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German Pages 171 [180] Year 1958
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER BEGRÜNDET VON BERNHARD TEN BRINK UND WILHELM SCHERER NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH
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GERHARD RUDOLPH STUDIEN ZUR DICHTERISCHEN WELT ACHIM VON ARNIMS
WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN vormals G . J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J. Trübner — V e i t & C o m p . 1958
STUDIEN ZUR D I C H T E R I S C H E N WELT ACHIM VON ARNIMS
VON GERHARD RUDOLPH
WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN
vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. 1958
Archiv-Nr. 43 30 58/1 © Printed in Germany. — Alle Redite des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. D . 30 Satz und Druck: Berliner Budidruckerei Union GmbH., Berlin SW 61
INHALT
Vorbemerkungen
1
Abschnitt I
4
Der Stoff
4
Die Sprache
9
Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen
26
Lyrik
31
Phantasie
34
Arnims Erzählung „Metamorphosen der Gesellschaft"
43
Groteske Komik
44
Arnims Verhältnis zu seinem Werk: Passivität und Eindrucksfähigkeit, Mangel an Formabstand ..
51
Die Beschreibungen des Äußeren der in Arnims Dichtungen auf tretenden Gestalten
60
Einzelheit und Momentbild
61
Abschnitt II
63
Rückblick und neue Fragestellung
63
Hollins Liebesleben
67
„Gräfin Dolores"
74
Exkurs: Die Gestalt des Markese und Kierkegaards „Tagebuch eines Verführers"
85
Das Problem des Schicksals in der „Gräfin Dolores"
87
„Halle und Jerusalem"
91
Exkurs: Die Dramatik Arnims
97
Die „Kronenwächter"
98
Das Problem des Schicksals in Arnims dichterischer Welt
102
Abschnitt III
103
Rückblick und neue Fragestellung
103
Der Einzelne
104
Die Geborgenheit in der Gemeinschaft des Volkes
108
Die Gebundenheit an die Zeit
110
Die Gebundenheit des Einzelnen in Arnims Bild der Vergangenheit
' 110
Exkurs: Die Idee der Welt als eines Organismus in Arnims Epoche
112
Das Typische
114
Die Leugnung aller Gegensätze
119
Abschnitt IV
121
Rückblick und neue Fragestellung
121
Geschichte
122
Die Kategorie des Ursprünglichen, Unmittelbarkeit
125
Leben
129
Exkurs: Der Begriff des Lebens in Arnims Epoche
138
Das Geheimnis, das Problem der beiden Welten
141
Rückblick
143
Anmerkungen
150
Register
168
2
Vorbemerkungen
Welt ist, hat Martin Heidegger in seiner kleinen Schrift „Vom Wesen des Grundes" dargestellt. „Welt als Ganzheit ist kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein (d. h. ein konkretes menschliches Dasein) sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann" 4 ).
Welt in diesem Sinne bedeutet immer den Bezug eines konkreten menschlichen Daseins zur Fülle der ihm faktisch gegebenen Wirklichkeit, so, daß ein Ausschnitt derselben als eine diesem Dasein zugehörige Ganzheit, als Welt, begriffen wird. Die Konstitution eines Selbst und seiner Welt sind sich gegenseitig bedingende Vorgänge: „Zur Selbstheit gehört Welt; diese ist wesenhaft daseinsbezogen" 6 ).
Ausgehend von den Überlegungen Heideggers, auf die idi hier nur andeutend verweisen kann, dürfen wir bei der Untersuchung der Welt eines Dichters die Frage stellen: wieweit ist ein einzelnes Werk, wieweit ist die Gesamtheit seiner wortkünstlerischen Äußerungen wirklich seine Welt geworden, d. h. wieweit trägt sie, ihn selbst wiederum prägend, sein Maß, das aus einer sowohl ihm wie den Einzelgegebenheiten seines Werkes gegenüber transzendenten Tiefe stammt, bzw. wieviel ist in ihr als Einschluß, als wirkende Eigenmächtigkeit der zentralen Formmacht widerstrebend, enthalten, ist also nicht in seine Welt eingegangen? „Seiendes, etwa die N a t u r im weitesten Sinne, könnte in keiner Weise offenbar werden, wenn es nicht Gelegenheit fände, in eine Welt einzugehen" 6 ).
Offenbar werden heißt im Bereich der Überlegungen Heideggers, daß etwas als Teil eines übergreifenden Ganzen (der hier anwendbare Begriff des Ganzen ist ein transzendentaler) begriffen wird. N u r was in ein, auf ein Dasein bezogenes, Ordnungs- und Relationsgewebe eingeht, wird offenbar. Um den analogen Vorgang in der dichterischen Welt zu verstehen, müssen wir von dem Begriff des Sinnes ausgehen, den ich so abstrakt, wie er sich in diesem Zusammenhang selbst zu erhellen vermag, stehen lassen möchte (es ist das, was mit dem Maß, um das der Dichter weiß, gemeint ist), denn wenn man ihn konsequent durchdenkt, überschreitet man die in sich ruhende dichterische Welt zu einem Reich der Werte, zum Sein, zum Religiösen hin, oder wie man es nennen will (Sinn ist ein objektiv Qualitatives, dessen Offenbarung eine dichterische Welt ist) — aber das würde den Rahmen meiner Untersuchung sprengen. Jeder Einzelheit einer Dichtung, dem Rhythmus, dem Reim, dem Motiv, dem Stoff, kommt von sich aus potentiell eine Sinnrichtung zu; diese vermag sidi aber nur zu offenbaren, aktuell zu werden, wenn sie mit der Sinnrichtung des Ganzen übereinstimmt. Dichterische Welt ist das auf einen Sinn (der nicht die Summe aller
Vorbemerkungen
3
Einzelaussagen ist), der vom Dichter repräsentiert wird, ja der eigentlich den Dichter erst schafft, bezogene Ordnungs- und Relationsgewebe. Was sich in seinem Sinn nicht offenbart, fällt letztlich aus der dichterischen "Welt, der es anzugehören scheint, heraus, bzw. wenn wir über die potentielle Sinnrichtung der Einzelheiten (etwa der einer Metapher, die wir uns unabhängig von ihrer Stellung in der dichterischen Welt erschließen können) nicht zu einem zentralen Sinn vorzustoßen vermögen, ist eine dichterische Welt nicht in sich geschlossen. Wieweit ein dichterisches Ouevre die Bezeichnung Welt wirklich verdient, hängt davon ab, wieweit es in allen Einzelheiten von einem zentralen Aussagewillen, der sich etwa in den Begriff des Stils 7 ) (als der Verwirklichung des Sinnes) fassen läßt, bestimmt ist. Hier liegt übrigens ein dichtungsimmanenter, d. h. nicht von außen herangetragener, Wertmaßstab vor. In meiner Untersuchung liegt der Akzent auf dem Dichter als dem formschaffenden und sinngebenden Zentrum einer dichterischen Welt. Ich werde am Schluß meiner Darstellung auf die hier, einleitend skizzierten Gedanken zurückkommen. Den ursprünglichen Umfang meiner Untersuchung habe ich für den Druck reduziert. Ich habe auf Mitteilung eines Teils des Belegmaterials verzichtet, bzw. dieses durch Stellenverweise ersetzt, ebenso habe ich auf die Anführung von, für den zentralen Gedankengang nicht unumgänglich notwendiger, Sekundärliteratur verzichtet (die nur einer umfassenderen Orientierung über die Arnimforschung, die zum größten Teil aus Dissertationen besteht, dienen sollte) und die Auseinandersetzung mit dieser eingeschränkt. Ich glaube, daß das Ergebnis meiner Untersuchung auch so genügend fundiert erscheint.
1*
ABSCHNITT I DER STOFF Was dem Leser einer Dichtung Arnims als Erstes und Unmittelbarstes auffällt, ist die ungeheure Menge und Vielfalt des darin enthaltenen Stoffes. So nennt Eichendorff die „Gräfin Dolores" eine „Geschichte aus 1000 Geschichten 8 )". Arnim liebt es, an Bekanntes anzuknüpfen und von da aus weiter zu fabulieren oder dieses in das Gewebe seiner eigenen
Erzählung
aufzunehmen. „Es ist gerade der schönste erquicklichste Stoff, die beruhigendste Lehre, das Allgemeine, das Überlieferte mit seiner einzelnen Natur zu verknüpfen, daß es darin lebendig werde", schreibt er an Jacob Grimm. Im gleichen Brief (vom 24. Dezember 1812 Steig I I I S. 247 f.) heißt es weiter: „Wenn ihr mir vorgeworfen habt, warum ich die Isabella gerade mit Karl V in Berührung gesetzt, warum nicht willkürlich ein Kronprinz X erwählt, darin liegt aber etwas Unwiderstehliches wie bei den Völkern mit den Mythen, die sie an ihre Königsstämme als Wurzel annagelten, daß man es nicht lassen kann, dem, was der Phantasie mit einem Reiz vorschwebt, einen festen Boden in der Außenwelt zu suchen." In diesem Sinne lehnt sich Arnim an geschichtlich Überliefertes an, manchmal fügt er fast wörtlich Partien aus Chroniken in seine Erzählung ein. Er liebt es auch, ältere Literaturwerke zu bearbeiten, nachzudichten oder Teile daraus in seine eigene Dichtung einzufügen, so wie er auch vieles aus dem weiten Umkreis dessen, was sich mit Volkserzählgut umschreiben läßt, übernimmt. Er war sehr belesen und kenntnisreich, so daß ihm für Übernahme und Anlehnung ein weites Feld offen stand. Von weiter Ausdehnung ist auch der Bereich seiner Weltschilderung. Von der Welt der Geschichte und Vergangenheit bis zu der seiner Gegenwart mit ihren Problemen, von der Welt des Adels und der Herrschenden bis zur abergläubigen, an alten Brauch gebundenen Welt des Volkes, von der studentischen Welt bis zum kleinbürgerlich Engen spätmittelalterlicher Stadtatmosphäre scheint alles da zu sein. Reich und bunt ist die oft mit Behaglichkeit geschilderte Wirklichkeitswelt, aber ebenso weit dehnt sich die bizarre Welt seiner Phantasie aus. O f t mischt er eigensinnig verschiedene Welten, wie in „Isabella von Ägypten" die wirklichkeitsschwere niederländische Welt zur Zeit
Der Stoff
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Karls V. mit den Gestalten seiner Phantasiewelt. Auf der.Kirmes zu Buik treibt sich ein Alraun herum und ein alter Jude fertigt aus Lehm einen Golem. Man hat oft hervorgehoben, daß er seine Phantasiegestalten ins hellste Tageslicht stelle, mitten in die reale Wirklichkeit 9 ). Man gewinnt bald den Eindruck eines Übergewichts des Stoffes über die Form. Arnim bezieht, entsprechend seiner Äußerung: „Für die Kunst ist es immer besser, zu viel als zu wenig Stoff in ihre bunte Waffelform eingefügt zu bekommen" (Geiger a. a. O. S. 82), so viel in seine Dichtungen ein, daß uns zunächst die Orientierung darin, lesend wie rückschauend, schwerfällt. In diesem Sinne konnte Goethe den Vergleich vom Faß ohne Reifen f ü r Arnims Dichtung gebraudien 10 ) und Wilhelm Grimm im Vorwort zu den gesammelten Werken seines Freundes vom überlaufenden Becher sprechen11). Fast alle Arbeiten, die sich bisher mit Arnim befaßt haben, bestätigen unsere Beobachtung, so daß ich midi hier mit diesem Hinweis begnügen kann ohne eine besonders hervorzuheben. Da es hier unsere Aufgabe nicht sein kann, die Fülle des vorhandenen Stoffes auszubreiten, bleibt uns nur die Frage übrig, was sich aus der Tatsache des angedeuteten Verhältnisses von Stoff und Form 12 ) erschließen läßt. Uns interessiert: wie steht der Dichter zu seinem Stoff, bzw. zu der Welt, die in seine Dichtung eingeht. Arnim selbst vermag uns wichtige Hinweise zu geben, ebenso die Urteile über seine Dichtungen aus seinem Freundeskreis. Über „Halle und Jerusalem" äußert sich Jacob Grimm: „ . . . idi zweifle nicht etwas wahres zu sagen, wenn ich wiederhole, was ich aus Deinem letzten Buch lebhaft erkannt habe, nämlich daß . . . das mehr oder minder Vortreffliche Deiner Werke jederzeit vom Stoff abhängen wird, der Dich zur Poesie rührt und begeistert, den D u selbst aber nicht wirst erschaffen und großwadisen lassen können, wohl aber innerlich durchdringen und ihn der Welt offenbaren" (Steig III S. 100).
Aus England schreibt Arnim an Clemens Brentano: „Ich sehe eben die Kinder . . . vorbeiziehen, sie gehen zum Ballschlagen, und da fällt mir Voltaires Erzählung aus dem Königreiche Eldorado ein, wie Candite die goldenen Spielsachen mit Demant beladen sorgsam aufgelesen und dem Schulmeister übergeben, der ihn ausgelacht und gefragt: Was er mit soldiem Sdimutz solle? So möchte idi jedes Spielzeug in der Welt auflesen, alles daran glänzt mir wie Gold und Edelstein" (Steig I S. 99).
Arnim hat seine ursprüngliche Freude am Reichtum und an der bunten Fülle der Welt, der er sich hingibt, wo sie ihm ersdieint. Alles ist ihm in gleicher Weise bedeutend, die „Nichtigkeit" sucht er zur „Wichtigkeit" zu erheben (Werke XV S. 134). Er sucht ständig nach neuen Einzelheiten und Episoden, die er in seine Werke einfügen kann.
6
Der Stoff „Auf Biographien, besonders auf Selbstbiographien bin idi auf J a g d , es findet sich immer etwas Neues",
steter
schreibt er an Bettine Brentano (Steig II S. 374). Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang audi seine teilweise veröffentlichten Notizen zur Fortsetzung der „Kronenwächter" (Werke I V S. 381 fi.). Arnim hat sich dort eine eindrucksvolle Fülle disparatester Einzelheiten notiert. Audi folgende Stelle aus einem Brief von Görres an Arnim läßt sich hier anführen: „Ich mußte lachen, wenn ich nach einzelnen Fragmenten, die ich hörte (von der Dolores ehe er das Buch erhielt), gewahr wurde, wie D u Anekdoten und Begegnisse am Wege alle aufhebst, wie der Herr Jesus das Hufeisen, und sie wie Steine hinter Dich wirfst, und dann Menschen daraus werden, die sich wie ein Negersklaventransport alle mit Stricken und Gabeln aneinanderknebeln, und sich Dir wie ein Drachenschweif anhängen" 1 3 ).
Wir wollen als ein erstes Ergebnis festhalten, daß sich Arnim als Gestalter seinem Stoff gegenüber hingebend und nachgebend verhält, die bunte Fülle der Welt möglichst ungebrochen ins Werk zu bannen sucht. Wir wollen abwarten, ob und wie sich das unter die weiteren Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung einordnen läßt. Mit dem bisher Erörterten scheint mir zusammenzustimmen, daß uns Arnims Werk im Wesentlichen als ein nicht zu gliederndes Ganzes erscheint. Es gilt das, was Paul Noack in seiner Dissertation für Arnims Novellenschaffen feststellt, daß es sich weder motivisch noch nach der Erzählhaltung, weder formal noch chronologisch ordnen lasse 14 ). Den Ansatzpunkt für eine solche Auffassung liefert uns der Dichter selbst, wenn er immer wieder Werke ineinander übergehen läßt. So gehen nach Brentanos Bescheid 15 ) große Teile eines nicht vollendeten Werkes, des „Tanner", in die „Gräfin Dolores" über. Die „Gräfin Dolores", die ursprünglich als Novelle geplant war (das im Nadilaß gefundene Novellenfragment befindet sich heute im freien deutschen Hochstift), ist überhaupt das interessanteste Beispiel für diese Tendenz Arnims. Die ursprüngliche Novelle schwellt sich zum Roman dadurch auf, daß sie zum Sammelbecken für allerlei früher Geschriebenes wird, zugleich droht der Stoff die Gestaltung der zentralen Begebenheit zu überwuchern. — Die Novellenform käme dieser ihrer Struktur nach durchaus entgegen, sie besitzt in der durch äußere Erschütterung herbeigeführten Buße die Zentrierung um einen Wendepunkt. In der Begegnung der Menschen mit dem Schicksal ist sie mehr außerordentliches Geschehen als Entwicklung (wie sie für den Roman charakteristisch ist). Durch die Episodenaufschwellung soll ein Weltausschnitt gegeben werden, dem aber als Ganzes der Charakter der Zufälligkeit anhaftet. Audi das bedeutet Formlosigkeit.
Der Stoff
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Außer dem „Tanner" nimmt Arnim in verkürzter Form sein Erstlingswerk, den „Hollin", in die „Dolores" auf, auch die Gestalten des Predigers Frank und des Odoardo kommen im „Hollin" zum erstenmal vor. Beide hat er weiterfabulierend verändert. Einen Teil seiner Beiträge zur Einsiedlerzeitung hat er in die „Dolores" übernommen. Auch ein Fragment der erst später vollendeten „Päpstin Johanna" findet sich schon darin. Man darf ebenfalls nicht die weder früher nodi später getrennt veröffentlichten, bestimmt aber selbständig entstandenen, Beiträge übersehen, wie die „Geschichte des verlorenen Erbprinzen", die der „verlorenen Erbprinzessin Wenda", die „Geschichte des Mohrenjungen", die von der „Liebesprofessorin", die „Geschichten, die die Stiftsfräulein erzählen" etc., die er unorganisch in seinen Roman eingefügt hat. „Das Frühlingsfest, ein Nachspiel", das in Arnims Schaubühne Bd. I (Werke V) selbständig erschienen ist, findet sich in die „Päpstin Johanna" eingefügt und angedeutet noch einmal im „Auerhahn". Die 1803 in Schlegels „Europa" erschienenen „Erzählungen von Schauspielen" sollten nach Arnims Nachricht an Brentano (Steig I S. 73) ein Stück des nie fertiggestellten zweiten Teils von „Ariels Offenbarungen" werden, desgleichen „Aloys und Rose" (Steig I S. 67 u. 68). Man könnte die Reihe des Angeführten noch vermehren. Arnim hat die Tendenz, Einzelarbeiten immer möglichst in einem größeren Werk zu sammeln. Das einzelne Werk verliert dadurch seine Abgeschlossenheit, wird Teil von einem größeren Zusammenhang. Entsprechendes gilt für das aufnehmende Werk, es verliert seinen Charakter als etwas notwendig in sich Geschlossenes, wird zum mehr oder weniger zufälligen Ausschnitt. Nach Arnims Notizen zur Fortsetzung der „Kronenwächter" sollte darin wahrscheinlich auch sein nicht vollendetes Wiedertäuferdrama aufgenommen werden (Werke IV S. 388, 389), an welchem er lange gearbeitet hat (Steig I S. 127, 241; Steig II S. 26, 31, 33). Falls meine Vermutung stimmt, so ist in diesem Falle besonders die beabsichtigte enge pragmatische Verbindung interessant. Auch an die Welt Karls V., die ihn bereits zweimal „zur Dichtung gerührt" hatte (vgl. „Isabella von Ägypten" und „Der Pfalzgraf, ein Goldwäscher"), wollte er wieder anknüpfen, und wie wir annehmen dürfen nicht ohne eine Beziehung zu seiner Novelle „Isabella von Ägypten" herzustellen (vgl. Werke IV S. 389). Man fühlt sich an Arnims Wort erinnert, daß er bis zum Ende seines Lebens eine Geschichte aus Chroniken zusammengedacht haben wolle, „die gewiß recht herrlich zu lesen sein soll" (Steig III S. 203),
8
Der Stoff
und es scheint, als seien seine einzelnen Werke — wenigstens die mit historischem Kolorit, und das ist der größte Teil — Teilbeiträge zu dieser umfassenderen Chronik. Die fehlende Geschlossenheit des einzelnen Werkes wollen wir ebenfalls als ein Ergebnis festhalten. Wie sehr sich Arnims Werk nicht in der Vertikalen, sondern in der Horizontalen gliedert, wenn für einen Augenblick dieser Vergleich erlaubt ist, das zeigt uns die Tatsache, daß wir nicht mit Sicherheit eine Entwicklung darin erkennen können. Auch die Kenntnis der bis jetzt nodi unklaren relativen Chronologie seines Werkes würde wohl nichts daran ändern. Für Arnims Schaffen lassen sich nur zwei Entwicklungslinien ziehen: Einmal kennt es jene rein natürliche Entwicklung, die mit dem Menschsein überhaupt gegeben ist, vom schwärmerischen Enthusiasmus des Jünglings zur Haltung des Reifenden und Alternden, dem die Grenzen der dem Menschen gegebenen Möglichkeiten stärker sichtbar werden. Wenn der junge Arnim sagt, er habe den „Zauberklang der Poesie" gehört und wolle seinen Reihen heruntertanzen „wie es das unendlidie Schicksal will", wenn er sein Leben auf einem Marktschifi versingen will und eine Bänkelsängerschule gründen (Steig I S. 32, 35, 38), so erscheint dem älter Werdenden, Dichten nicht mehr als ein unbekümmert frohes Singen oder als die ungehemmte Aussprache des Herzens wie im „Ariel" oder „Hollin". Die Einsamkeit und Gefährdung des „Arbeiters auf geistigem Felde" beginnt er stärker zu spüren, auch wenn sie ihm nicht zum ernsten und erschütternden Problem wird (Kronenwäditereinleitung „Diditung und Geschichte" Werke I I I S. 3 ff.). Er erlebt, daß selbst seinen engsten Freunden vieles in seinen Dichtungen fremd und unbegreiflich bleibt. Er beklagt die mangelnde Resonanz seiner Werke: „Meine Werke haben mit dem Himmelreiche gemeinschaftlich, daß die Wenigsten hinein mögen" (Steig I I I S. 453).
Resignationsstimmung wird im Werke immer stärker spürbar, die reflexiven und didaktischen Elemente werden darin stärker. Zum anderen gibt es die durch die biographischen Daten bezeichnete Entwicklung, welche weitgehend mit der erstgenannten zusammenfällt. Ihre Richtung wird deutlich in Arnims Klage: „Die Erde umzieht mich immer enger mit ihren Ansprüchen" (Steig III S. 543), welche hier für viele ähnliche Bemerkungen in seinem späten Briefwechsel mit den Brüdern Grimm stehen möge. Arnim wird immer stärker vom Alltag in Anspruch genommen, fühlt sich abgeschnitten von aller Welt. All das bedeutet aber keine geistige Entwicklung, welche uns allein interessieren könnte. Wir spüren in diesem Werke nichts von einem
Die Sprache
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geistigen Ringen und damit verbundenen Krisen und Erschütterungen und deren Überwindung. Der Dichter Arnim erscheint uns in einer merkwürdigen Passivität. Das scheint mir innerlich zusammenzustimmen mit der in der Schicht des Stofflichen spürbar werdenden Welthingabe. Wenn wir für Arnim auch nicht einen der typisch „romantischen Lebensläufe 16 )" behaupten dürfen, den eines ruhelos Getriebenen, für den paradigmatisch das Leben des Clemens Brentano ist, so müssen wir doch auch hier feststellen, daß es Arnim nie gelingt, Mitte zu werden im Geschehen des eigenen Lebens, selbst sein Geschick zu formen. Wir stellen fest, wenn wir seine Biographie betrachten, daß sein Schicksal immer wieder durch von außen einwirkende Gegebenheiten bestimmt wird, deren Notwendigkeit er sich fügt. Der Lebenslauf dessen, der mit himmelstürmenden Ideen begann, weicht in keiner Weise von dem typischen eines preußischen Landjunkers ab. Um des sich andeutenden Zusammenstimmens von Lebensvollzug und dichterischer Gestaltung willen habe ich an dieser Stelle das Biographische erwähnt, in ihrer Parallelität weisen sie auf einen tieferen Zusammenhang, eine Grundgesetzlichkeit, von der auch Arnims dichterische Welt bestimmt ist, weisen damit der weiteren Untersuchung eine Richtung. Die fehlende echte Entwicklung im Werke Arnims rechtfertigt die Anlage der vorliegenden Arbeit, die ununterschieden ihre Befunde aus frühen und späten Werken, vor allem der Epik, zusammenstellt. Es ließe sich hierfür auch noch anführen, daß Arnim immer wieder Motive, ja ganze Gestalten von einem Werke ins andere übernimmt, so daß man den Eindruck eines bestimmten Repertoires gewinnt, aus dem Arnim immer wieder schöpft. Es würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, sollte hier versucht werden, eine Übersicht über Arnims „Bausteine" zu bringen. Der Stoff, die bunte Fülle der Welt, scheint die Gestaltungskräfte des Dichters zu überwuchern, so können wir das bisher Gesagte zusammenfassen. Weder vom Werk, noch von der Biographie her wird uns der Dichter als eine klar umrissene Gestalt faßbar. Alles Eigene scheint sich in der Hingabe an die Vielfalt der Welt und die naturhafte Bewegung des Lebens aufzulösen.
DIE SPRACHE In der Untersuchung der Sprache Arnims möchte ich zunächst und vor allem nur einen Gesichtspunkt herausheben, unter dem sich die wichtigsten Einzelzüge fassen lassen, auch solche, die wir hier, wo es
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Die Sprache
nur darum geht, eine Richtung zu geben, die Grundtendenz seiner Sprache zu zeigen, nicht berücksichtigen können: Arnim greift die Sprache nicht selbsttätig an. Er läßt sidi von ihrem Flusse tragen und treiben. "Wie er sich von den von ihm geschilderten Begebenheiten in die ihnen innewohnende Richtung treiben läßt, sich in eine Situation hineinsteigert (vgl. die Kapitel über die Phantasie und die groteske Komik), so neigt er auch dazu, sich dem Strömen der Sprache hinzugeben. Die Sprache erhält dadurch leicht eine gewisse „Eigenlebendigkeit", die Sätze sind oft „wie Spiel aus sich selbst 17 )". Dem Bemühen, die Richtigkeit dieser Aussage zu belegen, diene als erstes der Hinweis auf Wortspiel, Klangassoziation, Assonanz, Reim und Rhythmus, welche in der Sprache Arnims eine wesentliche Rolle spielen. Sogar die Möglichkeit zur Alliteration nützt er aus, wo sie die Sprache ihm bietet 18 ). Wir befassen uns zunächst mit der Neigung der Arnimsclien Sprache, sich vom Klang beherrschen zu lassen, und ich möchte sogleich ein Beispiel mitteilen, das diese Neigung im Extrem zeigt. In den „Kronenwächtern" führt sich ein Bote, der ein Geschenk bringt, mit folgenden Worten ein: „Mein N a m e ist Kronhelm, bin Ehrenhalt auf dem Schlosse Hohenstock, wurde viel hin und hergeschickt, in Ernst und Spiel, habe Turnier ausgerufen, Fehde verkündet, Sdilösser aufgefordert, habe im Zweikampf Sonne und Schwerter gemessen, besprochene Waffen losgesprochen, die Hexerei mit ritterlicher Ehre gebrochen, kann blasen auf dem Ehrenhorn hoch und tief, und wenn einer sieben Jahre schlief, ich weck ihn und schreck ihn, dodi wenn einer lustig ist, bin idi auch ein guter Christ, und zu eurem Polterabend komm ich über die Heide trabend, euch Gruß zu bringen, eure Hand zu schwingen: Geschenk und Gaben, die sollt ihr haben, buntes Glas wie bald bricht das, darum nehmts wohl in Acht, es hat ein Vorfahr gemacht. Seht her seht hin, seht die Sonne darin, wie's flimmt, wie's flammt, alles vom Lichte stammt. — Bei diesen Worten hob er aus einem Kasten . . ( W e r k e III S. 305 f.).
Aus dem Erzählton, der den Roman sonst bestimmt, geht Arnim plötzlich zu einer rhythmisch gebundenen Rede über. Die regelmäßig akzentuierte Sprache zerfällt in kleine rhythmische Einheiten, Reim und Klang erhalten die absolute Herrschaft, so daß sie den Gedanken nicht nur beherrschen, sondern sogar verdrängen. Es ist ein buntes Nebeneinander von Worten, denen ein sinnvoller Zusammenhang fehlt. Was hat z. B. das Lustigsein mit dem guten Christsein zu tun? Der Gedanke, daß alles vom Lichte stamme, ist hier offensichtlich vom Spiel der Sprache eingegeben, vom flimmen und flammen. Man spürt deutlich, wie der Gegensatz von besprochen und losgesprochen in seinem Gleichklang als auslösendes Moment gewirkt hat, denn er zieht sogleidi die Klangassoziation gebrochen nadi sich. Arnim erliegt an dieser
Die Sprache
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Stelle der Versuchung, weitere Gegensätze und Klangassoziationen zu bilden, er gibt die geistige Herrschaft über die Sprache auf und gibt sich ganz ihren Zufällen und Willkürlichkeiten hin. Daß es sich bei unserem Beispiel um eine launige, improvisierte Rede handelt, die audi nach des Dichters Willen nichts weiter bedeuten soll, spielt für die Beschreibung der sprachlichen Gestalt keine Rolle. Leicht g e w i n n t in dieser Sprache das sinnliche M o m e n t die F ü h r u n g : „O wie o f t habe idi ein Zeichen erhofft, zogen Sterne den schimmernden Bogen durch die himmlische Leere, durch die himmlische Tiefe, daß ich der irdischen Schwere endlich auf immer entschliefe. Aber der Morgen löschte die Sterne aus, weckte die Sorgen, weckte des Herzens Haus und des Alltäglichen Macht zwang die Ahndung der Nacht." (Werke III S. 467.)
Der ganze „Ariel", die erste Dichtung, in der sich ungehemmt die Eigenart Arnims ausprägt, zeigt ein entsprechendes Verhalten gegenüber der Sprache. Der Dichter läßt die Sprache strömen und klingen, er beherrscht sie nicht. In einem Brief an Brentano spricht er das selbst in eigentümlicher Bewußtheit aus: „Ich habe hier viel gedichtet und ein Trauerspiel (das .Heldenlied von Herrmann und seinen Kindern' im ,Ariel') schreckt mich oft mit seinem Lebenswahnsinn aus dem Schlafe, wenn nur nicht alle Gedanken in der Sprache untergingen." (Steig I S. 32.)
