunft der Idee der Wissenschaft und der Philosophie zurückweist. — Dem rigorosen Pochen auf Philosophie als strenger Wissenschaft widerspricht nicht die letztlich religiöse Motivation Husserls; denn das ist das Eigentümliche dieser Idee einer Wissenschaft aus reiner und absoluter Erkenntnis, daß Husserl gerade von ihr die Lösung aller Kultur- und Lebensprobleme erwartet. Nicht eine reinliche Scheidung von Philosophie und Leben wird im Interesse der Wissenschaftlichkeit der Philosophie postuliert, sondern die Philosophie als Selbsterkenntnis der transzendentalen Subjektivität, die der »lebendige Quell des absoluten Lebens« ist12®, soll das von Skeptizismus und Relativismus umgetriebene natürliche Bewußtsein erlösen. Philosophie ist als Kontemplation des absoluten Lebens ein Leben in der Wahrheit und aus der Wahrheit; — keine Rede also von einem Primat des Praktischen. Wie Husserls Idee der Philosophie so hat auch seine Idee der Subjektivität, wie hier nur angedeutet werden soll, geschichtlich andere Wurzeln. Wenn E. Cassirer darauf hinweist, daß der moderne, »kritische« Begriff der Subjektivität im Gegen124
Die Vorläufigkeit aller positiven Erkenntnis lehrte von den Neukantianern allein E. Lask, der auch im übrigen sich stark an den Husserl der »Logischen Untersuchungen« anlehnte.
125
Vgl. »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Logos I, S. 292.
128
Formale und transzendentale Logik, S. 246.
120
satz zu dem der psychologischen und religiösen Innenwendung entstammenden Begriff des Selbstbewußtseins konzipiert sei, wie dieser etwa im Neuplatonismus, bei Augustin und in der Neuzeit wieder bei Descartes ausgebildet worden sei, so gehört Husserls Lehre von der reinen und transzendentalen Subjektivität gerade dieser Linie der Geschichte an. Nicht umsonst steht am Schluß der »Cartesianischen Meditationen« das Wort Augustins: N o l i fores ire, in te redi, in interiore homine habitat Veritas. Nicht Kant, sondern Fichte ist derjenige Denker der Neuzeit, dem sich Husserl annähert. Wenn H . Cohen Fichtes Fortbildung der Transzendentalphilosophie deshalb verwirft, weil dieser letzten Endes alle Probleme auf das der Selbstkonstitution des Ich zurückgeführt habe, so finden wir bei Husserl gerade diesen Gedanken wieder, daß die K o n stitution des Ich für sich selbst alle Konstitutionsprobleme umfasse. V o n den neukantianischen Kant-Interpreten ist es daher auch nicht Cohen oder Rickert, sondern Riehl, dessen Auffassung Husserl am nächsten kommt 127 . Ubereinstimmung herrscht zwischen Husserl und den Kritizisten darüber, daß nur eine Reflexion die positive oder natürliche Erkenntnis begründen könne und daß diese Reflexion den Rückgang bedeute auf eine transzendentale Subjektivität, die den Grund abgibt für die Geltung aller Erkenntnis. Ubereinstimmung herrscht ferner darüber, daß diese Reflexion von der psychologischen Erkenntnis unterschieden und von aller metaphysischen Erkenntnis unabhängig sei, daß daher auch die reine und transzendentale Subjektivität von der spezifisch menschlichen streng zu unterscheiden sei. Aber in solchen schematischen und formalen Ubereinstimmungen erschöpft sich auch fast die Gemeinsamkeit der beiderseitigen Idee der Transzendentalphilosophie. Der Ausgangspunkt der kritizistischen Reflexion ist das Faktum der positiven Wissenschaft, das aus seinen Bedingungen der Möglichkeit begriffen und in seiner Geltung gerechtfertigt werden soll. Die kritizistische transzendentale Reflexion ist geltungslogische Reflexion. Ihr V o r w u r f ist die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, die die Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis definiert. Ihr Ziel ist die Aufdeckung und Legitimation der Prinizipien, welche die Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis ermöglichen. Diese Prinzipien sind apriorische Begriffe und Grundsätze, sie gehören also, wie dies von Natorp als Charakteristikum der objektiven Erkenntnisbegründung ausdrücklich herausgestellt worden ist, derselben Dimension an, wie das durch sie Ermöglichte. Sie sind Geltungsvoraussetzungen aller wissenschaftlichen Erfahrung, die in jeder Erfahrung vom Gegenstand schon vorausgesetzt sind, weil sie die Bedingung 127
Vielleicht spielt dabei die gemeinsame H e r k u n f t aus dem österreichischen R a u m eine Rolle. A u f f ä l l i g ist audi, daß Riehl ebenso wie Husserl K a n t in besonders intensiver Weise mit H u m e und dem englischen Empirismus in Verbindung bringt.
121
der Möglichkeit dafür bilden, daß sich Erkenntnis auf Gegenstände beziehen kann. Daher kann ihre Geltung nicht durch Erfahrung begründet werden. Da Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit nur wissenschaftlichen Urteilen als solchen zukommen kann, sind sie Urteilsprinzipien und ist die transzendentale Reflexion »Logik«. Das Begründungsverhältnis, das zwischen den Prinzipien und der Erfahrung waltet, ist kein formal-logisches (deduktiv schließendes), sondern ein transzendental-logisches, ein Verhältnis zwischen der begründungsbedürftigen Erfahrung und den ihre Geltung begründenden, selbst nicht erfahrbaren Prinzipien. Anders Ausgangs- und Zielpunkt der phänomenologischen Erkenntnisbegründung: Gegenstand dieser Begründung ist die natürliche, wissenschaftliche und verwissenschaftlichte Einstellung, das auf transzendente Realitäten gerichtete natürliche Erkennen. Nicht Urteile und ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit, nicht Erkenntnis in diesem prägnanten Sinne, sondern das erkennende Bewußtsein in seiner Polarität von Intention und Intendiertem, cogitatio und cogitatum, Noesis und Noema ist der Gegenstand der phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis. Auch ihr geht es um Geltung und Wahrheit, aber Geltung und Wahrheit sind nicht verstanden als Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit von Urteilen, sondern als Deckung von bloß Gedachtem und anschaulich Gegebenem. Die phänomenologische Erkenntnisbegründung zielt nicht auf die Aufdeckung vorausgesetzter Geltungsprinzipien, nach deren Aufdeckung die Erkenntnis selbst durchaus in ihrer Autonomie, nur als gerechtfertigte und begriffene Autonomie, fortbestünde, sondern auf eine Befreiung des erkennenden Bewußtseins von allen Vorurteilen, auf eine Uberführung aller Vor-Urteile in Anschauung. Im Sinne einer solchen »Anmessung an die Urquellen der Geltung, an die der reinen Intuition«128, liebt es Husserl, die Aufgabe der Phänomenologie durch das Bild der Einlösung aller Wechsel, die die Theorie auf die Erfahrung zieht, zu illustrieren. Wenn der Terminus a quo der phänomenologischen Erkenntnisbegründung die transzendente Erkenntnis ist, so ist ihr Terminus ad quem die immanente, ihren intentionalen Gegenstand im Charakter des leibhaften Selbst gebende originäre Wahrnehmung. Sie ist nicht Analyse ungegenständlicher Prinzipien, sondern ein ausgezeichneter Modus von Erfahrung. Nicht Erfahrung und Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung heißt hier der Unterschied, sondern transzendente und immanente, natürliche und phänomenologische Erfahrung. Wenngleich Kritizismus und Phänomenologie auf einen letzten Boden, einen »Urquell alles Rechtes«129 zurückgehen, so legen sie den Schnitt zwischen begründungsbedürftiger und begründender Erkenntnis doch an einer anderen Stelle. Beide Gegenstandsdimensionen überschneiden sich. Das 128
Ideen I, 1. Aufl., S. 151.
120
A.a.O., S. 293.
122
wird deutlich in der Polemik zwischen Phänomenologie und Kritizismus hinsichtlich der Methode der Erkenntnisbegründung. Beide haben sich einen Mangel an Radikalität vorgeworfen. Für den Kritizismus war alles das, wobei die Phänomenologie als bei einer letzten Gegebenheit stehenblieb, ein Vorletztes, Begründungsbedürftiges. Denn sie forderte, alles Gegebene aus seinen Prinzipien zu begreifen. Keine Frage, daß die letzten Gegebenheiten der Phänomenologie selbst noch etwas Konkretes, konkrete Gegenständlichkeit und nicht ungegenständliche Gegenstandsmomente, daß die evidente Erkenntnis konkrete Erkenntnis und nicht Erkenntnis von logischen Geltungsprinzipien ist. Phänomenologische Erkenntnis bezeichnet sich selbst als (immanente) »Erfahrung«, nicht aber als Analyse. Mag daher die Evidenz, phänomenologisch gesehen, auch ein letztes und unbezweifelbares Datum sein, so ist sie im Sinne des Kritizismus doch immer noch ein auf die Bedingungen seiner Möglichkeit Zurückzuführendes. Die Kritik der Kritizisten richtete sich vor allem dagegen, daß die Phänomenologie als Wissenschaft selbst nicht ihre Geltung zu begründen vermöchte. Diese Kritik setzte dabei ein, daß doch auch der Phänomenologe wissenschaftliche Urteile fällt, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, daß er also als urteilender die Prinzipien der Geltung wissenschaftlicher Urteile voraussetzt, ohne sie zu begründen. — Umgekehrt kritisiert Husserl an der transzendentalen Logik Kants und der Neukantianer, deren Unterschiedenheit von der transzendentalen Phänomenologie er durchaus erkennt130, daß es ihr an einer phänomenologischen Aufklärung ihrer Fundamente mangelte. Die transzendentale Logik müsse in einer transzendentalen Phänomenologie verankert werden. Daher sieht er das entscheidende Versäumnis Kants (unter dem angeblichen Einfluß Wolffs) in dem Abgehen von der subjektiven Deduktion der ersten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«. Schon in den »Logischen Untersuchungen« hatte Husserl das Verhältnis von reiner Logik und Phänomenologie so gedacht, daß die reine Logik noch einer phänomenologischen, erkenntnistheoretischen Begründung bedürfe. Das war im ersten Band, der nur die Kritik des logischen Psychologismus und die Idee einer reinen Logik enthielt, nicht zum Ausdruck gekommen. Daher konnte diese reine Logik von den Neukantianern als »philosophia prima« verstanden und begrüßt werden131. Die Unter130
Vgl. Kritische Ideengeschichte, S. 280 ff.
131
Vgl. N a t o r p s Besprechung des 1. B a n d e s der »Logischen Untersuchungen« in d e n K a n t s t u d i e n V I , 1901. R . Boehm hat in seiner Einleitung zur »Kritischen Ideengeschichte« (Huss. V I I , S. X V I I I ff.) vermutet, daß es N a t o r p » u n d nicht H u s s e r l selbst war, der zuerst die neue P h ä n o m e n o l o g i e ' in dem ihr innerlich notwendigen Anspruch erkannte, eine Erste Philosophie zu begründen, und dies mit eben diesem Worte aussprach.« D i e Vermutung geht jedoch fehl, d a sich N a t o r p s Besprechung nur auf den I. B a n d der »Logischen Untersuchungen« bezieht. D i e Bezeichnung » E r s t e Philosophie« zielt also auf H u s s e r l s Idee der »reinen L o g i k « , nicht aber a u f
123
suchungen des zweiten Bandes, die eine erkenntnistheoretische Begründung der reinen Logik einleiten sollten, mußten daher von den Kritizisten als Rückfall in eine subjektive, psychologische Erkenntnisbegründung verstanden werden. Die ganze Divergenz der kritizistischen und phänomenologischen Idee einer transzendentalen Logik enthüllte jedoch erst Husserls Werk über »Formale und transzendentale Logik«. Es enthält eine Analyse der Konstitution der logischen Gegenständlichkeiten in der transzendentalen Subjektivität, für die die reine Logik nur den »Leitfaden« hergibt. Wenn die kritizistische transzendentale Logik die philosophische Grundwissenschaft katexochen ist, so ist die transzendentale Logik Husserls nur e i n Beispiel konstitutiver Phänomenologie neben anderen. Schon diese bisherige Analyse zeigt, daß Phänomenologie und Kritizismus sich nicht wechselseitig ausschließen oder in einem einseitigen Begründungsverhältnis zueinander stehen, weil ihre Problemdimensionen nicht zusammenfallen, sondern sich überschneiden. Der Vorwurf mangelnder Radikalität, der von beiden Seiten erhoben wurde, besteht zu Recht, weil es verschiedene Ursprünge sind, in die die kritizistische und die phänomenologische Reflexion zurückgehen. Der Kritizismus hält ein bei transzendentalen Prinzipien, deren Geltung nicht in Frage gestellt werden kann, weil sie in jedem Versuch einer Kritik oder einer Begründung immer schon als geltend vorausgesetzt sind. Die Phänomenologie endet bei reinen Noesen, die nicht bezweifelt werden können, weil sie evident sind. Noch größer werden die Schwierigkeiten, wenn man die Subjektstheorien beider Spielarten der Transzendentalphilosophie miteinander vergleicht. Die neueren philosophiehistorischen Darstellungen der Entwicklung der Gegenwartsphilosophie sehen in der Husserlschen Theorie der transzendentalen Subjektivität einen bedeutsamen Fortschritt über den Kritizismus hinaus. Während die Neukantianer nur ein formales und singuläres »Bewußtsein überhaupt« als Subjekt der Erkenntnis in Ansatz gebracht hätten, seien Husserl einige bedeutsame Konkretisierungen der erkennenden Subjektivität gelungen. Erstens habe er die transzendentale Subjektivität konkret als Mannigfaltigkeit von Akten und das strömende Bewußtseinsleben gefaßt. Zweitens sei es ihm gelungen, die Problematik der InterSubjektivität, der Vielheit der Subjekte, in die Transzendentalphilosophie einzuführen. Drittens habe er durch seinen neuen BewußtseinsbegrifF den erkenntnistheoretischen die »Phänomenologie«. N u r die Logik ist im Sinne der Marburger Sdiule Grundwissenschaft. Die »Phänomenologie« hingegen ist von N a t o r p stets nur zu seiner »Allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode« in Beziehung gesetzt worden; sie aber war ihm nicht »erste«, sondern »letzte« Philosophie. — Vgl. im übrigen auch das Urteil Cohens über die Phänomenologie in der »Logik der reinen Erkenntnis«, 2. Aufl., S. 55 f., für den ebenfalls entscheidend ist, daß die Phänomenologie der Logik eine Vorarbeit leisten will.
124
Ansatz eines weltlosen Subjekts überwunden. Und ferner habe er die ersten Schritte zur Erkenntnis der ursprünglichen Zeitlichkeit der Subjektivität und ihrer Geschichtlichkeit (als Substrat der Habitualitäten) getan. Diese Darstellung findet sich vor allem bei Denkern aus dem Unkreise Heideggers, die die Husserlsche Subjektstheorie als Stadium auf dem Wege vom Neukantianismus zur Hermeneutik des Daseins interpretieren132. Sie krankt jedoch daran, daß sie nicht danach fragt, ob denn die Problematik des Kritizismus, auf die seine Subjektstheorie eine Antwort gibt, überhaupt solche Konkretisierungen sinnvoller Weise zulassen könne. Der kritizistische Begriff der Subjektivität (der »transzendentalen Apperzeption«, des »Bewußtseins überhaupt« o. ä.) bezeichnet den Inbegriff der reinen Geltungsprinzipien, die die wissenschaftliche Erfahrung und die Gegenständlichkeit der in dieser Erfahrung begriffenen Gegenstände ermöglichen. Sie ist eine reine Geltungsgröße, die in ihrer Prinzipienvalenz aufgeht. Die Reinheit dieser Subjektivität meint ihre Apriorität gegenüber dem von ihr Ermöglichten. Dieser reinen und transzendentalen Subjektivität Konkretheit, Pluralität, In-der-Welt-sein, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zuzudenken, würde in reinen Widersinn führen. Das subjectum allgemeingültiger Erkenntnis läßt als Inbegriff von Geltungsprinzipien solche Konkretisierungsversuche nicht zu, da ein jeder zur Aufhebung der strengen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Erkenntnis führen müßte. Bei Husserl ist das reine und transzendentale Bewußtsein, auf das die phänomenologische Selbstbesinnung führt, kein Inbegriff apriorischer Prinzipien, sondern die zu einem reinen Ich gehörige Mannigfaltigkeit strömender intentionaler Erlebnisse. Die Reinheit dieser transzendentalen Subjektivität kennzeichnet sie nicht als Geltungsgröße im Gegensatz zur Erfahrung, sondern bedeutet die nach der Einklammerung der transzendenten Welt als Feld phänomenologischer Erfahrung verbleibende Immanenz des Bewußtseins. Reinheit ist hier gleichbedeutend mit Extramundanität, ihr Gegenbegriff ist das als menschliches apperzipierte Bewußtsein. Reinheit und Absolutheit sind Kategorien, die die Weise der Gegebenheit des Bewußtseins in der transzendental-phänomenologischen Erfahrung bezeichnen. Wenn Husserl das reine Bewußtsein als »Residuum der Weltvernichtung« charakterisiert und von ihm sagt:» Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell nulla ,re' indiget ad existendum« 133 , so meint er damit trotz der ontologischen Ausdrucksweise nicht die ontisdie Substanzialität des Bewußtseins. Der Unterschied des absoluten Seins des Bewußtseins vom relativen Sein der transzendenten Welt ist nicht ontologisch, sondern 132 Yg] aber a u c jj 133
Wagner in der angeführten Besprechung des Husserl-Nachlasses.
Ideen I, 1. Aufl., S. 92. 125
erkenntnistheoretisch. Er betrifft die Weise der möglichen Gegebenheit134. Husserls transzendentale Subjektivität ist gewiß konkret. Sie ist zugleich als Weltbewußtsein eine transzendentale und keine pure Weltgröße. Das Novum der Husserlschen Subjektstheorie gegenüber der kritizistischen ist dies, daß er entdeckte, daß man von dem konkreten Bewußtsein, das die Kritizisten aus der Transzendentalphilosophie verwiesen und der Psychologie überantwortet hatten, durchaus auch in einem streng philosophischen und transzendentalen Sinne sprechen kann und sprechen muß. Das konkrete Bewußtsein ist nicht nur ein hinter der Idee reiner Geltung zurückbleibendes »empirisches« Bewußtsein, sondern es ist selbst als Inbegriff von Leistungen, denen die Welt Gegenständlichkeit für die Subjektivität verdankt, ein Ursprung, Prinzip. Der Fortschritt der Husserlschen Subjektstheorie bezieht sich also gar nicht auf die kritizistische Theorie des »Bewußtseins überhaupt«, sondern auf deren Verhältnis zur konkreten Subjektivität. Nicht die kritizistische reine Geltungstheorie, sondern ihre Theorie der Psychologie erfährt durch sie eine Korrektur. Andererseits bleibt das Recht der kritizistischen Subjektstheorie unangefochten. Denn wenn die reine und konkrete Subjektivität dies leisten soll, sich die Welt in gültiger Weise zum Objekt zu machen, so kann sie dies nur, wenn sie zu dieser ihrer Subjektivität befähigt wird durch den Inbegriff der reinen Geltungsprinzipien, die der »kritische« Begriff der Subjektivität meint. Weder der Vorwurf mangelnder Konkretion noch auch der umgekehrte Vorwurf einer ontologischen Bestimmung der erkenntnistheoretischen Subjektivität treffen also den legitimen Kern der beiden Philosopheme. III. E R K E N N T N I S T H E O R I E
UND
DENKPSYCHOLOGIE
Während etwa um die Jahrhundertwende der Kampf gegen die psychologistisdie Logik, vor allem durch die »Logischen Untersuchungen « Husserls, mit einem vollen Sieg des Antipsychologismus geendet hatte und der Ausbildung einer reinen Logik nichts mehr im Wege zu stehen schien, nahm die zukünftige Entwicklung doch einen anderen Verlauf. Schon die Arbeit Husserls der folgenden Jahre galt nicht der »reinen Logik«, sondern der »Phänomenologie«. Von verschiedenen Seiten her setzt aber zugleich eine andere Bewegung ein, die sich in gewisser Weise als eine Metakritik des elementaren Antipsychologismus verstehen läßt. Husserl und die Kritizisten hatten sich in diesem Antipsychologismus getroffen. Die Gegenbewegung, die um das Jahr 1912 einen ihrer Höheisi Vgl. a . a . O . , S. 8 4 : »Die Seinsart des Erlebnisses ist es, in der Weise der Reflexion prinzipiell wahrnehmbar zu sein.« Alles Transzendente ist hingegen prinzipiell nur unabgeschlossen und in »Abschaltungen« gegeben. — Diesen »erkenntnistheoretischen« Sinn der Unterscheidung haben die Kritiker Husserls verfehlt, die ihm, wie Zocher oder Wagner, einen »Ontologismus in der Grundlehre« vorwerfen.
126
punkte erreicht, drängt einmal in der Philosophie selbst auf die Revision einer Systematik, die den lebendigen Geist ganz aus ihrem Rahmen verbannt hatte, und sie zielt zum andern auf eine Revision des der Antipsychologismus-Kritik zugrunde liegenden Begriffs der Psychologie. Die erste Bewegung, die sich durchaus audi innerhalb des Kritizismus, vor allem in den Schriften seiner jüngeren Denker, dokumentiert, begegnet sich mit dem großen Strom der zeitgenössischen Lebensphilosophie (Nietzsche, Dilthey, Bergson, Simmel), der in dieser Zeit seinen ersten Höhepunkt erreicht. Auch die Kritik an Begriff und Grundlagen der Psychologie reicht über die Fachphilosophie hinaus und findet Anlaß und Bestärkung in der derzeitigen Entwicklung der empirischen Psychologie. Für beide Richtungen, die sich ergänzen, bildet die Phänomenologie so etwas wie einen Konvergenzpunkt. Innerhalb des Kritizismus der beiden Schulen läßt sich die veränderte Problemsituation etwa bei E. Lask und N . Hartmann verfolgen. Jeder von ihnen grenzt in den Schriften dieser Jahre den Bereich einer reinen Kategorienlehre des Seins ab gegenüber einer Sphäre konkreter Subjektivität, die jedoch nicht mehr mit der Problemsphäre der empirischen Psychologie identifiziert wird 135 . Aber auch die älteren Denker wie P. Natorp und H . Rickert ringen in diesen Jahren mit einer erneuten Bestimmung des Verhältnisses von reiner Logik und einer Psychologie, für die charakteristisch ist, daß sie nicht mehr als empirische oder experimentelle, sondern als philosophische oder transzendentale Psychologie verstanden wird 136 . Für die Phänomenologie ist etwa auf die Arbeiten M. Schelers zu verweisen, in denen ebenfalls eine strikte Abgrenzung der phänomenologischen und experimental-psychologischen Betrachtungsweisen vorgenommen wird 137 . Ubereinstimmung Vgl. E . L a s k , D i e L o g i k der Philosophie und die Kategorienlehre, 1911, W W I I , und die Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, die im 3. B a n d seiner Gesammelten Schriften herausgegeben worden sind. D i e Aufzeichnungen der J a h r e k u r z vor dem ersten Weltkrieg lassen deutlich einen Umschwung v o n der rein gegenständlich konzipierten L o g i k zur lebendigen Subjektivität erkennen. (Derselbe A b s t a n d macht sich audi in den Erstlingsschriften M. Heideggers bemerkbar, der — unter dem E i n fluß von E . L a s k — in seiner Dissertation » D i e L e h r e v o m Urteil im Psychologism u s « , 1914, m i t einer E r g ä n z u n g der Psychologismuskritik begann und i m Ausblick seiner Habilitationsschrift » D i e Kategorien- und Bedeutungslehre des D u n s S c o t u s « , 1916, eine M e t a p h y s i k des lebendigen Geistes forderte.) Für N . H a r t m a n n vgl. besonders die A b h a n d l u n g » S y s t e m b i l d u n g und I d e a l i s m u s « in der Festschrift f ü r H . Cohen, 1912, in der eine zwischen der » L o g i k des Seins« und der Psychologie vermittelnde Erkenntnistheorie postuliert wird (neuerdings wieder abgedruckt in: Kleinere Schriften, B d . I I I , 1958, vgl. audi die Besprechung des V e r f . in K a n t studien, B d . 53, 1961/62, S. 107 ff. ΐ3β V g i . ρ N a t o r p , Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Teil I, 1912, u n d : Philosophie und Psychologie, in: L o g o s 4, 1913; H . Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, in: K a n t - S t u d i e n X I V , 1909. i s t Y g ] Z u r Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, 1913, und die P h ä nomenologie der Person, in: D e r Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, II. Teil, 1916.
135
127
herrscht in all diesen Versuchen darüber, daß die konkrete Subjektivität ein legitimes und notwendiges Thema der Philosophie selbst sei und daß sie nicht mit dem Gegenstand der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie zusammenfallen könne. Nicht mehr das Verhältnis von reiner Logik einerseits und empirischer Psychologie andererseits, sondern das Verhältnis dieser empirischen Psychologie zu einer philosophischen Theorie der konkreten Subjektivität steht nun zur Debatte. In einer Abhandlung zu Husserls Idee einer reinen Logik hatte W. Schuppe bereits im Jahre 1901 den in Husserls Psychologismus-Kritik leitenden Begriff der Psychologie in Frage gestellt133. Ohne Zweifel war durch diese Kritik nur eine naturwissenschaftlich verfahrende, gesetzeserkennende Psychologie in ihrem Rechte begrenzt worden. Wie wenig von Husserl selbst zunächst an eine generelle Ausschaltung aller Psychologie gedacht war, zeigte sich darin, daß er seine Phänomenologie beim Erscheinen der »Logischen Untersuchungen« noch als »deskriptive Psychologie« ansprechen konnte. W. Dilthey dürfte wohl der erste gewesen sein, der die Phänomenologie mit seiner Idee einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie in Verbindung gebracht hat. Vor allem aber wurde die Phänomenologie bedeutsam für die Entwicklung der innerhalb der Psychologie selbst aufkommenden Gegenströmungen gegen die sensualistische Assoziationspsychologie, die sich unter dem Titel einer Denkpsychologie formierten; die Schulen Brentanos und seiner Schüler Meinong und Husserl, sowie die sog. Würzburger Schule O. Külpes und die verstehende oder geisteswissenschaftliche Psychologie Diltheys, Sprangers und Jaspers wirkten hier zusammen. Das ist die Problemlage kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, die auch noch die Entwicklung der Philosophie in den zwan13S
Zum Psychologismus und zum Normcharakter der Logik. Eine Ergänzung zu Husserls ,Logisdien Untersuchungen', in: Arch. f. Philos. VII, 1901, S. 1 f.: »Wenn H . prinzipiell zweifelt', wie sich die Objektivität der Mathematik und aller Wissenschaft überhaupt mit der psychologischen Begründung des Logischen vertrage, so muß ich zuerst darauf hinweisen, daß offenbar eine Ansicht über Begriff und Grenzen der Psychologie vorausgesetzt, aber verschwiegen ist.« — D a ß sich auch Husserl darüber im klaren war, daß seine Kritik zunächst nur die naturwissenschaftliche Psychologie seiner Zeit trifft, zeigt eine Stelle aus einem Brief an E. Hocking (vom 2 5 . 1 . 1903): »Bekämpfe ich als .Psychologismus' die Begründung der reinen Logik ( = Mathesis universalis) und der Erkenntniskritik durch ,Psychologie', so ist unter Psychologie die genetische Psychologie, die naturwissenschaftliche Psychologie, verstanden, die metaphysisch und erkenntniskritisch so naiv ist, wie die physische Naturwissenschaft. Will man den Begriff der Psychologie weiter fassen, soweit, daß von einer Fundierung der Erkenntniskritik durch Psychologie gesprochen werden darf, dann müßte die ganze Sphäre der apriorischen Grenze als apriorische Psychologie hinzugenommen werden und diese apriorische phychologische wäre nicht mehr humane und animalische, eben empirische Psychologie; sie enthielte die Gesetze, die für das humane Bewußtsein gelten, weil sie (eben als apriori) für jedes Bewußtsein überhaupt gelten.«
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ziger Jahren bestimmte. Die Philosophie nach dem zweiten Weltkrieg ist vor allem durch zwei Themen zu kennzeichnen: durch das Thema einer universalen Theorie des Gegenständlichen, sei diese nun als allgemeine Logik oder allgemeine Ontologie konzipiert, und durch das Thema einer Theorie der konkreten Subjektivität, sei diese nun als Monade, realer Geist oder Dasein verstanden. Auf der einen Seite geht es also um die Bestimmtheit alles Bestimmten, das Sein des Seienden, und auf der anderen Seite um das Sein derjenigen Subjektivität, die in einem prinzipiellen, wenngleich endlichen Bezug zum Gegenständlichen schlechthin lebt. Dadurch ist diese Phase der Problementwicklung von der von uns bisher besprochenen grundsätzlich unterschieden, daß das Gegenständliche, Bestimmte, Seiende, als von der Subjektivität Unabhängiges, und diese Subjektivität nicht mehr als seinssetzende oder konstituierende transzendentale Subjektivität, sondern als hinnehmende, endliche verstanden wird. Dennoch aber wird diese konkrete Subjektivität nicht schlechthin gleichgesetzt mit dem Gegenstand der empirischen Psychologie. Drei Denker sind es, die diese neue Problemlage entfaltet haben: R. Hönigswald, N . Hartmann und M. Heidegger. Hartmann und Heidegger haben dabei, teils nacheinander, teils gleichzeitig einen bedeutsamen Einfluß auf die gesamte zeitgenössische Philosophie ausgeübt. Hönigswald hingegen ist vor seiner Emigration im Jahre 1939 nur in den zwanziger Jahren von einigem Einfluß gewesen, der sich jedoch nicht mit der breiten Wirkung Hartmanns und Heideggers vergleichen läßt139. Erst in den letzten Jahren hat das Interesse an ihm zugenommen, seit man zu sehen gelernt hat, daß er in zentralen Problemen Antipode Husserls, Hartmanns und Heideggers ist140. Sein umfangreicher Nachlaß erscheint seit einigen Jahren in Deutschland 141 . Daß es zu einer Hönigswald-Renaissance kommen wird, ist jedoch bei der Schwierigkeit dieses Autors nicht zu erwarten. Hönigswalds Schriften setzen an jeder Stelle die Präsenz seines gesamten Systems voraus. Das hat seinen Grund nicht nur in dem eigentümlich kreisenden Denkstil, sondern auch in seiner Uberzeugung von der unaufhebbaren Symploke aller philosophischen 139
Eine intensive Einwirkung Hönigswaldscher Gedanken liegt bei Theodor Litt vor; vgl. dessen »Einleitung in die Philosophie«, 1933; ferner bei S. Mardc und H . Heyse. Von den beiden Schülern Hönigswalds H . Folwart und W. Cramer ist nur der letztere nach 1945 mit einer originellen Fortbildung Hönigswaldscher Gedanken hervorgetreten. Vgl. Die Monade, 1954; Grundzüge einer Theorie des Geistes, 1958.
140
Vgl. außer den genannten Schriften von Cramer - Η . Wagner, Kritische Bemerkungen zu Husserls Nachlaß, in: Philosophische Rundschau I, 1953, und D. Henrich, Über die Grundlagen von Husserls Kritik der Philosophischen Tradition, in: Philosophische Rundschau, 6, 1958.
141
Vgl. Schriften aus dem Nachlaß, hg. v. G. Wolandt im Auftrage des HönigswaldArchivs, Würzburg, Bd. I—IV, 1957 ff.; vgl. die Besprechung des Verf. zu Bd. I, Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. X L V I I , 1961, S. 250 ff.
9
Brelage
129
Probleme. Hinzu kommt, daß das Verständnis seiner Problemstellung eine große Vertrautheit mit der Philosophie der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts voraussetzt, die heute nur noch selten gegeben ist. Da es bisher an Sekundärliteratur über ihn noch völlig mangelt, kann unser Versuch einer Konfrontation Hönigswalds mit dem Kritizismus, Husserl, Hartmann und Heidegger zugleich als eine Hinleitung zum Werke dieses bedeutenden Denkers dienen142. Wir beginnen unsere Analyse der neuen Problemphase mit einer Untersuchung der Philosophie Hönigswalds, weil diese in einem stärkeren Maße der Problemstellung der Philosophie vor dem ersten Weltkrieg verbunden ist, als dies von den Philosophien Hartmanns und Heideggers gelten darf. Hönigswald hat sich selbst stets zu Kant und der Idee einer kritischen Philosophie bekannt, ohne dodi daraus ein dogmatisches Bekenntnis zum Kritizismus zu machen. Seine Philosophie wahrt daher am stärksten die Kontinuität mit der kritizistischen Transzendentalphilosophie, von der wir unseren Ausgang genommen haben. Außer dem Kritizismus ist jedoch für die Entwicklung seines Denkens vor allem audi die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie und Gegenstandstheorie von Bedeutung gewesen143. Seine Berührung mit der Psychologie A. Meinongs, in dessen Grazer psychologischem Institut er gearbeitet hat, und die intensive Beschäftigung mit dem zweiten Band von Husserls »Logischen Untersuchungen« haben seine prinzipiellen Überlegungen zur philosophischen Bedeutung der Denkpsychologie entscheidend bestimmt. Die Ansätze zu einer neuen Ontologie und Metaphysik sowie die philosophische Anthropologie und die Existenzphilosophie haben auf die Ausgestaltung seines Denkens nicht mehr eingewirkt, wenngleich sich zu ihnen, gerade von seiner zentralen Problematik her, wichtige Beziehungen hätten ergeben können. Sie waren für ihn nur noch Gegenstand der Polemik. 1.
Die Theorie der
Gegenständlichkeit
Die Bedeutung Hönigswalds für die gegenwärtige Problemsituation beruht nicht darauf, daß er die kritizistische Transzendentalphilosophie übernommen hat, sondern daß er sie in einer Form der Gegenwart über142
An älterer Literatur vgl. S. Marek, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, 2. Halbband, 1931, S. 15—43, und ders., Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus, in: Arch. f. Philosophie 3, 1949. Eine ausführliche Arbeit von G. Wolandt, Gegenständlichkeit und Gliederung. Untersuchungen zur Prinzipientheorie R. Hönigswalds, ist dem Verf. im Typoskript zugänglich gewesen. Vgl. von dems., Problemgeschichte, Weltentstehung, Mythos und Glaube in der Philosophie R. Hönigswalds, in: Zeitschrift für philos. Forschung, XII, 1958, S. 188 ff.
143
Auf das Denken Natorps und Husserls haben die Arbeiten Hönigswalds, deren bedeutendste erst nach 1925 erschienen, keinen Einfluß mehr ausüben können.
130
liefert hat, die eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, der neuen Ontologie und der Fundamentalontologie ermöglicht, mit denjenigen philosophischen Mächten also, die auch noch für unser gegenwärtiges Denken bestimmend sind. Seine Fortbildung des Kritizismus bedeutet allerdings keine bloße Ergänzung. Solche Ergänzungen sind in Anbetracht der jeweiligen Ganzheit der Philosophie stets nur in beschränkter Weise möglich. Die Gestalt, die Hönigswald der Transzendentalphilosophie gegeben hat, stellt daher zugleich eine Radikalisierung dar, durch die auch der ursprüngliche Kritizismus in Frage gestellt wird. Das beweisen die mannigfachen Stellen im Werke Hönigswalds, an denen er explizit und implizit an Lehrstücken der Marburger und der Südwestdeutschen Schule Kritik geübt hat. Dennoch ist seine Zugehörigkeit zum Kritizismus nicht zu leugnen. Mit diesem fordert er eine wissenschaftliche Philosophie und im Sinne A. Riehls nennt er diese schlechthin »Erkenntnistheorie«. Daneben finden sich jedoch auch andere Bezeichnungen, die für Hönigswald nur ein und dieselbe Aufgabe meinen: Philosophie als Theorie des Gegenstandes, Philosophie als Theorie der Prinzipien, die die Gegenständlichkeit des Gegenstandes bedingen, oder Philosophie als Theorie der Gegenständlichkeit. Vorübergehend, so in dem Werke »Philosophie und Sprache« (1937), beschränkte sich Hönigswald auch auf den schlichten Ausdruck »Philosophie« ohne jeden determinierenden Zusatz. Es bedarf keiner Frage, daß Hönigswalds Bezeichnung seiner Philosophie als Erkenntnistheorie der Wirksamkeit der von ihm vertretenen Sache mehr geschadet als gedient hat. Ein konservativer und auch oppositioneller Zug seines Wesens macht sich darin bemerkbar144, denn Hönigswald ist sich der Inopportunität dieser Bezeichnung durchaus bewußt und verwendet sie gerade, um die Kontinuität seiner Philosophie mit den großen Problemen der Vergangenheit, wie er sie versteht, zu betonen. Mit einer »bloßen« Erkenntnistheorie hat sie jedoch nichts zu tun, und Hönigswald wird nicht müde, die Koinoia aller philosophischen Aufgaben zu betonen. Erkenntnistheorie geht daher nicht in der Theorie der Theorie, von Hönigswald Wissenschaftstheorie genannt, auf, sondern umschließt alle philosophischen Aufgaben. In ihr, nicht aber neben ihr, finden Ethik und Ästhetik, Religionsphilosophie und Psydiologie, Pädagogik und Sprachphilosophie ihre Stelle145. Dennoch ist Hönigswalds Beharren auf dem Terminus »Er144
Daher ist seine Polemik gegen die zeitgenössische Philosophie nidit frei von Sarkasmen, die das sachliche Gewicht seiner Gründe o f t verdecken. Nur im Ganzen seines Denkens sind die Motive seiner Kritik und ist ihre Reichweite zu begreifen.
145
In unserer Untersuchung müssen diese Bezüge unberücksichtigt bleiben. Gemäß der wesenhaften Zusammengehörigkeit der philosophischen Probleme, die gerade von Hönigswald auch im einzelnen immer wieder herausgestellt wird, birgt eine jede Einklammerung solcher Problembezüge natürlich einen möglichen Ansatzpunkt für berechtigte kritische Ausstellungen in sich.
131 9*
kenntnistheorie« keine bloße Marotte. Es schließt vielmehr schon im Titel eine Opposition gegen die modernen Strömungen der Phänomenologie und Lebensphilosophie, Ontologie und Existenzphilosophie ein. Daß es Hönigswald gelingt, die Problemstellung der Erkenntnistheorie soweit zu radikalisieren, daß ihr gegenüber alle konkurrierenden philosophischen Theorien vom Positivismus bis zur neuen Metaphysik sich eines gemeinsamen Mangels bezichtigen lassen müssen, ist ein erster Hinweis auf die Fundamentalität des Hönigswaldsdien Problemansatzes und seine echte philosphische Relevanz. Der Zusatz »Erkenntnistheorie« determiniert die Philosophie in folgenden Hinsichten: Zunächst nimmt audi für Hönigswald die Erkenntnistheorie im System der philosophischen Aufgaben die erste Stelle ein. Philosophie ist Theorie spezifisch theoretischer Geltungsanpsrüche, zugleich damit aber auch Theorie aller außertheoretischen Formen, in denen Gegenstände gewollt und genossen, geglaubt oder auch nur vorgestellt werden. Uberall dort, wo sich Denken (im weitesten Sinne verstanden) auf Seiendes irgendeiner Art bezieht, liegt für die Philosophie die Aufgabe vor, die Bestimmtheit eines solchen Seienden (sein »Sein«) und zugleich die Bedingungen der Geltung des Denkens eines solchen Seienden zu eruieren. Darin liegt die transzendentalphilosophische Valenz des Hönigswaldschen Philosophieansatzes, daß er voraussetzt, daß vom Sein und nicht nur vom Seienden in der Philosophie nicht gehandelt werden könne, ohne zugleich ein Bedenken des Seinsdenkens zu leisten146. Das ist also die zweite Determination, die der Begriff der Erkenntnistheorie dem schlichten Titel der Philosophie hinzufügt, daß nicht ein hinnehmendes Seinsdenken in Gestalt einer Gegenstandstheorie, Ontologie oder Metaphysik in der Philosophie die Letztbegründung übernehmen könne, sondern allein eine Theorie, die das Denken selbst zum Gegenstand habe. Der Vorrang der Erkenntnistheorie im Sinne der Theorie des theoretischen Denkens ergibt sich drittens daraus, daß die Philosophie selbst theoretische Geltungsansprüdie erhebt. Philosophie ist nur deshalb in der Lage, alle außerphilosophischen, theoretischen und atheoretisdien Erkenntnisansprüche in ihrer Möglichkeit zu begründen, weil sie allein sich selbst zu begründen vermag. Nur als Erkenntnistheorie kann die Philosophie ihrer Aufgabe genügen, Theorie ihrer selbst zu sein. Die Selbstbezüglidikeit der Philosophie stellt dabei keine zusätzliche Aufgabe dar, der sie etwa in der Gestalt einer speziellen Disziplin (einer Logik der Philosophie) oder einer Reflexion zweiter Stufe genügen könnte, sondern sie betrifft gerade die 146
Und zwar ist Philosophie für Hönigswald primär Bedenken des Seinsdenkens, d. h. also Reflexion. Eine selbständige Ontologie hat er weder als philosophische Grundlage nodi als eine fundierte Disziplin innerhalb der Philosophie anerkannt. Dennoch ist die Beziehung des Themas der Bestimmtheit in ihrer Untersdiiedenheit vqn jeglichem Bestimmten auf die Problematik der Ontologie nidit zu verkennen.
132
Fundamentalstruktur allen philosophischen Denkens147. Nur als eine sich selbst begründende Erkenntnis kann die Philosophie Letztheitsdiarakter und Autonomie beanspruchen. Die Selbstbezüglichkeit des philosophischen Denkens begründet die Unabhängigkeit der Philosophie von allen Formen des gegenständlichen Denkens. Unabhängigkeit und Selbstbezüglichkeit bedeuten jedoch nicht, daß das philosophische Denken nur in sich selbst kreise. Nur weil die Philosophie die Rechtfertigung alles gegenständlich gerichteten Denkens übernommen hat, muß sie audi sich selbst rechtfertigen. An einer jeden Stelle der Philosophie muß sich daher die Bedingung der Selbstbezüglichkeit verwirklichen lassen. Philosophische »Gegenstände« sind solche, die eine Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit einschließen. Universalität und Fundamentalität des Hönigswaldschen Philosophie-Ansatzes kommen jedoch besser zum Ausdruck, wenn man nicht von seiner Determination der Philosophie als Erkenntnistheorie ausgeht, sondern von ihrer Bestimmung als Theorie des Gegenstandes. Beide Ausdrücke besagen letzten Endes dasselbe, weil Hönigswald die Untrennbarkeit von Gegenstands- und Erkenntnisproblem behauptet. Das begründet sein positives Verhältnis zur Transzendentalphilosophie jeder Form. Andererseits ist in der Bestimmung der Philosophie als Theorie des Gegenstandes ein Hinweis auf die zeitgenössische Gegenstandstheorie nicht zu überhören. Hönigswald hat sich mit der Gegenstandstheorie bereits sehr früh auseinandergesetzt148, und zwar begründet 147
Die Forderung der Selbstbezüglichkeit verbindet Hönigswald mit den verschiedenen Formen, in denen Hegel in unserem Jahrhundert wieder zur Geltung gelangt ist. In seinem eigenen Denken lassen sich daher dialektische Züge audi leicht aufweisen. Er selbst hat auf Hegel in einer eigenen Studie Bezug genommen (»Gedanken zur Philosophie Hegels« in: Preußische Jahrbücher, Bd. 226, 1931, S. 148 ff.). Was ihn jedoch bei aller thematischen N ä h e von Hegel grundsätzlich unterscheidet, bleibt die beständige Rücksichtnahme auf die »Möglichkeit der Erfahrung«. Das ist ein genuin Kantisdies Motiv in seinem Denken. — D a s dialektische Motiv unterscheidet die Selbstbezüglidikeit der Philosophie im Sinne Hönigswalds audi von H u s serl. Audi bei Husserl ist die Philosophie letztlich Wissen des Wissens; absolutes Wissen ist nur dort möglich, wo sidi das reine und transzendentale Idi auf sidi selbst wendet. Bei Hönigswald ist die Letztheit der philosophischen Erkenntnis jedoch nidit darin begründet, daß in ihr Subjekt und Objekt des Wissens identisch sind, sondern daß die Prinzipien des Gegenstandes der philosophischen Reflexion zugleich die Prinzipien für diese Reflexion selbst sind.
148
Auf die Entwicklung des Hönigswaldschen Denkens soll den Grundsätzen unserer Arbeit gemäß nidit weiter eingegangen werden. Sie verläuft im ganzen jedoch sehr kontinuierlich und läßt sich ohne große Umbrüche als eine allseitig um sich greifende Entfaltung einmal konzipierter Grundgedanken begreifen. Die besondere Rolle Hönigswalds innerhalb der Geschichte des Kritizismus beruht gerade darauf, daß er von der kritizistisdien Geltungsreflexion aus den Zugang zu solchen Bereichen erobert hat, die der Neukantianismus sonst aus der Philosophie zu verbannen pflegte oder doch nidit zu bewältigen vermochte. Es sind dies besonders die Themen des Gegenstandes der Psychologie, der Sprach- und Gesdiiditsphilosophie.
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sein Verhältnis zur Gegenstandstheorie vor allem die Weite des Problemansatzes seiner Philosophie. Wenn er die Philosophie als Theorie des Gegenstandes begreift, so ist dieser Gegenstandsbegriff nidit eingeschränkt auf den Gegenstand des theoretischen Denkens, geschweige denn etwa den der exakten Wissenschaften, sondern umgreift neben den Gegenständen des theoretischen Denkens jeder Region und jeder Stufe alle Gegenstände, auf die sich der menschliche Geist in irgendeiner Weise der Intentionalität bezieht. Die schlechthinnige Universalität seines Gegenstandsbegriffs macht seine Philosophie in besonderer Weise zur Auseinandersetzung mit den modernen Bestrebungen geeignet, die auf eine philosophische Ontologie abzielen. Philosophische Theorie des Gegenstandes muß sich jedodi selbst von den Weisen unterscheiden, in denen in der positiven Wissenschaft oder im Leben Gegenstände bedacht werden. Philosophie muß ihren Rang in der Selbstunterscheidung ausweisen. Für Hönigswald kann es sich jedoch nicht darum handeln, daß die Philosophie einen eigenen Bereich von Gegenständen neben oder auch hinter den Gegenständen des primären Denkens für sich in Anspruch nimmt. Weder das »Wesen« der primären Gegenstände noch eine sonstige Gattung spezifisch philosophischer Gegenstände, sondern die Gegenständlichkeit aller Gegenstände als solcher ist das Thema der Philosophie. Gegenständlichkeit aber ist nicht selbst ein Gegenstand, sondern der Inbegriff der Prinzipien, der die Bestimmtheit möglicher Objekte gegenüber dem Denken und zugleich den Gegenstandsbezug des Denkens verbürgt. Insofern ist die Theorie der Gegenständlichkeit Prinzipienwissenschaft. Für Hönigswald kann es sich dabei nicht darum handeln, die Unabhängigkeit, das Sein, die Bestimmtheit des Seienden idealistisch aufzuheben. An diesem Punkte hat er sowohl an dem übrigen Neukantianismus als auch an der Husserlschen Phänomenologie Kritik geübt. H ö n i g s w a l d hatte die Grundsätze des K r i t i z i s m u s bereits während der Zeit seines Medizinstudiums in mehreren kleineren Arbeiten verteidigt, bevor er sich endgültig der Philosophie z u w a n d t e und m i t einer Arbeit über H u m e bei Riehl promovierte. (Vgl. d a s Literaturverzeichnis!) D i e folgenden Arbeiten gelten P r o b l e m e n der Wissenschaftstheorie und Systematik. E r s t das Buch über » D i e Skepsis in Philosophie und Wissenschaft« (1914) entwickelt z u m ersten M a l so etwas wie einen systematischen A b r i ß der gesamten Philosophie, und z w a r ist es gerade das T h e m a des Abschlusses der philosophischen Reflexion, der Letztbegründung, an d e m sich sein Denken zum System rundet. Gleichzeitig beginnen seine Untersuchungen zur Denkpsychologie, die in den zwanziger J a h r e n kulminieren. Zugleich werden v o n der Denkpsychologie aus die Fragen der Verständigung u n d der Sprache in Angriif genommen. E r s t v o n der 2. Auflage der » G r u n d l a g e n der P ä d a g o g i k « (1927) a b hat das D e n k e n H ö n i g s w a l d s seine endgültige Gestalt gewonnen. — D a H ö n i g s w a l d in fast allen seinen Schriften die gleichen G r u n d p r o b l e m e behandelt, ist es gerechtfertigt, wenn wir uns bei unserer Untersuchung auf die Schriften mehrerer J a h r zehnte stützen. E s kann sich d a b e i nur d a r u m handeln, die Probleme dort a u f z u suchen, w o sie eine f ü r unsere Bedürfnisse besonders geklärte Gestalt g e f u n d e n haben.
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In sein Handexemplar eines Werkes von B. Bauch, dem er im übrigen lange Zeit sachlich und persönlich eng verbunden war149, schrieb er neben die vom Kritizismus stets wiederholte These, daß vom Denken unabhängig nichts gedacht werden könne: »Aber als vom Denken unabhängig!« Die Phänomenologie hat er als eine sublime Form des Psychologismus kritisiert, weil ihr Gegenstandsbegriff den Gegenstand allein dadurch definierte, daß sich das Bewußtsein auf ihn richten könne. Diese entschiedene Betonung der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit des Gegenstandes gegenüber dem Denken verbindet ihn mit seinem Lehrer A. Riehl und dem zeitgenössischen kritischen Realismus sowie mit der modernen Ontologie. Die Theorie des Gegenstandes betrifft alles, was mir gegenübersteht, weil es eben so und nicht anders »da« ist. Gegenständlichkeit bedeutet die Unabhängigkeit des Gegenstandes von der Tatsache und den Akten des Gedachtwerdens. Der Gegenstand »ist Gegenstand, gerade weil er ,ist', ob er nun gedacht wird oder nicht«150. Aber die Aufgabe der Philosophie beschränkt sidi nicht auf die Behauptung der Unabhängigkeit des Gegenstandes und auf die Schilderung seiner Typen, sondern betrifft die »Bedingung, der der Gegenstand kraft seiner Bestimmtheit unterliegt«151. Zu dieser Bedingung gehört aber seine Denkbarkeit. Daher kann Hönigswald fortfahren: »Aber eben solche Unabhängigkeit bindet ihn nur noch deutlicher an jene Bedingung der Denkbarkeit. Er i s t . . . dawider, anders gedacht zu werden. Er muß gedacht werden, wie er ,ist'. Und er ,istc kraft dieser Forderung. N u r mit Bezug auf das Denken und dessen allgemeinste Bedingung gewinnt auch die Unabhängigkeit von jeglichen Akten des Denkens, gewinnt also der Gegenstand erst Bestimmtheit und Gestalt.«152 Für Hönigswald geht also in den Begriff der Bestimmtheit immer schon die Rüdksicht auf die Bestimmbarkeit des Gegenstandes mit ein. Die Unabhängigkeit des Gegenstandes stellt in sich selbst eine Relation dar, d. h. wo die Unabhängigkeit des Gegenstandes zum Problem gemacht wird, da wird zugleich der korrelative Abstand zu der Erkenntnis, von der er unabhängig ist, thematisiert. Daher lehnt Hönigswald auch die sog. erkenntnistheoretische Problemstellung ab, die danach fragt, wie das Bewußtsein zum Gegenstand transzendieren könne. »Denn wo immer der Begriff des Gegenstandes gedacht wird, dort muß der Begriff seiner Setzung, mit allen dazugehörigen Momenten, schon mitgedacht sein. Das Denken kommt nicht zum Gegenstand, es ist vielmehr schon immer beim Gegen149
160
Hönigswald, der wie Bauch außerhalb der engen Schulzusammenhänge des N e u kantianismus stand, hat diesen Werken eine ganze Reihe ausführlicher Besprechungen und Analysen gewidmet. (Vgl. das Literaturverzeichnis!). Philosophie und Sprache, 1937, S. 10.