Im „Hollin" tritt die den „Ariel" bestimmende Art der Sprachbehandlung nicht so hervor. Die Neigung der Prosa zu rhythmischem Fluß, Versen oder Reimen findet sich audi hier 19 ), aber im wesentlichen bleibt die Sprache der Mitteilung von Hollins Gefühlen und Reflexionen dienend untergeordnet. In der „Gräfin Dolores", wo der „Hollin" im Auszug mitgeteilt wird, geschieht dies meist in einem referierenden Bericht, nur manchmal sind Brief- oder Tagebuchäußerungen Hollins wörtlich zitiert. Dabei läßt sich an einer Stelle aufschlußreich beobachten, daß Arnim die schon im „Hollin" vorhandene Tendenz der Sprache zu Rhythmus und Reim ganz auffällig verstärkt. Die Kürzungen dienen dazu, das Klangelement, die Assonanzen, viel auffälliger hervortreten zu lassen. Ebenso wird die Vorstellung des Ringes, die im „Hollin" nur zu Anfang der Tagebuchnotiz eine Rolle spielt, nun zu einer zentralen und beherrschenden, es scheint als habe sie auf den umarbeitenden Dichter suggestiv gewirkt. (Wir finden diese Erscheinung, daß eine einmal ausgesprochene Vorstellung, ein einzelnes Wort oder ein Begriff, die sprachliche Formulierung auf weite Strecken bestimmt, immer wieder.) Es ist die Stelle, die im „Hollin" und in der „Dolores" mit den Worten:
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Die Spradie
„Noch einmal will idi ihn, den Saum des strahlenden Gewandes küssen . . beginnt und endet: » . . . wird Liebe in dem Tode wohnen" (sie findet sich im „Hollin" a . a . O . S. 99 und in der „Dolores" Werke VII S. 184). In der Veränderung scheint der Klang, der zu einer Musik der Sprache wird, das einzig Wesentliche zu sein, die Sprache scheint wie von selbst dahinzufließen, auch da, wo sie, wie im vorliegenden Fall, leidenschaftliche Verzweiflung ausdrücken soll. Die Vorstellung des Ringes geht spielerisch durch die ganze Tagebuchstelle, immer wieder knüpft die Sprache daran an. Der hier Sprechende gewinnt keine Gestalt, alles Eigenwesen löst sich im Klang der Sprache auf. Der Gedanke „geht in der Sprache unter". Der Faszination von Assonanz und Reim entgeht Arnim an keiner Stelle. Wo er reimt, feiert der Sprachklang oft wahre Orgien. In der Einsiedlerzeitung finden sich folgende Zeilen Arnims: „Das Herz, das bewegliche, ' Urleidend, klägliche, Läßt sidi der heiligen Stille Enthüllen." („Trost Einsamkeit" a. a. O. S. 323.) Sie stehen in den Ergüssen „des an der Liebe Verzweifelten auf verschiedenen Poststationen", zehn etwa gleich langen, in der Sprachbehandlung gleichen, in freien Rhythmen geschriebenen, Stücken, die Arnim in Prosaschreibung in die „Gräfin Dolores" übernommen hat, als Tagebucheintragungen des Grafen Karl, „als Sprache eines tiefgekränkten Herzens". Die zitierte Stelle ist dort wie folgt erweitert: „Das Herz das bewegliche, urleidend klägliche, nimmermehr rastende, ewig nun fastende, still sich verzehrende, nimmer sich leerende . . (Werke VIII S. 59.) Arnim hat der Neigung der Sprache einfach weiter nachgegeben. Die Tagebucheintragungen des Grafen K a r l (Werke V I I I S. 58 ff.), auf die ich besonders hinweisen möchte, bieten uns überhaupt eines der eindrucksvollsten Beispiele für Arnims Neigung, sich dem Klingen der Spradie zu überlassen. „Der Reim ist hier Herr und der Sinn Knecht", um seine Formulierung aus der Arbeit von Bode 2 0 ) zu gebrauchen, der bei der Bearbeitung der Wunderhornvorlagen durch Arnim oft die diktatorische Wirkung des Reims beschreibt. Ebenso ordnet sich die Aussage der Rhythmik unter, bzw. wird nebensächlich. Die Wiederholungen von Worten und Satzteilen wirken nicht als Sprache eines leidenschaftzerrissenen Herzens, sondern sind offenbar da, um Rhythmus und Reim zu vervollständigen. Die sprachliche Gestalt von „Halle und Jerusalem" vermag uns Ähnliches zu zeigen. Das Drama ist in Prosa geschrieben, aber immer wieder wird die Prosa rhythmisch beschwingt, manchmal nur für ein
Die S ρ radie
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paar Zeilen, vielfach aber auf weitere Strecken. Es ist dies so häufig der Fall, daß es sich erübrigt, die einzelnen Belege zu nennen. Es bilden sich metrisch-rhythmische Einheiten, die teilweise den Charakter der Prosa aufheben, so daß man die betreffenden Textpartien in Verszeilen schreiben könnte. A n vielen Stellen bilden sich Reime und Assonanzen und drängen sich, den Charakter der Sprache bestimmend, in den Vordergrund. Als ein bezeichnendes Beispiel möchte ich die Bekenntnisrede eines Liebenden, nachdem sich ihm unverhofft die Gunst der Geliebten zugewendet hat, zitieren. Die sehr ernst gemeinte Empfindung vermag sich in der Sprache gar nicht auszudrücken, so daß für uns, die wir darum wissen, die wir die Schuld, von der die Rede ist, kennen, die spielerische Sprache wie eine Parodie wirkt: „Zu deinen Füßen himmlische Güte, laß midi besinnen, wie mir geschehen, wie idi dich Himmlische soll begrüßen, was idi dir biete, arm ist die Hand, mein Herz ist dir eigen, adi so ist nun erfüllet mein Flehen; alles Sdirecken die Winde verwehen und idi erkenne nun wieder die Welt, die mir von neuem so wohlgefällt. Was idi tief im Herzen träumte, was ich nimmer möglich meinte, ist nun alles schon geschehen, liegt vor mir so klar und wahr — ich allein, idi bin noch falsch. Nein noch kann ich dich nicht sdiauen, schwere Schuld drückt noch mein Herz, früher sollt ich dir vertrauen, noch empfang idi nicht die Hand, die so offen, die so rein sich in jeder Linie fand, die so weiß, so mild, so gut, strahlt vom blauen Himmelsblut." (Werke XVI S. 85.) Wenn man die Stelle, bei der zunächst auffällt, wie die Assonanzen der Sprache Musikalität verleihen, in Verszeilen schreibt, ergeben sich 21 vierhebige Jambenzeilen: Zu deinen Füßen himmlische Güte, / laß midi besinnen wie mir geschehen, / wie idi dich Himmlische soll begrüßen, / was idi dir biete, / arm ist die Hand, / mein Herz ist dir eigen, / adi so ist nun erfüllet mein Flehen; alles Schrecken die Winde verwehen, / und ich erkenne nun wieder die Welt, die mir von neuem so wohl gefällt. / Was ich tief im Herzen träumte, / was ich nimmer möglich meinte, / liegt vor mir so klar und w a h r / ich allein ich bin noch falsch. / Nein noch kann ich dich nicht sdiauen, / schwere Schuld drückt noch mein Herz, / früher sollt ich dir vertrauen, / noch empfang idi nicht die Hand, / die so offen, die so rein, / sich in jeder Linie fand, / die so weiß, so mild so gut, / strahlt vom blauen Himmelsblut. /
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Während in den ersten 9 Zeilen das metrische Schema etwas verschwimmt, ist es in den folgenden 11 Zeilen so exakt ausgeführt, wie „mit Blei und Richtschnur durchgemessen" (Steig I S. 51), daß es direkt schwerfällt, beim Lesen nicht ins leiern zu kommen. Die Kola sind sehr kurz (ich habe sie angedeutet: / ) , fallen meist mit den entstehenden Zeilensdilüssen zusammen, nur da, wo sich die Zeilenenden reimen, werden sie größer. Das ist bezeichnend, es ist gleichsam die Sogkraft der Reime, die eine größere rhythmische Einheit bildet, damit, während der erste Reim noch nachklingt, sogleich der nächste den Nachklang verstärken kann. Ein Hinweis darauf, daß der Dichter sich der Sprache gegenüber nachgebend verhält, auch wenn zunächst das überaus exakt ausgeführte Metrum an einen Sprachdiktator denken läßt. Klang, Metrum und Rhythmus haben die Oberherrschaft, denn ohne sie hätte jener Liebende sich sicherlich anders ausgedrückt. Wenn Cardenio einen Monolog letzter Verzweiflung beginnt: „Komm du geprüfter Stahl aus der bescheidnen Scheide, vorleuchtend strahlst du wie ein Blitzstrahl durch das Zimmer und deines Spiegels Schimmer laufen an den Wänden" (Werke XVI S. 188),
kann man auch hier feststellen, daß sich der Aussagewille des Dichters nicht gegen die Sprache durchzusetzen vermag. Er wiederholt die Sprachklänge, häuft sie, läßt sich in ihnen gleiten, wo er die gedrängte, abgerissene Sprache einer verzweifelten Seele wiedergeben wollte. An anderer Stelle vermag die naiv auftretende Reimfreude den Schauder einer Geisterstimme bis zur Puppenspielkomik zu dämpfen (Werke XVI S. 219). Hier allerdings fragt man sich: vermag sich ein Aussagewille nicht durchzusetzen oder soll treuherzig naive altdeutsche Bühnenstimmung, so wie sie sich die Phantasie des Dichters vorstellt, geschaffen werden? Ich möchte sagen, daß beides ineinander fließt. „Halle und Jerusalem" zeigt, durch die das Drama beherrschende direkte Rede begünstigt, eine streng parataktische Sprache. Vielfach fallen rhythmische Abschnitte und syntaktische Gliederung zusammen: „Meinetwegen hast du schon einmal dich von dem Wege der Tugend gewendet, wohl um so fester muß idi didi binden an den ernsten und rühmlichen Lauf, wo du auch wandelst im Kriege und Frieden, ruhig folg ich dir bis in den Tod und so sind wir nimmer geschieden, uns bezwinget nimmer die Not" (Werke XVI S. 89).
Gliedernd für diese Sprache ist nicht das logische, sondern das rhythmische Prinzip. Das läßt spüren, wie ihr die bewußte Formung fehlt.
In der Erzählprosa, wo der Erzähler einer festen Aufgabe verpflichtet ist, nämlich Gegenständlichkeit dem Leser oder Hörer zu vermitteln, oder in der dramatischen Rede, die stets auf ein bestimmtes Geschehen bezogen ist, werden die erwähnten sprachlichen Extreme
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natürlich selten erreicht. Erst wo die Sprache, solcher Bindungen ledig, dem unmittelbaren Ausdruck dient, neigt sie sich ihnen zu. Die bisher zitierten Beispiele standen diesem ja audi alle zum wenigsten nah. Umgekehrt können wir aber sagen, daß der Sprachklang auf strengere sprachliche Zusammenhänge lockernd und lösend wirkt. Arnim bestätigt uns das, wenn er den Reim als Lizenz für größere Freiheit wertet: „Gewiß ist es, es hängt sich viel Unnützes in der Reimlust an, es beschreibt sich so manches, die Leutchen singen so vieles, was andern gleichgültig ist" (Steig III S. 307).
Das bisher gewonnene Ergebnis, daß der Sprachklang Sinn und Art einer Aussage beeinflussen kann, darf deshalb Geltung für das ganze Gebiet des sprachlichen Ausdrucks beanspruchen. Es handelt sich bei dem bisher Mitgeteilten um Extremfälle, aber nicht um Ausnahmefälle, die als Symptome und Indikatoren einer stets vorhandenen Neigung der Sprache zu werten sind, der Arnim nur in unterschiedlichem Grade nachgibt. Jeden Augenblick kann im Fluß dieser Sprache ein Gefalle entstehen, die Möglichkeit zu einem Reim oder einer Assonanz sich bieten, deren Lockung Arnim nicht widersteht. „Ade Gertrud, süße Braut, ade mein geliebtes Rotroß, ade mein Leibhund Weidewund, das ist meine letzte Stund" (Werke I V S. 240),
so spricht in den „Kronenwächtern" der sterbende Blaubart auf einmal in Reimen. Es ist der Klang und Wortschatz des Volkslieds, der, durch irgendeine Assoziation hervorgerufen, hier eindringt. Arnims Sprache ist so nachgiebig, daß diese Reime im Erzählzusammenhang kaum auffallen oder ungewöhnlich wirken. Vor allem zeigt sich die an den Extremfällen erfahrene Eigenart der Sprache im Wortspiel, zu dem sich Arnim keine Gelegenheit entgehen läßt. Es geht nie darum, etwas geistreich zu pointieren, schlagender, schärfer, auszudrücken. Es dominiert darin der reine Sprachklang. Arnim nutzt die Möglichkeit aus, eine Klangassoziation anzubringen. Was er spielerisch anfügt, ist oft geradezu unsinnig. Es sind die Zufälle der Sprache, denen er nachgibt, das zeigt sich vor allem an den Mißverständnissen, die ihm oft zu einem Vorwand für ein Wortspiel dienen 21 ). Es finden sich zahllose Wortspiele im Werke Arnims und alle zeigen uns in gleicher Weise, daß es sich um reine Klangspielerei handelt, durch die sich bietende Möglichkeit eines Reimes oder einer Assonanz bedingt 22 ). Wir können uns hier auf die Arbeit von Bode berufen, der mehrfach hervorhebt und belegt wie für eine Assoziation, und diese läßt ja die Eigenart des Arnimschen Wortspiels entstehen, der reine Sprachklang entscheidend ist 23 ).
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Eine geradezu kindliche Freude hat Arnim auch daran, das gleiche Wort hintereinander in verschiedenen Bedeutungen zu gebrauchen, er ergötzt sich daran, „die kleinen Zauberdinger kurios auf den K o p f zu stellen 2 4 )". „Steigt der Wein uns in die Krone bei der Krone hohem Fest" (Werke XII, S. 3), heißt es in einem Gedicht anläßlidi des Krönungstages 2 5 ). Er liebt es, in seinem Erzählen eine neue Begebenheit durch ein Wortspiel mit dem vorher Erzählten zu verknüpfen. So schließt in den „Majoratsherrn" die Schilderung des Anzugs des Leutnants, damit zur weiteren Erzählung überleitend: „Das Bedenklichste des ganzen Anzugs war aber das Portépée, weil es nur mit einem Faden am Schwerte, wie das Schwert über dem Haupte des Tyrannen am Haare hing. Das Schwert hatte leider das Unglück des armen Teufels gemacht und den Lebensfaden eines vom Hofe begünstigten Nebenbuhlers in den Bewerbungen bei einer Hofdame durchschnitten (Werke II S. 1 9 6 ) 2 6 ) . Was uns im Wortspiel und den ihm verwandten Erscheinungen sichtbar wird, spüren wir oftmals an ganz unauffälligen Stellen seiner Formulierungen. Er kommt über ein einmal gebrauchtes Wort, wie es scheint, nicht so leicht fort. Zum Beispiel: „Zwischen dem offenen Meere, wo alle Küsten schwinden, und zwischen einer Fläche, auf der kein Haus zu finden, ist sehr wenig Unterschied; mühsamer ist es in jedem Falle, über Erdfläche hinzugehen, statt das Schiff unter sich lustig gehen zu lassen, und viel verzweiflungsvoller, wenn ein neuer Hügel hinangeschritten und die Fläche sich immer weiter hinausdehnt." (Werke IV S. 144.) Die Anapher als eine in Arnims Sprache häufig auftretende rhetorische Figur läßt sich vielfach im Sinne einer Faszination durch den K l a n g deuten, wie im folgenden Fall: „ . . . leben will ich nicht, wenn ich den Geliebten nicht räche, will midi allen Fürsten zu Füßen werfen, daß sie mich rächen, dem will ich mich verloben, der mich rächt, dem bin ich ewig eigen, der mich zu rächen sein Schwert in diesen verruchten Zauberer stößt" (Werke IV S. 241). M a n kann deutlich spüren, wie die Sprache durch die Wiederholung von rächen rhythmisch wird, eine K l i m a x deutet sich an. Die Wortwiederholung zieht die Spradie gleichsam fort, sie wird rhetorisch, wo sie nach Arnims Absicht Aussprache einer tief Erschütterten sein soll. Ich habe außer auf die Klangelemente auch auf den Rhythmus hingewiesen. Vor allem an den Beispielen aus „ H a l l e und Jerusalem" konnten wir feststellen, daß die Sprache rhythmisch bewegt wurde, ja daß die Prosa einer metrischen Bindung wich. Eine starke Einwirkung des rhythmischen Prinzips sogar auf den Sinn ließ sich feststellen. Es bleibt hier nur der Hinweis, daß sich die Neigung zur Rhythmisierung
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in der gesamten Prosa findet, nicht wie die Klangbindung sich vor allem auf lyrikverwandte Aussagen bezieht. Mehrfach haben frühere Arbeiten darauf hingewiesen 27 ): „Sie drückte seine Hand und sagte: So dienen Sie mir frei und ohne Lohn, wie Sie bisher getan. — Nicht so, erwiderte er, die Hoffnung lohnte menschlich mir, der Schein ist mir versunken, ich finde nicht den Weg zu diesem Hause, so bau ich mir in jenen Sternenräumen den neuen größern Tempel auf; was unerreichlich, ist sich alles gleich! Wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott, wer ungeliebt hier lebt, den holt der Teufel — ( W e r k e XII S. 146.)
Es sind deutlich Jamben, welche sich in der beschwingten Sprache ausprägen. Rhythmisch wird auch die Sprache im folgenden: »Herrlich glänzen Deine Augen, wie ich nimmer sie gesehen, weithinleuditend über die erschreckte Flur und die Feinde, statt zu streiten beten demutvoll zu Dir und bitten Didi um Frieden." (Werke IV S. 375.)
Die normale Wortstellung kann zu Gunsten der rhythmischen Wirkung verändert werden 28 ). Wichtig scheint mir die Feststellung, daß es sich bei der Neigung zur Rhythmisierung der Sprache nach Arnims eigener Aussage um einen unwillkürlichen Vorgang handelt. .Ich wollte an Dich schreiben, aber meine Worte wurden Verse und stellten sich maschinenmäßig wie alte Soldaten zu Gedichten zusammen. Meine Neigung zu Silbenmaß und Reim vermehrt sich, ich habe schon ganze Reihen, wenn ich nur die Namen der Silbenmaße erfahren könnte, sie gehören alle dem Zufalle, die Sonette ausgenommen" (Steig I S. 32, vgl. auch S. 51).
berichtet er einmal an Brentano. »Ich habe es hier ganz gefühlt, welch ein freundschaftliches Silbenmaß in aller Natur ist, mit mannigfaltigen Reimen durchflochten",
schreibt er im gleichen Brief vom Kahlenberge bei Wien. Und der Erzbischof in der „Päpstin Johanna" nennt die Metrik „das Haupt der Rede und des Lebens" (Werke X I X S. 173). Rhythmus und Reim liegen also bereits in der Sprache selbst, ja für Arnim, der einmal sagt, daß „alles der Poesie wegen" (Steig I S. 38) geschehe, in der Natur selbst, beruhen nicht auf der formenden Leistung des Dichters. Metrum, Rhythmus und Klangelemente, damit läßt sich der Gang unserer bisherigen Überlegungen abschließen und zusammenfassen, liegen lockend, sich anbietend, überall da bereit, wo menschliche Sprache erklingt. Der Dichter muß nur lauschen können, dann fließen sie ihm von selbst zu. Lausdien und sich hingeben dem Zauber der Sprache, Freude am Reichtum ihrer Einfalle und den vielfach sich zeigenden Verbindungslinien zwischen den Einzelklängen und Einzeldingen, das kennzeichnet Arnims Verhältnis zur Sprache. Er zwingt sie nidit, son2 Rudolph, Achim von Arnim
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dern ist immer bereit ihr nachzugeben. Am glücklichsten ist er, wenn sie ihn im gleichmäßigen rhythmischen Fluß von Klang zu Klang, von Einfall zu Einfall trägt. Wenn Paul Aron sagt 29 ), Arnim wolle mit seiner Sprache musikalische "Wirkungen erzielen, so ist das viel zu willentlich. Das Ideal ist für ihn die Hingabe und das Sich-gleiten-lassen im Strömen der Sprache. Das wird bei der Betrachtung seiner Lyrik sehr deutlich. Lyrische Welthingabe ist nämlich bei Arnim Hingabe an die Sprache. Ich habe bisher nur die Klangassoziation erwähnt und meinte damit, daß der Klang das auslösende Moment war, das zur Aneinanderbindung zweier Vorstellungen führte. Daneben kennt Arnim auch die Ideenassoziation, d. h. eine Vorstellung ruft ohne den Umweg über die Sprache eine andere hervor. Ich werde diese, die ebenfalls sehr wichtig ist, unter dem Stichwort Phantasie behandeln. Auf beide Weisen der Assoziation vermögen ganze Reihen von Vorstellungen zu entstehen und Arnim läßt sich willig von der Kette der Assoziationen immer weiter ziehen. Die beiden Arten der Assoziation lassen sich jedoch nur in der theoretischen Erörterung eindeutig trennen, sie gehen in Wirklichkeit immer wieder ineinander über, wenn auch das Wortspiel sich meist eindeutig der ersten Art zuordnen läßt. Im folgenden soll die Möglichkeit erwähnt werden, daß sich Arnim ganz den auftretenden Assoziationen überläßt, daß aber die Sprache dabei Ausgangspunkt und Stützpunkt bleibt. Wolff beschreibt diese Erscheinung in seiner Dissertation folgendermaßen: „Es ist so als ob der Dichter einen Satz niedergeschrieben hätte, den er sich aber dann gedanklich nicht wiederholte. So bleibt dann o f t ein Wort oder ein Satzteil aus dem gerade Niedergeschriebenen klanglich, aber auch gedankenmäßig einfach im Gedächtnis haften. A n dieses Wort knüpft sich der nächste Satz als Gedankenassoziation, die gern wunderliche Wege geht und unbewußt entstanden scheint. So steht dann ein Gedanke neben dem andern ohne eine logische natürliche Verbindung 30 )."
Der Anfang eines Briefes im „Ariel" verdeutlicht, was gemeint ist: „. . . mein Brief ist schwer, ehe ich noch die Feder angesetzt habe; ein Trauerspiel und ein Lehrgedicht liegen darin und mein Herz ist nodi schwerer von Trauerernst und gelernten Gedichten. Wenn die Ähren schwer sind brechen die Halme, das ist mein einziger Gedanke, denn an Gedanken bin ich federleicht . . . so leer und tonlos wie ein verfallenes Haus, worin lange eine liebe Stimme wiederschallte, — und die Stimme ist fortgezogen" (a. a. O. S. 198).
Man gewinnt den Eindruck als ob der Schreiber gar keine eigenen Gedanken besäße, als ob sie ihm alle aus der Sprache zuströmten. So wird einmal das Wort „reißen" nach allen Seiten gewendet, vermag den Mangel an zusammenhängenden Gedanken zu verbergen:
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„Was riß midi fort? Was hielt mich dort? Midi hielt ein Blick, sie hat ihn abgewendet vom Glück. Nun reißen vier Stricke am Wagen gespannet, midi weg von dem Glücke, ich hab midi ermannet. Den Wagen sie ziehen, die Steine erglühen, war einer gerissen, idi hätte halten müssen. Warum reißet mein Sdimerz dodi nie und schreiet nur immer: Flieh." (Werke VIII S. 60)«). „Ein Auge bricht", beginnt ein Gedicht im „Ariel", „doch volle Ähren brechen empor nach wenig Zeit aus Totenschädeln" (a. a. O. S. 124), so lautet des Dichters tröstender Hinweis auf die Macht des Lebens, den ihm offenbar die Sprache vermittelt hat. Arnims Rede hat manchmal Ähnlichkeit mit der als seltsam, mit dem „Gange einer Springmaus" verglichenen Redeweise Wallers in der „Dolores" „Ihr bildet Euch viel auf Eure Liebe zueinander ein, aber die Liebe läßt sich nicht einbilden, wie der Schwindel nidit mit der Vorstellung wegzubringen ist, daß man die Stufen eines Turmes auf ebener Erde ohne Beschwerde aufsteigen könne; Ihr schwindelt einander aber täglich von ewiger Treue vor, Ihr werdet Euch auch wie Schwindelnde aus bloßer Furcht zu fallen, sich übers Geländer stürzen, über die Treue stürzen." (Werke V I I S. 309).
Es deutet sich hier ein Verhältnis zur Sprache an, das nicht nur für so besonders ausgeprägte Fälle gilt, wie ich sie angeführt habe, sondern das sich mühelos überall feststellen läßt. Man meint Arnim beginne zu sprechen ohne um das Ziel seiner Rede zu wissen, überzeugt, das werde ihm schon „unterwegs" einfallen. Debus 3 2 ) spricht von einem haltlosen Nachgeben gegenüber allen möglichen Assoziationen, Arnim komme vom Hundertsten ins Tausendste. Einander zeitlich, geschehnismäßig und logisch Fernliegendes drängt er manchmal in wenig Sätze zusammen. Auch seine Eigenart Entgegengesetztes assoziativ miteinander zu verbinden, um eine Kontrastwirkung zu erzeugen, muß als ein Nachgeben gegenüber den durch die Sprache vermittelten Vorstellungen gedeutet werden: „. . . in seinem Herzen war es jetzt so warm und draußen so kalt". (Werke V I I S. 68). „. . . knackte Nüsse, die meist hohl waren, sein H e r z war voll". (Werke V I I S. 158).
Im gleichen Sinne läßt sich die oft gebrauchte Stilfigur des Oxymoron anführen, die Paul Noack als die eigentliche poetische Figur der Prosa Arnims anführt 3 3 ). Die sich sehr häufig bei Arnim findende Stilfigur der Antithese zeigt Verwandtschaft mit der genannten Eigenart: „Draußen tobte ein Marktgewühl auf der Straße, in ihm war alles so stille. Er setzte sidi nieder und schrieb. Erkenne, Herr, der D u die Welt gefüllt hast, diese Leere meines Herzens, diese Leere meiner Gedanken, 2·
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Die Spradie befreie midi von Qual und Angst, nirgends halte idi midi, nichts hält midi, ich schwanke und muß vergehen, stärke midi, Herr; wo ich mich sudie, da finde idi mich nicht, w o ich Dich suche, Herr, da fühle idi nichts, mein Dasein ist mir ein Gram und ich kann midi nicht vergessen, mein Leben ist mir eine Krankheit, und dodi sind die Krankheiten mir ein Schrecken." (Werke VIII S. 139).
Die Sprache schwingt hier gleichsam zwischen zwei Polen hin und her und man gewinnt den Eindruck, daß sich der Dichter wiederum der Eigenbewegung der Sprache beugt. Der stark rhetorische Charakter, den die Sprache jedesmal beim Auftreten dieser Stilfigur erhält, vermag unsere Deutung zu stützen, denn Rhetorik bedeutet immer ein Überwiegen der sprachlichen Mittel über die Menge der mitgeteilten Gedanken und Empfindungen. In der Umgangssprache besteht sogar eine Neigung, Rhetorik und leeres Gerede miteinander in Verbindung zu bringen. Der rhetorisch Sprechende läßt sich immer vom Flusse der Sprache tragen, von ihrer „Überzeugungskraft" hinreißen. Unter dem Gesichtspunkt des Rhetorischen läßt sich auch Arnims immer wieder zu beobachtende Neigung zu pathetischen Reden fassen, in denen die klingenden Worte den fehlenden Sinn verbergen. Begeistert zieht Arnim „alle Register", entzückt von den Möglichkeiten, die die Sprache bietet und vergißt oft genug, daß dieser Aufwand in keinem Verhältnis mehr zum mitgeteilten Inhalt steht, wie im folgenden Fall, wo zwei sterbende Freudenmädchen, die sich gegenseitig aus Eifersucht erstochen haben, tönende Monologe halten: „. . . Siehe Unglückseliger, zwei Opfer deiner göttlichen Schönheit; ich konnte nichts als Sterben, seit ich Dir entsagt; O Amor! wie hat deine Flamme mich verzehrt, daß ich mein eigenes Haus angezündet habe; wisset es ist meine Zwillingsschwester, die idi zum Gefechte gezwungen, mit der ich einträchtig zusammen ruhte im Leibe der Mutter, die ich zur ewigen Ruhe niedergestreckt; es ist meine Sdiwester, die midi mitnimmt in die grausenden Lieblichkeiten des Venusberges, in welchem wir bis zum jüngsten Tage schmachten müssen nach dem Genüsse, in welchem wir uns hier übernahmen." (Werke I V S. 49).
Noch lang geht es im gleichen Stil weiter. Wir spüren darin Hingabe an die Möglichkeiten der Sprache. Um den Kreis der Beobachtungen, die wir unserem Sinne an Arnims Sprache machen können, möglichst weit auszuschreiten, sei auch noch eine Eigenart seiner Metaphorik erwähnt. Arnim sucht die Gleichnisse möglichst weit auszudehnen, die metaphorische Sphäre nie zu früh zu verlassen. Dabei — und das zeigt wieder wie er sich der „Eigenbewegung" der Sprache anvertraut — verliert er leicht die Richtung und die Gleichnisse überschneiden sich, so daß oft ungewollt die stilistische Figur der Katachrese entsteht.
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Die Herrsdierrolle der Sprache zeigt sich auch daran, daß sprachliche "Wendungen, vor allem Sprichworte und Redensarten, wörtlich genommen werden und dadurch imstande sind, ganze Motivreihen zu bilden, in die Handlung einzugreifen. Das ist ζ. B. in den „Kronenwächtern" bei der Redensart „mein Magen verträgt Steine" der Fall. Anton, der das von sich sagt, hüllt zum Scherz kleine Steine in Brotkrumen und verschluckt sie. (Werke IV S. 156) Aus dem, was der Erzähler beim erstenmal zufällig dahin gesagt hat — es ist eine verbreitete Redensart, die leicht einmal einfließen kann — wird ein Motiv, das sich immer wieder mit Anton verbindet. So will er später als er Geldmangel hat, als Steinfresser auf dem Jahrmarkt auftreten. Ein andermal lädt er einen Gast ein und läßt ein Gericht Steine auftragen, welche er selbst mit Behagen ißt, während sich der andere, in der Meinung es handele sich um indianische Eier, einen Zahl daran ausbeißt. (Werke IV S. 270) „wie eine losgelassene Mühle ergossen sich schäumend die Schimpfreden", beschreibt Arnim die Streitrede der beiden Dirnen im 2. Teil der „Kronenwächter". Zugleich berichtet er, es seien die Zwillingstöchter eines Müllers, deren Schönheit ihrem Vater viel Mahlgäste angelockt habe, bis die Lust der Welt beide Mädchen aus der heimatlichen Mühle weggelockt habe. (Werke I V S. 37) Die Mühlenvergleiche spielen von nun an im Zusammenhang der Schilderung der beiden Mädchen immer wieder eine Rolle, bis in den schon zitierten Monolog der Sterbenden: „. . . O, halte mich fest, geliebter Anton, wer läßt den Boden unter mir gleich Korn durch den Mühlstein gehen, er sinkt, er sinkt! schon faßt mich der rollende Mühlstein; mein Vater, warum hast du deine Mühle angelassen und deiner Kinder nicht gedacht. Und die andere schrie: Vater warum hast du den Strom angelassen, er treibt mich in das Rad; das Bad war mir so kühl und lieblich." (Werke I V S. 51).
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren als sei hier eine ganze Handlungsreihe aus dem der Umgangssprache geläufigen Mühlenvergleich (wie eine losgelassene Mühle . . . ) entstanden. Das wäre ein eindrucksvoller Beweis für Arnims Art, sich den Augenblickseinfällen der Sprache hinzugeben, die Sprache selber „dichten" zu lassen. In einem andern Fall ist das völlig eindeutig. Dort (Werke IV S. 355) berichtet er vom Junker Blaubart, daß er im Kampf bald blaue Augen geschlagen bekommt. Interessant ist auch, daß er im zweiten Teil der „Kronenwächter" von einer seiner Romangestalten berichtet, daß das Wörtlichnehmen der Redensart „auf einen grünen Zweig kommen" diese anregt, ihrem Leben eine Wende zu geben. (Werke IV S. 261) Dort klagt auch ein alter Vater dem unerkannt zurückgekehrten Sohn: „. . . meinen einzigen Sohn hat ein Wolf zerrissen und seines Lammes geschont". (Werke I V S. 70).
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Die Assoziation reißender Wolf und Lamm, die in die redit pathetische Rede einfließt, schafft wiederum eine ganze Handlungskette, die sich ins Groteske steigert 34 ). Das Wörtlichnehmen gegebener sprachlicher Wendungen spielt audi bei der Bearbeitung der Wunderhornvorlagen eine große Rolle, ist dort oft Anlaß zu Erweiterung und Umdichtung wie es die Arbeit von Bode vielfach belegt35). Die sprachliche Fügung ist bei Arnim durch die überall vorherrschende Parataxe bestimmt. Auch das haben frühere Arbeiten zur Genüge hervorgehoben 38 ). O f t ist sie durch die der gesprochenen Sprache angepaßte direkte Rede bestimmt, die Arnim gern audi in der Erzählprosa anwendet. Aber auch da, wo der Erzähler zu Worte kommt, findet sie sich. Sogar in der folgenden Schilderung eines immerhin „aufregenden" Ereignisses: „Die Menge dieser Feinde war groß, aber Anton verlor den Mut nicht; er nahm die Muskete eines Soldaten, legte an und schoß los, daß die Kugel über die Häupter der Bürger hinsauste, da wußten die Hintersten nicht, daß ihrer Feinde so wenig nur waren, sie sprangen in der Eile über eine Kirchhofsmauer, die ihnen im Rücken lag, die andern sprangen nach, wie wir bei Schafen sehen, wenn eins emporgesprungen ist, so springen da alle nadi. Die Vordersten, die hinter sich plötzlich das Geschrei hörten und die Flucht wahrnahmen, meinten, ihnen sei ein unbekannter Feind in den Rücken gekommen, und fürchteten sidi vor zwei Feuern und liefen nach allen Richtungen." (Werke I V S. 53).
Die Möglichkeit einer dramatischen Ereignisschilderung, die eine gedrängte hypotaktische Fügung beanspruchen würde, nützt Arnim nicht aus, sie findet sich an keiner Stelle seines Werkes. Seine Sprache ist nicht zielgerichtet, hinter ihr steht kein weitertreibender Formwillen, wie wir ihn extrem ausgeprägt etwa in der Sprache Kleists haben 37 ), sie fließt ruhig dahin, jeden Augenblick bereit, sich von irgend etwas aufhalten zu lassen, ein Gleichnis, ein Bild einzubeziehen. Manchmal wird die Fülle der Bilder zu groß, die Einfälle drängen sich und der Vortrag wird hastig, aber das vermag den Gesamteindruck, den Arnims Sprache erweckt, nicht zu stören. „Arnims Prosa . . . hat dahin",
keinen
Willen,
sie
schwebt
ohne
Nachdruck
sagt Gundolf 38 ), der gerade die letztgenannte Möglichkeit erwähnt und gegen Kleists Prosa abhebt. Arnims Neigung Parenthesen zu bilden, den Zusammenhang eines Satzes zu zerreißen, um irgend etwas, was noch einfällt, dazwisdienzuschieben, muß hier genannt werden. Charakteristisch ist das folgende Beispiel: „. . . der Doktor entschuldigte sich, daß er noch einen Augenblick zu einem Kranken gehen müsse, den er wegen eines dringenden Geschäfts, er sei Stadtausrufer, in acht Tagen von der Lungensudit kurieren müsse". (Werke VIII S. 66).
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Es besteht die Möglichkeit, daß Arnim, den verschiedensten Assoziationen und Einfällen nachgebend, diese in seine Rede einflicht und dadurch umfangreiche und komplizierte Satzgebilde entstehen. Kompliziert erscheinen diese aber nicht dadurch, daß die Sätze zu künstlich ineinander verschlungen und verschachtelt sind, sondern, weil die gewohnte logische Ordnung fehlt und die Sätze oder audi einzelne Worte meist einfach aneinandergereiht sind. Dem Lesenden ist es dadurch oft kaum möglich, die rechten Beziehungen wiederherzustellen. Ein Beispiel für diese seltsame Verschachtelungsmanier, die den Satz erst nach mehrmaligem Lesen klar werden läßt, sei hier mitgeteilt. In der Vorrede zu den vier 1812 erschienenen Novellen erzählt Arnim eine phantastische Geschichte vom Pegasus, den man nicht zureiten dürfe, sondern dem man sich anvertrauen müsse, sonst werde man schließlich selbst wiederum zugeritten. Wer erst auf diese Weise Dichter war, werde, verwandelt, Begeisterung eines Dritten. Er faßt die Moral dieser an sich sdion dunklen Geschichte wie folgt zusammen: „Mit kleiner Abänderung kann ich sie auf Euch anwenden ihr Zuhörer (und Leser) der märchenhaften Geschichten, die idi droben im Gebirge einem Zigeuner abhörte, und mit Federn aufschrieb, die einem alten erfrornen Adler ausgerissen, wenn ich annehme, daß idi endlich dodi audi meinen Pegasus, statt ihn zu reiten, zureiten wollen, und, darum verwandelt, Euch, (wie die Vorzeit) mit meinem Werke, nicht als Dichter mit meinem gegenwärtigen Wirken in die wunderbaren Klüfte locken möchte, welche eine starke Sehnsucht in jedem zurücklassen, der sie einmal betreten hat, die Seinen erst, und so weiter die ganze Menschheit dort zu versammeln." (Werke I S. X X f.)
Man hat das Gefühl, daß der hier Sprechende selbst jederzeit bedroht ist vom Verlust der Überschau über das, was er sagen will, er preßt zusammen, als fürchte er sonst die Hälfte zu vergessen. Arnims Sprache neigt dazu, immer das Nächstliegende zu erfassen, so daß eine Schilderung in ihrer „Eigendynamik" 39 ) leicht den Geschehniszusammenhang zu übertönen vermag. Ich erinnere in den „Kronenwächtern" an die Schilderung der aus der Badstube hervordringenden „rotangelaufenen" Gestalten als man den toten Martin zum Bader bringt, über der man das Erschütternde des Ereignisses gar nicht bemerkt. (Werke III S. 53.) Die Sprache kann auf diese Weise scheinbar epische40) Züge annehmen, der so Sprechende und Erzählende scheint von nichts mehr bedrängt zu sein, ganz nach Belieben scheint es ihm möglich, Einzelheiten und Nebensächlichkeiten ins Auge zu fassen41). Die Haltung aber, die diese Züge entstehen läßt, ist gerade das Gegenteil einer epischen Welteinstellung. Sie entsteht nicht durch Gleichmut und den ruhigen Abstand vom Erzählten, sondern aus dem Fehlen jeglicher
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festen eigenen Einstellung. Der, welcher hier spricht, wird von allen möglichen Gegebenheiten angezogen bis zur Hingerissenheit. Idi möchte hier an die im ersten Kapitel besprochene Eigenart des Arnimsdien Verhältnisses dem Stoff, der Vielfalt der Welt gegenüber, erinnern. Genau diese Einstellung ist es, die sidi hier in der Sprache spiegelt. Es überschneiden sich nämlich in der Sprache Arnims zwei Gegebenheiten. Einmal die Hingerissenheit von den sinnlichen Elementen der Sprache, die idi eingehend erwähnt habe, zum anderen die unkontrollierte Hingabe an die Dinge, an die bunte Weltfülle, die den Charakter seiner Sprache entscheidend mitformt. Das letztere sei hier als ein zweiter Gesichtspunkt zur Erfassung der Arnimsdien Sprache dem bereits eingangs hervorgehobenen hinzugefügt. Die Neigung dieser Sprache, sich immer wieder aufhalten zu lassen, besonders anziehende Einzelheiten breit auszumalen, zeigt sich in der häufigen Verwendung des Tableaus 4 2 ): „. . . Die Kinder knieten in der Morgensonne in Reihen auf den Stufen der großen Treppe, die zum Münster hinaufführt, nieder und beteten ein jeder, was er wußte und was seinem Gemute redit demütig klang, daß der H e r r ihnen die Lust des Jahres beschütze. Der Glöckner sah die Betenden und öffnete die T o r e des Münsters, da strahlte die Sonne durch das Goldglas über dem Altare, die Türen, welche die heilige Mutter Gottes verschlossen, sprangen auf; da glänzte sie mit silberner Krone und ihr Kind hatte segnend zwei Finger aufgehoben, eine Taube, die auf dem Altare eingesperrt worden, flatterte in sanften Kreisen über beiden und schwebte dann empor" (Werke I V S. 3 3 6 ) 4 3 ) .
Unter dem Gesichtspunkt des malerischen Sehens behandelt K a r l Debus die gleiche Erscheinung 44 ). Die Sprache kristallisiert zum Bild, das um seiner selbst willen breit ausgemalt wird, so daß man deutlich spürt, wie der Erzähler von dem Bild, das er entwirft, gefangen ist. Dabei gleitet aber das Bild leicht ins Posenhafte, Opernhafte ab. Arnim vergißt den Zusammenhang, in dem es zum übrigen Dargestellten steht. Es ist überhaupt eine gewisse Hypertrophie des bildhaften Elementes in der Sprache Arnims vorhanden, und durch die Art seiner Phantasie verständlich, die immer wieder von Einzelheiten zur Ausmalung angeregt wird. Das, was zuletzt unter dem Gesichtspunkt einer scheinbar epischen Haltung behandelt wurde, birgt ein entscheidendes Problem der Arniminterpretation: H a t man das Recht von der Neigung Arnims ausgehend, Einzelheiten ins Auge zu fassen, seinen oft treffend charakterisierenden Bildprägungen, in Arnim einen Vorläufer des anbrechenden Realismus zu sehen, des neuen Willens, die Welt nicht mehr durch das Perspektiv des betrachtenden Subjekts 4 5 ) zu sehen? Eine solche Einordnung, wie sie Esser 46 ) versucht, ist, wie ich glaube, nicht haltbar;
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das bisher Dargelegte wird meine Auffassung stützen. Man muß ja immer bei der Interpretation von Dichtung den Stellenwert einer Einzelheit berücksichtigen und der ist, falls sich wirklich Züge finden, die sich eindeutig dem kommenden Realismus zuordnen lassen, nicht hoch zu veranschlagen. So wie es grundsätzlich verfehlt ist, eine scharfe Trennung zwischen älterer und jüngerer Romantik zu ziehen, läßt sich Arnim als Vertreter der jüngeren Romantik in keiner Weise von der Romantik als einer einheitlichen Erscheinung abtrennen und mit dem kommenden Realismus in Verbindung bringen. (Vgl. auch unten das Kapitel über das „Typische".) „Arnim besaß nicht die Kraft, sich einen eigenen Stil zu schaffen", stellt Paul Aron mit Recht fest. Die Eigenart seines Stils wechsle dauernd, ließe eine einheitliche Haltung vermissen47). Auch Gundolf verneint die Möglichkeit von einem „eigenen Arnimschen Erzählstil" zu sprechen, er nennt Arnims Stil „eine
briidiige
Mischung
zwischen
sachlichem
Bericht
und
poetischer
Reflexion«)«. Das Fehlen des eigenen Stils findet einen wesentlichen Grund darin, daß Arnim, wie schon erwähnt, danach strebt, möglichst unmittelbar, so wie ihm etwas gerade erscheint, zu formulieren (vgl. das Kapitel über das Ursprüngliche). Auch er befleißigt sich des „Strebens nach den Eigentümlichkeiten der Sprache", das er an Lutiher hervorhebt 49 ). Lebendig und treffend sollen die Formulierungen sein und wer Arnims Sprache, etwa die der „Kronenwächter", daraufhin betrachtet, muß bestätigen, daß es ihm oft verblüffend gelingt, dieses Ziel zu erreichen, obwohl wunderliche und weit hergeholte Vergleiche und absonderliche Einfälle auf der anderen Seite den Tribut darstellen, den er seinem Streben nach Originalität zahlt. Bode hebt in seiner Wunderhornarbeit Arnims Absonderlichkeiten wiederholt hervor. Für vieles andere möchte ich folgenden verblüffenden Vergleich mitteilen: „Als ich das gehört, fiel es mir wie ein abgestorbenes Moos von der Seele, worunter sie sich dumpf zu decken gemeint hatte, während die Insekten an ihrer gesunden Rinde nagten" (Werke I S. 306).
Arnim gerät mit seinem Streben nach Unmittelbarkeit und Eigentümlichkeit leicht in den Bann des Augenblickseinfalls, des Momentanen, was auf Kosten des einheitlichen Stils geht. Wenn er die „Dolores" gegen die Kritik der Brüder Grimm damit verteidigt, daß er sie zwar flüchtig aufgeschrieben, aber nicht flüchtig gedacht habe (Steig III S. 75), so scheint mir darin eine Bestätigung für die Herrschaft des Momentanen über den Sprachformer Arnim zu liegen.
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Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen
Was hier über die Sprache Arnims ermittelt werden konnte, gilt für die ganze Breite seines Werkes, nur gradmäßig, nicht wesensmäßig unterscheiden sich in der Sprachbehandlung die einzelnen Werke voneinander. Der, der hier die Sprache formt, nimmt keinen festen Standort ein, läßt sich immer wieder von Einzelefïekten und Einzeleindrücken bestimmen. Der einheitliche Standort der Perception, von dem aus Kayser den Begriff Stil definiert 50 ), wird uns von der Sprache her nicht erfahrbar.
SUGGESTIVKRAFT SPRACHLICHER W E N D U N G E N , REMINISZENZEN Arnim hat vielfach älteres Sprachgut bearbeitet. Wie die Untersuchung von Bode über das Wunderhorn gezeigt hat, vermittelt der Vergleich von Vorlage und Bearbeitung oft tiefen Einblick in die Arnimsdie Arbeitsweise, gibt Aufschlüsse, die sicherlich auch für selbständige Dichtungen Geltung haben. So zeigt Bode mehrfach wie Arnim sprachliche Wendungen der Vorlage, auch bei einem von ihm völlig veränderten Sinnzusammenhang, beibehält. Es scheint als hätten einmal geprägte Formulierungen, oder bestimmte Worte der Vorlage, einen geradezu zwanghaften Einfluß auf ihn ausgeübt. „Die haben den lebenden schwebenden Lustgarten an dem Himmel", heißt es in einem Original von den Gestirnen. Arnim verändert dieses im „Wunderhorn", aber die Wendung „lebend und schwebend", die sich dort sinnvoll auf die Vorstellung hängender Gärten bezog, taucht in einer von Arnim interpolierten Strophe völlig sinnlos in anderem Zusammenhang auf: „Mein Garten von lauter Lust war gebaut Auf einem schwarzen Sumpfe. Und w o ich lebend und schwebend vertraut, D a ist ein Irrlicht versunken 51 ).
In der Erzählung „Eurialus und Lukretia" des Äneas Sylvius, die Arnim für seine Bearbeitung im „Wintergarten" in der Ubersetzung des Nielas von Wyle vorlag, findet sich die Schilderung einer Liebesnacht, die Arnim so nicht glaubte wiedergeben zu können. Statt die Stelle, wie er bei einer freien Nacherzählung ruhig hätte tun können, einfach wegzulassen, auch der Zusammenhang der Erzählung hätte keineswegs unter dieser Auslassung gelitten, paraphrasiert Arnim diese Stelle unter Benutzung der gegebenen sprachlichen Wendungen. Was dabei entsteht entbehrt jeden Sinnes. Ich stelle Vorlage und Bearbeitung gegenüber:
Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen Nielas von Wyle „. . . giengent sie sament in die Sdìlaufkamer, da sy ain solidi nachte hatten, als wir geloubent gewesen sin zwiischent zwayen liebhabenden menschen. zu den zyten do paris in hochen schiffen die geroubten Helenam hinfurt . . . vnd kust yetz den mund dann die begklin danne die ougen und hub vnderwilen uf die decke und besdhowet die haimlichhait die er vor nit hatt gesechen . . . O handelbare briistli. Gryff ich üch? hab ich üch nit? . . . Du hessige nacht, warumb flüchst du also? belyb usz Appollo ain got der sunnen . . . warumb setzest du als bald die pferd rosz in den wagen? verheng daz sy nodi mer grasses essent 52 )."
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Arnim „Und da gingen sie in die Schlafkammer. O schöne Nacht da Paris auf dem Schiffe die geraubte Helena heimführte, wer mag die Decke der schwarzen Nacht aufheben und die Heimlichkeit beschauen, die wir nie gesehen, um alles schöner zu finden als wir gemeint hätten; greif ich doch nidits, hab ich doch nichts. O Apollo Iaß deine Rosse noch ein mundvoll Gras essen.'' (Werke X I S. 37.)
Das Arnimsdie Verfahren erklärt sich nur wenn man eine suggestive K r a f t annimmt, die einmal Ausgesprochenes auf seine Phantasie ausübt. Unsere Annahme wird bestätigt durch Arnims sehr
augenfällige
Neigung, bekannte Formulierungen in seine eigenen einzubeziehen, er gerät gleichsam in das Gefälle dieser Wendungen 5 3 ). Sprichworte und volkstümlichen Redensarten,
Die
zahllosen
die Volksliedanklänge,
die Arnim in seine Sprache übernimmt 5 4 ), sind hier zu nennen, obgleich dort noch eine andere Tendenz mitwirkt,
sein Streben
nach
einer
lebendigen, eingängigen Sprache, wie er sie an Luther rühmt 5 5 ). Folgende Stelle aus dem „Hollin" erinnert deutlich an Fausts W o r t e als er das Zeichen des Makrokosmos erblickt, zugleich an
Egmonts
Monolog im Kerker und an die Geisterchöre im Faust. U m letzteres zu verdeutlichen schreibe idi die Prosastelle in Verszeilen Minors Anordnung 5 6 ): „Sieh wie die Mauern erbeben, Strahlen auf und nieder schweben, Kindlein mit goldnen Flüglein Auf der Leiter niedersteigen, Die Himmelsschaaren sidi vor mir beugen, Luft, Luft, Es öffnet sich jede Gruft, Mariens Auge die Himmelsbläue durchbricht, Freudig Erbeben, Seliges Leben, Ewiges Licht." (Hollin a. a. O. S. 73)
entsprechend
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Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen
Die gleiche Fauststelle klingt anderwärts noch einmal an: „. . . kommt immer nur auf dieser einen ewigen Himmelsleiter herunter, die Zeiten darin sind feste Sprossen, auf denen Regenbogenengel niedersteigen". („Von Volksliedern", Werke XIII S. 468)
Die Anklänge sind, wie hier deutlich wird, oft so zart und atmosphärisch, daß man bei der Frage der Vorbildlichkeit leicht unsicher wird. Es sind Reminiszenzen an Lektüre oder an sonst Gehörtes, wie sie Staiger in ungewöhnlicher Stärke für Brentano hervorhebt 57 ). Unmerklich, gleichsam assoziativ, fließen sie in die Sprache ein, so daß sidi der Dichter ihrer eindringlichen Wirkung nicht verschließen kann. Besonders reich an solchen Reminiszenzen ist die Lyrik, in der Arnim sich vorbehaltlos dem Strömen der Sprache hingibt. In der „Gräfin Dolores" findet sich ein Hochzeitscarmen (Werke VII S. 259 f.), in dem sich Reminiszenz und Eigenes kaum scheiden lassen. Ich teile ein Stück daraus mit: Es singt die Braut: „Der Myrthenkranz so lose Mir schon im Haare spielt, O Liebesbecher, Rose, Wie midi dein Duft hier kühlt; Lieb ist stärker als der Tod erfunden Wie ein Lamm zum Opfer bin ich bunden. Mein Hemdlein spielt im Winde."
Außer dem biblischen Anklang und der der Umgangssprache geläufigen Vorstellung vom Opferlamm, fällt vor allem der Anklang an Brentanos Fischerballade 58 ) auf, wo es heißt: „Dein Hemdlein spielt im Winde, Das Schifflein treibt so sdinell, Hüll dich in meinen Mantel, Die Nacht ist kühl und hell."
(Das im Winde spielende Hemdlein findet sich übrigens in Brentanos Gedicht selbst mehrmals.) Die Vorstellung des im Haare spielenden Myrthenkranzes hat offenbar assoziativ, zwanghaft, die in Arnims Zusammenhang gänzlich sinnlose Vorstellung vom im Winde spielenden Hemdlein hervorgerufen. Es heißt dann weiter: „Er ruft mir Kind geschwinde, Der Name des Herrn sei gelobt. Viel schwächer ich midi fühle, Da mir so nah die Lust, Als da idi fern dem Ziele Ans Sterben denken mußt; Nackt bin ich auf diese Welt gekommen, Nackt werd idi auch wieder aufgenommen, Der Name des Herrn sei gelobt. Amen."
Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen
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Hier hat Hiob 1,21 eingewirkt. Arnim fährt fort: (der Chor aller Gäste an die Braut) „Ein Engel wird dir decken, Die blauen Äugelein, Ein Engel überstrecien Sich um die Ohren Dein Niemand, keiner wird Dich mehr erblicken . .
Das Kindergebet: „Abends wenn ich schlafen geh . . . " ist deutlich in seinem Einfluß zu spüren. Im folgenden klingt ein "Wort des Neuen Testaments an: (Die Frommen singen) Ich liebte sie so stille, Wie Gott die Welt geliebt, Doch war es nicht sein Wille, Daß sie mich wieder liebt; . . ."
Auch in dem aus 77 vierzeiligen Strophen bestehenden Lied „Die Rose" („Ariel" a. a. O. S. 96 ff.) sind immer wieder unverkennbare Anklänge an Brentanos Fischerballade festzustellen: Arnim „. . . Ich löse des Kahnes Kette Idi schwanke fort im Rheine Zur Eil schlägt ihn mein Ruder, Ich grab im Abendscheine Zwei Grübchen mit dem Ruder. Die suchen wirbelnd beide Bis sie im Kuß verbunden . . . Die Kühlung ist so ladend Das Hemdlein wird so enge . . . Es glühen deine Augen, U n d rötlich scheint dein Hemde, Das Schwanken kann nicht taugen Den Nachen zu mir wende."
zum Vergleich Brentano
„Feinsliebchen bet Schwank nicht so Der Kahn möchte Der Wirbel reißt
hübsch stille hin und her uns versinken so sehr"
Die Art der Anklänge, die sich in diesem Gedicht immer wieder feststellen lassen, veranschaulichen die daneben gestellten Zeilen Brentanos. Der Gedanke der beiden Grübchen im Wasser, scheint in seiner Absonderlichkeit ebenfalls erst verständlich zu werden, wenn man an die Gestalt der Liebsten in der Fischerballade denkt. Arnim kommt offenbar nicht los von der Faszination des Brentanogedidites. (Vgl. auch „Ariel" a. a. O. S. 133.) Ein anderes Brentanogedicht gibt das Motiv für Arnims Lied der „kleinen Nachtigallen im Nest" ab. Es sind die Brentanozeilen: „O Mutter halt dein Kindlein warm, Die Welt ist kalt und helles»)",
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Suggestivkraft sprachlicher Wendungen, Reminiszenzen
die wie folgt wiederkehren: „Ach Mutter ist die "Welt so kalt, so leer und kalt wie unser Nest?" („Ariel" a. a. O. S. 192)
Man erinnert sich audi der ähnlichen Zeilen aus Brentanos Fischerballade: „. . . hüll dich in meinen Mantel, die Nacht ist kühl und hell."
An anderer Stelle darf man als Vorbild Verse aus Brentanos Loreleyballade vermuten 60 ). Mehrmals klingt im „Ariel" Goethe an 61 ), darunter zweimal das Lied der Mignon. Man könnte die hier angeführten Beispiele für die Übernahme von sprachlich Vorgeprägtem beliebig durch das ganze Werk vermehren. Wenn hier vor allem der „Ariel" zitiert wurde 62 ), so deshalb, weil hier Arnims Nachgiebigkeit besonders stark ist. Es sei auch darauf hingewiesen, daß bei Arnim in ähnlicher Weise Anklänge an eigene Formulierungen und Wiederholungen derselben immer wiederkehren 63 ). Einmal Formuliertem gegenüber verhält er sich nachgebend. In „Wunder über Wunder", einer Art von Parodie der Goetheschen „Wanderjahre", sagt Arnim: „Einzelne Eigenheiten des Goetheschen Stils gingen vielleicht dabei ohne meinen Willen mit ein, es war nicht meine Absicht, sie aufzufassen oder zu parodieren." (Werke X V S. 264)
Wir dürfen Arnim das ruhig glauben, denn das, was hier sichtbar wird, ist die häufig zu beobachtende Erscheinung, daß Arnims Text Anklänge an eine bearbeitete Vorlage zeigt, welche bis zu wörtlichen Übernahmen führen können. Dabei besteht die Möglichkeit, wie sie Kroiss im Falle der Erzählung „der Pfalzgraf, ein Goldwäscher" nachweist, daß der Ton der Rede deutlich in Abhängigkeit von der Quelle wechselt, d. h. es lassen sich in der so entstandenen Stilmischung die Teile erkennen, die Arnim frei hinzugefügt hat. Mit der eben genannten Erzählung habe ich die Frage nach der des öfteren hervorgehobenen archaisierenden Tendenz von Arnims Sprache angeschnitten, deren Lösung Gundolf in einer Weise formuliert wie wir sie auch hier akzeptieren können. Er ordnet sie dem Gesichtspunkt der unwillkürlichen Übernahmen unter: „Ohne daß er jemals bewußt ardiaisierte, verhört er sich doch immer an fremden Tönen, von dem der alten Volksbücher bis zu dem des reifen Goethe 64 )."
Arnim bleibt der Sprache gegenüber passiv und eindrucksfähig, willig ihren Reichtum an bereits bestehenden Prägungen zu übernehmen, wobei jeder Ansatz zu einer echten Aneignung fehlt.
Lyrik
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LYRIK Immer wieder unterbricht Arnim den Fluß seines Erzählens oder den Zusammenhang einer dramatischen Handlung, um Verse einzuschieben. Das entspricht durchaus einer Gepflogenheit seiner Zeit. Vielfach übernimmt er diese Verse, manchmal mit Veränderung, von einem Werk ins andere 65 ). Der Anteil an Lyrik ist deshalb in seinem Werke verhältnismäßig groß 86 ). Vielfach handelt es sich um Gedankenlyrik mit stark lehrhaften Zügen oder um Anlehnungen an den Stil des Volksliedes oder um Romanzen. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, im einzelnen darauf einzugehen, ebenso wird es sich hier auch nicht um das Erfassen des Wesens der Arnimschen Lyrik handeln. Es gibt bei Arnim Gedichte, die man in ihrem einfachen innigen Ton nie wieder vergißt 67 ), wir müssen diese übergehen, denn es soll nur ein Zug der Arnimschen Lyrik hier erwähnt werden, dem aber eine große Bedeutung zukommt. Was uns hier an Extremfällen deutlich werden wird, läßt sich, wenn auch abgeschwächt, überall in Arnims Lyrik spüren: es ist das Ubergewicht der sinnlichen Elemente der Sprache (Klang und Rhythmus), also das gleiche, was ich bereits im Sprachkapitel dargestellt habe. Was wir in der Sprache von Arnims Dramen und Erzählungen noch mit einiger Aufmerksamkeit zusammensuchen müssen, bietet sich in seiner Lyrik viel augenfälliger dar: Arnim gibt sich dem Klingen, dem Spiel der Sprache so stark hin, daß der Sinn im Klingen der Worte zu ertrinken droht. „Du magst vor reimen nicht zu Gedanken kommen" (Steig I S. 40)
schreibt Brentano dem Freund. Man könnte die Verse des „Dichters" aus dem „Hylas", einer in die „Dolores" eingelegten „Tragikomödie", auf Arnims eigenes Dichten beziehen: „Worte rufen nach Gedanken, . . . Da begegnen sie dem Reim, Daß er sie in Reih und Glieder Ordne zu dem Spiel der Lieder. Und dem Reim folgt der Gedanken Beide sind ein liebend Paar" (Werke VIII S. 343)
Es scheint, als seien Reim und Assonanz zuerst da und „die Sprache schwinge immer wieder von selbst ins Gleiche zurück, wie angezogen von einem Magnet 68 )"
Wie Brentano, für den Staiger ähnliche Züge feststellt, neigt auch Arnim dazu, den Umweg der „Sehnsucht zum Reim 69 )" so abzukürzen, daß die für jede Kunst notwendige Spannung verloren geht. So kommt
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Lyrik
es zu den gar nicht seltenen Gedichten im "Werke Arnims, wo die Verszeile so verkürzt wird, daß nahezu jedes zweite Wort einen Reim ergibt. „Meinen Blicken Glühend Funkeln, Froh Entzücken Aus dem Dunkeln Nebel schwinden, Strahlen rausdien, In den Winden Alle Lauschen; Bäume heben Grüne Blätter, Neu beleben, Warmes Wetter! Die Sonn im Lerdienklang, Der Winde Frühgesang, die Freude allen klang, Alles Genesung trank." („Ariel" a. a. O. S. 101) „Frei wie ein Himmelskind Schweb ich im leichten Wind, Kühlung umrauscht mich, Liebe belebt midi, Westwind bewegt midi Säuselnd allieblidi. Viel Grüße bringst du, Die Klage zwingst du; Süße Freude und Ruh Decken Leiden zu; Trinke idi Himmelblau, Sdiweb idi in Himmelau." („Ariel" a. a. O. S. 22)
Ist hier sdion der Sinn bedenklich zurückgedrängt, so sind es im „Pendellied" aus dem „Ariel" (a. a. O. S. 197) nur noch isolierte Worte, die zusammenklingen, lose durch eine gewisse Stimmung verbunden. Fast jedes Wort ist durch eine Assonanz aneinandergebunden, zugleich reimt jeweils das erste Wort einer Zeile auf das letzte der vorhergehenden. O f t ist es sogar wiederholt. Auch die bei Arnim immer wieder zu beobachtenden häufigen Wiederholungen, meist in Form eines Refrains, lassen sich als ein Nachgeben gegenüber dem Reiz von Klängen und Worten deuten. O f t überschreiten sie bis zum Monotonen und Gesuchten hin das Maß des Erträglichen wie die siebenmalige Wiederholung der folgenden Zeilen: „Er hatte schon lange besonnen, gesonnen am Bronnen, Er hatte Gedanken gesponnen, zersponnen am Bronnen, Die Wasser sind bang in der Sonne zerronnen im Bronnen" („Ariel" a. a. O. S. 76 ff.)
Lyrik
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W . Rudolph hebt in seiner Arbeit hervor, wie das Spielen mit Klängen für Arnims Lyrik charakteristisch sei. Ganze Wortgruppen oder auch einzelne Worte zwingen ihn in ihren Bann, die bloße Klangwirkung vermag ihn zu neuen Gedanken zu führen. Das wird ζ. B. in seinem Frühlingslied (Inselausgabe I I I S. 279) oder am Ende seines „Silvesterliedes" spürbar: „. . . Hebt uns zum Tanze, Dreht uns im Kreis, Schwingt uns im Kranze Jüngling und Greis" (Inselausgabe I I I S. 459)
T a n z , Kranz, Kreis und Greis scheinen völlig unwillkürlich aufeinander zu folgen. Es sind die Einfalle der Sprache, denen Arnim nachgibt, er läßt die Sprache für sich dichten. Wenn Clemens Brentano dem Freunde schreibt, daß er seinen Versen zu wenig Inhalt gebe (Steig I S. 39), so meint er damit wohl nichts anderes als jenes Übergewicht des Sprachlichen. „Arnims Sprache tönt nur ohne den Leser zu erfassen 7 0 )". Die Art wie das Inhaltliche nebensächlich wird, zeigt sich u. a. an den Übernahmen von Gedichten von einem Werk ins andere, wobei Arnim unbedenklich Einzelheiten ändert, Reimworte auswechselt, damit sie in den neuen Zusammenhang passen 71 ). Das einzelne Gedicht erscheint so nicht als eine in sich geschlossene Ganzheit. Das mag genügen. Ich möchte mich hier aus zwei Gründen nicht eingehender mit der Lyrik befassen, einmal, weil alles, was man an Untersuchungsmaterial noch heranbringen könnte, ähnliche Beobachtungsergebnisse vermitteln würde, zum anderen, weil das, worauf es der vorliegenden Darstellung ankommt, bereits in früheren Arbeiten festgestellt und belegt worden ist, auf die ich hiermit verweise 72 . Nur in ganz seltenen Fällen gelingt es Arnim, Lyrik im echten Sinne zu schaffen. Gewöhnlich ersetzen das Klingen der Sprache, die mühelos sich aneinanderreihenden Klang- und Ideenassoziationen, denn auch letztere spielen in seiner Lyrik eine große Rolle 7 3 ), die Einheit der Stimmung, bzw. diese bleibt subjektiv und der Sinnzusammenhang der Einzelheiten letztlich nur dem Dichter erlebbar; die viel hervorgehobene Dunkelheit des „Ariel" 7 4 ) ist ein deutliches Beispiel dafür. Die subjektive Stimmung vermag sich nicht zur Stimmung der Welt zu weiten 7 5 ). Punkt um Punkt, Klang um Klang verbinden sich so miteinander und man spürt den vermittelnden Dichter. Es kommt bei Arnim fast nie vor, daß sich jeglicher Abstand zwischen ihm und der Welt löst, daß er mitgleitet „im Strom des Daseins" 7 6 ), um jenes Ineinander von Dichter und Welt entstehen zu lassen, wie es für das echte lyrische Sein wesensbestimmend ist. Es scheint als sei es die 3 Rudolph, Achim von Arnim
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Phantasie
Sprache, die sich so sehr in den Vordergrund drängt, die den Vorgang der lyrischen Lösung verhindere. Ein bezeichnendes Beispiel dafür scheinen mir die Verse zu sein, welche Heymdal im »Ariel" spricht, „außer sich" einen Wasserfall betrachtend. („Ariel" a. a. O. S. 69 f.)
PHANTASIE Die Phantasie oder Einbildungskraft, die in jeder Dichtung eine Rolle spielt, erlangt in der Romantik eine besondere Bedeutung. Paul Noack sieht mit Korfi im Primat der Phantasie das „organisierende Prinzip der Romantik" 77 ) und stellt für Arnim die Frage nach der Struktur seiner Phantasie, um ihn von daher als einen romantischen Dichter — in seinem Besonderen innerhalb seiner Epoche — zu erfassen. Er unterscheidet, wiederum mit Korif, die Phantastik der Frühromantik als eine stark verstandesmäßige Phantastik von derjenigen der Spätromantik und Arnims, wo die Phantasie „als Eigenmacht Aussprachemoment des Unbewußten, das mehr ist als das psychoanalytische Unbewußte" 78 ), werde. Die Art, wie Paul Noack diese Frage zu lösen sucht, führt vom hier gestellten Problem ab, so daß auf eine Auseinandersetzung mit seiner Arbeit verzichtet werden kann. Ich habe sie erwähnt, weil sie am repräsentativsten für die Versuche ist, Arnim vom Problem der Phantasie aus zu erfassen. Daß die Untersuchung der Phantasie und des Phantastischen in die Mitte des Arnimschen Werkes zu führen vermag, dafür zeugen zahlreiche Äußerungen seines Verfassers über die Rolle der Phantasie, welche sich vielfach als Bemerkungen und Sentenzen in diesem Werk oder in Briefen finden79). „Du bist die Phantasie, du bist wie Licht, du zeigst uns allen, was wir Armen missen, nichts fehlt der Welt, fehlst du den Freunden nicht" (Steig II S. 220 f.),
lautet die Auflösung eines Rätselgedidites, das sich im Briefwechsel mit Bettine Brentano findet. Dichten ist für Arnim „ein Sehen höherer Art" (Werke III S. 8). Das Organ dieses Sehens ist die Phantasie, von der es am Schluß der „Majoratsherrn" heißt: „. . . und es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere, welche den Sinnen nur in der Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht und immer neu den toten Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere verkörpert" (Werke II S. 247).
Arnim hat diese Zeilen im Druck gesperrt. Ebenso wie Arnim glaubt, daß die Phantasie Offenbarungsträgerin einer höheren Wahrheit zu werden vermag, glaubt er an ihre Kraft,
Phantasie
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äußere Wirklichkeit erfassen zu können. Dafür ist ein eindrucksvoller Beweis sein Verhalten, als er viele Jahre nachdem er das alte Weiblingen dichterisch geschaut, vor den Toren dieser Stadt steht. Er läßt seinen Wagen umkehren, weil alles anders aussieht, als er es sich gedacht, und verteidigt das Bild seiner Phantasie gegen die Realität: »Es muß so gewesen sein, wie idi es mir dachte, vierhundert Jahre ändern viel, aber die Weiden stehen noch, wo sich der Reiter am Wege nach Schorndorf verliert" 8 0 ).
Wie sich das, Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt vermittelnde, Schauen aus dem Vermögen der Phantasie vollzieht, das deutet Arnim in seiner Abhandlung „Dichtung und Geschichte" an, die als Einleitung zu den „Kronenwächtern" dient. (Werke I I I S. 6 ff.) Einzelne geschichtliche Fakta regen in ihrer Zeidienhaftigkeit den „fortschaffenden Trieb" des Menschen an, denn »Gott schafft und der Mensch, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werkes" (Steig I I I S. 248 und S. 249).
Wie Gott gleichsam knüpft Arnim von jenen markanten Punkten, „ahndungsreichen Bildern", her das in der Zeit gerissene Gewebe vergangener Wirklichkeit in höherem Sinne wieder neu: ». . . wenn ich nichts besäße als die ältesten Denkmale der Poesie, würde ich noch viel mehr dichten, um mir die Lücke auszufüllen, die jene nicht begreifen und umfassen (Steig I I I S. 249).