151
Selbstdarstellung, in: Deutsche systematische Philosophie nach· ihren Gestaltern, Bd. I, 1931, S. 195.
152
Philosophie und Sprache, a.a.O.
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stand. Keine Kluft trennt sie voneinander, und keiner sekundär erdachten Konstruktion von Faktoren bedarf es, um diese Kluft zu schließen.«153 Wo die Unabhängigkeit des Gegenstandes in der Philosophie nicht als Abstand gedacht wird, sondern das Ansichseiende auch noch davon unabhängig sein soll, daß es von der Erkenntnis unabhängig ist, wird nach Hönigswald der abstruse Versuch gemacht, die Unabhängigkeit als eine Art von Uberunäbhängigkeit zu denken. Dieser Vorwurf richtet sich prinzipiell gegen jeden realistischen Ansatz der Erkenntnistheorie, insbesondere jedoch gegen den ontologischen Erkenntnisbegriff N. Hartmanns. Eine Theorie der Bestimmtheit oder Gegenständlichkeit des Gegenstandes kann nach Hönigswald nicht in der Form einer Ontotogie vor und unabhängig von der Theorie der Erkenntnis aufgebaut werden. Gegenständlichkeit des Gegenstandes und Geltung der Erkenntnis verweisen aufeinander. Alles, was ist, erhebt die Forderung, von der Erkenntnis als seiend »anerkannt zu werden« 154 . Nichts anderes setzen wir voraus, wenn wir dem Gegenstande Unabhängigkeit zudenken. »Bestimmt ist, wovon in irgendeinem Sinne gesagt werden kann, es ,ist'.« 155 Das heißt: »Der Gegenstand muß als Aufgabe einem System möglicher Prädikationen gleichkommen.«156 Sagen, daß etwas ist, bedeutet aber nichts anderes als urteilen. Auch das Denken ist von vornherein durch die Gesetzlichkeit der Bestimmtheit, des Seins, beherrscht. Denken im weitesten Sinne ist denken, daß etwas ist. Intentionalität ist von Hause aus vom Sein in Anspruch genommen, denn nur als Ist-Denken ist es überhaupt Denken. Bestimmtheit, Gegenständlichkeit, Sein ist in allem Denken von Bestimmtem, Gegenständlichem, Seiendem immer schon vorausgesetzt. Bestimmtheit kann nicht verneint werden, sondern nur Bestimmtes; denn jeder Versuch der Verneinung müßte selbst Bestimmtheit in Anspruch nehmen157. Bestimmtheit kann aber audi nicht begründet werden, weil jeder Versuch einer Begründung sie voraussetzen müßte 158 . Hönigswald hat diesen Überlegungen immer eine besonders fundamentale Rolle zuerkannt. Das zeigt sich darin, daß er auf sie in allen seinen Schriften zurückkommt. Hier haben wir es mit dem eigentlichen Problem der Gegenständlichkeit zu tun, d. h. mit dem Kernstück seiner Philosophie, daß er als letzten Boden für jede philosophische Begrün153
Selbstdarstellung, S. 215. »Zum korrelativen Abstand von Gegenstand und E r kenntnis«, vgl. auch »Philosophie und Sprache«, S. 29 f.; »Über die Grundlagen der Pädagogik«, 2. Aufl., 1927. S. 52 ff.; »Grundfragen der Erkenntnistheorie«, 1931, S. 9 f. u . a .
154
Selbstdarstellung, S. 193.
155
Philosophie und Sprache, S. 42.
156
Wissenschaft und Kunst, 1961, S. 77.
157
Vgl. Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen, S. 89; Grundfragen, S. 46 f.
158
Vgl. Philosophie und Sprache, S. 3 8 .
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dung voraussetzt. Hönigswald hat diesen Problembereidi nie gesondert herausgehoben, wie er überhaupt jeder isolierenden Darstellung, und erfolge sie auch nur aus didaktischen Erwägungen, abhold war. Das macht seine Werke so schwer überschaubar. Hier wurzelt auch seine Gegnerschaft gegen ein phänomenologisches und ontologisches Philosophieren, weil er jedem schauenden Verfahren in der Philosophie eine grundsätzliche Isolation der philosophischen Probleme zum Vorwurf machte. Dennoch dürfen wir uns nicht davon abhalten lassen, der Ordnung der Themen und Begründungsschritte in der Philosophie Hönigswalds nachzuspüren, denn an der Tragfähigkeit der einzelnen Beweisglieder und Stücke hängt natürlich auch hier die Beweisfähigkeit des ganzen Argumentationsgefüges. Ohne Zweifel stellt das von uns bisher unter dem Titel der Gegenständlichkeit analysierte Thema das Pendant derjenigen Überlegungen dar, die die spezifische Geltungstheorie des Kritizismus ausmachen. Denn hier geht es um Abstand und ursprüngliche Bezogenheit von Sein und Denken. Nur als Korrelat gültiger Urteile »ist« der Gegenstand, und nur insofern das Denken über einen ursprünglichen Besitz reiner Seinsbegriffe und Seinsgrundsätze verfügt, vermag es sich auf Seiendes zu beziehen. Festzuhalten ist nun jedoch, daß diese korrelative Bestimmtheit von Gegenstand und Erkenntnis, auf die Hönigswald letzten Endes alle philosophische Begründung zurückbezieht, für ihn bei aller Fundamentalität noch längst nicht ausreicht, sondern nur so etwas wie eine elementare Bedingung darstellt. Entscheidend ist daher, in welcher Weise er über dieses klassische Kernstück der kritizistischen Geltungsreflexion hinausgeht: 1. Die im Problem von Gegenständlichkeit und Geltung zusammengeschlossenen Probleme beziehen sich auf jegliche Erkenntnis, unangesehen der spezifischen Seinsart ihrer Gegenstände. Auch das bloß Intendierte150, das nur Fingierte, Geahnte, Gefühlte, Angenommene oder Zweifelhafte 180 unterliegt der Bedingung der Gegenständlichkeit. Audi über die Chimäre, den Gegenstand einer Dichtung oder den Gegenstand der Phantasien eines Geisteskranken lassen sich gültige Urteile fällen. Wäre es anders, so wären ganze Zweige der Wissenschaft unmöglich. Auch diese Gegenstände aber beanspruchen ihre Bestimmtheit unabhängig von der Tatsache der Erkenntnis, die sich auf sie bezieht. Es ist einsichtig, daß eine Theorie, die die Unabhängigkeit des theoretischen Gegenstandes begründen will, nicht von diesen regionalen Differenzierungen des Bestimmten absehen darf. Darauf, daß sie es versuchte, beruht die Schwäche der neukantianischen Geltungsreflexion (ihr »Formalismus«) und ihr Mangel an Uberzeugungs159 160
Philosophie und Sprache, S. 30. Selbstdarstellung, S. 193.
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kraft. Dem Verdacht, die Härte der körperlichen Natur in ein bloßes Gedankending verflüchtigen zu wollen, entgeht der erkenntnistheoretische Idealismus so lange nicht, als er nicht die Gegenständlichkeit des Gegenstandes überhaupt von dem Unterschied der Bestimmtheit naturaler und bloß vorgestellter Gegenstände abzuheben vermag. Zwar muß audi der Naturgegenstand der Bedingung genügen, gedacht zu werden, wenn er erkannt werden soll, d. h. jedoch nicht, daß er in der Erkenntnis als ein bloß gedaditer gedacht werden müsse oder dürfe. Denn gerade dann hätte die Erkenntnis ja seine naturhafte Bestimmtheit verfehlt. Es ist daher für die Erkenntnisbegründung Hönigswalds entscheidend, daß er die Geltungstheorie nicht — audi nicht nur vorläufig — von den Rücksichten auf die Gliederung der Gegenstandsbereiche der verschiedenen Wissenschaftsgruppen trennt. In dieser Hinsicht zeigt seine Theorie bemerkenswerte Übereinstimmungen mit der regionalen Ontologie N . Hartmanns und dessen Schichtenlehre. 2. Die Art und Weise, in der Hönigswald die Regionalisierung des Bereichs der theoretischen Gegenständlichkeit überhaupt vornimmt, ist jedoch wesentlich unterschieden von der der Hartmannschen Ontologie. Hönigswald nimmt die wesenhafte Untersdiiedenheit der Regionen des Seienden nicht als eine in gegenständlicher Einstellung vorfindbare und durch Deskription und Kategorialanalyse erfaßbare auf, er stützt sich aber auch nicht auf das Faktum der gegenwärtigen Gliederung der Einzelwissenschaften, sondern er versucht, das Gegebene in ein philosophisdi Begriffenes zu verwandeln, indem er die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung ableitet161. Die Voraussetzung dafür ist die von Hönigswald intendierte Uberwindung des Formalismus und Dualismus der kritizistischen Grundlehre, die wiederum sein Denken in Berührung mit der Dialektik bringt162. Zwar ist es auch für Hönigswald die »Form« des Denkens, die die Gültigkeit der Erkenntnis verbürgt, aber diese Form kann sich doch nur 161
»Ableitung« hat hier selbstverständlich nichts mit logischer Deduktion zu tun, sondern betrifft (wie in Kants transzendentaler Deduktion) den Nachweis des Rechtes, mit dem wir eine solche Differenzierung der Seinsbereiche und der Seinserkenntnis voraussetzen.
162
Hönigswald ist sich der problemgeschichtlichen Beziehung seiner Philosophie zum Thema der Philosophie der Romantik, auf der auch sein Verhältnis zur zeitgenössischen L-ebensphilosophie beruht, durchaus bewußt. Auch für ihn ist »die Bestimmtheit des Einzelnen, die Allgemeinheit des Konkreten, das Recht des Einmaligen, der Bestand des Individuellen« ein legitimes Thema der Philosophie (Vom philosophischen Problem der Romantik, in: Euphorion, Bd. 30, 1929, S. 434; vgl. auch seine Besprechungen Diltheys in der Deutschen Literaturzeitung, Jg. 43, 44, 1922, 1923, und 1931).
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an einem gegebenen Inhalt entfalten. Daher lehnt es Hönigswald strikt ab, den Abstand von Form und Inhalt der Erkenntnis in ein Verhältnis der »Erzeugung« des Inhalts durch die Form zu verwandeln. Die These der Unableitbarkeit des Inhalts aus der Form bildet das entscheidende Bindeglied zwischen der Urteilstheorie und dem Problem der konkreten Subjektivität, das Hönigswald zunächst im Anschluß an die Denkpsychologie, dann in einer fundamentaleren Fassung in der Gestalt einer Monadologie bearbeitet hat. 3. Erst auf diesem Wege gelangt die Erkenntnisbegründung zu einem Abschluß. Denn die »Ableitung« der Differenzierung der Seinsund Wissenschaftsbereiche, in der allein die Erkenntnistheorie vollendet werden kann, geschieht bei Hönigswald so, daß er die Notwendigkeit einer Differenzierung im Seienden als eine Voraussetzung der Möglichkeit der Erkenntnis erweist. Allerdings handelt es sich nun nicht mehr um Voraussetzungen logischer Art, um reine Seinsbegriffe, sondern um Tatsächliches, Reales, das als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis erwiesen wird. Indem, wie noch zu zeigen sein wird, die Voraussetzung von Tatsächlichem als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis gerechtfertigt wird, erlangen nun allerdings auch die spezifischen Regionalkategorien, die die Grundlage der Einzelwissenschaften bilden, ihre Legitimation. Hönigswald ist sich des Unterschieds der reinen Geltungsprinzipien und der reinen Seinsbegriffe von solchen Voraussetzungen der Erkenntnis, die selbst Tatsachendiarakter tragen, durchaus bewußt gewesen. Er hat diese letzteren Voraussetzungen, die wir in Akkommodation an den neueren Sprachgebrauch »ontologische« Voraussetzungen der Erkenntnis nennen dürfen, dadurch von den Geltungsprinzipien unterschieden, daß er von dem Zusammenfall von Prinzip und Tatsache sprach. Das heißt, daß es sich hier um Tatsächliches, Reales, Faktisches handelt, das zugleich nidit darin aufgeht, pures Tatsächliches, pures Reales, pures Faktisches zu sein. Die Theorie dieses ausgezeichneten Seienden, das zugleich Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis ist, können wir im Unterschied zur reinen Geltungstheorie die Monadologie nennen. Hönigswalds Bedeutung beruht jedoch gerade darauf, daß er den Zusammenhang beider thematisiert hat. Das unterscheidet seine Erkenntnistheorie einerseits von der reinen Geltungstheorie der Neukantianer, andererseits aber audi von der bloßen Ontologie und Anthropologie. Dem Problembereich der Monadologie, in der es gerade um die Konkretheit, Realität und Faktizität des Subjekts der Erkenntnis geht, wenden wir uns nunmehr zu.
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2. Die Monadologie Der ursprüngliche Kritizismus war reine Geltungstheorie gewesen. Immer wieder hatte er eingeschärft, daß die Geltung der Erkenntnis ihre Unabhängigheit von der Tatsache und den Umständen, unter denen sie faktisch geltend gemacht wird, einschließt. Das Ergebnis dieser Uberlegung war die Idee einer rein logischen Begründung der Erkenntnis, die von der Beziehung zwischen dem Erkenntnisgehalt in seiner zeitlosen SinnBestimmtheit und dem realen Vollzug der Erkenntnis gänzlich abstrahiert. Alle Umstände der Geltendmachung wurden bedingungslos der Psychologie zur Erforschung überwiesen. Der Hiatus zwischen zeitlosem Sinn und zeitlichem Vollzug war die Folge dieses Ansatzes. Er machte es aber zugleich unmöglich, zu begreifen, wie ein solcher zeitloser Sinn in der Welt überhaupt eine Realisierungsstätte soll finden können. Die Lehre vom erkenntnistheoretischen Subjekt war nur ein Ausdruck dieser Verlegenheit. Die nächstfolgende Generation hat aus diesem in dem Dualismus der platonisierenden Geltungslogik angelegten Dilemma den entgegengesetzten Ausweg gesucht als der Idealismus selbst. Wenn wir etwa Natorps Besprechung des ersten Bandes von Husserls »Logischen Untersuchungen« vornehmen, so kritisiert auch dieser den Platonismus und Dualismus, auf dem Husserls Kritik der psychologistischen Logik aufgebaut war. Aber diese Kritik zielt darauf, daß Husserl eine selbständige Realität neben der Sphäre des idealen logischen Seins habe bestehen lassen. Der Idealismus fordere zu seiner Durchführung den Nachweis, daß dem Realen keinerlei Selbständigkeit unabhängig von der reinen Gesetzlichkeit der Erkenntnis zukomme. In diesem Problem liegen die treibenden Motive, die innerhalb des Kritizismus auf einen absoluten Idealismus hindrängten. Die Philosophie der Nachkriegszeit schlug, von denselben Prämissen ausgehend, den entgegengesetzen Weg ein. Da die Härte und Selbständigkeit des Realen sich eindrücklich genug zu Wort gemeldet hatte, versuchte man nun eine Auflösung aller Idealität in Realität oder doch eine bedingungslose Unterordnung jener unter diese. War der Dualismus von zeitlosem Sinn und sinnloser Zeitlichkeit allerdings unerträglich gewesen, so wurde die Leugnung aller zeitlosen Idealität zu einem bloßen Gewaltstreich. Insofern darf man sagen, daß die Philosophie nach dem ersten Weltkrieg in manchen Zügen nur einen auf den Kopf gestellten Platonismus darstellt. Der Platonismus der Geltungslogik war aber das Bollwerk gewesen, mit dem dieser sich gegen den Ansturm des Relativismus, Psychologismus, Historismus, Pragmatismus, Biologismus, Materialismus u.s.f. zur Wehr gesetzt hatte. Das Gleidie gilt audi von seiner Theorie des Bewußtseins überhaupt bzw. der reinen Subjektivität. Gültig urteile ich dort, wo ich einen Gegenstand so bestimme, wie er von jedem an meiner Stelle bestimmt werden muß. Ich urteile hier also nicht in meinem 140
Namen, sondern gleichsam im Namen eines erkennenden Bewußtseins überhaupt. »Wenn wir«, so schreibt einmal A. Riehl, » — . . . etwas auf allgemeingültige Weise denken oder zu denken glauben, so sind wir uns bewußt, es so zu denken, wie es von jedem anderen Ich gedacht wird. Mein Ich vertritt daher die Stelle des ,Wir', das individuelle die Stelle des allgemeinen Ich.«163 Wenn die nachkritizistisdie Philosophie sowohl die Voraussetzung eines zeitlosen Sinnes als audi die Abstraktion eines Bewußtseins überhaupt bekämpfte, so schien sie dies nur um den Preis des Verzichtes auf die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis tun zu können. Denn wo das Subjekt der Erkenntnis ohne Einschränkung der Realität und Endlichkeit unterworfen wird, ist ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit der von diesem Subjekt geleisteten Erkenntnis von vornherein illusorisch. Es besteht kein Zweifel daran, daß eine solche schematische Darstellung weder dem Kritizismus noch gar den Motiven der neuen Ontotogie des realen Geistes, der Existenzialanalyse oder der Anthropologie voll gerecht wird. Denn überall wirkten Momente mit, die es verwehrten, das Subjekt von jedem Bezug zur Idealität zu isolieren. Eine solche schematische Darstellung hat jedoch an dieser Stelle den Vorzug, uns das eigentümliche Verdienst der Hönigswaldschen Subjektstheorie erkennen zu lassen. Denn ihr Bestreben ist es, die Realität, Tatsächlichkeit und Endlichkeit des erkennenden Subjekts voll anzuerkennen, ohne doch den Anspruch der Erkenntnis auf Allgemeingültigkeit aufzugeben. Er vermag dies nur, indem er die Realität, Tatsächlichkeit und Endlichkeit des Subjekts nicht wie in allem Piatonismus und seiner Umkehrung als eine konkurrierende und einschränkende Instanz zum Geltungsanspruch der Erkenntnis, sondern als eine durch diesen Geltungsanspruch geforderte und damit positive Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis erweist. Dies ordnet Hönigswald auch dem weiteren Rahmen der zeitgenössischen Bestrebungen ein, die von verschiedenen Ansätzen aus die »Seinsgebundenheit« der Erkenntnis zum Thema philosophischer Überlegungen gemacht haben184. Daran ändert auch nichts sein eigenes polemisches Verhältnis zu diesen Bestrebungen. Was Hönigswald jedoch bei aller thematischen Nähe von ihnen grundsätzlich unterscheidet, ist dies, daß er die Seinsgebundenheit der Erkenntnis nicht nur deskriptiv aufweisen will und nicht danach fragt, ob und wie weit diese Seinsgebundenheit der Erkenntnis förderlich sei, sondern nach einer prinzipiellen Begründung für diese Phänomene und ihre Konstatierung sucht. An keiner Stelle sonst in der Philosophie seiner Zeit ist der Gedanke mit einer solchen Entschiedenheit in einen strengen Beweisgang umzusetzen versucht wor163
Der philosophische Kritizismus, 2. Bd., 2. Teil, 2. Kapitel.
164
Vgl. M. Landmann, Die Seinsgebundenheit des Erkennens und der Relativismus, in: Erkenntnis und Erlebnis, 1951, S. 127 ff.
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den, daß das endliche Sein des Subjekts der Erkenntnis durch den Begriff der Wahrheit legitimiert und gefordert sei. Zugleich überwindet Hönigswald damit audi einen anderen Dualismus, der in unserem Jahrhundert nicht minder entschieden verfochten worden ist wie der von reiner Logik und Psychologie: denjenigen von Erkenntnistheorie und Ontologie der realen Welt. Als die neue Ontologie sich im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts konstituierte, begriff sie sich selbst als eine radikale Gegenwendung gegen jede bloße Erkenntnistheorie. War die Erkenntnistheorie Reflexion, so schien die Ontologie die intentio recta zu vertreten. Die Schwierigkeit bestand darin, daß die erkenntnistheoretische Reflexion keine Seinserkenntnis neben der der positiven Wissenschaften zulassen wollte und die neue Ontologie ihren Anspruch auf Seinserkenntnis von philosophischer Dignität nicht in seiner Möglichkeit zu begründen vermochte. In dieser Situation schien eine Philosophie der konkreten Subjektivität eo ipso Ontologie oder aber Anthropologie sein zu müssen. Andererseits konnte jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß alle ontologischen und anthropologischen Erkenntnisse über die konkrete Subjektivität audi ihre notwendigen Konsequenzen für die Erkenntnistheorie haben. Am deutlichsten wurden diese Konsequenzen stets am sog. Relativismus-Problem spürbar. Man kann die konkrete Subjektivität eben nicht bestimmen, ohne daß sich die Frage erhebt, wie es einem so beschaffenen Subjekt möglidi sein soll, gültige Erkenntnis zu vollziehen. Der Streit zwischen Erkenntnistheorie und Ontologie geht aber davon aus, daß die Erkenntnistheorie reine Geltungsreflexion und nichts weiter sein müsse und daß daher in ihr die konkrete Subjektivität von vornherein auszuschalten sei. Bereits bei Husserl begegnete uns jedoch eine Gestalt der erkenntnistheoretischen Reflexion, die regionale Ontologien, wenn auch nur als vorletzte und als »Leitfäden« für eine transzendentale Begründung, zulassen konnte165. Auch hier führte aber die transzendentale Reflexion selbst zu einer Subjektivität, die radikal von der menschlichen, innerweltlichen unterschieden sein sollte. Erst Hönigswald hat der erkenntnistheoretischen Reflexion eine Gestalt zu geben versucht, in der die Reflexion selbst auf die konkrete Subjektivität und ihre prinzipiellen Seinsbestimmtheiten hinführt. Das ist ein Novum, das seine Erkenntnistheorie grundsätzlich von aller kritizistischen reinen Geltungslogik, aber auch von der Husserlschen transzendentalen Phänomenologie mit ihrem unaufgelösten Dualismus von transzendentaler und menschlicher Subjek165
Die Bemühungen R . Zochers, audi unter den Bedingungen des K r i t i z i s m u s eine f u n dierte Ontologie neben der Erkenntnistheorie als möglich zu erweisen, sind daher auch deutlidi durch seine intensive Auseinandersetzung mit Husserl motiviert. Vgl. D i e philosophische Grundlehre. Eine Studie z u m P r o b l e m der Ontologie, 1939, sowie: Husserls Phänomenologie und Schuppes L o g i k . Ein Beitrag zur K r i t i k des intuitionistisdien Ontologismus in der Immanenzidee, 1932.
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tivität, Transzendentalphilosphie und Psychologie bzw. Anthropologie unterscheidet. Bevor wir den Beweisgang Hönigswalds zu skizzieren versuchen, ist es notwendig, daß wir uns über seine Richtung und sein Verhältnis zur Geltungsreflexion bzw. zur Konstitutionsproblematik Husserlscher Observanz grundsätzlich Klarheit verschaffen. Erkenntnis kann auf Reales in zweierlei Hinsicht bezogen sein. Die primäre Hinsicht ist dabei die, daß die Erkenntnis sich auf Reales als auf ihren Gegenstand bezieht. Diese Hinsicht ist insofern primär, als es durch dieses Sich-Beziehen überhaupt erst so etwas wie eine Erkenntnis des Realen, neben dem Realen selbst, gibt. Ob wir diese Leistung des Sich-Beziehens als Denken oder als Intentionalität artikulieren, spielt dabei noch keine entscheidende Rolle. — Andererseits ist aber dieselbe Erkenntnis auf Reales gleichsam zurückbezogen, ohne daß diese Beziehung von ihr selbst gestiftet würde und ohne daß das Reale, auf das sie dabei bezogen ist, notwendig zugleich der Gegenstand dieser Erkenntnis sein müßte. Wenn es Erkenntnis von Innerweltlichem, Realem, in einer elementaren oder auch entwickelten Form gibt, so muß es innerhalb der Welt bzw. Realität zumindest ein innerweltlich Seiendes bzw. ein Reales geben, das dadurch ausgezeichnet ist, daß es nicht nur selbst ein möglicher Gegenstand der Erkenntnis, sondern zugleich Subjekt der Erkenntnis ist. Auf dieses ausgezeichnete Seiende richtet sich die Hönigswaldsche Reflexion, indem sie fragt, wie dieses Seiende beschaffen sein muß, damit es so etwas wie Erkenntnis in der Welt soll geben können. Erst mit dieser Fragestellung eröffnet sich eine eigentümliche neue Dimension des Rückgangs, die wir deshalb eine erkenntnistheoretische Reflexion nennen dürfen, weil sie sich an einer Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis entzündet. Wir sprechen dabei mit Bedacht von einer Dimension, um anzudeuten, daß sich hier ein ganzes Forschungsfeld eröffnet. Denn nicht der elementare Gedanke, daß die Erkenntnis irgendwo in der Welt auf einem irgendwie beschaffenen Seienden gleichsam aufruhen müsse, ist entscheidend, sondern daß dieses Seiende eben nicht einfach irgendwie beschaffen sein dürfe und daß es als ein Subjekt der Erkenntnis nie nur ein pures Seiendes sein könne. Das aber heißt zugleich, daß unser Denken, wenn es ein solches Seiendes zu begreifen versucht, es stets zugleich in seiner Subjektivität zu begreifen versuchen muß. Damit verschlingt sich jedoch die erkenntnistheoretische Problematik zu einem schwer entwirrbaren Knoten. Hatten wir zunächst die Seinsgerichtetheit der Erkenntnis und ihre Seinsgebundenheit säuberlich unterschieden, so schien damit auch eine Unterscheidung zwischen derjenigen Reflexion, die sich auf die Möglichkeit gültiger Erkenntnis von Seiendem bezieht, von jener anderen Reflexion, die sich auf die Rückbezogenheit der Erkenntnis auf Seiendes richtet, gerechtfertigt. Nun aber hat sich ergeben, daß die »erkenntnisontologische« Reflexion ebenfalls eine Geltungsreflexion ist, d. h. 143
ebenfalls Bedingungen erforscht, die erfüllt sein müssen, wenn Erkenntnis von Seiendem einer bestimmten Seinsart (derjenigen der Subjektivität) gültig sein soll. Dadurch ist es auch eigentlich erst gerechtfertigt, hier von einer spezifischen Form der erkenntnistheoretischen Reflexion zu sprechen. Wir werden noch zu überlegen haben, was sidi daraus für das Verhältnis dieser Reflexion zu den bisher erörterten Formen transzendentalphilosophischer Erkenntnisbegründung und für ihr Verhältnis zur Ontologie und Daseinsanalytik ergibt. Für Hönigswald hat sich diese gesamte Problematik entzündet an dem ungeklärten Verhältnis von Logik und Psychologie im Kritizismus. Er sah ein, daß die reine Logik ihre Psychologismus-Kritik nur geführt hatte mit der Blickrichtung auf eine Psychologie, die das Seelisch-Geistige naturwissenschaftlichen Kategorien zu unterwerfen versuchte, und daß andererseits nur eine solche Psychologie in den psychologistischen Irrtum verfallen konnte und mußte. Er begriff, daß es unmöglich ist, Erkenntnis und Erkenntnisvollzug in das durch die Tatsache der Erkenntnis geforderte positive Verhältnis zueinander zu setzen, solange der Vollzug als eine pure Naturtatsache oder doch nach Analogie einer solchen gedadit wird. Wir können uns also seine Problematik, die den Ansatz für die Ausbildung seiner Monadologie darstellte, an Hand der Frage verdeutlichen: Wie muß das Erleben sein und gedacht werden, wenn es in ihm so etwas wie den Vollzug gültiger Erkenntnis soll geben können? Hönigswald hat die Ableitung der Seinsverfassung der konkreten Subjektivität auf verschiedene Weisen versucht, die alle grundsätzlich übereinstimmen und sich nur in dem Maße der Differenzierung bzw. der Beweisstücke, die sie überspringen, unterscheiden. Wir müssen uns hier darauf beschränken, den Beweisgang in einer möglichst elementaren Form wiederzugeben. Es wird daher gut sein, wenn wir vorausschicken, welche Momente der Seinsverfassung der konkreten Subjektivität Hönigswald auf diesem Wege überhaupt zu begründen versucht. Einmal geht es um die Bestimmtheit desjenigen Seienden, das gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß es sich auf Gegenstände bezieht, daß Gegenstände in ihm erlebt oder gedacht werden. Dieses Seiende — und nach Hönigswald sind alle Gegenstände der Psychologie dadurch ausgezeichnet, daß sie Erleben von etwas sind — kann also kein bloßes Tatsächliches sein. Psychologische Ereignisse sind dadurch von puren Naturtatsachen unterschieden, daß sie der Gegenständlichkeit korrespondieren168. Der Proiw y g ] Philosophie und Sprache, S. 49 — Hönigswald hat zu Beginn seiner Überlegungen die Elementarstruktur alles Psychischen durch den von H . Driesch übernommenen Ausdruck »Ich habe etwas« gekennzeichnet. Seine Beziehungen zum »kritischen Realismus« haben ihren Anlaß in dem gemeinsamen Bemühen um die Denkpsychologie und der audi von diesen Denkern, wenngleich mit anderen Mitteln, verteidigten Oberzeugung von der Unabhängigkeit des Gegenstandes der Er-
144
blemkreis dieser Seinsweise der Gegenstände der Psychologie bildet die Keimzelle der Hönigswaldschen Monadologie. In ihm entsprangen seine prinzipiellen Überlegungen zur Denkspsychologie. Wenn die Denkpsychologie sich audi zunächst nur als eine Ergänzung zur experimentellen Erforschung der einfachen Empfindungserlebnisse ausgebildet hatte, so war sie doch auf diesem Wege fast wider ihren Willen in eine radikale Gegnerschaft zur quasi-mechanistischen Experimentalpsychologie gedrängt worden. Das Denken einerseits, die Gestaltwahrnehmung1®7 andererseits waren die beiden Phänomene, an denen die Grenzen der herrschenden Psychologie offenbar wurden. Hönigswald begreift nun die Denkpsychologie nicht mehr als eine Teildisziplin der Psychologie, insofern er das Denken selbst, d. h. die intentionale Beziehung auf Gegenständliches, nicht mehr als ein bloßes Resultat und Epiphänomen elementarer psychischer Assoziations- und Reaktionsprozesse, sondern als die Grundlage auch der elementarsten psychischen Vorgänge begreift. Alles Psychische ist prinzipiell Denken, d. h. Erleben von etwas. Hönigswald hat später, um die Verwechslung dieses Denkens mit dem spezifisch theoretischen Denken zu vermeiden, das Psychische überhaupt durch die Grundkategorie der »Bedeutung« charakterisiert168. Aus diesen Prinzipienfragen der Denkpsychologie erwuchsen die Überlegungen über die Struktur des psychologischen Experiments, das stets der Tatsache Rechnung tragen muß, daß ihr Gegenstand jemandes »Wissen um etwas« ist. Daraus folgt, daß im psychologischen Experiment Subjekt und Objekt der Erkenntnis prinzipiell gleichrangig sind und daß die Voraussetzung, nicht aber ein Ergebnis der Psychologie, die kenntnis. H ö n i g s w a l d v e r d a n k t e ihr o f f e n b a r seine B e r u f u n g nach München ( 1 9 3 0 ) , in die H o c h b u r g des kritischen R e a l i s m u s . 167
H ö n i g s w a l d hat auch ihr eine eigene S t u d i e g e w i d m e t , die w i e d e r u m d a s P r o b l e m ins P r i n z i p i e l l e w e n d e t . V g l . V o m P r o b l e m des R h y t h m u s . E i n e analytische B e trachtung ü b e r den Begriff d e r Psychologie. Wissenschaftliche G r u n d f r a g e n , H . 5, 1926.
168
H ö n i g s w a l d schränkt a l l e r d i n g s den T e r m i n u s » K a t e g o r i e « auf die P r i n z i p i e n d e r anorganischen N a t u r ein. M a n k ö n n t e d a r i n noch einen N a c h k l a n g des P h y s i k a l i s m u s der N e u k a n t i a n e r sehen. H ö n i g s w a l d h a t jedoch g u t e G r ü n d e gegen eine schrankenlose E r w e i t e r u n g d e s K a t e g o r i e n b e g r i f f s beigebracht. E r s t die M a r b u r g e r Schule h a t t e j a (nach d e m V o r g a n g e H e g e l s ) a l l e P r i n z i p i e n , auch die reinen A n s c h a u u n g s f o r m e n R a u m u n d Z e i t einer einheitlichen B e h a n d l u n g u n t e r w o r f e n , u n d N . H a r t m a n n ist ihnen d a r i n — a b g e s e h e n v o n seiner S o n d e r u n g v o n » A n s c h a u u n g s k a t e g o r i e n « u n d » K a t e g o r i e n d e s B e g r e i f e n s « in d e r S p ä t p h a s e seiner P h i l o s o p h i e — g e f o l g t . H ö n i g s w a l d w i d e r s e t z t s i d i dieser N i v e l l i e r u n g , weil er g e r a d e den g r u n d sätzlichen A b s t a n d zwischen d e n P r i n z i p i e n der k o n k r e t e n S u b j e k t i v i t ä t und denjenigen der p u r e n N a t u r b e g r ü n d e n möchte. P r i n z i p i e n des Psychischen und O r g a nischen sind f ü r ihn durch d e n » Z u s a m m e n f a l l v o n P r i n z i p und T a t s a c h e « c h a r a k terisiert; auch d a s ist ein N o v u m , d a ß in d e r P r i n z i p i e n t h e o r i e selbst K o n k r e t e s z u r S p r a c h e k o m m t . I m ü b r i g e n b e d ü r f t e d e r P r i n z i p i e n b e g r i f f H ö n i g s w a l d s einer gesonderten U n t e r s u c h u n g .
10
Brelage
145
Möglichkeit einer Verständigung zwischen Versuchsperson und Experimentator ist. Nehmen wir noch hinzu, daß Hönigswalds Denken bereits sehr früh um das sog. psycho-psychische Problem kreiste und daß eine neue Bestimmung des Gegenstandes der Psychologie audi ihr Verhältnis zur Physiologie betreffen mußte, so haben wir die entscheidenden Themen der Hönigswaldschen Monadologie beisammen. Es sind dies: die Bestimmtheit des Erlebens, die Tatsache einer unbegrenzten Vielheit von Mittelpunkten solchen Erlebens, die Möglichkeit einer Verständigung zwischen ihnen und die Tatsache spezifischer Naturobjekte, die der Bedingung genügen, solchen Erlebnismittelpunkten unmittelbar als ihr Leib zugeordnet zu sein. Ziel der Reflexion ist es, die Möglichkeit einer Erkenntnis von Unabhängigem zu begründen. Aus Erwägungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, setzt Hönigswald bei der Naturerkenntnis als der »primären« Erkenntnis an. Welches Recht haben wir, den Gegenständen unserer Naturerkenntnis Unabhängigkeit und gegenständliche Bestimmtheit zuzudenken? Das ist auch für Hönigswald der transzendentalphilosophische Ausgangspunkt. Die Reflexion erkennt jedoch zunächst gerade die Abhängigkeit jedes Gegenstandes der Erkenntnis von der Setzung. Nur als eine im Denken vom Denken gesetzte kann auch die Natur Gegenstand der Naturerfahrung werden. Die kritizistische Reflexion hatte sich ganz auf diesen Nachweis beschränkt und dabei das Problem der Unabhängigkeit des Gegenstandes verloren. Gegenständlichkeit des Gegenstandes bedeutete nun nichts anderes mehr als Gesetztsein gemäß den Gesetzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Hönigswald hingegen weist nach, daß die Natur zwar ein Implikat der Setzung, aber nicht nur als ihr Gegenstand, sondern zugleich als ihre Bedingung der Möglichkeit ist. Als Bedingung der Möglichkeit der Naturerkenntnis selbst kann die Natur nicht in ihrem bloßen Gesetztsein aufgehen. Die Natur kann jedoch nur insofern als Bedingung der Möglichkeit der Naturerkenntnis und darüberhinaus der Erkenntnis und des Denkens überhaupt begriffen werden, als auch die Erkenntnis selbst sich als ein im Sinne der Natur bestimmtes Ereignis fassen lassen muß. Das heißt, daß das Denken selbst sich ohne Einschränkung als ein Ereignis unter anderen, als ein reales und innerweltlich Seiendes begreifen lassen muß. Wenn es auch nicht eine pure Naturtatsache ist, so teilt es doch mit allem übrigen Realen die Form des Ereignisses. Der Nachweis der notwendigen Rückbezogenheit der Erkenntnis auf die Natur als ihre Bedingung der Möglichkeit hängt daher an der zureichenden Begründung der notwendigen Zeitlichkeit der Erkenntnis. Nun hatten bisher noch alle philosophischen Theorien, denen es an einer radikalen Sicherung der Wahrheit der Erkenntnis gelegen war, die Zeitlosigkeit der Wahrheit herausgestellt, sei es, daß sie wie Piaton die Gegenstände echter Erkenntnis als zeitlose Ideen begriffen, sei es, daß sie die Wahrheit selbst in einem metaphysischen, zeitlosen Geist ansiedelten, sei es schließlich da146
durch, daß sie die Wahrheit auf rein logische, zeitlos geltende Relationen zurückführten. In der Gegenwart hatte vor allem die Geltungstheorie betont, daß die Geltung der Erkenntnis Unabhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Geltendmachung einschließt, indem sie das Urteil selbst als zeitlosen Sinn bestimmte. Audi Hönigswald ist nicht gesonnen, den Anspruch der Erkenntnis auf Gültigkeit unabhängig von der Tatsache ihres Vollzuges zu erweichen. Er hält den Anspruch der Erkenntnis auf zeitlose Geltung aufrecht, ohne die Hypostase eines zeitlos seienden Sinnes169. Die Zeitlosigkeit der Geltungsbeziehung, d. h. der Beziehung des Urteils auf den Gegenstand, besagt nun nichts anderes, als daß die Relate dieser Relation in dieser Relation nicht in einem zeitlichen Verhältnis zueinander stehen: » . . . die Beziehung des Meinens auf das,Gemeinte' (ist) zeitfrei: da Meinen so viel bedeutet wie ,Etwas Meinen', so ist Meinen nie ohne ,Gemeintes', so fügt sich zwischen dieses und jenes keine Zeit«170. Dieser Zeitfreiheit der Gegenstandsbeziehung widerstreitet jedoch nicht die Zeitlichkeit des Vollzugs. Gerade der Anspruch des Urteils auf Unabhängigkeit seiner Geltung von der Tatsache des Vollzugs bedeutet nach Hönigswald die Forderung, daß es jederzeit und von unbegrenzt vielen individuellen Subjekten muß vollzogen werden können. Daher muß das Urteil im Interesse der Geltung der Bedingung genügen, vollziehbar zu sein. Das Urteil darf zwar nicht in den Vollzug aufgelöst werden, wie es der Psychologismus versuchte, weil dann das Denken aufhören würde, »Denken von etwas« zu sein und seine Gegenstandsgerichtetheit verlöre. Es darf aber auch nicht, wie in der Psychologismuskritik der Jahrhundertwende zu einem absoluten Seinsgebilde hypostasiert werden. Die damit geforderte Korrelation von zeitloser · Gegenstandsbeziehung und zeitlicher Verwirklichung des Urteils ist so lange undenkbar, als man die Zeitlichkeit des Vollzugs nur im Sinne der linearen, einsinnig gerichteten Zeitlichkeit der äußeren Natur versteht. Wenn das Urteil denkbar und das 169
Die Verwandlung der zeitlosen Geltung in das Sein eines zeitlosen Sinnes in den logistisdien Geltungstheorien stellt im Grunde nur den Ausdrude der Verlegenheit dar. Logik und Psychologie in ein positives Verhältnis zueinander zu setzen. Die Kritik der neuen Ontologie, die den logizistischen Geltungstheorien eine KryptoOntologie nachzuweisen suchte, hat hier ihre Grundlage. Daß der Logismus die logische Sphäre als eine ideale Seinsphäre dachte stellte allerdings eine Inkonsequenz gegenüber seiner These vom Vorrang der Geltung vor dem Sein dar. Rickert hat sich dadurch zu helfen gesucht, daß er die transzendentallogisdie Konstitutionstheorie audi auf das ideale Seiende ausdehnte. Husserl hingegen hatte von vornherein das Logische als ein Gegenständliches gedacht. Wenn N. Hartmann aus der Entlarvung der Krypto-Ontologie der Geltungslogik den Sdiluß zog, daß die Logik nun offen als Theorie einer idealen Seinsgesetzlichkeit etabliert werden müsse, so übernahm er damit stillschweigend die in der Geltungslogik vorausgesetzten Prämissen über das Verhältnis von Logik und Psychologie.
170
Zum Problem der Denkpsydiologie, in: Philosophia perennis, Festgabe für J. Geyser, hg. von F. J . von Rintelen, Bd. 2, S. 904. 147
10*
Denken Denken eines Gegenstandes soll sein können, so muß der Denkvollzug einem anderen Typus von Zeitlichkeit angehören. Der zeitfreie Gegenstandsbezug des Urteils fordert seine »Einzeitigkeit«, d. h. seine Oberschaubarkeit in einer »Gegenwart«171. Diese Gegenwart ist nicht meßbar, sie ist kein ausdehnungsloser Zeitpunkt, sondern die im Sinne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »gestaltete« Zeit, »PräsenzZeit«. Diese Präsenz ist das »Äquivalent der Synthesis«172. Nur einem durch Reflexivität und Ichbezug ausgezeichneten Seienden kann es gelingen, im Fluß der Zeit dem Fluß der Zeit Halt zu gebieten und die für die Möglichkeit des Urteils unerläßliche Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu stiften. Zugleich ist aber diese Stiftung als aktive Uberwindung des realen Zeitflusses zu denken, da ohne eine solche Distraktion eine Gliederung des Erlebens im Sinne des »vor« und »nach« unmöglich wäre. Alle Zeitgestaltung ist in der ungestalteten, objektiven Zeit fundiert. Daß die Psychologie und daß auch der Mensch des Alltags seinem Erleben einen zeitlichen Ereignischarakter zudenkt, ist, auch wenn dabei die präsentielle Zeitlichkeit des Erlebens übersprungen wird, nicht eine illegitime Verräumlichung des Erlebnisstromes und nicht einer Verfallenstendenz des Erlebnisses entsprungen, das sich von der äußeren Welt her auszulegen geneigt ist, sondern es ist gerade durch die Tatsache der jeder Zeitmessung entzogenen Zeitlichkeit allen Erlebens gerechtfertigt178. 171
172 1,3
Vgl. Grundfragen, S. 69 f.; Zur Theorie des Konzentrationsunterridits, in: Zeitschrift f ü r Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 163, 1917, S. 218 ff. Grundfragen, S. 79. Hönigswald unterscheidet sich hierin von aller Kritik an der naturalistischen Psychologie (von Bergson bis Heidegger), daß er zwar das Zeitbewußtsein als Fundament allen menschlichen Erlebens ausweist, zugleich aber dieses Zeitbewußtsein als ein in der äußeren Zeit lokalisiertes begreift. Noch Natorp hatte in seiner »Allgemeinen Psychologie« eingeschärft, daß die Zeit im Bewußtsein, nicht aber das Bewußtsein in der Zeit sei. Nicht nur Husserl, auch Heidegger hat dieses Werk intensiv studiert. Hönigswalds Kritik an Natorps Konzeption einer reinen »rekonstruktiven« Psychologie wendet sich gerade gegen die lebensphilosophischen Motive in ihr: gegen die Behauptung der »Unausdrückbarkeit« des Psychischen und die Bestimmung, daß die »volle Konkretion des Erlebens« das — unerreichbare — Ziel der Psychologie sei. Hönigswald nennt dies die »romantische Geste einer . . . feinsinnigen und wissenschaftsfreundlichen Mystik«. Psychologische Erkenntnis ist in jedem Falle als Erkenntnis »objektivierend«, wenn nitht das Prinzip der Korrelation von Methode und Gegenstand aufgehoben werden soll; nur ist diese Objektivierung eine spezifische, auf eigentümlichen Prinzipien beruhende. Wird die »Unausdrücklidikeit« des Psychischen zum Prinzip psychologischer Erkenntnis gemacht, so resultiert daraus eine Art von »negativer Psychologie«. Hönigswald betont gegen Natorp (und Cassirer) die »Worthaftigkeit des Sinnes«. Auch sei das Psychische nicht durch eine Subjektivierung des zuvor vollzogenen Objektiven zu gewinnen, so gewiß auch der gültige Sinnzusammenhang seine psychische Repräsentation fordere. Vgl. Prinzipienfragen der Denkpsychologie, S. 7 ff. (ähnlich auch die Kritik in den »Grundlagen der Denkpsychologie«).
148
» . . . zeitlose Akte des ,Ergreifens' von Gegenständen«, so schärft Hönigswald ein, »verlangen eine zeitlich bestimmte Stelle im Ablauf des Geschehens«174. Gefordert ist damit ein ausgezeichnetes Naturobjekt, das die Lokalisation der Monade in der äußeren Natur vermittelt 175 . Dieses Naturobjekt muß einerseits bedingungslos den Gesetzen der äußeren Natur unterworfen sein und andererseits zugleich monadologisch, d. h. präsentiell und reflexiv bestimmt sein178. Wie Hönigswald auf diesem Wege die spezifische Seinsbestimmtheit der organischen Zentralisation, Ganzheit etc. als eines möglichen Zeitorts des Erlebens deduziert, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Ebenso können wir seine subtilen Analysen, in denen er die Möglichkeit einer Vielheit von Monaden und ihren stets geschichtlichen Verständigungsbezug als notwendig zu begründen versucht, hier nicht mehr entwickeln. Uns konnte es, den Intentionen dieser Untersuchung entsprechend, nur auf eine Charakteristik der spezifischen Rückgangsdimension ankommen, die Hönigswalds Erkenntnisbegründung und seine Theorie der konkreten Subjektivität beherrscht. Ihr eines Ende sind diejenigen reinen Geltungsprinzipien, auf denen die gültige Gegenstandsbezogenheit aller Erkenntis beruht und die nicht verneint werden können, weil sie in jedem Versuch ihrer Verneinung noch als gültig vorausgesetzt werden müssen, und ihr anderes Ende ist gleichsam die Natur in ihrer reinen Sinnfreiheit und Sinnfremdheit, die die Bedingung der Möglichkeit für das Uberzeitlidikeit und Geschichtlichkeit in sich vereinigende ausgezeichnete zeitliche Seiende darstellt, welches die konkrete Subjektivität und die Erkenntnis selbst sind177. 3. Die Monadologie in ihrem Verhältnis zur Geltungstheorie transzendentalen Phänomenologie
und
Reflektieren wir abschließend noch einmal auf das Verhältnis Hönigswalds zur kritizistischen und phänomenologischen Transzendentalphilosophie: Rein äußerlich betrachtet nimmt bei Hönigswald in seinen frühen 174
Grundfragen, S. 49.
175
Vgl. Denkpsychologie, S. 83 ff. u. ö.
178
Vgl. Gleichzeitigkeit und Raum, in: Archiv für Philosophie, 1948, S. 77 ff.
177
Es ist zu beachten, daß bei Hönigswald auch die anorganische N a t u r in ihrer reinen Sinnfreiheit nicht nur als Inbegriff der Gegenstände positiver Erfahrung betrachtet wird, sondern grundfunktionalen Charakter erhält. Wie in Hartmanns SchichtenAufbau alles Reale letztlich auf die anorganische Natur zurückbezogen ist, so bildet sie auch bei Hönigswald die Grundlage für alle Faktizität. D a ß auch die Natur somit zu den »Prinzipien« gehört, scheint den Abstand zwischen den monadisdien Größen, die durch den »Zusammenfall von Prinzip und Tatsache« gekennzeichnet sind, und der anorganischen puren Natur wieder zu verwischen. In Wahrheit erhält sich der Abstand sehr wohl, denn die anorganische Natur ist nur in ihrer Totalität,
149
Schriften die Kritik an bestimmten Positionen des Marburger und Südwestdeutschen Neukantianismus einen größeren Raum ein, während später, offenbar gerade im Gegenzug zu der zeitgenössischen Meinung, daß der Neukantianismus überwunden sei, diese Kritik verstummt. Man muß dabei jedoch auch in Rechnung ziehen, daß einer solchen Kritik inzwischen der aktuelle Anlaß fehlte. Umgekehrt steht es mit seinem Verhältnis zur Phänomenologie. Wie manche der jüngeren Denker des Neukantianismus hat audi Hönigswald zunächst versucht, in ein positives Verhältnis zur Phänomenologie zu treten und ihre Funktion gegenüber der Geltungstheorie zu bestimmen. Das war für ihn um so leichter, als er bereits Berührungen mit der Gegenstandstheorie gehabt hatte und ihm in der Phänomenologie, wie sie von Husserl im 2. Bande der »Logischen Untersuchungen« begründet worden war, ein Denken entgegentrat, das seinen eigenen Intentionen auf Verknüpfung von Logik und Psychologie entgegenkam. Erst mit der Ausbildung der Phänomenologie zu einer reinen Wesenswissenschaft, die mit dem Anspruch auftrat, letztbegründende Philosophie zu sein, wandelt sich sein Verhältnis zu immer schärferer Kritik, die sich gerade gegen die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Phänomenologie richtet. Auch hier spielt selbstverständlich eine Rolle, daß die Phänomenologie inzwischen den Kritizismus überflügelt hatte. Konfrontiert man unmittelbar die entwickelte Hönigswaldsche Philosophie mit derjenigen des frühen Kritizismus, so ist der beträchtliche Abstand nicht zu verkennen. Nicht nur, daß Hönigswald die Unabhängigkeit des theoretischen Gegenstandes zu begründen versucht, auch in der inneren Ausgestaltung seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie befindet er sich von vornherein in einem Gegensatz zum Kritizismus178. Dessen Formalismus, der im Grunde für eine differenzierte Betrachtung verschiedener Gegenstandsbegriffe keinen Raum ließ, hat er bereits früh bekämpft. Besonders die Art und Weise, wie in der Marburger Schule alle Erkenntnis der mathematischen Reihenbildung angeglichen wurde, widersprach seinem Grundsatz, daß sich die Erkenntnis der Bestimmtheit des jeweiligen Gegenstandsbereiches anzupassen habe. In mehreren Erörterungen hat er die stillschweigende Identifikation von logischer Gesetzlichkeit und mathematischem Reihenprinzip, wie sie vor allem bei Natorp und Cassirer vorlag, kritisiert. In dieser Unterscheinicht aber in ihrem vereinzelten Seienden, von prinzipieller Valenz. Dadurch wird auch deutlicher, daß alle Tatsachen von Prinzipienrang immer vereinzelte Tatsachen sind, die andere neben sich haben. (Daher schließt alles Monadisdie in seiner Individualität die Möglichkeit von anderem ein, das mit ihm einer Ordnung der Bestimmtheit angehört.) 178
Vgl. Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre (Habilitationsschrift) 1906, und die Kritik von E . Cassirer, in: Kantstudien, Bd. 14, S. 91 ff.
150
dung von logischer und mathematischer Form begegnete er sich mit Rickert 178a . Statt einer Erörterung einzelner Beziehungen beschränken wir uns auf eine Analyse des grundsätzlichen Verhältnisses der kritizistischen Geltungstheorie zur Hönigswaldschen Monadologie. Hönigswald hat, wie wir sahen, den Geltungsgedanken nie aufgegeben, ihn aber audi nicht in sich entfaltet, sondern von vornherein zum Ansatzpunkt gemacht für seine spezifischen Interessengebiete, die wir summarisch unter dem Titel einer Philosophie der konkreten Subjektivität oder Monadologie zusammenfassen können. Wie der Geltungsgedanke die konkrete Subjektivität impliziert, war sein Thema, ohne daß er zwischen der Geltungsreflexion und der monadologischen Erkenntnisbegründung einen prinzipiellen Abstand sah179. Er war vielmehr davon überzeugt, daß die Geltungsreflexion, wie sie in der kritizistischen transzendentalen Logik ausgebildet worden war, nur durch eine Verankerung in der Monadologie zu einem Abschluß zu bringen sei. Das entsprach auch seiner Uberzeugung von der wesentlichen Ganzheit der Philosophie. Daß eine Philosophie audi das muß leisten können, was Hönigswald von ihr fordert, daß sie nämlich auch die konkrete Subjektivität berücksichtigen muß, steht außer Frage. Ein Rückfall in die kritizistische Ausgangsposition mit ihrer Ausschaltung aller Fragen, die sich nicht in geltungslogische verwandeln lassen, ist daher für alle Zeit ausgeschlossen. Hier hat Hönigswald in einer Weise, die auch durch den Kritizismus nicht desavouiert zu werden vermag, gezeigt, daß die Philosophie der konkreten Subjektivität ein legitimes und notwendiges Thema auch derjenigen Erkenntnistheorie ist, die sich bewußt am Geltungsproblem entzündet. Eine andere Frage ist es jedoch, ob dadurch Geltungstheorie und Monadologie zu einem solchen Ganzen verschmelzen, daß in ihm beiden Themen keinerlei Selbständigkeit mehr zukommt. Uns will es scheinen, als habe Hönigswald vor allem dies eine gezeigt, daß und wie sich eine Philosophie, die sich mit dem Menschen in seiner zeitlichen, naturalen und geschichtlichen Wirklichkeit befaßt, auf die reine Erkenntnistheorie zurückbeziehen lasse und wie sie in dem Maße, in dem dieser Rückbezug 1784
Vgl. vor allem: Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, 1912, sowie: Zur Wissenschaftstheorie und -systematik (mit besonderer Rücksicht auf H . Rickerts Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft), in: Kantstudien, Bd. 17, S. 28 ff.; und: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu E. Cassirers gleichnamigem Werk, in: Deutsche Literaturzeitung, J g . 33, 1912, S. 2882 ff. und 2886ff.
170
Vgl. auch die Arbeit des Hönigswald-Schülers M. Löwi, Zum Problem der Ganzheit, 1927, mit ihrer Abwandlung des Kantischen obersten Grundsatzes, S. 18 f.: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis sind zugleich geknüpft an die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens und haben darum objektive Gültigkeit und umgekehrt.« Die Arbeit enthält auch eingehende Auseinandersetzungen mit dem Marburger Erkenntnisbegriff.
151
gelingt, an einer Sicherheit gewinnt, die sie immun macht gegenüber allen von der reinen Erkenntnistheorie perhorreszierten Gefahren des Relativismus in seinen mannigfachen Spielarten. Kehren wir noch einmal zu der kritizistischen Geltungstheorie zurück und betrachten sie in ihrem Abstand von der Monadologie. Die kritizistische Geltungstheorie hatte die Erkenntnis in ihrer reinen Ungegenständlichkeit, d. h. als eine Sphäre von Urteilen betrachtet, die nur hinsichtlich ihrer zeitlosen, d. h. logischen Bezogenheit auf Gegenstände gedacht werden sollen. Diese Relation, durch die sich Urteile auf Gegenstände beziehen, durch die in einem Urteil ein Gegenstand gedacht wird, ist selbst keine reale, zeitliche Beziehung, sondern eine unzeitliche, zeitfreie. Wenn auch die Erkenntnis in dieser transzendental-logischen Relation von Urteil und Gegenstand des Urteils nicht aufgeht, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich jede Erkenntnis auch in dieser Weise muß betrachten lassen können. Es war die Entdeckung der Geltungslogik, daß sich dieser Reflexion auf das Verhältnis von Urteil und Urteilsgegenstand eine Dimension erschließt, die gerade das Denken in seiner Autonomie und in seiner Fundamentalität begreifbar werden läßt. Für die Kritizisten schloß sich der Inbegriff derjenigen Leistungen, durch die sich Urteile auf Gegenstände beziehen, unter dem Titel des »reinen Denkens«, der »transzendentalen Apperzeption«, des »Bewußtseins überhaupt« usf. zu einer Einheit zusammen, deren Korrelat eben »der Gegenstand« als ein in der Erkenntnis begriffener und zu begreifender ist. Wenn diesem reinen Denken oder Bewußtsein überhaupt »Leistungen« zugedacht werden, so kann das nicht den Sinn zeitlicher Vollzüge haben. Die Rede von solchen Leistungen verliert deshalb jedoch nicht jeden Sinn. Es handelt sich hierbei nämlich um Leistungen, die wir Prinzipien im Hinblick auf ihr Prinzipientum zudenken. Das reine Denken als Prinzip leistet eben dies, daß es nicht nur Seiendes, sondern gültige Urteile und Begriffe von Seiendem gibt, es macht das Erkennen gegenstandsbezogen und ermöglicht zugleich das Gedachtsein des Seienden. Die Frage, wie sich die Erkenntnis, in ihrer reinen Ungegenständlichkeit, betrachtet, auf die Zeit abzubilden vermag, was also in einer rein transzendentallogischen und von allen Rücksichten auf die Zeit absehenden Betrachtung aus dem Phänomen des Erkenntnisprozesses u. ä. wird, bedarf dabei natürlich einer besonderen Erörterung. Hier ist nur entscheidend, daß auch solche Tatsachen wie die Progressivität der Erkenntnis in der Geltungsreflexion eine Charakteristik erfahren, die von der Zeit absieht und gerade dadurch die Leistung des zeitlichen Erkenntnisprozesses zu begründen vermag. Wenn der Erkenntnisprozeß nicht nur eine schlichte Tatsache, sondern aus den transzendentallogischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis gerechtfertigt ist, so nur, weil Erkenntnis auch ihrem transzendentallogischen Sinne nach Bestimmung eines zu Bestimmenden zum Bestimmten ist. Daß die Abfolge der Setzungen, ihre Dis152
kretion und Synthesis, im konkreten Denken nur auf Grund einer spezifischen, komplexen Zeitlichkeit dieses zugleich durch Reflexivität ausgezeichneten, konkreten Denkens ist, wird dadurch nicht geleugnet. So gewiß jedoch die Beziehung des Urteils und Urteilszusammenhangs auf seinen Gegenstand eine zeitfreie ist, so gewiß muß sich auch von der Zeitlichkeit des Denkens aus methodischen Erwägungen absehen lassen, um den reinen Leistungscharakter des Denkens zu eruieren, der auch noch für das Denken in seiner Zeitlichkeit konstitutiv ist. Denn nur, weil es das Denken vermag, gültige Urteile und Theorien vom Gegenstand aufzubauen, kann auch dem konkreten, zeitlichen Erkenntnisprozeß Gegenstandsbezogenheit zukommen. Dafür, daß es möglich ist, von allen Rücksichten auf die Zeit und die Zeitlichkeit des Denkens abzusehen, ist die formale Logik ein Beispiel. (Zugleich liegt hier das Motiv für die Annäherung der transzendentalen Logik an die Mathematik in der Marburger Schule, die allerdings mehr zur Verwirrung als zur Klärung der Geltungsproblematik beigetragen hat.) Aber die formale Logik fragt nicht nach den Prinzipien, die die Leistung des Logischen (der Begriffe, Urteile, Schlüsse), Bestimmung eines Gegenstandes zu sein, ermöglichen. Erst die Geltungslogik begreift das Denken als Grund, indem sie fragt, was die einzelnen logischen Funktionen zum Aufbau einer gültigen Theorie vom Gegenstande beitragen. Das reine Denken ist also das schlechthin andere zu jedem Gegenstande der Theorie. Es ist das reine und als solches ungegenständliche Korrelat aller Gegenstände der Erkenntnis. Denn Gegenstände der Erkenntnis gibt es als solche Gegenstände nicht nur für ein Denken, sondern auch nur durch ein Denken, das dazu in der Lage ist, gültige Begriffe, Urteile und Schlüsse vom Gegenstande zu bilden. Hönigswalds Erkenntnistheorie thematisiert demgegenüber das Denken nicht nur als reines ungegenständliches Prinzip, sondern als Vollzug in seiner spezifischen Zeitlichkeit. Das Denken als Vollzug ist je vereinzeltes. Es ist nicht Denken eines Bewußtseins überhaupt, sondern eines jeweiligen individuellen Subjekts, das eine unbegrenzte Vielzahl anderer individueller Subjekte neben sich hat. Insofern ist es ein Tatsächliches, Innerweltliches. Aber auch das Denken als Vollzug ist trotz seiner radikalen Vereinzelung kein bloßer Teil der Welt, sondern ein solcher Teil, der zugleich universal, im Hinblick auf das Ganze der Welt bestimmt ist. Die Monade ist trotz ihrer Innerweltlichkeit zugleich Korrelat der Welt. Sie ist die Möglichkeit, alles zu denken. Nur als Weltbewußtsein, und d. h. sofern sie als solches außerhalb der Welt und die Welt in ihr als ihr Korrelat ist, ist sie auch ein Teil der Welt. Das ist das entschieden Neue, das durch die Philosophie Hönigswalds in die Erkenntnistheorie unseres Jahrhunderts eingeführt worden ist, daß sich auch vom konkreten, zeitlichen Denkvollzug nicht nur als von einem puren Gegenständlichen muß reden lassen. Zugleich aber hat er gegenüber allen Formen der bis153
herigen Transzendentalphilosophie die Rechtfertigung dafür beigebracht, das Subjekt ganz und gar als ein reales, tatsächliches zu bestimmen. Hönigswalds Monadologie stellt ohne Zweifel einen bedeutsamen Fortschritt gegenüber der kritizistischen Geltungslogik dar. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß diese in ihrem sachlichen Kern durch die Monadologie ersetzt werden könne. (Das dürfte auch nicht die Meinung Hönigswalds gewesen sein, wenngleich das Geltungsproblem von ihm nie im Sinne einer transzendentalen Logik wirklich entfaltet worden ist.) Denn audi dem konkreten Weltbewußtsein gegenüber, das die Monade darstellt, bleibt nicht nur die Frage bestehen, vermöge welcher Seinsprinzipien es sich als ein Seiendes in der Welt vom Range Denken aufbaut, sondern audi vermöge welcher Prinzipien es ein Weltbewußtsein (Bewußtsein der Welt selbst und nicht nur 'einer Umwelt) ist. Was die Monade dazu befähigt, ein solches Weltbewußtsein zu sein, kann nicht zugleich sie selbst als Teil der Welt aufbauen. Um Bewußtsein einer Welt sein zu können, muß die Monade zu Leistungen des Bestimmens von Gegenständen fähig sein. Es geht jedoch nicht an, ihr eine solche »Fähigkeit« einfach zuzudenken. Die Entfaltung der Frage, worauf sie beruht, ist aber das Thema der Geltungsreflexion, die auf das reine Denken führt. Das Subjekt kann also nicht schlechterdings und in jeder Hinsicht konkret sein, wenn es nicht aufhören soll, Subjekt zu sein: — ohne das reine Denken kein gültiger Begriff und keine Erkenntnis, audi nicht eine solche von der konkreten Subjektivität selbst. Aber wenn die konkrete Subjektivität auch nicht selbst Bedingung der Gültigkeit ihrer Erkenntnis ist, so kann doch sie allein gültige Erkenntnis in der Welt realisieren. Dazu muß sie in der Lage sein, den Fluß der Zeit in sich zu überwinden, muß in geschichtlichem Verständigungsbezug mit anderen erkennenden Subjekten stehen und muß vermittels ihres Organismus der Erkenntnis eine Stätte in der Natur bereiten. Alle Prinzipien der Monadizität der konkreten Subjektivität sind Prinzipien für den Welteingang der Erkenntnis; alle reinen Geltungsprinzipien aber sind Prinzipien für den Uberstieg des Denkens über die Welt und über alles innerweltlich Seiende, durch den es allererst Seiendes als erkanntes Seiendes gibt. Schwieriger ist das Verhältnis der Monadologie Hönigswalds und der transzendentalen Phänomenologie Husserls zu bestimmen, weil sich die Themen beider Philosophien in weitem Maße decken. Audi Husserl hat von einem gewissen Zeitpunkt ab seine transzendentale Phänomenologie als eine phänomenologische Monadologie gestaltet. Hier kann also das Verhältnis beider erst recht nicht als bloße Erweiterung und Ergänzung betrachtet werden. Hönigswalds Verhältnis zur Phänomenologie läßt sich am besten an Hand des Vortrages über »Prinzipienfragen der Denkpsychologie« (1913) erörtern, weil in ihm die Polemik noch weitgehend zurücktritt. 154
Hönigswald erblickt in der Phänomenologie gleichsam das Verbindungsglied zwischen der Logik und Erkenntniskritik einerseits und der experimentellen Denkpsychologie andererseits. Phänomenologie und Erfahrungspsychologie bilden als Theorie des Bedeutungsbewußtseins und als Analyse der Gesetzlichkeit, die die zeitliche Bestimmtheit der Bedeuttungserfassung beherrscht, die beiden Formen der Denkpsychologie180. Beide können nicht ineinander übergehen. »Niemals dürfen die Umstände, die den Eintritt jener spezifischen Seinsbestimmtheit des Bedeutungserlebnisses in der Zeit beherrschen, um ihm damit den Stempel ihrer Eigenart aufzuprägen, übersehen werden; und ohne ihre nur durch experimentelle Methoden mögliche kritische Herausstellung wäre eine Psychologie des Denkens überhaupt nicht möglich. Aber niemals kann andererseits die Struktur des Bedeutungserlebnisses selbst mit der empirischen Gesetzlichkeit jener Umstände, also die zeitliche Bestimmtheit seines ,Seins' mit der Zeitlosigkeit der Beziehung, in der es besteht, verwechselt werden.« 181 Es ist geschichtlich überaus bemerkenswert, wie Hönigswald in dieser Arbeit die entscheidenden Grundbegriffe seiner Denkpsychologie im Anschluß an Lehrstücke der Phänomenologie Husserls entwickelt, so die Korrelation von Bedeutung und Bedeutungserlebnis, von Bedeutung, Bedeutungsbewußtsein und -ausdruck, von Inhalt und Gegenstand, Sinn und Wort usf. 182 Trotz der großen Bedeutung, die Hönigswald der Phänomenologie beimißt, ist sie seiner Meinung nach jedoch »kein Ersatz für die kritische Erkenntnistheorie . . . , sondern ein unerläßlicher . . . Teilbestand der Denkpsychologie« 183 . Die scharfe Kritik, die Hönigswald in seinen späteren Werken an der Phänomenologie geübt hat, ist in ihren Grundgedanken bereits hier enthalten. Was der Kompetenz der Phänomenologie grundsätzlich entzogen ist, weil es von ihr vorausgesetzt werden muß, ist das Gegenstandsproblem einerseits und die Geltungsproblematik andererseits. Phänomenologie kann die Unabhängigkeit des Gegenstandes nicht begründen, weil in ihr als in einem Teil der Denkpsychologie Objekte nur als Sinn zum Problem werden184. Desgleichen muß sie die Prinzipien voraussetzen, die den Sinn zur Wahrheit determinieren. Ebenso wie daher der Begriff des Gegenstandes außerhalb der Grenzen der Phänomenologie liegt, weil der »intentionale Gegenstand« als solcher noch erkenntnisindifferent ist, ebenso entbehrt die Phänomenologie als solche aller Kriterien für die Bewertung der 180
Vgl. A.a.O., S. 12 f., 26, 29 u. ö.
181
A.a.O., S. 19.
182
Vgl. etwa a.a.O., S. 18 f., 22 ff., 39 ff.; direkte Hinweise auf Husserl finden sich S. 19, 22, 30 und 39.
18S
A.a.O., S. 30.
184
Vgl. A.a.O., S. 23.
155
Wahrheit von Bedeutungserlebnissen. Wie der intentionale Gegenstand noch gleichgültig dagegen ist, ob er negativ oder positiv, absurd oder möglich ist, so ist audi das Bedeutungserlebnis in seinem phänomenologischen Bestand noch nicht im Sinne der Wahrheit determiniert185. Nach zwei Seiten bestimmt also Hönigswald die Grenzen der Phänomenologie, einmal, gleichsam nach oben hin, zur Erkenntniskritik und Theorie der Gegenständlichkeit, zum anderen gegen eine experimentelle Form der Denkpsychologie, die die zeitliche Bestimmtheit der Denkerlebnisse erforscht. Audi in seinen späteren Schriften hat Hönigswald der Phänomenologie, die sich von diesen beiden korrelativen Betrachtungen freizumachen und selbst als Erkenntnistheorie und Theorie des Gegenstandes zu etablieren sucht, die Verfehlung des eigentlichen Erkenntnis- und Gegenstandsproblems vorgeworfen. Wie die Phänomenologie für ihn nur der gleichsam reine Teil der Denkpsychologie sein konnte, so mußte ihr Gegenstandsbegriff letztlich ein psychologischer bleiben. Nicht so sehr als Kritiker des phänomenologisdien Erkenntnis- und Gegenstandsbegriffs ist Hönigswald für uns hier interessant. Als soldier steht er nicht allein da, sondern ihm wird von den Kritizisten, aber audi etwa von N . Hartmann sekundiert. Wichtiger ist das Verhältnis seiner Monadologie zu Husserls Lehre von der reinen und transzendentalen Subjektivität. Husserl hatte diese Subjektivität in aller Ausschließlichkeit als eine extramundane gedacht und war dadurch dem Verdacht eines metaphysischen Idealismus verfallen. Hönigswald kann insofern als ein radikalerer Kritiker Husserls gelten als die, die die Extramundanität der transzendentalen Subjektivität ganz leugnen und dabei auch das Problem der Transzendentalphilosphie aus der Hand geben, weil er diese Extramundanität zugesteht, zugleich aber die Einbeziehung des Subjekts und der Subjekte in die reale Welt fordert. Husserls Phänomenologie hat zum Thema den Aufbau der objektiven Welt im Bewußtsein. Er fragt nach den konkreten Erlebnissen, in denen sich die reale Welt als solche für ein Subjekt konstituiert. Diese Erlebnisse sind konkret und zeitlich, aber nicht schon in ihrer äußeren Zeitlichkeit gedacht. Husserl fragt nicht, auf Grund welcher Seinsbeschaffenheit es der transzendentalen Subjektivität möglich ist, die Welt im Denken zu konstituieren. Gerade um das Sein dieser Subjektivität und die Prinzipien, die ihren Eingang in die reale Welt ermöglichen, geht es in der Hönigswaldschen Monadologie. Dieses Sein und diese Prinzipien sind nicht selbst phänomenologisch zu erfassen. Hönigswald klärt also gerade das Verhältnis von transzendentaler Phänomenologie und Psychologie, indem er die Notwendigkeit begründet, die transzendentale Subjektivität zugleich als eine innerweltliche und reale zu denken. 185
A.a.O., S. 29 f.
156
IV. GNOSEOLOGIE UND ONTOLOGIE Nicolai Hartmann galt im 2. und 3. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts als der eigentliche Uberwinder der Transzendentalphilosophie in ihrer neukantianischen und phänomenologischen Form, bis auch sein Einfluß durch die Existenzphilosophie zurückgedrängt wurde. Gerade die Beurteilung und Interpretation Hartmanns ist bedeutenden Schwankungen unterworfen gewesen. Zunächst erschien er als Phänomenologe, der die stille Intention der Phänomenologie auf eine Ontologie der realen Welt erfüllt habe 186 , dann wieder, und zwar eigentlich erst in den letzten Jahren, trat die Kontinuität seiner Ontologie mit dem Denken seiner eigenen Marburger Anfänge und dem Denken seiner dortigen Lehrer stärker hervor. Nachdem man lange in ihm nur den Antipoden des Neukantianismus gesehen hat, erscheint er nunmehr wie ein Fortbildner und Uberwinder des Kritizismus, der jedoch ohne diesen nicht zu begreifen ist. Hartmann hat selbst viel dazu beigetragen, daß dieser erste Eindruck entstehen konnte, indem er lange Zeit in aller Schärfe gegen den Kritizismus polemisierte. Seine »Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis« lassen sich in ihrem systematischen Gehalt als eine einzige Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus lesen187. Dennoch muß man sich vor der Gefahr hüten, Hartmann nur von den Positionen aus zu interpretieren, auf denen seine Gegnerschaft gegen den Kritizismus beruht. Das Bild seiner Leistung rundet sich erst dann, wenn man zugleich berücksichtigt, in welchen Punkten Hartmann die kritizistischen Grundpositionen weitergeführt, erweitert und von unkritischen Einflüssen gereinigt hat. Gerade im Felde der Erkenntnistheorie führt der Abstand, in dem sich Hartmanns Gnoseologie von aller Transzendentalphilosophie befindet, leicht dazu, ihn nur als einen realistischen Denker und als Ontologen der Erkenntnisrelation zu bestimmen. Dieser erste Eindruck bedarf jedoch der Präzisierung, wobei vor allem festzustellen ist, in welcher Richtung Hartmann über die Transzendentalphilosophie hinausgeht. Innerhalb der Arbeiten Hartmanns zum Erkenntnisproblem lassen sich vier Entwicklungsstufen unterscheiden, zwischen denen allerdings keine scharfen Einschnitte und Umbrüche liegen. Von Hartmann gilt in ähnlicher Weise dasselbe wie von Hönigswald, daß sich seine Lebensarbeit als eine Entfaltung einmal ergriffener Grundprobleme begreifen läßt, mit dem Unterschied, daß Hönigswalds Arbeiten immer wieder dieselben Themen umkreisen, während Hartmann seine Philosophie in groß angelegten, sich ergänzenden Werken schrittweise aufbaut. Das be186
Vgl. M . Landmann, Das phänomenologische Moment bei N . Hartmann, in: Erkenntnis und Erlebnis, 1951, S. 39 ff.
187
Ein geplanter zweiter Teil ist leider nicht mehr zur Ausführung gelangt. Vgl. H . Heimsoeth, Nachruf auf N . Hartmann, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften u. d. L., Mainz 1950.
157
sagt jedoch nicht, daß nicht auch bei ihm die Grundkonzeption in allen Phasen anwesend sei. Was wechselt und die verschiedenen Entwicklungsstufen überhaupt voneinander abhebt, ist mehr die jeweilige Anlehnung an das Vokabular anderer Philosophien. In der ersten Phase, die durch seine frühen Arbeiten bis zum Erscheinen der »Metaphysik der Erkenntnis« repräsentiert wird, steht seine Terminologie noch unter dem Einfluß der Marburger Schule, was dazu geführt hat, ihn selbst für einen Marburger Neukantianer zu halten. In Wahrheit weisen bereits die Abhandlungen aus dem Jahre 1912 über den ursprünglichen Kritizismus hinaus188, und man müßte sich schon auf Hartmanns Dissertation und seine Habilitationsschrift (beide 1909) stützen189, um ihn zum Marburger stempeln zu können. Die für uns bedeutendste Schrift dieser Phase ist die Abhandlung über »Systembildung und Idealismus«. Selbstverständlich kann sie nur als Vorbereitung Berücksichtigung finden, aber sie hat für uns den Vorzug, daß sie die Ausgangsposition und die Grundmotive Hartmanns besser hervortreten läßt als sein eigentliches Hauptwerk zur Erkenntnistheorie. — Die 2. Phase der Entwicklung seiner Erkenntnistheorie wird durch die »Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis« (1. Aufl. 1921, 2. erw. Aufl. 1925) repräsentiert. Dieses Werk bildet zwar die Grundlage der Hartmannschen Erkenntnistheorie und muß daher vor allem zu Rate gezogen werden. Dennoch gibt es für sich allein genommen leicht ein verzerrtes Bild der Hartmannschen Grundpositionen, weil in ihm manches, das nur aus der Zeit seiner Entstehung zu erklären ist, dominiert. Vor allem erscheint in ihm der Einfluß der Phänomenologie größer, als er es unter sachlichen Gesichtspunkten ist. — Hartmann hat die »Metaphysik der Erkenntnis« nach der 2. Auflage nicht mehr überarbeitet. Er hat auf sie stets zurückverwiesen. Dennoch lassen sich audi nach ihr noch zwei weitere Phasen unterscheiden, in denen Hartmanns Äußerungen zum Erkenntnisproblem eine charakteristische Färbung aufweisen. Im »Problem des geistigen Seins« (1933) ist es vor allem Hegel, dessen Einfluß sich in der Bestimmung des Er-
188 Yg[_ »Systematische Methode« und »Systembildung und Idealismus«. 189
»Piatos Logik des Seins«, und: »Des Proklus Diadochus philosophische Anfangsgründe der Mathematik«. In Piatos »Logik des Seins« vertritt Hartmann auch hinsichtlich der Subjektsproblematik die Marburger Positionen. D i e Idee verlegt den Nachdruck auf die Seite des Denkens. »Daher finden wir in der Crrroösais die weise Beschränkung auf das eine von ihnen, nämlich auf das objektive Problem, die Seite des Gegenstandes und des S e i n s . . . Moderner ausgedrückt, ist das ursprüngliche Problem ein zugleich logisches und psychologisches; so steht es in der Idee da. Soll es fortschreiten, so muß die Restriktion aufs Logische stattfinden. Diese Restriktion ist die ϋττόθεσίζ; so erst reinigt sich das logische Problem.« (S. 278 f.). D a s bedeutet zugleich die Beschränkung auf das reine, identische, allgemeine Bewußtsein, das im Unterschied zum vielgestaltigen individuellen nicht das empfindende oder begehrende, sondern das denkende, das Ideenbewußtsein ist (S. 286). Aber durdi diese
158
kenntnisverhältnisses bemerkbar macht190. Das hat den Vorzug, daß Hartmann hier gegenüber der phänomenologisch-isolierenden Methode der »Metaphysik der Erkenntnis« eine stärkere dialektische Vermittlung der Grundbegriffe anstrebt und dadurch manches Mißverständnis, das aus der Isolation der »Phänomene« des Erkenntnisverhältnisses resultierte, gegenstandslos wird. — Endlich hat Hartmann sich noch im letzten Jahrzehnt seines Denkens stärker der Anthropologie, und zwar besonders unter dem Einfluß von Gehlen, zugewandt und die Grundgedanken seiner Erkenntnistheorie anthropologisch zu interpretieren und zu modifizieren gesucht191. Wir werden bei unserer Analyse so verfahren, daß wir die Äußerungen der verschiedenen Phasen heranziehen. Das hat den Vorteil, daß wir von dem abzusehen vermögen, was bei Hartmann nur peripher und in einer bestimmten Phase seines Denkens dominierte, und wirklich den Kern seiner Erkenntnistheorie herauszuarbeiten versuchen können. Gerade bei Hartmann ist es wichtig, seine Position so stark wie möglich zu machen, da ihre Fundamente bei ihm selbst durchaus nicht immer am Tage liegen. Wenn die bisherige Interpretation Hartmann entweder von der Phänomenologie oder aber vom Kritizismus her zu begreifen suchte192, so Beschränkung auf das Seinsproblem wird das Subjektsproblem nicht aufgehoben, sondern nur zurückgestellt (S. 299). — Auch hier ist wieder deutlich erkennbar, wie Piaton in der Marburger Schule als Schutzhelfer gegen den Subjektivismus, der den Idealismus bedroht, herhalten muß. Der spätere Hartmann setzt nur diese Linie fort; Piaton ist im Apriorismus-Problem radikaler als K a n t (vgl. Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie, 1935, KI. Sdir. I I ) . 190
Vgl. das Vorwort zur l . A u f l . sowie vor allem das 10. Kapitel über »Die Objektivität« , 2. Aufl. S. 115 ff. Daneben ist für die Theorie der Geisteswissenschaften der Einfluß Diltheys unverkennbar, während sich Hartmann für die Bestimmung des Verhältnisses von geistlosem und geistigem Bewußtsein auf die philosophische Anthropologie Schelers und Plessners zurückbezieht.
191
Vgl. u. a. »Naturphilosophie und Anthropologie« in: Blätter für deutsche Philosophie, 1944, und »Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie« (1949), in: Kleinere Schriften, Bd. 1, 1955. Auf den Einfluß der Anthropologie deutet vor allem hin, daß Hartmann die Verschiebbarkeit der kategorialen Grundrelation als ein Anpassungsphänomen bestimmt. Zu der von Hartmann geforderten »Eingliederung des Erkenntnisproblems in den größeren anthropologischen Problemzusammenhang« (Kl. Schriften I, S. 89 ff., 122 ff.) und den dadurch bewirkten Modifikationen vgl. audi Η . Beele, Das transzendentale Problem in der Philosophie N . Hartmanns, Diss. Göttingen 1959, S. 133 ff., 148 ff. — Die neue Lehre von der Beweglichkeit der »Kategorien des Begreifens« bringt Hartmann audi wieder in eine größere Nähe zu Cohen; vgl. etwa dessen »Logik der reinen Erkenntnis«, 2. Α., S. 5 8 5 : »Die fortschreitende Wissenschaft sucht und findet ihrem sachlichen Fortschritte gemäß immer tiefere und genauere Grundlagen; sie muß daher ihre Prinzipien immer neu formulieren und demgemäß ihre Grundbegriffe gemäß ihrer Geschichte verwandeln.«
192
In welchem Maße auf die Ausbildung des Hartmannschen Erkenntnisbegriffes auch der Intuitivismus N . Losskijs eingewirkt hat, bedürfte einer gesonderten Untersuchung. Audi Losskij will voraussetzungslos beim »Erkenntnisphänomen« ein-
159
wollte es von beiden Seiten aus nicht gelingen, den eigentümlichen Einsatz Hartmannns zu bestimmen. Es ist nicht nur ein Zufall, daß wir in unserer Untersuchung Hartmann im Anschluß an Hönigswald erörtern. Dabei ist nicht etwa an einen Einfluß Hönigswalds auf Hartmann gedacht; ein solcher liegt offensichtlich nicht vor und läßt sich audi nicht rekonstruieren. Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« war bereits erschienen, als die Hauptwerke Hönigswalds zur Veröffentlichung kamen. Nichts deutet auf beiden Seiten darauf hin, daß sie die innere Affinität ihres Denkens erkannt hätten. Diese Affinität folgt, unabhängig von einer persönlichen direkten Einflußnahme, aus ihren gemeinsamen Ausgangspositionen und der Problemsituation, in der sie ihre Grundgedanken konzipierten. Für beide ist diese Problemsituation durch die Lage des Kritizismus im Beginn unseres Jahrhunderts und durch die neue Phänomenologie und Gegenstandstheorie ausgemessen. Beide streben sie über eine bloße Erkenntnistheorie hinaus zu einer universalen Theorie des Gegenstandes, wobei sie zugleich an der Differenzierung der Gegenstandsbereiche ein entschiedenes Interesse nehmen. Zwischen Hönigswalds Monadologie und Hartmanns Schichtenlehre bestehen bemerkenswerte Ubereinstimmungen. Wichtiger als diese, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, ist ihr Versuch, Phänomenologie und Kritizismus in einer neuen Philosophie zu verbinden. Wir hatten gesehen, wie für Hönigswald die durch die Psychologismus-Kritik aufgerissene Kluft zwischen reiner Logik und Psychologie einen entscheidenden Anstoß zur Ausbildung seiner Monadologie darstellte. Hartmann geht von der gleichen Situation aus, und seine Idee einer Gnoseologie entspringt demselben Bedürfnis, die Kluft zwischen Logik und Psychologie zu überbrücken193. Die ersten Schritte in dieser Richtung lassen sich in der Abhandlung »Systembildung und Idealismus« aufweisen. Den Kern dieser Arbeit, in der es äußerlich um die derzeit viel diskutierte »Standpunktfrage« von Idealismus und Realismus geht, bildet eine Durchforschung der verschiedenen Problembereiche der Philosophie im Hinblick auf die »Abwandlung«, die das fundamentale Prinsetzen (vgl. seine »Grundlegung des Intuitivismus«, 1908, und »Die Umgestaltung des Bewußtseinsbegriffes in der modernen Erkenntnistheorie und ihre Bedeutung für die Logik«, in: Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften, herausg. von A. Rüge, 1912). 193
Einen ähnlichen Versuch machte M. Scheler in seiner Habilitationsschrift »Die transzendentale und psychologische Methode«, 1900; auch Scheler versteht dabei die transzendentale Methode in dem Sinne, den sie bei den Neukantianern erhalten hatte. Er sieht die neue Aufgabe in einer »noologischen Methode«, die sich gleichsam als eine Synthese der beiden anderen ergibt. Ihr Gegenstand ist der »Geist«, der eine »Einheit von Wirklichkeit und Geltungsanspruch« darstellt. Scheler ist hier wie später noch öfter der Vorreiter einer neuen Bewegung. Es ist interessant und bedürfte einer eigenen Untersuchung, wie auch er von hier aus vorübergehend den Weg zur Phänomenologie gefunden hat.
160
zipienpaar von Subjekt und Objekt in ihnen erfährt 194 . Der Gesamthorizont ist dabei noch der des Marburger Systems mit seiner Einteilung in Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie. Aber diese Disziplinen erschöpfen nach Hartmann nicht den Bereich philosophischer Fragen, so daß als entscheidender Schritt sich am Ende die Forderung nach einer neuen philosophischen Fragestellung ergibt. Hier sollen nur die Voraussetzungen dieses Ergebnisses analysiert werden. Von der Erörterung der ethischen und ästhetischen Probleme sehen wir daher ganz ab. Wie E. Lask in seinen gleichzeitigen Arbeiten radikalisiert auch Hartmann zunächst den Objektivismus der kritizistischen Logik so weit, daß sie zu einer reinen »Seinslogik« wird. Diese Disziplin, die die erste und fundierende Stellung im System der Philosophie einnimmt, also durchaus als philosophia prima verstanden wird, hat nach Hartmann den Vorzug, daß sie von jeder Bezogenheit des Gegenstandes auf die Subjektivität abstrahiert. Ihr Problem ist allein der Gegenstand und seine Prinzipien. Es gibt nach Hartmann keine zwingende Notwendigkeit, die Gegenstandsprinzipien in ein Subjekt zu verlegen. Daher kann er sagen: Die Logik »läßt sich anstandslos als voller Realismus durchführen« 195 . Dennoch ist die Seinslogik nach Hartmann nicht etwa realistisch. Sie steht vielmehr noch »diesseits« der ganzen Standpunktfrage. Entscheidend ist nur, daß sie eine reine Kategorienlehre des Seins ist. Die »Abstrahierbarkeit von aller Subjektivität«, die ihren »Vorzug« bildet (a.a.O., S. 68), bedeutet nicht, daß der Fundamentalgegensatz von Subjekt und Objekt für sie einfachhin seine Geltung verlöre. Hartmann ist der Frage nicht nachgegangen, was die Abstraktion von der Subjektivität für den Begriff der Subjektivität selbst und seine Abwandlung im Felde der Logik bedeutet. Daß diese Abstraktion nicht einfach einen Ausfall der Subjektsbeziehung beinhaltet, deutet Hartmann dadurch an, daß er von einer »Problemgrenze« der Logik spricht (ebd.). Wie sich aus dem Verlauf der Abhandlung ergibt, handelt es sich vor allem darum, daß die Seinslogik von der Beziehung des Gegenstandes auf das konkrete psychologische Subjekt absieht. In der Psychologie hingegen erfährt die Subjekt-Objektbeziehung ihre entgegengesetzte Abwandlung. Die Psychologie hat es allein mit dem in seine Sphäre eingeschlossenen Subjekt zu tun und abstrahiert von der Beziehung auf den Gegenstand. Audi sie ist daher standpunktlich indifferent. Daß auch hier die Subjekt-Objektbeziehung nicht einfach ausfällt, zeigt sich darin, daß in der Psychologie das Subjekt sich selbst zum Gegenstande macht. Beide Disziplinen konstitu194
Eine eingehendere Interpretation dieser Abhandlung, wenngleich von einer anderen Fragestellung aus, hat der Verfasser in seiner Dissertation »Fundamentalanalyse und Regionalanalyse«, Köln, 1957, S. 54 ff. gegeben. Vgl. audi seine Besprechung des 3. Bandes der »Kleineren Schriften« in den Kantstudien, Bd. 53, 1961/62, S. 107 ff.
195
Vgl. Kleinere Sdiriften, Bd. 3, S. 68.
11
Brelage
161
ieren sich also gleichsam durch eine methodische Abstraktion vom Subjekt bzw. vom Gegenstand. Diese Abstraktion ist gerechtfertigt, bedeutet aber gleichwohl, daß in beiden noch das eigentliche Erkenntnisproblem eingeklammert bleibt. Daher entwickelt Hartmann im Schlußteil seiner Abhandlung die Idee einer Erkenntnistheorie, welche gerade die »Aktualität der Relation von Subjekt und Objekt« erforscht (ebd. S. 77). Diese Erkenntnistheorie geht also weder in der Seinslogik noch in der Psychologie auf. Sie steht zwar nicht diesseits, dafür aber jenseits des Gegensatzes der Standpunkte. Die relativ gedrängte Abhandlung des Jahres 1912 enthält zwar beileibe noch nicht den Grundriß der Hartmannschen Erkenntnistheorie, sie nimmt aber in ihren Kernthesen die entscheidenden Positionen der »Metaphysik« vorweg: Die Behauptung der fundierenden Rolle der »Seinslogik« oder »Ontologie« im System der Philosophie und die Fassung der aktuellen »Erkenntnisrelation« als eineit Beziehung zwischen dem Bewußtsein in seiner Immanenz und dem transzendenten, von aller Bezogenheit auf die konkrete Subjektivität unabhängigen Gegenstand. Bevor wir uns jedoch der »Metaphysik der Erkenntnis« zuwenden, sollen die Grundbestimmungen, die aus der frühen Abhandlung folgen, noch ein wenig durchreflektiert werden. Die Methode, mit der Hartmann in dieser Abhandlung vorgeht, hat zwar bereits manche Ähnlichkeit mit dem Verfahren, das er auch späterhin angewandt hat, weist aber hier noch eine größere Durchsichtigkeit auf. Hartmann nimmt die Gliederung des Systems als etwas Gegebenes auf, ohne die Systemglieder abzuleiten. Er beruft sich jedoch auch nicht einfach auf das geschichtlich gegebene System Cohens, was bei dem Beitrag in einer Festschrift für diesen durchaus motiviert gewesen wäre. Er nimmt vielmehr, und darin erweist sich viel stärker seine Abhängigkeit von Cohen und seiner transzendentalen Methode, die Systemglieder als gegeben auf, jedoch so, daß die Bedingungen der Möglichkeit für sie erst noch beizubringen sind. Dem soll der Nachweis dienen, daß sich in ihnen der Grundgegensatz von Subjekt und Objekt jeweils charakteristisch abwandelt. (Ähnliches soll sich für alle fundamentalen Prinzipienpaare durchführen lassen196.) Auf diesem Wege wird das zunächst bloß als gegeben aufgenommene System zu einem aus Prinzipien begriffenen. Schon hier finden wir das relativ isolierende Verfahren, mit dem Hart190
Dieselbe M e t h o d e der » A b w a n d l u n g « hatte H a r t m a n n bereits 1907 in einem R e f e rat bei N a t o r p » U b e r d a s Problem der I n d i v i d u a l i t ä t « angewandt. V g l . d a z u meine Dissertation, S . 58 ff. D i e Methode der » A b w a n d l u n g « d e r Fundamentalkategorien stammt von Cohen, der die H y p o t h e s i s spezieller K a t e g o r i e n für alle neu a u f tretenden P r o b l e m e in den Geleisen der feststehenden » U r t e i l e « g e f o r d e r t hatte. G e r a d e weil das reine Denken a l s » U r s p r u n g « seine P a n a r d i i e über alles gegenständlich Bestimmte auszuüben beansprucht, muß es sich jedem Bereich und S t a n d der Forschung anpassen können.
162
mann sich innerhalb der verschiedenen Problemfelder bewegt, ohne zunächst auf die Zusammenstimmung zu achten. Wenn sein Vorgehen daher audi immer etwas quasi-Positives, dem Verfahren der beschreibenden Einzelwissenschaften Analoges hat, insofern er von den Teilen zum Ganzen fortschreitet, so ist doch offenbar die Gliederung und die Hinsicht auf die Teile immer schon von einer Rücksicht auf die Möglichkeit des Ganzen geleitet. Diese allgemeinen Betrachtungen über die Hartmannsche Methode lassen uns die Schwierigkeiten begreifen, vor die eine jede Interpretation Hartmanns gestellt wird. Er überläßt es nämlich vielfach erst dem Interpreten, die von ihm selbst nicht reflektierte Einheit zwischen den verschiedenen Lehrstücken herzustellen. Die Berufung auf die phänomenologische Methode hat ihm später als Rechtfertigung für diesen Denkstil gedient. In unserer Abhandlung handelt es sich um das Problem, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Subjekts- bzw. Gegenstandsbegriffen zu analysieren. Der Gegenstand der Seinslogik ist zweifellos der spezifisch theoretische Gegenstand, der durch seine Unabhängigkeit von der Subjektivität definiert ist. In der Terminologie der späteren Philosophie Hartmanns stimmt er mit dem »Ansichseienden« überein19'. Das Denken dieses Ansichseienden als eines solchen wird grundgelegt in der Ontologie als Kategorienlehre. An sie haben wir uns zu wenden, wenn wir wissen wollen, was es heißt, daß etwas ist und welche Bedingungen ein Seiendes als solches zu erfüllen hat. Es ist nun interessant, wie Hartmann zwar die rein objektive Begründung der Gegenständlichkeit des Gegenstandes behauptet, wie aber gleichwohl in den Begriff der Gegenständlichkeit des Gegenstandes eine Rücksicht auf das Subjekt notwendig mit eingeht, denn auch dieser Gegenstand ist eben in seinem Ansichsein gerade dadurch definiert, daß in seinem Begriff von der Bezogenheit auf das Subjekt abstrahiert wird. Auch die Unabhängigkeit des theoretischen Gegenstandes ist eben, mit Hönigswald zu sprechen, eine Relation oder, wie Hartmann selbst es einmal ausgedrückt hat: Der Begriff des Ansichseienden ist selbst ein Begriff, der nur in der intentio obliqua geprägt werden kann 198 . Daß die Subjekt-Objektbeziehung hier nicht einfach als aufgehoben, sondern nur als in dem spezifischen Sinne der Theorie und der theoretischen Gegenstandsbeziehung abgewandelt erscheint, ist natürlich für die gesamte Erkenntnistheorie und für das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie von größter Bedeutung. Hier entspringt letzten Endes das Problem der Erkenntnistheorie, wie denn das Subjekt in der Theorie dies leisten könne, von der Bezogenheit seines Gegenstandes auf sich zu abstrahieren, und wie diese Abstrak197
N a d i Hartmann hat sich der Begriff des »Ansichseienden« gerade in der Logik herausgebildet. Vgl. »Metaphysik der Erkenntnis«, S. 25.
198
Vgl. Zur Grundlegung der Ontologie, S. 152 ff.
11*
163
tion zu rechtfertigen sei. Für das Verhältnis von Ontologie und Erkenntnistheorie folgt zugleich hieraus die Unabhängigkeit der Ontologie von der Erkenntnistheorie und ihre Begründungsbedürftigkeit. Gerade weil die Seinslogik den Vorzug der Abstrahierbarkeit von aller Subjektivität genießt, läßt sie die Frage offen, wie diese Abstraktion möglich und zu begründen sei. — Nimmt man die Bestimmungen über die Subjekt-Objektrelation in der Psychologie hinzu, so entspringt der Gegensatz von Immanenz und Transzendenz. Gegenstand der Psychologie ist das Subjekt und sein Inhalt. Dieser Bewußtseinsinhalt hat aber gerade mit dem Gegenstand im Sinne der Ontologie nichts zu tun. E r ist durch seinen Abstand von ihm definiert. Wenn Hartmann sagt, daß die Psychologie von der Objektbeziehung absieht, so ist selbstverständlich damit nicht die Beziehung des Subjekts auf sein immanentes Objekt, seine Inhalte, gemeint. Vielmehr bedeutet dieser Satz, daß es psychologisch betrachtet gleichgültig ist, ob dem Inhalt ein ansichseiender Gegenstand korrespondiert. Mit Recht spricht Hartmann auch hier von einer methodischen Abstraktion, aus der erst die spezifisch psychologische Einstellung resultiert. Für Hartmanns Verhältnis zur Phänomenologie und Gegenstandstheorie ergibt sich bereits aus dem bisher Gesagten, daß für ihn der Gegenstand im strengen Sinne niemals dadurch bereits definiert sein kann, daß sich ein Subjekt auf ihn richtet, daß er also nie bei dem intentionalen Gegenstand stehenbleiben konnte. Daher bedarf das Seinsdenken auch für ihn einer ontologischen Grundlegung.
1. Die Metaphysik der
Erkenntnis
Die »Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis« versuchen die Forderung zu erfüllen, die sich am Schluß der frühen Abhandlung ergeben hatte. Ihr Thema ist das Metaphysische im Erkenntnisproblem. Es betrifft die »aktuale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt als solche«199. Die einleitenden Abschnitte haben die Aufgabe, den Ort dieser Problematik im Ganzen der möglichen erkenntnistheoretischen Fragen zu bestimmen. Hartmann unterscheidet im »weiteren« Erkenntnisproblem vier Dimensionen notwendiger Betrachtung: 1. die psychologische, die es mit den psychischen Erscheinungsformen des Erkennens zu tun hat und sich auf individuelle Subjekte bezieht, 2. die logische, die es mit der logisdien Formung des Erfaßten, mit der Eigengesetzlichkeit des Erkenntnisinhaltes zu tun hat, 3. die ontologische, die das Sein des Gegenstandes erforscht, 189
»Metaphysik der Erkenntnis«, 3. Aufl., S. 21; alle Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf dieses Werk.
164
4. die gnoseologische, deren spezifisches Thema das Erfassen des Gegenstandes ist (S. 16)200. Hartmann setzt mit einer Analyse der gegenwärtigen Problemsituation ein, die durch Psychologismus und Logizismus gekennzeichnet ist. Gegenüber den logizistischen Theorien erkennt Hartmann die Psychologie der Erkenntnis als eine »irreduzible Kehrseite« des Erkenntnisphänomens an, allerdings als eine solche, die an die Herausarbeitung objektiver Erkenntniskriterien gebunden ist und nicht an die Stelle der Gnoseologie treten kann. Der bloße Abweis der psychologischen Erkenntnisfrage durch den logisdien Idealismus ist also unrechtmäßig und bedarf einer Metakritik. Sieht die Psychologie nur auf das Subjekt, so betrachtet die Logik nur »Struktur- und Abhängigkeitsverhältnisse des Objektiven in sich selbst unter grundsätzlichem Absehen von aller eigentlichen Objiziertheit desselben an ein Subjekt« (S. 25). Vor allem das Verhältnis von Prinzip und Konkretum läßt sich so als ein logisches Bedingungsverhältnis fassen. Psychologie und Logik gehören zwar in das weitere Erkenntnisproblem als notwendige Glieder hinein, werden aber metaphysisch im schlechten Sinne, wenn sie das Erkenntnisproblem zu okkupieren versuchen. Psychologismus und Logizismus verkennen beide, »daß es noch etwas Drittes Metalogisches und Metaphysisches gibt« (S. 21). Wie Hönigswald erkennt auch Hartmann die Zusammengehörigkeit von Psychologismus und Logizismus. »Sie sind komplementäre Erscheinungen in der Geschichte des Erkenntnisproblems, welches sie beide aus demselben Grunde verfehlen.« (S. 31). Das engere Erkenntnisproblem umfaßt daher alle Fragen, die das Subjekt-Objektverhältnis als Relation zwischen Subjektsphäre und Objektsphäre betreffen (den Erkenntnisprozeß, den Wahrheitsgehalt und den Gewißheitsgrad der Erkenntnis, die Erkennbarkeit der Gegenstände und die Beziehung der Erkenntnis auf wirkliche individuelle Subjekte) 201 . Trotz des Prozeßcharakters der Erkenntnis stellen diese Probleme keine psychologischen dar. Zwar muß dem Erkenntnisprozeß ein psychischer Prozeß entsprechen, die Struktur des Erkenntnisfortschritts selbst ist jedoch eine unpsychologische Eigengesetzlichkeit. Hartmann entfaltet seine Gnoseologie und Metaphysik der Erkenntnis in drei Stufen: der einer vorbereitenden Phänomenologie der Er200
H a r t m a n n k n ü p f t mit dem Ausdruck » G n o s e o l o g i e « sicherlich nicht z u f ä l l i g an einen Terminus der vorkantischen Sdiulphilosophie an.
201
In dem Ausdrude » M e t a p h y s i k der E r k e n n t n i s « schwingt bei H a r t m a n n durdiaus ein polemischer B e z u g zum Kritizismus mit; denn d a s Verhältnis v o n individuellem Bewußtsein und äußerem Gegenstand war auch im Sinne der kritizistischen Erkenntnistheorie ein »metaphysisches« Verhältnis. N u r bedeutete dies hier, d a ß es a u f einer falschen Problemstellung beruhe und daher abzuweisen sei.
165
kenntnis, die die quaestio facti stellt, der einer Aporetik und der der eigentlichen Theorie der Erkenntnis. Vor allem die Phänomenologie der Erkenntnis hat von jeher die Kritik auf sich gezogen. In ihr scheinen bereits die wichtigsten Vorentscheidungen gefallen zu sein. Für Hartmann ist die »natürliche Auffassung des Erkenntnisphänomens« durch die Auffassung gekennzeichnet, »daß Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes ist, . . . sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist.« (S. 2 u. S. 1). Damit scheint von Anfang an eine Entscheidung für den Realismus gefallen zu sein. Alles hängt daher am rechten Verständnis der Funktion der Phänomenologie. Die Phänomenologie als Methode ist für Hartmann durch ihren Gegensatz zur »Theorie« gekennzeichnet. Ihr Gegenstand ist das Gegebene, Konkrete, jedoch im Modus des noch Unbegriffenseins. Phänomenologische Erkenntnis ist also gerade vorläufige, vorbereitende Erkenntnis; sie ist noch nicht selbst begreifende, begründende oder gar letztbegründende Erkenntnis. Hartmann hat diesen vorbereitenden und vorläufigen Charakter der phänomenologischen Methode bereits 1912 in der Abhandlung »Systematische Methode« herausgestellt und stets daran festgehalten202. Die Phänomenologie der Erkenntnis fragt also noch nicht nach den Bedingungen der Möglichkeit. Sie folgt nur »der natürlichen Einstellung des Bewußtseins« (S. 38). Aus diesem Wesen der phänomenologischen Erkenntnis heraus ist der behauptende Charakter ihrer Aufstellungen zu erklären. Zwar sind das, was sie erfaßt, Gegebenheiten, Tatsachen, Sachverhalte, aber das bedeutet noch nicht, daß sie als solche schon gerechtfertigt und aus Prinzipien begriffen seien203. Die Phänomenologie der Erkenntnis hat nicht nur den Ausdruck Phänomenologie für die Charakteristik ihrer deskriptiven Methode entlehnt, sondern sie knüpft offenbar auch thematisch an die Untersuchungen Husserls im 2. Bande der »Logischen Untersuchungen« an, wobei ihr Thema jedoch nicht auf das logische Be202
Auf diese Abhandlung bezieht sich Max Scheler, wenn er sagt: »So erfreulich es an sich ist, daß so vorzügliche Forscher wie N i c o l a i Hartmann, Emil Lask — in einem wesentlich abweichenden Sinne —, Richard H ö n i g s w a l d , der Phänomenologie eine eigene Domäne, ja im H a u s e der Erkenntnistheorie selbst, zugestehen wollen, so scheinen sie sich doch nicht völlig zur Klarheit gebracht zu haben, daß sie mit diesen d e m eigenen Ausgangspunkt ursprünglidi fremden Zugeständnissen auch d a s Recht verwirken, eine kritische Theorie des Erkennens der Phänomenologie v o r a n gehen zu lassen.« Vgl. Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, 1. Aufl., S. 287. D a s V o r angehenlassen ist hier im Sinne der Begründung z u verstehen.