So wie die Geschichte dabei zum bloßen Rahmen wird, in den Arnim sein phantasiegeschautes Bild einfügt 8 1 ), zeichnet sich deutlidi die Phantasie als eine Eigenmacht in Arnims dichterischer Welt ab. Geschichte und Wirklichkeit als die natürlich gegebenen korrigierenden Faktoren werden in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Wieweit Verstand und Bewußtsein ihre ebenso natürlich gegebene Kontrollfunktion bewahren, soll im folgenden untersucht werden. Dem Glauben an die Phantasie als Offenbarungsträgerin einer höheren Wahrheit, sie erscheint als eine nicht weiter ableitbare, wunderbare K r a f t , entspricht, daß sich Arnim auch da, wo er sich nicht bewußt ist, verlorene Zusammenhänge zu rekonstruieren, vorbehaltlos dem Strömen seiner Phantasie anvertraut. Phantasieerregt, wie viele der von ihm geschaffenen dichterischen Gestalten, ist die Versuchung dazu für ihn zu stark, als daß er ihr nicht erliegen sollte. Die Erscheinung, die sich daraus folgend der Beobachtung darbietet, ist verwandt mit dem Sich-treiben-lassen im Strom der Sprache. In einem Brief an seine Braut Bettine spricht Arnim vom „bewußtlosen Fortrollen (Steig II S. 36). 3*
in
Gedanken,
was
wir
Schreiben
nennen"
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Phantasie
Im „Wintergarten" berichtet der Erzähler über die Versgeschichte „Durchbruch der Weisheit" (Werke X I I S. 124 ff.), er habe Anekdoten über Jakob Böhme gesammelt: „In göttlicher Selbstvermehrung wurden mir die Anekdoten zu einer langen Geschichte in Versen" (Werke X II S. 119). Diese beiden zufälligen und bestimmt von Arnim nidit zu gewichtig gemeinten Bemerkungen spiegeln die Art seines Phantasieschaffens, das im Extrem zu dem führt, was Wilhelm Grimm an Arnims „Metamorphosen der Gesellschaft" kritisiert: „Die Verhältnisse wechseln darin wie ein jede Minute umgedrehtes Kaleidoskop, es sind materiell dieselben Elemente, aber ihr jedesmaliger Zustand läßt den vorhergehenden kaum ahnen. . . . Die Gestalten haben etwas von den indischen Götterbildern mit den verdoppelten Armen und dem mehrfachen Gesicht (Steig III S. 559). U n d in anderem Zusammenhang äußert er sich ähnlich: „Meine Meinung ist, daß ein gewisses Übermaß an Geist dem ruhigen und sicheren Eindruck Deiner Werke schadet, weil es der ruhigen Entwicklung ihrer eigenen immer lebensvollen und poetischen Idee geschadet hat. Du läßt gewöhnlich verschiedene Luftschichten ineinander treiben und das manchmal mit einer Art von Mutwillen (Steig III S. 454). Solcher Mutwille läßt Arnim in den Schlußversen von „Halle und Jerusalem" das Programm seines Dichtens formulieren: „Schaffen zeigt sidi im Verwandeln, Ernst verwandelt sich in Spiel, Dieses ist der Worte Ziel" (Werke XVI, S. 400). Diese und ähnliche immer wieder vorgetragene Mahnungen, vor allem der Brüder Grimm, gegen Arnims willkürliches Synthesenbilden, gegen das Zersprengen der Form, fallen auf keinen fruchtbaren Boden, so daß letztere endlich resignierend spüren, daß die kritisierte Art Arnim so ursprünglich eigen ist, daß es unmöglich sei, sie zu verändern. „Was mir nicht redit ist in Deinen Büchern mag idi nicht berühren, es hängt mit Deiner eigentümlichen Natur zusammen, und Du hast es schon oft genug gehört; guter Rat hat Dir also nicht gefehlt, guter Wille von Deiner Seite, ihn anzunehmen, auch nicht, es muß also etwas allzu mächtiges sein, was Dich dazu treibt und was ich eben deshalb achte" (Steig III S. 559).. schreibt Wilhelm G r i m m . Clemens Brentano liefert uns mit einer ähnlichen Kritik das Stichwort für das Erfassen von Arnims Phantasie. Er schreibt: „Aber ich muß dodi wieder klagen, wie Du durch manches ganz herrlich verknüppelst. So hast Du an Stücke aus anderen Geschichten geknüpft, die ihn ganz lieber Arnim, wenn Du nur ein wenig streng arbeiten so aneinanderbinden" (Steig I S. 266).
dein Verknüpfen Deinen Pfalzgraf verderben. Arnim, wolltest und nicht
Phantasie
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Arnims Phantasie ist rein assoziativ. Man kann zur Verdeutlichung an die Unterscheidung einer anschaulichen und einer kombinatorischen Phantasie erinnern, wie sie W u n d t trifft 8 2 ), oder an die mehr passive oder mehr aktive Form der Phantasietätigkeit, die W u n d t ebenfalls gegenüberstellt 83 ), wobei erstere Arnim am meisten entspricht. — Es kommt uns ja hier nicht auf eingehende und exakte psychologische Definitionen an, es soll sich nur um andeutende Hinweise handeln. Die Phantasie äußert sich bei Arnim ähnlich wie es beim Kind der Regelfall zu sein scheint 84 ), mit einer triebartigen Macht, die in ihrem Bereich die Kontrolle des Verstandes ablehnt. Sie erhebt den Anspruch, ihren eigenen Gesetzen zu folgen, nämlich denen der reinen Assoziation. Diese passive Phantasie ist gleichsam „mehr Phantasie" als die aktive, die hemmende und auswählende Kontrollfunktionen kennt, deshalb bereits in der N ä h e und im Übergang zur Verstandestätigkeit steht, denn psychologisch besteht zwischen beiden keine scharfe Trennung 8 5 ). Im zweiten Teil der „Kronenwächter" sieht der Maler Anton sein Spiegelbild in einem Wasserbecken: „. . . seine Augen glänzten so herrlich, sein blonder Bart krauste sidi so dicht und zierlich, sein ganzer Kopf hing voll schöner Locken; das Bild gefiel ihm so wohl, daß er auf einem runden Holztäfelchen sein Bild so ganz wie im Spiegel eines hellen Wassers abbildete, durch seine Locken ließ er ein paar bunte Fische spielen, eine Taube saß an der Seite und trank aus dem Becken; er malte so eifrig, der Einfall war ihm so neu, daß er über sich selbst verwundert war (Werke IV S. 127). Anton gibt hier der Assoziation von Wasser und Fisch und der ebenfalls naheliegenden einer trinkenden Taube nach, audi wenn sie zu ungewöhnlichen, ja unsinnigen Folgerungen führen. Wir haben hier ein gutes Beispiel f ü r die Art und Weise, in der Arnims Phantasie arbeitet. Sie neigt dazu, eine Vorstellung, einen Gedanken oder eine Empfindung immer weiter fortzuspinnen, alles, was dabei zufällig am Wege liegt, einzubeziehen, auch wenn die entstehende Beziehung sehr konstruiert erscheint. Das erstere spricht eine Rezension von „Halle und Jerusalem", welche nach der Vermutung von Reinhold Steig von Arnim selbst stammt 8 6 ), deutlich aus: „Das Nachspiel ist in unserem Fall (gemeint ist der 2. Teil Jerusalem) wie der Nachklang in der Phantasie zu betrachten, die alles, was sie ergriffen, in sich weiter fortbildet, jener Nachklang, der uns beim Nachhausegehen aus einem Sdiauspiel damit beschäftigt, was denen, die wir in einem bedeutenden Moment ihres Lebens am Schlüsse verlassen hatten, späterhin begegnet sein möchte." Auch wenn Arnim nidit der Rezensent ist, scheint mir damit der 2. Teil von „Halle und Jerusalem" ausgezeichnet charakterisiert. Die Tatsache, daß sämtliche Hallenser Studenten auf einmal in der Wüste
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Phantasie
auftaudien und ähnliche unerwartete Dinge sind nur auf diese Weise deutbar. Im ganz entsprechenden Sinn bilden im „Wintergarten" die Zuhörer eine Geschichte weiter, das in der Phantasie ergänzend, was der Erzähler nicht ausführen konnte. (Werke X I S. 42.) Für das zweite, die Neigung, zufällig auftauchende Assoziationen in fremde Vorstellungszusammenhänge einzufügen, seien einige kurze und übersichtliche Beispiele mitgeteilt, die man in beliebiger Fülle aus den verschiedensten Werken sich ergänzen kann. In den „Kronenwächtern" berichtet Arnim, wie man einen übermütigen Junker überwältigt und gebunden habe: „. . . worauf Anton ihn wie ein grimmiges Wickelkind auf das Rathaus trug, um die ganze Angelegenheit zu den Akten zu legen. . . . Der Aktuarius sah mit Schrecken, wie er den Junker einheften sollte (Werke I V S. 210).
Die komische Vorstellung vom Einheften folgt geradezu mit Notwendigkeit aus der gebrauchten sprachlichen Wendung. Ein andermal heißt es von einem sich zornig gebärdenden, daß seine Augen ihm wie Kugeln aus dem Kopfe traten. „Als wollte er sie seiner Braut ins Herz schießen (Werke II S. 307, vgl.
audi Werke III S. 280), fährt Arnim zu unserer Verblüffung fort. Vergnügen bereitet es uns, wenn Arnim zwei bekannte Sprichworte auf die genannte Weise verbindet: „Gegenwärtig fielen diese W o r t e ins Wasser, womit Hände in Unschuld wusch" (Werke III S. 288).
der Vogt
seine
Dagegen stimmt es uns bedenklich, wenn in einem Liebeslied, das er im „Wunderhorn" bearbeitet, der Vorstellung „er liegt an meinen Brüsten" ganz unerwartet die andere „er ist mein Kindlein kleine" anfügt und ausspinnt 87 ), denn das läßt uns spüren, daß der Dichter gar nicht „bei der Sache ist". Er überblickt nicht den Zusammenhang und die Gesamtwirkung seines Dichtens. Auch das folgende empfinden wir mit einigem Unbehagen: Die Vorstellung des Dreifußes, der sich am Galgen, an der Stätte des hohen Gerichts befindet, läßt den Erzähler den Dreifuß, mit dem man die Töpfe beim Kochen über das Feuer hängt, assoziieren, und er fährt schaurig mit Beziehung auf die Richtstätte fort: „Das Fleisch, was da die Sonne kodit, das wird in keinen Topf steckt, es hängt daran, bis wir es abnehmen" (Werke I S. 4).
ge-
Besonders aufschlußreich für die Erkenntnis der Arnimschen Phantasieverknüpfung sind seine Bearbeitungen der Vorlagen zu „Des Knaben Wunderhorn". Sie zeigen uns immer wieder, wie sich Arnim von seiner Fähigkeit hinreißen läßt, da weiter zu dichten, wo ein
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Anderer aufhört 88 ). Er läßt dabei seiner Phantasie freien Lauf, die die widerstrebendsten Elemente aneinanderbindet 89 ). Ein einzelnes Motiv vermag dabei ganze Reihen von Vorstellungen zu erzeugen 90 ). Aus der Anregung einer einzigen Strophe vermag Arnim, dreizehn neue hinzuzudichten 91 ). Worte vermögen ihn dazu anzuregen, eine gegebene Vorlage wie in „Geht dirs wohl, so gedenke du an mich", zu einem Absdiiedslied umzudichten 92 ), oder der Satz „Keine Uhr hören wir nicht schlagen" läßt ihn bei der Umdiditung die Vorlage auf den Ton einer poésie funèbre umzustimmen 93 ). Arnims assoziative Phantasie neigt dazu, alles, was in ihren Bereich tritt, anzuziehen und zu verbinden. Ganze Sagen können so mit einem Relativsatz in einen ihnen fremden Erzählzusammenhang verwebt werden, wenn etwa Arnim in der „Päpstin Johanna" ganz nebenher auf den Erzbischof die Sage vom Binger Mäuseturm anwendet. (Werke X I X S. 208.) Ähnliches ist der Fall, wenn er von einer Apollostatue, von der die aus der Marienlegende bekannte Erzählung vom Ring, der sich nicht mehr vom Finger der Statue abziehen läßt, berichtet wird, behauptet, sie habe später vom Belvedere ihren Namen erhalten. (Werke X I X S. 247.) Sich weder um kausal- und final- noch logische Zusammenhänge kümmernd, hat Arnim seine Freude daran, alle Einzelheiten der Welt miteinander zu verbinden, so wie sie ihm gerade ins Bewußtsein treten. Arnims Phantasie erhält dadurch etwas Schweifendes, Irrlichterndes. Gundolf 94 ) sieht hier einen Grund dafür, warum Arnims Novellen eigentlich niemals die Höhen- und Tiefendimensionen menschlichen Seins erreichen. Ebenso entsteht jene Erscheinung, die Bode Arnims „Privatspaß 95 ) " nennt. Arnim fügt einen ihm subjektiv Vergnügen bereitenden Effekt oder Einfall in einen fremden Zusammenhang ein, nur weil dieser ihm dazu subjektiv Anregung gab 96 ). Die Vorstellung, die sich uns aufdrängt, daß Arnim ein bestimmtes Repertoire von Motiven, Gestalten, Beobachtungen besitze, aus dem er immer wieder schöpfe, findet in der eigentümlichen Art seiner Phantasie ihren Grund. Immer wieder geraten seine Menschen in ähnliche Situationen, in denen sie sich ähnlich verhalten, immer wieder treten uns die nämlichen kleinen Züge alltäglichen Lebens entgegen. Es wäre eine regelrechte Bestandsaufnahme möglich. Auf begrenzterem Gebiet, nämlich für die Bearbeitung der Wunderhornvorlagen, liegt eine solche in der Arbeit von Bode bereits vor. Bode zeigt, wie verwandte Situationen verwandte Bilder auslösen97), das Motiv des fließenden Wassers ist dabei sehr aufsdilußreidi zu verfolgen 98 ). „Es sind immer wieder dieselben Vorstellungen und derselbe Stil. In Arnims Phantasie ruhen ungeordnet mannigfache Ideen; nähern sich ihnen verwandte Einflüsse, so werden sie angezogen, regen und gestalten sich,
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Phantasie sdiießen an das erregende Moment an und manchmal verschmelzen sie sich so mit diesem, daß wirklich etwas Einheitliches entsteht. Einem Geiste, der so schnell und leicht eigene an fremde Ideen anschließt, konnte es auch keine Schwierigkeiten machen, selbständig Bestehendes mit einander zu verknüpfen" 9 ).
Die Assoziation, die Ideen- und Vorstellungsverbindung, verläuft in Beziehung auf den Dichter als ein passives Geschehen, ganz von Anziehungskraft und „erregenden Momenten" abhängig. Die unwillkürliche Verknüpfung gehört zwar zum Wesen der Assoziation, und ohne diese Eigenart käme wohl auch das nicht zustande, was man als Einfall bezeichnet, die Möglichkeit, daß sich plötzlich Verbindungen ergeben, die sich dem Grübeln und willentlichen Nachdenken nie erschlossen hätten, zu denen man auf logischen oder die kausalen Beziehungen beachtenden Wege nie gelangt wäre, eine zweite Frage ist jedoch, wie man sich zur unwillkürlich aufsteigenden Assoziation verhält. Man prüft in der Regel doch die Verbindung, die sich da plötzlich ergeben hat, je nachdem um welches Gebiet es sich dabei handelt, auf ihre logische Tragfähigkeit, ihre kausale Richtigkeit oder ihre ästhetische Wirkung, ehe man ihr nachgibt. Gerade das aber tut Arnim nicht. Er gibt sich dem, was ihm die Assoziation darbietet, unbesehen hin, nichts anderes ist mit der genannten Passivität gemeint. Man fühlt sich hier erinnert an die Kunsttheorien des modernen literarischen „Surrealismus". Es seien drei Stellen aus dem „Premier Manifeste du Surrealisme" (1924) des André Breton 100 ) mitgeteilt, die diese Parallele berechtigt erscheinen lassen: „Surrealismus, reiner psychischer Automatismus. . . . Diktat des Gedankens bei Fehlen jeder von der Vernunft ausgeübten Kontrolle" (S. 10). „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Realität gewisser bisher vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das interesselose Spiel des Gedankens" (S. 10). „Es geht mit den surrealistischen Bildern wie mit den Bildern des Opiums, die der Mensch nicht beschwört, sondern, die sich ihm anbieten, plötzlich und herrschsüchtig. Er kann sie nicht verabschieden; denn der Wille hat keine Kraft mehr und lenkt nicht mehr die Fähigkeiten" (S. 11).
Es ist die Ausschaltung des überschauenden, ordnenden und lenkenden Subjekts, welche der Surrealismus zu seinem Programm macht. Genau das ist es, was sich bei allem, was Arnim selbstverständlich wesenhaft vom Surrealismus trennt, wir dürfen lediglich von einer formalen Übereinstimmung des Phantasieablaufs sprechen, als Gefahr an den verschiedensten Stellen seines Werkes andeutet. Gefahr, denn eine solche Haltung bedeutet Eliminierung des Geistes zu Gunsten des unkontrollierbaren sinnlichen Eindrucks. André Breton, dessen Feder die eben zitierten Stellen entstammen, zählt Arnim zu den Ahnherrn des „Surrealismus 101 )", er hat ihm 1933
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einen A u f s a t z g e w i d m e t , der mir leider nicht erreichbar w a r 1 0 2 ) . "Ich vermute, d a ß die Beziehung darin auf ähnliche Weise hergestellt w i r d , wie ich es eben andeutete. E s w ä r e sehr aufschlußreich, f a l l s diese A n nahme zutrifft. D i e A r t wie A r n i m s M e t a p h o r i k g a n z aus dem Z u s a m m e n h a n g des jeweils Geschilderten erwächst, läßt spüren w i e er sich den a s s o z i a t i v entstehenden Beziehungen und V e r k e t t u n g e n hingibt.
Als Graf
Karl,
der sich in der „ D o l o r e s " bei den beiden G r ä f i n n e n mit dem V o r w a n d einführt, das v e r f a l l e n d e Schloß besichtigen z u wollen, mit zusammen
Dolores
durch die R ä u m e des Schlosses geht, schildert A r n i m
das
Äußere der D o l o r e s m i t M e t a p h e r n , die der S p h ä r e des Bauens
und
des Architektonischen entnommen sind: „. . . ihm (Graf Karl) war es als sei ihre Schönheit, die Wölbung ihrer Augenbrauen, das schöne Verhältnis ihrer Zähne, woran die edelste Säulenordnung zu erläutern, nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues, oder sie selbst sei die Baugöttin, so ganz erbaut war er von ihr" (Werke V I I S. 50). A r n i m hat die Fähigkeit, sich völlig in eine vorgestellte Situation z u versenken, so d a ß diese in seiner P h a n t a s i e Leben gewinnt,
die
einzelnen, in der Vorstellung gegebenen, E l e m e n t e verbinden sich neu auf wunderlichste Weise, m a n hat den Eindruck, als schaue der Dichter selbst m i t V e r g n ü g e n dem sich e n t f a l t e n d e n Spiel zu, neugierig, wohin es w o h l f ü h r e n m a g , ähnlich wie wir als K i n d e r den Berichten nächtlichen Eigenleben, der uns tagsüber vertrauten G e g e n s t ä n d e lauscht haben.
vom ge-
F o l g e n d e n Bericht v o n einer E n t f e t t u n g s k u r liefert uns
Arnim: „Wie soll ich aber das Ansehen des Pfalzgrafen preisen, nach den ersten vierzehn Tagen, wie er im Wettlauf gegen alle Mitgenossen dieser goldenen Brunnenkur siegte, welche Freude ihn alle drei Tage erfüllte, wenn die Heftel seines Wamses wieder zurückgesetzt werden mußten und endlich welche Wonne, als die Reihe dieser Hefteln ohne Ausbeugung in der Magengegend in Reih und Glied ihm das Zeugnis der Freunde bestätigten, dieser verhaßte Wanst sei ihm vom Himmel abgenommen und von den Wellen mit seinen Schweißtropfen in schwerer Arbeit entführt zu Blumen und Blüten des Rheinufers umgewandelt eine Freude, ein Schmuck der zarten Jungfrauen geworden, ja seine Backen sogar, die sonst von der Seite wie zwei Halbkugeln über die kleinen Ohren hervorragten, hatten ihr eigenes Dasein verloren und waren mit dem übrigen Antlitz in mancherlei sanften Hügelungen wie die Gegend umher mit den höheren Gebirgen der Bergstraße verbunden und bei dem Allen glänzten sie von frischen Lebensfarben. Was ihn aber über Alles hocherfreute, wenn er sich im Spiegel des Brunnens anblickte, sein Doppelkinn, der spöttische formlose Nachbar des editen mächtigen Bartträgers, dieser Halbbruder des Kropfes, war völlig verschwunden und sein Bart brauchte sich nicht mehr zu überwachsen, um diesen weichlichen Ankömmling zu beschatten und zu verdecken. O gewiß, wenn so groß
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Phantasie die Freude eines Menschen ist, körperlich wiedergeboren, in ursprünglicher Reinheit hergestellt zu werden, welche Seligkeit muß erst der empfinden, der die Wiederkehr seines Geistes zur Reinheit seines Ursprungs allmählig ahnt, endlich sich wiedergeboren empfindet in der Klarheit des Bewußtseins, das uns die Ewigkeit als ein Zeugnis unsres Daseins erweckte, das mit ihr und für sie lebt, wie auch das Gedächtnis vom Irdischen bezwungen in uns schwanken und scheinbar vergehen mag mit dem Alter, o es gibt der Zeugnisse genug von seiner innerlichen Unzerstörbarkeit, es flammt so unerwartet auf aus seiner Zerstörung, die nur eine Art des Schlafs ist und Alles wird erwachen, unsere Sünden, unsere Leiden, unsere Treue und unser Leichtsinn, Alles wird vor uns stehen wie auf eherne Tafeln gegraben und was wir heimlich hielten an schlimmen Gedanken und bösen Entschlüssen, das kann unsre Reue nicht verlöschen mit allen Tränen, aber die Gnade kann den Knoten lösen und kann die Fäden neu aufziehen, mit ihrem Licht durchschießen und unsre Scham mit leuchtendem Gewände dedcen" (Werke IX S. 108 f.).
Beinahe erübrigt sich hier jeder Kommentar. Man sieht, wie eine Vorstellung sich von selbst aus der anderen ergibt, die Schweißtropfen, die in die Wellen rinnen, lenken die Vorstellung auf den Rhein und die Uferblumen; die Blumen erinnern an die Jungfrauen, die Hügelungen der Backen verbinden sich wiederum mit der schon vorher beschworenen Vorstellung der Rheingegend. (Man könnte das Ganze auch in anderem Zusammenhang als Beispiel für groteske Situationssteigerung anführen.) Der Gedanke des sich wie neu geboren Fühlens assoziiert die Vorstellung der geistigen Wiedergeburt und die komische Schilderung wechselt ohne Rücksicht auf Zusammenhänge in einen ernsthaften Ton über. Die freie Phantasie behauptet das Feld. Man spürt auch wie die Vorstellung vom Knoten und dem Aufziehen der Fäden an die Weberei erinnert und den Einfall vom leuchtenden Gewand, das unsere Scham decken wird, hervorruft. Die Gedanken über die geistige Wiedergeburt entsprechen keinem ruhigen, in sich gegliederten Gedankengang, sie sind vielmehr ähnlich einem phantasiegeschauten Bild. Einen Teil der Beiträge zur Einsiedlerzeitung, meist von ihm selbst stammend, faßt Arnim unter dem Titel „Scherzendes Gemisch von der Nachahmung des Heiligen" zusammen. Von Nr. 7 ab bis zur Schlußnummer 37 findet sich das „Scherzende Gemisch". Die verschiedensten, einander oft so fern als möglich liegenden, Dinge hat Arnim darin verknüpft, vielfach nur durch Überschriften 103 ). Die „Nachfolge des armen Lebens Christi" wie die Gestalten Schelmuffskis und mehr finden sich darin. Seine reich strömende Phantasie hilft ihm Entferntestes zu verknüpfen. Als auf eines der instruktivsten Beispiele für die völlige Hingabe an das Strömen der Phantasie möchte ich auf die ersten Seiten dieses „Scherzenden Gemisches" verweisen („Trost Einsamkeit" a. a. O. S. 60 ff.). Wie der Geschichte und der äußeren Realität erweist sich die Phantasie audi dem kontrollierenden Bewußtsein gegenüber als eine
Arnims Erzählung „Metamorphosen der Gesellschaft"
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absolute, d. h. sidi schwer einfügende und beugende Mächtigkeit. Es fehlt die synthetische K r a f t eines straffen Formwillens. Arnims Dichtungen hinterlassen deshalb oft den Eindruck verwirrender, bunter Traumeinzelheiten, die vorübergleiten, nicht von einem formenden Zentrum gehalten 1 0 4 ).
ARNIMS ERZÄHLUNG „METAMORPHOSEN DER GESELLSCHAFT" Die Erzählung „Metamorphosen der Gesellschaft" (Werke X V S. 1 ff.), auf die sich Jacob Grimms W o r t vom jede Minute umgedrehten Kaleidoskop bezieht (Steig I I I S. 559), gehört einer späten Phase des Arnimschen Dichtens an. Außer dem Erscheinungsdatum (1826 im „Landhausleben", einer Erzählsammlung, die die letzte von Arnim selbst besorgte dichterische Veröffentlichung ist, die allerdings ζ. T . auch viel früher entstandene Erzählungen enthält) weist uns das starke Gewicht des Reflexiven und Didaktischen, das Arnims Spätdichtungen bestimmt, darauf hin. Sie verkörpert die Richtung, in die Arnims Schaffen tendiert, die uns zum erstenmal voll entfaltet im „Ariel" begegnet: die Möglichkeit des Zerfalls seiner Dichtungen in isolierte Einzelheiten. Während auf der Höhe seines Schaffens der Schwung und die Zauberkraft seiner Phantasie audi widerstrebende Einzelheiten zu binden wußte (vgl. die „Isabella von Ägypten", die seit Heines „Romantischer Schule" oft als Inbegriff romantischen Dichtens gedeutet wurde), scheint Arnim mit erlahmender Sdiaffenskraft wieder zur Position seiner Frühdiditung („Ariel"), wo er noch zu ungeduldig war, um zu verbinden, zurückzukehren. Ein assoziativ-zufällig reihendes Gespräch ist das einzige, was der genannten Erzählung einen Zusammenhalt zu verleihen vermag. Jedes W o r t kann hier zum Stichwort weiterer Gedankenketten werden. Das ursprüngliche Thema, „Metamorphosen der Gesellschaft" zu schildern, taucht hin und wieder auf, um wieder zu verschwinden. Es gelingt Arnim nicht, es wirklich durchzuführen. Seine Erzählung irrlichtert geistreich spielend hin und her. In ähnlicher Weise ist das Gespräch in Arnims „Erzählungen von Schauspielen" (in Fr. Schlegels „Europa" I I Frankfurt 1803) nicht zielgerichtet, paßt sich ganz den Gegebenheiten des Augenblicks an. Zu Gunsten der Unmittelbarkeit, des aus dem Leben Gegriffenen, wird das einzelne überschauende und ordnende Subjekt ausgeschaltet. Die Vielheit der Ansichten soll an Stelle seiner Ordnungsfunktion ein Gesamtbild geben. Statt dessen entsteht der Eindruck des Zufälligen. Entsprechendes spüren wir auch im Rahmengespräch des „Winter-
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Groteske Komik
gartens". Die latent in der Technik des Gesprächs liegende Auflösungstendenz wird bei Arnim jedesmal aktuell. Das scheint mir sehr aufschlußreich. Das Erzählen in den „Metamorphosen" kennt keinen Widerstand der Wirklichkeit mehr. Auch der zufälligste Einfall läßt sich gleich verwirklichen. Ich erinnere an den alten Herrn, der sofort die indischen Gauklerkünste vorzuführen vermag, auf deren Erörterung das Gespräch gerade gerät (Werke X V S. 140), oder an die Schilderung des Kostümfestes (Werke X V S. 102), bei dem die Masken alle Teilnehmer zu völlig anderen machen sollen. Man erinnert sich an das Spiel im „Ariel", das „Sängerfest auf der Wartburg", bei dem man sich vergeblich fragt: wer ist eigentlich wer? (vgl. das Personenverzeichnis a . a . O . S. 218). Der Einfall, die spielerische Phantasie, herrschen hier absolut. In den „Metamorphosen" nehmen sie der Gesellschaftskritik, den Anspielungen auf Literarisches, jede aktive Wirkkraft, die vom Dichter, der gerade in seinem Spätwerk sehr zum Lehrhaften neigt, zweifellos beabsichtigt war. Alles scheint nur um seiner selbst willen, nur um des Einfalls willen da zu sein, uns ein Zeichen dafür wie sehr sich dieser verselbständigt hat. Die stark betonten didaktisch-reflexiven Elemente und die sich drängenden erzählerischen Einfälle fallen beziehungslos auseinander.
GROTESKE KOMIK In der Schilderung von Situationen und der Beschreibung von Personen läßt sich Arnim, um komische Wirkungen hervorzurufen, oft zu Übertreibungen hinreißen, die das Maß des Geläufigen und beinahe auch des Möglichen sprengen. Die angeführten Stellen sind repräsentativ für zahlreiche weitere im Werke Arnims: a) Personenbeschreibung Der Freiherr Starkader aus der „Ehenschmiede" : „Starkader war in philosophischen Betrachtungen, die ihn gleichgültig machen gegen äußere Eindrücke, von einem Mückenschwarme schrecklich zerstochen, sein Gesicht war mit kleinen Erhöhungen bedeckt wie ein flandrisches Pferdegeschirr mit messingnen Nagelköpfen, er hatte in Sorgen das Rasieren vergessen, sodaß die rötlichen Berge wie auf schwarzem Sammet glänzten, er war stark gegangen und von dem mit Maroquin besetzten neuen Hute war ihm die Stirn gerötet, als ob er eine Dornenkrone getragen. In seiner Liebessehnsucht hatte er das alles nicht bemerkt . . ." (Werke II S. 43). Dr. Faust aus den „Kronenwächtern": „Darum hörte sie mit Freuden von dem Diener . . ., daß sich ein Arzt, Dr. Faust, ansagen lasse. Meister Sixt begleitete den Wundermann, trat aber bescheidentlich wie ein dienendes Gestirn zurück, als das feuerrote, dicke Gesicht des Arztes mit weißblondem Haar und kahler Platte ausgestattet, gleich einem Vollmond in
Groteske Komik
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dem Zimmer des Bürgermeisters aufging. Was trug der Doktor für außerordentliche rote Pluderhosen, nodi nie hatte Weiblingen so etwas Faltenreiches gesehen, die Bänder hingen daran so reichlich herunter wie an einem Erntekranze; zehn Ehrenketten beschwerten den schweren Wams, der nicht minder seltsam nach Venetianer Art geschnitten war; seine Finger waren mit unzähligen Ringen voll Grabsteine bedeckt; auch einen prachtvollen türkisdien Dolch trug der feurige Drache, einen Kranz mit Amuletten um die Hüften . . (Werke III S. 164)105). b) Situationsschilderung In der „Ehenschmiede" gefährdet ein, v o n einem gestrandeten Schifi stammender, Tiger eine am Strand befindliche Gesellschaft. Mit einer Art von Maschinengewehr, dem „Feuerdrachen", sucht man das Tier zu bekämpfen: „Der Tiger machte ein krauses Gesicht und drückte den Kopf ein, der Hauptmann dagegen fing Feuer, sein Herz knallte, nodi lauter seine Rocktaschen, sein Rock platzte überall, seinen Hosentaschen entstiegen Schwärmer, seinem Bauche Leuchtkugeln, Frösche hüpften aus seinen Westentaschen, der seltsame Anblick übertäubte alle Gefahr, besonders als er schrie: Der Tiger tut Euch nichts, er hat zerschmetterte Beine, aber mir helft, ich muß ins Meer springen. Mit diesem Ausrufe sprang er in die brausende Flut und duckte bis zum Kinn unter, aber das Feuer war darum nodi nicht erloschen, er schrie voll Verzweiflung, daß jetzt auch die rechte Rocktasche sich an der rechten Hosentasche entzünde, und die Raketen seines Busens zu zisdien anfingen; es puffte und platzte und ' warf das Wasser in die Höhe, er schien ein Vulkan im Meeresgrunde, wohl gar eine untergegangene oder auftauchende Insel. Erst als diese Explosionen vorüber oder wenigstens bis auf einzelne nodi aufsteigende Blasen erlosdien waren, konnte der Hauptmann die Ursache dieser Erscheinungen erklären. Er hatte nicht etwa, wie die Herzogin vermutete, ein seltsames Schießpulvergericht gegessen, das sich in seinem Magen entzündet, vielmehr war es eine Artigkeit, die er ihr selbst für den Abend zu Ehren ihres Geburtstages vorbereitet hatte, indem er früh dies Feuerwerk von seinem Verfertiger abgeholt, um es im Garten an zweckmäßiger Stelle bis zur rechten Stunde zu bewahren und es selbst zu Aller Überraschung abzubrennen. Auf die Frage, ob er stark verwundet sei, antwortete er, daß er bis auf einige Körner Pulver, die ihm auf Gesicht und Hände gefallen, sich unversehrt fühle, aber seine Kleidung habe starke Blessuren, er gleiche einer in den Kohlen aufgeplatzten Kastanie. Schrecklich war diese Verwüstung der Kleider anzuschauen, als er dem Wasser entstieg, um die Tigerjagd nicht aufzugeben; er selbst war teils getigert, teils gefleckt wie ein Leoparde." (Werke II S. 70 f.) Zufällig sind in der N ä h e des Geschehens sämtliche Freiwilligenregimenter zu einer Übung versammelt, welche bei der Knallerei nichts anderes denken als daß die Franzosen eine Invasion machen und sämtliche Munition gegen den noch unsichtbaren Feind in die Luft schießen. Arnim liebt es, lange Ursachenketten ablaufen zu lassen, welche zu den überraschendsten Folgerungen führen. Dafür noch ein zweites Beispiel :
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Groteske Komik „Der arme Konrad meinte einen seiner bäurisdien Spaße an ihr vollbringen zu können und hatte ihr im Vorbeigehen, w o er ihr den Rock zu küssen sdiien, einen Faden hindurchgezogen, den gab er so geschickt über seine Schulter mit den 2ügeln in Antons Hand, daß dieser, indem er sein Pferd anspringen ließ, die Röcke des Fräuleins emporhob, die jetzt als ein Bild der Unzüchtigkeit allgemein verlacht wurde. Dabei tat er aber so eifrig diesen Faden abzureißen, daß er das Übel nodi vermehrte, ehe er es fortschaffen konnte. Ritter Blaubart unentschlossen, ob er selbst zuspringen und den Vorhang herunterlassen sollte, oder ob dies die Verwirrung nur vermehren möchte, vielleicht audi etwas angezogen von dem Anblick bewegte er seinen Degen aus Verlegenheit in derselben Art, wie er mit den Trompetern verabredet hatte, wenn er ihnen das Zeichen des Tusches geben wollte, die Trompeter gehorchten im Augenblicke und der Tusdi wurde hellaut geblasen und erstickte und vermehrte das Gelächter . . (Werke I V S. 284 f.).