203
D a s gilt audi v o n der zitierten Auffassung der Erkenntnis als »Erfassen« eines A n sichseienden. Vgl. S. 79: » D a s Ansichsein des Objekts ist der springende Punkt im engeren Erkenntnisproblem. Aber es ist zunächst nur Phänomen. Es besagt nur, daß das natürliche Bewußtsein das Wesen seiner Erkenntnis in der Bezogenheit auf ein Ansidiseiendes erblickt. Dieses Phänomen kann auch auf Täuschung beruhen. W a s das Bewußtsein für Erkenntnis hält, braucht nicht das Wesen der Erkenntnis zu sein.«
166
wußtsein und die logischen Gegenständlichkeiten beschränkt ist, sondern das Verhältnis von natürlichem, erkennendem Bewußtsein und dem Gegenstand dieses Bewußtseins betrifft. Mit Husserl teilt die Hartmannsdie Phänomenologie der Erkenntnis ihre Nähe zur natürlichen Sprache, ein Moment, das auch für die Hönigswaldsdie Denkpsychologie charakteristisch ist. Wenn die Beschreibung der natürlichen Erkenntnis als erfassendes Verhalten, das seinen Gegenstand als einen unabhängigen versteht, im Sinne der kritizistischen Theorien bereits metaphysisch ist, so handelt es sich hierbei eben um eine naturgewachsene Metaphysik, die nicht erst in der Theorie ihre Stelle hat, sondern im Menschen selbst. Das natürliche erkennende Bewußtsein ist gleichsam selbst diese Metaphysik. Nicht alle Einwände gegen die Phänomenologie der Erkenntnis lassen sich jedoch auf ein Verfehlen ihres vorläufigen Charakters und damit auf eine Verwechslung des Hartmannschen und des phänomenologischen Begriffs der Phänomenologie zurückführen. Da die zeitgenössische Phänomenologie sich gerade als definitive und unhintergehbare Wesenserkenntnis verstand, war diese Verwechslung für die Zeitgenossen immerhin naheliegend. Schwieriger ist jedoch das Verhältnis der Phänomenologie der Erkenntnis zur Geschichte zu erklären. Auf der einen Seite scheint sie eine unhistorische Wesensbeschreibung des Erkenntnisphänomens sein zu wollen, die mit ihrem Verzicht auf Theorie nicht nur diesseits aller Standpunkte, sondern auch noch diesseits der Geschichte der Philosophie steht. Andererseits läßt sich jedoch für alle von ihr unterschiedenen Momente des Erkenntnisphänomens die Entdeckung innerhalb der Geschichte der Philosophie ziemlich genau angeben. Vergleicht man das fünfte und sechste Kapitel mit dem im zweiten Teil gegebenen Abriß der geschichtlichen Lösungsversuche, so ist die Parallelität unverkennbar. Daß in die Phänomenologie jedoch die in der Geschichte der Philosophie errungene Einsicht eingegangen ist, widerstreitet nicht ihrem Begriff. Im Unterschied zur phänomenologischen Philosophie glaubt Hartmann nicht, der Geschichte entrinnen zu können. Auch die Phänomenologie setzt die Arbeit der Geschichte voraus, denn das Gegebene, das sie beschreibt, ist das Gegebene, so wie es sich auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis zeigt. Es bedeutet daher auch keinen Einwand gegen die Behauptung der Phänomenologie, Erkenntnis sei Erfassen eines Ansichseienden, daß ein solches spezifisch erkennendes Verhalten erst eine späte Frucht der Geschichte ist. Die »Natürlichkeit«, von der die Phänomenologie der Erkenntnis spricht, widerstreitet nicht der Geschichtlichkeit der Phänomene. (Wenn Hartmann in der »Metaphysik der Erkenntnis« auch nicht ausdrücklich auf diese Geschichtlichkeit reflektiert, so hat er dies doch im »Problem des geistigen Seins« nachzuholen versucht, ohne daß er deshalb die Grundlagen seiner Erkenntnistheorie hat umstürzen müssen.) 167
Hartmanns Gnoseologie hat sich bei ihrem Erscheinen einer starken Kritik von der Seite des Kritizismus und der der Phänomenologie gegenübergesehen. Vom Kritizismus und der Transzendentalphilosophie Husserls, die er beide als Idealismus und Subjektivismus interpretiert, trennt ihn die Behauptung des Ansichseins des Erkenntnisgegenstandes, von der Phänomenologie sein Ansatz bei einem in den Bannkreis seiner Inhalte eingeschlossenen Bewußtsein, das die Erkenntnis erst transzendiert. Wir haben jedoch gesehen, daß eine transzendentalphilosophische Erkenntnisbegründung nicht in jedem Falle eine Aufhebung des Ansichseins des theoretischen Gegenstandes einschließt. Alle von uns bisher berücksichtigten Transzendentalphilosophien haben sich immer wieder gegen den Vorwurf des Subjektivismus gewehrt, und zuletzt ist uns in der Erkenntnistheorie Hönigswalds eine Philosophie begegnet, die in nicht minder ausdrücklicher Weise das Problem der Unabhängigkeit des Gegenstandes der Erkenntnis zum Zentrum ihrer gesamten Argumentation gemacht hat, wie dies in der Gnoseologie Hartmanns der Fall ist. Eine Konfrontation setzt also voraus, daß wir einen Begriff von Transzendentalphilosophie zugrunde legen, der diese nicht schon als Subjektivismus versteht. Die Transzendentalphilosophie setzt mit einer radikalen Richtungsänderung der Erkenntnis ein. Sie ist in jedem Falle eine reine Reflexionsphilosophie, die die gesamte intentio recta einklammert. Daher bleibt als ihre Reduktionsbasis ein reines und transzendentales Bewußtsein, das nicht selbst als ein Seiendes unter anderem Seienden angesetzt wird, weil es den Grund dafür bildet, daß überhaupt mit Sinn von Seiendem gesprochen werden kann. Gegenüber einer solchen radikalen und universalen Reflexionsphilosophie hält sich die Hartmannsche Gnoseologie schon von ihrem Ansatz her in der Spannung von natürlicher und reflektierter Einstellung. Die Gnoseologie reduziert weder auf wissenschaftliche Urteile noch auf reine Cogitationes, sondern geht davon aus, daß in der Erkenntnis ein individuelles Bewußtsein die Sphäre seiner Immanenz transzendiert und in die Sphäre der ansichseienden Gegenstände übergreift. Daß sie diesen Ansatz nur als ein Erkenntnisphänomen aufnimmt, das es noch erst zu begründen gilt, verbindet sie mit der Transzendentalphilosophie. Gleichzeitig versteht sie jedoch die Erkenntnis, deren Transzendenzanspruch begründet werden soll, als ein Seiendes unter Seiendem. Das ist entscheidend nicht nur für den Ansatz, sondern auch für die Lösung des Problems. Was zunächst als ein Mangel an Radikalität erscheint204, ist nur der Ausdruck dafür, daß sich nach Hartmann das Problem der Erkenntnisbegründung nicht durch Reduktion auf einen absolut gewissen Boden unbezweifelbarer Geltungsprin204
P a r a d o x formuliert läßt sich sagen, d a ß die spezifische R a d i k a l i t ä t des H a r t m a n n schen Denkens gerade d a r i n besteht, alle radikalen Lösungen auszuschließen.
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zipien oder reiner selbstgegebener Cogitationes definitiv lösen läßt, sondern sich in eine unabsdiließbare Aufgabe verwandelt. Wenn die Wahrheit der Erkenntnis davon abhängt, daß die Prinzipien, die das bewußtseinsimmanente Erkenntnisgebilde aufbauen, mit den Prinzipien des Ansichseienden übereinstimmen, so hängt umgekehrt die Rechtfertigung des Ansichseins des Gegenstandes der Erkenntnis davon ab, daß seine Prinzipien wenigstens partial nicht mit denen der Erkenntnis koinzidieren. Daher läßt sich die Rechtfertigung ansichseiender Gegenstände nicht ein für allemal geben, sondern verweist aus der Erkenntnistheorie in die Ontologie und Kategorienlehre. Die Einwände der Phänomenologie gegen den Ansatz der Hartmannschen Gnoseologie richteten sich vor allem gegen die Immanenzsituation des Bewußtseins, bei der hier für die Bestimmung der Richtung der Erkenntnis der Ausgang genommen wird. Der Satz des Bewußtseins, der den Standpunkt der Reflexion angibt, widersprach der einseitigen Bevorzugung der natürlichen unreflektierten Einstellung in der Phänomenologie. Für die Phänomenologie ist das Bewußtsein immer schon »draußen«, beim Gegenstand, beim Seienden. Daher verschwindet für sie das Problem der Gnoseologie. D a alle Gegenstände transzendent und vom Akt unabhängig sind, entfällt auch die Notwendigkeit, ihr Ansidisein erst zu begründen. Für die Phänomenologie mußte daher der ganze Problemansatz der Gnoseologie als eine selbst gemachte Schwierigkeit erscheinen, die auf einer falschen Deskription des Erkenntnisphänomens beruht. Die Kritik richtete sich vor allem gegen Hartmanns Satz des Bewußtseins und gegen seinen Begriff des Erkenntnisgebildes 205 . D a diese Auseinandersetzung auch für die Klärung des Hartmannschen Subjektsbegriffs und seines Gegenstandsbegriifs von großer Bedeutung ist, müssen wir auf sie näher eingehen. Die phänomenologische Kritik unterstellt der Hartmannschen Gnoseologie, daß sie in dem Cartesianischen Grundansatz der Erkenntnistheorie befangen bleibe. Diese Kritik läßt sich natürlich nur führen von einem Bewußtseinsbegriff aus, für den der Unterschied zwischen dem Gegenstand und seiner Repräsentation im Bewußtsein nicht maßgebend ist. Auch Heideggers Kritik an der Erkenntnistheorie und am Wahrheitsbegriff der gesamten philosophischen Tradition setzt diese Revision des Bewußtseinsbegriffs voraus. Nach Hartmann gehört zur Erkenntnisrelation außer dem Subjekt und dem transzendenten Seienden als drittes Glied ein Bild des Gegenstandes im Bewußtsein oder eine Repräsentation des Gegenstandes im Subjekt. Die Einwände der Phänomenologie richten sich 205
Vgl. P . L i n k e , Bild und Erkenntnis, in: Philosophischer Anzeiger, Bd. 1, 1925, S. 299 ff.
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1. gegen den mangelnden phänomenalogischen Aufweis eines solchen Bildes, das im natürlichen Bewußtsein nicht gegeben sei und also eine Konstruktion darstelle; 2. gegen den Bildcharakter, der einen Rückfall in die Abbildtheorie darstelle, 3. gegen Hartmanns Satz von der Immanenz des Bewußtseins, der wiederum eine Konstruktion darstelle. Das Bewußtsein sei nicht in sich eingeschlossen und müsse sich erst transzendieren, sondern es sei primär gerade beim Seienden. Bewußtsein sei kein Kasten, sondern intentionales, »ekstatisches« Bewußtsein. Hartmann hat diese Einwände selbst in der zweiten Auflage der »Metaphysik der Erkenntnis« diskutiert206. Sie erledigen sich für ihn folgendermaßen: 1. Gegenstandsbewußtsein ist nicht zugleich Bildbewußtsein oder von einem Bildbewußtsein abhängig. Der Primat des Gegenstandsbewußtseins, der intentio recta, bleibt auch für Hartmann bestehen. Das schließt jedoch nicht aus, daß für jeden Akt der intentio recta die Möglichkeit der Reflexion vorausgesetzt werden muß. 2. Das »Bild« des Gegenstandes im Bewußtsein muß kein Abbild sein; es kann audi eine bloße symbolische Repräsentation sein. Hartmann bevorzugt daher auch den unverfänglicheren Ausdruck »Erkenntnisgebilde«. Entscheidend ist für den Unterschied dieses Erkenntnisgebildes von dem Ansichseienden, daß es aktgetragen, vom Akt Produziertes ist und daß sich das Subjekt durch es hindurch auf einen Gegenstand bezieht. Das Erkentnisgebilde ist als Bewußtseinsinhalt noch neutral gegenüber der Alternative von wahr und falsch. Es kann bloß »subjektiv«, kann aber auch »objektiv« sein. Auch im Falle einer gültigen Gegenstandsbezogenheit bleibt jedoch der Abstand von Erkenntnisgebilde und dem Gegenstand der Erkenntnis erhalten. 3. Die Einwände gegen den Bewußtseinsbegriff der Gnoseologie lösen sich bei näherem Hinsehen in eine Äquivokation des Terminus »Bewußtsein« auf. Gemäß dem phänomenologischen Bewußtseinsbegriff ist Bewußtsein stets Bewußtsein vom Gegenstande. Nun ist Erkenntnis im eigentlichen und ursprünglichen Sinne diejenige ausgezeichnete Weise des Bewußtseins, in dem Seiendes als solches zur Selbstgegebenheit kommt, 206
»Der Phänomenologe bestreitet den ,Satz des Bewußtseins'. Es gibt kein Gefangensein des Bewußtseins in sich. Es hat keinen Sinn zu sagen, das Bewußtsein könne nur seine eigenen Inhalte erfassen. Der Begriff des Bewußtseinsinhalts selbst ist sdiief. Es gibt keine Inhalte; es gibt auch kein ,Erkenntnisgebilde', kein Bild des Objekts im Bewußtsein. — Die Wendung ,ich habe etwas im Bewußtsein' ist falsch. Alles Bewußtsein ist intentional, es besteht im Erfassen von etwas; und dieses Etwas liegt immer jenseits des Aktes oder Zustandes — auch im Falle des ,inneren' Objektes. Es ist intentionaler Gegenstand.« (S. 103).
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d. h. in dem es selbst, nicht nur ein bloßes Bild oder Zeichen von ihm, gegeben ist. Dagegen ist alles Bewußtsein eines Bildes vom Gegenstand nicht »eigentliche«, sondern bloß signitive, symbolische Erkenntnis, die sich zurückführen lassen muß auf die originäre Selbstgegebenheit des bloß signitiv und symbolisch Vermeinten. — Die Phänomenologie und Hartmann verstehen also unter »Gegebenheit im Bewußtsein« verschiedene Dinge: Im Bewußtsein gegeben ist im Sinne der Phänomenologie dasjenige, wovon ich ein Bewußtsein habe, was mir bewußt ist. Das ist aber primär der Gegenstand, das Seiende. Nach Hartmann hingegen ist »im Bewußtsein« nicht das Seiende, sondern das, was ich von ihm weiß, mein Wissen von ihm; nicht das, dessen ich mir bewußt bin, sondern das Gewußte, das stets erst nachträglich auf dem Wege der Reflexion zum Bewußtsein kommen kann. Daß ich aber prinzipiell auf mein Wissen vom Gegenstande reflektieren kann, genügt, um das Vorhandensein eines solchen Momentes in jedem Gegenstandsbewußtsein aufzuweisen. In der Metakritik fällt der Vorwurf einer Verkennung der prinzipiellen Transzendenz der Erkenntnis und eines Steckenbleibens in der Immanenztheorie der Tradition auf die Phänomenologie zurück (vgl. S. 103). Das Verhältnis von Akt und intentionalem Gegenstand, das für alles Bewußtsein, nicht nur für das spezifisch erkennende, charakteristisch ist, kann nicht genügen, um das Erkenntnisproblem zu klären. Es fehlt der Phänomenologie an einem Kriterium für die Abgrenzung der Erkenntnis vom Bewußtsein schlechthin. Erkennen beansprucht, als »Erfassen« ein Verhältnis zum ansichseienden Gegenstande zu sein. Die Phänomenologie der Erkenntnis hatte den Zweck, das Erkenntnisphänomen in seinen Grundzügen zu beschreiben und der Aporetik, die das eigentliche Erkenntnisproblem herausarbeitet, eine möglichst umfassende Ausgangsbasis zu sichern. Die für das gesamte Erkenntnisproblem entscheidende Aporie ist die des »Erfassens«: Wie kann das Subjekt aus seiner eigenen Sphäre heraustreten und das Ansichseiende als solches erfassen? Wie kann zwischen Subjekt und Objekt »eine aktuelle Relation bestehen«, da doch ihre Sphären einander transzendent sind? (A.a.O., S. 61). Alle übrigen Aporien wurzeln in dieser Grundaporie, wie das Subjekt in der Erkenntnis außer sich sein könne. Hartmann versucht eine Lösung auf der Basis einer »ontologischen Grundlegung«. Die Aporien der Erkenntnis, die alle aus der Spannung zwischen der Immanenz des Bewußtseins und der Transzendenz des Gegenstandes der Erkenntnis erwachsen, sollen ihre Lösung dadurch finden, daß die Erkenntnisrelation als eine »Seinsrelation« begriffen wird207. Seiendes Sub207
Audi M. Sdieler, dem Hartmann gerade zu Beginn der zwanziger Jahre nahestand, hatte die Erkenntnis als »Seinsrelation« bestimmt. Scheler hatte dabei jedoch, in der Wiederaufnahme altscholastisdier Lehrstücke, diese Seinsrelation als »Teilhabe eines
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jekt und seiendes Objekt sind beide in eine umfassende Seinssphäre eingebettet, und in dieser ist die Isolation der Subjektsphäre und der O b jektsphäre, von der die Analyse des Erkenntnisphänomens ihren Ausgang nahm, aufgehoben. Hartmann bahnt also eine Uberwindung des Erkenntnisproblems an, indem er eine Umorientierung der Einstellung vollzieht. Wenn für das Erkenntnisproblem als solches das Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt konstitutiv war, so wird diese ganze Einstellung mit der aus ihr resultierenden Problematik der Subjekt- O b jekt-Spaltung nun durch einen ursprünglicheren, ontologischen Aspekt fundiert. Ontologisch ursprünglich ist nicht das Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt, sondern das Sein des erkennenden Subjekts mitsamt dem H o f seiner Objekte in der einen realen Welt. Erkennen ist ein Seiendes unter anderem. Es ist fundiert in mannigfachen Seinsverhältnissen und davon nur künstlich ablösbar 2 0 8 . D i e Erkenntnis »überlagert« nur diese Seinsrelationen. D a m i t ist einmal ausgedrückt, daß sie ihr Bestehen voraussetzt, und zum anderen, daß das Seiende durch die Erkenntnis in ein neues Verhältnis zum Subjekt tritt, daß es nämlich als das, was es »an sich ist«, auch ein Sein für das Subjekt erlangt. Hartmann geht es also bei seiner ontologischen Grundlegung der Erkenntnis darum, die Künstlichkeit des Reflexionsstandpunktes der E r kenntnistheorie als solche zu entlarven und aufzuheben. Darin zeigt sich aufs neue, daß die Erörterungen der Phänomenologie und Aporetik den Index der Vorläufigkeit an sich tragen. Die Isolation des Subjekts, der »Belagerungszustand« des Bewußtseins, wird überwunden, indem diese ganze Sichtweise als eine abkünftige entlarvt und das Subjekt-ObjektVerhältnis durch ein ursprünglicheres Seinsverhältnis ersetzt wird, in dem das Problem nicht mehr auftritt. Hartmann löst also das Erkenntnisproblem dadurch, daß er zeigt, daß es nur von einer künstlichen Einstellung abhängig ist. »Ich als erkennendes Subjekt und die Welt stehen Seienden a m Sosein eines anderen Seienden« gedacht. In einem formalisierten Sinne ist diese Teilhabe daher » L i e b e « , ihre höchste F o r m die Liebe z u G o t t . All dem steht H a r t m a n n fern. Nicht nur fehlt bei ihm der religiöse und metaphysische H i n t e r g r u n d gänzlich, sein Ziel ist audi nicht eine Hierarchie solcher Weisen der Teilhabe. — So unbestreitbar der Einfluß Schelers auf H a r t m a n n im F e l d e der Ethik ist, so wenig d a r f er im F e l d e der Erkenntnistheorie und Ontologie überschätzt werden. U m g e k e h r t weist Schelers Erkenntnislehre in » D i e Wissensformen und die Gesellschaft« (1926) bedeutsame Einflüsse der Hartmannschen Gnoseologie a u f , so in der Ü b e r n a h m e der » k a t e g o r i a l e n G r u n d r e l a t i o n « , S. 456 ff. 208
H a r t m a n n denkt dabei vor allem an die emotionalen A k t e des Liebens und Hassens, Erlebens, H a n d e l n s und Erleidens, durch die das Subjekt schon vor aller Erkenntnis in mannigfachen Seinsrelationen zur realen U m w e l t steht. (Vgl. etwa E i n f ü h r u n g in die Philosophie, S . 85 und 95.)
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nicht einander gegenüber, sondern ich stehe vielmehr mitten in der Welt. Auf der Grundlage dieses ontologischen Aspekts kommt ein anderes Schema zustande.«209 In dieser Uberwindung der im Ansatz der Gnoseologie enthaltenen »Kluft« zwischen Subjekt und Objekt dürfen wir die eigentliche Bedeutung der ontologischen Grundlegung der Erkenntnis sehen. Faßt man sie abgelöst von dieser ihrer funktionalen Bedeutung im Ganzen des Werkes auf, so wird sie zu einer metaphysischen Konstruktion, gegen die sich leicht polemisieren läßt. So würde bei einem isolierten Verständnis die Bestimmung der Erkenntnisrelation als ein »transkausales« Determinationsverhältnis gerade die Unabhängigkeit des theoretischen Gegenstandes von der Erkenntnis aufheben, auf die Hartmann größtes Gewicht legt. Hartmann erläutert die transkausale Seinsrelation zwischen seiendem Subjekt und seiendem Objekt der Erkenntnis folgendermaßen: »Wenn in einem verzweigten System des Seienden alle Gebilde in durchgehender wechselseitiger Beziehung stehen, so können die Bestimmtheiten des einzelnen Gebildes nicht indifferent zu denen der übrigen dastehen. Sie müssen die letzteren irgendwie mit beeinflussen oder bedingen, resp. durch sie bedingt sein... Wesentlich ist nur, daß überhaupt ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit besteht, und daß dieses nicht kausal als ,Wechselwirkung', sondern ,transkausal' als Wechselbestimmung von allgemeinerem und vielleicht auch mannigfaltigem Typus zu verstehen ist.«210 Es ist einsichtig, daß bei der Annahme einer wechselseitigen Bedingtheit der Gegenstand der Erkenntnis nicht »gleichgültig« gegen sein Erkanntsein sein könnte. Auch die Nichtumkehrbarkeit der Erkenntnisrelation wäre damit aufgehoben. Diese und ähnliche Einwände, die die Hartmannsche ontologische Grundlegung der Erkenntnis gleichsam naiv als eine metaphysische H y pothese zur Erklärung eines ( zuvor selbst konstruierten) Problems auffassen, beachten aber nicht die funktionale Stellung der gesamten Ontologie der Erkenntnis. Für Hartmann stellt sie auch nicht die letzte Stufe der erkenntnistheoretischen Erörterung dar, sondern schließt sich an sie die eigentliche »Behandlung der Erkenntnisaporien« (vgl. den IV. Teil der Metaphysik der Erkenntnis) an, in der erst nach den »Bedingungen der Möglichkeit« der Erkenntnis gefragt wird. Wir werden Hartmanns Lösungsversuch, wenigstens hinsichtlich der Grundaporie der Erkenntnis, im Zusammenhang einer Analyse der Hartmannschen Behandlung des Subjektproblems erörtern und dabei sehen, daß diese Lösung alles andere als naiv ist. 209
Einführung, S. 83.
210
Metaphysik der Erkenntnis, S. 330; Sperrung von H.
173
2. Das Subjekt der Erkenntnis
als realer
Geist
Die Kernthese der Hartmannsdien Subjektstheorie ist, daß das Subjekt der Erkenntnis geistiges Bewußtsein, realer Geist und als solcher ein reales Seiendes unter anderem realen Seiendem in der einen Welt sei. Wenn die Transzendentalphilosophie jeder Prägung die Welt als Korrelat der reinen Subjektivität auffäßte, so verliert bei Hartmann das Subjekt der Erkenntnis seine angemaßte Stellung gegenüber der Welt und wird bedingungslos der realen Welt eingeordnet. Hartmann hat seit dem Jahre 1912 immer betont, daß es keinen Grund gäbe, die Kategorien des Seienden in einem überindividuellen und überrealen Geist zu verankern. Mit der Elimination des Subjektivismus aus der Aprioritätenlehre fiel aber die letzte Stütze für einen wissenschaftlich ernstzunehmenden Idealismus. Nun kann das Subjekt ganz als endliches, zeitliches, reales begriffen werden, und zwar so, daß es neben ihm keine andere übergeordnete Subjektivität mehr gibt. Im »Problem des geistigen Seins« hat Hartmann diese radikale Einordnung des Geistes in die reale Welt durchgeführt, indem er nachwies, daß alle Kategorien des realen Seienden (Individualität, Existenz, Zeitlichkeit, Prozessualität, Identität und Endlichkeit) unmittelbar und nicht nur durch den Leib vermittelt Grundbestimmungen des Geistes selbst sind211. Die ontologische Umorientierung, die das erkennende Subjekt ohne den Restbestand eines zeitlosen Kernes in die Welt einordnet, entspricht dabei genau dem, was das erkennende Subjekt in der Erkenntnis selbst leistet und wodurch es sich zum Subjekt der Objekte und das Ansidiseiende zu seinem Gegenstand macht. Insofern darf man sagen, daß Hartmann in der ontologischen Grundlegung eine Restitution der natürlichen Einstellung der Erkenntnis vollzieht. Denn gerade dadurch, daß das Subjekt nicht die Welt als Sphäre seiner Objekte auf sich hin orientiert, sondern sich selbst in die Welt einordnet, wird es zum erkennenden. Der Verzicht auf eine angemaßte Zentralstellung, der dem Subjekt jeden Vorrang in der realen Welt zu nehmen schien, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Geist als Subjekt der Objekte eine ausgezeichnete Stellung in der realen Welt einzunehmen vermag. Indem er sich die »exzentrische« Stellung in der Welt gibt, die er an sich in ihr einnimmt, bietet sich ihm erst die Welt als die dar, die sie an sich ist212. Das ist die einzigartige Stellung des 211
Vgl. a.a.O., S. 7 9 ff., wo Hartmann eine Art dialektischer Ableitung dieser Kategorien versucht.
212
Hartmann übernimmt den Ausdruck der »exzentrischen Positionalität« des Geistes der philosophischen Anthropologie H . Plessners (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928), die sich in wesentlichen Stücken mit derjenigen M. Schelers berührt. Die Wendung von der Exzentrizität des Geistes findet sich jedoch auch schon bei J . König und L. Klages. Mit Plessner teilt Haitmann den Versuch einer dialektischen Herleitung der Subjekt-Objekt-Spaltung aus dem geistlosen Bewußtsein,
174
Geistes in der Welt, durch die er zum »Sinngeber und Gestalter der Welt« berufen ist. »Es ist seine Macht der Objektion, die ihn dazu, erhebt, indem sie die Welt aus einer bloß an sich seienden zu einer »für ihn« seienden erhebt. Sinn haben kann ein Seiendes nicht an sich, sondern nur ,für' jemand. Die Grundtat der Sinngebung ist die, daß ein Seiendes in der Welt sich zu dem macht, ,für' das überhaupt Seiendes Sinn haben kann. Der Geist macht sich zu einem solchen dadurch, daß er die Welt zu seinem Objekt, sich selbst zum Subjekt macht.« 213 Das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist also eine eigentümliche Schöpfung des Geistes. Es geht keineswegs in der bloßen Koexistenz auf, wie es der Begriff der Seinsrelation nahelegt. Denn auch »Gegenstände sind die Dinge nicht von sich aus, sondern nur durch die Form und das Tun des Bewußtseins. Sie sind es nur ,für' das Bewußtsein, nicht an sich«214. Das ist also das Neue, das durch die Erkenntnis in die Welt kommt, daß das Seiende in ein neues Verhältnis zum Menschen eintritt. Es erlangt »Sein für jemand« 215 . Die ontologische Grundlegung der Erkenntnis, die zunächst dazu angetan schien, die Erkenntnisrelation zu einer bloßen Seinsrelation zu depotenzieren, hat also das Ergebnis, daß die Unterschiedenheit der Erkenntnisrelation von allen bloßen Seinsrelationen nur um so deutlicher hervortritt. Wir werden noch sehen, wie dabei von Hartmann auch gewisse Motive der Transzendentalphilosophie in einer verwandelten Gestalt wieder aufgenommen werden. Das ist bedeutsam für unsere Überlegungen, die auf das Verhältnis und die mögliche Vereinbarkeit von transzendentalphilosophischer und realontologischer Grundlegung der Erkenntnis gerichtet sind. Daß es erkennende Subjekte und Gegenstände der Erkenntnis gibt, ist daran gebunden, daß die Subjekte Teile der einen realen Welt sind. Ein »Weltphänomen« gibt es nur, sofern das Subjekt Glied einer nichtphänomenalen Welt ist. Wie die Eingliederung des Subjekts in die reale Welt ontologisch möglich ist, darauf gibt Hartmanns Schichtenlehre eine Auskunft. Sie zeigt, daß und wie der reale Geist als die höchste Seinsschicht des Realen auf dem geistlosen Bewußtsein und dem organischen Sein des menschlichen Leibes aufruht und durch den Organismus vermittelt in den Kontext der äußeren Natur eingeordnet ist. Auf die Einzelheiten dieser Schichtenlehre kann hier nicht eingegangen werden 216 . während ihm der Gedanke an eine geschichtliche Relativierung noch fern liegt. N u r in der Form eines perennierenden Kampfes zwischen geistlosem und geistigem Bewußtsein vermag Hartmann eine Art geschichtlicher Entwicklung zu denken. 213
A.a.O., S. 123.
214
A.a.O., S. 116.
215
A.a.O., S. 123.
216
Vgl. Der A u f b a u der realen Welt, 1940, und Verf., Die Schichtenlehre N . Hartmanns, in: Studium generale 9, 1956.
175
Entscheidend ist für die Erkenntnistheorie die Rückgebundenheit des realen Geistes an die niederen Schichten einerseits, seine Autonomie andererseits. Erst wenn man den Rang und die Stellung des realen Geistes in der Welt in Rechnung zieht, ist die Gewähr dafür gegeben, daß die ontologisdie Bestimmung der Erkenntnis als Seinsverhältnis ihren naivrealistischen Sinn verliert. Daß ein einfaches Kausalverhältnis unzureichend ist, um das hochkomplexe Erkenntnisverhältnis begrifflich zu fassen, wird von Hartmann dadurch angedeutet, daß er von einer »transkausalen Determination« des Subjekts durch das Objekt spricht; aber diese Bestimmung bleibt solange kategorial undurchsichtig, als man nicht den Stufenbau der realen Welt dabei berücksichtigt. Denn das Bestimmtwerden des Subjekts durch das Objekt kann natürlich immer nur nach Maßgabe der Seinsverfassung des Seienden erfolgen, das bestimmt werden soll. Hartmann hat im vierten Teil der »Metaphysik der Erkenntnis« gezeigt, daß diese Bestimmbarkeit des Subjekts durch das Objekt gerade die Spontaneität des Subjekts voraussetzt. In der Analyse der gnoseologischen Grundaporie löst sich diese ganz schlicht, fast möchte man sagen durch die bloße Aufdeckung einer Zweideutigkeit im Bilde des »Erfassens« auf. »Das Hinausgreifen des Subjekts über sich und das Ergreifen des Transzendenten außer ihm erweist sich als ein sehr ungenaues Bild für eine in Wirklichkeit ganz andere, komplex geartete Beziehung, bei der das Bewußtsein vielmehr tatsächlich in sich bleibt.. . Das Erfassen i s t . . . ein mittelbares. Unmittelbar erfaßt das Subjekt seinen Bewußtseinsinhalt; sofern dieser aber Repräsentant eines transzendenten Objekts ist, erfaßt es eben dadurch mittelbar auch dieses. Und es ist klar, daß eigentliches Erfassen im gnoseologischen Sinn nur das letztere i s t . . . Die Antinomie des erkennenden Bewußtseins besagt in ontologischer Betrachtung nur, daß äußeres Erfassen nicht direktes Erfassen ist. Da aber das Wesen der Erkenntnisrelation vollkommen gleichgültig dagegen ist, ob das Erfassen in ihr ein direktes oder indirektes ist, so hebt sich die Antinomie ontologisch von selbst a u f . . . «21* — Gehen wir aber vom gnoseologischen Sinn des Erfassens (als Erkennen) aus, so erfaßt (erkennt) das Subjekt in der primären Intention unmittelbar gerade das Seiende, während der Inhalt vielmehr erst mittelbar, in der Reflexion auf eine vorhergehende primäre Intention erfaßt werden kann218. Die Beziehungen des Subjekts zu seinen 217
M.d.E., S. 328 f., Sperrungen von H.
218
Dadurch löst sich audi die Kontroverse zwischen Hartmann und den Phänomenologen: Die Erkenntnisrelation ist — nach einem Ausdrude von H . Plessner (a.a.O.) — ein Verhältnis »vermittelter Unmittelbarkeit«. Das Bewußtsein ist in der E r kenntnis unmittelbar beim Seienden, dem Seienden hingegeben, aber so, daß dieses unmittelbare Verhalten zum Seienden durch die Spontaneität des Bewußtseins selbst vermittelt ist.— Hartmann hat im »Problem des geistigen Seins« (S. 121) von der vermittelten Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins gesprochen: »Das Selbstbewußt-
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Inhalten und zum Ansichseienden sind gar nicht im gleichen Sinne als »Erfassen« zu charakterisieren. Nur die Relation zum Seienden ist Erfassen im gnoseologischen Sinne oder Erkennen. Diese Relation ist aber nicht durch eine zweite gleichartige Relation vermittelt. Der Inhalt des Objektbewußtseins wird in einem Akte primärer Intention nicht selbst erkannt. Das Subjekt erfaßt das Seiende, indem es den Gedanken des Seienden in sich produziert. Es muß das Seiende in sich als Gegenstand setzen. »Das Setzen des Ansichseienden hebt das Ansichsein nicht in ein Gesetztes auf, sondern das Ansichseiende bleibt der Setzung transzendent. Wir denken das Seiende tatsächlich durch einen Seinsbegriff, die Seinsbestimmtheiten durch Bestimmungsbegriffe.« (A.a.O., S. 288.) Das Subjekt erfaßt also das Seiende, indem es einen gültigen Begriff vom Seienden produziert. Das Erkenntnisverhältnis erweist sich somit als ein komplexes mehrgliedriges Gefüge, in dem sich zwei verschiedene Relationen überlagern: 1. Eine Denkrelation (Bewußtsein — Inhalt). Dieses Verhältnis ist ein solches der Produktion. Das Subjekt erzeugt in einem Akt einen Inhalt. »Aktgetragenes Irreales, das seine Gegenständlichkeit nur durch die Intention e r h ä l t , . . . ist vom Akt produziert.« 219 Die Sphäre des Inhalts ist aber nicht nur eine Sphäre von solchem, das nur von Gnaden des Aktes ist, sondern zugleich eine Sphäre »des bloß für mich Seienden«220. 2. Eine Erkenntnisrelation im engeren Sinne (Inhalt — Gegenstand). Im Inhalt und durdi den Inhalt ist ein Gegenstand gemeint, erfaßt, erkannt, und zwar wird dieser Gegenstand als ein von dem durch das Subjekt produzierten Inhalt unabhängiger, ansichseiender gedacht. »Das Charakteristische an diesem komplexen Verhältnis ist aber, daß das erkennende Bewußtsein um die Transzendenz des Repräsentierten weiß und es ganz unmittelbar als ein von ihm unabhängiges Ansichseiendes auffaßt, d. h. als das, was es ontologisch ist.« 221 Während die erste Relation eine Seinsrelation ist, und zwar gemäß der zeitlichen Bestimmtheit des Aktes eine reale Seinsrelation, die von einem individuellen Subjekt an einer bestimmten Zeitstelle vollzogen wird, ist das Verhältnis von Inhalt und Gegenstand, sofern man es isoliert betrachtet, eine irreale, unzeitliche Relation. Trifft der Inhalt den Gegenstand, so wie dieser an sich selbst ist, so ist diese gültige Bezogenheit des Inhalts auf den Gegenstand unabhängig von der Zeitstelle, die sein ist vermitteltes Bewußtsein. Und die Unmittelbarkeit, in der es sich als ,Ich' erscheint, ist vermittelte Unmittelbarkeit — eine solche also, in der das Bewußtsein um die Vermittlung, die es vollzogen hat, nicht weiß.« Denn erst als Subjekt der Objekte kommt das Subjekt zum Selbstbewußtsein. Das unmittelbare Gegenüber von Subjekt und Objekt erweist sich also als ein auf doppelte Weise vermitteltes. 219
M.d.E., S. 474.
220
A.a.O., S. 215.
221
A.a.O., S. 329.
12
Brelage
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dem Inhalt auf Grund seiner »Zugehörigkeit« zu einem zeitlichen Akt notwendig zukommt. Die Wahrheit oder Unwahrheit der Gedanken ist unabhängig von dem notwendigen Zeitbezug des Gedankens, weil sie allein auf seiner »Zuordnung« zum Gegenstand, nicht aber auf seiner »Zugehörigkeit« zum Akt beruht222. Im Falle der Erkenntnis eines realen Seienden läßt sich also wohl sagen, daß die Gesamtrelation der Erkenntnis eine Beziehung zwischen einem realen Subjekt und einem realen Gegenstande sei, aber diese »reale Seinsrelation« macht die Wahrheit der Erkenntnis nicht etwa zu einem bloß realen, zeitlichen Faktum. Die Erkenntnisrelation kann von Hartmann deshalb eine reale Seinsrelation genannt werden, die sowohl dem erkannten Seienden seine Unabhängigkeit als audi dem erkennenden Subjekt seine Autonomie beläßt, weil er die Rede von der Erkenntnis als Seinsrelation nur als eine Faustformel handhabt, hinter der sich ein hochkomplexes Verhältnis verbirgt. Die Unterscheidung von »Zugehörigkeit« und »Zuordnung« der Erkenntnis ermöglicht es uns audi, die beiden zentralen Lehrstücke der Hartmannschen Erkenntnistheorie in ein Verhältnis zueinander zu setzen: seine Lehre vom Subjekt der Erkenntnis als realer Geist und seine Theorie der kategorialen Grundrelation als der Bedingung der Möglichkeit apriorischer Seinserkenntnis. Jene antwortet auf die Frage, was die Erkenntnis ihrem individuellen und geschichtlichen Sein nach sei, diese, unter welchen Bedingungen Erkenntnis von Seiendem möglich sei. Den gemeinsamen Bezugspunkt beider Fragen bildet der Inhalt. Dieser ist einmal ein von einem individuellen und zugleich geschichtlich bedingten personalen Geist Hervorgebrachtes, und in ihm ist zum anderen ein Gegenstand bedacht. Jene Leistung der Produktion beruht auf der realen Seinsverfassung des Subjekts der Erkenntnis, diese Gegenstandsbeziehung auf den Erkenntnisprinzipien, die den Inhalt der Erkenntnis in seiner Gegenstandsbezogenheit aufbauen. Durch die »Zugehörigkeit« der Erkenntnis zum realen Geist ordnet sie sich der realen Welt ein, durch ihre »Zuordnung« zur Welt bildet sie eine eigentümliche sekundäre Sphäre der Gegebenheit, in der und durch die die Welt ein Sein für Subjekte erlangt. Auch für Hartmann ist also das Subjekt der Erkenntnis nicht nur als ein Glied der realen Welt bestimmt, sondern zugleich vermöge der ihm eigentümlichen Erkenntnisprinzipien als ein Korrelat der Welt, das den Grund dafür bildet, daß es neben dem Seienden audi noch gültige Erkenntnis vom Seienden gibt. Hartmann hat die Wechselbezogenheit beider Hinsichten nicht weiter durchdacht, während für die Transzendentalphilosophie jedoch die Korrelatfunktion der Subjektivität primär den Begriff der Subjektivität bestimmte und erst von hier aus sich die Frage stellte, wie sich diese Korrelatfunktion zur konkreten innerwelt222
Zur Unterscheidung von »Zuordnung« und »Zugehörigkeit« vgl. N e u e Wege der Ontologie, S. 305 f.
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liehen Subjektivität des Menschen verhalte, hat sich für Hartmann die Ordnung der Fragen umgekehrt. Für ihn ist der realontologische Aspekt der primäre, die Möglichkeit der Nebenordnung der Erkenntnis, durch die sich allein die Korrelatfunktion der Subjektivität denken läßt, eine sekundäre. Wie wenig jedoch audi diese ontologische Umkehrung zu befriedigen vermag, zeigt die Überlegung, daß doch erst auf der Tatsache der »Zuordnung« die Sonderstellung des realen Geistes innerhalb der realen Welt beruht. Wir werden die einzelnen Lehrstücke Hartmanns, sowohl seine Prinzipientheorie als audi seine Lehre von der Stellung des realen Geistes im Schichtenbau der Welt noch einige Schritte weiter analysieren, indem wir sie mit den Theoremen der bisher behandelten Denker konfrontieren. Dabei wird die Prinzipientheorie den geeigneten Ansatzpunkt für die Diskussion seines Verhältnisses zur kritizistisdien und phänomenologischen Transzendentalphilosophie bilden, während die Theorie des realen Geistes als Konkurrentin der Monadologie R. Hönigswalds in Betracht gezogen werden muß. 3.
Konfrontationen
Obwohl Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« sogleich nach ihrem Erscheinen ein Gegenstand der Polemik von seiten der kritizistischen und phänomenologischen Philosophie war223, ist die Auseinandersetzung zwischen ihnen doch nie recht zu einem Austrag gekommen. Vielmehr war es so, daß die Probleme von einem gewissen Zeitpunkt ab einfach liegen blieben, weil sich das Interesse inzwischen anderen, bedrängenderen Fragen zugewandt hatte oder aber weil die äußeren Umstände die Diskussion abschnitten. Kritizismus und phänomenologischer Idealismus hatten den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit bereits überschritten, als mit Hartmann und Heidegger das neue ontologische Denken auf den Plan trat. Als die Ontologie Hartmanns in ihrer ausgebildeten Gestalt vorlag, waren die meisten Denker des Neukantianismus (und war E. Husserl) zum Schweigen verdammt, emigriert oder verstorben. Daher bricht die Auseinandersetzung audi um 1933 fast gänzlich ab. Sie ist auch nach 1945 nicht wieder aufgenommen worden, weil das Element des Kritizismus in der gegenwärtigen Situation nicht mehr vertreten und die Phänomenologie E. Husserls durch die Fundamentalontologie Heideggers »konkretisiert« worden war. Für uns kann es sich 223
Vgl. vor allem H . G. Gadamer, »Metaphysik der Erkenntnis«, zu dem gleichnamigen Buch von N . Hartmann, in: Logos XII, 1923/24. H. Knittermeyer, Zur »Metaphysik der Erkenntnis«, in: Kantstudien X X X , 1925; P. Linke, Bild und Erkenntnis, in: Philosophischer Anzeiger I, 1925; M. Scheler, Idealismus— Realismus, in: Philos. Anzeiger II, 1927.
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nicht darum handeln, die Asche eines alten Streites zu neuer Glut zu entfachen, sondern nur darum, die Positionen der Parteien noch einmal abzustecken und zu klären, was von ihren Theoremen von uns auch heute noch in einer allseitig ausgebildeten Philosophie der Erkenntnis Berücksichtigung fordern darf. Am schwächsten in diesem Streit scheint die Position des Kritizismus zu sein; denn nichts von seinen Theoremen, so will es scheinen, hat dem Ansturm der neuen Ontologie, Anthropologie und Existenzphilosophie standgehalten. Wenn aber irgendwo, so muß der Kritizismus im Felde der Erkenntnistheorie in der Lage sein, seine Berechtigung nachzuweisen. Es fällt uns heute nicht schwer, die Mängel der kritizistischen Erkenntnistheorie zu bezeichnen. Die Beschränkung der theoretischen Philosophie auf Logik oder Erkenntniskritik, deren vorschnelle Festlegung auf eine Grundlegung der positiven Wissenschaft, ihr unbefriedigendes Verhältnis zur konkreten, Erkenntnis realisierenden und tragenden Subjektivität, all das sind gleichsam äußere Grenzen der kritizistischen Theorie, die in der Folgezeit ein für allemal überschritten wurden. Selbstverständlich spielen sich diese Mängel jedoch audi in der inneren Ausgestaltung der kritizistischen Erkenntnistheorie wider. Man kann in der Philosophie kein Problem ignorieren oder abweisen, ohne daß sich das in der Art der Behandlung des verbleibenden Problembestandes bemerkbar macht. Daher hängen die erwähnten äußeren Problemgrenzen des Kritizismus auch mit den inneren Komplikationen seiner Logik zusammen. Ihr Rationalismus, die Elimination aller Gegebenheiten, die dem Denken mit dem Anspruch auf Selbständigkeit gegenübertreten, in ein »Gegebenes«, das als bloß Bestimmbares das reine Denken auf den Plan ruft, die Verwandlung des voll bestimmten »Dinges an sich« in eine unendliche Aufgabe und die Deutung des Erkenntnisprozesses nach der Analogie des zeitlosen Fortschritts in einer mathematischen Reihe sind gewiß audi Funktionen des ungeklärten Verhältnisses des Kritizismus zur Problemsphäre der konkreten Subjektivität. Von all diesen Mängeln unbetroffen bleibt aber das eigentliche Prinzip der kritizistischen Logik: daß es nämlich einer Aufklärung bedarf, was es heißt, wenn wir urteilen, »ein Gegenstand ist und er ist das und das«; daß sich die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Beziehung auf einen Gegenstand, wie sie in all unseren Urteilen vorliegt, durch eine Reflexion auf die Gesetze unseres Denkens beibringen lassen müssen und daß eine solche Begründung der Erkenntnis aus den Prinzipien, die die Geltung aller Urteile vom Gegenstand garantieren, möglich sein muß, wenn nicht alles philosophische und außerphilosophische Denken immerfort über einem Abgrund unbefragter Voraussetzungen schweben soll. Das ist das Kernstück der kritizistischen Erkenntnistheorie. Aus dieser Problematik folgt ihre Beschränkung auf eine »Logik«, ihre Auszeichnung des Urteils, ihr Votum für die wissenschaftliche Erkenntnis. In 180
diesem Felde mag der Kritizismus in seiner vorliegenden Gestalt zwar stets verbesserungs- und ergänzungsbedürftig sein, ausgeschlossen ist jedoch der Versuch, das Problem selbst durch eine Phänomenologie oder Ontologie der Erkenntnis zu ersetzen. Die Frage, wie es möglich ist und was es heißt, in einem Urteil und Urteilszusammenhang einen Gegenstand zu setzen und zu bestimmen, kann nicht anders als durch eine Analyse der Prinzipien, die im Verein das Urteil in seiner gegenständlichen Geltung aufbauen, beantwortet werden. Mit Recht hat sich daher auch E. Cassirer gegen den Versuch Hartmanns gewandt, die Erkenntnistheorie überhaupt als eine Ontologie zu begründen: »So wenig der Sinn, der ,Logos' eines gesprochenen und vorhandenen Satzes sich in Worte oder gar in Silben oder Laute auflösen läßt: so wenig ist dies mit jener Grundform des Urteils möglich, durch die eine ,Vorstellung' auf ein ,Objekt' bezogen, durch die der Erkenntnis eine gegenständliche Bedeutung' gegeben wird. Dieses Urteil ,ist' und besteht, wo immer Erkenntnis intendiert und ,gemeint' ist — und diese seine schlichte Meinung bildet den archimedischen Punkt, auf den alle Analyse der Erkenntnis immer wieder zurückgeführt und auf den alle Erkenntnis-,Kritik' sich stützen muß.«224 Die transzendentale Logik ist in diesem Sinne tatsächlich von aller Ontologie unabhängig, denn Seiendes und Seinsrelationen kommen für sie nur als mögliche Gegenstände des Denkens, nicht aber als Grund der Beziehung des Denkens auf Gegenstände in Betracht. Eine ontologische Grundlegung der Erkenntnis wird daher auch von Cassirer abgewiesen. »Denn ein Zirkel ist es, wenn man glaubt, die Fundamentalrelation der Erkenntnis überhaupt dadurch ,erklären' und begreiflich machen zu können, daß man sie auf irgendeine spezielle Relation, die innerhalb der Erkenntnis, d. h. im Ganzen ihrer empirischen Inhalte gilt, zurückführt. Das transzendentale' Grundverhältnis, das, was die Erkenntnis ,bedeutet', ist auf solche objektiven Verhältnisse nicht reduzierbar, weil wir es, wo wir diese letzteren setzen, in seiner Bedeutung immer schon mitsetzen müssen.«225 Darin liegt auch der Universalitätsanspruch der transzendentalen Logik, der es ihr möglich macht, sich als Grundlegung allen Seinsdenkens zu etablieren. Auch Cassirers Kritik an der »Metaphysik der Erkenntnis« läuft im Grunde darauf hinaus, daß Hartmann bereits im Ansatz das transzendentallogische Problem verfehlt habe. Dogmatisch wird der Kritizismus jedoch nicht schon durch sein Beharren auf der Problemstellung der Geltungslogik, sondern erst dadurch, daß er jede andersartige Fragestellung aus dem Bereich der Erkenntnistheorie verweisen will. Bei Hartmann ist allerdings die Dimension der transzendentallogi224
Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, in: J a h r bücher der Philosophie III, 1927, S. 82.
225
A.a.O., S. 86.
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sehen Problematik gänzlich ausgefallen. Das hat seinen Grund darin, daß bei der Auflösung der Marburger »Logik«, die Hartmann vollzieht, die Logik neben der Psychologie, Gnoseologie und Ontologie wieder Selbständigkeit erlangt, aber nicht in Gestalt einer transzendentalen Logik, sondern als Theorie einer sekundären Seinssphäre! Hartmann übernimmt aus Husserls »Logischen Untersuchungen« den Gedanken der Gegenständlichkeit des Logischen und radikalisiert diese Gegenständlichkeit zu einem idealen Ansichsein. Diese Logik hat daher ihre historische Beziehung zu Kants »allgemeiner«, nicht aber zu dessen »transzendentaler« Logik. Entsprechend verliert audi das Urteil bei Hartmann seine konstitutive Bedeutung und wird zu einer sekundären Formung des Erkannten. Die Dimension des Denkens und Urteilens in seiner konstitutiven Bedeutung ist also von ihm nicht in seinen Problemansatz mit aufgenommen worden. De facto fehlt auch in der »Metaphysik der Erkenntnis« eine Auseinandersetzung mit diesem eigentlichen und zentralen Lehrstück des Kritizismus. Hartmanns größte Nähe zum Kritizismus resultiert daher auch nicht aus seiner Übernahme transzendentallogischer Lehrstücke, sondern aus seinem Versuch, die Transzendentalphilosophie als eine durch subjektivistische Einschlüsse irregeleitete Kategorienlehre zu interpretieren und sie in eine kritische Ontologie zu verwandeln. Aus den Beziehungen seiner Kategorienlehre zu H . Cohen hat Hartmann daher, trotz aller Kritik, keinen Hehl gemacht. In dieser ontologischen Kategorienlehre geht es jedoch nicht um diejenigen Prinzipien, die die Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis überhaupt ermöglichen, sondern um die Kategorien, die den Seinsgehalt der Erkenntnis verbürgen, und um ihre objektive Gültigkeit, d. h. um ihren Abstand von den Prinzipien des Seienden selbst. Hartmann hat daher seine Erkenntniskategorien auch als Inhaltsprinzipien bezeichnet, d. h. als solche, die die Erkenntnis ihrem Inhalte nach, als Erkenntnis von Seiendem, ermöglichen. Ihr Abstand von den Seinsprinzipien, mit denen sie sich nur partial decken, wird an den irrationalen Momenten faßbar, die sie in sich enthalten. Neben diesen Inhaltsprinzipien kennt Hartmann zwar auch noch spezifische Prinzipien der Erkenntnis, die nicht ihren Inhalt aufbauen, etwa regulative Prinzipien und Methodenprinzipien 228 . Wir sehen auch hier, daß in der Hartmann226
Vgl. Metaphysik d e r Erkenntnis, S. 366. D a ß f ü r H a r t m a n n gerade d i e Methodenkategorien als spezifische Erkenntnisprinzipien nidit-konstitutiver V a l e n z in B e tracht gezogen werden, d ü r f t e w i e d e r u m ein Erbteil sein, d a s er v o n H . Cohen übernommen hat. Dessen Gliederung des Prinzipienreiches mit seinen vier S t u f e n : der » U r t e i l e « der f o r m a l e n Logik, der Mathematik, der Mechanik und der F o r schung weist erhebliche Übereinstimmungen mit H a r t m a n n s A u f b a u der allgemeinen Kategorienlehre auf. Auch f ü r C o h e n sind die aus den Urteilen der Methodik entspringenden Prinzipien (Induktion, A x i o m e , Postulate, Theoreme u.s.f.) durch ihren A b s t a n d von den konstitutiven K a t e g o r i e n gekennzeichnet. U m g e k e h r t hat a u d i H a r t m a n n die Differenzierung der primären und sekundären Seinssphären v o r
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sehen Prinzipientheorie die Schicht der transzendentallogischen Prinzipien, die von konstitutivem, aber noch nicht inhaltsbegründendem Wert sind, ausgespart ist. Es fehlt mit anderen Worten der Bereich der transzendentallogischen Prinzipien, die die Gegenstandsbezogenheit des Denkens möglich machen, ohne daß bereits durch sie irgend etwas am Seienden erkannt würde. Umgekehrt stellt jedoch Hartmanns Kategorienlehre einen unbezweifelbaren Fortschritt gegenüber der Logik der reinen Erkenntnis dar. Denn Hartmann rückt damit von der rationalistischen Voraussetzung ab, daß sich der Inhalt der Erkenntnis aus dem »Ursprung« des reinen Denkens müsse erzeugen lassen. Andererseits wird dieser Inhalt audi nicht zu einem bloß positiven und von der Philosophie hinzunehmenden. Er hat seinen eigenen apriorischen Gehalt, der einer spezifischen kategorialen Begründung bedürftig ist. Erst damit ist der Weg frei für eine Ontologie, die nicht nur auf Prinzipien der Erkenntnis, sondern auf Prinzipien des Seienden selbst abzielt. Wenn die kritizistische transzendentale Logik das Totum zu umspannen versuchte, insofern sie die Bedingungen der Möglichkeit für das Denken aller Gegenstände erforschte, so begreift Hartmanns Ontologie das Totum des Seienden. Würde dort das Seiende nur als Gedachtes ein möglicher Gegenstand der Philosophie, so wird nun auch das Denken noch vom Sein umgriffen und als Seiendes thematisch. Wenn die Erkenntniskategorien den Inbegriff der reinen Seinsbegriffe darstellen, durch die das Denken Seiendes als solches zu bestimmen vermag, so ist dieser Inbegriff der reinen Seinsbegriffe inhaltlich immer noch unterschieden von dem Inbegriff der Seinsprinzipien, die das Seiende als solches aufbauen, und zwar sind beide nicht nur dadurch unterschieden, daß das Totum der reinen Seinsbegriffe eine Art von »transzendentaler« Größe ist, die das Denken von Seiendem ermöglicht, während der Inbegriff der Seinsprinzipien selbst eine Seinsgröße ist, sondern beide Inbegriffe dedien sich auch nur zum Teil. Nicht von allen Seinsprinzipien haben wir auch reine Seinsbegriffe, und die reinen Seinsbegriffe, über die wir verfügen, dedien sich auch nur partial mit den Seinsprinzipien selbst. Wenn unsere reinen Seinsbegriffe ein apriorisches Verständnis des Seienden möglich machen, so bleibt dieses auf Grund des gekennzeichneten Abstandes doch notwendig endlich. Der Index dieser Endlichkeit ist das Auftreten irrationaler Züge in unseren reinen Seinsbegriffen. Hartmanns Ontologie fragt also auch von dem zunächst Gegebenen zurück in einen absoluten Grund; aber sie fragt nicht von der Erkenntnis von Seiendem zurück in die Bedingungen der Möglichkeit dieser Erkenntnis, sondern sie fragt vom erkannten Seienden zurück nach den allem an H a n d der Modalkategorien, die C o h e n s vierter Urteilsart entsprechen, vorgenommen. (Vgl. Logische und ontologische Wirklichkeit, in: Kantstudien X X , 1915, u n d : Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938.)
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Prinzipien des Seienden. Der Inbegriff dieser Prinzipien, der unsere Begriffe von ihm stets transzendiert, bildet den absoluten Grund für das Sein jedes Seienden, also audi für das Sein der Erkenntnis selbst. Entsprechendes gilt von dem Inbegriff der Prinzipien, die die reale Welt in ihrer Realität aufbauen. Audi sie sind ein absoluter Grund für die Realität alles Realen. Aber die Seinsprinzipien und die Prinzipien der realen Welt ermöglichen zwar Seiendes und Reales, nicht aber die Erkenntnis von Seiendem und von Realem. Blicken wir von hier aus noch einmal zurück zur transzendentalen Logik der Kritizisten, so finden wir hier wie dort die Behauptung eines absoluten Grundes. Wenn der Gedanke einer Vereinbarkeit von transzendentaler Logik und Ontologie vollziehbar sein soll, dann muß eine solche Mehrheit absoluter Gründe möglich sein und sich ohne Widerspruch denken lassen. Eben dies aber ist der Fall: Die Seinsprinzipien bilden zwar den absoluten Grund für das Sein alles Seienden, aber sie kommen nicht zugleich dafür auf, daß das Seiende auch in gültiger Weise gedacht werden kann. Umgekehrt bildet zwar das reine Denken den absoluten Grund für die Erkenntnis von Seiendem, nicht aber für das Sein des in ihr Erkannten. Während im Namen der Kritizisten E. Cassirer wenigstens noch Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« einer ausdrücklichen Kritik unterzogen hat, ist die Stellungnahme Husserls zur Hartmannschen Gnoseologie nur aus einigen wenigen Äußerungen zu erschließen, die sich offenbar auf Hartmann beziehen. In Husserls Vortrag über »Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie« aus dem Jahre 1924 findet sich eine Stelle, deren Bezug auf Hartmann außer Frage steht, wenngleich sein Name nicht genannt wird: »Gewiß, das An-sich-sein der Welt ist eine zweifellose Tatsache; aber, zweifellose Tatsache ist nichts anderes als unsere, und natürlich wohlbegründete Aussage; genauer gesprochen: Inhalt unseres Aussagens, gegründet auf das in unserem wirklichen und möglichen Erfahren Erfahrene, in unserem erfahrungslogischen Denken Gedachte und Eingesehene... Wie ist nun aber das ,An-sich-sein der Welt' zu verstehen, wenn es für uns nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als ein sich in unserer eigenen Erkenntnisleistung subjektiv oder intersubjektiv gestaltender Sinn, natürlich zugerechnet den nur an Sinnen denkbaren Charakter ,wahres Sein'? Und schließlich: kann, wenn das Substrat dieser Fragen verstanden ist, überhaupt noch eine Art philosophischer Weltbetrachtung möglich sein, die so tut, als ob die Rede von einer ,an sich seienden Welt' einen rechtmäßigen Sinn haben könnte, der von dem Sinngebilde in der Erkenntnis, dem konkret in der Mannigfaltigkeit der Akte einsichtig erkennenden Bewußtseins sich synthetisch gestaltenden Sinn, noch gänzlich verschieden wäre — als ob er eine ,metaphysische Transzendenz' meinen könnte, die durch ,transzendente' Regelung einer ,metaphysischen' Kausalität mit dem bloß ,subjektiven' 184
Erkenntnisgebilde verknüpft sein könnte, als mit einem in die Subjektivität hineingewirkten ,Erkenntnisbilde'? Wäre das nicht ein Sinn, der, losgerissen von der Urstätte alles Sinnes in der Sinngebung des Bewußtseins, eben Unsinn wäre?« 227 Für Husserl muß Hartmanns Gnoseologie hinter der Forderung einer radikalen Erkenntnisbegründung zurückbleiben, weil sie nicht die phänomenologische Reduktion vollzieht. Hartmanns »Bewußtsein« ist immer noch verstanden als ein regionales Seiendes in der Welt, in dem das Nicht-Psychische als intentionales Objekt erscheint. Weil die Gnoseologie auf der Stufe der psychologischen Epoche stehenbleibt, kann sie auch zwischen dem bloß intentionalen Objekt und dem unabhängigen Seienden unterscheiden. Daher ist aber auch für die Gnoseologie das Erkennen rezeptiv und ohnmächtig gegenüber dem Ansidhseienden. All diese Bestimmungen betreffen nur die Erkenntnisrelation, insofern sie zwischen innerweltlidien psychischen Subjekten und dem von ihnen unabhängigen Seienden spielt228. Die transzendentale Phänomenologie bestreitet zwar nicht die mundane Unabhängigkeit des Seienden vom Menschen und die Rezeptivität des menschlichen Erkennens; sie hebt nicht den der natürlichen Einstellung wesenhaften Unterschied von Ding an sich und Ding für uns auf, sondern sie fragt in den transzendentalen Glauben zurück, in dem die Welt und die Entgegensetzung von Welt und Weltvorstellung selbst entspringen. Für die transzendentale Phänomenologie werden also die Unterscheidungen, mit denen die Gnoseologie operiert, zu Leitfäden für die Frage, auf welche Weise diese Unterscheidungen im Bewußtsein entspringen; sie werden zu Unterscheidungen innerhalb der Sphäre der Noemata, nach deren zugrunde liegenden Bewußtseinsleistungen gefragt werden muß. Ohne Zweifel ist Husserls transzendentale Phänomenologie, die den Standpunkt der Reflexion absolut setzt, radikaler als die Hartmannsche Gnoseologie. Sie entfaltet nämlich in methodischer Weise eben die Frage, für die von Hartmann nur der Ort angegeben worden ist: wie sich nämlich durch die Spontaneität des Bewußtseins das'Weltphänomen im Bewußtsein 227
Husserliana VII, S. 247 f.
228
Vgl. hierzu die von Husserl autorisierten Ausführungen E. Finks in den Kantstudien 38, S. 375 ff., die sich wenigstens implizit auf Hartmanns Gnoseologie beziehen lassen. Fink sieht eine Auslegung der phänomenologischen Problematik im Sinne des Verhältnisses von psychologischer Immanenz und Transzendenz durch Husserls Darstellung im l . B a n d der »Ideen« nahegelegt; Husserl schwebe hier noch zwischen der natürlichen und der transzendentalen Einstellung, indem er das Bewußtsein als »Region« bestimmt. (Vgl. a.a.O., S. 360 f.) Von hier aus ließe sich eventuell Hartmanns Ansatz des Erkenntnisproblems als eine Entscheidung dieses Schwebezustandes zugunsten der natürlichen Einstellung interpretieren. Im übrigen ist in diesem Aufsatz Finks eine starke Hervorkehrung spekulativ-idealistischer Motive (»Kreation«, Welt als »Endobjektiviertheit des absoluten Geistes«, S. 373 und 378) und zugleich eine Annäherung an Heidegger spürbar, die nicht unbedingt auf Rechnung Husserls gehen dürfen.
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aufbaut. Sie entfaltet das Bewußtsein selbst als leistenden Grund für alle seine Noemata. Audi dieses Bewußtsein ist absolut, insofern nichts in es hineinzukommen vermag, was es nicht aus sich selbst produziert. Für die »Welt« als Noema ist das transzendentale Bewußtsein absolut leistender Grund. Für die Aufklärung dieses Bewußtseinslebens ist allerdings jeder Rekurs auf transzendentes Seiendes aus Gründen der methodischen Reinerhaltung auszuschließen. Hinsichtlich des Weltphänomens — und die Welt kommt für die transzendentale Phänomenologie nur als Phänomen, als gestifteter Sinn in Betracht — ist das Bewußtsein absolut spontan. Die absolute Spontaneität des Bewußtseins hinsichtlich aller in ihm konstituierten Noemata widerstreitet jedoch nicht der einer ganz anderen Dimension angehörigen Einsicht, daß dieses Bewußtsein in seinem ontologischen Sein endlich und durch anderes Seiendes bedingt ist. Nach dieser ontologischen Seinsverfassung des Bewußtseins fragt jedoch die transzendentale Phänomenologie nicht und kann sie nicht fragen, sofern sie sich in ihrer eigenen Hinsicht hält. Eben dies aber ist die Frage, auf die Hartmanns Ontologie hinausführt, wie nämlich Seiendes solcher Seinsverfassung möglich ist und auf welchen Bedingungen es beruht. Das ist zugleich das Feld, auf dem sich Hartmanns Ontologie des realen Geistes und Hönigswalds Monadologie begegnen. Für eine Konfrontation beider Denker fruchtet daher der Versuch nichts, ihre Divergenz auf die Unterschiedenheit zweier Probleme zurückzuführen. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung zwischen den Theorien beider Denker liegt bisher nicht vor. Hartmann ist an keiner Stelle auf Hönigswald eingegangen, während Hönigswald nur einmal in seiner »Geschichte der Erkenntnistheorie« (1933) Hartmanns Theorie der emotional-transzendenten Akte kurz erwähnt. Für unseren Problemzusammenhang ist jedoch eine andere Stelle bedeutsamer, die sich nicht explizit auf Hartmann bezieht, dafür aber um so schärfer die Unterschiedenheit ihrer Theorien in der Gemeinsamkeit herausstellt. Wir werden auf diese Stelle noch eingehen. Hier kann es sich nicht darum handeln, Schritt für Schritt beide Theorien zu vergleichen, sondern nur darum, das Prinzip ihres Abstandes zu erfassen. Wir waren bereits auf die Ubereinstimmungen zwischen der Hartmannschen Schichtenlehre und der stufenweisen Ableitung der Prinzipien des Realen bei Hönigswald eingegangen. Die Art und Weise, in der Hönigswald die Regional-Kategorien des Realen im Abstieg von den reinen Geltungsprinzipien »ableitet«, scheint zunächst dem Hartmannschen Dependenzgesetz zu widerstreiten. Nach Hönigswald »fordern« die höheren Gebilde zu ihrer Realisation die niederen, während Hartmann seine Schichtenlehre von den niederen Schichten aus aufbaut. Hartmann hätte daher wohl in Hönigswalds Deduktionsgang eine verkappte Teleologie erblickt. In Wahrheit dürfte jedoch nicht hier der entscheidende Unterschied zu suchen sein; denn der Forderungszusammenhang Hönigswalds betrifft nur die Erkenntnis der Prinzipien. Der 186
entscheidende Abstand zwischen beiden Theorien beruht gerade darauf, daß Hönigswald die Schichtenontologie an die Geltungsreflexion ansdiließt. Dieser Anschluß an das Problem der Letztbegründung der Erkenntnis macht die Schichtenontologie wenigstens partial unabhängig von ihrer Gebundenheit an die Einzel Wissenschaften und befreit sie von dem Verdacht, den H . Dingler einmal bissig dahin formulierte, daß eine Philosophie dieser Art sich darauf beschränke, die Fortschritte der Einzelwissenschaften mit frohen Worten zu begleiten. Wenn sich die Gültigkeit der Regionalprinzipien im Ausgang von den unaufhebbaren letztbegründeten Prinzipien, auf denen die Geltung aller Erkenntnis beruht, deduzieren läßt, so wird die Erkenntnis der Regionalprinzipien in eben dem Maße, in dem dies möglich ist, von der positiven Erfahrung unabhängig werden. Daß Hönigswald gerade in diesem Punkte seine Divergenz von der zeitgenössischen Ontologie erblickt hat, zeigt seine Kritik an der nicht näher gekennzeichneten Phänomenologie und Metaphysik: »Beide gliedern den Begriff der Gegebenheit nach Schichten und Wirklichkeitssphären, ohne doch über ein definiertes Prinzip solcher Gliederung zu verfügen, das immer nur einer methodischen Analyse des Begriffs der ,Gegebenheit' selbst entspringen kann.« 229 Daß es Hönigswald gelingt, die Differenzierung der Seinsbereiche und der Methoden der Erkenntnis nicht nur als tatsächlich gegeben aufzunehmen, sondern als notwendig zu legitimieren, führt in der Tat über die Hartmannsche Ontologie der realen Welt hinaus, für die letzten Endes die Orientierung an der faktischen Gliederung der Wissenschaftsbereiche maßgebend ist. Umgekehrt stellt sich jedoch die Frage, wie weit die Leistungsfähigkeit der von Hönigswald entdeckten Methode reicht. Die Bedeutung der Hartmannschen speziellen Kategorialanalyse beruht ja gerade auf ihrem engen Kontakt mit den Wissenschaften, der es ihr ermöglicht, ihrem Prozeß zu folgen 230 . Es will uns scheinen, daß die Lösung letztlich in einer Kooperation beider Methoden zu finden ist. Wenn es auch nach Hartmann in jedem speziellen Seinsbereich eine spezifische Schichtkategorie (das sogenannte »Novum«) gibt, auf der die Eigentümlichkeit des betreffenden Seinsbereiches beruht und die ihrerseits alle übrigen Prinzipien dieser Region formt, so dürfte sich Hönigswalds Methode des apriorischen Prinzipienentwurfs gerade auf diese spezifischen Sdiiditkatego-
229
Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. 36. — Am Problem des »Gegebenen« entfaltet sich audi Hönigswalds Abstand vom Marburger und Süd westdeutschen Kritizismus. Für ihn ist der Unterschied der Gegenstands- (und Kultur-) Bereiche und damit die Vielheit der Wissenschaften weder aus dem »reinen Denken« zu erzeugen, noch als bloße Gegebenheit hinzunehmen. Der Erzeugungsidealismus der Marburger und der »transzendentale Empirismus« Rickerts (nach einem Worte S. Hessens) scheitern beide daran, daß die Pluralität der Gegenstandsbereiche ohne eine Theorie der konkreten Subjektivität unbegründbar bleibt.
230 Ygj djg Dissertation des Verfassers, a.a.O., S. 112 f.
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rien erstrecken. Sie würden dann auch noch die Voraussetzung bilden für die Erforschung aller weiteren Prinzipien des Bereichs in der Form einer Kategorialanalyse der gegebenen Gegenstände. Die Grenze der Hönigswaldschen Methode läge also dort, wo die Möglichkeit eines solchen apriorischen Entwurfs an ihr Ende gelangt und die Notwendigkeit einer Kooperation mit den positiven Wissenschaften auftritt. Die Unabhängigkeit von der Erfahrung sichert der Regionalontologie ihren philosophischen Charakter, ihr Bezug auf die Erfahrung aber kommt dafür auf, daß die Ontologie der realen Welt eine eigentümliche Aufgabe und eine eigentümliche Methode innerhalb der Philosophie besitzt. Daher ist eine »Wahl« zwischen der Hönigswaldschen Monadologie und der Hartmannschen Schichten-Ontologie überflüssig. Transzendentalphilosophie und Ontologie des realen Geistes und der realen Welt stehen nicht in einem sich ausschließenden Gegensatz zueinander, sondern in einem wohlbegründeten Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. N i e kann die Sdiiditenontologie ohne die Transzendentalphilosophie eine zureichende philosophische Begründung finden, und die moderne Ontologie gräbt sich ihren eigenen Grund weg, wenn sie die Transzendentalphilosophie nicht nur von krypto-ontologisehen Einschlüssen reinigen will, sondern sie bekämpft; und nie kann die Transzendentalphilosophie von sich aus selbst zu einer ausgebildeten speziellen Kategorienlehre der Seinsprinzipien des Realen werden, weil es dazu einer eigenen Methode der Kooperation mit den positiven Wissenschaften bedarf. Entscheidend ist für uns, daß diese Verbindung gerade gestiftet wird durch die Theorie der konkreten Subjektivität. Erst die Transzendentalphilosophie, die sich nicht auf eine Theorie des reinen Denkens beschränkt, kann eine Regionalisierung der Gegenstandsbereiche der Theorie leisten; und umgekehrt bildet die Tatsache, daß das Subjekt der Erkenntnis ein Glied der realen Welt ist, den notwendigen Bezugspunkt aller Ontologie der realen Welt auf die Transzendentalphilosophie, der eine »naive«, rein gegenständlich verfahrende Ontologie ausschließt. V. ONTOLOGIE ÜND ANALYTIK DES DASEINS
Während in der ersten Periode der Deutung der Heideggerschen Philosophie um 1930 diese als eine Fortführung und Konkretisierung der Phänomenologie Husserls und Schelers aufgefaßt wurde, hat sich während der zweiten Welle der Heidegger-Rezeption der geschichtliche Horizont des Verständnisses zu einem universalen philosophiehistorischen geweitet. Nicht weniger als die Geschichte der gesamten abendländischen Philosophie von ihren Ursprüngen in der Vorsokratik an wird nun vorausgesetzt, um eine angemessene Auslegung der Bedeutung dieser Philosophie zu ermöglichen. Beide Interpretations-Schemata stam188
men, wenn nicht von Heidegger selbst, so doch aus seinem eigenen Einflußbereich. Der Wechsel von der ersten zur zweiten Deutung ist daher auch eine Funktion des veränderten Selbstverständnisses Heideggers, dessen Umbruch etwa in die Mitte der dreißiger Jahre fällt. Die UmSchaltung von der ersten zur zweiten Auslegung vollzieht sich deshalb nicht als eine einfache kontinuierliche Erweiterung des geschichtlichen Horizontes; vielmehr wird die erste Auslegung vom Standpunkt der neuen aus als unangemessen abgelehnt. Das hat seinen Grund in einem Wandel des Verhältnisses zur Geschichtlichkeit der Philosophie. Während Heidegger seine Philosophie in »Sein und Zeit« noch als eine Fortführung der Phänomenologie und als phänomenologische Wissenschaft verstand und die Geschichtlichkeit der Philosophie demgemäß als eine Art von kontinuierlicher Vertiefung in der Erfassung einer und derselben Erkenntnisaufgabe erschien, wird nunmehr die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie, einschließlich der Phänomenologie und ihrer Idee einer wissenschaftlichen Philosophie, mit einer Klammer versehen. Das bedeutet jedoch nicht, wie bei der phänomenologischen Einklammerungsmethode E. Husserls, daß Heidegger an eine geschichtliche Voraussetzungslosigkeit des eigenen Philosophierens, an einen geschichtlichen Nullpunkt glaubt, der durch einen einfachen Schritt zu gewinnen wäre, sondern die Einklammerung der Geschichte verweist das philosophische Denken gerade auf die Aufgabe, in die Geschichte zurückzufragen, um den in ihr selbst verborgenen Grund zu entdecken. In diesem Verhältnis zur Geschichte ist es angelegt, daß nun eine, wenn auch nur partiale, Identifizierung der Heideggerschen Philosophie mit anderen zeitgenössischen philosophischen Strömungen nicht nur als unzureichend, sondern als völlig unangemessen für das Verständnis ihres Sinnes abgelehnt wird. Es bedeutet deshalb in der Gegenwart schon beinahe einen Akt der Opposition, wenn man Heideggers Philosophie nicht makroskopisch auf die Universalgeschichte der Philosophie projiziert, sondern sie aus der philosophischen Problemsituation ihrer Zeit zu begreifen sucht. Der Vorwurf eines prinzipiell unangemessenen Verständnishorizontes, der sich gegen einen solchen Versuch erheben mag, muß jedoch in Kauf genommen werden. Gerade wenn man das Eigentümliche und Neue dieser Philosophie erfassen will, muß man zu begreifen versuchen, wie sie innerhalb einer gemeinsamen Problemsituation ihre Fragen stellt und wie sie sich dabei von anderen zeitgenössischen Philosophien unterscheidet. Da die Selbstdeutung mit in den Bereich der gedeuteten Philosophie gehört, kann das Verdikt einer solchen philosophiehistorischen Konfrontation, das diese Selbstdeutung nahelegt, für uns nicht entscheidend sein, weil sonst jede von der Selbstauslegung abweichende Interpretation ausgeschlossen werden müßte. Für die Einbeziehung Heideggers in den konkreten geschichtlichen Raum der Gegenwartsphilosophie spricht aber darüberhinaus auch sein 189
spezifisches Verhalten zur zeitgenössischen Philosophie. Was für sein Verhalten zur Geschichte der Philosophie überhaupt gilt, gilt in noch verstärktem Maße von der Art und Weise, wie er sich auf zeitgenössische Philosopheme bezieht. Weder knüpft er an sie an, um ihre Ansätze fortzuführen, noch auch ignoriert er sie, um in einem isolierten Raum ein eigenes System zu konstruieren. Vielmehr bedarf er überall der Anknüpfung an zeitgenössische Denkversuche, die er aufnimmt, um sie sogleich zu unterlaufen und durch den Aufweis ihrer ungeklärten Fundamente aufzuheben. Das gibt seinem Verhältnis zur zeitgenössischen Philosophie sein besonderes Gepräge. Einerseits kann Heideggers Denken gar nicht ohne diese Gegenwartsphilosophie begriffen werden; auf sie bezieht er sich vielfach explizit oder implizit, und selbst seine Interpretation und Kritik vergangener Philosophien kann noch auf weiten Strecken als eine versteckte Auseinandersetzung mit der Gegenwart gelesen werden; andererseits aber führt er die Denkansätze, die er aufnimmt, niemals in der ihnen selbst eigentümlichen Richtung fort, sondern biegt sie um, so daß sie auf seine eigene Fragestellung zurückgeführt werden. Mit gutem Recht könnte man daher auch Heidegger einen »reaktiven« Denker nennen. Das zeigt sich, wenn man etwa sein Verhältnis zur neuen Ontotogie bedenkt, in die er zunächst einfach eingeordnet worden ist. Wenn man sich an gewissen formalen Ubereinstimmungen orientiert, so scheint Heidegger in der gleichen Weise über Husserl hinauszugehen, wie Hartmann über die Marburger Schule. Audi Heidegger sieht die fundamentale Frage der Philosophie nicht mehr in einer Erkenntnistheorie, sondern in einer universalen Ontologie gestellt. Audi er fundiert die Theorie der Erkenntnis in einer Analyse des Seins der erkennenden Subjektivität 231 . Dennoch aber ist es nicht möglich, Heideggers Ontologie-Konzeption und seine Idee einer Fundamentalontologie ohne weiteres den neuontologischen Strömungen der zwanziger Jahre zuzurechnen. Das Verhältnis Heideggers zur neuen Ontologie ist vielmehr wesentlich komplexer. Gewiß setzt die Tatsache, daß bei ihm die Seinsfrage ins Zentrum der Philosophie rückt, die Renaissance der Ontologie im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts voraus. Zugleich aber reiht sie sich nicht einfach der neuen Ontologie ein, sondern setzt sich in ein Verhältnis zu ihr, durch das alle Versuche einer bloßen Erneuerung der Ontologie dispensiert werden. Sie gibt nämlich dem Problem der Onto231
Man könnte noch auf weitere »Übereinstimmungen« hinweisen, die ihren Grund darin haben, daß auch Heidegger sein Denken in einer bestimmten Situation der Philosophie ausgebildet hat; etwa auf die Rückbeziehung der Logik auf Ontologie, der Denkgesetze auf Seinsgesetze; auf das Problem der regionalen Differenzierung des Seienden (vgl. d a z u H . Heimsoeth, Zur Geschichte der Kategorienlehre, in: N . Hartmann, Der Denker und sein Werk, hg. von H . Heimsoeth u. R. Heiß, 1952); auf das Problem der »Möglichkeit« einer Ontologie, auf die Bestimmung des Erkennens als Seinsverhalten u.s.f.
190
logie eine solche Wendung, daß von ihr aus gesehen die traditionelle wie auch die moderne Ontologie als eine bloße »Ontik« erscheint. Entsprechendes aber gilt von seiner Analytik des Daseins. Ohne Zweifel setzt sie die von uns bereits berührte Hinwendung der Philosophie zur konkreten Subjektivität und den gleichzeitigen Kampf gegen eine naturalistische und objektivistische Psychologie voraus. Dennoch aber zielt seine Fundamentalontologie nicht auf eine Konkretisierung der philosophischen oder erkenntnistheoretischen Subjektsproblematik, insofern sie die gesamte philosophische Subjektstheorie, und mit ihr vor allem die Erkenntnistheorie, als auf einem ontologisch unangemessenen Ansatz beruhend verwirft. Ähnlich steht es um Heideggers Verhältnis zum Problem einer Grundlegung der Ontologie. Zwar setzt er die thematische Wendung der Philosophie und der Phänomenologie von der Erkenntnistheorie zu einer Ontologie voraus und identifiziert sich in »Sein und Zeit« mit der Idee einer phänomenologischen Ontologie, aber sein eigentliches Ziel ist nicht die einfache Ausgestaltung der Phänomenologie zu einer realistischen Ontologie, sondern das Problem einer Grundlegung der Ontologie. Das hat dazu geführt, daß man das Verhältnis von Ontologie und Fundamentalontologie im Sinne einer fundierten und einer fundierenden philosophischen Disziplin verstand, so wie etwa bei Husserl alle naive Ontologie ihre phänomenologische Aufklärung in der transzendentalen Phänomenologie finden soll. Zocher hat die Idee einer Fundamentalontologie in diesem Sinne verstanden und an ihr gerügt, daß sie selbst ontologisch sei. Auch dies zeigt jedoch nur, daß das Denken Heideggers zwar ohne die zeitgenössische Frage: »Wie ist eine kritische Ontologie möglich?« nicht verstanden werden kann, weil es diese Frage voraussetzt, um überhaupt in Gang zu kommen, daß aber der Ansatz eines transzendentalen Begründungsverhältnisses zwischen zwei philosophischen Disziplinen für das Verständnis der Heideggerschen Intention unangemessen ist, weil es ihm nicht auf eine solche Zweiheit ankommt. Da er die Seinsfrage auf das Problem der Fundamentalontologie zurückführt, bleibt auch die Feststellung, er habe sich in dem doch immer nur vorläufigen und vorbereitenden Bereich einer Grundlegung der Ontologie verrannt und sei nie zu der Ausbildung der Ontologie selbst fortgeschritten, für ihn ohne Bedeutung. Unsere erste Sorge muß daher der Gewinnung der eigentümlichen Problemdimension Heideggers gelten. Das ist bei ihm von um so größerer Bedeutung, als er in weit stärkerem Maße als die übrigen von uns behandelten Denker um ein einziges zentrales Problem bemüht ist. Heidegger hat die Erfahrung, daß ein ursprüngliches Denken im Grunde nur um einen zentralen Gedanken kreise, zu unrecht zu verallgemeinern versucht und dadurch den Denker in die Nachbarschaft des Dichters gerückt. Für sein eigenes philosophisches Bemühen aber gilt gewiß, daß er mit 191
einer ungeheuren Intensität und Zähigkeit einen einzigen Grundgedanken zu bewältigen und letztlich die ganze Philosophie und ihre Geschichte auf ihn zurückzuführen gesucht hat. Was diese Mitte seines Denkens ausmacht, ist jedoch nicht so leicht zu fassen. Heidegger ist kein »Wissenschaftler«, der an einmal errungenen Ergebnissen festhält und auf ihnen aufbaut; ihm kommt es überhaupt nicht so sehr auf Ergebnisse, sondern auf den Vollzug des Denkens an. Eigene wie fremde Gedanken werden dabei immer nur aufgenommen, um sie in den »Wirbel eines ursprünglichen Fragens« hineinzuziehen. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Achsen dieser Wirbel immer wieder in dieselbe Richtung weisen. Daher kommt es bei ihm stärker als bei den übrigen Denkern darauf an, den eigentümlichen Duktus seines Fragens zu erfassen. Das bereitet jedoch insofern Schwierigkeiten, als wir uns dabei nicht an einer durchgängig festgehaltenen Terminologie orientieren können. Die Sprachen, die der junge, der mittlere oder der späte Heidegger spricht, sind so verschieden, daß, wollte man nur nach ihnen urteilen, der frühe Heidegger als ein Wertphilosoph »Südwestdeutscher« Prägung, der Heidegger von »Sein und Zeit« als ein heroischer Nihilist und der Heidegger nach der »Kehre« als ein seinsfrommer Mytho-Loge erscheinen könnte. Stimmungsgehalt und Gebärde sind dabei so gegensätzlich, daß an die Stelle des Schuldigseins der Dank und an die Stelle des Hineingehaltenseins in das Nichts das Hinausstehen in die Lichtung des Seins treten kann, ohne daß dabei der Aussagewert des Gesagten ein grundsätzlich anderer wird. Indem wir von der Uberzeugung ausgehen, daß das gegensätzliche Gestimmtsein dieses Denkers den Kern seiner Gedanken unangetastet läßt und jedenfalls nicht bei seiner Interpretation im Vordergrund stehen darf, versuchen wir zugleich, den Gehalt seiner Philosophie — soweit es eben geht — von der eigentümlichen Sprache, in der er zum Ausdruck gebracht wird, zu lösen. Das bereitet gerade bei Heideggers spezifischem Sprachdenken besondere Schwierigkeiten. Es könnte scheinen, als sei die Unterscheidung von gedanklichem Gehalt und sprachlichem Ausdruck diesem Denken und eventuell dem philosophischen Denken überhaupt unangemessen. Doch hängt an der Möglichkeit dieser Unterscheidung letzten Endes nicht weniger als die Frage, ob sich dieses Denken überhaupt mit anderem Denken einem einigen Bezugssystem, genannt Philosophie, einordnen läßt oder nicht. Daß die Möglichkeit einer solchen Unterscheidung nichts mit der Vorstellung eines sprachunbezogenen Sinnes zu tun hat, sondern nur die Forderung ausdrückt, daß sich die Bestimmtheit eines Gedankens daran bewähren müsse, daß er sich audi anders zum Ausdruck bringen läßt, versteht sich von selbst. Auch Heideggers beständiges Ringen, seine Gedanken auch angemessen zur Sprache zu bringen, bestätigt nur das Gesagte. Für uns kann es sich nicht darum handeln, seine Philosophie in eine fremde Terminologie zu übersetzen, was, da es 192
sich dabei wiederum nur um die Terminologie einer bestimmten anderen Philosophie handeln könnte, immer nur in bestimmten Grenzen möglich wäre, sondern nur um den Versuch, einer Bewährung der Identität des Gedachten gegenüber der Vielfalt der möglichen Ausdrucksformen. Zugleich stellt sich damit das Problem der Einheit und Entwicklung des Heideggerschen Denkens. Auch hier soll versucht werden, von den Unterschieden verschiedener Entwicklungsphasen nach Möglichkeit abzusehen und nur auf den einheitlichen Grundgedanken zu rekurieren. Daß die Kontinuität zwischen seinem Denken vor und nach der sog. »Kehre« größer ist, als es der Stimmungsumschwung, der die Schriften durchherrscht, erscheinen läßt, ist von Heidegger selbst betont und in der neueren Interpretation auch anerkannt worden. Anders scheint es jedoch mit der Frühphase zu sein, die sich in den Schriften der Jahre 1912 bis 1916 dokumentiert. Ähnlich wie bei Hönigswald und Hartmann hat sich auch bei Heidegger der eigentliche Durchbruch zu einer neuen Philosophie in den entscheidenden Jahren während und kurz nach dem ersten Weltkrieg vollzogen, wenngleich diese Philosophie erst Ende der zwanziger Jahre der breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden ist. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Problemstellung und die Richtung der Entwicklung sich bereits in seinen frühen Veröffentlichungen aufweisen läßt. Zwar kann keine Rede davon sein, daß in ihnen bereits mehr als ein erstes Programm zu der späteren Philosophie enthalten sei, aber gerade in dieser elementaren Gestalt wird deutlich, von welchen systematischen Voraussetzungen aus Heidegger seinen Weg genommen hat. Man hat sich daran gewöhnt, Heidegger von »Sein und Zeit« aus als einen Phänomenologen und Schüler Husserls zu betrachten und der Tatsache, daß er in seinen Anfängen der Philosophie der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus nahegestanden hat, keine Bedeutung für seine spätere Entwicklung beigemessen. In der Tat lassen sich audi von Rickert aus kaum Verbindungslinien zur späteren Philosophie Heideggers ziehen. Anders ist es, wenn wir von E. Lask ausgehen, den der junge Heidegger in seinen ersten Schriften immer wieder erwähnt. Die Intensität, mit der Lask philosophierte, und die Art seiner Sprachbehandlung, die anschauliche Ausdrücke zu philosophischen Termini erhob, faszinierten auch Heidegger. Von ihm übernimmt er zunächst die Idee einer rein objektiven und zugleich metagrammatischen Logik, die er in seiner Dissertation und in einer Sammelbesprechung rigoros verteidigt 232 . Wie Lask jedoch nicht bei seinem Objektivismus stehengeblieben ist und sich in den Jahren kurz vor Kriegsausbruch unter beständiger Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie (Simmel, Bergson) einen philosophischen Zu-
232
Vgl. Neuere Forschungen zur Logik, in: Literarische Rundschau für das katholische Deutschland, 3 8 . J g . , 1912, und: Die Lehre v o m Urteil im Psychologismus, Diss. Freiburg 1914.
193 13 Brelage
gang zur lebendigen Subjektivität gesucht hat, so bildet auch für Heidegger die reine Logik nicht das letzte Wort. Bereits in den »Neueren Forschungen« erkennt er, daß die Trennung von Logik und Psychologie letzten Endes undurchführbar ist, weil das Logische ins Psychologische eingebettet ist. Allerdings bleibt die experimentelle Psychologie für die Philosophie belanglos, nicht jedoch die Phänomenologie als Bedeutungslehre, wie sie von Husserl in den »Logischen Untersuchungen« entworfen worden ist. Dasselbe Verhältnis von reiner Logik oder Kategorienlehre und Phänomenologie oder Bedeutungslehre bildet auch die Grunddisposition der Habilitationssdirift 233 : Entscheidend ist für uns nicht die Durchführung dieser Schrift, die in ihrem ersten Teil eine Interpretation der scholastischen Transzendentalphilosphie an Hand des derzeit noch Duns Scotus zugeschriebenen Traktats »De modis significandi« gibt, sondern der Schlußabschnitt, der im Ausgang vom Kategorienproblem drei Stufen oder »Potenzen« der philosophischen Aufgabe beschreibt. Wir charakterisieren hier kurz diese drei zusammengehörigen Themen, soweit sich in ihnen bereits Bezüge zur späteren Philosophie Heideggers andeuten: 1. Das Ausgangsproblem bildet die allgemeine Kategorienlehre, die es sowohl mit der letzten kategorialen Sphäre des Gegenständlichen überhaupt, mit den Transzendentien, die den verschiedenen Seinsgebieten den prinzipiellen Zusammenschluß geben, zu tun hat, als auch mit der Abgrenzung der Gegenstandsbereiche in kategorial nicht aufeinander reduzierbare Bezirke. Dabei geht es vor allem um die fundamentale Unterschiedenheit des Sinnlichen und unsinnlich Geltenden. Dieser Unterschied fällt zusammen mit dem von Seiendem und Sein; denn das Sein des Seienden ist in wertphilosophischer Auffassung nicht selbst ein Seiendes, sondern ein Geltendes234. Heidegger setzt also ein bei der Kategorienlehre oder Ontologie, und zwar so, daß er sie selbst bereits voraussetzt und zum Ausgangspunkt eines höherstufigen Problems macht. Nicht die Erfahrung, sondern die Kategorienlehre ist für ihn das philosophische Ausgangsproblem. Wie Lask setzt er nicht bei einer Logik der Erfahrung, sondern einer Logik der Philosophie ein. Nidit das Seiende, sondern das Sein selbst ist auf seine Seinsart hin zu befragen. Das Sein aber war als Gelten, als Sinn bestimmt worden. Daher muß die Philosophie »den logischen Sinn auch seiner ontischen Bedeutung nach zum Problem 233
Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 1916.
234
Vgl. E. Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, 1911, S. 107: »Das Sein des Seienden selbst dagegen gehört schon zum Geltenden, somit zum Nichtseienden . . .« Der so thematisierte Untersdiied von Sein und Seiendem dürfte innerhalb der Süd westdeutschen Schule auf H . Lotze zurückgehen, der in seinen »Grundzügen der Metaphysik« im ersten Hauptteil (der »Ontologie«) in den beiden ersten Kapiteln »Von der Bedeutung des Seins« und »Von dem Inhalt des Seienden« handelte.
194
machen. Dann allererst wird eine befriedigende Antwort möglich sein, wie der ,unwirkliche', ,transzendente' Sinn uns die wahre Wirklichkeit und Gegenständlichkeit verbürgt.« 235 2. Heidegger nimmt also die Kategorienlehre in der Gestalt auf, die sie bei Lask gefunden hat, aber er bleibt dabei nicht stehen, sondern macht gerade die Ontologie zum Problem. Die objektiv-logische Analyse, die vom Urteils- und Subjektsproblem absieht, bleibt immer nur »halbseitig«. Die zweite Aufgabe der Kategorienlehre muß also das Kategorienproblem in das Urteils- und Subjektsproblem hineinstellen238. Sie eröffnet einen Zugang zur Subjektivität, jedoch nicht zum individuellen Subjekt, sondern dem »Subjekt an sich«, der in Aktschichten gegliederten »Sphäre der Akte überhaupt«. Die »fundamentale Problemsphäre der Subjektivität« ist nicht als psychisches Sein Gegenstand der Psychologie, sondern Thema der Bedeutungslehre. Hatten wir es bisher mit dem Problembereich des Kritizismus und seiner »Logik« zu tun, so befinden wir uns nunmehr im Felde der Husserlschen Phänomenologie 237 . Heidegger geht also von dem objektiv Logischen, der Sphäre des »Seins« zurück auf die Akte oder, wie es später heißt, das ontologisdie Seinsverständnis. Denn: »Gegenstand und Gegenständlichkeit haben nur Sinn als solche für ein Subjekt. In diesem baut sich die Objektivität auf durch das Urteil. Will man somit die Kategorie als Gegenstandsbestimmtheit entscheidend begreifen, so muß sie in Wesensbeziehung zu dem die Gegenständlichkeit aufbauenden Gebilde gebracht werden. So ist es auch kein ,Zufall', sondern liegt im innersten Kern des Kategorienproblems begründet, daß es sowohl bei Aristoteles wie bei Kant in irgend welchem Zusammenhang mit der Prädizierung, d. h. mit dem Urteil, auftritt.« 233 3. Aber Heidegger bleibt auch nicht bei dem Schritt von der Ontologie zur Lehre des reinen gegenstandskonstituierenden Bewußtseins stehen, sondern fordert noch eine letzte Konkretisierung durch die Verankerung der Phänomenologie in einer Philosophie des lebendigen Geistes. Kritizismus und Phänomenologie sind für ihn also von Anfang an zwar Voraussetzungen, aber solche, die erst auf ihr Fundament zurückgeführt werden müssen. Der volle Sinn von »Geltung« kann ohne den Rückgang auf das Subjekt nicht geklärt werden. »Ob sie ein eigentüm235
A . a . O . , S. 236. Bereits die Dissertation hatte in ihrem V. Abschnitt, S. 86 ff., ein Interesse an der Seinsart des Logischen, an » D a s e i n und Daseinsweise des statischen Moments im dynamischen Getriebe des U r t e i l s v o r g a n g e s « bekundet und die F r a g e nach dem » S i n n des Sinnes« gestellt.
236
A . a . O . , S. 230; vgl. L a s k , W.W. I I , S. 345 u n d 410.
237
H e i d e g g e r setzt, S. 234 Anmerkung, Rickerts Lehre v o m »urteilenden Bewußtsein ü b e r h a u p t « zu H u s s e r l s »reinem Bewußtsein« (Ideen I, S. 141 ff.) in Beziehung, wobei die Phänomenologie den Reichtum des Bewußtseins entfaltet habe.
238
A . a . O . , S. 232.
13*
195
liches ,Seinc oder ein ,Sollen' oder keines von beiden bedeutet, sondern erst durch tiefer liegende, im Begriff des lebendigen Geistes beschlossene und fraglos mit dem Wertproblem eng verknüpfte Problemgruppen zu begreifen ist, soll hier nicht entschieden werden.« 259 Das Kategorienproblem führt also auf einen translogischen Zusammenhang, die Metaphysik hinaus. »Für die Wahrheitstheorie bedeutet das die Aufgabe einer letzten metaphysisch teleologischen Deutung des Bewußtseins. In diesem lebt ureigentlich schon das Werthafte, insofern es sinnvolle und sinnverwirklichende lebendige Tat ist, die man nicht im entferntesten verstanden hat, wenn sie in den Begriff einer biologischen blinden Tatsächlichkeit neutralisiert wird.« 240 Der lebendige Geist ist für Heidegger wesentlich geschichtlicher Geist. Er ist nur zu begreifen, »wenn die ganze Fülle seiner Leistungen, d. h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird, mit welcher stets wachsenden Fülle in ihrer philosophischen Begriffenheit ein sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes gegeben ist. Die Geschichte und deren kulturphilosophisch-teleologische Deutung muß ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kategorienproblem werden... Das ist neben der Gegenstandsbereichabgrenzung und der Einbeziehung des Urteilsproblems das dritte Grunderfordernis für eine aussichtsreiche Lösung des Kategorienproblems.« 241 Zugleich könnte sich auch erst von hier aus die Möglichkeit erschließen, die verschiedenen Epochen der Geistesgeschichte zu begreifen, die sich aus einer Abwandlung des transzendenten Urverhältnisses der Seele zu Gott kraft der jeweiligen Entfernung oder Annäherung ergeben242. Wenn man in Heideggers Fundamentalontologie eine Konkretisierung der phänomenologischen Problematik durch die Aufnahme des Themas der Geschichtlichkeit des seinsverstehenden Daseins hat sehen wollen, so ist dieser Schritt von Husserl zu Hegel bereits hier programmatisch gefordert. Die Ausbildung der Heideggerschen Phänomenologie 239
A . a . O . , S. 235. — Heidegger kündigt auf S. 237 A n m . eine prinzipielle U n t e r suchung über Sein, Wert und N e g a t i o n an. D . Henrich hat d a r a u f hingewiesen, d a ß H e i d e g g e r , im Unterschied zu H u s s e r l , wieder die Einheit von Sein und Nichts in den Blick gebradit habe (vgl. U b e r die G r u n d l a g e n von Husserls K r i t i k der philosophischen T r a d i t i o n , in: Philosophische Rundschau V I , 1958, S. 22). M a n d a r f a u d i d a r i n einen thematischen Rückgriff H e i d e g g e r s auf sein ursprüngliches kritizistisches E r b e sehen.
240
A . a . O . , S. 235 f. V g l . zu dem gesamten Problemzusammenhang von Erlebnis und G e l t u n g die Arbeit v o n N . v. Bubnoff, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, 1911, S . 49 f., und Heideggers Besprechung in der Literarischen Rundschau, 39. J g . , 1913, S p . 178 f .
241
A . a . O . , S. 238. H e i d e g g e r ist sich der d a m i t gegebenen Beziehung zur Philosophie H e g e l s bewußt und f o r d e r t im Schlußsatz seiner Arbeit eine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesem » a n Fülle und T i e f e , Erlebnisreichtum und B e g r i f f s b i l d u n g gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung« (S. 241).
242
A . a . O . , S . 238 f.
196
steht von vornherein im Zeichen einer Analytik des geschichtlichen Lebens. Auch daß für Heideggers Phänomenologie des Daseins in seiner geschichtlichen Faktizität in der Folgezeit das religiöse Verhalten des Menschen die primäre Orientierungsbasis abgegeben hat, ergibt sich bereits daraus, daß der lebendige Geist letztlich durch die Spannung von Seele und Gott, Diesseits und Jenseits, bestimmt ist243. Für unsere Untersuchung ist nicht allein die Zurückführung der Seinsproblematik auf die Theorie des lebendigen geschichtlichen Geistes entscheidend, sondern die Tatsache, daß Heidegger auf diesem Wege auch die Erkenntnisproblematik glaubt lösen zu können, und zwar soll sich erst auf diese Weise das Problem der immanenten oder transzendenten Geltung der Kategorien zureichend stellen lassen. Erst die Analyse des Seins des Subjekts kann einen Aufschluß hierüber geben; denn »Immanenz und Transzendenz sind Relationsbegriffe, die erst ihre sichere Bedeutung durch die Festsetzung dessen gewinnen, dem etwas immanent, bzw. transzendent gedacht werden muß«244. Die Frage nach der Möglichkeit der »Anwendung« der Kategorien verliert ihren Sinn, wenn mutig mit dem Satz der Immanenz Ernst gemacht wird, wobei er jedoch nicht individualistisch gedeutet werden darf, sondern in dem Begriff des lebendigen Geistes fundiert werden muß245. Heidegger sieht die Lösung des Erkenntnisproblems, wie es im kritischen Realismus gestellt wird, in der von der scholastischen Transzendentalphilosophie gedachten ursprünglichen Bezogenheit von ens und verum, Gegenstand der Erkenntnis und Erkenntnis des Gegenstandes, immerhin vorbereitet. Damit haben wir die entscheidenden Momente der Heideggerschen Philosophie beisammen: den Ausgang vom Problem der Ontologie, den Rückgang auf das Sein des seinsverstehenden Subjekts in seiner geschichtlichen Konkretheit und die Uberwindung der traditionellen Auffassung des Erkenntnisproblems durch eine Revision des dieser Problemstellung 243
H e i d e g g e r hat um 1920 die P h ä n o m e n o l o g i e der Religion an H a n d einer Auslegung der Paulinischen B r i e f e und des X . Buches der Confessiones v o n Augustin dargelegt. Vgl. audi Ο. Pöggeler, Sein als Ereignis, i n : Zeitschrift f ü r philosophische Forschung, B d . 13, 1959, S. 604 f. — D i e religiösen Bezüge der Analysen der Alltäglichkeit, des Verhältnisses v o n Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit u.s.f. in »Sein und Z e i t « sind nicht zu übersehen. A u d i die kritisierte »einseitige« A u s w a h l der » n e g a t i v e n « Lebensphänomene in diesem Werk d ü r f t e hierin motiviert sein; denn seit jeher, v o r allem in der paulinisdi-lutherisdien Tradition, sind Angst, Schuld und T o d die Phänomene, an denen das menschliche Leben in der Weltlichkeit zerbricht und der Mensch in die religiöse Entscheidung gestellt wird.
244
A . a . O . , S. 234, H e i d e g g e r setzt sich hier v o r allem mit d e m kritischen R e a l i s m u s O . K ü l p e s auseinander, dem er bereits eine frühe A b h a n d l u n g gewidmet hatte. Vgl. D a s R e a l i t ä t s p r o b l e m in der modernen Philosophie, in: Philosophisches J a h r b u c h , 25. J g . , 1912.
245
Vgl. a.a.O., S. 237.
197
zugrunde liegenden Subjektsbegriffs 246 . Wir wenden uns nunmehr der entfaltenen Philosophie Heideggers zu, indem wir fragen, in welcher Weise in ihr die Erkenntnis thematisiert wird. Eine Analyse der Heideggerschen Idee der Erkenntnisbegründung hat der Schwierigkeit zu begegnen, daß Heidegger selbst keine Erkenntnistheorie geschrieben und darüberhinaus die gesamte Problematik der Erkenntnistheorie verworfen hat. Jedenfalls lehnt er es ab, sein Denken als ein erkenntnistheoretisches begreifen und beurteilen zu lassen. Wenn wir dennoch seine Philosophie der Reihe der erkenntnistheoretischen Versuche unseres Jahrhunderts einordnen, so bleibt dabei eine Entscheidung über die beanspruchte Uberwindung der Erkenntnistheorie noch offen. Selbstverständlich aber hat audi eine Uberwindung der Erkenntnistheorie erkenntnistheoretische Valenz, so gewiß sie eine theoretische Stellungnahme zur Erkenntnis einschließt.