Je bunter, je toller und verwickelter eine Situation ist, desto mehr Freude hat Arnim daran. Es fällt sein in anderem Zusammenhang geprägtes Wort ein, daß er sich erst beruhigen könne, wenn er durch die Begebenheit soweit fortgerissen sei, daß er Gottes Barmherzigkeit anrufen möchte, um sich herauszuhelfen (Steig III S. 459). Wie ich es in dem Kapitel über die Phantasie erläutert habe, gibt sich Arnim ganz an eine Situation hin, um sie wirklich in all ihren Möglichkeiten (in den zur Beurteilung stehenden Fällen komischen) auszuschöpfen. Er erfindet immer neue Ereignisse und Zwischenfälle, um sie bunter zu gestalten 106 ). Das gleiche gilt für die mitgeteilte Art der Personenbeschreibung, wo Arnim sich selbst überbietet im Hervorheben seltsamer und ungeheuerlicher Einzelheiten. Als ein erstes Ergebnis des vorliegenden Kapitels wollen wir die hier wiederum deutlich werdende Tendenz Arnims ansehen, sich an etwas, das ihn gerade beeindruckt, hinzugeben, unbekümmert und vorbehaltlos. Sie führt, wie wir sehen, in der Weltgestaltung zur Übertreibung und Übersteigerung, zu einem hyperbolischen Zug. Dieser findet sich auch außerhalb des Bereichs des Komischen. In den Bearbeitungen der Vorlagen im „Wunderhorn" zeigt sich oft, daß Arnim etwas, das in der Vorlage nur angedeutet ist, eine Stimmung oder ein Bild, steigert, auf die Spitze treibt 107 ). Die Übertreibungen mögen aus einer naiven Freude am Berichten wunderbarer und absonderlicher Einzelheiten sich verstehen lassen, wie wir sie immer wieder im Märchenstil antreffen können. So berichtet Arnim in „Martin Mártir" von der vermeintlichen Großfürstin Anna, sie komme aus jenen barbarischen Ländern, „wo die kostbaren Steine wie Rubinen und Jaspis in den Straßen eingepflastert wären, die Perlen in den Bächen herumrollten und die Ameisen das Gold zu ihren Haufen mit Myrrhen vermischt aus der Erde graben" (Werke X S. 91),
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oder in der „Isabella" vom Bärenhäuter, er habe zu seiner Reinigung über ein halbes Jahr beständig im Wasser gelegen, sei mit groben Besen abgebürstet worden, ein Dutzend Messer seien stumpf geworden, ehe man ihm Bart und Haare habe scheren können (Werke I S. 53). Sie mögen zum andern Teil als Passivität gegenüber dem in der Phantasie Geschauten verständlich werden oder, wie bei den Beispielen, die im vorliegenden Kapitel den Gegenstand der Untersuchung bilden, aus der Freude am Komischen. Das soll uns im Einzelnen nicht so sehr bekümmern, es sollte nur, ehe wir uns unserem speziellen Thema wieder zuwenden, auf die Bedeutung des Hyperbolischen im Werke Arnims hingewiesen werden. Dem Ergebnis des vorliegenden Kapitels kommt deshalb eine generellere Bedeutung zu als es zunächst scheinen mag. Es besteht zugleich bei allen Arten der Übersteigerung, nicht nur bei denen, die aus der Freude am Komischen verständlich werden, bei denen es am deutlichsten ist, die Gefahr, daß sie zur Verzerrung, d. h. in die Nähe des Grotesken führen 108 ). Beim ersten Eindruck wird man Arnims Schilderungen wohl als komisch bezeichnen. Aber da ist etwas, das ich eingangs schon genannt habe, was bedenklich stimmt: die Verletzung des gewohnten Maßes. In der Situationsschilderung vermag man die Übertreibungen noch heiter aufzufassen, so wie sie audi gemeint sind. Anders in der Personenbeschreibung, das sind keine wirklichen und lebendigen Menschen mehr, das sind Figuren eines tollen Maskenfestes, eines phantastischen Mummenschanzes, und es erscheint zu ihrer Bezeichnung am gemäßesten der Begriff des Grotesken 109 ). Das Groteske als eine Kategorie der Perzeption, der Weltgestaltung, ist erst seit kurzem von der Forschung wieder entdeckt, von der literaturwissenschaftlichen Interpretation erfaßt worden 110 ). Es liegt deshalb auch noch keine Untersuchung vor, die den Komplex des Grotesken so beschreibt, daß ihre Ergebnisse eine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen könnten 111 ). Es handelt sich beim Grotesken offenbar um eine sehr vielfältige Erscheinung. W i r halten uns an das allgemeinste Charakteristikum, welches auch Kayser hervorhebt 112 ), das berechtigt, eine Erscheinung als grotesk zu bezeichnen: die Verletzung des Maßes, die zur Formlosigkeit und Verzerrung tendiert. Es ergibt sich daraus eine Linie oder Stufenfolge des Grotesken, die beim Komischen 113 ), für das ja ebenfalls die Infragestellung der Form, eines vorgegebenen Anspruchs oder Maßes, bestimmend ist 114 ), beginnt und über das, von Kayser so genannte 115 ), „Dämonisch-Groteske" zum Ausdruck reiner Negativität führt. Ein Beispiel für das Letztere haben wir in Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie", wo Liebe zur Sache und Hingabe an eine Aufgabe in grausig-groteskem Mißverhältnis zum
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Groteske Komik
Gegenstand stehen, auf den sie sidi richten, nämlich ein Gerichtsverfahren, das in Gefahr steht, aufgehoben zu werden, die Möglichkeit mittels einer, unter hohem Aufwand menschlich positiver Eigenschaften, an Erfindungsgabe, konstruierten Maschine, auf entsetzliche, sinnlose Weise Menschen zu töten. Das Groteske liegt hier nicht in dem Kontrast als solchem, sondern in der Art der Gestaltung. Er wird nirgends ausgesprochen, scheinbar teilnahmslos und als wäre es eine selbstverständliche Sache, die man kennenlernt, wie Eingeborenentänze und fremde Landschaften, wenn man in der Welt herumkommt, beschreibt ein Reisender das jedes menschliche Maß Sprengende, und so löst sich für den Leser fortwährend die maßvolle Schilderung in Unmaß und Verzerrung auf. Den Übergang der Maßlosigkeit in die Verzerrung müssen wir als innere Mitte des Grotesken ansehen und von hier aus die Peripherie dieser Erscheinung bestimmen. Hinter der grotesken Maßlosigkeit kann Vitalität und Freude an der vielfältigen bunten Welt stehen, die auch Platz für manches Absonderliche, für extreme Bildungen hat. So schreibt Bohtz: „Das Groteske wird selten da fehlen, w o der Komiker dem Strome der Begeisterung sich hingebend, die Welt in allen ihren Torheiten und Narrheiten vorführt 116 )."
Das Groteske bleibt hier im Übergang zur Komik. Es ist genau die Haltung, die hinter den entsprechenden Situationsschilderungen Arnims steht. Der Betrachter gibt sich der inneren Richtung der Dinge und Begebenheiten der Welt hin, läßt sich in einem gewissen Übermut darin treiben. Diese Schilderungen bleiben an der Peripherie des Grotesken stehen, aber immerhin, und darum habe ich sie erwähnt, sie zeigen eine deutliche Tendenz zum Grotesken hin. Auch die Sonderlingstypen, die karrikierten Gestalten, welche sich zahlreich im Werke Arnims finden, man denke in der „Dolores" an den „häßlichen Baron", an den „wunderbaren Doktor", den „Comerzienrat Nudelhuber" und andere, an den „Vetter" aus den „Majoratsherrn" etc., wertet Arnim als Ausdruck allgemeiner Lebensfülle. So geht der Schilderung des seltsamen „Vetters" in den „Majoratsherrn" folgende Reflexion über die Zeit vor der französischen Revolution voraus: „Welche Gliederung und Abstufung . . . jeder Einzelne war wieder audi in seinem Ansehen, in seiner Kleidung eine eigene Welt, jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit auf dieser Erde ein." (Werke II S. 193 vgl. Steig III S. 106).
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Und in den „Metamorphosen der Gesellschaft" heißt es: „Solche Seltsamkeiten müssen in unserer nivellierenden Zeit überaus sorgsam gehegt werden, kaum bleibt uns nodi etwas der A r t in Büchern übrig." (Werke X V S. 81).
Ich erinnere audi an Arnims Liebe für Gestalten wie Schelmuffski (s. seine Teilbearbeitung im „Wintergarten") und für entsprechende Züge in der Literatur des 16. und 17. Jh. An dieser Stelle jedoch, nämlich bei der Menschenschilderung, gerät die Begeisterung und Sprengung des gewohnten Maßes in der Gefahr zur Verzerrung zu werden, den Menschen untermenschlichen Kräften hinzugeben. Was Ausdruck des Lebens war, droht in Unleben umzuschlagen117). Das spüren wir in den „Majoratsherrn", wo das Verhältnis des Vetters und einer alten Hofdame geschildert wird: „Diese Alte, hochauf frisierte, schneeweiß eingepuderte, feurig geschminkte, mit Schönheitspflästerchen beklebte Hofdame übte auch nach jenem unglücklichen Zweikampfe seit dreißig Jahren dieselbe zärtliche Gewalt über ihn aus, ohne daß sie ihm je ein entscheidendes Zeichen der Erwiderung gegeben hatte. E r besang sie fast täglich in allerlei erdichteten Verhältnissen, in kernhaften Reimen, wagte es aber nie, ihr diese Ergießungen seiner Muse vorzulegen, weil er vor ihrem Geist besondere Furcht hegte. Ihren großen schwarzen Pudel sonntags in ihrer Nähe unter hergebrachten Fragen zu kämmen, war der ganze Gewinn des heiß erflehten Sonntags; aber ihr Dank dafür, dieses angenehme Lächeln, war auch ein reicher Lohn, — wer ihn zu schätzen wußte. Andern Leuten schien dies starre, in weiß und rot mit blauen Adern gemalte Antlitz, das am Fenster unbeweglich auf eine Filetarbeit oder in den Spiegel der nahen Toilette blickte, eher wie ein seltsames Wirtsschild." (Werke II S. 198).
Ähnliches gilt auch für folgende Beschreibung: „. . . der Majoratsherr wollte eben in einen Laden treten, als er statt der Esther ein grimmig Judenweib, mit einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer H a u t wie geräucherte Gänsebrust, einem Bauche wie ein Bürgermeister, darin erblickte." (Werke II S. 216).
In den „Majoratsherrn" bildet die Verzerrung der gewohnten Realität ins phantastisch Unwirkliche und Dämonische das eigentliche Thema, so wie diese Erzählung bezeichnend damit endet, daß der Vetter nach glücklich erfolgter Heirat mit der Hofdame deren zahlreichen Hunden aufwarten muß, die an damastgedeckten Tischen speisen, während er alle Rechte eines Hausherrn und Eheherrn verloren hat. Zwischen den Phantasien des Majoratsherrn und der Wirklichkeit kann man am Ende kaum noch unterscheiden. Wirklichkeit und „höhere Wirklichkeit", welche Arnim am Ende der Novelle einander gegenüberstellt, scheinen ironisch gegeneinander aufgehoben zu werden. In den „Kronenwächtern" findet sich die Schilderung eines Besuches auf der Kronenburg, bei dem sich den Lesern wie den Besuchern, die 4 Rudolph, Achim von Arnim
Groteske K o m i k
50 eine
glänzende
Ritterherrlidikeit
erwarten118),
schender absonderlicher Alltäglichkeit
nur
das
Bild
enttäu-
darbietet:
„Nachdem Berthold und seine Frau angemeldet waren, so traten sie in das Zimmer des alten Oheims, der ihnen wie ein ernstes Knochengerippe von einem Riesen der Vorzeit entgegentrat und sie feierlich, dodi verlegen nicht als Verwandte, sondern als Fremde begrüßte. Es wollte sich kein Gespräch anknüpfen, der Alte brummte einige unverständliche H ö f lichkeit, während Berthold und Anna mit Verwunderung das Zimmer überblickten. Ein kleines Mädchen fütterte da unzählige junge Hühner, während die alten Gluckhennen gegeneinander eiferten; eine Mästgans wackelte auch herbei und die Nudeln, mit denen sie genudelt werden sollte, dunsteten mit schrecklichem Geruch von dem scharf geheizten Stubenofen, in welchem gebacken wurde, während die Fenster gegen die Sommerhitze verschlossen waren. Drei alte, fette Hunde, deren H a a r vom steten Liegen abgerieben war, bellten von den schmutzigen Polsterstühlen, indem sie sich ausstreckten, an der Decke wankte ein großer Wermutbüschel mit den Fliegenleichen, und eine Wetterdistel drehte sich, als ob sie ein nahes böses W e t t e r verkündigte. Sollte dies aber aus einer W e l t gegend kommen, so mußte es zunächst von Frau Itha ausgehen, die im Hintergrunde den geschundenen, blutigen Körper eines Hasen spickte. Dieses Ungewitter mit starken Schlägen traf aber ein etwas erwachsenes Mädchen, das sich an Anna herangeschlichen hatte und ihr die Röcke sacht von der Seite ein wenig aufhob, um zu sehen von welchem Zeuge ihre Unterröcke wären . . . D e r alte Rappold wollte gern Frieden stiften, drückte dabei aber vorsichtig wie eine Katze, die Schläge fürchtet, die Augen zu . . (Werke I I I S. 399 ff.) Die
Menschen
werden
hier
rein
aus
der
Perspektive
der
Bedürftig-
keit und Schwäche gesehen, das W i s s e n u m V e r g e h e n u n d Z e r f a l l blickt überall durch, die W i r k l i c h k e i t v e r z e r r t sich v o n über
der Schilderung,
die m a n
durchaus
d a h e r u n d es liegt
nicht m e h r
humorvoll
komisch auffassen k a n n , eine b e k l e m m e n d e A t m o s p h ä r e .
W i e in
oder den
„ M a j o r a t s h e r r n " h a b e n w i r auch hier ein Beispiel, wie plötzlich L e b e n in U n l e b e n umschlagen k a n n . A r n i m ist sich dessen, w a s seine Schilder u n g ausspricht, nicht b e w u ß t , denn beim Abschied v o n der
Kronen-
b ü r g heißt es v o n den d o r t lebenden Menschen: „Sie sind wie die Kinder geblieben, . . . sie werden nie mit sich fertig, noch weniger mit ihren Wünschen und kleinen Feindschaften, aber eben, weil sie nie zu leben aufhören, ist auch jedes neue Leben von ihnen zu fordern und durch sie zu fördern." ( W e r k e I I I S. 415). Das
bezieht
sich
zwar
vor
allem
auf
die
zur
Burg
gehörenden
B a u e r n , bezeichnet aber d a r ü b e r hinaus die allgemeine A t m o s p h ä r e , die A r n i m geben will. Gundolf betont, daß Arnims Figuren „nur im Fratzenhaften und Dringlichen, wo ihm seine malerische Phantasie durch grelle und zackige Einzelzüge zu H i l f e kam, deutlich sind«»)".
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
51
Arnim ist fast nie in der Lage, ruhig und besonnen einen Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen, seine Menschensdiilderung ist heimlich immer vom Umschlag in die Groteske bedroht. Ausschlaggebend für die Behandlung des Grotesken im Rahmen der vorliegenden Arbeit war mir, daß Arnim da, wo er die Absonderlichkeiten, die auf dem Hintergrunde bunten Lebens sich bilden, in der Hingabe an den jeweiligen Gegenstand schildern will, in Bereiche gelangt, die das Gegenteil jenes Lebens darstellen, die er im Optimismus seines Bewußtseins bestimmt gemieden hätte. Aus der Übertreibung, Uberspannung, Übersteigerung einer Realität mittels der ungehemmt strömenden Phantasie vermag hier das Groteske zu entstehen 120 ). Das ist uns ein Zeichen dafür, daß er nicht bewußt formend, überschauend gestaltet, sondern der jeweiligen Stimmung seines Gegenstandes und der geschilderten Dinge nachgibt. Wo Arnim sich um die Hervorrufung komischer Wirkungen bemüht, erfährt das Element des Komischen eine eigenartige Verselbständigung und Hypertrophie. Es fehlt in seiner Komik die Beziehung auf etwas Festes, auf ein Maß, auf eine Norm, wodurch diese jeden Augenblick zur Groteske zu werden droht. Wenn Elli Desalm 121 ) das Groteske aus einer Welthaltung deutet, in der die Uberschauende und selbstbestimmende Macht des Menschen fehlt, so müssen wir das auch zur Erklärung dieser Erscheinung bei Arnim annehmen, nur muß im Gegensatz zu E. Desalm gesagt werden, daß für den Dichter dabei nicht das Bewußtsein einer metaphysischen Entwurzelung und die Verzerrung der Welt „aus Schmerz und Empörung" angenommen werden muß. Arnim empfindet zwar den Menschen auch als hingegeben an eine unbegreifliche, lenkende Macht, aber in seinem Optimismus sieht er meist nur das Positive und Fürsorgende dieser Macht, deshalb ist seine Groteske wesentlich lichter und positiver, der Komik nahestehender, als jene, welche E. Desalm aus Hoffmann ermittelt, nur an einigen Stellen gerät sie in die Nähe des DämonischDunklen.
ARNIMS V E R H Ä L T N I S ZU SEINEM WERK: PASSIVITÄT U N D E I N D R U C K S F Ä H I G K E I T , MANGEL A N FORMABSTAND „Wahrhaftig ich überraschte midi oft selbst und verlor midi so ganz in den Geschichten, daß idi beim Aufhören wie jene verschüttete Schweizerin, still in mir dachte, der jüngste Tag sei angebrochen, bis mir die bekannten lieben Gesichter wieder zusprachen mit neuer Freude — und es war nodi nidit aus mit der Welt." (Werke X I S. XIII). 4·
Arnims Verhältnis zu seinem W e r k
52
Dieser Satz findet sich im „Wintergarten" unter den Dankesworten des Erzählers an die „Töchter des Ritters von T h u m " , seine imaginierten Zuhörer. E r beschreibt zugleich einen wesentlichen Zug im Verhältnis Arnims zu seinem Werk: den Mangel an Seelendistanz seinem Werk gegenüber, das Fehlen eines epischen Abstandes. Arnim vermag der Welt, die er in seinem Dichten beschwört, nicht kühl gegenüberzustehen, er ist ständig in Gefahr, sidi an das von ihm Gestaltete zu verlieren 122 ). „. . weit mir und
. idi kann midi erst beruhigen, wenn idi durch die Begebenheit sofortgerissen bin, daß idi Gottes Barmherzigkeit anrufen möchte, um herauszuhelfen. Dann erst habe ich das Gefühl, daß idi den Sinn das Leben der Geschichte getroffen habe." (Steig I I I S. 459).
Arnim kritisiert mit diesen Worten die Theaterstücke, die „nach so einem willkürlichen Faden, wie der Kandiszucker ankrystallisiert, durchgehen." (Steig I I I S. 459).
Über die „Kronenwächter" schreibt er an die Brüder Grimm: „Es ist sehr schwer bei einem Budie, das ich wie dies eigentlich zweimal geschrieben habe, aller Motive (sich) bewußt zu bleiben, denn das eben, was, bei einem sehr festen Plane, audi den eigensinnigsten Poeten zu etwas ganz anderem treibt, als was er selbst vermutete, diese lebende N a t u r k r a f t läßt sidi erst später beurteilen." (Steig I I I S. 4 0 2 ) 1 2 3 ) .
Nach seinem eigenen Zeugnis steht Arnim seinem Werke nicht planend und überschauend gegenüber. Wenn er sich unter den Notizen zur Fortsetzung der „Kronenwächter" besonders aufschreibt: „Das Ende soll bestimmt sein, ehe die neue Bearbeitung angefangen wird" (Werke I V S. 402),
so scheint mir das ein bezeichnendes Licht auf die Art seines Schaffens zu werfen, das in extrem hohem Grad auf das Unmittelbare, Momentane abgestellt ist. Der „lebenden Naturkraft", die er in sich spürt, gibt er sich rückhaltlos hin, auch wenn die Form des Kunstwerks nicht ausreicht, um sie zu erfassen, sondern zerspringt. „Laßt sie singen und sagen wie es ihnen in den Mund kommt, Gottes N a t u r in uns ist doch besser als alle Stümperei der Menschen an uns." (Steig I S. 171).
Alle Dichtungen Arnims erwecken so den Eindruck, den
Jacob
Grimm dem Freunde mahnend beschreibt: „Du legst Deinen Plan gut und klug an, aber hernach läßest D u meinem Gefühl nach wieder Contrepläne zu, die den ersten überwachsen. D e r eingelegte Samen gehet herrlich und erfreuend auf, aber bald scheint D i r der Platz nicht zu gefallen, wo die Pflanze steht, und D u setzest sie mehrmals um, wodurch ihre K r a f t beeinträchtigt wird. Jedem, soweit ich bei Lesern und Leserinnen umhörte, gefällt Eingang und erstes Drittel Deiner W e r k e immer mehr als das Folgende und der Schluß." (Steig I I I S. 249).
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
53
Unwillkürlichkeit ist das Ideal und die geheime Gesetzmäßigkeit, die über dem Arnimsdien Dichten steht. Arnim bekennt das selbst Jacob Grimm gegenüber: „Ich habe es in meiner Päpstin Johanna zweimal versucht, das Fischermärdien nachzuerzählen wie Runge, beide mal wars mir aber unmöglich, der Ton des Übrigen teilte sich dieser Geschichte unwillkürlich in einzelnen Umständen mit." (Steig III S. 457).
Das viel zitierte Wort des jungen Arnim: „Ein denkender Künstler ist ein Narr" (Steig I S. 52), ließe sich als Motto über das bisher Erörterte stellen. Die Hochschätzung des Unmittelbaren, Unwillkürlichen, hängt mit den allgemeinen Anschauungen der Spätromantik zusammen, welche überall zu den Ursprüngen und Quellen zurückdrängte 124 ); idi kann darauf im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingehen. Die immer wieder, oft mit Verwunderung, bemerkten Äußerungen eines starken Selbstgefühls sind von hier aus zu verstehen. „Ihr Freunde wißt, daß ich von keiner Schule, daß ich um keines Mensdien Beifall buhle." (Werke I S. X V I ) . „Ich kann nichts von der Kritik loskriegen, sie stört mich nur." (Steig III S. 499).
Arnim empfindet sein Dichten, wie es sich besonders in seinen zahlreichen Äußerungen über die Rolle der Phantasie andeutet, als Ausdruck eines überpersönlichen Ganzen, auf dessen Weisungen man lauschen muß, welche sich gerade in dem äußern können, was unwillkürlich und zufällig einfällt. „Ich fühle jetzt recht . . . daß eine gewaltige Dichtung durch die ganze Natur weht, bald als Geschichte, bald als Naturereignis hervortritt, die der Dichter nur in einzelnen schwachen Wiederklängen aufzufassen braucht, um ins tiefste Gemüt mit unendlicher Klarheit zu dringen" (Steig I S. 35),
schreibt er an Brentano, hierin das Verhältnis andeutend, das er sein Leben lang zur Dichtung gehabt hat. Bezeichnend sind auch die Worte, mit denen er seinem Freunde Clemens mitteilt, daß er sein Leben der Poesie widmen wolle: „Es ist mir ernster geworden mit der Poesie, ich habe ihren Zauberklang gehört, aus ihrem Becher getrunken, und idi tanze nun wie es das unendliche Schicksal will, gut oder schlecht, meinen Reihen herunter." (Steig I S. 32).
Im „Ariel" wiederholt er fast wörtlich diese Briefstelle (a. a. O. S. 148) und in der „Anrede an meine Zuhörer", die er seinen Novellen von 1812 vorangestellt hat, äußert er ähnliche Gedanken. Er fordert dort vom Dichter, daß er sich seiner Begeisterung frei überlasse, ohne sie beherrschen zu wollen (Werke I S. XIX). Hingabe an jene Mächtig-
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
54
keit, die sich in der Poesie äußert, kennzeidinet Arnims Verhältnis zu seinem Dichten. All dem, was da auf ihn eindringt, gibt Arnim zu willig nach, es läßt sich eine extreme Passivität und Eindrucksfähigkeit feststellen. Wir haben das schon im Verlauf der Darstellung an den verschiedensten Einzelheiten bemerken können, die mitgeteilten Zitate belegen das nur nodi einmal vom Wissen und der Intention des Dichters her. Ich möchte das Verhältnis Arnims zu seinem Werk einmal präzisieren, den Begriff des Formabstandes einführen. Das, was der Dichter in seiner Phantasie erschaut, durchtränkt von eigenem Erleben, getragen von den Kräften der eigenen Seele, löst er schaffend von sich los, stellt es in die Wirklichkeit, knüpft die Beziehungen zur Welt „draußen". Es ist ein Prozeß der Objektivierung. Den Rang eines Kunstwerks kann man unter anderem daran ermessen, wie weit dieser Prozeß verwirklicht ist, d . h . wie weit es über den privaten Bereich des Dichters hinaus Geltung erlangt hat. Jenen notwendigen Abstand zwischen Dichter und Werk, wie er durch den Objektivierungsprozeß bestimmt wird, nenne ich Formabstand, denn formen heißt zugleich objektivieren. Wir fragen nun wie es mit diesem Objektivierungsprozeß in Arnims Schaffen steht. Zunächst fällt uns das eigentümlich liebevolle Verhältnis auf, welches Arnim zu seinen Werken hat. Er behandelt sie ständig wie Schoßkinder. Über den „Hollin" schreibt er an Winckelmann, der den Druck überwachte und dabei einige Stellen weggelassen hat: „Es ist keine Höflichkeit, wenn idi glaube, daß Weglassung, die D u bestimmst, gewinnen wird; er ist mir durch manche seiner Fehler lieb, und wenn idi vieles darin vermißte." (Steig I S. 29,
er eigentlich durch jede nur muß ich Dir sagen, es würde midi kränken, vgl. audi Steig I S. 51).
Brentano gesteht er: „. . . idi könnte (Steig I S. 52).
ihn
(den
„Hollin")
zuweilen
abgöttisch
verehren."
Der „Ariel" habe für ihn „manche geheime Rührung" (Steig I S. 47), berichtet er; und ein andermal schreibt er seinem Freund: „Außer dem Hyperion sind mir in dieser Zeit keine anderen (Poesien) als meine eigenen treu geblieben und ich habe midi meist aus mir selbst erfrischt" (Steig I S. 37).
Auf der Ebene der Dichtung selbst ist es die Gestalt des Erzählers 125 ), die in ihrem Verhältnis zum Erzählten uns wichtige Aufschlüsse über das Verhältnis des Gestalters Arnim zu dem von ihm Gestalteten vermittelt. In allen erzählenden Werken tritt uns in nicht zu übersehender Deutlichkeit der das Geschehen ordnende und bewertende Erzähler entgegen, auch da, wo er sich, wie etwa in den „Kronen-
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
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Wächtern", nicht mehr ausdrücklich nennt. Die einzelnen Dichtungen Arnims unterscheiden sich hier nicht wesensmäßig, sondern nur gradmäßig. Ich habe meine Beispiele der „Gräfin Dolores" entnommen, die mir für die Erkenntnis der Art, in der der Erzähler hervortritt, am geeignetsten zu sein scheint. Die einfachste Art, in der er uns sichtbar wird, ist, daß er die Anlage seiner Erzählung rechtfertigt (vgl. Werke V I I S. 101, 227). Wir spüren ihn allenthalben, wenn er ein Geschehen kommentiert (vgl; Werke V I I I S. 300), ein Verhalten mit einem Wertakzent versieht (vgl. Werke V I I S. 44), einen Ratschlag an das Erzählte anknüpft, eine zufällig einfallende Bemerkung einschiebt (vgl. Werke V I I I S. 200), wenn er das Erzählte zum Anlaß nimmt, um einen Exkurs, eine Reflexion einzufügen 128 ), wenn er zu umständlichen Belehrungen ansetzt (vgl. Werke V I I S. 63), Betrachtungen allgemeiner Art einschiebt (vgl. Werke V I I I S. 125 f.), Sentenzen mitteilt (vgl. Werke V I I I S. 137) oder im Verkünderton die in einem vordergründigen Geschehen liegende eigentliche Wahrheit mitteilt (Werke V I I S. 77, Werke V I I I S. 135). Die erzählerischen Eingriffe lassen uns die für jeden editen Erzähler kennzeichnende Teilnahme am Gegenstand seiner Erzählung spüren, zum Teil lassen sie sich audi verstehen aus Arnims so stark ausgeprägter Tendenz formend und erziehend zu wirken, aber — und das ist wesentlich — es wird zugleich darin deutlich, daß der Erzähler die, man kann ruhig sagen subjektive, Wertung so sehr in den Vordergrund schiebt, daß diese wichtiger als das Geschehen selbst zu werden scheint, dieses in gewisser Weise zum Anlaß macht, an den er anknüpft. E r neigt dazu, seinem Leser oder Hörer suggestiv sein Verhalten vorzuschreiben 127 ). Das spüren wir auch an einer anderen Weise, in der uns der Erzähler deutlich wird. Nämlich aus den Attributen, die er den Personen, von denen er erzählt, zulegt. Nicht eine objektiv gegebene Eigenschaft, sondern ein subjektiver Eindruck spiegelt sich darin (vgl. Werke I S. 3, io). Gleidies zeigt sich in der Art seiner Schilderung. Er neigt dazu, die konkrete Wirklichkeit zu Gunsten des gefühlsmäßigen Eindrucks, die sie auf ihn als den Beschauer macht, aufzulösen. Ein gutes Beispiel bietet uns dafür das Einleitungskapitel (Werke V I I S. 3 ff.) der „Gräfin Dolores", es tritt uns dort die Neigung des E r zählers entgegen, seinen Lesern seinen eigenen Eindruck zu suggerieren. Überaus zahlreich sind in der „Dolores" die Stellen, an denen der Erzähler seine gefühlsmäßige Anteilnahme an seinen Menschen und am geschilderten Geschehen betont: „Ungeduldig wandle idi mit ihnen über Berg und Tal, selbst Rom, bei dessen bloßen Namen sonst meine Gedanken weilen, genügt mir nidit, idi möchte sie sicher in den Armen der herrlichen Schwester wissen" (Werke V I I I S. 158).
56
Arnims Verhältnis zu seinem Werk „Zu lange für meine Zuneigung zur Gräfin Dolores habe ich den Grafen durch eine fremde Welt begleiten müssen. Mir wird gleich so wohl, da idi wieder zu ihr umkehren darf, ungeachtet sich wieder manches Betrübte ereignet hat" (Werke V I I S. 385)128).
Das Erzählte bleibt für Arnim, das vermag uns die Erzählergestah spürbar zu machen, als ein Produkt seiner Phantasie so eng mit ihm verbunden, daß der Vorgang der Objektivierung, wie ich ihn oben dargestellt habe, auf halbem Wege stecken bleibt. Wir müssen allerdings zwischen den einzelnen Werken Gradunterschiede machen. So ist z. B. in den „Kronenwächtern" dieser Objektivierungsprozeß sehr viel weiter fortgeschritten. Arnim beugt sidi den Einfällen und Forderungen seiner Phantasie. Die fehlende Objektivierung zeigt sich audi im Anspruch des Erzählers auf das Wissen um die letzten Zusammenhänge: „Wir wissen alles und können als Vertraute seinen Entsdiluß in Wahrheit berichten; den meisten schien Zufall, was Absicht in ihm gewesen." (Werke V I I I S. 118).
Es ist nicht einfach, und darauf kommt es an, vom Dichter nicht weiter gerechtfertigte legitime epische Allwissenheit, die aus der vorausschauenden Kenntnis des Erzählgeschehens aber auch aus einem höheren Wissen um menschliche Dinge, einem Darüberstehen, ihre Berechtigung zieht. Der radikale „Innensichtstandort" 129 ), den Arnim immer wieder in der „Gräfin Dolores" einnimmt, wird mit einem besonderen Vertrauen, einem „Dabei sein" motiviert. Arnim besitzt, das weist in die gleiche Richtung, wenn er erzählt keinen festen Blickpunkt, er springt von einer Gestalt zur anderen, von den Gestalten zum Dichter, je nachdem, wo gerade sein Interesse liegt 130 ). Wenn man Arnim aus dem Umkreis seiner Vertrauten und Freunde immer wieder berichtet, daß man einen lebendigen Eindruck seiner eigentümlichen Persönlichkeit aus seinen Werken gewonnen habe und diese deshalb so schätze, so bestätigt das die eben gegebene Deutung des Verhältnisses zwischen Arnim und seinem Werk im Sinne eines fehlenden Objektabstandes. In der Forschung hat das bis zur Behauptung des Arnimschen Dilettantismus geführt. Wilhelm Grimm: „Ich glaube, wenn idi Dich nicht selbst kennte und Dich nicht so von Herzen lieb hätte, so entbehrte idi einen Teil meiner Freude an Deinen Gedichten. D a s ist nämlich der Eindruck von Deinem besonderen Wesen und Deiner Eigentümlichkeit, der mir am Ende, ohne daß ich damit etwas Einzelnes meine, übrig bleibt." (Steig I I I S. 451, vgl. audi Steig I I I S. 387).
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
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Clemens Brentano: „Mit Dir zu reden, ohne mit Dir zu sein, ist ebenso wunderlich, als Deine Verse in Deiner Abwesenheit zu lesen." (Steig I S. 39 vgl. auch Steig I S. 319).
Vom „Wintergarten" berichtet er Arnim, daß er ihm das Vergnügen seiner Gegenwart bereitet habe (Steig I S. 282). Bettine Brentano: „Du fragst midi, ob ich Deine Poesie ernstlidi liebe? Idi liebe Dich in Deinen Liedern, mehr kann ich nicht sagen." (Steig II S. 222) 1 3 1 ).