1.
Die Seinsfrage und die
Erkenntnis
Ähnlich wie bei Hartmann, wenngleich in einem wesentlich anderen Sinne, verliert auch bei Heidegger die Erkenntnistheorie ihren Primat und wird in einen weiteren und zugleich fundierenden Problemzusammenhang eingeordnet. Die zentrale Frage ist nicht mehr die nach der Möglichkeit der Erkenntnis, sondern die nach dem Sinn von Sein. Audi bei Heidegger erfolgt die Uberwindung des Primats der Erkenntnistheorie dadurch, daß das Erkennen als Verhalten eines Subjekts begriffen wird, das seiner Seinsverfassung nach nicht darin aufgeht, Subjekt der Erkenntnis zu sein, sondern immer schon in mannigfachen atheoretischen Bezügen zur Welt lebt. Die Aufzählung solcher Ubereinstimmungen könnte noch eine Weile fortgesetzt werden. Sie ergäbe nur, daß Heidegger und Hartmann zu einem Teil dieselbe Sprache, nämlich die der neuen Ontologie, sprechen. So wenig diese Zeitgenossenschaft gleichgültig für beide, und vor allem für Heidegger ist, so wenig bedeutet sie jedoch schon eine sachliche Gemeinsamkeit. Der Abstand von der Philosophie der Jahrhundertwende, der in der Sprache der Ontologie zutage tritt, verdeckt zugleich die fundamentale Unterschiedenheit der beiden Ontologie-Konzeptionen. Diese Unterschiedenheit geht so weit, daß eine Verständigung zwischen ihnen zu Lebzeiten der beiden Denker unmöglich war. Sie sprachen partial dieselbe Sprache und sprachen sie dodi 246
Nadi einer mündlichen Äußerung O. Beckers taucht das Problem des Seins in Heideggers Vorlesungen erst von etwa 1922 an, und zwar im Zusammenhang mit Interpretationen zu Aristoteles, auf. Wir haben jedoch gesehen, daß es sich dabei nur um die Wiederaufnahme eines anfänglichen Themas handelt. Audi bei Lask ist der Einfluß des Aristotelismus nicht zu verkennen. Jedenfalls aber dürfte es ungenau sein, wenn Heideggers Ontologie-Problematik nur auf einen Einfluß F. Brentanos zurückgeführt wird.
198
wiederum nicht, weil Heidegger die Ausdrücke der Realontologie ins Transzendental-Ontologische übersetzte, während Hartmann die Termini der Transzendentalontologie ins Real-Ontologische zurückübertrug, wenn er sie zu verstehen und zu kritisieren suchte. Wir werden auf dieses Verhältnis noch einzugehen haben und dabei auch die sachliche Unterschiedenheit der Ontologie der realen Welt und der Ontologie des In-derWelt-Seins erörtern müssen. Hier sollte uns der Ausgang vom Verhältnis der ontologischen Erkenntnisbegründung bei Hartmann und Heidegger nur auf die von uns geforderte radikale Einstellungsänderung vorbereiten. Denn solange wir die Blickrichtung der Ontologie Hartmanns beibehalten, wird es uns unmöglich sein, den Zugang zur Ontologie Heideggers zu finden. Wir haben bereits vordeutend Heideggers Ontologie eine »transzendentale« Ontologie genannt. Das weckt zunächst die Erinnerung an die transzendentale Logik der Kritizisten und die transzendentale Phänomenologie Husserls. Außerdem hat Heidegger nach seiner sog. »Kehre« die Transzendentalphilosophie überhaupt verworfen und den Ausdruck als unangemessen zur Kennzeichnung des eigenen Denkens abgelehnt. Dennoch bleibt auch das Denken des späten Heidegger »transzendental«, sofern wir damit nur zweierlei meinen: erstens die radikale Unterschiedenheit dieses Denkens von allem natürlichen, vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkennen und zweitens dies, daß der Gegenstand dieses Denkens den Grund (die Bedingung der Möglichkeit) für alles natürliche, vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkennen darstellt. Wenn wir ein solches Denken, das nach den Bedingungen der Möglichkeit eines anderen, gegenständlichen Denkens fragt, Reflexion zu nennen gewöhnt sind, so ist audi das ontologische Denken Heideggers eine spezifische Art der Reflexion. Ein Novum gegenüber den bisherigen Formen der transzendentalen Reflexion stellt Heideggers Ontologie jedoch insofern dar, als sie weder auf ein reines Denken noch auf ein reines Bewußtsein, sondern auf das »Sein« oder die »Welt« stößt. Weil der Gegenstand dieser Reflexion das »Sein« ist, heißt sie Ontologie. Heidegger hat aus einem spezifischen, eingeschränkten Begriff von Reflexion und Transzendentalphilosophie, die beide für die Philosophie der Subjektivität charakteristisch sein sollen, die Bezeichnung der transzendentalen Reflexion für sein Seinsdenken abgelehnt. Die Problematik der Subjektivität kann hier noch aus dem Spiele bleiben; der sachlichen Bestimmtheit nach aber ist seine Ontologie eine Form der Transzendentalphilosophie. Nur so ist es auch zu begreifen, daß sie als Konkurrentin der transzendentalen Logik und der transzendentalen Phänomenologie aufgetreten ist. Der transzendentale Sinn, den die Frage nach dem Sein bei Heidegger erhält, bedingt audi ein anderes Verhältnis zur Erkenntnis, als es im Falle der Hartmannsdien Ontologie vorliegt. Heideggers Ontologie 199
ist zwar nicht »Erkenntnistheorie«, aber sie will doch auch vermittelter Weise eine Grundlegung der Erkenntnis leisten. Das wird daran deutlich, daß Heidegger in seinem Kant-Buch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zum Ausgangspunkt nehmen konnte247. Dieses Werk eignet sich darum besonders für eine Analyse der Art und Weise, in der Heidegger die Erkenntnis transzendental-ontologisch zu begründen versucht. Die Aufgabe der Philosophie geht zwar nach Heidegger nicht in der einer Grundlegung der Erkenntnis oder gar der Wissenschaften auf, sondern hat sowohl weitere als auch fundamentalere Aufgaben zu erfüllen; das schließt jedoch nicht aus, daß sie auch die Erkenntnisbegründung mitzuleisten beansprucht. Dieser Anspruch richtet sich nicht nur auf das vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkennen, sondern auch auf die Philosophie selbst. Diese weiß sich von allem übrigen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Verhalten dadurch radikal unterschieden, daß sie allein die Bedingungen der Möglichkeit alles menschlichen Verhaltens bedenkt; sie weiß sich zugleich in ihrer Geltung von allem vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkennen unabhängig, d. h. sie nimmt den Charakter letztbegründender und letztbegründeter Erkenntnis für sich in Anspruch248. Heideggers Philosophie geht zwar nicht in Erkenntnistheorie auf, dennoch führt einer der Zugänge zu ihr über die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis249. 247
Kant und das Problem der Metaphysik, 1929 ; 2. Aufl. 1951.
248
Man könnte einwenden, daß diese Vorüberlegungen den Sinn der Heideggerschen Philosophie gründlich verfehlen; denn diese habe, vor allem in ihrer letzten Gestalt, den Anspruch auf Letztbegründung und Selbstrechtfertigung fallengelassen, da er nur für die Philosophie der Subjektivität maßgebend sei. (Vgl. etwa W. Schulz, Ober den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: Philos. Rundschau 1, 1953/54, S. 224 ff.) Die Forderung der Letztbegründung und Selbstbegründung der Philosophie sei noch am Ideal absoluter Gewißheit orientiert und daher einem Denken unangemessen, das sich selbst als endliches und geschichtliches begriffen habe. — Unsere Überlegungen sprechen jedoch noch in einem gänzlich formalen Sinne von der philosophischen Aufgabe der Letzt- und Selbstbegründung. Der Gedanke der Letztbegründung schließt noch nicht ein, daß sich das Denken selbst oder die Subjektivität als letzten Grund setzen müsse. Letztbegründung liegt audi dort vor, wo sich, das philosophische Denken gegenüber einem Letzten seiner Verfügung entzogenen Grund als endlich begreift: Letztbegründung bedeutet formal nur, daß das philosophische Denken in seinen letzten Grund zurückfragt, Selbstbegründung, daß dieses von ihm selbst und nur von ihm selbst geleistet werden kann und muß.
249
Vgl. zum Folgenden vor allem »Kant und das Problem der Metaphysik«, S. 20 ff. Dieses Werk ist zwar kein reiner Ausdruck der Heideggerschen Philosophie, insofern es sich die Gliederung und ζ. T. auch die Sprache von Kant vorgeben läßt. Es hat aber für uns den Vorteil, daß in ihm die verschiedenen Schritte des Begründungsrückganges deutlicher hervortreten. Es ist daher bedauerlich, daß in der bisherigen Auseinandersetzung mit Heidegger das Kant-Buch eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt hat. Eine stärkere Berücksichtigung der systematischen Intentionen dieser Kant-Interpretation hätte durchaus verhindern können, daß das In-
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Zunächst ist festzuhalten, daß Heidegger von einem spezifisch phänomenologischen Begriff der Erkenntnis ausgeht. Er charakterisiert die Erkenntnis nicht von ihrem Ergebnis her als gültiges Urteil über einen Gegenstand, sondern als eine spezifische Art von Akten. Erkennen ist ein »Offenbarmachen von Seiendem«, ein Verhalten zu Seiendem, darin dieses sich an ihm selbst zeigt. Erkennen ist als Akt ein Seiendes, das auf Seiendes in der Weise bezogen ist, daß dieses in ihm intendiert ist. Heidegger nimmt damit den Brentano-Husserlschen Begriff der Intentionalität auf. Dieser selbstverständliche Ansatz ist so harmlos nicht; denn er bildet überhaupt die Bedingung der Möglichkeit für den transzendentalontologischen Erkenntnisrückgang und für die Frage nach der Seinsverfassung des Subjekts der Erkenntnis. Weil die Erkenntnis nicht als Urteil oder Sinn, sondern als ein seiendes Verhalten angesetzt ist, führt audi die Erkenntnisbegründung wie selbstverständlich nicht auf eine Sphäre reiner Begriffe oder transzendentaler Geltungsprinzipien, sondern auf eine seiende Subjektivität zurück. Insofern haben wir es bei Heidegger mit einer Theorie zu tun, die sich im Ansatz noch nicht von den übrigen Weisen phänomenologischer Erkenntnistheorie unterscheidet. Ob das Subjekt der Erkenntnis in phänomenologisch reduzierter Weise als »reines Bewußtsein« (Husserl) oder in real-ontologischer Weise als realer Geist (Hartmann) oder aber in transzendental-ontologischer Weise als »Dasein« (Heidegger) bestimmt wird, macht zwar fundamentale Unterschiede im Ergebnis der Philosophie aus, hebt aber nicht die Gemeinsamkeit der Ausgangsposition auf. Wir werden den eigentümlichen Subjektsbegriff Heideggers erst im folgenden Abschnitt erörtern250. Wenn Erkennen Offenbarmachen von teresse an H e i d e g g e r in den allzu aktuellen Bezügen, die durch die Terminologie von »Sein und Z e i t « nahegelegt waren, steckenblieb. Sie hätte ζ. B. das Mißverständnis abwehren können, daß es in » S e i n und Zeit« um die Propagierung eines konkreten Existenzideals geht. D i e Entwicklung, die das D e n k e n Heideggers in den letzten J a h r z e h n t e n genommen hat, hat v o n selbst zu einer Krisis der v o r d e r gründigen und der fortwirkenden G e d a n k e n von »Sein und Zeit« geführt. N i c h t die Analysen von Angst, Sorge, T o d , S d i u l d und Geworfenheit, von denen sich die Existenzangst der v o n der Weltwirtschaftskrise betroffenen Menschheit unmittelbar angesprochen fühlte, u n d die daher auch in der Heidegger-Literatur der ersten J a h r e die größte R o l l e spielen, sondern die unaufdringlichen Gedanken über d a s Verhältnis von Sein und Seinsverständnis haben sich als d a s eigentliche Zentrum des Heideggerschen Denkens erwiesen. V o n hier a u s betrachtet d ü r f t e sich die » S a c h lichkeit« des Kant-Buches auch als eine größere N ä h e zu diesem Zentrum deuten lassen. i50
D i e R e d e von Subjektivität ist auch hier zunächst nur in einem formal anzeigenden Sinne gemeint. D a ß H e i d e g g e r in seiner Philosophie den A u s g a n g von der Subjektiv i t ä t überwunden habe, steht auf einem anderen Blatt. Wenn er die Subjektivität, auf die er zurückgeht, aus bestimmten G r ü n d e n nicht mehr Subjekt nennt, und wenn er andererseits dem Subjekt, von d e m er spricht, die w a h r e Subjektivität glaubt absprechen zu müssen, so bildet audi die damit gedachte Differenz eine A n t w o r t auf die f o r m a l verstandene F r a g e nach dem Subjekt der Erkenntnis.
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Seiendem ist, so lautet die erste Frage, was ein solches Verhalten zu Seiendem möglich macht. Heidegger nennt das Erkennen von Seiendem ontisches Erkennen, und das, wodurch es ermöglicht wird, ontologisches Erkennen. Beide Arten oder Stufen des Erkennens sind inhaltlich voneinander unterschieden. Was die ontische Erkenntnis erfaßt, ist Seiendes, während sich der ontologischen Erkenntnis das Sein von Seiendem, seine Seinsverfassung, enthüllt. Ontische und ontologische Erkenntnis sind also, anders als bei Kant, auch materialiter voneinander unterschieden. Auch die ontologische Erkenntnis ist selbst eine Art von gegenständlicher Erkenntnis, ist apriorische Erfahrung, d. h. Erfahrung des Apriori, des Seins. Daher verhalten sich auch ontische und ontologische Erkenntnis nicht so wie bei Kant die empirische Erkenntnis und die ihr zugrunde liegenden apriorischen Begriffe und Urteile. Der Unterschied der Kantischen und der Heideggerschen Aprioritätenlehre wird dadurch verdeckt, daß auch zwischen on tischer und ontologischer Erkenntnis ein transzendentaler Bedingungszusammenhang besteht. Ontologische Erkenntnis bildet den Grund dafür, daß Seiendes als ein solches sich zeigen kann. Erkennen kann sich nur dann nach Seiendem richten, wenn es schon weiß, was ein Seiendes als solches ist. Erkennen setzt also ein Wissen um die Seinsverfassung des Seienden voraus. Heidegger kann sich hier unmittelbar auf Thomas von Aquin beziehen: »Ein Verständnis des Seins ist je schon mit Inbegriffen in allem, was einer am Seienden erfaßt.« (Illud quod primo cadit sub apprehensione est ens, cuius intellectus includitur in Omnibus, quaecumque quis apprehendit251.) Insofern das Sein die Bedingung der Möglichkeit ontischer Erkenntnis darstellt, ist die Ontologie in einem Sinne, der zugleich Kant und die Scholastik miteinander verbindet, Transzendentalphilosophie. Ontologie als Lehre von der Wahrheit des Seins252 ist nicht naive gegenständliche Ontologie, die den letzten Seinsgrund alles Seienden oder die Prinzipien, die die Seiendheit des Seienden aufbauen, zum Thema hat, sondern Erkenntnis der Veritas transcendentalis, nach der sich alle ontische Erkenntnis von Seiendem richten muß. Das Sein als das »transcendens schlechthin« ist kein transzendentes Seiendes, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Offenbarseins von Seiendem253. Heidegger bleibt jedoch nicht bei dem Rückgang von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis stehen; er fragt weiter nach der Möglichkeit des in aller Erkenntnis von Seiendem vorausgesetzten, vorgängigen Seinsverständnisses. Erst damit ist die eigentliche Dimension der transzendentalen Frage erstiegen. Nicht die Möglichkeit ontischer Erkenntnis 251
Sein und Zeit, S. 3 (Thomas ν. Α., S. th. II 1 qu. 94 a 2).
252
Vgl. Sein und Zeit, S. 38.
253
V g L
a a
o.,
S. 6: Sein ist »das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert
werden, je schon verstanden ist«.
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oder Erfahrung, sondern die Möglichkeit ontologischer Erkenntnis ist ihr primäres Thema. Deshalb ist sie auch nicht Erkenntnistheorie oder Theorie der Erfahrung, sondern Grundlegung der Ontologie oder Fundamentalontologie. Die Frage nach der Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis muß aber in ihrer ganzen Schwere begriffen werden. Die Möglichkeit des vorgängigen Seinsverständnisses kann nicht durch die Berufung auf ontische Erkenntnis aufgeklärt werden. Ontologische Erkenntnis kann sich nicht nach Gegenständen richten, weil es nur durch sie Gegenstände für die ontische Erkenntnis geben kann. Sie muß sich daher nach erfahrungsmäßig nicht beizubringenden Gründen oder Prinzipien richten. Damit ist bereits gesagt, daß die gesamte Ontologie Heideggers eine von der Erfahrungserkenntnis unterschiedene und unabhängige Struktur aufweisen muß. Ihre Methode kann nur die eines apriorischen Entwurfs oder der Konstruktion sein. Bis hierher läßt sich das Verfahren Heideggers noch formal dem Vorgehen Kants und der traditionellen transzendentalphilosophischen Erkenntnisbegründung zuordnen. Erst die Art und Weise, in der er die apriorische Erkenntnis zu begründen sucht, stellt ein Novum dar. Heidegger wählt nämlich weder eine Methode, die die erfahrungsvorgängige Erkenntnis aus den Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewußtseins zu begründen sucht, noch eine dialektische Entfaltung der reinen Begriffe aus einander, noch audi ein regressives Verfahren ihrer Begründung aus der Möglichkeit der Erfahrung. Um die eigenartige neue Dimension der Heideggerschen Aprioritätenlehre zu erfassen, müssen wir weitere Momente berücksichtigen. Der Rückgang auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis führt nicht nur von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis, sondern auch jeweils von ihrer prädikativen zu einer vorprädikativen Form 254 , Heidegger übernimmt dieses Moment aus der Phänomenologie. Daß alles urteilende Erkennen eine vorprädikative Erkenntnis voraussetzt, gilt aber nicht nur für die ontische, sondern auch für die ontologische Erkenntnis. Daher muß die begriffliche Ontologie zurückgeführt werden auf die Erfahrung des Seins. Diese Erfahrung ist vorbegriffliches Seinsverständnis. Sie ist aber nicht nur vorprädikativ, sondern darüberhinaus auch präcognitiv. Damit geht Heidegger audi über Husserl hinaus und nimmt in seine Lehre Motive auf, die innerhalb der Phänomenologie zum erstenmal von Scheler entwickelt worden waren. Husserl kennt zwar auch den Rückgang von der prädikativen Erfahrung zur vorprädikativen und hat in seinem Werk »Erfahrung und Urteil« die Genealogie des Logischen aus dem Vorprädikativen erforscht. Aber für ihn ist — bis auf wenige Andeutungen im Spätwerk, die bereits auf einen Einfluß Heideggers zurückgehen, — das ursprüngliche Weltverhalten, in dem 254
Vgl. Sein und Zeit, §§ 7 B, 33, 44a, b; Vom Wesen der Wahrheit, 2. Aufl. 1949, S. 6 f.; Einführung in die Metaphysik, 1953, S. 141 ff.
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sich der Horizont der Welt für das Bewußtsein konstituiert, ein doxischtheoretisches. Heidegger hingegen erkennt, daß alles theoretische, prädikative und vorprädikative Verhalten fundiert ist in ursprünglicheren Weisen des besorgenden Umgangs mit Seiendem und daß es erst einer besonderen Umstellung bedarf, wenn es zum bloßen Betrachten des Seienden kommen soll 255 . Ursprünglicher erschließend als alle Theorie ist aber nicht nur der besorgende Umgang, sondern letzten Endes die Stimmung oder Befindlichkeit. Diese Fundierung aller erkennenden Akte in präcognitivem Verhalten gilt aber wiederum nicht nur von der ontischen Erkenntnis, sondern ebenso von der ontologischen. Auch die ursprüngliche Erfahrung des Seins, auf der alles Seinsverständnis beruht, ist eine Weise der Befindlichkeit. Die Veritas transcendentalis ist keine ursprüngliche Leistung eines reinen Denkens. Sein oder Welt ist schon vor aller Erkenntnis voraus und als ihre Bedingung der Möglichkeit erschlossen. Damit erhalten bestimmte präcognitive Akte ontologischen und transzendentalen Rang; sie werden zu Bedingungen der Möglichkeit alles intentionalen Verhaltens zu Seiendem. — Die ontologische Erfahrung, die aller ontischen vorausgeht, ist jedoch zugleich in dieser ontischen Erfahrung verhüllt. Die Erfahrung des Seins liegt zwar aller vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde, aber sie ist der K o m petenz dieser Erkenntnis entzogen. Daher bedarf es einer radikalen Einstellungsänderung, wenn nicht nur Seiendes als solches bedacht werden soll, sondern das Sein selbst. D a der Sinn von Sein in aller Erkenntnis von Seiendem immer schon unthematisch mitgedacht ist, ohne doch ausdrücklich bedacht zu werden, ist die Ontologie, die das unthematische Seinsverständnis seiner Verdecktheit entreißt, Hermeneutik. Heidegger übernimmt die Idee der Hermeneutik von Dilthey, bildet sie aber im Sinne seiner Ontologie um; denn ihr Gegenstand ist nichts anderes als das in aller Offenbarkeit von Seiendem als Grund dieser Offenbarkeit mitgedachte Seinsverständnis. So gewiß man die vier verschiedenen Schritte: von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis, von der prädikativen zur vorprädikativen Erkenntnis, von der cognitiven zur präcognitiven Erschlossenheit von Seiendem und Sein und von dem zumeist und zunächst Verstandenen zum unthematischen Sinneshorizont dieses Verstehens unterscheiden kann (und in ihrer Unterschiedenheit auch auf von Heidegger vorgefundene philosophische Lehrstücke beziehen kann), so gewiß gehören sie bei ihm unlösbar zusammen. Entscheidend sind dabei die beiden Schritte von der ontischen zur ontologischen Erkenntnis und von der cognitiven zur präcognitiven Erfahrung. Der erste Schritt besagt, daß in 255
Vgl. Sein und Zeit, §§ 13, 43a, u. ö.
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allem Verhalten zu Seiendem als solchem immer schon ein Verständnis des Seins vorausgesetzt ist. Das ist ein Begründungsverhältnis, das grundsätzlich auch in allem Idealismus gedacht ist. Wo immer wir denken, daß etwas ist, dort haben wir schon reine Seinsbegriffe ins Spiel gebracht, die ihrerseits nicht aus dem Bedenken des Seienden stammen können, weil sie dieses Bedenken des Seienden erst ermöglichen. Charakteristisch aber für die Abweichung Heideggers von allem Idealismus ist die Tatsache, daß er das reine Seinsverständnis nicht nur als ein vorbegriffliches versteht, sondern als eine Leistung präcognitiver Akte. Letzter Grund für alles intentionale Verhalten zu Seiendem ist daher nicht die ontologische Erkenntnis des Seins, sondern ein vorontologisches und präcognitives Seinsverständnis. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit ontisdxer Erkenntnis und ontologischen oder vorontologischen Seinsverständnisses kann aber nach Heidegger nicht geklärt werden, ohne daß die Frage nach dem Sein des Subjekts gestellt wird, welches seinsverstehend sich zu Seiendem verhält. Die Frage nach dem Sinn von Sein, das in allem Verhalten zu Seiendem vorausgesetzt ist, führt zurück auf das Sein desjenigen Seienden, das immer schon Sein verstanden hat. Der Zusammenhang, der damit zwischen der allgemeinen Ontologie und der Ontologie des seinsverstehenden Seienden gestiftet ist, kommt bei Heidegger dadurch zum Ausdruck, daß er diese Ontologie »Fundamentalontologie« nennt256. Man kann diesen Zusammenhang nicht eng genug denken, denn an ihm hängt nicht weniger als das Verständnis der gesamten Heideggerschen Philosophie, und zwar auch der des späten Heidegger. Weder die Frage nach dem Sein, noch die Frage nach der Seinsverfassung des Menschen, sondern die Einsicht in die notwendige Wechselbezüglichkeit beider bildet die Mitte der Heideggerschen Philosophie. Isoliert man eine der beiden Fragen, so macht man Heidegger entweder zum Ontologen oder zum Anthropologen oder zu beiden zugleich257. Die Zusammengehörigkeit von Ontologie und Fundamentalontologie oder von Sein und Seinsverfassung des Menschen ist nur dann einsichtig, wenn man streng daran festhält, daß das Sein von Heidegger stets »transzendental« als Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit von Seiendem verstanden wird und daß die Seinsverfassung des Menschen ihn ebenfalls nur in seiner »Transzendentalität«, als seienden Grund dafür, daß Seiendes als solches offenbar werden kann, begreift. Die Seinsverfassung des Menschen, die Vgl. Sein und Zeit, §§ 4 ff. K a n t und das Problem der Metaphysik, S. 208 ff. 257 Ygj d a z u etwa folgende Stellen: »Allerdings nur solange Dasein i s t , d. h. die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ,gibt es' Sein.« (Sein und Zeit, S. 212). » N u r solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen.« (Über den Humanismus, 2. Aufl., S. 24); ferner: Was ist Metaphysik? 6. Aufl. 1951, S. 13; Einführung in die Metaphysik, S. 106; Holzwege, S. 343 u. ö. Vgl. ferner: M. Landmann, Philosophische Anthropologie, S. 62. 256
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das Thema der Fundamentalontologie bildet, macht den Menschen in seiner Subjektivität erst möglich; sie ermöglicht, daß er sich als Subjekt intentionaler Akte auf Seiendes richten kann. Daß Heidegger gerade die Subjektivität des Subjekts thematisiert habe, sdieint der vielberufenen Uberwindung der Philosophie der Subjektivität durch ihn zu widersprechen. In Wahrheit aber bedeutet es ein und dasselbe, die Subjektivität des Subjekts zu thematisieren und die Philosophie der Subjektivität zu überwinden; denn das ist nach Heidegger das entscheidende Versäumnis der traditionellen Philosophie, daß sie nach dem Sein des Subjekts nicht gefragt hat. Man kann diese seither oft wiederholte Feststellung nicht gründlicher mißverstehen, als wenn man sie von der transzendentalen Problematik loslöst und meint, in ihr solle das Subjekt als ein in der Welt vorhandenes begriffen werden. Das Sein des Subjekts geht nicht darin auf, daß es es gibt, so gewiß es dasjenige ist, durch das alles »es gibt« seinen Sinn erhält. Die Seinsverfassung des Subjekts ist gerade sein Ontologisch-Sein. Daß es ontologisch ist, unterscheidet dieses Seiende ontisch radikal von allem übrigen, denn es bildet den Grund dafür, daß es Subjekt sein kann. Wenn wir die Subjektivität des Subjekts den Grund dafür nennen, daß das Subjekt überhaupt erst Subjekt zu sein vermag, so liegt das Versäumnis der bisherigen Philosophie darin, ein Subjekt in Ansatz gebracht zu haben, ohne den Grund mitzudenken, der es in seinem Subjekt-Sein ermöglicht. Ob das, was diesen Grund ausmacht, als die Transzendenz des Daseins oder als die Ciszendenz des Seins gedacht wird, macht demgegenüber nur einen Unterschied innerhalb derselben Fragestellung aus.
2. Die Transzendenz des Daseins und die Ciszendenz des Seins Wir haben gesehen, wie alle Erkenntnisbegründung bei Heidegger zurückführt auf das vor-ontologische, d. h. vorbegriffliche Seinsverständnis. Wenn das Wesen des Bewußtseins seine Intentionalität ist, so kann das, was Intentionalität möglich macht, nicht selbst die Struktur der Intentionalität tragen. Daher ist es ausgeschlossen, die Möglichkeit des Seinsverständnisses wiederum auf eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gründen zu wollen. Indem Heidegger danach fragt, was Intentionalität als Bewußtsein von Gegenständen möglich macht, fragt er in der Tat radikaler als Husserl und über diesen hinaus. Die Frage nach der Möglichkeit der Intentionalität fordert eine Analyse des Seins des Seienden, das durch vorontologisches Seinsverständnis ausgezeichnet ist. Heidegger nennt dieses Seiende »Dasein«. Analytik des Daseins ist daher die Ontologie des Seins dieses Seienden, als welches es als Seinsverständnis ist. Alle Analysen der Seinsverfassung des Daseins sind daher nur Explikationen des ursprünglichen Seinsverständnisses. Weil das Ontologisch206
Sein das Seiende von der Seinsart des Daseins fundamental von allem nicht daseinsmäßigen Seienden unterscheidet, nennt Heidegger die Begriffe, in denen die Seinsverfassung des Daseins expliziert wird, nicht »Kategorien«, sondern »Existenzialien« 258 . Die Existenzialität, die das Dasein als Seiendes gegenüber allem anderen Seienden auszeichnet, ist also zu verstehen als die Bedingung der Möglichkeit der Intentionalität des Bewußtseins. — Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, den konkreten Analysen Heideggers zu folgen, da es uns nur auf eine Charakteristik der spezifischen Dimension ankommt, in die seine Philosophie zurückfragt. Es liegt an der eigentümlichen Methode Heideggers, daß ihre Ergebnisse immer wieder zwei MißVerständnissen begegnen. Einmal sind alle Ausdrücke, die er für die Existenzialität des Daseins verwendet, von Hause aus bereits mit einem »ontisdien« oder — wie er später sagt — »metaphysischen« Sinn behaftet, so daß er ihnen ihre ontologische Bedeutung immer erst im Gegenzug gegen die natürliche oder traditionelle Denkweise abringen kann. »In-der-Welt-sein«, »Transzendenz«, »Befindlichkeit« u.s.f. bedeuten im alltäglichen und traditionellen Verständnis gerade das Gegenteil von dem, was sie ontologisch aussagen sollen. Das liegt jedoch nicht etwa an der Unzulänglichkeit der Sprache, sondern an der Methode des ontologisdien Denkens, das die Seinsverfassung des Daseins immer erst der Verdecktheit entreißen muß, in der sie sich zunächst und zumeist befindet. Die »Gewalt«, die Heidegger der natürlichen Sprache und der Sprache der philosophischen Tradition antut, ist also nur Ausdruck der spezifischen Methode der apriorischen Konstruktion, durch die allein die Existentialität des Daseins gedacht werden kann. Das zweite Miß Verständnis folgt daraus, daß die konkreten Analysen des Daseins nicht immer ihre Funktion im ganzen der leitenden Aufgabe, die Möglichkeit der Offenbarkeit von Seiendem aufzuklären, erkennen lassen und alsdann als anthropologische Wesensbeschreibungen aufgefaßt werden können. In diesem Punkte zeichnen sich die späteren Schriften Heideggers gegenüber den im Umkreis von »Sein und Zeit« entstandenen durch eine stärkere Reduktion auf den ontologischen Kerngehalt aus. Unter den verschiedenen möglichen Ansätzen zur Bestimmung der Seinsart des Daseins führt einer über das Problem der Transzendenz. Er 258
Vgl. Sein und Zeit, S. 44 f. — Dies Lehrstück deckt sich, isoliert betrachtet, mit H ö n i g s w a l d s Einsicht in die Nichtkategorialität alles Monadischen, wie man audi d e n G e d a n k e n , d a ß d a s Dasein als ontisches zugleich ontologisch sei, m i t dem » Z u sammenfall v o n Prinzip und Tatsache« in Verbindung bringen könnte. Bei aller N ä h e v o n H ö n i g s w a l d und H e i d e g g e r gegenüber extrem naturalistischen oder idealistischen Positionen wird m a n doch v o n vornherein beachten müssen, d a ß die » F a k t i z i t ä t « des Daseins und die »Tatsächlichkeit« der M o n a d e wesentlich anderes aussagen. E s geht nicht an, H ö n i g s w a l d in einen V o r l ä u f e r Heideggers umfälschen z u wollen, u m seine A k t u a l i t ä t z u erhöhen, da diese sich gerade aus ihrem A b s t a n d ergibt. Wir werden darauf noch im Schlußabschnitt eingehen.
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muß für uns deshalb besonders bedeutsam sein, weil er den Abstand der Heideggerschen Ontologie von der alten Ontologie, aber auch von der zeitgenössischen Erkenntnistheorie deutlich hervortreten läßt. Für die alte Ontologie war die Transzendenz des Seins die Transzendenz eines höchsten Seienden. Die moderne Erkenntnistheorie hingegen, und Heidegger denkt dabei wohl vor allem an N . Hartmanns »Gnoseologie« und an den kritischen Realismus, versteht die Transzendenz als Transzendenz des Bewußtseins oder Subjekts über seine Sphäre, durch die es sich zu transzendenten Gegenständen in Beziehung zu setzen sucht. Daher gibt es in dieser Erkenntnistheorie das »Problem der Transzendenz«, d. h. die Frage, ob und wie das Subjekt sich zu transzendenten Gegenständen in Beziehung setzen kann. Heidegger hingegen denkt die Transzendenz als Wesen des Subjekts, als die Grundstruktur der Subjektivität. Daß die Transzendenz als Grund der Subjektivität des Subjekts gedacht werden muß, verwehrt es, das Subjekt zunächst losgelöst von dieser seiner Bedingung der Möglichkeit in Ansatz zu bringen und dann von ihm aus das Problem der Transzendenz zu stellen. »Das Subjekt existiert nie zuvor als ,Subjekt', um dann, falls gar Objekte vorhanden sind, auch zu transzendieren, sondern Subjektsez« heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein. Das Transzendenzproblem läßt sich nie so erörtern, daß eine Entscheidung gesucht wird, ob die Transzendenz dem Subjekt zukommen könne oder nicht, vielmehr ist das Verständnis von Transzendenz schon die Entscheidung darüber, ob wir überhaupt so etwas wie Subjektivität' im Begriff haben oder nur gleichsam ein Rumpfsubjekt in den Ansatz bringen.« 259 Transzendenz als Grundstruktur der Subjektivität ist nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehung zu denken, so gewiß sie transzendental, d. h. eine Bedingung der Möglichkeit der »gnoseologischen« Transzendenz ist. Was in der Transzendenz überstiegen wird, ist nicht das Subjekt und seine Sphäre der Immanenz, sondern das Seiende, und zwar sowohl das Seiende, das das Dasein selbst ist, als auch zugleich das Seiende, das es nicht selbst ist. Nur weil Dasein, sofern es ist, immer schon das Seiende im ganzen überstiegen hat, kann es »sich« zu Seiendem »verhalten«. Transzendenz des Daseins ist also weder ein Ausdruck für die Intentionalität des Bewußtseins, noch gründet sie gar in dieser, sondern sie liegt ihr als Bedingung der Möglichkeit voraus. Weil das, was in der Transzendenz überstiegen ist, das Seiende im ganzen ist, ist die Transzendenz des Daseins sein In-der-Welt-sein. Das In-der-Welt-sein des Daseins muß wiederum im Gegenzug gegen das vulgäre Verständnis als transzendentaler, d. h. zur Transzendenz gehöriger Begriff verstanden werden. Es bedeutet nicht, daß das Dasein unter anderem Seienden in der Welt vorhanden ist, sondern die ausgezeichnete 259
Vgl. V o m Wesen des Grundes, 3. Aufl., S . 18 (Sperrungen v o n H . ) Vgl. z u m Folgenden den gesamten 2. Abschnitt dieser Schrift, S. 17 ff.
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Seinsverfassung, in der nur der Mensch ist; »Welt« ist daher ebenfalls transzendental zu verstehen. Nicht als Allheit der Gegenstände, sondern als das, »aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden es sich verhalten kann«260. Der Weltentwurf, der in der Transzendenz des Daseins geschieht, ist vorerkenntnismäßiger, besorgender Weltentwurf. Heidegger nennt den Entwurf des Welthorizontes die »Urhandlung menschlicher Existenz«, die als »Urgeschichte« die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, daß Seiendes sich offenbaren kann261. Das menschliche Dasein ist notwendig weltbildend, weil es als endliches, das sich inmitten von anderem Seienden befindet, auf Seiendes angewiesen ist. Aber auch diese Feststellungen sind, so sehr sie an Einsichten der modernen Anthropologie anklingen, existenzial-ontologisch zu verstehen. Sie haben nichts mit dem »Mängelwesen Mensch« zu tun, sondern bleiben Explikationen der »ontologischen« Seinsverfassung des Menschen. Ohne Seinsverständnis vermöchte der Mensch als das Seiende, das er ist, nicht zu sein. Damit ist keine ontische Notwendigkeit ausgesagt, sondern die ontologische, daß der Mensch nur auf dem Grunde des Seinsverständnisses Mensch ist. Sein Sein inmitten von anderem Seienden bedeutet nicht sein Vorkommen in der einen realen Welt, sondern daß er »sich« immer schon in einer Welt »befindet«, d. h. daß sich das Sein oder der Welthorizont ursprünglich in der »Befindlichkeit« erschließt. Der Weltentwurf ist ein ursprünglich gestimmter. Auf die temporale Interpretation der Transzendenz aus den verschiedenen »Ekstasen« der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins, die ein zentrales Thema von »Sein und Zeit« bilden, soll hier nicht weiter eingegangen werden262. Auch diese Zeitlichkeit gehört zur Seinsverfassung des seinverstehenden Daseins und hat mit dem Sein des Daseins in der einen Realzeit nichts zu tun. Ebenso steht es mit der Räumlichkeit oder der Geschichtlichkeit des Daseins. Stets handelt es sich dabei weder um das Vorkommen des Daseins in dem einen Raum oder in der Universalgeschichte, noch audi darum, daß »sich« das Dasein zu räumlichem Seienden oder zu innergeschichtlichen Ereignissen »verhält«, sondern um die transzendentale Seinsverfassung des Daseins, die solches Verhalten überhaupt erst möglich macht. Heideggers Analyse der Transzendenzstruktur enthüllt diejenige Seinsverfassung des Menschen, durch die ihm Seiendes begegnen kann. Das Sein des Menschen ist es, seinsverstehend sich zu Seiendem verhalten zu können. Diese spezifische Seinsverfassung des Menschen muß die Analytik des Daseins erst der Verdeckung entreißen, in der sie sich im Leben 260
261 282
14
A.a.O., S. 34 (Sperrungen von H . ) . Zum Verhältnis dieses Weltbegriffs zum griechischen Begriff des Kosmos und zum christlichen »geschichtlichen« Begriff der Welt vgl. a.a.O., S. 22 ff. A.a.O., S. 36 f. Vgl. Sein und Zeit, §§ 5 f., 65 ff., 69, 78 ff. u. ö.
Brelage
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immerfort befindet. Daß die ausgezeichnete Seinsverfassung des Daseins, seine Transzendenz, im Leben unbedacht bleibt, ist selbst ein Beweis für die Transzendenzstruktur; dafür also, daß das Dasein immer schon »draußen«, bei innerweltlichem Seienden ist. Daher hat das Dasein audi sich selbst immer schon rückläufig von dem entdeckten Seienden aus als ein Seiendes unter anderem ausgelegt. Der Rückgang in die Tiefendimension der Subjektivität des Subjekts hat also nicht nur gegen die Tendenz des Daseins anzukämpfen, an das begegnende innerweltliche Seiende zu »verfallen«, sondern muß audi das immer schon vorhandene, aber ontologisch unangemessene Selbstverständnis des Daseins abbauen. Ähnlich sagte einmal Fichte, daß die meisten Menschen sich eher für ein Stück Lava im Mond als für ein Ich ansähen. Aber was bei Fichte noch als ein subjektives Versäumnis aus bloßer Trägheit des Geistes erscheinen konnte, findet bei Heidegger seine Begründung in der Wesensstruktur des Menschen. Während in »Sein und Zeit« Heidegger die Transzendenz des Daseins als den letzten Grund aller ontischen und ontologischen Erkenntnis denkt, nimmt in den Schriften nach der sogenannten »Kehre« das Sein selbst diese letztbegründende Stellung ein. Hieß es bisher, daß das Dasein transzendierend den Horizont der Welt entwerfe, so wird die Transzendenz des Daseins nun an die Bedingung geknüpft, daß das Sein selbst sich ihm zuwende. Alle ontische und ontologische Erkenntnis beruht nicht auf der Transzendenz des Daseins, sondern auf der Ciszendenz des Seins. Diese »Kehre« vollzieht sich jedoch innerhalb der bisherigen Grundbestimmungen. Sie bedeutet nicht, daß Heidegger den transzendentalen Sinn der Frage nach dem Sein aufgegeben habe. Denn auch jetzt wird das Sein nicht als Grund der Seiendheit des Seienden, sondern als Grund der Unverborgenheit des Seienden gedacht. Wenn Heidegger sich im Vollzug der »Kehre« gegen eine transzendentalphilosophische Interpretation von »Sein und Zeit« wendet, so hat dies nichts mit einer Rückkehr zu einer realistischen Ontologie zu tun. Heidegger bedenkt weiterhin den Bezug des Menschenwesens zur Wahrheit des Seins. Aber er will die Vorstellung abwehren, als sei dieser Bezug vom Denken bewirkt oder gestiftet. Eine solche Interpretation war vor allem dadurch nahegelegt, daß die früheren Schriften von Entwurf, Stiftung und dergleichen sprachen, d. h. sich nodi der Sprache der idealistischen Transzendentalphilosophien bedienten. »Versteht man den in ,Sein und Zeit' genannten ,Entwurf' als vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie das Seinsverständnis im Bereich der ,existenzialen Analytik' des ,Ιη-der-WeltSeins' allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins.« 263 »Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen 263
Über den Humanismus, 1947, S. 17.
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Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das Sein.«264 Das Sein selbst ist nun gedacht als das Werfende, der Mensch als der »ek-sistierende Gegenwurf des Seins«265. Die Offenheit des Seins, in die der Mensch hinaussteht, wird nun als der letzte Grund für alle Intentionalität gedacht. Das »gebende, seine Wahrheit gewährende Wesen des Seins« ist der Grund für alles »es gibt«1'0®. Die Existenz des Menschen in der Lichtung des Seins, die wie früher die Transzendenz des Daseins als Bedingung der Möglichkeit aller Offenbarkeit von Seiendem verstanden wird, ist nun ihrerseits als eine bedingte Bedingung gefaßt. Immer noch geht es dabei um einen Wesenszusammenhang, der es nicht erlaubt, eines der beiden Glieder herauszulösen und selbständig für sich zu betrachten. Nur schärft Heidegger jetzt ein, »daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz«267. Daß die Transzendenz des Daseins und die Lichtung des Seins im ganzen der Heideggerschen Philosophie ein und dieselbe Funktion zu erfüllen haben, geht auch daraus hervor, daß er beiden ausdrücklich Letztheit zudenkt. Bei beiden kommt die Frage nach einem weiteren Grund an ihr Ende, weil sie es sind, die den ontologischen Sinn aller Begründung ausprägen. Weil nur auf dem Grunde der Transzendenz des Daseins die Frage nach einem Warum entspringt, ist es sinnlos, nach einem Grund der Transzendenz selbst zu fragen268. Entsprechend kann die Wahrheit des Seins nidht weiter begründet werden, weil Sein und Grund dasselbe sind269. Die Zusammengehörigkeit von Sein und Grund ist vielmehr der Grund dafür, daß wir in allem Erkennen nach Gründen forschen. Der Grundsatz alles Erkennens, daß jedes Seiende einen Grund hat, gründet selbst in der Zusammengehörigkeit von Sein und Grund. Gerade darum aber hat das Sein selbst keinen Grund. Mit solchen Uberlegungen, denen sich entsprechende über das Verhältnis von Sein und Identität, Sein und Differenz anreihen, rückt das Denken Heideggers nicht nur in die Nähe Hegels, sondern es erhält audi einen unmittelbaren Bezug zu der kritizistischen Erkenntnisbegründung, von der es sich auf der Stufe von »Sein und Zeit« in radikaler Weise entfernt hatte. Umgekehrt muß jedoch die Philosophie des jungen Heidegger den Ausgang bilden, wenn wir sein Denken mit dem der Zeitgenossen konfrontieren wollen. In dieser Gegenüberstellung wird die Eigentümlichkeit des Heideggerschen Denkens schärfer hervortreten, als es bei immanenter Betrachtung geschehen konnte. 284 285 286 287 268 289
A.a.O., S. 25. Vgl. a.a.O., S. 25 und 29. Vgl. a.a.O., S. 22. Vgl. a.a.O., S. 22. Vgl. Vom Wesen des Grundes, 3. Aufl. 1949, S. 44 f. Vgl. Der Satz vom Grund, 1957, S. 205 ff. 211
14*
3. Transzendentalphilosophien
und
Ontologien
Die folgenden Überlegungen, die das Denken Heideggers in den bisher von uns ausgemessenen Raum der Philosophie unseres Jahrhunderts stellen, sollen nicht so sehr die wechselseitige Kritik rekapitulieren, die im großen und ganzen unfruchtbar geblieben ist, audi nicht nur Ubereinstimmungen aufweisen, die zwischen Denkern einer Epoche immer zu finden sind, sondern versuchen, die verschiedenen Denkansätze in eine positive Beziehung zueinander zu setzen. Daß sich die behandelten Philosophien zu einem System zusammenschließen ließen, ist allerdings ausgeschlossen, da jede von ihnen die ganze Philosophie zu sein beansprucht. Möglich sein müßte jedoch der Versuch, die verschiedenen Denkansätze auf ihre je spezifische Problemstellung zu reduzieren und sodann zu fragen, wie sich die Problemdimensionen zueinander verhalten. Dabei dürfte sich herausstellen, daß die Tatsache, daß die verschiedenen behandelten Philosophien nacheinander je das gesamte Interesse auf sich versammelt haben, auch stets einen Verlust der Problemweite der Philosophie zur Folge gehabt hat. Es gibt einen Wandel des philosophischen Problembewußtseins, der nicht nur neue Probleme hervortreten, sondern auch alte in Vergessenheit geraten läßt. Dagegen gibt es als Korrektiv nur die beharrliche Mühe der philosophiehistorischen Forschung, die das Vergangene wieder ernstzunehmen versucht und so die Enge des eigenen Problemblicks überwindet. Den weitesten geschichtlichen, aber auch systematischen Abstand zwischen den behandelten Denkern weisen die Kritizisten und Heidegger auf. Heideggers Philosophie hat stärker noch als die Ontologie Hartmanns dazu beigetragen, daß nicht nur die Lösungen, sondern audi die Problemstellungen der Jahrhundertwende überwunden worden sind. Gerade gegenüber dem Denken Heideggers muß es sich daher erweisen, ob dem Neukantianismus ein bleibendes Motiv innewohnt. Die Entscheidung darüber hängt jedoch wesentlich von der Wahl des geeigneten Problemhorizontes ab. Wir wollen zwei zusammengehörige Themen unterscheiden, die uns die Vergleichbarkeit der kritizistischen Geltungstheorie und der Heideggerschen Fundamentalontologie ermöglichen sollen: das Subjektsproblem und die Frage nach der vorprädikativen Wahrheit des Seins und ihrem Verhältnis zum Urteil. Wenn irgendwo, so läßt sich der ungeheure Abstand Heideggers vom Kritizismus am Problem des Subjekts der Erkenntnis bestimmen. Daß es Heidegger gelungen sei, das »weltlose« Subjekt der Erkenntnistheorie zu überwinden, den gesamten Problemansatz der Erkenntnistheorie aufzulösen und die Herrschaft des Verstandes und der Logik in der Philosophie zu erschüttern, sind oft wiederholte Feststellungen, die ihre Wurzel bei Heidegger selbst haben. Das aber heißt, daß ihre Perspektive von vornherein so gewählt ist, daß die eigentümliche Problematik der kriti212
sierten Lehren gar nicht mehr als solche erfahren werden kann. Heideggers Kritik des erkenntnistheoretischen »Subjekts« der Neukantianer kann nicht zureichend begriffen werden, wenn man dabei an den Gegensätzen von Idealismus und Realismus, reinem und empirischem Subjekt festhält. Heidegger selbst hat betont, daß sein Begriff des Daseins nicht das empirische oder psychologische Subjekt meint, das innerhalb des Kritizismus den Gegensatz zur reinen Subjektivität bildet. Analytik des Daseins ist ebensowenig psychologische wie anthropologische Erkenntnis. Das darf bei allem Pathos der »Endlichkeit« des Daseins nicht vergessen werden. Heidegger wehrt die Verwechslung des Daseins mit dem Gegenstand der Psychologie nicht weniger scharf ab, als dies etwa Rickert hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Subjekts tut. Das Dasein bleibt auch in seiner Endlichkeit die Stätte aller Seinsbewährung. Die Kritik Heideggers an der Idee eines reinen »Ich« oder »Bewußtseins überhaupt« erkennt daher durchaus auch einen berechtigten Kern in dieser Subjektstheorie an. Dieser besteht einmal darin, daß die Philosophie das Apriori und nicht empirische Tatsachen zum Thema hat, und zum anderen in dem Vorrang, den audi nach Heidegger der Idealismus des »Seins« vor dem erkenntnistheoretischen Realismus genießt210. Heideggers Lehre vom Dasein setzt den Idealismus und die idealistische Subjektstheorie in gewisser Weise voraus. In seiner Habilitationsschrift hatte er die Verbindung von wahrer Wirklichkeit und wirklicher Wahrheit als Zentrum seines zukünftigen Philosophierens angedeutet. »Nur indem ich im Geltenden lebe, weiß ich um Existierendes.« 271 Daß Realität nur im Seinsverständnis möglich sei, bleibt eine von Heidegger festgehaltene Uberzeugung. Sein ist für ihn stets Sein »im Bewußtsein«, d. h. als Bedingung der Möglichkeit des Verständnisses von Seiendem. Mit dem Idealismus teilt er daher auch die Überzeugung, daß Sein nicht durch Seiendes erklärt werden könne. Ähnlich wie etwa Riehl zwischen einem Idealismus der Form unseres Denkens der Dinge und einem Idealismus der Dinge selbst unterschieden hatte, macht audi Heidegger einen Unterschied zwischen einem Idealismus des Seins, der es erlaubt, Aristoteles und Kant als Idealisten zusammenzudenken, und einem Idealismus des Seienden, der für ihn »nicht weniger naiv als der grobschlächtigste Realismus« ist272. Was er an dem Idealismus des »Seins« kritisiert, ist vor allem, daß er nicht zuvor die Frage nach dem »Sein des Bewußtseins« stelle. Der Idealismus verfehlt daher das Apriori des faktischen Subjekts. Dieses faktische Subjekt ist, wie es sich bereits im frühesten Ansatz Heideggers in der Habilitationsschrift andeutete, wesenhaft geschichtliches Subjekt. Das aber heißt, daß es nicht nur das vorausgesetzte
270
Vgl. Sein und Zeit, S. 229 f. und 207 f.
271
Duns Scotus, S. 236 und 97.
272
Sein und Zeit, S. 207 f.