Der Grund für dieses Verhältnis von Werk und Schöpfer scheint mir darin zu liegen, daß Arnims Werk in so hohem Maße reines Produkt seiner Phantasie ist, in weit geringerem Maße Anteil an jener anderen Art der dichterischen Gestaltung hat, welche eine vorgegebene Wirklichkeit, die „Welt draußen" aus der Kraft der Phantasie „umschmilzt", neu gestaltet. Gefühle, Sehnsüchte, literarische Anregungen, Stoffe, Motive aus Chroniken und alten Dichtungen — alles Gegebenheiten, die man im Zusammenhang unserer Überlegungen als genuine Materialien der Phantasie ansehen darf — sind es, die seine Phantasie in Tätigkeit versetzen. Leicht entzündbar, erregbar, Eigenmacht in seiner dichterischen Welt ist diese Phantasie. Arnim ist von ihr bezaubert, gibt sich ihrem Strömen hin. Diese Bezauberung überträgt sich auf das Werk, das ihm auf diese Weise immer eng verbunden bleibt. Auch von Seiten Arnims selbst liegen zahlreiche Äußerungen vor, die mir hier sehr aufschlußreich erscheinen und uns zugleich auf den Anteil des Biographischen, des persönlichsten Erlebens an diesem Werk hinweisen. So schreibt Arnim an Brentano über den „Wintergarten": „Meine Novellen, hoffe ich, sollen Dir nicht ganz mißfallen. Es war mein Karneval, midi in allerlei Historienmasken zu werfen." (Steig I S. 271). U n d ein a n d e r m a l , w ä h r e n d seiner g r o ß e n Reise, sagt er über den „Ariel": „Das Ganze ist ein wechselndes Liederspiel, es hat für mich noch manche geheime Rührung. Idi hatte den glücklichen Einfall, mir die bedeutendsten Stellen aus meinen Briefen abzuschreiben. Sie rufen mir leidit das Übrige zurück, so sitze ich eben hier und sehe meinen ganzen Briefwechsel mit Dir durch. Meine Einsamkeit belebt sich, bald bin ich bei Dir, bald in Regensburg, bald in Wien. U n d nun sitze ich und sehe, ob nidit einzelne Verse aus dem Trauerspiele mit Äußerungen meiner Briefe sich zusammenfügen lassen. Das macht mir Freude, wie die Entdeckung eines neuen Weltteils in mir." (Steig I S. 47).
Brentano bestätigt einmal, daß das „Scherzende Gemisch" aus der Einsiedlerzeitung an allerlei Reden zwischen ihm und dem Freunde anklinge (Steig I S. 266). Ebenfalls von seiner Reise schreibt Arnim an Brentano:
58
Arnims Verhältnis zu seinem Werk „Ich habe . . . redit viel Lieder an Dich geschrieben, in einer Schweizer Novelle Aloys und Rose, die aus einem Reisetagebuch gezogen ist, und das Reisetagebuch spricht immer mit Dir." (Steig I S. 93).
Auf mannigfache Weise finden sidi in diesem Werke Begebenheiten, die der Sphäre von Arnims persönlichem Erleben angehören. Die dritte Abteilung der „Gräfin Dolores" beginnt mit einer längeren Reflexion des Erzählers: „Als idi einmal an einem grauen Tage einsam und gleidigültig meinen Weg wanderte, um mein verhageltes Feld zu besehen und von einem Hügel zum andern blickte, so bedachte ich, wie bald ich auf dem anderen, und dann — und dann vor dir stehen könnte, du treue Seele, zu der ich am liebsten spreche von der ganzen Welt, und der ich am wenigsten zu sagen habe, weil du mich gleich verstehst und alle meine Worte in Liebe mehrest und deutest." (Werke VIII S. 3).
Reinhold Steig bezieht diese Worte mit Recht auf Bettine Brentano 132 ), Arnim hat also einen persönlichen Brief, im letzten nur der verständlich, an die er gerichtet ist, hier in seinen Roman eingefügt. In seinen vier 1812 erschienenen Novellen ist es das persönliche Erlebnis einer Rheinfahrt mit Freunden, das er in der Rahmenhandlung beschreibt. Der Bettine befreundeten Dichterin Caroline Günderode, die sich selbst den Tod gab, setzt er darin ein Denkmal. Vielfach sind die persönlichen Bezüge im „Wintergarten", angefangen vom Zueignungsgedicht an Bettine, in den näheren Umständen nur dieser verständlich 133 ), bis zu jener Stelle, wo Arnim die Rolle des Erzählers durchbricht, seine Dichtung zum Ausspradieorgan allerpersönlichster Dinge macht, über die Köpfe seiner Leser hinweg in persönlichen Worten seinen Freund Clemens anredet (Werke X I I S. 243 f.). Auch die biographischen Gegebenheiten, die sich so reichlich ungelöst, unverändert und leicht aus dem Zusammenhang herausfallend, in dieser Dichtung finden, muß man hier erwähnen. Ich möchte darauf verzichten, dem im Einzelnen nachzugehen, um hier auf die Bemühungen der älteren Forschung zu verweisen. Wie Arnim seine Dichtung zum Ausspracheorgan persönlichster Anliegen macht, zeigt folgendes: „Mich ergreift meine alte Trauer, die midi in Königsberg quälte, das Gefühl, vielleicht etwas unredites aus Versehen ergriffen zu haben. Statt des Buches hätte idi das Schwert ergreifen sollen, jetzt ist es doch eigentlich zu spät, die Gewohnheit hat midi mit Millionen unsichtbarer Fäden so fest angezogen, daß ich mich nicht mit völliger Freiheit je davon trennen könnte; mitten in der Schlacht würde ich bedauern, daß ich sie nidit dargestellt lesen oder sehen könnte",
schreibt er an Bettine Brentano (Steig II S. 267). Dieses Problem seines persönlichen Lebens durchzieht sein ganzes Werk. Es bildet das zentrale Motiv der Erzählung „Juvenis", spielt im „Auerhahn", in den „Kronen-
Arnims Verhältnis zu seinem Werk
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Wächtern" (s. Werke III S. 205 und S. 345) und in der „Kirchenordnung" eine Rolle. „Ariel", in dem sich Arnim deutlich selbst porträtiert hat, berichtet im „Wintergarten" in ähnlichen Worten wie in jenem oben zitierten Brief: „Ich hätte gern mitgefoditen, aber ich konnte das Schwert nicht führen; tausend Gewohnheiten hielten midi gefangen, die eben darum sidi hielten, weil sie nicht leer, sondern in würdigen Zwecken erworben, doch fühlte idi, wenn idi audi meinen Sinn und meine Bemühung achten mußte, daß idi etwas verkehrtes getrieben, was in der verderblichen Zeit nicht paßte, ich trauerte tief und hoffte wieder abwechselnd mit aller Torheit." (Werke X I I S. 11).
In der „Gräfin Dolores" will Graf Karl in den Krieg ziehen, und es wird in diesem Zusammenhang berichtet, wie heutzutage der Krieg kein freies Kämpfen sei, sondern ein ewiges Warten und ungesundes Herumliegen in den Stellungen (Werke VII S. 96). Der gleiche Gedanke kommt in Arnims Briefwechsel mit Görres zur Sprache. Seine Dichtung wird für Arnim im Zusammenhang Schwert—Buch zum ganz persönlichen Ausspracheorgan, er entschuldigt sich darin quasi für etwas, das ihm in seinem persönlichen Leben als Mangel erscheint134). So wie die Gestalt des Erzählers und die Phantasiebindung, führen uns auch die persönlichen Elemente im Werke Arnims zu dem Schluß, daß dieses Werk außergewöhnlich eng mit seinem Schöpfer verbunden bleibt, daß der Objektivierungsprozeß nicht vollendet, der für das Kunstwerk nötige Abstand der Form nicht erreicht wird. Für das zuletzt erwähnte Verhältnis zum persönlichen Erleben, zu dem, was in die Sphäre des Biographischen gehört, dürfen wir als Begründung auf eine starke Passivität des Erlebens schließen. Immer wieder erlangen Einzelheiten von Arnims ganz persönlichem Schicksal eine solche Durchschlagskraft, daß sie bis in seine dichterische Welt eindringen, von selbst, beinahe unbeabsichtigt könnte man sagen, die Stellung des Dichters Arnim als ordnendes, formendes Zentrum in dieser Welt gefährdend. Wie überhaupt der fehlende Formabstand, auf eine fehlende Formkraft zu schließen erlaubt; es handelt sich um eine besondere Erscheinungsweise der uns immer wieder begegnenden Nach-» giebigkeit als der hervorstechenden Haltung Arnims. Idi habe oben erwähnt, daß dem Dichter sein persönliches Schicksal nicht zum Anlaß von Krisen und Erschütterungen wurde, nicht zu einer editen geistigen Entwicklung führte. Das heißt mit anderen Worten, daß es für sein dichterisches Gestalten nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Audi von hier aus gesehen ist also das, was davon ins Werk hineinwirkt, zufällig, ungestaltet.
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Die Beschreibung der in Arnims Dichtungen auftretenden Gestalten
DIE BESCHREIBUNG DES ÄUSSEREN DER I N ARNIMS D I C H T U N G E N A U F T R E T E N D E N GESTALTEN Arnim gibt nirgends eine geschlossene Schilderung der Personen, die er auftreten läßt, eine Schilderung, die alle wesentlichen Einzelheiten zu einem Gesamteindruck zusammenfaßt. Harald Riebe geht in seiner Dissertation, auf die idi zu diesem Punkte verweise135), auf diesen Zug Arnimscher Charakterisierungs- und Beschreibungskunst ein. Er spricht von „sukzessiver Schau" und meint damit, daß jeweils nur diejenigen Züge aufgefaßt werden, die sich dem Anblick gerade darbieten; so kann sukzessive aus den momentanen Teilaspekten das Bild des Ganzen entstehen. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist die Schilderung Antons in den „Kronenwächtern" (Werke III S. 366 f.). Es begegnet uns dort zugleich das, was Riebe als indirekte Charakteristik bezeichnet, d. h. es gerät nur das in den Blick, was sich dem Beobachtungsstandpunkt einer anderen Romanperson darbietet. So erscheinen der im Bett liegenden Anna vom vor dem Fenster auf einem Gerüst malenden Anton zunächst nur die „riesenhaften Beine mit breiten Waden", dann die mit „dem Pinsel bewaffnete rechte Hand", die von Zeit zu Zeit eine Fliege verjagt, zuletzt, als sich Anton herabbückt, das Gesicht. „Sie sah ein fröhliches Gesicht, das wie der Vollmond im Aufgange den Fensterflügel fast füllte: von großen blauen Augen durchstrahlt, mit einem dichten Bart von Milchhaaren umglänzt, erschien er wie ein Engelskopf unter dem Vergrößerungsglase sich darstellen möchte."
Das, was sich dem Momenteindruck darbietet, tritt so sehr in den Vordergrund, daß es sich ins Übergroße verzerren kann. Anna beschaut „das junge Blut mit Freude, wie es in dem erhitzten Halse pulsierte". Wiederum fällt der Blick auf Einzelheiten. Sie bietet dem jungen Maler einen frischen Trunk: „Es gehört wohl etwas in den breiten Hals, auf welchem der Adamsapfel wie ein Ziehbrunnen niedersteigt, und dann sind ihm audi so viele Tropfen in seinem Milchbart hängengeblieben, daß sich die Fliegen darin ersäufen."
Meist neigt Arnim jedoch dazu, überhaupt nur eine hervorstechende Einzelheit zu berichten: „Der jüngere von beiden, ein feiner gewandter Mann, begabt mit lebhaften blauen Augen, half dem schwerfälligen Älteren in den Wagen, der uns mit großen blauen hervorragenden Augen, wie sie Gall für das Wortgedächtnis fordert, aus buschigen blonden Augenbrauen über einer unendlich langen gebogenen Nase anstierte" (Werke II S. 263) 1 3 e ).
Einzelheit und Momentbild
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EINZELHEIT U N D MOMENTBILD Jener an Impressionismus gemahnende Zug, der uns in Arnims Personenbeschreibung allenthalben sichtbar wird, hat weitergehende Bedeutung, er gilt für seine Art, die "Welt zu sehen, überhaupt 137 ). Über Arnims „Kirchenordnung" schreibt Wilhelm Grimm: „. . . es kommt mir vor, als wäre aus einzelnen für sich bestehenden Miniaturbildern, die ich schön, geistreich, sorgfältig ausgeführt finde, auf eine gewisse sinnvolle Art ein Bild zusammengesetzt, was aber mehr der kühne Witz als die organische Notwendigkeit zu einem Ganzen macht" (Steig III S. 519). U n d J a c o b G r i m m ä u ß e r t sich über die „ G l e i c h e n " : „Alles verwickelt sich zu sehr und bringt sich um die rechte Wirkung, die schönsten Einzelheiten verlieren sich und bleiben einem nur einzeln wert" (Steig I I I S. 451).
Im gleichen Sinne schreibt Görres am 20. Dezember 1822, es sei Arnim nicht verliehen, etwas Ganzes, Vollständiges zu erfassen. Das vergüte er „durch tiefen aufrichtigen Blick in manches Einzelne" 1 3 8 ). Arnim läßt die Wirklichkeit in ihrem unendlichen, bunten Vielerlei auf sich einströmen, ohne wirklich kritisch Stellung zu nehmen, seiner passiven Art geht dabei leicht die Überschau verloren. Ich habe die damit zusammenhängende Problematik, nämlich die von Stoff und Form, bereits im einleitenden Kapitel berührt und kann jetzt darauf verweisen. Das, was gerade ins Auge fällt, was ihn gerade anzieht, vermag er mit einer erstaunlichen Treffsicherheit zu erfassen, aber es wird gleich von etwas anderem, was den Dichter von neuem fesselt, verdrängt. Die mit Wirklichkeitstreue gesehene Einzelheit verliert sich in der bunten Fülle und den phantastischen Einfällen der gesamten Dichtung. Es ist das immer wieder in der Literatur behandelte Problem des Verhältnisses von Realistik und Romantik im Werke Arnims, das hier auftaucht und eine teilweise Klärung findet. Arnim ist in außergewöhnlich starkem Maße seinen Eindrücken hingegeben, er gibt ihnen nach, ob es sich um Wirklichkeitsvorstellungen oder Einfälle seiner oftmals bizarren Phantasie handelt, und so entsteht in seinen Dichtungen eine wunderliche Mischung phantastischer und realistischer Elemente. Arnim ist wesenhaft unfähig, überschaubare Zusammenhänge zu schaffen. Die einheitliche Welt scheint ihm oftmals unter den Händen in lauter isolierte Einzelheiten zu zerfallen, in Momentbilder. Arnim selbst ist diese Eigenart nicht fremd geblieben, denn schon im „Ariel" rechtfertigt er die eigenartige, der momentanen Empfindung Rechnung tragende Form:
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Einzelheit und Momentbild „jetzt ist es mir gewiß geworden, daß jedes Einzelne sich für den einzelnen Punkt der Empfindung rechtfertigen läßt" (Ariel a. a. O. S. 210).
Die „Kronenwächter" zerfallen nach seiner Aussage in „eine Zahl abgesonderter und dodi verbundener Geschichten" (Steig III S. 380). Ähnliches läßt sich in der „Dolores" feststellen, wo die Neigung deutlich wird, in den einzelnen Kapiteln in sich geschlossene Erscheinungen zu erfassen. Ich erinnere auch an die Erzählung „Die Kirchenordnung", wo die Kapitel fast schlagzeilenhaft einzelne Begebenheiten abgrenzen. Äußerungen wie die beiden folgenden innerhalb seines dichterischen Werkes weisen uns auf das gleiche hin; im 2. Teil der „Kronenwächter" läßt er Mephistopheles, den Diener Fausts, sagen: „Eine Welt ist immer gegen die andere, wenn die eine lacht, muß die andere weinen, darum sollte man sich über beides nicht sonderliche Gedanken machen, sondern die Tränen laufen lassen und das Ladien nicht verbeißen, denn Welt bleibt Welt, solange sie sein wird" (Werke I V S. 222).
Und in der „Päpstin Johanna" sagt Arnim in bezug auf Johanna, die „sich in einem Kreislauf unendlicher Widersprüche gefangen" sieht: „Berühren sidi im Menschen wirklich verschiedene Welten, wie in der Ausdeutung aller Religionen, . . . hat jede dieser Welten ihr Recht, oder soll eine in dem Menschen ausgerottet und vernichtet werden?" (Werke X I X S. 249).
Während der leichtsinnige Mephistopheles seine Äußerung frivol dahinsagt, berührt das zweite Zitat das für Arnim so wichtige Problem der beiden Welten, auf das ich zurückkomme.
ABSCHNITT Π RÜCKBLICK UND NEUE FRAGESTELLUNG Ich möchte knapp zusammenfassen, was wir bisher an Einsichten in die Struktur von Arnims dichterischer Welt gewonnen haben, und diese Einsichten zugleich auf eine etwas generellere Formulierung bringen, die sie uns als Blickrichtungen für die folgenden Teile der Untersuchung brauchbar macht. Die Sprache zeigt sich als eine Mächtigkeit, welche ihr Eigenrecht behauptet, sich nicht restlos dem Willen des Dichters beugt. Ebenso drängt sich die bunte Fülle der Welteinzelheiten formsprengend in Arnims Dichtungen hervor. Sie lösen sich nicht in dem Kosmos einer in sich geschlossenen poetischen Welt auf, so wie auch biographische Gegebenheiten als Intarsien in dieser stehenbleiben. Wie die Sprache erweist sich, nodi stärker als diese dem Betrachter des Arnimsdien Werkes auffallend, auch die Phantasie als eine Eigenmächtigkeit, deren, man könnte fast sagen diktatorische, Wirkung auf den Dichter allenthalben spürbar wird. Innerlich mit ihr zusammenhängend ist das, was uns im Zusammenhang der Komik sichtbar wurde, die durch die Nachgiebigkeit des Dichters, die hier oft aus Vitalität und begeistertem Schwung zu verstehen ist, eine eigentümliche Ubersteigerung erfährt, zum Selbstzweck wird, wodurch sie leicht ins Groteske umschlägt, hierin eine der im Arnimschen Werke liegenden Gefahren verkörpernd. Im Zusammenhang des Komischen besonders deutlich werdend, zeigte sich in diesem Werk an den verschiedensten Stellen eine Tendenz zur Verselbständigung einzelner Gegebenheiten. So haben wir innerhalb der sich selbst schon nicht in den großen Formzusammenhang glatt einfügenden Sprache nochmals die Neigung zur Verselbständigung der bildhaften Elemente. In Arnims Art der Perzeption tritt die isolierte Einzelheit stark in den Vordergrund, einzelne Gegebenheiten werden autonom. Es herrscht, um einen prägnanten Begriff einzuführen, in Arnims dichterischer Welt allenthalben der Zug zur Dezentralisierung, d.h. es fehlt ein zentrales Prinzip, das die sich verselbständigenden Einzelheiten zu einem Ganzen bindet. Auch die einzelnen Dichtungen stellen keine in sich geschlossenen Gebilde dar. Vom Momenteindruck bis zu dem ohne innere Notwendigkeit eindringenden Biographischen steht diese dichterische Welt unter der Kategorie des Zufälligen.
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Rückblick und neue Fragestellung
Nur in zwei Fällen, nämlich im Verhältnis zur Phantasie und in dem „Mangel an Distanz" iiberschriebenen Kapitel, deutet sich uns eine theoretische, weltanschauliche Rechtfertigung des von uns festgestellten Verhaltens seitens des Dichters an. In dem Strömen der Phantasie und in der unmittelbaren Aussprache glaubt Arnim die Äußerung höherer Zusammenhänge zu spüren, deren Diktat er möglichst unverfälscht wiedergeben müsse. Wenn wir nach dem Bisherigen versuchen sollten, das "Wesen Arnimschen Dichtens zu charakterisieren, so müßten wir zunächst sagen, daß nicht Arnim dichtet, sondern, daß es in ihm dichtet. Aber das, was aus ihm spricht, sind nicht Seinsmächtigkeiten, die ihn, den Dichter, zum Gefäß ihrer Offenbarung machen, es ist die Phantasie, die ihr Spiel mit ihm treibt, denn all die bisher besprochenen Erscheinungen setzen ja eine leidit bewegliche und entzündliche Phantasie voraus. Das Besondere von Arnims Schöpfertum, soweit dieses uns faßbar wird, dürfen wir als extrem einseitiges Schaffen aus der Kraft der Phantasie deuten. Die Liebe zur bunten, vielfältigen Welt, weldie der Phantasie immer neue Anregungen liefert, und die stets bewegte Phantasie selbst, lassen uns von Arnims Dichtungen einen Eindruck gewinnen, wie ihn die Worte Wilhelm Grimms formulieren. Er vergleicht Arnims Diditungen mit Bildern, die von drei Seiten einen Rahmen haben, an der vierten aber nicht, dort aber immer weiter fortgemalt sind, so daß in den letzten Umrissen Himmel und Erde nicht mehr unterschieden sind 1 ). Unablässig dringt die bunt fabulierende Phantasie weiter. Arnims Dichtung ist trotz manchen anderen Ansprüchen, die Arnim erhebt, ζ. B. dem ethisch-erzieherischen, der sich in dem sehr starken reflexiven und didaktischen Element seiner Dichtung spiegelt, Phantasiedichtung, d. h. sie ist als solche — nicht nur in dem Sinne, in dem jede edite Dichtung eine in sich geschlossene dichterische Welt darstellt, künstlerisch von einer einheitlichen K r a f t bestimmt ist, wobei die Möglichkeit unberührt bleibt, mit verbindlichen Aussagen in die „wirkliche" Welt hinüberzuwirken — eine Welt für sich, aus ihren eigenen Gesetzen lebend, den unberechenbaren von Reiz, Assoziation, Einfall, Momenteindruck, autonom, im letzten unverbindlich. Diese Aussage wird auch durch den folgenden Abschnitt der vorliegenden Arbeit nicht aufgehoben. Ich erinnere nur daran, wie in der „Dolores" die Norm des sittlichen Verhaltens äußerlich bleibt, von einer ethischen Bewährung dieser Menschen nicht mehr gesprochen werden kann. Trotz aller Hingerissenheit, der Hingabe an etwas, das gerade anzieht und mächtig ist, trotz aller Passivität bleibt Arnim im letzten
Rückblick und neue Fragestellung
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seinem Dichten gegenüber kühl und unbeteiligt. Das scheint mir am sichersten auf die Phantasie als den Grund seines Dichtens hinzuweisen. Dieser Abstand gegenüber seinem Dichten scheint zunächst dem, was oben gesagt wurde, zu widersprechen. In Wirklichkeit liegt er jedoch auf einer anderen Ebene. Es handelt sich in etwa um das, was Kierkegaard in seiner Romantikkritik als ästhetische Unverbindlichkeit bezeichnet, während der oben besprochene „Mangel an Distanz" das Fehlen eines Formabstandes meinte. Jene letzte Unverbindlichkeit seines Dichtens ist nun etwas, was sich schwer mit bestimmten Einzelheiten belegen läßt. Wer ein feines Ohr hat, vermag es herauszuhören. Das Spielerisch-Unverbindliche, das wir in der Sprachbehandlung spüren konnten, in der Neigung zu Klang und Wortspiel, der Tenor des Erzählens, der manchmal Ähnlichkeit bekommt mit epischer Unberührtheit, der manchmal einen märchenhaft naiven T o n der Freude am „Es war einmal", am Fabulieren um seiner selbst willen annehmen kann, und vor allem die innere Unmöglichkeit tragische Konflikte zu gestalten, lassen uns hier aufmerksam werden. Ebenfalls die Seltenheit echter lyrischer Aussagen, die meist vom Spiel der Sprache ersetzt werden. Bestätigt wird unsere Annahme durch Äußerungen wie die, daß er ganz lustig ein paar traurige Lieder geschrieben habe 2 ) oder seine Tagebuchnotiz anläßlich Kleists T o d : „Es wird gesagt, Kleist sei gestorben, wie er selbst von zwei Liebenden erzählt; hartes Los, wenn ein Dichter alles selbst erleben müßte, was er für andere ausgedadit, fast wie der Künstler, der den Ochsen des Phalaris gegossen und selbst zuerst darin gebraten wurde, audi ließe sich vielleicht von manchem Dichter wie von Wolfdietridi sagen, daß ihn die Gerippe derer erschlagen, die er während seines Lebens vom Leben zum T o d e gebracht. Dichter müssen sich viel Kinder zum Schutz dagegen schaffen" 3 ).
In eigentümlicher Korrespondenz zum eben Beschriebenen scheint mir das Fehlen des Menschen als eines „selbständigen Kräftezentrums" in Arnims dichterischer Welt zu stehen. Ich habe das bereits beim Thema des Grotesken unter Hinweis auf Gundolf angeschnitten, auf den idi mich nochmals beziehen möchte. Arnims Wiederbeschwörung der deuschen Vorwelt geschieht „von den Dingen und Worten her", ist nicht „eine Wiedergeburt vom Menschen aus". „Fast absichtslos wie Witterungen und Landschaften", schildert Arnim Menschengefühle 4 ). Er vermag nie aus den Gestalten heraus, die er schafft, die Umwelt zu schauen und zu formen, sie bleiben immer Einzelheit unter anderen 5 ). Ich glaube, daß hier der Grund für die genannte Eigenart der Arnimschen Dichtung zu suchen ist: sie ist nicht mehr in erster Linie auf den Menschen bezogen. Wir wollen dieser Frage weiter nachgehen. 5 Rudolph, A & i m von Arnim
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Rückblick und neue Fragestellung
An vier Dichtungen, die eine ausgezeichnete Stelle im
Gesamtwerk
Arnims einnehmen, soll untersucht werden, wie der Dichter die Menschen sieht, deren Handeln und Schicksal er gestaltet und wie die Welt gesehen ist, in der sich dieses vollzieht. Bereits in dem 1802 als „poetischer Erstling" erschienenen Briefroman „Hollin" ist, das literarische Vorbild „Werthers" zum Ausdruck eigener Problematik abwandelnd (der Gefährdung des Menschen, der sich von der Gemeinschaft isoliert) ein Thema angeschlagen: der Zusammenstoß
der Leidenschaft
mit den Normen
des sittlichen
Ver-
haltens, wie sie göttliches und menschliches Gesetz bestimmen,
das
Arnim während seines ganzen Lebens und Schaffens bewegt hat.
Er
verurteilt die ungebundene Leidenschaft: „Daß dir sdiaudre, Mensdi, vor der Gewalt der göttlichen Leidenschaft, der allmäditigen Liebe, weldie von der Jugend so oft in törichtem Leichtsinne aufgesucht und ausgefordert wird." (Werke V I I I S. 449).
Die Verletzung
der sittlich verbindlichen Norm, ihre
durch Buße und Umkehr
Anerkennung
des Frevlers sind das Zentralthema
der
„Dolores" und des Erlösungsdramas „Halle und Jerusalem". Das Anliegen, das sich in dieser Themenstellung spiegelt, zieht sich zu einer offen lehrhaften Absidit zusammen, die Arnim in seinem Dichten zum Ausdruck bringen will. Als „Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein", bezeichnet er im Untertitel seine „Dolores". Es ist die Wende von den übersteigerten exstatischen Liebesauffassungen, die wir in der Romantik finden, wo die Liebe zur Frau und das Erleben des Unendlichen, des Weltganzen, eine Synthese bilden 8 ), zum Nüchternen, Positiven, die Arnim vollzieht und gestalten will'). E r ist mit Goethe („Wahlverwandtschaften") der erste, der in diesem Zusammenhang das Problem der Ehe aufgreift, er kennt den Gegensatz von „himmlischer" und „irdischer" Liebe (vgl. ζ. B. die E r zählung „Raffael und seine Nachbarinnen"). Hollins Liebe zu Maria steht noch auf dem Boden der „romantischen" Liebesauffassung, stellt also gewissermaßen im eigenen W e r k die Position dar, die Arnim zu überwinden trachtet. Der eigentliche Grund für Hollins warnendes Schicksal sei das „Hinaussetzen über bürgerliche und religiöse Verhältnisse in der Liebe" gewesen, heißt es in der „Dolores" (Werke V I I S. 151). Als ein zweites Leitmotiv der Untersuchung diene uns deshalb im folgenden die Frage: Wie wird die Überwindung der Position des Hollin und deren Ursachen, die zunächst einmal dargestellt werden sollen, im Werk Arnims Gestalt?
»Hollins Liebesleben"
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H O L L I N S LIEBESLEBEN Lenardo, einer der Freunde Hollins wird wie folgt charakterisiert: „Er ist offen ohne Zweck, die Lustigkeit ist ihm Bedürfnis, darum liebt er Wein, Spiel und Mädchen. Fleißig zum Scherz, mutig ohne es zu wissen, nie Beleidiger, fast immer Versöhner beim Weine, ist er mit allen gut Freund, keines Freund, er hat so viel Bekanntschaften gemacht, so viel Trennungen gesehen, daß ihm alle sehr leicht werden. Er ist der Einzige hier ohne Stammbuch, der in allen Stammbüchern sich findet, der keinen vergißt, mit dem alle Memorabilien erlebt haben, und der selbst keine aus seinem Leben weiß, dem überhaupt die vergangene Zeit völlig vergangen, dem die Zukunft erst kömmt." (a.a.O. S. 18). Was uns an dieser Charakteristik interessiert, ist die Betonung der Bindung an den Augenblick und damit zusammenhängend das Offensein jedem neuen Eindruck gegenüber. Mit dieser Charakteristik ist diejenige Gesetzlichkeit formuliert, der im Geheimen alle Menschen des Romans unterstehen. N u r gradmäßig, nicht wesensmäßig unterscheiden sie sich in der Bindung an den Augenblick, in der seelischen Labilität und dem daraus folgenden Mangel an Überschau und selbstverantwortlidier Lenkung ihres Lebens. »Doch vergesse ich nie, alle Eindrücke, die oft mit unerklärlicher Stärke mich ganz bestimmten, wie ich midi hingezogen fühlte zu Dir bei Deinem, ersten Anblicke" (a. a. O. S. 8), schreibt Odoardo, der Freund Hollins. Eine Augenblicksstimmung vermag die Menschen dieses Romans heftigsten Gefühlen zu unterwerfen 8 ). Maria, die Geliebte Hollins läßt sich durch lügenhafte Einflüsterungen ihre Liebe nehmen, läßt sich aus „dem Himmel hoher Liebe und Treue . . . herabstürzen" (a. a. O. S. 90). Als sie schließlich erfährt, daß man sie belogen, liegt sie „in dem überraschenden Wechsel zwischen Elend und Seligkeit, s p r a c h l o s u n d b e w u ß t l o s i n O d o a r d o s A r m e n " (a.a.O. S. 95) (von Arnim gesperrt). Es fehlt ihr jede Aktivität, sie läßt alles über sich ergehen. Diese Menschen sind unfähig, ein Schicksal zu tragen. Das setzt immer die Fähigkeit voraus, aus eigener Entscheidung handeln zu können. Symbolisch d a f ü r ist der Schluß des Romans, wo es von Odoardo heißt: „Nachdem er alles was er liebte begraben, ging er in ein Kloster. Sein böses Schicksal ging nicht mit ihm ein, er verlor Gedächtnis und Erinnerung und wurde froh wie ein Kind" (a. a. O. S. 105). Ich gehe auf die Problematik der Nebenpersonen nicht mehr ein, da sie das Ergebnis der Analyse nicht verändern würde, sondern konzentriere mich auf „Hollin" als die Hauptgestalt des Romans. Das Zentralgeschehen des „Hollin": Hollin, ein junger Student, lernt die Schwester seines Freundes Lenardo kennen. Die Liebe zu ihr s*
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,Hollins Liebesleben"
erfüllt ihn bald ganz, gibt seinem Leben eine neue Wendung. Nach einer Trennung, während der er keinerlei Nachricht von seiner Geliebten erhalten konnte, beginnt er an ihrer Liebe zu zweifeln. Verschiedene unglückliche Zufälle bestärken ihn in diesem Zweifel. Die Welt bricht damit für ihn zusammen und alles drängt den Verzweifelten, ewig Widerstandslosen aus der Welt. E r reist zu seiner Geliebten, um sie nodi ein letztes mal zu sehen, nimmt als Mortimer an einer Liebhaberaufführung von Schillers „Maria Stuart" teil, in der seine Geliebte die Maria spielt. Unglückliche Zufälle verhindern wiederum, daß er vorher mit seiner Geliebten sprechen kann und so tötet der Verzweifelte während des Spiels, vom Sog seiner Rolle hingerissen, wie Mortimer sich selbst. In Form von Tagebuchnotizen und Briefen erhalten wir Kenntnis von dem Geschehen und von Hollins Empfindungen. „Trennt midi ein Raum nodi von dem Schönsten, ists nicht in mir, bin idi nicht ganz in ihm, gibts nodi der Zeiten Dauer, ists nicht ein Augenblick ists Ewigkeit? . . . Idi steig auf deinen Thron erhabene Harmonie, allseitig strahlt mir Lidit entgegen, gereinigt ist mir die Natur . . . Idi der ewge Quell, das ewge ö l der holden Flamme, in der idi nidit verbrenne nicht vergehe" (a. a. O. S. 54).