213
Subjekt aller gültigen Erkenntnis ist, sondern »gleidiursprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit ist«273. Daher ist auch die gesamte spätere Philosophie Heideggers stets von der Dialektik von Verdeckung und Offenbarkeit beherrscht. Das Dasein in seiner Faktizität bleibt also einerseits dadurch von aller psychologischen Tatsächlichkeit radikal unterschieden, daß es die Stätte ist, für die allein Seiendes als solches einen Sinn haben kann; von der reinen Subjektivität der Neukantianer ist es aber dadurch getrennt, daß es nicht nur der ideale Garant aller Wahrheit, sondern der Träger der Geschichte der Wahrheit ist. So gewiß es notwendig ist, dem Subjekt einen ursprünglichen Bezug zur Geschichte zuzudenken, so fragwürdig ist es jedoch, wenn dies unter Umgehung der Wahrheits- und Geltungsproblematik versucht wird. Es ist daher kein Zufall, daß bei Heidegger die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit auf ein Wahrsein oder Unwahrsein des Daseins zurückgeführt wird. E. Cassirer hat die Problemverschiebung, die sich bei Heidegger ereignet, dahin charakterisiert, daß das Problem des Kritizismus nicht das Verhältnis von »Sein« und »Zeit«, sondern von »Sein« und »Sollen«, »Erfahrung« und »Idee« sei274. Die Feststellung, daß Heidegger die vom Idealismus versäumte Frage nach dem Sein des erkenntnistheoretischen Subjekts gestellt habe, bleibt solange unzureichend, als nicht zugleich erkannt wird, daß Heidegger sich dabei aller objektiven Kriterien für die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit begeben hat. Nach dem faktischen Sein des reinen Subjekts der kritizistischen Geltungslogik kann sinnvoller Weise gar nicht gefragt werden, sondern die Problemstellung muß vielmehr lauten, wie das Subjekt aller Wahrheit und Geltung mit dem konkreten geschichtlichen Dasein in positiver Weise zusammengedacht werden könne. Ebensowenig im Sinne einer Alternative ist das sachliche Verhältnis Heideggers zur kritizistischen transzendentalen Logik zu entscheiden. Heidegger hat sich vielfach gegen die Herrschaft des Verstandes und der Logik gewandt. Die transzendentale Logik galt ihm als ein Unbegriff, erst recht, wenn sie auf sich gestellt und absolut genommen wird275. Das ist eindeutig gegen die kritizistische Logik gerichtet. Ihr gegenüber hat Heidegger die Abkünftigkeit des Urteils betont. Der ursprüngliche Ort der Wahrheit ist nicht das Urteil, sondern eine vorprädikative Erfahrung. Nicht nur die Offenbarkeit des Seienden, sondern auch die Wahrheit des Seins ereignet sich ursprünglich im vorbegrifflichen Seinsverständnis. Das Verhältnis Heideggers zum Kritizismus scheint sich also 273
A.a.O., S. 229.
274
Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu M. Heideggers Kantinterpretation, in: Kantstudien 36, 1931, S. 161. Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 219.
275
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so zuspitzen zu lassen, daß für die Kritizisten das Urteil der ursprüngliche und einzige Ort der Wahrheit sei, während das Urteil für Heidegger die abkünftigste Gestalt der Wahrheit sei. Entscheidender noch als die Frage nach der ontischen Erkenntnis und ihrer Fundamente ist die nach der ontologischen Wahrheit, denn an ihr hängt das Schicksal der Philosophie selbst. Die Kritik der Neukantianer hat daher auch vorwiegend an diesem Punkte eingesetzt. Exemplarisch dafür ist die Auseinandersetzung Rickerts mit Heideggers Lehre vom nichtenden Nichts und seinem Verhältnis zur Urteilsnegation276. Für Heidegger sind das Nichts und das Sein (und Entsprechendes gilt vom Grund, der Identität und Differenz) vorprädikativ erfahrbar 277 . Das Nichts etwa ist kein reiner Begriff, der der Negation entspringt, sondern es wird in der Befindlichkeit der Angst »erfahren«. Daher ist auch nicht die Logik die höchste Instanz, um das Nichts ursprünglich zu fassen. Umgekehrt begründet die vorlogische Erfahrung des Seins und des Nichts erst die Verstandeslogik. Was für die transzendentale Logik nur den Rang psychologischer Phänomene hatte und daher aus der Philosophie verbannt war, erhält also bei Heidegger höchste Dignität, während umgekehrt das urteilende Denken und seine Logik als unangemessen für die philosophische Wahrheit abgewertet werden. Wenn irgendwo, so muß sich an dieser Stelle Recht und Unrecht beider Positionen abwägen lassen. Der Weg kann dabei nur über eine Klärung dessen führen, was beide Parteien unter dem Urteil als dem Gegenstand der Logik verstehen. Heideggers Urteilsbegriff deckt sich nicht mit dem Begriff des Urteils im Sinne der transzendentalen, sondern nur der formalen Logik. Das formal-logische Urteil ist aber auch für die kritizistische transzendentale Logik ein sekundäres Gebilde. Das reine Denken ist nicht an die formal-logische Form des Urteils gebunden, so gewiß es selbst diese Form noch begründet. Wenn es also stimmt, daß die Angst etwa kein bloßes psychisches Faktum ist, sondern in ihr ursprünglich das reine Nichts erfahren wird, so ist die Angst, transzendentallogisch betrachtet, reines Denken. Das klingt nur paradox, solange man nicht von den Alternativen loskommt, daß alles, was nicht logisch sei, eo ipso nur psychologisch sein könne, und daß alles, was nicht prädikative Form trage, mit dem Denken nichts zu tun habe. Beide Parteien in diesem Streit dürften also Recht und Unrecht haben, die Kritizisten Unrecht darin, daß sie das reine Denken an die Wissenschaften gebunden glaubten und damit ganze Domänen des menschlichen Geistes der puren psychologischen Faktizität überantworteten, aber Recht in ihrer Voraussetzung, daß nur das Denken die Wurzel aller Wahrheit sein könne. 276
Vgl. H. Rickert, Die Logik des Prädikats und die Kategorienlehre, 1930, S. 226 ff.; ferner auch R. Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1931, S. 47.
277
Vgl. Was ist Metaphysik?; Der Satz vom Grund; Identität und Differenz, u. a.
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Heidegger hingegen dürfte richtig gesehen haben, daß die Wahrheit nicht auf die Form des Urteils angewiesen und auf das Gebiet der Wissenschaft beschränkt ist, sondern in die elementarsten Weisen des spezifischmenschlichen In-der-Welt-Seins hinabreicht, während sein Begriff des Logischen zu eng ist. Wenn die Dimension des Rückgangs vom Urteil zur Befindlichkeit nicht der geltungslogischen Reflexion widerstreitet, aber auch nicht die Zurückführung von Logischem auf Psychologisches bedeutet, so dürfte hier in der Tat der Philosophie eine neue Dimension der Frage erschlosssen sein. Von verwandten Mißverständnissen auf beiden Seiten zeugt aber auch das Verhältnis Heideggers zur transzendentalen Phänomenologie. Die beiderseitige Kritik weist formal bedeutsame Ubereinstimmungen mit der Polemik auf, die zwischen Heidegger und den Kritizisten geführt wurde. Heidegger hat auf der Stufe von »Sein und Zeit« noch geglaubt, an Husserls transzendentale Phänomenologie anzuknüpfen und sie nur radikalisieren oder fundieren zu können. Ubereinstimmung schien ihm darüber zu bestehen, »daß das Seiende im Sinne dessen, was sie jWelt' nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann, durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart« 278 . Aber wie selbstverständlich wird von Heidegger die totale Verschiedenheit von Konstituierendem und Konstituiertem als eine ontologische Differenz verstanden. »Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.« Heidegger hat nicht nur keine Bedenken, »den Ort des Transzendentalen« als ein Seiendes anzusetzen, er glaubt auch, daß die Konstitutionsproblematik selbst auf diese Weise erst ihr Fundament erhalten könne. »Es gilt, zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden, und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch ist als solcher — als Seiendes — nie eine weltlich reale Tatsache, weil der Mensch nie nur vorhanden ist, sondern existiert. Und das .Wundersame' liegt darin, daß die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht.« Heidegger ist merkwürdigerweise gänzlich unbesorgt, ob sich dabei nicht der gesamte Sinn der Konstitutionsproblematik verschieben muß. Er kennt — trotz der jahrzehntelangen Mühen, die Husserl gerade auf die Theorie der phänomenologischen Reduktion verwandt hat — von vornherein keine Alternative zu seinem ontologischen Ansatz. Zwar hatte auch Husserl in vereinzelten Wendungen von dem absoluten Sein des transzendentalen Bewußtseins gesprochen und es mit Descartes als »Sub278
Zitiert n a d i W. Biemel, Husserls E n c y k l o p ä d i a - B r i t a n n i c a Artikel und H e i d e g g e r s Anmerkungen dazu, in: T i j d s d i r i f t voor Philosophie 12, 1950, S. 274. A u d i die folgenden Z i t a t e sind dieser Briefstelle entnommen.
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stanz« bezeichnet, aber das transzendentale Ego war für ihn doch nie ein Seiendes neben anderem Seienden, sondern der universale Horizont aller Seinsvermeinung und Seinsbewährung. Für Heidegger verwandelt sich dieser fundamentale Unterschied zwischen dem, was seine Seinsgeltung nur dem leistenden Bewußtseinsleben verdankt, und diesem selbst in seiner Reinheit und Extramundanität, in einen Unterschied von Seiendem verschiedener Seinsverfassung. Für einen Augenblick scheint er noch angenommen zu haben, daß die totale Verschiedenheit von Daseiendem und weltlich-realem Tatsächlichen, bloß Positivem, innerhalb des umgreifenden Seins den Unterschied von Konstituierendem und Konstituiertem in sich enthalte. In Wahrheit ist jedoch diese »ontologische Differenz« bereits einer Problemversdiiebung entsprungen. Denn das Seiende, das von allem Daseienden in seiner Seinsverfassung total verschieden ist, ist nur noch in einem wesentlich anderen Sinne ein Konstituiertes zu nennen als innerhalb der transzendentalen Phänomenologie. Konstituiert durch das Dasein ist nur seine Offenbarkeit, nicht aber seine Seiendheit. Entsprechend ist auch das Dasein für das »Positive« nur konstituierend, insofern es ein Entdecken-Lassendes ist. Das Konstituierte ist also nicht mehr als Noema gedacht, ebensowenig das Konstituierende als leistender Grund solcher Noemata. Heidegger hat bereits stillschweigend seinen eigenen Wahrheits- und Erkenntnisbegriff, der dem Noematischen nur eine abkünftige Rolle zugesteht, an die Stelle der Husserlschen Theoreme gesetzt. Kein Wunder, daß er bald erkannte, daß die gesamte Theorie der Konstitution seinem eigenen Wollen unangemessen ist. Husserl hat diese fundamentale Verschiedenheit ihrer Intentionen sogleich erkannt und dabei auch bereits den Grund für die Täuschung geahnt, der alle die Zeitgenossen verfallen sind, die in Heideggers »Sein und Zeit« eine »Konkretisierung« und »Radikalisierung« der transzendentalen Phänomenologie erblickt haben. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Momenten in beiden Lehren, deren systematische Funktion scheinbar übereinstimmt, so etwa der Durchgang der Philosophie durch die vorprädikative Erfahrung, der Horizontcharakter der Welt oder die analoge Funktion des vorbegrifflichen Seinsverständnisses und des transzendentalen Ur-Ego, die beide die Basis für die Vermeinung jedes Seienden als ein solches, einschließlich des absoluten Seienden, das wir Gott nennen, darstellen 279 . Aber Husserl vermag in dieser Parallelität nur eine Umfälschung der transzendentalen Phänomenologie zu sehen. »H. transponiert oder transversiert die konstitutiv-phänomenologische Klärung aller Regionen des Seienden und Universalen, der totalen Region Welt, ins Anthropologische. Die ganze Problematik ist Übertragung, dem Ego entspricht Dasein etc. Dabei wird alles tiefsinnig unklar und 279
Für Heidegger vgl. Was ist Metaphysik?, S. 36 Anm., Uber den Humanismus, S. 19, 36 u . ö .
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philosophisch verliert es seinen Wert. . . Was da gesagt ist, ist meine Lehre, nur ohne tiefere Begründung.« 280 In den Augen Husserls wird »die ganze Konstitution des Objektes« bei Heidegger »übersprungen« 281 . Heidegger ist »Realist«, seine Phänomenologie »naive Wissenschaft«. Gemessen an seiner eigenen transzendentalen Phänomenologie hat Husserl mit dieser Charakteristik recht, wenngleich wir bereits gesehen haben, daß Heideggers Erkenntnisbegriff keineswegs einem naiven Realismus gleichkommt, sondern in einer Art formalidealistischer Thesis den Gegensatz von Idealismus und Realismus nicht zu überwinden, sondern von den Voraussetzungen her aufzuheben versucht. Das Verhältnis von Seinsverständnis und offenbarem Seienden, das seine Offenbarkeit dem »Sein« verdankt, ist durch den Gegensatz von Idealismus und Realismus nicht zu charakterisieren, weil es sich noch diesseits der Beziehung von bewußtem Ich und Gegenstand ereignet. Husserl hat entgegen Heideggers derzeitigen Beteuerungen erkannt, daß die Konstitutionsproblematik bei Heidegger hinfällig wird. Er hat jedoch nicht zu erkennen vermocht, daß damit Heideggers Philosophie nicht schon eine Anthropologie ist. Für ihn war alle Rede von Subjektivität, die nicht den absoluten transzendentalphilosophischen Sinn festhielt, ebenso selbstverständlich Anthropologie, wie für den strengen Kritizismus die von der Geltungsproblematik abgelöste Daseinsanalytik »Psychologie« war. Er erkannte weder, daß Heidegger es möglich gemacht hatte, von der konkreten Subjektivität zu sprechen, ohne sie doch schon anthropologisch zu apperzipieren, wie er andererseits audi nicht erkennen konnte, daß Heideggers »transzendentale« Ontologie nicht eine »naive« Philosophie ist. Schon im Verhältnis der transzendentalen Phänomenologie zum Kritizismus war ein ähnliches Problem aufgetaucht, daß nämlich für die kritizistische Geltungslogik alle Rede von Akten eo ipso psychologisch war. Hier kehrt dasselbe auf einer anderen Stufe wieder, so daß man fast von einer typischen Form des philosophischen Mißverstehens sprechen könnte. Für Husserl und Heidegger erscheint der andere wie selbstverständlich in den Horizont der von ihnen überwundenen Philosophie eingeordnet: Für Heidegger gehört die transzendentale Phänomenologie in die Geschichte der Metaphysik der Subjektivität, für Husserl gehört Heideggers Analytik des Daseins in die Geschichte des Objektivismus und Naturalismus, die zu der gegenwärtigen Krisis der europäischen Wissenschaften und Kultur geführt hat. In Wahrheit haben jedoch beide die andere Philosophie nur im Lichte der eigenen Problematik zu sehen 280 Y g j j j g R a n d b e m e r k u n g e n Husserls zu »Sein und Z e i t « , zitiert nach' A . Diemer, E . Husserl, S. 29 f. D o r t auch zu Heideggers K a n t b u c h : »mit anderen Worten, es ist d a s Vorurteil von Scheler, Heidegger, Dilthey und der ganzen anthropologischen Richtung.« 281
Ebenda.
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vermocht. Heideggers Analytik des Daseins, die die Frage nach der Evidenz unserer Erkenntnis und der Seinsgeltung unserer Noemata nicht mehr kennt oder sie doch ins Existenziale und Ontologische transponiert, ist allerdings von Husserls Programm einer universalen Aufklärung unseres Bewußtseins grundsätzlich geschieden. Andererseits trifft aber auch der Vorwurf Heideggers, daß Husserl das Sein der Subjektivität nicht bestimmt habe und in der unanalysiert gelassenen SubjektObjekt-Spaltung steckengeblieben sei, Husserl nur dann, wenn man die transzendentale Phänomenologie von vornherein existenzial-ontologisch liest. In Wahrheit sind jedoch beide Rückgangsdimensionen, die von der bloßen Leerintention zur Evidenz, und die von dem theoretischen Weltverhalten des Menschen zu den ursprünglicheren Weisen seines In-derWelt-Seins, verschieden und schließen sich nicht aus. Die »Ursprünge« der einen und der anderen Dimension der Frage kollidieren nicht miteinander. Daher ist auch der Vorwurf der Abkünftigkeit des theoretischen Weltverhaltens ebensowenig ein stichhaltiger Einwand gegen die Phänomenologie Husserls, wie andererseits Heidegger nicht den Anspruch auf Evidenz seiner eigenen Philosophie aufzugeben vermag. Während sich die Auseinandersetzung Heideggers mit dem transzendentalen Idealismus der Neukantianer und Husserls insofern im Lichte der Öffentlichkeit vollzog, als Heidegger seine Idee einer Analytik des Daseins gerade im Ausgang von der Transzendentalphilosophie und gleichsam als deren Fundierung zu entwickeln versuchte, sind wir für das Verhältnis Heideggers und Hönigswalds fast gänzlich darauf angewiesen, es aus den beiderseitigen systematischen Positionen zu erschließen282. Für eine fruchtbringende Konfrontation lassen sich zwei Ausgangspunkte wählen, in denen die Nähe beider Denker zueinander unverkennbar ist und in denen daher auch ihr methodischer und sachlicher Abstand sich am eindrücklichsten erweisen lassen muß. Hönigswalds Theorie der Gegenständlichkeit und Heideggers Frage nach dem Sein haben beide ersichtlich denselben fundamentalphilosophischen Rang. In ihnen prägt sich die Unterschiedenheit von philosophischer und positiver Erkenntnis aus. Gegenständlichkeit und Sein bilden beide den letzten Grund für das philosophische Denken. In ihrer letztbegründenden Funktion sind sie von allen Gegenständen wie von allem Seienden radikal unterschieden, wobei dieser Unterschied zugleich einen 282
D i e einzige ausführliche K r i t i k H ö n i g s w a l d s an H e i d e g g e r bezieht sich auf dessen Begriff der » G e g e b e n h e i t « in » K a n t und d a s P r o b l e m der M e t a p h y s i k « und a u f das Verhältnis v o n » N i c h t s « und »Verneinung« in » W a s ist M e t a p h y s i k ? « So charakteristisch sie f ü r H ö n i g s w a l d s eigenen A n s a t z a m P r o b l e m des Gegebenen ist, der es ihm verwehrt, d a s Gegebene a l s eine » S c h r a n k e « der Erkenntnis anzusehen, so wenig geht diese K r i t i k doch grundsätzlich über seine P o l e m i k gegen die P h ä n o menologie überhaupt hinaus. Der eigentliche Berührungspunkt zwischen ihnen ist unerörtert geblieben. (Vgl. G r u n d f r a g e n der Erkenntnistheorie, S. 44 ff.)
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notwendigen Bezug des Gegenstandes auf die Gegenständlichkeit und des Seienden auf das Sein einschließt. Gegenständlichkeit und Sein haben beide transzendentalen Rang, d. h. das vorgängige Verständnis des Seins ermöglicht ebenso alle Intentionalität des Daseins, wie der Begriff der Gegenständlichkeit das Auseinandertreten von Ich und Gegenstand möglich macht. Wir wollen uns jedoch auf die Analyse eines zweiten Problemkomplexes beschränken, der eine größere Aktualität beanspruchen darf. Hatte Heidegger an der Transzendentalphilosophie und Erkenntnistheorie kritisiert, daß sie entweder das faktische Sein des Subjekts unanalysiert lasse oder aber die Faktizität des Subjekts nach Art des nichtdaseinsmäßigen, innerweltlichen Seienden denke (und zwar genauer gesagt, stets beides zugleich), so lassen sich beide Vorwürfe in dieser globalen Form Hönigswald gegenüber nicht aufrechterhalten. Wir geben zunächst die entscheidenden Parallelen an und werden dann versuchen, die prinzipielle Differenz beider Lehrstücke herauszuarbeiten. Heidegger und Hönigswald denken das Dasein oder die Monade als ein ausgezeichnetes Seiendes. Dasein und Monade sind fundamental von allem übrigen Seienden unterschieden, weil sie vermöge ihres korrelativen Verhältnisses zum Sein bzw. der Gegenständlichkeit den Ort der Versammlung des Seienden bzw. die Möglichkeit, alles zu denken, darstellen. Daher sind sie auch nicht-kategorial bestimmt. Trotz der fundamentalen Unterschiedenheit von allem übrigen Seienden eignet aber dem Dasein und der Monade Faktizität bzw. Tatsächlichkeit. Hönigswald könnte also durch den Vorwurf nicht getroffen werden, daß er die Subjektivität den Kategorien des innerweltlichen Seienden unterordne. Er weicht jedoch auch nicht davor zurück, die Subjektivität in ihrer Innerweltlichkeit zu bedenken. Die Reihe der Übereinstimmungen ließe sich noch fortsetzen, wenn das Verhältnis von Dasein und menschlichem Leib, der Begriff des Organismus und das Problem der anorganischen Natur berücksichtigt würden. Beide Denker stimmen darin überein, daß sie die Begriffe des Leibes, des tierischen Organismus und der bloßen Natur im Abstieg vom Dasein bzw. der Monade bestimmen. Darin befinden sie sich in einem gemeinsamen Gegensatz zur Vorstellung vom geschichteten Aufbau der Welt und des Menschen283. Aber Heideggers Lehre von der Existenzialität des Daseins im Unterschied von allem »kategorial« bestimmten Seienden deckt sich ebensowenig mit Hönigswalds Begriff der Monadizität, wie die Faktizität des Daseins und die Tatsächlichkeit der Monade dasselbe bedeuten. Was die Nichtkategorialität angeht, so haben Heideggers »Kategorien« nicht Prinzipiencharakter, sondern sie stellen Arten der Offenbarkeit von Sei283 Vgl. die Andeutungen Heideggers in: »Sein und Zeit«, S. 58, S. 65; »Ober den Humanismus«, S. 14.
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endem für Dasein auf284. Vorhandenheit, Zuhandenheit, Realität u.s.f. sind zwar »Seinsweisen«, aber auch diese sind ebenso wie »das Sein« transzendental zu verstehen, d. h. sie sind Bedingungen der Möglichkeit des Offenbarseins von Seiendem für je spezifisches Verhalten des Menschen. Auch die Faktizität des Daseins ist zwar eine »ontologische« Bestimmtheit, aber keine solche, durch die das Dasein notwendig der einen realen Welt eingeordnet würde. Faktizität gehört vielmehr selbst zu der Existenzialität des Daseins und überschreitet sie nicht notwendig in der Richtung auf seine Vorhandenheit. Dasein läßt sich nur mit gewissem Recht und in gewissen Grenzen als ein Vorhandenes betrachten, wobei jedoch von seiner existenzialen Verfassung abgesehen werden muß285. Heidegger gesteht also die Tatsächlichkeit des Daseins nur als eine sekundäre Weise der Auslegung des Daseins zu. Für Hönigswald hingegen ist der »Zusammenfall von Prinzip und Tatsache« in allem Monadischen notwendig. Die Monade steht in einem unaufhebbaren, vermittelten Naturbezug, und zwar nicht nur so, daß sie sich immer schon in irgendeiner Weise auf Naturales bezieht, sondern zugleich so, daß sie seienderweise in die Natur eingeordnet ist. Heidegger denkt auch die Seinscharaktere des Daseins wie Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Geschichtlichkeit u.s.f. als Abwandlungen des In-der-Welt-Seins, nicht aber als Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß das Dasein seienderweise im Raum, in der Zeit, in der Geschichte u.s.f. ist. Die Räumlichkeit des Daseins etwa ist der Grund dafür, daß »ich« »mich« im Räume orientieren und bewegen kann, aber sie weist mir keinen Ort in dem einen Räume der realen Welt an. Hier ist also offenbar von Hönigswald eine Dimension erschlossen, die Heidegger zwar nicht abzuweisen braucht, die er aber, solange er die existenzialontologische Einstellung beibehält, nicht mitvollziehen kann. Heidegger hingegen eröffnet durch seine Methode der Existenzialanalyse den Durchblick in eine Tiefendimension des menschlichen Weltverhaltens, die sich unterhalb des Verhältnisses von theoretischem Ich und Gegenständlichem auftut, die aber dennoch eine Dimension spezifisch menschlichen Weltverhaltens ist. Audi hier schließen sich beide Blickrichtungen nicht aus, so gewiß auch die unreflektierte Befindlichkeit oder die ursprüngliche ekstatische Zeitlichkeit bereits von der Möglichkeit beherrscht sind, daß ich zu mir muß »ich« sagen können. Während Heideggers Verhältnis zum Kritizismus und der transzendentalen Phänomenologie durch den Abstand seiner Fundamentalontologie von der Geltungs- und der Konstitutionsproblematik bestimmt ist, müssen für seine Beziehungen zu Hartmann andere Problemhorizonte zugrunde gelegt werden. Heidegger und Hartmann sind als Ontologen in Konkurrenz miteinander getreten. Ihr Verhältnis zueinander muß SM
W . Bröcker, Heidegger und die Logik, in: Philos. Rundschau I, 1953/54, S. 55.
285
Vgl. Sein und Zeit, S. 55 ff.
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sich daher an der jeweiligen Konzeption der Ontologie klären lassen. Eine zweite Problemgruppe ergibt sich aus dem Verhältnis ihrer Ontotogien zur Erkenntnistheorie. Beide Denker haben die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung durch eine ontologische Fundierung zu überwinden gesucht, durch die zugleich das ganze Erkenntnisproblem eine Art von Aufhebung erfährt 286 . Dennoch hat Heidegger schon in »Sein und Zeit« auf weiten Strecken explizit oder implizit gegen Hartmanns Gnoseologie polemisiert und ihr vorgeworfen, daß sie in dem überkommenen Ansatz der Erkenntnistheorie stedtenbleibe. Neben der Ontologieproblematik und der Stellungnahme zum Erkenntnisproblem ergibt sich eine dritte Vergleichsnotwendigkeit in dem Problemhorizont der konkreten Subjektivität. Beide Denker haben sich viel darauf zugute gehalten, die abstrakte Subjektivität der Transzendentalphilosophie überwunden zu haben. Aber Heideggers Analytik des Daseins blieb für Hartmann eine Spielart des Idealismus, da das Dasein nicht als abhängigstes Glied der einen realen Welt, sondern als Korrelat von Welt gedacht ist. Umgekehrt aber ist Hartmanns Lehre vom realen Geist für Heidegger eine Naivität, weil in ihr die spezifische Seinsverfassung dieses Seienden unaufgeklärt bleibt. Wir wenden uns zunächst der Problematik der Ontologie zu, weil in ihr die Entscheidungen für alle weiteren Überlegungen fallen. Für das Verhältnis unserer beiden Denker gilt allerdings, daß diese Entscheidungen für sie bereits gefallen waren, bevor sie in einen Kontakt eintraten. Keiner von ihnen hat daher auch die Berechtigung eines abweichenden Ontologieansatzes anerkannt. Heidegger hat gegen die moderne Ontologie eingewandt, daß sie naiv bleibe, wenn sie das Sein unerörtert lasse287. Das gleiche gilt von einer Ontologie der realen Welt, die nicht zuvor den Begriff der Welt erörtert288. Weil die Ontologie das Sein nicht in seinem »entbergenden Wesen«, in seiner »Wahrheit« denkt, bleibt sie »metaphysisch«. Sie »sagt, was das Seiende sei, indem sie die Seiendheit des Seienden zum Begriff bringt. In der Seiendheit des Seienden denkt die Metaphysik das Sein, ohne doch in der Weise ihres Denkens die Wahrheit des Seins bedenken zu können. Die Metaphysik bewegt sich überall im Bereich der Wahrheit des Seins, die ihr der unbekannte, un286
H e i d e g g e r ist sich dieser Übereinstimmung o f f e n b a r bewußt gewesen, wenn er in »Sein und Z e i t « (S. 208, Anm.) sagt, d a ß H a r t m a n n s »kritischer R e a l i s m u s « » i m G r u n d e dem N i v e a u der von ihm exponierten P r o b l e m a t i k völlig f r e m d ist.« D i e von ihm vollzogene »Obersetzung« d e r Hartmannschen realontologischen F u n d i e rung der Erkenntnisrelation ins Existential-Ontologische trifft daher vielleicht nicht nur d a s systematische, sondern audi d a s geschichtliche Verhältnis beider T h e o r i e n .
287
Vgl. etwa » S e i n und Zeit«, S. 11.
288 Y g ] j j e ; m s i n n e Heideggers geführte K r i t i k v o n L . L a n d g r e b e , Philosophie d e r G e g e n w a r t , S. 53 ff.
222
begründete Grund bleibt.« 289 Diese Stelle entstammt bereits einem späteren Stadium des Heideggerschen Denkens, in dem er den Titel einer Ontologie als unangemessen zur Charakteristik der eigenen Intentionen ablehnt. Der Sache nach bleibt jedoch seine Stellungnahme gegenüber der Hartmannschen Ontologie gleich. Heidegger denkt in der Tat radikaler als Hartmann, insofern er eine Grundlegung der Ontologie fordert. Seine Frage nach dem Sinn von Sein oder aber dem Sein, dem alle Offenbarkeit von Seiendem verdankt wird, denkt von vornherein das Sein als eine »transzendentale« Größe. Dabei spielt es keine Rolle, daß Heideggers Transzendentalphilosophie den Subjektivismus so radikal überwunden hat, daß er im Felde der Fundamentaltheorie gar nicht mehr von Subjekt und Objekt spricht. Sein ist eine transzendentale Größe und ein transzendentales Prinzip, denn es geht darin auf, Offenbarkeit oder Wahrheit zu ermöglichen. »Sich entbergen gehört zum Eigenen des Seins. . . Sein ist nicht zuvor etwas für sich, das dann erst ein Sichentbergen bewerkstelligt.«2®0 Damit denkt Heideggers Frage nach dem Sein in eine Dimension zurück, von der Hartmanns Ontologie nichts weiß. Hartmanns Werk »Zur Grundlegung der Ontologie« enthält keine Uberlegungen, die einer vorontologischen Grundlegung der Ontologie gleichkämen. Daher kann auch seine Polemik gegen Heideggers Frage nach dem »Sinn von Sein« sich gar nicht auf den Gegner einstellen. Die »modifizierte Seinsfrage« ist abwegig, da sie alles Seiende auf den Menschen relativiert. »Gemeint ist nur noch das Seiende, wie es für mich besteht, mir gegeben ist, von mir verstanden ist.« 291 Hartmann kennt nur drei berechtigte Fragen nach dem »Sinn von Sein«: 1. nach der bloßen Wortbedeutung, 2. nach dem logischen Sinn, wobei jedoch Begriffe höchster Allgemeinheit keine Wesensdefinition zulassen, und 3. die nach der Wertbezogenheit des Seins292. Es fehlt in dieser Aufstellung jedoch ganz und gar die spezifisch transzendentale Fragestellung. — Umgekehrt aber kennt auch Heidegger keinen Begriff von Ontologie, der den Intentionen Hartmanns gerecht würde. Hartmanns Ontologie ist weder ontotheologisch und denkt das Sein des Seienden als causa sui293, noch audi ist sie zureichend dadurch gekennzeichnet, daß sie das Seiende vergegenständliche. Hartmanns Ontologie fragt vielmehr nach dem Inbegriff der Seinsprinzipien, die das Seiende in seiner Seiendheit bzw. das Reale in seiner Realität, nicht aber in seiner »Gegenständlichkeit« ermöglichen. 289
Was ist Metaphysik?, Nachwort, S. 39 f.
290
Der Satz vom Grund, S. 120 f.
291
A.a.O., S. 43.
292
Vgl. a.a.O., S. 45 f.; Hartmann fordert hier zugleich die Umkehrung der Frage nadi dem »Sinn von Sein«, ohne zu ahnen, daß eben diese Fragen nach dem »Sinn von Sein« und dem »Sein von Sinn« den geschichtlichen Ausgangspunkt Heideggers in seiner Dissertation und Habilitationsssdirift gebildet haben.
293
Vgl. Identität und Differenz, S. 57.
223
Insofern ist sie bewußt »Ontologie des Diesseitigen« und nicht Metaphysik im Sinne der Traditon 294 . Sie hat aber auch nichts mit der »Offenbarkeit« oder »Verborgenheit« von Sein und Seiendem zu tun. Die Feststellungen: »Dergleichen wie Sein gibt es nur und muß es geben, wo Endlichkeit existent geworden ist« 295 , oder (nach der Kehre): Existenz gibt es nur, insofern Sein sich lichtet, — sind hinsichtlich des Hartmannschen Seinsbegriffs unvollziehbar; denn was das Seiende als solches aufbaut, läßt es nicht zugleich auch »als Seiendes erscheinen«. Was Heidegger »Seinsarten« oder »Kategorien« nennt, sind Arten der Offenbarkeit von Seiendem, nicht aber Seinsprinzipien. Der Hartmannsche Begriff des Seinsprinzips oder der Seinskategorie fehlt in Heideggers Denken ebensosehr, wie bei Hartmann die Idee einer »Geschichte des Seins« sinnlos wird. Ein Ansatz für eine Verständigung in dieser schwierigen Frage, die nur im Rahmen einer Diskussion des Ontologieproblems zureichend expliziert werden könnte, scheint sich allerdings beim späten Hartmann zu eröffnen. Dieser hat — in einer Annäherung an die philosophische Anthropologie — die Verschiebbarkeit der »kategorialen Grundrelation« zwischen Erkenntniskategorien und Seinskategorien gelehrt298. Ob dabei auch eine Auseinandersetzung mit Heidegger eine Rolle gespielt hat, ist vorerst nicht zu belegen, darf jedoch vermutet werden, da für Hartmann Heideggers »Fundamentalontologie« in die Nähe der Anthropologie gehörte. Die »Geschichte der Erkenntniskategorien« stimmt mit der »Geschichte des Seins« darin überein, daß sie sich in anderen zeitlichen Größenordnungen vollzieht als die Geschichte der positiven (ontischen) Erkenntnis und dieser zugrunde liegt. In ihr fallen die Entscheidungen, die erst ein qualitatives und nicht bloß quantitatives Fortschreiten der positiven Erkenntnis ermöglichen. Daß es möglich ist, eine solche Geschichte des Seinsverständnisses zu konzipieren, und dem »Sein« als dem je endlichen Inbegriff des faktischen apriorischen Seinsverständnisses »Geschichtlichkeit« zuzudenken, hat also auch der späte Hartmann anerkannt. — Es bleibt der Unterschied, daß die Geschichtlichkeit des Seinsverständnisses bei Hartmann — trotz der Unterschiedenheit von der Prozessualität der Einzelwissenschaften — eine gerichtete ist. Der Prozeß stellt eine schrittweise »Anpassung« der reinen Seinsbegriffe an die Seinsprinzipien selbst dar. Er besteht, soweit das Denken in der Lage ist, seine Seinsbegriffe zu definieren und zu kritisieren. Hier liegt auch 294
Vgl. W. Weischedel, D i e Zeit der ursprünglichen E r f a h r u n g e n . Z u m Denken zwischen den beiden Weltkriegen; in: W. Weischedel, Wirklichkeit u n d Wirklichkeiten, A u f s ä t z e und Vorträge, I960, S. 89. Vgl. auch: Weg und I r r w e g im abendländischen Denken, a.a.O., S. 17 f f .
295
K a n t und d a s P r o b l e m der Metaphysik, S . 206.
298
Vgl. N e u e Wege der Ontologie; N a t u r p h i l o s o p h i e ; Ziele und Wege der K a t e g o r i a l a n a l y s e ; D i e Erkenntnis im Lichte der O n t o l o g i e (Kl. Sehr. I) u. ö.
224
bei Hartmann die entscheidende Bindung dieses Prozesses an die Geschichte des philosophischen Denkens. Während jedoch Hartmann die Geschichte des Seinsverständnisses — mit Hegel — an die »Mühe des Begriffs« knüpft, so daß sie bei aller Unterschiedenheit von der Geschichte der positiven Erfahrung mit dieser doch den Wissenschaftscharakter teilt, ist für Heidegger die Geschichtlichkeit des »Seins« nicht die der Wissenschaft. Dazu gehört auch, daß sie nicht nur das Fundament der ontischen wissenschaftlichen Erkenntnis ist, sondern allem menschlichen Verhalten zugrunde liegt. Die Geschichte des Seinsverständnisses bedeutet keine Verschiebung auf eine ideale Grenze zu — eine solche kann schon deshalb bei Heidegger nicht gedacht werden, weil dem »Sein« gegenüber dem Seinsverständnis kein Für-Sich-Sein zukommt—, sondern einen Wandel von Sich-Geben und Entzug. Heideggers »Seinsgeschichte« fundiert eben nicht nur die Wissenschaftsgeschichte, sondern die allgemeine Geschichte des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Hier könnte der Ansatz für einen Ausgleich gesucht werden; denn es ist durchaus denkbar, daß die Geschichte des Seinsverständnisses im spezifisch theoretischen Sinne (der »Kategorien des Begreifens«) einem modifizierten Gesetz folgt. Anderseits gilt auch in diesem Bereich die jeweilige Ganzheit des Entwurfs des Horizontes des »Seins«, so daß sich die jeweils endlichen Entwürfe nicht einfach ergänzen, sondern partial ausschließen. Die notwendige Endlichkeit des Seinsverständnisses erlaubt es aber auch, sie vom Sein selbst zu unterscheiden, und diese Differenz ist auch bei Heidegger nicht aufgehoben. Die Entwürfe des Horizontes des Seins folgen nicht beziehungslos aufeinander, entwickeln sich auch nicht nur auseinander, sondern sind Entwürfe eines und desselben Seins, das sich in ihnen »lichtet« und »verbirgt«. Die Idee des einen Seins bleibt vorausgesetzt, um das Seinsverständnis als endliches begreifen zu können, das von Sein selbst »übereignet« ist. Während in dem Felde dieser Problematik Hartmann gleichsam nachträglich an einer »Ubersetzung« der Heideggerschen Geschichte des Seins in die Sprache der eigenen Ontologie gearbeitet zu haben scheint, läßt sich das Verhältnis im Bereich der Erkenntnistheorie mit einem gewissen Recht als ein umgekehrtes betrachten. Hartmanns Gnoseologie spielt innerhalb von »Sein und Zeit« und offenbar auch hinsichtlich der ganzen Konzeption der Heideggerschen Fundamentalontologie eine bedeutsame Rolle. Wo Heidegger gegen die Erkenntnistheorie polemisiert, steht fast überall ungenannt Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« in seinem Blick. Die Uberwindung des Subjektsb'egriffs ist somit fast gänzlich im Gegenschlag gegen Hartmann konzipiert. »Im Sich-richten auf . . . und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ,draußen' bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das 225 15 Brelage
bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem .Draußensein' beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne ^rinnen', d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt. Und wiederum, das Vernehmen des Erkannten ist nicht ein Zurüdkkehren des erfassenden Hinausgehens mit der gewonnenen Beute in das ,Gehäuse' des Bewußtseins, sondern auch im Vernehmen, Bewahren und Behalten bleibt das erkennende Dasein als Dasein draußen. Im ,bloßen' Wissen um einen Seinszusammenhang des Seienden, im ,nur' Vorstellen seiner, im ,lediglich' daran ,Denken' bin ich nicht weniger beim Seienden draußen in der Welt als bei einem originären Erfassen. Selbst das Vergessen von etwas, in dem scheinbar jede Seinsbeziehung zu dem vormals Erkannten ausgelöscht ist, muß als eine Modifikation des ursprünglichen In-Seins begriffen werden, in gleicher Weise alle Täuschung und jeder Irrtum.« Und: »Das Erkennen schafft aber weder allererst ein commercium' des Subjekts mit einer Welt, noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt.«297 Wenn man die Konsequenzen erwägt, die sich aus Heideggers Kritik der weltlosen, isolierten Subjektivität für seine spätere Konzeption der Geschichte der Metaphysik ergeben haben, so kann man die Bedeutung der Frage, in der wir uns zur Zeit bewegen, gar nicht überschätzen. Heideggers Kritik an der Erkenntnistheorie »oder Metaphysik der Erkenntnis«298 steht unter der selbstverständlichen, von ihm nicht überprüften und unter den Bedingungen seines eigenen Ansatzes auch gar nicht überprüfbaren Voraussetzung, daß es sich in der Gnoseologie Hartmanns um die existenzialontologisdie Beschreibung eines bestimmten menschlichen Weltverhaltens handelt. 297
Sein und Zeit, S. 62 (Sperrungeil von H . ) ; vgl. auch S. 6 0 f . : Die Erkenntnistheorie fragt: »Wie kommt dieses erkennende Subjekt aus seiner inneren« Sphäre hinaus in eine »andere und äußere«, wie kann das Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt, ohne daß es den Sprung in eine andere Sphäre zu wagen braucht? Bei diesem vielfach variierenden Ansatz unterbleibt aber durchgängig die Frage nach der Seinsart dieses erkennenden Subjekts, dessen Seinsweise man doch ständig unausgesprochen immer schon im Thema hat, wenn über sein Erkennen gehandelt wird. Zwar hört man jeweils die Versicherung, das Innen und die »innere Sphäre« des Subjekts sei gewiß nicht gedacht wie ein »Kasten« oder ein »Gehäuse«. Was das»Innen« der Immanenz aber positiv bedeutet, darin das Erkennen zunächst eingeschlossen ist, und wie der Seinscharakter dieses »Innenseins« des Erkennens in der Seinsart des Subjekts gründet, darüber herrscht Schweigen. Wie immer aber auch diese Innensphäre ausgelegt werden mag, sofern nur die Frage gestellt wird, wie das Erkennen aus ihr »hinaus« gelange und eine »Transzendenz« gewinne, kommt an den Tag, daß man das Erkennen problematisch findet, ohne zuvor geklärt zu haben, wie und was dieses Erkennen denn überhaupt sei, das solche Rätsel aufgibt.
298
A.a.O., S. 59.
226
Daher wird bei ihm aus dem »Seinsverhältnis« ein »Seinsverhalten«. Daß die spezifisch theoretische Einstellung des Menschen als Verhalten zur Welt fundiert und abkünftig ist, leuchtet ein, wenn man etwa die Haltung der fürsorgenden Teilnahme am Schicksal anderer mit der Haltung eines bloß begaffenden Zuschauers kontrastiert. Aber auch dann, wenn man Hartmanns »Metaphysik der Erkenntnis« nicht als eine unverkürzte Erkenntnistheorie anerkennt, wird man kaum dazu bereit sein, sie als eine Interpretation eines solchen derivativen Weltverhaltens abzutun. Heideggers eigenes Absehen auf eine Theorie existenzialontologischer Fundierungsstufen menschlichen Weltverhaltens hat es ihm unmöglich gemacht, die Problematik der Gnoseologie anders als im Licht der eigenen Fragestellung zu bewerten. Was Hartmann im Auge hat, ist eine Analyse derjenigen Prinzipien der Erkenntnis, die sich der hermeneutischen Aulfassung entziehen, weil sie auch die Hermeneutik noch möglich machen. Diese Frage bleibt sinnvoll und notwendig, auch wenn man davon ausgeht, daß die naive Erzählung des Vorgangs des »Erfassens« hinfällig ist, da Dasein ja »immer schon« bei Seiendem ist. Denn auch gegenüber der immer schon als geschehen vorausgesetzten ursprünglichen Weiterschi ossenheit kann die Frage nicht abgewiesen werden, auf welchen Prinzipien sie beruhe. Wenn diese Fragestellung abgewiesen wird, weil man dahinter nichts als den versteckten Ansatz einer weltlosen Subjektivität zu sehen vermag, so dokumentiert sich darin nur die Grenze eines sich universal setzenden hermeneutischen Philosophierens. Umgekehrt war aber audi Hartmann blind für die gesamte Dimension der Fundamentalontologie und der aus ihr entspringenden Frage nach der Geschichte des Seins, weil er gar nicht auf den Wandel menschlicher Welt- und Selbstauffassung und ihre apriorische Stufenordnung eingestellt war. Die dritte entscheidende Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Hartmann betrifft den Begriff des Daseins bzw. den Menschen und seine Stellung innerhalb der Welt. Heidegger geht es von Anfang an um die ausgezeichnete Seinsart des menschlichen Daseins. Er kämpft — und zwar letztlich aus metaphysisch-religiösen Motiven — gegen eine menschliche Selbstapperzeption als »Stück Lava im Monde«, weil sich der Mensch damit audi gegen die Tiefendimension verschließt, die mitten in ihm selbst aufbrechen kann und soll und die er sich durch sein »Verfallen« an die Welt verstellt299. Dafür spricht auch die Affinität des jungen Heidegger zur mittelalterlichen Mystik und die Bedeutung, die die Phänomenologie der religiösen Erfahrung auf dem Wege zu »Sein und Zeit« gespielt hat. Diese Hinweise sollen Heideggers Fundamentalontolo299
Vgl. noch Heideggers Kritik an der »Flucht ins Objektive«, in: Vom Wesen des Grundes, S. 38 f.
227 15*
gie nicht relativieren, sondern nur die Richtung ihrer Fragestellung gegenüber der Hartmannschen Ontologie des realen Geistes charakterisieren. Wenn Heidegger, vielleicht nicht ohne Anstöße von G. Simmel, den Menschen als das Wesen der Transzendenz definiert, so unterscheidet ihn das fundamental von Hartmanns Philosophie der realen Welt, in die auch der reale Geist eingespannt ist. Heideggers entscheidende Leistung besteht jedoch darin, daß er den ursprünglich religionsphänomenologischen Befunden eine »ontologische« Bedeutung zu geben verstanden hat. Dadurch ist auch seine Frage nach der Seinsverfassung des Menschen von derjenigen einer regionalen Ontologie oder philosophischen Anthropologie unterschieden: »Der Mensch ist dasjenige Seiende, dessen Sein durch das offenstehende Innestehen in der Unverborgenheit des Seins, vom Sein her, im Sein ausgezeichnet ist.«300 Diese Auszeichnung bestimmt auch noch die Art und Weise, in der der Mensch innerhalb der realen Welt »vorkommen« kann. Weil er »sich« immer schon in der Welt »befindet«, kann er in ihr nicht in derselben Weise vorhanden sein wie Tiere, Bäume und Steine. Heidegger leugnet das Vorkommen des Daseins innerhalb der realen Welt nicht, ja seine Fragestellung zielt von vornherein darauf ab, den Nexus zwischen dem In-der-Welt-sein des Daseins und seinem Vorkommen in der einen realen Welt zu bestimmen. Er gelangt jedoch nicht weiter als bis zu der Einsicht, daß das Sein des Menschen inmitten von anderem Seienden auch in der Transzendentalphilosophie nicht übersprungen werden dürfe; denn er lenkt von der ontischen Innerweltlichkeit, die für ihn nur die selbstverständliche und nicht bedachte Voraussetzung ist, wieder in das ontologische In-der-Welt-sein ein. Das hat seinen Grund in seinem spezifischen Ontologie-Begriff. Für eine positive Bestimmung der innerweltlichen Realität des Daseins fehlt ihm der Ansatz einer Ontologie der realen Welt, die nicht transzendentale Ontologie der Realität ist. Heideggers Ontologie bleibt jedoch bis zuletzt transzendentale Ontologie. Realität ist für ihn nur ein Seinsmodus für nicht-daseinsmäßiges-Seiendes, das innerhalb des Welthorizontes des Daseins sich zeigen kann301. Seine Überlegungen zur »Realität« des Daseins selbst betreffen daher immer nur die sekundäre Möglichkeit, daß der Mensch auch sich selbst »als« ein reales Seiendes, und zwar unter Absehen von seiner eigentlichen Seinsverfassung, apperzipieren kann. — Hartmanns Philosophie des realen Geistes hat jedoch gerade das Sein des Daseins innerhalb der realen Welt und nicht eine Hermeneutik des Daseins, das sich als solches innerweltliches Seiende auffaßt, zum Gegenstand. Daß in dieser einen realen Welt das Dasein das ontisch schwächste und zerbrechlichste Wesen ist, das stets von Seinsbedingungen abhängt, die nicht in seiner Macht stehen, weil sie an-sich-seiende, reale Bedingun-
300 301
Was ist Metaphysik?, S. 15. Vgl. Sein und Zeit, S. 230.
228
gen sind, widerstreitet nicht der Einsicht in die Unvergleichlichkeit des Daseins. Nur wenn man die Hartmannsche Philosophie des realen Geistes als eine spezifische Selbstauslegung des Daseins versteht, kann ihre Fundamentalität bestritten werden. Und nur wenn man Heideggers Analytik des Daseins realontologisdi auffaßt, erscheint sie als eine verkappte idealistische Metaphysik. Wenn aber Heideggers Fundamentalon tologie die Vorhandenheit des Daseins in der realen Welt nicht abzuleugnen braucht und auch nicht abzuleugnen vermag, weil sie gar keine Aussagen über die reale Welt in ihrem Ansichsein fällt, — und wenn andererseits Hartmanns Schichtenontologie für die »ontologische« Auszeichnung des realen Geistes zwar nicht selbst die methodischen Handhaben bietet, sie aber auch nicht auszuschließen vermag, so ist nicht einzusehen, warum es fernerhin bei der unfruchtbaren Polemik zwischen beiden bedeutenden Theorien bleiben soll. Die Aufgabe der Zukunft wird vielmehr sein, zu klären, warum und kraft welcher Bedingungen der Mensch nur als ein ontisch in der Welt Seiender ontologisch »In-derWelt-sein« sein kann.
229
C. S C H I L L E R S K R I T I K A N D E R K A N T I S C H E N E T H I K oder Gesetz und Evangelium in der philosophischen Ethik Der Heiige, was er tut, tut nichts nach dem Gebot: Er tut es lauterlich aus Liebe gegen Gott. Für Bös' ist das Gesetz: war kein Gebot geschrieben, Die Frommen würden doch Gott und den Nächsten lieben. (Angelus Silesius) In einer brieflichen Auseinandersetzung mit Fichte, veranlaßt durch Schillers Ablehnung eines von Fidite f ü r die »Hören« eingereichten Beitrages, schrieb Schiller im Jahre 1795 an den Philosophen: »Was nach 10 Jahren geschehen wird, weiß ich zwar nicht; ich zweifele aber nicht im geringsten, daß, wenn Sie, wie zu hoffen, alsdann noch leben, noch lehren und noch schreiben, Sie d a f ü r sorgen werden, Ihre Philosophie und Ihr Individuum bei Zuhörern und Lesern im Andenken zu erhalten; ich hingegen, wie zu vermuten ist, alsdann weder mehr lehre, noch mehr schreibe, mit meiner Philosophie so still wie jetzt durch das Publikum gehen werde. D a ß aber in 100 oder 200 Jahren, wenn neue Revolutionen über das philosophische Denken ergangen sind, Ihre Schriften zwar zitiert und ihrem Wert nach geschätzt, aber nicht mehr gelesen werden, dies liegt ebenso sehr in der N a t u r der Sache, als es darin liegt, daß die meinigen (von denen, versteht sich, welchen sie zufällig in die Hände fallen, denn darüber entscheidet die Mode und das Glück) alsdann zwar nicht mehr aber gewiß auch nicht weniger denn jetzt gelesen werden. Und woher möchte dieses kommen? Daher, weil Schriften, deren Wert nur in den Resultaten liegt, die sie f ü r den Verstand enthalten, auch wenn sie hierin noch so vorzüglich wären, in demselben Maße entbehrlich werden, als der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird, oder auf einem leichteren Wege dazu gelangen kann: dahingegen Schriften, die einen von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen, und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden, und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig, und mithin auch unersetzlich ist.« So prophetisch uns diese Briefstelle heute zu sein scheint, so sehr bezeichnet sie doch nur einen der Gründe, auf denen die besondere Be230
deutung und Wirkung von Schillers philosophischen Schriften beruht, — daß sie nämlich über ihren philosophischen Gehalt hinaus den Wert von Zeugnissen des Selbstverständnisses eines Mannes besitzen, der durch seinen Rang als Dichter einen unverlierbaren Platz in der Geschichte unseres Geistes beanspruchen darf und für mehr als ein Jahrhundert unser Bild vom Menschen und seiner Stellung in der Welt bestimmt hat. Aber dieser Grund allein vermag nicht zu erklären, warum sie diesen ausgezeichneten Platz in der Gesdiichte unseres Denkens haben einnehmen können, der ihnen von jeher eingeräumt worden ist. Hierfür ist nicht der außerordentliche philosophische Rang dieser Schriften entscheidend, deren methodische Mängel offen genug zutage liegen, aber auch nicht allein ihr Charakter eines dichterischen Selbstzeugnisses, sondern die einzigartige Stelle, an der sie innerhalb der Geschichte stehen. In mehr als einem Sinne stehen sie nämlich auf einer Grenzscheide, und dieser geschichtliche Ort ist es, der auch die Philosophiehistorie immer wieder zu ihnen zurückkehren läßt. Wie so oft in der Geschichte sind jedoch die Voraussetzungen, auf denen die Wirksamkeit dieser Gedanken beruhte, in ihrer Wirkungsgeschichte selbst verborgen geblieben. Hundert Jahre nach der zitierten Voraussage stand die Schillerverehrung in Deutschland in voller Blüte. D a s Bildungsbürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts erblickte in Schiller seinen Dichter, wie es in Kant seinen Denker sah, beide geeint durch die Uberzeugung von der Heiligkeit der Pflicht und der Bestimmung des Menschen zur Freiheit, zur unendlich fortschreitenden Entfaltung des Wahren, Guten und Schönen im Progreß der Kultur 302 . Damals, im Zeichen der Kant-Renaissance, waren die mannigfachen Untersuchungen der philosophischen Schriften Schillers auf den Grundtenor gestimmt, die Ubereinstimmung des Dichters mit dem Denker in den grundsätzlichen philosphischen Schriften zu erweisen. D a im Zentrum dieser Kant-Renaissance neben der wissenschaftstheoretischen Auswertung seiner »Kritik der reinen Vernunft« die Lehre vom »Primat der praktischen Vernunft« stand, kam der Schillerschen Kritik an der Kantischen Ethik, die er in seiner Abhandlung »Uber Anmut und Würde« mit Vehemenz vorgetragen hatte, für das Urteil über den »Kantianismus« Schillers der Charakter eines Prüfsteins zu. Das Ergebnis der damaligen Interpretationen lautete im großen und ganzen, Schiller stimme mit Kant in den Grundlagen der Ethik überein; seine Kritik ziele nur auf eine psychologisch oder anthropologisch begründete 3IK
N a c h Eugen K ü h n e m a n n , um nur eine S t i m m e zu zitieren, handelt es sich bei Schiller „ u m einen G r u n d p f e i l e r unserer nationalen K u l t u r , j a im p o p u l ä r e n Sinne um die eigentliche G m n d t a t s a c h e , auf der d a s G e b ä u d e unserer allgemeinen deutschen Bildung beruht" (Einleitung zu „Schillers philos. Schriften u. Gedichte", 2. A . 1910, S. 6).