Nach der Liebesgewährung, die als mystische Vereinigung mit dem All empfunden wird 9 ), schreibt das Hollin in sein Tagebuch. Das E r leben, dem er hier Ausdruck verleiht, hat für ihn Absolutheitscharakter. Alles Vorher und Nachher versinkt vor dem Ansprüche jenes einen Augenblicks rauschhafter Steigerung. Aber es ist nicht ein E r leben, und diese Feststellung ist sehr wichtig, dem irgend eine dauernde Wirkung zukommt, welches, wie man erwarten sollte, eine bleibende Wandlung im Leben Hollins bedeutet. „Was ist mein ganzes Leben gegen diese Augenblicke, wie öde, unbeseelt und traurig" (a. a. O. S. 33),
klagt er. Nur so ist es zu verstehen, daß er seine Liebe so rasch kleinlichen Zweifeln opfern kann. Seine Erlebnisweise ist die der völligen Hingabe an den jeweiligen Augenblick. Es ist bezeichnend, wenn es von dem Sterbenden heißt, daß er „das hödiste Glück von Jahren (a. a. O. S. 105, vgl. S. 97).
auf Augenblicke
sich verkürzt
hatte"
Voraussetzung für eine solche Weise des Erlebens ist ein hoher Grad von seelischer Labilität. Hollin ist jedem Eindruck offen, ohnmächtig preisgegeben. Ich kann diese Aussage hier nur durch einige sehr auffällige Beispiele belegen. In Wirklichkeit finden sich die entsprechenden Züge bis in Einzelheiten und Nebensächlichkeiten der Gestaltung. Wenn Hollin
„Hollins Liebesleben"
etwa bei der ärztlichen Freundes sagt:
Untersuchung
des von ihm
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„Mein Atem fährt mit der Sonde auf und nieder, mein Leben hängt sich daran wie an einen losen Stein über dem Abgrunde" (a. a. O. S. 19),
oder wenn er beim Abschied von der Universität berichtet wie alles auf ihn einstürmte (a. a. O. S. 59), wenn er erzählt, wie er sich in bewußtlosem Vergnügen dem Reiten hingibt (a. a. O. S. 68), so ist das nur aus einer geistigen Haltung heraus zu verstehen wie ich sie eben bezeichnet habe. Hollin trägt deutlich die Züge jenes geistesgeschichtlich bedeutsam gewordenen Typs des Zerrissenen, dem, zwischen Extremen schwankend, ständig die Einheit der Persönlichkeit zu zerbrechen droht 10 ). „Ich hatte lange in dem frohen Gefühl geschwelgt, als der Gedanke der Einsamkeit mitten in dem allgemeinen geselligen Genüsse midi aufschreckte." ( a . a . O . S. 23).
Immer wieder berichtet Hollin von derartigen Stimmungsumbrüchen. Er spricht von dem Gefühl, das ihn oft ernsthaft mache mitten in der Begeisterung des Weins, „als würde idi immer weniger, so wie ich mehr Fremdes auffaßte, als nähme die Fülle meiner Kraft und Gefühle mit dem längeren Ausziehen des Lebens ab" (a. a. O. S. 13).
Als er von der Universität scheidet, um sich eine Stellung zu erringen, damit er sich mit der Geliebten verbinden kann, überfällt ihn plötzlich Trauer: „. . . alle Ideen meines anfangenden, freien Lebens erwachten in ihrer ersten Stärke, ich glaubte vom Leben durch das Lebewohl zu scheiden, wie eine eingekleidete Nonne hörte ich das Zuschlagen der Tür, die sie auf ewig von der Welt trennt" (a. a. O. S. 59).
Vergebens hofft er, daß das Erleben seiner Liebe hier eine Änderung bedeute: „Die leeren Wünsche, das Umherirren des Gefühls, die Lebensschwärmerei hört auf, so bald sie ihren Himmel erreicht hat, den meisten erst im Tode, glücklich, wer ihn im Leben fand" (a. a. O. S. 55).
Aber Hollin ist es wesenhaft nicht möglich, jenes „Umherirren des Gefühls" zu bändigen. Die Welt, wie sie seinem Leben erscheint, vermag keinerlei Halt zu bieten. „Zuweilen will das Leben wie ehemals mit mir spielen" (a. a. O. S. 63),
schreibt der Hollin, der in seiner Liebe Ruhe gefunden zu haben glaubte. Er spürt ein -dunkles Schicksal als weltbeherrschende Macht, spricht vom „unseligen Fluch des finstern Schicksals" (a. a. O. S. 83),
der auf ihm ruhe.
70
„Hollins Liebesleben" „Alles stürmt auf mich ein! — Ist dies das Leben, verwandelt sich nicht alles in meiner Hand in Tod!" (a. a. O. S. 16).
Auch in positiver Wendung wird die Schicksalsbindung ausgesprochen: „. . . es ist ein mächtiges Schicksal über uns, in der Natur geht kein Leben unter, alles ersteht in erhöhter Organisation" (a. a. O. S. 33). „. . . er schien ein Kind des Glücks, ein Liebling des Schicksals, auf den ihre eigensinnige Laune allen Frohsinn gehäuft hatte" (a. a. O. S. 88), heißt es von Hollin. Als dieser einmal auf Leben u n d T o d k r a n k ist, macht er zur Verlängerung seines Lebens ein Gelübde und zählt sein Schicksal an den Knöpfen ab (a. a. O. S. 80). Diese scheinbar belanglose Geste, von der er entschuldigend schreibt: „die Hitze des Fiebers mochte auch dazu beitragen", ist bezeichnend f ü r sein ganzes Verhältnis zum Schicksal, welches das der völligen Passivität ist. Fatalistischen Elementen, Vorausdeutungen, Ahnungen begegnen wir dauernd (a. a. O. S. 13, 42, 59, 70, 80, 87, 92, 97) 11 ). Aufschlußreich ist Hollins Verhältnis zum T o d . Widerstandslos läßt er sich in den T o d hineinreißen. „Nur im Tode ist Freiheit und jeder Tod ist für die Freiheit." (a. a. O. S. 69). „. . . ihr ahndet nicht die Wohllust der Tat wie der Strafe, wenn ich dann den dehnenden, alles zerreißenden Schmerz des vollen Herzens nicht kenne, meine der fröhliche Tod komme mit Ätherluft midi zu tränken . . ." (a. a. O. S. 73). Es ist ein magisch-dionysisches Sterben, wie wir es aus der Frühromantik (Novalis) kennen, welches Hollin hier sehnsuchtsvoll preist 12 ). „Sein Gefängnis sprang auf und auf einmal fühite sich der Geist, des Lebens schönen Tag begrüßend" (a. a. O. S. 98), diese Worte aus Schillers Maria Stuart zitiert Arnim f ü r Hollins Sterben. Der T o d ist f ü r ihn von Anfang an Versuchung und Lockung, der er schließlich erliegt. „Es war mir als wenn ich hier zuerst die Ahndung einer anderen Freiheit fühlte, noch ist mir alles dunkel, aber ich sehe den leuchtenden Punkt, wohin ich eilen muß" (a. a. O. S. 42), berichtet er von einem H ö h e p u n k t freudigen Erlebens. Der H ö h e p u n k t irdischen Erlebens reißt ihn zugleich über das Irdische hinaus. Ein Gespür f ü r den T o d ist Hollin stets gegenwärtig, bricht o f t mitten in Stimmungen der Freude und des Glücks auf (vgl. a. a. O. S. 13, 23, 59). Wie das Zentrum des Geschehens, die eigentlich wirkende Macht, nicht mehr im innermenschlichen Bereich liegt, wird deutlich in der Art wie sich in Brief und Bericht die Ereignisse spiegeln, die Hollin seinem „Verhängnis" entgegentreiben, „dem schnellen Glückswechsel", dem Sturz „vom Gipfel seiner Hoffnungen in einen traurigen T o d " (a. a. O. S. 88). Hollins Geliebte Maria hat ebenso rasch wie Hollin dem Zweifel an der Aufrichtigkeit ihres Geliebten R a u m gegeben, ehe ihre Zweifel
„Hollins Liebesleben"
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in irgendeiner Form Gewißheit werden konnten. Beim ersten Wiedersehen mit dem Geliebten dreht sie sich „unbewußt im Rachegefühle ihres Zornes von ihm weg und weint" (a. a. O. S. 93). Hollin „ergreifen Todesgeister", er fühlt „unschuldig die Qualen eines Verdammten" (a. a. O. S. 93). In diesem „fürchterlichen Augenblicke, wo alles sich zu seiner Vernichtung sammelte" (a. a. O. S. 94), gerät er in den Bann des Todes, aus dem er sich nicht mehr lösen kann. Ein einziges klärendes Wort hätte alles retten können, aber Hollin macht gar nicht mehr den Versuch einer Aussprache. Er eilt ziellos umher, wird mit „zerstörtem Blick" (a. a. O. S. 95) in mehreren Kirchen gesehen, aber mit Menschen spricht er bis zu seinem Tode nidit mehr. „ . . . ich will fliehen, weit, weit in die Fluten des Meeres" (a. a. O. S. 96), heißt es in den Gefühlsergüssen, die man in seiner Schreibtasche nach seinem Tode findet. Ohne daß ihn vorher noch jemand gesehen hat, erscheint er wie verabredet als Mortimer zur Maria-Stuart-Aufführung. „Mit überirdischer Heiligkeit" spricht er seine Rolle, gerät immer stärker in ihren Bann: „. . . er fühlte jetzt erst alles Treffende seiner Rolle auf sich . . . Nichr sich gehörte er mehr, er fühlte eine höhere Macht über sich, die ihn ergriff, ihn mit heiligem Schauer hinführte, gnädig geleitete zum letzten, letzten Lebensende" (a. a. O. S. 97 f.). I n seiner Schreibtasche findet m a n : „. . . die Engel und die Teufel alle schienen durch dich (Maria) losgelassen, mich zu umdrängen, midi zu fassen, die Liebe und die Rache ringen auf; die Allmacht reißt midi fort . . ." (a. a. O. S. 98). „Alles riß unwiderstehlich hin", heißt es v o n seinem Spiel, „. . . hier schienen sich Leben und Spiel zu verbinden, ineinanderzugreifen, unwiderstehlich einander fortzuziehen, kein Ausweg, keine Flucht ist möglich, Maria liebt Lester, Lester verrät ihn, beide rettet er nur durch seinen Tod" (a. a. O. S. 102).
Der Sterbende bittet, „ihn nicht zu betrauern, da es nidit in seiner Macht gewesen, unter ihnen zu weilen" (a. a. O. S. 105).
Die sich gerade bietende Gelegenheit13) spielt eine bedeutende Rolle im Leben Hollins. „Es ist wunderbar, welche Gewalt der sanfte Blick mancher Frau hat, alle Sinnlichkeit des Unschuldigsten selbst aus ihren Schlupfwinkeln herauszulocken, ihre Berührung, der Arm, die H a n d scheint zu brennen, man ist kaum mit ihnen bekannt, so fühlt man sich ihnen näher verwandt" ( a . a . O . S. 61).
Das ist Hollins Bericht von seiner ersten Bekanntschaft mit der Gräfin Irene. Ein anderes Beispiel: Eine Schauspieltruppe muß wegen eines heftigen Gewitters ihr Spiel abbrechen, Zuschauer und Spieler suchen Unterschlupf. Hollin sucht auf der leeren Bühne Schutz als eine sanfte
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„Hollins Liebesleben"
Stimme ihm zuruft: „Bist du es Liebster, komm unter den Schirm, du wirst mir sonst krank". „Der Schirm gefiel mir, ich rückte unter . . H o l l i n wird mit einem Kusse begrüßt. Eine Schauspielerin hat ihn verwediselt und Hollin verzichtet in der Dunkelheit darauf, ihren Irrtum aufzuklären. Aus dieser Zufallsbegegnung erwächst eine lange treue Bekanntschaft. Ich habe diese Episoden erwähnt, weil die Begegnung mit Maria, seiner Geliebten, die ihm zum Schicksal wird, unter ähnlidi zufälligen Umständen geschieht. Hollin will der Bekanntschaft mit dem Mädchen ausweichen und es bleibt ihm dazu nur die Möglichkeit, sich in einem Park rasch im Gebüsch zu verstecken. Er hört die Vorübergehende sprechen. „Bei dieser süßen Stimme mußte ich durchblicken, sie mit den Augen begleiten". Dieser erste flüchtige Eindruck; bannt ihn für immer. Abends läßt er sich „unwillkürlich" an dem Hause der Geliebten vorübertreiben und starrt nach ihrem Schatten am Fenster (a. a. O. S. 25). Er sehnt sich jetzt nach ihrer Bekanntschaft. Die Ohnmächtigkeit diesem Erleben gegenüber zeigt sich audi beim ersten Zusammentreffen mit der Geliebten. „Ich glaubte sie so, gerade so und alles umher in einem anderen Leben, oder im Traume sdion gesehen zu haben, alles schien mir aus jener Erinnerung heiliger, wirkte mächtiger auf mich, vergebens widerstrebte idi einen Augenblick, in stiller Andacht sank ich vor Marien nieder" (a. a. O. S. 44). „. . . alle Begrenzungen des Mißtrauens, die midi so oft in Jahren gegen andere verschließen, sanken vor ihrer Milde nieder, meine heimlichsten Gefühle und Wünsche öffneten sidi, alle alte Ansichten und tausend neue für mein künftiges Leben unterwarfen sich ihr, die wunderbaren Sprünge ihrer Phantasie führten ihr meine ganze Welt in kurzen Bildern vorbei" ( a . a . O . S. 37).
Der beobachtende Freund warnt: „Es ist das erste weibliche Wesen, das du genauer kennen lernst . . . wirst du nicht bald mehr Mädchen sehen, wird nicht jedem neueren Eindrucke der ältere weichen? . . . Laß dich nicht vom Augenblick hinreißen, Vergangenheit und Zukunft müssen sich nidit in der Gegenwart auflösen, die Gegenwart muß zwischen beiden geteilt sein" (a. a. O. S. 56, vgl. audi S. 83, S. 89).
Der Welt, wie sie Hollin erscheint, fehlt jede Gliederung, alle gegensätzlichen Elemente fließen ineinander, das entspricht genau seiner seelischen Haltung, welcher jede nüchterne Überschau fremd ist. „Mir wurde ganz froh und beklommen ums Herz, es schien mir alles ein Leichenzug mit einem Hochzeitscarmen und lustigem Gesang" (a. a. O. S. 23),
berichtet er einmal. Hollin magnetisiert die Geliebte und schreibt dem Freunde seine Empfindungen:
,Hollins Liebesleben"
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„Du kennst den eigentümlich schauerlichen Eindruck des Zwielichts, in dem alle bestimmte Gestaltung schwindet, die gedämpften Töne beim Aufziehen einer schwingenden Saite, den Obergang eines Lichtpunktes zu einem Lichtkreise im schnellen Umschwünge eines Feuerbrandes, das sanfte fortwachsende Zusammenziehen, wenn zwei Magnete mit beiden Händen einander genähert werden, das innige durchdringen eines elektrischen Funkens von einem Arm zum anderen, das alles denke Dir zu einer Erscheinung, in einem gemeinschaftlichen Punkte verbunden, und Du hast wenigstens etwas zur Annäherung, einen Gypsabdruck der lebenden Empfindung, die mit heiliger Wollust von außen nach innen und mit erneuerter Kraft von innen nach außen bis zu den stumpfesten Wurzelfasern alles Lebens, Kindheit, Jugend, Alter, in den Genuß weniger Minuten zusammendrängt" (a. a. O. S. 40 vgl. S. 41). „Alles in Eins u n d Eins in Allem", dies von A r n i m zitierte Spinozzaw o r t (a. a. O . S. 53) steht über der W e l t Hollins. I h n ergreift der Gedanke der Geistesverwirrung, „ . . . das Schreckliche der vernünftigen Zwischenzeit, das Wunderbare des Übergangs von diesem Bewußtsein zum Wahnsinn" (a. a. O. S. 71), T o d und Liebe verbinden sich, die Geliebte und die Himmelskönigin Maria und am Schluß des Romans die Geliebte und Maria
Stuart
werden eins (a. a. O. S. 67, 70, 81, 104), Phantasie, Traum und Wirklichkeit gehen ineinander über. D i e Einheit aller Erscheinungen wird so stark empfunden, daß die dingliche Wirklichkeit dieser Welt fraglich wird, ihr Eigenrecht verliert. „Ich vermag es nicht auszuspredien, alle Herrlichkeit, alle Seligkeit: sei Dir mein Wort das Schönste, Heiligste Deiner Gefühle und dieses nur Symbol des Höchsten, was Du ahndest, und so in unendlicher Reihe fort alles nur Symbol, Andeutung des Höheren" (a. a. O. S. 53, Hollin über seine Liebe). Hollin erlebt eine Welt, in der sich alles sogleich in seinen Gegensatz verwandeln kann. Willkürlich sucht er die Gegensätze auf, um in der Scheineinheit ihres Zugleitherlebens H a l t zu finden. „Du umgehst die Abschiede, ich suche sie auf — man muß zum Leben den Tod kennen, zur Freundschaft Feind sein können" (a. a. O. S. 74), schreibt er an Odoardo. Er versucht willkürlich sich eine Stimmung zu erzeugen und nennt in diesem Sinne einmal, Reiten sein „stärkstes Reizmittel zur Freude" (a. a. O. S. 68). Eine Welt aber, in der in dieser Weise alle Einzelheiten ineinanderfließen, hebt sich letztlich selbst auf, denn Welt bedeutet ja das sinnvolle Aufeinanderbezogensein der verschiedensten, selbständig bestehenden Gegebenheiten. Es bleiben Zustände, Dinge, Mächtigkeiten und ein Erlebender, der diese nicht mehr, oder nicht mehr sinnvoll, lediglich nach ihrer zufälligen zeitlichen Folge oder der Stärke, mit der sie sich einprägen, aufeinander bezieht.
„Gräfin Dolores"
74
„GRÄFIN DOLORES" Es liegt nah, Arnims Roman im Vergleich mit den „ Wahl Verwandtschaften" zu sehen, welche 1809, etwa ein Jahr vor der erschienen ). 14
„Dolores",
Ein Vergleich kann aber sein Recht nur daher nehmen,
daß in beiden Fällen die gleiche Thematik bestimmend ist: Es geht um den gleichen ethischen und religiösen Wert, die Ehe, und dessen Verletzung. Damit hört allerdings die Parallele schon auf. Das Geschehen beider Dichtungen spielt sich auf völlig verschiedenen Ebenen ab. Aus heuristischen Gründen sei es erlaubt, einen Vergleich trotzdem anzudeuten. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dabei keineswegs der Anspruch erhoben wird, die „Wahlverwandtschaften", auch nur teilweise, in ihrem Gehalt zu erfassen.
Das bedürfte einer viel
breiteren Basis, als sie hier gegeben werden kann 1 5 ).
Es werden nur
diejenigen Züge hervorgehoben, die mit dazu dienen können, Klarheit über Arnims Roman zu erhalten. Anregend für unsere Fragestellung wurde die in der älteren Forschung oft getroffene Gegenüberstellung der „Wahlverwandtschaften" und der „Gräfin Dolores" als Leidenschaftsroman und Eheroman, als „individuelles Künstlerbekenntnis" und „Tendenzschrift im edelsten Sinn" 1 6 ). „.. .
geistige
Arnim,
den
Verschiedenheiten Berliner
traten
Romantiker.
störend
Die
zwischen
Tendenz
der
Goethe
und
Wahlverwandt-
schaften (gemeint ist damit wiederum die Betonung der Leidenschaftlichkeit und deren tragische Ausweglosigkeit)
und der christlich
erlösende
Ausgang der Gräfin Dolores ließen sich nicht vereinigen", schreibt R e i n h o l d Steig in diesem S i n n e 1 7 ) .
Wir
setzen zunächst
ent-
sprechend a n , i n d e m w i r jedoch nach d e m W i e d e r jeweiligen G e s t a l t u n g f r a g e n , w i r d sich die V o r d e r g r ü n d i g k e i t dieses A n s a t z e s erweisen. „Alle gewinnen bald einen festen Lebenskreis und Bestimmung"
(Werke
V I I I S. 159),
berichtet Arnim von den Menschen seines Romans, nachdem diese die Krise ihrer Schuld überwunden haben. Dolores büßt den Frevel ihres Ehebruchs indem sie sich ganz ihrer Bestimmung hingibt: Mutter zu sein. „Was kindisch in ihr und töricht gewesen, das wurde in den Kindern ausgeboren . ; . Es war eine schöne Buße, diese Mutterliebe" (Werke V I I I S. 161)18).
Denn „jede Schuld ist eine verfehlte Bestimmung" (Werke V I I I S. 223). G r a f Karl, der Gatte der Dolores, findet „ein schönes Feld, seinen wohltätigen Geist über Tausende auszubreiten, der sich bis dahin in der Anordnung weniger Menschen begnügen mußte; E r findet ein dankbares Volk, unter dem ein verständiges Wohlwollen von oben her noch so selten gewirkt, daß beinahe alles zu tun übrig w a r " (Werke V I I I S. 159).
„Gräfin Dolores"
75
Im Gegensatz dazu finden Eduard und Ottilie in den „'Wahlverwandtschaften·' den Weg aus der Leidenschaft nicht mehr zurück. Charlotte und der Hauptmann können sich zwar selbst dem Strom entreißen, nicht aber die zerstörte Ordnung wieder herstellen. „Ich bin aus meiner Bahn geschritten und soll nicht wieder hinein. Ein feindseliger Dämon, der Macht über midi gewonnen hat, sdieint midi von außen zu hindern, hätte ich audi mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden" (S. 394)«),
schreibt Ottilie von sich. „Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden" (S. 396),
heißt es von Eduard und Ottilie. Als Ottilie stirbt, wird es Eduard „gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe" (S. 408). Als sei ihm mit ihrem Tod die Kraft zum Leben entflohen, folgt er seiner Geliebten bald nach. Die Ekstasis der Leidenschaft hat beide über die Grenzen des Irdischen hinausgerissen. Diesem Schluß gegenüber erscheint Arnim als der Besonnenere. Seine Menschen erkennen das als eine heilige Pflicht, was die gottgewollte Ordnung der Welt, die sie in ihrem Frevel gegen die Bindung der Ehe verletzt haben, von ihnen fordert. Fragen wir nun, was in Goethes und Arnims Roman jeweils als Leidenschaft erscheint. Bei Goethe bedeutet Leidenschaft Ergriffensein vom Dämonischen 20 ). „Das Dämonisdie pflegt jede Leidenschaft zu begleiten und findet in der Liebe sein eigentliches Element" 21 ).
Jaspers definiert den Begriff des Dämonischen wie folgt: „Das Dämonische Goethes ist alles, was der Ordnung, dem Logos, der Harmonie widerspricht und doch nicht bloß negativ, sondern von diesem Selbst ein Bestandteil ist. Das Unbegreifliche, welches uns doch im Wichtigsten beherrscht, ist das Dämonische, das jeder lebendig Erfahrende, der nicht an der Oberfläche oder am festen Weltbild haftet, als Grauen erleben muß" 2 2 ).
Wesentlich ist, daß das Dämonische primär etwas Positives, Schöpferisches ist. „Es ist eine Kraft, die zu den bewegenden Faktoren allen Daseins gehört" 2 ').
So ist in den „Wahlverwandtschaften" die Leidenschaft zunächst Steigerung, sie aktualisiert, was in den Menschen an Möglichkeiten der Vollkommenheit und des Adels verschlossen ist. Darüber gibt Goethes Text deutliche Auskunft, dort heißt es: „Bei unseren Freunden (Charlotte und der Hauptmann sind eingeschlossen) waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem anderen sein Glück" (S. 80).
76
„Gräfin Dolores"
„ . . . Das Gefühl, für den Freund etwas getan zu haben, hatte ihr Wesen über sich selbst gehoben" (S. 135), heißt es von Ottilie und weiter: „ . . . sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden" (S. 182 vgl. S. 149). „Es muß der Mensch audi wiederum gegen das Dämonische Redit zu behalten suchen"24), „er muß immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerät" 25 ), so lautet die Mahnung Goethes und die folgenden Worte Charlottens an Ottilie müssen in diesem Sinne verstanden werden: „ . . . prüfe dich, ja, verändere lieber deinen gegenwärtigen Entsdiluß, aber aus dir selbst, aus freiem, wollendem Herzen! Laß dich nicht zufällig, nicht durch Überraschung in die vorigen Verhältnisse wieder hineinziehen" (S. 379). Über Charlotte heißt es: „ . . . ob sie gleichwohl wußte, daß man mit Worten nidit viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag, so kannte sie dodi die Macht der Besonnenheit, des Bewußtseins" (S. 175). Erst dann, wenn der Widerstand gegen die Übermächtigung fehlt, wird das Dämonische zur zerstörenden Gewalt. Letzteres gilt f ü r Eduard: „Eduards Neigung war aber grenzenlos. Wie er Ottilien sich zuzueignen begehrte, so kannte er audi kein Maß des Hingebens, Sdienkens, Versprechens" (S. 152 vgl. S. 133). Eduard bleibt von daher die problematischste Gestalt der „Wahlverwandtschaften" (vgl. S. 14). Als er zum ersten Mal mit Gewißheit erfährt, daß ihn Ottilie liebt, heißt es von ihm: „Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen" (S. 136). Widerstandslos läßt sich Eduard von dem Zauber dieser Liebe ergreifen. Wenn Eduard, der nie den Versuch macht, sich Besonnenheit und Freiheit der Entscheidung zu wahren; mit einem gewissen Recht vom Standpunkt des Ethischen her verurteilt werden kann, ist dies bei Ottilie schon nicht mehr möglich. Sie scheint Gefäß zu werden, in dem sich etwas Höheres, etwas vom Anspruch des Wesens offenbart. Von ihr heißt es: „Wenn gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesät worden, das die Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muß und weder das Gute nodi das Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann" (S. 217). „Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden" (S. 310), schreibt sie in ihr Tagebuch.
.Gräfin Dolores"
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Auch der verhängnisvolle T o d des Kindes, dessen Ursache sie wird, ist Offenbarung eines Geschehens, das menschliche Grenzen überschreitet (vgl. S. 361). Das Geschehen weitet sich über den menschlichen Bereich zum kosmischen, vom Ethischen zum Ontischen, dennoch, und das ist entscheidend für die Deutung des ganzen Romans, gibt es keinen Augenblick, in dem sich Ottilie willenlos dem hingibt, was sie überkommt. Sie wahrt die Würde der Person und ist zuletzt die Entsagende. Wenden wir uns nun wieder Arnims Roman zu, so tritt uns dort als Leidenschaft etwas völlig anderes entgegen, es ist das Ergriffensein von einer beliebigen Gelegenheit 28 ). „Eine schöne, fromme Seele ist wie das Tüchlein der heiligen Veronika, auf welchem das Bild des Geliebten ohne Malerkunst in ewiger Treue abgedrückt bleibt, alles ist ihr reine Erinnerung von ihm, unverhäßlicht, denn das leidet sie nicht, unverschönert, denn das bedarf er nicht; dagegen erscheint eine leichte Weltseele als ein Spiegel, der freilich alles Nahe, das Schöne und Häßliche mit einer Lebendigkeit faßt, daß es ganz davon aufgenommen scheint, aber nur das Sichtbare berührt sie, jenseit des schmalen Gebirges liegt ihr schon eine Ferne, die sie nicht verbinden kann, und über alles Vergangene fährt auslöschend eine Sündflut her" (Werke VII S. 75). Als eine solche „Weltseele" wird uns Dolores geschildert, ganz dem Augenblick hingegeben, grenzenlos offen für alles Neue, Interesse Erregende. In dieser Art kommt sie audi ihrem späteren Gatten, dem Grafen Karl entgegen. „Dolores glaubte, daß sie den Grafen liebe, alle ihre Hoffnungen waren ja auf ihn gesetzt" (Werke VII S. 58). „Diese verschiedenartigen neuen Eindrücke, welche die Gesellschaft auf die Gräfin Dolores machte, verdrängten den Grafen immer mehr aus ihren herrschenden Gedanken; ihre Briefe zeigten davon keine Spur, die Feder führte sie unbewußt immer wieder in die alte Gegend zurück . . . ihr Gefühl schlug überhaupt hell und laut nach der Art, wie es berührt wurde, aber der Nachklang dieser Klocke ging in den nächsten Schlag des Hammers über und vermischte sich damit; die Zärtlichkeit, die der Graf in ihr erweckt hatte, überraschte sie jetzt in der Nähe jedes liebenswürdigen Mannes" (Werke VII S. 74). „Dolores liebte wirklich manches in dem Grafen, aber sie konnte keinen Menschen im ganzen lieben, mit allen Eigentümlichkeiten . . . So schien sie zuweilen leidenschaftlich zu spielen, eigentlich nur um eine leere Stunde zu töten" (Werke VII S. 99). M i t einigen „arkadischen" T r ä u m e n beginnt sie nach der Hochzeit das Leben auf dem Gute ihres Mannes, „das Schloß und die Gärten, alles gefiel der Gräfin ungemein, weil es noch neu war" (Werke VII S. 102). A n allem n i m m t sie „einen spielenden, aber d a r u m unerquicklichen Anteil" (Werke V I I S. 102).
78
„Gräfin Dolores"
Mit diesem Wenigen ist die Dolores, die uns Arnim vor Augen führt, charakterisiert. Eines Tages taucht nun der Markese D. auf. Als eine neue Möglichkeit der Abwechslung gewinnt er ihr Interesse. „Die Gräfin verlor den Grafen, in der immer veränderten Gesellschaft des Markese, bald aus den Gedanken" (Werke VIII S. 23).
Mechanisch setzt sie sich morgens zum Schreibtisch, um ihrem abwesenden Gatten zu berichten. „Inzwischen nahm die Gräfin ihre Gedanken, oder vielmehr sie fand sie und mehr als sie sonst hatte, zusammen, sobald der Markese zu ihr eintrat" (Werke VIII S. 23).
In dieser letzten Aussage spüren wir die Situation der Gräfin: Sie verzichtet darauf, ihre Gedanken selbst zu leiten und weiter ihr ganzes Verhalten, für das ihre Gedanken nur Ausdruck sind, selbst zu bestimmen. Sie läßt sich in ein Erleben hineintreiben, das ihr zunächst Steigerung verspricht. So spiegelt ihr der Markese die Möglichkeit vor, einen ausgezeichneten politischen Einfluß zu gewinnen. Er erinnert sie an die Frauen aus der französischen Geschichte, welche ihre Zeit geleitet (Werke V I I I S. 27). Den skrupellosen Verführungskünsten des Markese gelingt es bald, ihr Gemüt ganz in seine Gewalt zu bekommen. „. . . N i e hatte ein Mann ihr ganzes Gemüt so in seiner Gewalt gehabt,, weil sie nie eigentlich geliebt hatte; sie fühlte etwas Neues zwischen sich und dem Markese entstehen, das sie nach allen Beschreibungen der Bücher für wahre Liebe halten mußte; sie fühlte in ihm ein Hinaussetzen über alle Verhältnisse, von dem ihr graute und das sie reizte" (Werke VIII S. 33). „Nun umspann er sie leise mit mancherlei geheimnisvollen Wissenschaften, höherer Philosophie, Astrologie und Geisterbeschwörung; er kannte von allem nur das, was auf das Gemüt wirkt und das Urteil beschränkt und so führte er sie bald in eine neue Welt, unter der ihre gewohnte tief unten in niedriger Entfernung lag" (Werke VIII S. 34).
Als der Markese abgereist ist, veranstaltet die Gräfin einen Ball und überläßt sich, um sich noch einmal in einen Rausch zu steigern, „dem Tanze so ganz, daß wenn sie einen Tänzer gefunden, der sich mit ihr totzutanzen geneigt gewesen, sie wahrscheinlich nicht den nächsten Morgen erlebt hätte, w o sie nun wie zerschlagen, matt und erschöpft, die Ärzte kommen ließ" (Werke VIII S. 105).
Der Markese trägt bis in die Einzelheiten seiner Charakteristik durch Arnim die Züge jener Verführergestalt, die Kierkegaard in seinem „Tagebuch eines Verführers" zeichnet. Eine Tagebuchnotiz Kierkegaards bestätigt uns dies. Er schreibt sich dort eine Stelle aus der „Dolores" ab, in der Arnim den Markese schildert. (Es ist dies: Werke VIII S. 25 von „Von einem Don Juan . . b i s „ . . . vom Teufel losgeschwatzt".) Kierkegaard notiert dazu:
»Gräfin Dolores"
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„Ich habe dies aufgeschrieben, weil es mit meiner Anschauung vom Don Juan übereinstimmt, der nicht so sehr Talent war als Genie, nicht so sehr Charakter als Idee" 2 7 ).
Vom Markese gilt, was Kierkegaard über seinen Verführer sagt: „Er gehörte eigentlich nicht in die Wirklichkeit . . . er drang gleichsam fortwährend in sie hinein, und doch, wenn er sich ihr am meisten hingab, stand er außerhalb von i h r " 2 8 ) . „Nicht das Gute trieb ihn immer weiter, aber audi eigentlich nicht das Böse . . . er litt an einer Exacerbatio Cerebri, wofür die Wirklichkeit nicht genügend oder doch höchstens augenblicksweise Anreiz b o t " 2 9 ) . Arnim: „Bei dieser steten Bewegung seiner neugierigen Bestrebungen wurde er sich selbst ganz leicht; die quälende Tätigkeit seines Daseins fand ihr Ziel" (Werke V I I I S. 24).