231
»ästhetische« Milderung oder Ergänzung des von Kant vertretenen moralischen Rigorismus 303 . Wesentlich verändert stellte sich die Situation weitere 50 Jahre später dar. Mit dem Schwinden der geistesgeschichtlichen und philosophischen Voraussetzungen jener Harmonisierungsversuche änderte sich auch das Urteil über den Denker Schiller und seine Stellung in der Geschichte der Philosophie. Das gleiche Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, das durch, die bahnbrechenden Forschungen Heimsoeths, Wundts und Heideggers eine neue Auffassung der Kantischen Philosophie und ihres Verhältnisses zur philosophischen Tradition inaugurierte, brachte auch die Voraussetzungen der bisherigen Schiller-Interpretation ins Wanken. In eben dem Maße, in dem Kants Philosophie in die Tradition der abendländischen Metaphysik eingestellt wurde, rückten Kant und Schiller auseinander, und wurde sichtbar, daß dieser bereits einer neuen Epoche angehört 301 . Zugleich geriet Schiller in die Schußlinie der Kritik am deutschen Idealismus, mit der die dialektische Theologie die Selbstkritik am liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts vollzog. Mag die Bedeutung, die Schillers philosophische Schriften für die Genese des deutschen Idealismus und der Romantik, vor allem für die gedankliche Entwicklung Schellings, Hölderlins und Hegels gehabt haben, heute auch unbestritten sein, so bleibt doch die Frage auch heute noch offen, auf Grund welcher Bedingungen sie diesen Einfluß auszuüben vermochten. Die folgenden Ausführungen sollen der philosophiehistorischen Aufgabe, Schillers Stellung in der Geschichte der Philosophie genauer zu bestimmen, dienen, indem sie den bislang verborgenen geistesgeschichtlichen Hintergrund der Schillerschen Kritik an der Kantischen Ethik zu erhellen versuchen. Sie verzichten auf eine systematische Stellungnahme zu dem Streit, sofern dieser eine unmittelbare Entscheidung heute noch zuläßt, wie auch auf eine eingehende Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur. Ihr einziges Ziel ist es, die Interpretation dieser klassischen Kontroverse unserer Philosophiegeschichte durch den Aufweis desjenigen Horizontes zu bereichern, innerhalb dessen erst der Schillersche Angriff auf Kants ethische Position in seinem vollen Gehalt greifbar werden kann. 303
3U4
Aus der umfangreichen Literatur dieser Zeit zu unserem Thema vgl. vor allem: Friedrich Ueberweg, Schiller als Historiker und Philosoph, hg. v. M. Brasdi, 1884; Eugen Kühnemann, Schiller, 6. A. 1920; Karl Vorländer, Kant-Schiller-Goethe, 2 . A . 1923; Wilhelm Windelband, Schillers transzendentaler Idealismus, in: K a n t Studien 10, 1904, S. 398 ff.; Bruno Bauch, Schiller und die Idee der Freiheit, eb. S. 346 ff. Vgl. etwa Johannes Hoffmeister, Die Heimkehr des Geistes. Studien zur Dichtung und Philosophie der Goethezeit. 1946; Georg Lukäcs, Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, 1954.
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I In den bisherigen Interpretationen dieser Kant-Kritik stand, unabhängig von ihrem Ergebnis, das Problem des Verhältnisses von »Pflicht und Neigung« im Zentrum der Erörterung. Das hatte seine Berechtigung, insofern diese TitelbegrifFe auch in der Polemik Schillers gegen Kant eine ausgezeichnete Rolle spielen und sich an ihnen am unmittelbarsten eine Gegenüberstellung der Kontrahenten herbeiführen läßt. Gleichwohl aber geht Schillers Kritik an der Kantischen Ethik nicht nur nicht in dem durch diese Termini bezeichneten Problem auf, sondern diese Problematik wird selbst von einer anderen umgriffen und getragen, die erst den Grund für die Divergenz der beiden Positionen enthält. Es empfiehlt sich, wenigstens die beiden Hauptpunkte der Schillerschen Kant-Kritik, die Kritik am Kantischen Rigorismus und an der Imperativischen Form des Sittengesetzes, vorauszuschicken, und auch bereits im Anschluß daran die Position Kants zu skizzieren, damit die Fronten klar erkennbar werden: 1. Schillers Kritik am Kantischen »Rigorismus« geht von einer vermeintlichen Basis gemeinsamer ethischer Grundüberzeugungen aus. Mit Kant glaubt sich Schiller darin einig sein zu dürfen, daß Moralität Gehorsam gegen die Vernunft bedeutet und daß sie im Falle eines Konfliktes zwischen Pflicht und Neigung die Unterordnung der Neigung unter die Forderung der Pflicht zur Bedingung der reinen Moralität macht. Er verwahrt sich jedoch dagegen, daß Kant Pflicht und Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit, in eine strenge und durchgängige Entgegensetzung gebracht habe, durch die unsere Neigungen im Sittlichen »immer nur« als unterdrückte, »nie aber« als »mitwirkende« Partei erscheinen. Am schärfsten hat Schiller diesen Vorwurf in den beiden Distichen »Gewissensskrupel« und »Entscheidung« formuliert, die diesen Rigorismus in seinen Konsequenzen ironisch ad absurdum führen. »Gerne dien ich den Freunden, / doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« »Da ist kein anderer Rat! Du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann / tun wie die Pflicht dir gebeut.« Hier ist also die Quintessenz des moralischen Rigorismus herausgestellt, daß sittliches Verhalten nur dort vorliegt, wo der Mensch das moralisch Gebotene gegen seine Neigungen ausführt, ja, daß der moralische Wert seiner Handlungen eben von diesem Punkte abhängt. Schiller ist sich zwar darüber im klaren, daß diese Konsequenz nicht im Geiste der Kantischen Ethik liegt; aber ihrem Buchstaben nach scheint sie ihm doch einen Hang zu moralischer Asketik dadurch zu fördern, daß sie von einer »Entgegensetzung« von \7ernunft und Sinnlichkeit ausgeht, zwischen denen der menschliche Wille seine Entscheidung zu treffen habe. Es genügt Schiller auch schon zur Rechtfertigung seines Vorwurfs, 233
daß Kant nicht nur jegliche Mitsprache der Neigungen bei der sittlichen Gesetzgebung, sondern auch ihre Mitwirkung bei der Ausübung der Pflicht radikal ausgeschlossen habe. 2. Der zweite Punkt der Kritik betrifft die Imperativische Form des Sittengesetzes, dies also, daß es sich stets in der Form eines Gebotes, einer Forderung, an den Menschen wendet, ihm gebietend und verbietend entgegentritt. Diese Imperativische Form legt es nach Schiller nahe, das Sittengesetz als ein fremdes und »positives« anzusehen, das der Mensch sich nicht durch seine eigene Vernunft selbst auferlegt, sondern das ihn von außen regiert. Die Folge davon muß sein, daß er diesem Gesetz mehr mit »Furcht« als mit »Zuversicht« gehorcht. Weil die Imperativische Form des Gesetzes die Menschheit in uns anklagt und erniedrigt, ist eine solche Ethik nur für die »Knechte«, nicht aber für die »Kinder des Hauses« gemacht. Die »wegwerfende Formel« des Imperativs ist nach Schiller nur solange gerechtfertigt, als der Mensch noch dem sittlichen Gesetz Widerstand leistet, d. h. solange der Mensch sich selbst im Zustande der Entzweiung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, (seiner) Pflicht und (seiner) Neigung befindet. Beide Punkte der Kritik weisen kompositorisch und sachlich die gleiche methodische Struktur auf: Sie bestreiten nämlich die Grundlagen der Kantischen Ethik nicht, restringieren sie aber auf einen Teilbereich des moralischen Feldes. Sie bestreiten, daß die Ethik, so wie sie von Kant dargestellt wird, durchgängige und universale Geltung für das gesamte sittliche Verhalten des Menschen habe. Schillers Kritik verweist daher gleichzeitig auf einen Bereich der Sittlichkeit, der durch die Ethik Kants nicht erfaßt zu werden vermag, der sich jedenfalls mit ihren Mitteln nicht zur begrifflichen Darstellung bringen läßt. Aber Schillers Kritik restringiert nicht nur die Geltung der Kantischen Moralphilosophie und erschließt neben ihr einen neuen Bereich sittlicher Phänomene, sondern die quantitative Erweiterung läßt sich überhaupt nur auf Grund einer Revision ihrer Grundlagen vornehmen. (Ausgeschlossen, sie als zwei Existenzideale nebeneinanderzustellen.) Daß diese Korrektur Kants die Grundlagen Kants tangiert, ist von Schiller selbst verkannt worden. Als Gegenbild desjenigen Ethos, dem in Schillers Augen die Form der Kantischen Moralphilosophie allein angemessen ist, entwirft er das Ethos der »schönen Seele«, das nicht nur gleichberechtigt neben jenem steht, sondern erst die wahre sittliche Vollkommenheit des Menschen bedeutet. Bei dieser schönen Seele steht die Neigung nicht mehr im Gegensatz zur Pflicht, sondern ist die gesamte sinnliche Natur des Menschen so sehr in eine Art prästabilierter Harmonie mit seiner praktischen Vernunft getreten, daß sich der Mensch seinem sinnlichen Triebe mit einer gewissen Sicherheit anvertrauen kann. Die Harmonie von sinnlichem Trieb und Vernunft hat zur Folge, daß der Mensch seine Pflicht mit einer Leichtigkeit zu erfüllen vermag, als ob nur der Instinkt aus 234
ihm handelte. Weil sich seine Natur in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz befindet, verliert dies den Charakter des Imperativs und der Nötigung. Schillers Lehre von der »schönen Seele« gehört mit in seine Kritik an der Kantischen Ethik; denn er entwickelt sie unter der Voraussetzung, daß diese Form der »schönen Moralität« in Kants Moralphilosophie nicht berücksichtigt werde. Das ist allerdings richtig; es läßt sich jedoch leicht zeigen, daß diese eine Einschränkung und Ergänzung in der Form, wie sie von Schiller nahegelegt wird, auf Grund ihres gesamten Grundansatzes ausschließt. Wir entwickeln daher hier kurz die Kantische Position, um die Vorstellung abzuwehren, als handele es sich bei der Kritik Schillers nur um eine quantitative Erweiterung des ethischen Blickfeldes, und um unsere Aufmerksamkeit für die tiefer liegenden Divergenzen zu schärfen. Kants Ethik fragt nach den Bedingungen, denen das Wollen des Menschen genügen muß, wenn es gut, d. h. moralisch gültig sein soll. Die erste Bedingung dafür ist, daß die gewollte Handlung der Pflicht gemäß ist. Pflichtgemäß aber ist eine Handlung, die — nach dem Kriterium, das der »kategorische Imperativ« formuliert — strenge Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann. Eine solche Handlung ist durch die praktische Vernunft, und allein durch sie, für vernünftige Wesen überhaupt, geboten. Aber diese Ubereinstimmung der Handlung mit der vernünftigen sittlichen Einsicht gewährleistet erst die Legalität einer Handlung, nicht schon ihre Moralität. Soll sie zugleich moralisch gut sein, so muß sie nicht nur pflichtmäßig sein, sondern »aus Pflicht« vollzogen werden, d. h. aus keinem anderen Grunde, als weil sie von der praktischen Vernunft geboten ist. Diese einzige wirkliche moralische Triebfeder nennt Kant die »Achtung vor dem Sittengesetz«. Daß er bei einer moralisch guten, nicht nur legalen Handlung jede andere Triebfeder als diese Achtung ausschließt, ist auch der einzige Sinn desjenigen Rigorismus, zu dem Kant sich selbst bekennt. Dieser fordert also nur, daß der Mensch, der auf Moralität seines Wollens Anspruch erhebt, seine Pflicht ohne Rücksicht auf seine Neigungen (nicht aber gegen sie!) erfüllen solle. Für eine rigoristische Forderung, die die Moralität einer Handlung an die zufällige Tatsache einer widerstreitenden und konkurrierenden Neigung bindet, lassen sich bei Kant keine Belege aufweisen. Kant verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß der Unterschied von Pflicht und Neigung bereits ihre »Entgegensetzung« einschließe. Daher tangiert auch die zufällige Ubereinstimmung der Neigung mit der Pflicht die Moralität einer aus Pflicht vollzogenen Handlung nicht. Sie beweist nichts gegen deren Moralität, solange die Neigung nicht den Bestimmungsgrund des Willens abgibt. Dieser strenge Rigorismus der moralischen Triebfedern, der nur eine Alternative zwischen einer aus Pflicht oder aus Neigung vollzogenen 235
Handlung, nicht aber einen indifferenten Zwischenzustand oder eine Kooperation zwischen beiden kennt, bewahrt Kant gerade vor der Gefahr desjenigen Rigorismus, den Schiller ihm unterstellt. — Wenn Kant gleichwohl den Fall einer aus Pflicht unter Abbruch der Neigungen vollzogenen Handlung auszeichnet, so nicht, weil durch die Uberwindung der Neigung die Moralität verbürgt oder auch nur erhöht werden könnte, sondern allein, weil dieser Fall uns die Erkenntnis der vorliegenden Triebfedern erleichtert. Kant sieht also nicht, wie Schiller unterstellt, die Neigung »lieber im Krieg als im Einverständnis mit dem Vernunftgesetze«, da es im Rahmen seiner ethischen Systematik für ihren moralischen Wert gleichgültig ist, ob eine vernünftige Willensbestimmung gegen oder in Ubereinstimmung mit der Neigung erfolgt. Ausgeschlossen ist auf dem Boden der Kantischen Ethik auch eine Relativierung der Imperativischen Form des Sittengesetzes für den Menschen. So wie es einerseits unbedingte Geltung für den Menschen hat, weil dieser über einen vernünftigen Willen verfügt, so hat es zugleich durchgängig und unaufhebbar den Charakter des Gebotes oder Imperativs, weil der menschliche Vernunftwille ein endlicher und geschöpflicher (oder wie Kant im Unterschied zum göttlichen Vernunftwillen definiert) »unheiliger« Wille ist. Nur für einen heiligen Willen kann das Gesetz den Charakter des Gebots verlieren; für die Stellung des Menschen ist es hingegen konstitutiv, daß das Gesetz zugleich Gebot ist. Aus diesem Grunde ist für Kant Schillers Lehre von der »schönen Seele«, sofern sie einen dem Menschen möglichen moralischen Zustand beschreiben soll, moralische Schwärmerei, die ihre Wurzel in Religionsschwärmerei hat; es ist unserer Stellung als Menschen unter endlichen geschöpflichen Wesen nicht angemessen, »wenn wir uns anmaßen, gleichsam als Volontäre, uns mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen, und als vom Gebote unabhängig, bloß aus eigener Lust das tun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nötig wäre.« Ein moralischer Zustand, in dem »Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie« kommen, gilt für Kant allein für das Reich Gottes, in das der Mensch jedoch nicht durch eigene Kraft, sondern durch einen eigenen Urheber gelangen kann. II Mit dieser direkten Gegenüberstellung ist über das sachliche Recht der Schillerschen Kantkritik nichts entschieden, aber es ist die Vorstellung abgewiesen, als ließe sich das Schillersche Ethos von der schönen Seele ergänzend der Kantischen Ethik hinzufügen, ohne zuvor deren gesamte Grundlagen aufzuheben. Nun hat aber Schiller selbst offenbar vorausgesetzt, daß seine eigenen moralphilosophischen Einsichten mit dem Geist, wenngleich nicht dem Buchstaben der Kantischen Ethik verträg236
lieh seien. (Die Interpreten, die das Verhältnis Schiller — Kant in diesem Sinne bestimmten, folgten nur seiner Selbstinterpretation.) Wenn es sich dabei um ein Mißverständnis gehandelt hat, so wird aufzuweisen sein, wie es zu diesem Mißverständnis hat kommen können, d. h. wo seine Wurzeln innerhalb der ethischen Grundvorstellungen Schillers liegen. Schillers eigene Ethik weicht bereits in ihrem Grundansatz von derjenigen Kants ab, obwohl sie sich weitgehend der Kantischen Terminologie bedient. Ja, diese gemeinsame Terminologie dürfte auch einer der Gründe dafür sein, daß Schiller selbst sich über die grundsätzliche Tragweite seiner Abweichung von Kant keine Rechenschaft zu geben vermochte. Bei gleicher Terminologie liegt der Schillerschen Ethik schon in ihrem Ansatz eine Auffassung vom Wesen und der Bestimmung des Menschen zugrunde, die von derjenigen Kants entscheidend abweicht. Schiller begreift nämlich den Menschen nicht primär als endliches Vernunftwesen, sondern als ein Wesen, das eine sinnlich-geistige Doppelnatur in sich vereinigt. Aus dieser sinnlich-geistigen Doppelnatur leitet Schiller die drei überhaupt möglichen Weisen ab, in denen sich der Mensch zu sich selbst, d. h. sein sinnlicher Teil zu seinem vernünftigen sich verhalten kann: Er kann 1. die Vernunft der Sinnlichkeit überantworten, 2. die Sinnlichkeit der Vernunft unterordnen und 3. die Einheit und Ganzheit seiner beiden Naturen in sich herstellen. Im ersten Falle folgt er bloß der Naturnotwendigkeit; im zweiten »unterdrückt er die Forderungen seiner sinnlichen Natur, um sich den höheren Forderungen seiner vernünftigen gemäß zu verhalten«, und nur im dritten Falle ist der Mensch »einig mit sich selbst«. Von diesen drei Möglichkeiten wird die Unterordnung der Vernunft unter die Sinnlichkeit von vornherein als Unmoralität aus dem Kreis der Moralität ausgeschlossen. Sie widerspricht der spezifisch menschlichen Bestimmung. Daher bleiben zwei positive Weisen der Moralität, die Schiller als »reine« und »schöne« Moralität voneinander unterscheidet. Hinsichtlich jener reinen Moralität glaubt sich Schiller in Ubereinstimmung mit Kant; durch den Begriff der schönen Moralität glaubt er diesen ergänzen zu können. Wie steht es mit der vorausgesetzten Ubereinstimmung Schillers mit Kant hinsichtlich der reinen Moralität? Ist Kants Moralphilosophie wirklich in diesem Sinne eine Theorie der »reinen Moralität«? Es läßt sich zeigen, daß der Begriff der reinen Moralität von Schiller Kant unterschoben worden ist und daß gerade Schillers eigener Begriff von reiner Moralität diejenigen rigoristischen Züge aufweist, die er an der Kantischen Ethik tadelt. Schiller vermag nämlich von seinen eigenen Voraussetzungen her den Gehalt der Kantischen Moralphilosophie nicht anders zu begreifen, denn als eine Beschreibung des Phänomens der reinen Moralität, der er selbst zu ihrer Ergänzung die 237
schöne Moralität zugesellt hat. Es ist also das proton pseudos der Schillerschen Kantkritik, daß er seinen eigenen Begriff der reinen Moralität Kant unterschiebt und daher in der Kritik des vermeintlich Kantischen Rigorismus im Grunde eine Selbstkritik und Selbstkorrektur ausübt. Für die von Schiller sog. reine Moralität ist es (im Gegensatz zu Kants Bestimmungen) entscheidend, daß in ihr der Wille aus dem Kampf zwischen Pflicht und Neigung siegreich hervorgegangen ist. Schiller definiert daher: »Rein-moralisch (aber auch nicht mehr)« ist eine Handlung, wenn sie »gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung für das Gesetz unternommen wurde«. Zur reinen Moralität gehört also notwendig ein »gesetzlicher Drudk«, eine »Gewalt, welche die praktische Vernunft gegen unsere Triebe ausübt«, kurz, eine Entgegensetzung von Pflicht und Neigung. Er selbst ist also (wenigstens partial, hinsichtlich der einen Komponente seines Bewußtseins von Moralität) der Rigorist, dem es nicht gelingt, die »reine« Moralität einer Handlung anders als aus dem Gegensatz von Pflicht und Neigung zu bestimmen. Was seinen eigenen Rigorismus allein von demjenigen unterscheidet, den er auch in Kant zu entdecken glaubt, ist nur die Einschränkung dieser rigiden Moralität auf eine, und zwar nicht die höchste Weise moralischen Verhaltens. Der Ursprung dieses Teils der Schillerschen Morallehre ist jedoch nicht in der Kantischen Philosophie zu suchen, obwohl man sie leicht für genuin Kantisch halten könnte und auch immer wieder dafür gehalten hat. In Wahrheit versteht Schiller die Kantische Morallehre als Ausdruck des ihm von Jugend auf geläufigen Ethos einer Pflichterfüllung um der Pflicht willen, dem etwa sein Lehrer Abel in einem Römer-Drama in Schillers Anthologie aus dem Jahre 1782 folgenden Ausdrude verliehen hatte: »Unsere Natur erscheint niemals in höherer Würde, als wenn wir einer sehr geliebten Leidenschaft entsagen, oder einem sehr heftig uns peinigenden Schmerze uns unterwerfen, bloß, weil Pflicht dieses gebietet.« Diese heroische Moralauffassung, die man so leicht mit dem Geist der Kantischen Ethik zu verwechseln geneigt ist, weist über die Popularphilosophie der Aufklärung zurück auf die Erneuerung der stoischen Tugend lehre im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die in der Barockdramatik Corneilles beispielhaft dargestellt wurde. Es ist daher kein Zufall, daß auch Schiller seine Beispiele für die reine Moralität mit Vorliebe aus Plutarch wählt. Der letzte sachliche Grund für die Rigidität dieser reinen Moralität ist jedoch die Bestimmung des Verhältnisses des freien Willens zur Vernunft. Während für Kant der freie Wille und die praktische Vernunft wechselweise aufeinander verweisen, wird bei Schiller der menschliche Wille unabhängig von seiner Bezogenheit auf die praktische Vernunft zu einem erhabenen Prinzip. Der Wille als Prinzip menschlicher Selbstbestimmung steht frei zwischen den Forderungen der Vernunft und des Triebes. Daher erhält er auch unabhängig von der Bedingung seiner 238
Ubereinstimmung mit der praktischen Vernunft einen unbedingten Wert. Umgekehrt aber wird die praktische Vernunft in ihrer Isolation vom freien Willen zu einem bloßen »Vermögen moralischer Vorschriften«. So wird verständlich, warum Schiller sein Bekenntnis zu Kants Ethik nicht in eine Zustimmung zu dessen kategorischem Imperativ kleidet, sondern die Quintessenz der Kantischen Moral philosophie in der lapidaren Aufforderung erblickt: »Bestimme dich aus dir selbst.« Reine Moralität stellt in den Augen Schillers einen Höchstwert moralischen Verhaltens dar, eines solchen nämlich, bei dem der menschliche Wille die natürlichen Triebe unbedingt und gegen ihren Widerstand der Vernunft unterordnet. Insofern kann es für Schiller auch kein moralisches Übertreffen der Pflicht geben; wohl aber gibt es für ihn ein ästhetisches Ubertreffen der Pflicht. Schiller nennt diese höhere Form der Sittlichkeit schöne Moralität, weil er aus der ihm vorgegebenen Kantischen Systematik keinen anderen Ausdruck für die dem Menschen aufgegebene harmonische Ubereinstimmung von Vernunft und Sinnlichkeit kennt als den Begriff des Ästhetischen. Dieser tritt überall dort ein, wo es um die Harmonie des Menschen in seiner sinnlich-geistigen Doppelnatur geht. Für Schiller ist also das Ästhetische nicht primär ein kunstphilosophisches, sondern ein universales anthropologisches Prinzip. Weil der Mensch seiner Natur und seiner Bestimmung nach ästhetisch ist, und Harmonie, Totalität und freies ungezwungenes Zusammenspiel aller seiner Kräfte seine Herkunft und Zukunft bestimmen, darum kann auch die Kunst ihm sein eigenes verlorenes und zugleich aufgegebenes Wesen widerspiegeln und ein Mittel seiner ästhetischen Erziehung sein. Wie Schiller den Wert der reinen Moralität aus der Forderung der menschlichen Selbstbestimmung ableitet, so bestimmt er den Wert der schönen Moralität von der Aufgabe her, die dem Menschen auf Grund seiner sinnlich-geistigen Doppelnatur gestellt ist. »Dadurch schon, daß sie ihn zum vernünftig sinnlichen Wesen, d. i. zum Menschen machte, kündigte ihm die Natur die Verpflichtung an, nicht zu trennen, was sie verbunden hat, auch in den reinsten Äußerungen seines göttlichen Teiles den sinnlichen nicht hinter sich zu lassen und den Triumph des einen nicht auf Unterdrückung des anderen zu gründen.« Diese schöne Moralität bedeutet erst die wahrhafte sittliche Vollkommenheit des Menschen. In ihr entfällt sowohl der moralische Zwang, der mit der reinen Moralität verbunden ist, als auch die Imperativische Form des Sittengesetzes. Aber diese Forderung bedingungsloser Unterordnung der Neigung unter die Pflicht ist gleichwohl restringiert auf eine bestimmte Situation, die Schiller in mancherlei Weise (geschichtsphilosophisch, soziologisch und psychologisch) expliziert. Nur dort muß nämlich der Widerstand der Neigungen gebrochen werden, wo sich, überhaupt ein solcher Widerstand erhebt, d. h. wo die natürliche Harmonie der »tierischen« und
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»geistigen« Natur des Menschen sich aufgelöst hat, und die Emanzipation der einzelnen Triebe vom vorgängigen Ganzen eingetreten ist. Geschichtsphilosophisch gilt dieser Zerfall der Harmonie in einen Antagonismus der Kräfte von der gesamten postlapsarischen Geschichte, mit der einen wundersamen Ausnahme der griechischen Antike, in besonderem Maße aber von der Gegenwart, in der die Französische Revolution diesen Zerfall paradigmatisch anzeigt. Soziologisch ist die reine Moralität eine Funktion der Auflösung jener Ubereinstimmung des Einzelnen mit dem Staat, für die die griechische Polis das zum Ereignis gewordene Ideal darstellt. Psychologisch repräsentiert sie sich in dem erhabenen Charakter, den Schiller aus dem Gegensatz zur schönen Seele bestimmt. Aber diese geschichtliche, soziologische und psychologische Charakteristik greift nicht nur bei Schiller überall ineinander — es ist vielmehr offenbar so, daß sie überall von einem verborgenen Grundentwurf bestimmt ist, der der dreifachen Explikation zugrunde liegt und ihre Konvergenz erst ermöglicht; und dieser Grundentwurf findet seine theologische Entsprechung in dem paulinisch-lutherischen Bilde des postlapsarischen Menschen sub lege, so wie sich uns als der Grundentwurf der schönen Sittlichkeit der Mensch sub gratia erweisen wird. Unter der Bedingung des Antagonismus der Triebe gilt die Forderung der Unterordnung der Neigungen unter das Gebot der Pflicht unbedingt. Wenn in dem Phänomen, das Schillers Theorie der schönen Moralität zu fassen sucht, der Gebotscharakter des Gesetzes aufgehoben ist, so bedeutet das nicht eine Aufhebung des Sittengesetzes selbst. Vielmehr ändert sich nur die Form der Erfüllung des Gesetzes. An die Stelle des Zwanges, mit dem der Wille den sinnlichen Trieb der Vernunft unterwirft, tritt das freie Zusammenspiel des Triebes mit der Vernunft. »Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie (die schöne Seele) der Menschheit peinlichste Pflichten aus.« Zu dieser instinkthaften Sicherheit gehört zugleich die Freiheit von Grundsätzen und Regeln, d. h. daß in ihr (wie im Felde der ästhetischen Freiheit) »die Gesetze, nach denen das Gemüt dabei verfährt, nicht vorgestellt werden«. Zur moralischen Schönheit gehört daher auch die Selbstvergessenheit und Unreflektiertheit des Handelns, das es nicht nötig hat, sich »jedesmal erst vor dem Grundsatze der Moral abzuhören«. Und schließlich hört bei der schönen Seele die einzelne Handlung auf, verdienstlich zu sein, weil sie wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur aus dem ganzen sittlichen Charakter fließt. Damit aber hat der Mensch seine sittlidie Vollkommenheit erreicht, denn: »der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittlidie Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein«! Die Freiheit der schönen Seele ist also nicht die reinmoralische Freiheit des Willens, der sich seiner unbedingten Überlegenheit über die
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Natur versichert, sondern derjenige »Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst«, in dem die Entgegensetzung von Sollen und Wollen in ein befreiendes Können aufgehoben ist. Wahre Freiheit ist »diejenige Gemütsverfassung des Menschen, wodurch er am fähigsten wird, seine Bestimmung als moralische Person zu erfüllen«. III Während sich für Schillers Beschreibung der reinen Moralität wenigstens einige Anhaltspunkte in Kants Moralphilosophie auffinden ließen, konnte Schiller seine Lehre von der schönen Moralität nur mit Hilfe der anthropologisch umfundierten Kantischen Ästhetik entwickeln. Ihr Gehalt hingegen findet wiederum seine Kantische Entsprechung weder hier noch dort, sondern allein in denjenigen Partien Kants, die den Begriff eines »heiligen« Willens entwickeln. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Partien der »Kritik der praktischen Vernunft« und der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (welch letztere Schiller unmittelbar vor der Konzeption der Abhandlung über »Anmut und Würde« studierte), den Dichter bei seiner Antithese von reiner und schöner Moralität motiviert haben. In Wahrheit dürfte jedoch der gesamte Gegensatz von reiner und schöner Moralität, erhabener und schöner Seele, auf einem anderen Boden als dem der Kantischen Moralphilosophie, ja der Kantischen Philosophie überhaupt gewachsen sein. Man hat bislang gerade für Schillers Begriff der schönen Seele und der schönen Sittlichkeit auf den Einfluß Shaftesburys und der ästhetisch gestimmten Humanitätsbewegung (Wieland etc.) verwiesen. Aber abgesehen davon, daß sich der Begriff der schönen Seele bei Shaftesbury nicht, wohl aber bei Schiller bereits zu einer Zeit nachweisen läßt, als er Shaftesbury noch nicht kennengelernt hatte, vermag eine solche literargeschichtliche Motivation nicht die Tiefe und den Beziehungsreichtum zu erklären, den das Ideal einer solchen schönen Moralität im Denken Schillers gewonnen hat. Wer sich nach einer zureichenden Motivation umsieht, braucht sich jedoch gar nicht nach entlegenen literarischen Quellen umzusehen, sondern braucht sich nur von der Sprache Schillers leiten zu lassen, die seiner Kritik an der Kantischen Ethik ihre eigentümliche Kraft verleiht, um auf den rechten Weg geführt zu werden. Schiller spricht nämlich in ihr die Sprache der Luther-Bibel, wenn er von den »Knechten« und den »Kindern des Hauses«, von »Furcht« und »Zuversicht«, vom »Baum« und seinen »Früchten« spricht. Und nicht zufällig bedient sich Schiller in seiner Kant-Kritik dieser spezifisch christlichen Topoi; die Entgegensetzung von »Knechten« und »Kindern des Hauses«, von »Furcht« und »Zuversicht«, »Gesetz« und »Freiheit« verweist zugleich auf den geistigen Quellgrund seiner Aus241 16
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einandersetzung. Alle diese Topoi haben nämlich ihren theologischen Ort innerhalb des Themas von Gesetz und Evangelium, Gesetz und Gnade, dem Zentralstück des protestantischen Christentums. Dieser sogleich noch näher zu beleuchtende Hintergrund vermag nicht nur die Schillersche Polemik nach ihrem vielschichtigen Gehalt und ihrer sprachlichen Form aufzuschließen; er erklärt audi die Schärfe der Schillerschen Kant-Kritik, die weder durch den Gehalt (mit dem sich Schiller sogar solidarisch erklärt) noch durch die Darstellung Kants zureichend motiviert ist. Zugleich läßt er auch begreiflich werden, wieso diese Kritik bis in die Gegenwart hinein eine Wirkung erlangen konnte, die in keinem Verhältnis zu dem philosophischen Gewicht der Kontrahenten steht und die noch unverständlicher erscheinen muß, wenn man sich erst einmal davon überzeugt hat, daß sie recht eigentlich auf einem Mißverständnis Kants beruht. Sie wäre dazu niemals in der Lage gewesen, wäre der Boden für sie nicht längst bereitet gewesen. Nur weil sein Protest selbst aus diesen Quellen gespeist ist, konnte schon der junge Hegel in seinen theologischen Jugendschriften ihre Motive wiederum zur Interpretation des Geistes des Christentums verwenden. Daß sich Schiller dieses theologischen Hintergrundes durchaus bewußt gewesen ist, beweist ein Brief an Goethe aus dem Jahre 1795: »Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs (!), an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion.« Wie selbstverständlich identifiziert Schiller audi in dieser Briefstelle das durch das Evangelium aufgehobene Gesetz mit dem Kantischen Imperativ und eröffnet damit die Reihe der Kant-Kritik, die sich von den deutschen Idealisten und Romantikern über Schopenhauer, Nietzsche und Freud, bis zu ihren Nachfahren in der Lebensphilosophie unseres Jahrhunderts erstreckt. Schiller greift damit auf das zentrale Problem der protestantischen Reditfertigungslehre zurück. Es war das religiöse Grunderlebnis Luthers, das ihn zugleich mit Paulus verbindet, daß die durch den Glauben gewirkte Gnade eine Erlösung von der Knechtschaft des Gesetzes bewirke. Für den im Glauben wiedergeborenen Menschen verliert das Gesetz den Charakter der Forderung und der Anklage. Nur an den Menschen, der noch im Fleische lebt, tritt das Gesetz als ein positives und fremdes von außen heran und fordert seine Unterwerfung. Zugleich aber stachelt es auch den Widerstand des Menschen an und schafft so eine Feindschaft und Entgegensetzung in ihm. Daher vermag der Mensch in diesem Zustande die Werke des Gesetzes nur nach knechtischer Weise zu erfüllen. »So wir aber erlöset sind worden von der Dienstbarkeit des Gesetzes, 242
erfüllen wir das Gesetz aus Freiheit des Geistes.« Wir sind »aus Feinden des Gesetzes Freunde des Gesetzes« geworden, das wir sponte und hilariter erfüllen, noch bevor es geboten ist. Der Widerstand des Menschen verwandelt sich in freie Zustimmung, die Entgegensetzung in ihm in innere Stimmigkeit. Wahrhaft sittlich handelt nach Luther der Mensch erst dort, wo durch die Gnade das Gute in ihm zum Instinkt geworden ist, nicht aber dort, wo er auf Grund vernünftiger Überlegungen seine Wahl trifft. Daher folgen auch die Werke des Glaubenden aus dem ihm von Gott verliehenen Zustand der Gnade, während sich nach Aristoteles, den Luther hier kritisiert, der sittliche Gesamthabitus der Person erst durch den Vollzug moralischer Einzelakte ergeben soll. Dieser Status sittlicher Vollkommenheit ist für Luther zugleich »die rechte christliche Freiheit, die das Herze frei machet von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft . . . « In Schillers Unterscheidung von reiner und schöner Moralität gewinnt also der Gegensatz des Menschen sub lege und sub gratia eine Heimstatt auf dem Boden der philosophischen Ethik. Seine Kritik an der Kantischen Ethik erneuert die Paulinische Kritik am Legalismus des pharisäischen Judentums und die Lutherische Kritik am katholischen spätmittelalterlichen Moralismus, indem er die Lehre von der Befreiung des Menschen von der Knechtschaft des Gesetzes und von der gelösten Freiheit des Christen, der spontan und aus innerer Neigung das Gesetz erfüllt, seiner transzendenten Bedingungen entkleidet, und, nach dem Vorbild des Spiritualismus und Pietismus, Glaubensgehalte in moralische, soziologische und geschichtliche Vorgänge verwandelt. Versuchen wir das Ergebnis unserer Erörterung zu fixieren, so zeigte sich überall eine grundsätzliche Divergenz der Kantischen und der Schillerschen Ethik. Man kann das Ergebnis auf zweierlei Weise formulieren, indem man sagt, Schillers Kritik verfehle das Prinzip der Kantischen Ethik von Grund auf, oder aber, Schiller bringe durch seine Kritik einen ethischen Problembereich in den Blick, der mit den Mitteln der Kantischen Moralphilosophie nicht gefaßt werden kann. Das gilt aber nicht nur von dem Problembereich der schönen Seele, sondern der gesamten Schillerschen Ethik. Es fällt auf, daß Schillers ethische Überlegungen an den Problemen, mit denen Kant leidenschaftlich gerungen hat, relativ gleichgültig vorbeigehen. Das zeigt sich schon darin, daß der geschichtliche Problemhorizont der Kantischen Moralphilosophie bei Schiller zurücktritt. Schillers ethisches Interesse gilt nämlich gar nicht, wie dasjenige Kants, der Frage nach den Prinzipien der Gültigkeit unseres Handelns. Er fragt nicht, unter welchen objektiven Bedingungen eine Gesinnung oder eine Handlung gut genannt werden kann, — sondern er zielt von Anfang an auf eine ethische Theorie, die wir eine Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins nennen können. Reine und schöne Moralität, erhabene und 243 16a
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schöne Seele sind zwei Erscheinungsformen des sittlichen Bewußtseins, zwei Weisen der erscheinenden Freiheit, die sich gegeneinander abgrenzen lassen, ohne sich wechselseitig auszuschließen. Von dieser Unterscheidung der beiden Grundintentionen erhellt, warum die Ethik Kants und die Schillersche Kritik an ihr gleichsam windschief zueinander stehen, so daß keine Aussage der einen Theorie unmittelbar auf die andere bezogen und in die andere übersetzt werden kann. Zwar sind die Formen des sittlichen Bewußtseins, die Schillers Ethik beschreibt, nicht unbetroffen von der Frage nach ihrer moralischen Geltung, aber die Frage nach den Bedingungen dieser Geltung ist doch nicht die seine. Das wird daran deutlich, daß der große Verbrecher einen erhabenen Willen haben kann; ebenso aber auch an den Schwierigkeiten, die es bereitet, die schöne Seele dem Gegensatz von Legalität und Moralität zuzuordnen. Zugleich aber vermag nun deutlich zu werden, worin die Bedeutung der Schillerschen Kritik an der Kantischen Ethik für die Entwicklung der idealistischen Philosophie des sittlichen Geistes begründet liegt: einmal darin, daß er die Begrifflichkeit der Kantischen Ästhetik so umwandelt, daß sie einer Phänomenologie des konkreten sittlichen Geistes nutzbar werden kann, zum anderen aber darin, daß er den in eine Selbstinterpretation des religiösen Bewußtseins verwandelten Gehalt des christlichen bzw. protestantischen Glaubens in die autonome philosophische Ethik einströmen läßt. Daher eröffnen sich hinter der Schillerschen Kant-Kritik Problemtiefen, die den Bereich der reinen Ethik transzendieren und bis in den Bereich des Verhältnisses von Glauben und Wissen verweisen.
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mit
ihren
Seinshorizonten
bei
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253
SCHRIFTENNACHWEIS 1. Die Schichtenlehre Nicolai Hartmanns. In: Studium Generale IX, 1956. 2. Fundamentalanalyse und Regionalanalyse. Eine problemgeschichtliche Untersuchung zur Kategorienlehre bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann. Diss. Köln 1957. 3. Besprechung: H . Heimsoeth, Das Rätsel der Moral. In: Kant-Studien 50, 1959. 4. Besprechung: N . Hartmann, Kleinere Schriften, Bd. II. In: Kant-Studien 50, 1959. 5. Besprechung: R. Hönigswald, Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XLVII, 1961. 6. Über das Begründungsproblem in Philosophie und Wissenschaft. Erweiterte Fassung für den Druck. — Den Betrachtungen liegt der Text eines Referates zugrunde, das der Verf. am 12. 7.1960 auf einem Stipendiatentreffen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg, in Tutzing gehalten hat. Daher ist die Zahl der Hinweise auf zeitgenössische Behandlungen des Themas im Text gering. Einige nachträgliche ergänzende Bemerkungen haben in den Fußnoten Platz gefunden. 7. Die Geschichtlichkeit der Philosophie und die Philosophiegeschichte. Erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Verf. am 11. 11. 1960 vor der Kant-Gesellschaft in Berlin gehalten hat. Erschienen in: Zeitschrift für philosophische Forschung XVI, H e f t 3, 1962. 8. Besprechung: H . Hülsmann, Die Methode in der Philosophie N. Hartmanns. I n : Theologische Literaturzeitung, Nr. 2, 1962. 9. Besprechung: N . Hartmann, Kleinere Schriften, Bd. I I I . 1, 1962.
In: Kant-Studien 53,
10. Zur gegenwärtigen Kritik an der Erkenntnistheorie. Erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Verf. auf dem VII. Deutschen Kongreß für Philosophie in Münster, Oktober 1962, gehalten hat. 11. Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Habilitationsschrift. Der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin vorgelegt im Februar 1962. 12. Recht und Grenzen der Typologien. Ein Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Geisteswissenschaften. Kolloquiumsvortrag, gehalten vor der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin, am 5. 12. 1962. 13. Schillers Kritik an der Kantischen Ethik. Erweiterte Fassung der öffentlichen Antrittsvorlesung, die der Verf. im Rahmen seines Habilitationsverfahrens für das Fachgebiet der Philosophie am 23. 1. 1963 gehalten hat.
254
NAMENREGISTER (Nicht aufgenommen sind die Namen der Verfasser von Sekundärliteratur.) Abel, Jakob Friedrich 238 Aristoteles 6 Anm., 46, 61, 195, Anm., 213, 243 Augustin, Aurelius 121, 197 Anm. Aufklärung 7, 9, 14, 238
198
Bauch, Bruno 135 Becker, Oskar 198 Bergson, Henri 127, 148 Anm., 193 Boehm, Rudolf 123 Anm. Brecht, Franz Joseph 77 Brentano, Franz 75, 107, 112, 128, 198 Anm., 201 Cassirer, Ernst 3, 76, 96, 100 Anm., 120, 148 Anm., 150, 151, 181, 184, 214 Celms, Theodor 119 Cohen, Hermann 3, 6, 8, 75, 76, 84 Anm., 87, 89, 91, 99, 100, 121, 124 Anm., 159 Anm., 162, 182, 183 Anm. Comte, Auguste 11 Corneille, Pierre 238 Cramer, Wolfgang 41, 76, 105 Anm., 129 Anm. Descartes, Rene 12, 23, 100 Anm., 109, 121, 169 Dilthey, Wilhelm 14, 18, 19, 22, 64, 127, 128, 159 Anm., 204 Dingler, Hugo 187 Driesch, Hans 144 Anm. Duns-Scotus, Johannes 194 Euklid 24 Existenz-Philosophie
14, 47, 132, 157,180
Feuerbach, Ludwig 14 Fichte, Johann Gottlieb 45, 97, 111 Anm., 121, 210, 230 f. Fink, Eugen 118 Anm., 119, 185 Anm. Fischer, Kuno 3 Fol wart, Helmut 104, 129 Anm. Freud, Sigmund 242 Fries, Jakob Friedrich 44 Gadamer, Hans-Georg 15 ff. Galilei, Galileo 12, 66
Gehlen, Arnold 159 Goethe, Johann Wolfgang von 65, 69, 70, 242 Greiling, Johann Christoph 9 Anm. Hartmann, Nicolai 3 ff., 16, 18, 24, 26, 28 f., 33, 44, 55, 57 f., 61, 74, 76, 77 ff., 97, 127, 129 f., 136, 138, 145 Anm., 147 Anm., 149 Anm., 156, 157—188, 190, 193, 198 ff., 201, 208, 212, 221 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 5 Anm., 7 Anm., 10, 11 Anm., 14, 18, 24 Anm., 28, 43, 44, 86, 133 Anm., 145 Anm., 158, 196, 211, 225, 232, 242 Heidegger, Martin 15 ff., 31 ff., 69, 74 f., 76 ff., 80, 85, 93, 104, 118 Anm., 125, 127 Anm., 129 f., 148 Anm., 169, 179, 185 Anm., 188—229, 232 Heimsoeth, Heinz 232 Heine, Heinrich 45 Helmholtz, Hermann von 63, 86 Anm. Henrich, Dieter 196 Anm. Herbart, Johann Friedrich 44, 86 Herder, Johann Gottfried 7 Anm., 14 Heyse, Hans 129 Anm. Hocking, William Ernest 111 Anm., 128 Anm. Hölderlin, Friedrich 232 Hönigswald, Richard 76 ff., 102, 129 bis 156, 160, 163, 165, 166 Anm., 167 f., 179, 186 ff., 193, 207 Anm., 219 ff. Hume, David 121 Anm. Husserl, Edmund 5, 7 f., 11, 15 f., 26, 38, 74 f., 76 ff., 84, 102 f., 104—126, 128, 130, 133 Anm., 134 f., 140, 142 f., 147 Anm., 148 Anm., 150, 154 ff., 166 ff., 179, 182, 184 ff., 188 ff., 199, 201, 203 f., 206, 216 ff. Idealismus 46, 49, 86, 101, 119, 140, 205, 213 ff., 232, 242 Idealismus, kritischer 89 f., 91, 94 f., 97, 104 Ingarden, Roman 119 Jaspers, Karl
15 ff., 20, 28, 45, 48, 77,
128
255
K a n t , Immanuel 9 Anm., 11 Anm., 14, 2 1 , 25, 32, 46, 55, 59, 85 Anm., 86, 95, 96, 99, 103, 111, 121, 123, 130, 133 Anm., 138 Anm., 159 Anm., 182, 195, 2 0 2 f., 213, 230 ff. Kierkegaard, Sören 14 Kreis, Friedrich 104 Kritizismus 32, 38, 79, 80 ff., 104, 119 ff., 127, 130 f., 136, 137 f., 140, 141, 144, 157, 159 f., 165 Anm., 168, 179 ff., 199, 211, 212 ff., 2 1 4 ff. Kühnemann, Eugen 231 Anm. Külpe, Oswald 128, 197 Anm. Kynast, Reinhard 104 Lamprecht, K a r l 64 Landgrebe, Ludwig 77 Lask, Emil 32, 42 f., 49, 78, 95, 120 Anm., 127, 161, 166 Anm., 193 ff. Lebensphilosophie 31, 77, 127, 132, 193, 242 Leibniz, Gottfried Wilhelm 5 Anm., 12, 68 Litt, Theodor 76, 129 Anm. Locke, J o h n 95 Losskij, Nicolaj 159 Anm. Lotze, Hermann 42, 194 Anm. Löwi, Moritz 151 Anm. Luther, Martin 2 4 0 ff. Marburger Schule 3, 5, 8, 74, 78, 87, 96, 9 8 , 100, 102 124 Anm., 131, 145 Anm. 150, 158, 161, 190 Marek, Siegfried 129 Anm. M a y , Eduard 46, 51 Meinong, Alexius 128, 130 Metzger, Arnold 104, 110 Anm. Natorp, Paul 3 f., 13, 76, 96 Anm., 102, 121, 123 f. Anm., 127, 130 Anm., 140, 148 Anm., 150, 162 Anm. Neopositivismus 77 Neukantianismus 2 f., 7, 8, 32, 77, 79 f., 81, 119 f., 123, 125, 134 f., 139, 145 Anm., 150, 157, 214 f. Neuplatonismus 121 Newton, Isaak 12 Nietzsche, Friedrich 14, 127, 242 Ostwald, Wilhelm
69
Paulus 242 f. Phänomenologie, frühe Pietismus 243
256
Piaton 65, 95 Anm., 146, 159 Anm. Plessner, Helmuth 159 Anm., 174 A n m . Plutarch 238 Positivismus 7, 14, 46, 81, 87 Rickert, Heinrich 3 Anm., 7 Anm., 12 Anm., 64, 75 f., 83, 90, 92, 95 f., 99 f . , 101 f., 120 f., 127, 147 Anm., 151, 187 Anm., 193, 195 Anm., 213, 215 Riehl, Alois 91 Anm., 121, 131, 1 3 5 , 141, 213 Riemann, Bernhard 24 Romantik 14, 49, 120, 232, 242 Sdieler, Max 78, 127, 159 Anm., 1 6 0 Anm., 166 Anm., 171 Anm. f., 174 Anm., 188, 203 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2 3 2 Schiller, Friedrich 69, 2 3 0 — 2 4 4 Schopenhauer, Arthur 44, 86, 242 Schuppe, Wilhelm 128 Shaftesbury, Antony Ashley Cooper Graf von 241 Simmel, Georg 14, 127, 193, 228 Spengler, Oswald 64 Spranger, Eduard 128 Stirner, M a x 14 Süd westdeutsche Schule 42, 76, 78, 131, 150, 192 f. Theologie, dialektische 15, 232 Thomas von Aquin 202 Tillich, Paul 66 Transzendentalphilosophie, scholastische 32, 194, 197 Voltaire, F r a n j o i s Marie A. 7 Vorsokratik 188 Wagner, Hans 35, 76, 93 Anm., 94, 1 2 6 Anm. Weber, Max 70 Wieland, Christoph Martin 241 Winckelmann, Johann Joachim 6 7 Windelband, Wilhelm 2 f., 7 Anm., 6 4 , 75 Wolff, Christian 123 Wölfflin, Heinrich 11 Wundt, Max 232 Y o r k von Wartenburg, Graf Paul 20 Anm.
7, 32, 104
19,
Zocher, Rudolf 39, 88, 92, 94, 104, 1 2 6 Anm., 142 Anm., 191