Ein solcher Mensch vermag nicht mehr eine echte Beziehung zu einem anderen Menschen zu haben, vermag diesen nicht mehr in seiner Ganzheit zu erfassen, geschweige denn zu lieben. Alle Wirklichkeit löst sich ihm auf in lauter glitzernde Momentbilder. Liebe kann ihm nicht mehr als ein vorübergehender Reiz sein. Wie sehr für den Markese Arnims alles Reiz bedeutet, also letztlich nicht mehr volle Wirklichkeit, das verdeutlicht auch folgendes: „ . . . er schwindelte in die Frömmigkeit hinein, die seiner Frau eigen, es war ihm ein neuer Reiz, den er aber immer neu steigern mußte; die Religion ward ihm eine neue A r t Opium, seine Natur forderte immer mehr, bis sie nichts mehr fordern konnte" (Werke V I I I S. 137). „Und nun mir diese Liebe glücklich zuteil wurde, will idi sehen, wie lange sie sich erhalten läßt. Idi liebkose diese Liebe . . . Die Gelegenheit dazu ist selten genug: darum muß man sie nach Möglichkeit benutzen"'s®),
schreibt der „Verführer" Kierkegaards. Dem, was bei Goethe schicksalhafte, unauswechselbare Begegnung war, so können wir zusammenfassen, die bis in den Bereich der Dinge ausstrahlte, einem Geschehen von letztlich transzendentem Gehalt, entspricht in Arnims Roman durch die Zufälligkeit, die ihm anhaftet, und durch die Bindung an momentanes, rauschhaftes Erleben eine primitive ethische Verfehlung. Während in Goethes Roman — dies herauszuarbeiten war die Absicht der Darstellung seiner Gegebenheiten — der dem Menschen gegebene Raum bis zu seinen Grenzen ausgeschritten wird, das Geschehen als repräsentativ für die Situation des Menschen in der Welt gelten kann, ist das Geschehen in Arnims Roman ein Punkt in diesem Raum, eine zufällige unter vielen anderen Möglichkeiten. Hier, wo Arnim ausdrücklich ein Beispiel gestalten will, gelingt es ihm nicht, eine Weltschau, die sich, wie oben dargestellt, formal als Zufalls technik und im Entwerfen fast impressionistischer Momentbilder äußerte, zu überwinden. Es handelt sich in Arnims Roman um ein Geschehen, das rein im peripher Sinnlichen bleibt, in das sich beide
80
„Gräfin Dolores"
Partner, nur mit unterschiedlichem Grad des Bewußtseins, hineintreiben lassen. (Man denke nur daran, daß der Markese mit all dem auf Dolores zu wirken sucht, „was auf das Gemüt wirkt und das Urteil beschränkt".) Im letzteren liegt wiederum ein wichtiger Unterschied zu Goethes Roman, denn dort versuchen die Menschen unter Aufrufung all ihrer Kräfte eine wache und bewußte Auseinandersetzung mit seinem Geschehen, das wesenhaft ihre Kräfte übersteigt. In Dolores treten uns die gleichen Eigenschaften entgegen, die audi Hollin und die Menschen dieses Romans charakterisierten, welche ich oben hervorgehoben habe: Passivität, seelische Labilität, Momentbindung, Hingabe an Zufälle und ein Offensein allen „occasiones" gegenüber. Während in Hollins Welt alle Einzelheiten ineinander flössen, die festen Konturen sich lösten, deutet sich in der Welt, wie sie Dolores und die Zentralfiguren dieses Romans erleben, in der nämlichen geistigen Haltung begründet, der Zerfall der einheitlichen Welt in isolierte Einzelheiten an (vgl.: „sie konnte keinen Menschen im ganzen lieben"). Sehr deutlich prägt sich dieses Weltverhältnis beim Markese aus, für den wir Kierkegaard zitieren konnten. Hier sind jene Eigenschaften, die wir am Holliii und der Dolores wahrnehmen konnten, willentlich geworden, von einer satanischen Bewußtheit zur Methode und zum absichtlichen Stil des Lebens gesteigert. Er bildet insofern eine Ausnahme unter allen von Arnim geschaffenen Gestalten. Die Tendenz zur Dezentralisierung, die wir im ersten Abschnitt für Arnims dichterische Welt feststellen konnten, tritt uns hier wiederum entgegen, findet sidi in der inneren und formalen Struktur des Romans. Besonders eindrucksvoll ist der Zerfall des Lebenszusammenhangs der Menschen, deren Schicksal Arnim gestaltet. Wenn Ottilie Eduard entsagt, wenn sie die Schuld empfindet, in die sie geraten, so bleibt ihr dennoch ihre Liebe heilig. Ihre Umkehr enthält ein J a und ein Nein, es ist eine schöpferische Schuld, indem sie in ihr zugleich Sinn und Wesen des irdischen Daseins erfährt. Dolores ist im Gegensatz dazu gar nicht fähig, eine Schuld auf sich zu nehmen. Ihr späteres Leben ist etwas völlig Neues, stellt eine radikale Abkehr von allem vorher Gesdiehenen dar. Entsprechendes gilt von ihrem Gatten, der durch den Versuch eines Selbstmordes gefrevelt hat. Die beiden Gatten treffen sich als Pilger in einem Wallfahrtsort. Es heißt da: „ I h r e Schuld w a r ihm bei diesem schmerzlichen Z w e i f e l (er findet seine F r a u leblos in der Wallfahrtskirche, ungewiß, ob ohnmächtig oder tot) so g a n z verschwunden, verschwunden die traurige Z e i t ; so still l a g sie in seinen A r m e n wie in seinem ersten G l ü c k " (Werke V I I I S. 150). „ N a c h einem M o n a t e glaubten sie schon durch J a h r e v o n den verhaßten Begebenheiten geschieden zu sein" ( W e r k e V I I I S. 157).
„Gräfin Dolores"
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Von der sterbenden Dolores heißt es: „ . . . ihre Fehler waren ihr ein fremdes abgelegtes Kleid" (Werke V I I I S. 449).
Wilhelm Grimm schreibt an Brentano: „Nach der Verführung der Dolores kommt der Ort, wo es hapert . . . ihre Rückkehr zu einem besseren Leben, ihre Heiligung ist nidit geraten" (Steig I I I S. 90).
Das gleiche äußert er in seiner Rezension in den „Heidelberger Jahrbüchern" 31 ). So wie das Leben der Dolores in zwei beziehungslose Hälften zerfällt, steht Dolores in ihrer schweifenden Subjektivität der Welt der Ordnung, etwa in Graf Karl oder ihrer Sdiwester Klelia verkörpert, fremd gegenüber. Klelia und Dolores werden von Arnim bewußt wie Bild und Gegenbild behandelt (vgl. Werke V I I S. 12, 14, 19). In entsprechender Weise wird Graf Karl gegenüber der Dolores kontrastiert. Das wird an zahlreichen Stellen des Textes deutlich32). Klelia trägt, so wie sie uns geschildert wird, nicht mehr die Züge eines lebendigen Menschen, sie wirkt fast wie eine allegorische Figur des Guten im Menschen. Als sie als Herzogin ihres Sizilianischen Landes einmal schlichtend in einem Gefecht mit Räuberbanden auftritt, ein Kruzifix in der Hand haltend, verschwimmt ihr Bild in eines mit dem der Mutter Gottes (Werke V I I I S. 163, vgl. auch S. 14). Pedantisch und übertrieben fromm wirken ihre Tagebucheintragungen: „Mein kleiner Neffe Johannes hat den ersten Backenzahn bekommen; möge er seine Zähne nie mißbrauchen, daß ihm Gott seine Zähne erhalte, wie er sie ihm gnädiglich verliehen" (Werke V I I I S. 167).
In diesem Stile spricht sie dauernd vom gnädigen Gott, von gnädiglicher Lenkung, ihre „Menschenweisheit" hat kein Gewicht. Diese übersteigerte ängstliche Frömmigkeit wirkt künstlich, pharisäerhaft und abstoßend. Sie ist unglaubhaft wie die schon von Wilhelm Grimm bezweifelte radikale Wandlung der Dolores. Jacob Grimm schreibt an Arnim: „Es verläßt meinen Glauben an das Gute und Herrliche der Welt, daß ein so edler Student, wie Karl, sich sein Liebstes und Heiligstes zerreißen läßt von einem leichten Mädchen, daß er seine K r a f t unter ihre Gewalt gefangen gibt und mit ihr und durch ihre Laune sidi seine Freude an Land und Stadt nehmen läßt, und in Sünde gegen sidi selbst lebt" (Steig I I I S. 78).
Dieses Urteil Jacob Grimms wird verständlich, wenn man sieht, wie kraß Graf Karl der „Weltseele" Dolores gegenübergestellt wird: „Welch schöne Ewigkeit lebt in einer treuen Seele . . . der Genuß hatte ihm nichts geraubt, er hate nur dadurch Erinnerungen gewonnen; kein Augenblick war ihm leer" (Werke V I I I S. 18). 6 Rudolph, Achim von Arnim
82
„Gräfin Dolores"
Nach seiner zuvor gegebenen Charakteristik wirkt der Selbstmordversuch Karls unwahrscheinlich, als eine konstruierte Möglichkeit, das Leben der Buße, das er mit Dolores führen wird, zu motivieren. „Wir wissen alles und können als Vertraute seinen Entschluß in Wahrheit berichten; den meisten schien Zufall, was Absicht in ihm gewesen" (Werke V I I I S. 118).
So muß der Dichter seine Motivierung verteidigen. „So wie es Kinder gibt, welche des Nachts nicht schlafen können, wenn ihnen die Mutter nicht die H a n d in ihrer hält . . . so vermisse ich auch eine solche H a n d in deinem Buch, die Geschichte ist mir unwahr" (Steig III S. 78),
schreibt Jacob Grimm in dem schon zitierten Briefe vom 27. Oktober 1810. Es fehlt in Arnims Roman die Verschränkung, das Dialogische, das für alles Leben Bedingung ist. Martin Buber spricht in seinem Aufsatz „Zwiesprache" 33 ) vom echten Dialog, „wo jeder Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, daß lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte" 3 4 ).
Dieses Moment echter Gegenseitigkeit, das sich keineswegs nur auf den Dialog beschränkt, sondern eine Grundbedingung menschlichen Lebens ist, fehlt in den „Wahlverwandtschaften" nie. „ . . . je mehr sie ihr eigen H e r z gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das H e r z des Mädchens (Ottiliens)" (S. 144),
heißt es dort von Charlotte. Selbst etwas, das so sehr nach innen gerichtet ist, wie die Erkenntnis des eigenen Herzens, vermag hier noch mit der Welt und mit dem anderen Menschen zu verbinden. Anders in Arnims Roman, jeder seiner Menschen bleibt monologisch auf sich beschränkt, innerhalb seines Schicksalsverlaufs aber an den Augenblick gebannt, in die jeweilige Situation begrenzt. Wir müssen dem Urteil Jacob Grimms beipflichten, daß die Gestaltung der Umkehr in der „Gräfin Dolores" nicht gelungen ist und darüberhinausgehend sagen, daß das, was Arnim aussagen will, eine reflektierte Möglichkeit geblieben ist, nicht in die dichterische Gestalt eingegangen ist; gestalten heißt hier einen lebensechten und glaubhaften Zusammenhang schaffen. Noch eine weitere Beobachtung soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, nämlich die, daß Graf Karl, der ausdrücklich der Dolores entgegengestellt wird, bei Nahem besehen nicht geringer als diese den Gegebenheiten und Stimmungen des Augenblicks unterworfen ist. Kennzeichnend für ihn sind extreme Stimmungsschwankungen. So fällt ihm nach dem ersten Streit mit seiner Verlobten sogleich der Krieg als Zerstreuung ein, wie so „manchem Unglücklichen" (Werke V I I S. 96): Aber ebenso schnell vergißt er wieder seinen Kummer.
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„Der Schmerz rollte dem Grafen wie ein Mühlstein vom Herzen, Tränen der Freude fielen neben Tränen der Verzweiflung auf seine H a n d , und sein eigenes Auge, das sie geweint, konnte sie nidit unterscheiden; ihm war alles vergessen." (Werke V I I S. 97, vgl. auch Werke V I I I S. 20.)
Ein Argwohn gegen die Treue seiner Frau, den ihm später der Markese in die Seele gibt, ein Traum und ein Volkslied, das er zufällig hört, bringen ihn zum Entschluß, „an seiner Liebe verzweifelnd" weit in die Welt zu ziehen (Werke V I I I S. 57), bis er sich schließlich gesteht, daß er doch nur Verdacht, keine Gewißheit habe und sich „nicht ohne Widerwillen" rückwärts wendet (Werke V I I I S. 64). Als sein Verdacht später zur Gewißheit wird, verliert er vollends jede Besinnung: „. . .er fühlte sich in einem Gewebe von Ahndungen, die alle wahr geworden, daß ihm sein Leben und die Welt zu einem Chaos verschwamm; Geister gingen bei ihm aus und ein, sein Hirn war wie der Blocksberg in der Mainacht" (Werke V I I I S. 116).
Bei seiner ersten Flucht ohne Abschied von seiner Gattin war es „ihm als ob eine fremde Gewalt sie voneinander risse, und wie an einer Wetterscheide sein Schiff nach Osten und das ihre nach Westen getrieben würde" (Werke V I I I S. 57).
Der Graf ist im Grunde unfähig, sein Schicksal selbst zu bestimmen, weil er innerlich zu sehr an den Augenblick gebunden ist. „Unbemerkt", hofft er einmal, müsse sich „alles Widersprechende, Ungleiche in ihm ordnen" (Werke V I I S. 50). Bezeichnend ist die Art, wie er sich seiner Liebe zu Dolores bewußt wird. Es ist der, von Dolores allerdings berechnete, Zufall der ersten Begegnung, der ihn an sie bindet, denn es „kommt viel darauf an, jedes zur rechten Zeit zu sehen, zu tun, wäre ihm Klelia begegnet, wahrscheinlich hätte er sich ihr ebenso bestimmt ergeben, wie er sich jetzt der prächtigen Schwester zu eigen fühlte" (Werke V I I S. 49).
Für die Bindung dieser Menschen an die momentane Stimmung ist eine der zahlreichen sentenzartigen Bemerkungen des Erzählers interessant, sie erscheint dadurch tief in der Art seines Welterlebens verwurzelt. Graf Karl, der sich über den Spott ärgert, der einem von ihm verfaßten Hochzeitscarmen widerfahren ist, ergreift die Spötter, zwei Geistliche, um sie vor die T ü r zu setzen. Später macht er im Gefühl der Reue seiner Gattin Vorwürfe, daß sie ö l ins Feuer gegossen, seinen Zorn geschürt habe. Der Erzähler kommentiert: „Ist es nicht ebenso im großen Leben der N a t u r , in der Witterung; wie könnte unser kleines Leben sidi davon losopfern und freibeten . . (Werke V I I S. 263).
Die Stimmungsumbrüche werden in den großen Zusammenhang der Naturgesetze gestellt, statt daß die Forderung erhoben wird, sie durch geistige Beherrschung zu überwinden. 6*
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„Gräfin Dolores"
Es ist nicht möglich, die Lösung des Doloresromans als positiv der der „Wahlverwandtschaften" gegenüberzustellen, oder darin eine echte Oberwindung derjenigen Position zu sehen, welche mit dem „Hollin" bezeichnet ist. Man kann auch nicht von den Menschen dieses Romans als von den Irrenden und schließlich „Gefestigten" sprechen35), denn es fehlt bei ihnen jede aktive ethische Leistung, die persönliche Entscheidung. Die Norm des sittlichen Verhaltens, welche Arnim so stark betont, bleibt im Grunde eine äußerliche Forderung. Die Menschen, die sie lebendig und glaubhaft verwirklichen, fehlen. Es kehrt hier auf anderer Ebene wieder, was ich oben das Fehlen des Menschen als eines „selbständigen Kräftezentrums" in Arnims dichterischer "Welt genannt habe. Die Menschen sind entweder unlebendige starre Schemen (Klelia) oder werden von Stimmungen, Reizen, Wünschen hingerissen, so daß ständig die Geschlossenheit ihres Seins gefährdet ist. Die Einheit ihres Lebens zerbricht dem Gestalter Arnim unter den Händen. Es scheint, als sei Arnim nicht fähig, ganze Menschen zu gestalten. Wir spüren das auch an den Nebenpersonen. Ich erinnere an den Vater der Dolores, der uns zu Anfang des Romans als Abenteurer und Luftikus geschildert wird und dann plötzlich als besonnener Staatsmann vor uns steht. An die Problematik seiner neuen Existenz erinnert nur, wenn es heißt, daß er sich nicht gern einem Gefühle überläßt, „er vermied es aus einem (Werke VIII S. 446).
gewissen
Grundsatze
der
Selbsterhaltung"
Bereits Wilhelm Grimm übte an dieser Gestalt Kritik: „Auch von dem Minister müssen wir sagen, daß wir ihn nicht recht als leichtsinnigen Graf, der an seinem brennenden Palast seinen Zigarro anzündet, und als Entenfänger (eines seiner Abenteuer in Indien) denken können" 36 ).
Ähnliches läßt sich von der Fürstin des Ländchens sagen, dessen Minister er wird. In der Motivierung liebt es Arnim, den Zufall heranzuziehen, aus seinen Verkettungen ganze Geschehnisreihen zu entwickeln. Beispielhaft dafür ist wiederum das Leben des „Ministers". Es kehrt also im Detail jene Gesetzlichkeit wieder, die wir aus dem Vergleich mit den „Wahlverwandtschaften" als bestimmend für die Gesamtkonzeption des Romans erkannten. Der Mangel an repräsentativer Kraft, das punkthafte Sein de? Romangeschehens im Raum der Möglichkeiten findet sich wieder im äußeren Aufbau des Romans, in seiner vielbesprochenen Formlosigkeit. Ebenso wie die menschlich-seelische Welt ist die äußere Welt, in der diese Menschen leben, ein zufälliger Ausschnitt der gesamten Wirklichkeit, der beliebig erweitert oder verkürzt werden könnte. Sie bleibt
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nach allen Seiten hin offen, wie audi die Mensdien, die allem Neuen gegenüber anfällig sind. Die zahllosen eingefügten Episoden, die alle für sich bestehen können, geben dem Roman für weite Strecken den Charakter eines Novellenkranzes. Steig hat in seiner Arnimausgabe im Insel-Verlag (3 Bde. 1911) in seinem gekürzten Abdruck der „Dolores" einen großen Teil dieser Episoden weglassen bzw. getrennt abdrucken können (wie den „Hugh Schapeler", den „Hollin" und die „Schule der Erfahrung"), ohne den Charakter des Ganzen dadurch wesentlich zu verändern. Während zwischen einem großen Teil der Episoden eine Beziehung überhaupt fehlt, lassen sich andere miteinander in Beziehung bringen, als eine Reihe von „Ehestandsbildern", wie Arnim selbst sagt, aber der Charakter des Zufälligen wird ihnen dadurch nicht genommen. Entsprechendes spüren wir auch an den Menschen, denen Graf Karl und Dolores auf ihrem Lebensweg begegnen. Sie sind nicht etwa wie die, welche Wilhelm Meister trifft, repräsentativ für bestimmte Gruppen der menschlichen Gesellschaft, machen zusammengenommen ein Abbild dieser selbst aus. Sie sind zufällig, einfach da und nur aus der Phantasie und dem Einfall des Dichters verständlich. Gerade auf das Letzte hat H . Riebe eingehend hingewiesen, an den idi hier erinnern möchte. Für Arnims Mensdien bezeichnet er die „Zufälligkeit als die Grundkategorie ihres Seins in einer erzählten Welt" 37 ). Die Art wie Arnim das Problem der zwei Wirklichkeiten oder der zwei Welten, der, die uns alltäglich sichtbar wird, und der eigentlichen, umfassenden, durchdacht hat, alles, was uns sinnlich faßbar wird, ist nur Teil von einem höheren Ganzen, läßt uns ahnen, wie Arnim selbst um die genannte Problematik seiner Weltgestaltung gewußt hat. Die „höhere Wirklichkeit" hat eine Einheit und Zusammenhänge schaffende Funktion, erscheint als Gegenbewegung und Sicherung gegenüber der Möglichkeit, daß die sinnlich faßbare Wirklichkeit in isolierte Einzelheiten zerfällt. In ähnlicher Weise ist der Mensch, dessen Einheit der Persönlichkeit gefährdet erschien, für den die Einheit seines Lebens zerfiel, in ein umgreifendes Schicksal hineingebunden.
EXKURS: DIE GESTALT DES MARKESE U N D KIERKEGAARDS „TAGEBUCH EINES VERFÜHRERS" Arnim zeichnet zwar die Gestalt des Markese mit Kierkegaardscher Schärfe, aber er wird sich nicht ihrer dämonischen Hintergründe bewußt. Er ist dazu zu optimistisch und lebensgläubig, für ihn ist der Markese ein isolierter Fall, dem unendlich viel Positives in der Welt entgegensteht:
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» . . . das Laster endigt früher und geht unter, während die dauernde Tugend mit allen Hindernissen ihrer Entwicklung kämpft" (Werke VIII S. 137). Daß Arnim eine solche Gestalt zu schaffen vermag, ist tief bedeutsam und nur verständlich, wenn wir in seinem Werk Tendenzen annehmen, die zu ihr hinführen. Es sei deshalb in einem Exkurs etwas über Arnims Verführergestalt gesagt, die wie Kierkegaards Verführergestalt in jener „langen geistes- und seelengeschiditlichen Überlieferung steht, die tief ins 18. Jh. zurückweist und nichts geringeres bedeutet als eine Geschichte des Bösen, die sich in Annäherung ans Dämonische, ans Satanische befindet"38). Arnims Verführer unterscheidet sich von seinen Vorläufern in der Romantik (wie Lovell oder Godwi) durch seine Universalität, „Die Frömmigkeit des Herzogs ( = Markese) die in den Augen seiner frommen Frau so rein erscheint, täten wir Unrecht, ganz zu bezweifeln, audi die Anlage zur Frömmigkeit war in ihm" (Werke VIII S. 136), schreibt Arnim. Es ist nicht mehr nur eine Frau, die er zur Liebeshingabe verführen w i l l , es ist die ganze W e l t , auf die sich sein Streben richtet. Die ganze W e l t w i l l er seinem Genüsse Untertan madien. D a z u aber muß er ihre Einheit, ihre Wirklichkeit auflösen in Stimmungen und einander verdrängende Momente (darin liegt das eigentlich Böse, das Satanische dieser Gestalt). In K i e r k e g a a r d s „Tagebuch eines Verführers" heißt es: „Aus seinem Tagebuch läßt sich ersehen, daß er bisweilen nach ganz willkürlichen Erlebnissen Begehren trug, ζ. B. nach einem Gruße. Um keinen Preis durfte es mehr sein, weil gerade dieses bei der Betreifenden am anziehendsten war"»·). An Arnims Verführergestalt, die in ihrer inneren Richtung völlig der Kierkegaardschen gleichzusetzen ist, sie ist nur weniger reflektiert als diese, sehen wir, wie nah Arnim das von Kierkegaard immer wieder beschriebene ästhetische Sein liegt. Es ist der Hauptvorwurf, den dieser der Romantik macht, daß sie .nämlich die bestehende Welt negiere zu Gunsten einer poetischen, scheinhaften. So schreibt Cordelia aus dem „Tagebuch eines Verführers" über ihren Geliebten: „Stets habe ich Musik geliebt. Er war ein köstliches Instrument, immer gestimmt, von einem Umfange wie kein anderes, umfaßte alle Stimmungen und Gefühle, kein Gedanke war ihm zu hoch, keiner zu verzweiflungstief; wie ein Herbststurm konnte er brausen, fast lautlos flüstern. Kein Wort von mir blieb ohne Wirkung, und doch kann ich nicht sagen, ob meine Worte nicht dennoch ihre Wirkung verfehlten; denn ihre Wirkung auf ihn war unmöglich im Voraus zu berechnen. Mit unbeschreiblicher, geheimnisvoller, seliger, unfaßbarer Angst lauschte ich dieser Musik, die ich selbst zum Tönen brachte und doch wieder nicht zum Tönen brachte; stets war sie voll Harmonie, stets riß sie midi von neuem hin" 40 ). „ . . . Schlang sich dann mein Arm um ihn, so umarmte ich Wolken" 41 ).
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Das Böse an beiden Verführergestalten ist, daß sie die Wirklichkeit auflösen aus der Absicht, Genuß zu erlangen. Arnims Verführergestalt ist deshalb so aufschlußreich, und damit kehren wir wieder zu den Gedankengängen der vorliegenden Untersuchung zurück, weil sie die Auflösung einer einheitlichen und zusammenhängenden Welt voraussetzt. Sie ist symptomatisch für Arnims Welterleben und Weltgestalten. Hier ist gleichsam die stets lauernde Möglichkeit eines Umschlags ins Satanisch-Dämonische aktuell geworden, die Hintergründe und die Gefährdung des Arnimschen Schaffens deuten sich hier an. Es gelingt ihm zwar, das weltferne und ästhetische Sein der frühen Romantik zu überwinden (s. Kierkegaard), er wendet sich einem konkreten diesseitigen Dasein zu, aber es gelingt ihm nicht, die Welt in ihrer Realität zu erfassen, es bleibt ihr ein hoher Grad von Flüchtigkeit eigen, sie droht stets in unzusammenhängende Einzelheiten zu zerfallen. Es liegt ein Dezentralisierungsprozeß vor, der bezeichnend für den geschichtlichen Ort ist, an dem Arnims Werk steht. DAS PROBLEM DES SCHICKSALS I N DER „GRÄFIN DOLORES" Als Ausdrude jener höheren Welt, in der alles klar und zusammenhängend erscheint, was man in der unserer Überschau gegebenen Welt nur isoliert und dunkel wahrnimmt, in der der Zusammenhang von T a t und Schuld, der dem Mensdien fremd sein kann, gewahrt ist, erscheint im Bereich menschlichen Lebensvollzuges die Mächtigkeit des Schicksals, die auf die verschiedenste Weise stets in dem Roman gegenwärtig ist. Als „Gnade des Himmels", wenn sie die selbstmörderische Kugel vom Herzen Graf Karls ablenkt (Werke VIII S. 131), wenn sie die Eheleute auf der Wallfahrt zusammentreffen läßt, wenn sie die Möglichkeit zu Buße und Umkehr gibt. Als dunkles unabwendbares Fatum, wenn allenthalben Vorausdeutungen auf das künftige Geschehen erscheinen. Als mechanischer Ablauf, wenn trotz Umkehr und Buße die Sühne der Tat folgt. Als spielerisch-theatralisches Geschehen, wenn dem Menschen ihre Lehren wirkungsvoll vorgeführt werden. Die erste Möglichkeit, das Schicksal als göttliche Lenkung aufzufassen, war für den edit frommen Arnim immer gegeben, er hat sie auch am häufigsten verwirklicht. Eine entscheidende Rolle spielt sie in „Halle und Jerusalem". Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf sie ein und weise nur darauf hin, daß dabei die Neigung besteht, die Mitwirkung des einzelnen Menschen völlig auszuschalten. Daneben spielt aber die fatalistische Auffassung vielfach in der „Dolores" eine Rolle. Elf Jahre nach ihrem Treuebruch zeigt das
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Schicksal an, daß es die Gräfin Dolores im Auge behalten hat, indem es am T a g und zur Stunde ihrer Sünde das Schloß abbrennen läßt, in dem sie geboren wurde (Werke V I I I S. 226). Auch ihre Sterbestunde setzt es um die gleiche Zeit fest. „Sie starb den 14. Juli, an demselben Tage, in derselben Mitternaditsstunde, in welcher sie vor vierzehn Jahren die heilige Treue gegen Gott und ihren Mann gebrochen" (Werke V I I I S. 449).
Kurz vor ihrem T o d läßt es in Dolores, die, wie wir im vorigen K a pitel sahen, sich inzwischen völlig gewandelt hat, das Gefühl der Schuld wieder aufsteigen, die Leidenschaft der Fürstin zu ihrem Gatten erinnert sie daran, ihr Ehering, der sonst nie abzustreifen war, läßt sich auf einmal lösen und geht verloren. Dolores deutet das sofort auf den Untergang ihrer glücklichen Ehe und sucht „mit heimlichen Gebeten . . . ihr Schicksal abzuwenden" (Werke V I I I S. 300), aber vergebens. „O der späten unausbleiblichen Strafe aller Schuld" (Werke V I I I S. 300), kommentiert der Erzähler. Aber bereits ehe irgendeine Handlung geschieht, ehe Karl und Dolores in Schuld geraten, sind sie vom Kommenden gezeichnet. Auf der Stirne des Grafen Karl „lastet vorbedeutend eine schwere W o l k e " (Werke V I I S. 43) und spielerisch, aber wir dürfen es trotzdem nicht übersehen, wird der Ehebruch der Dolores angedeutet, ehe sie ihren Gatten noch kennengelernt hat. Eine Falte am gebeugten kleinen Finger soll nach scherzhafter Ausdeutung einen Mann bedeuten, Dolores zeigt jedoch anderthalb Falten, außer ihrem Gatten, den Markese, dem sie für kurze Zeit verfallen ist. Das letzte mag verblüffend und gesucht klingen, erscheint aber in seiner Deutung möglich, wenn wir die zahlreichen Fälle ansehen, in denen Arnim das entscheidende Geschehen in nebensächlichen Kleinigkeiten zu spiegeln und damit festzulegen sucht. So hört etwa der Schreiber, der mit der Fürstin sterben wird, ein Lied, das ihn in seinem Doppelsinn ängstigt, und dem nach Hause Eilenden, wo ihn der Giftbecher erwartet, ruft der Hirtenbub, der das Lied gesungen hat, ein sizilianisches Sprichwort nach: „Zum Hängen kommst du immer noch zeitig genug" (Werke V I I I S. 440). Oder Dolores schlägt am Morgen ihres Todes die Bibel auf und „zufällig" fällt ihr Blick auf Christi W o r t an den Schächer: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein" (Werke V I I I S. 423). Als Dolores nach ihrer Verfehlung bewußtlos von der Anstrengung einer Wallfahrt oder von der seelischen Erschütterung auf dem Boden der Kirche liegt, fällt zufällig ein heller Lichtstrahl auf das über ihr hängende Bild der Maria Magdalena (Werke V I I I S. 150) 4 2 ). Der Dichter will spürbar machen, wie die Fäden menschlicher Geschicke in einer höheren H a n d zusammenlaufen, aber in seinen Symbolisierungen wird in gleicher Weise wie in den fata-
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listischen Elementen die Tendenz sichtbar, menschliche Geschicke von vornherein festzulegen. Karl Debus weist darauf hin, daß Arnim ein Bewußtsein von der Kausalität der Seelenvorgänge habe 43 ), die er leicht zwangsläufig auffasse. Es liegt in dieser Beobachtung zweifellos etwas Richtiges. Man denke nur daran, wie Dolores auch gegen ihren Willen ihre Sünde bekennen muß. Im Schlafe sprechend verrät sie sich selbst (Werke VIII S. 113). Die Möglichkeit einer tiefenpsychologischen Deutung, wie sie Debus versucht, ist hier nicht zu erörtern. Innerhalb der dichterischen Welt ist es das Schicksal, das auf eine geradezu medianische Weise auf die T a t die Strafe folgen läßt. Durch ein Leben der Entsagung und Mutterliebe hat Dolores, auch nach des Dichters Meinung, längst ihre Frevel gebüßt. Wir haben sogar feststellen können, wie das neue gewandelte Leben kaum noch eine Beziehung zum früheren Sündenleben aufweist. Da bricht unerwartet das Schicksal über sie herein, sie stirbt ganz plötzlich. „Ewige Gerechtigkeit, warum mußte sie sterben? — Daß dir schaudre, Mensch, vor der Gewalt der göttlichen Leidenschaft, der allmächtigen Liebe, welche von der Jugend so oft in törichtem Leichtsinn aufgesucht und ausgefordert wird" (Werke VIII S. 443), so lautet die Lehre des Erzählers. Ich glaube, man kann nach diesen Worten sagen, daß das leichtsinnige Nachgeben einer Leidenschaft von Seiten der Dolores, jenen ungeheuerlichen Schicksalsmechanismus in Bewegung gesetzt hat, soweit man nicht die fatalistischen Vorausdeutungen noch stärker bewerten will. Aber das soll uns im einzelnen nicht kümmern. Wichtig erscheint mir hierbei, wie der Einzelne völlig vom Schicksalsgeschehen zurückgedrängt wird. Denn was hat alle Buße und gar die „Heiligung" der Dolores für einen Sinn, wenn das Schicksal dennoch „sein Spiel aufführt", um einen Ausdruck Arnims aufzugreifen, den dieser im Briefwechsel mit Brentano gebraucht 44 ). Wir berühren damit die letztgenannte Möglichkeit der Auffassung des Schicksals als eines spielerisch-theatralischen Geschehens. So führt in der Todesstunde der Dolores das Schicksal eine schauerliche Oper auf : „Die Fackeln erhellten das stille Zimmer, in weldiem nur das Schluchzen ihrer Lieben zuweilen die fromme Segnung unterbrach, draußen hatte der Sturm die Himmelsfackeln ausgelöscht und die Schiffe wurden entmastet vorübergetrieben" (Werke V I I I S. 449).
Als die Fürstin, deren unselige Leidenschaft zu Graf Karl auch das Unglück und Ende der Dolores heraufbeschwört, auf dem Gipfel ihrer maßlosen Leidenschaft angelangt ist, spürt man eine Erderschütterung (Werke VIII S. 280). Der Roman klingt damit aus, daß von Dolores „eine übergroße Bildsäule" errichtet wird,
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Das Problem des Schicksals in der „Gräfin Dolores" „ . . . mit der einen aufgehobenen H a n d -warnend, mit der andern ausgestreckten segnend, von ihren zwölf Kindern umringt, auf der Spitze einer gefährlichen Klippenreihe, die bis dahin der Untergang mancher Hoffnung und manches Lebens geworden, milde aus dem Himmel herableuchtend . . . Ihre Augen und ihre gräfliche Krone, und die Augen und Kronen ihrer Kinder werden jede Nacht durch eine kunstreiche Einrichtung wie ein neues, wunderbares Sternbild erleuchtet, das noch hell glänzt, während alle am Himmel hinter Wolken erloschen; die Seeleute nennen diesen Leuchtturm das heilige Feuer der Gräfin, oder auch das heilige Feuer der Mutter (Werke V i l i S. 453 f.).
Wie paßt das zu der Strafe, die der Tat der Dolores nadi vierzehn Jahren folgt? Die Lektüre der „Gräfin Dolores" klingt, etwas übertrieben gesagt, für den Leser mit dem Eindruck eines sinnlos zwanghaften Geschehens aus, in dem der einzelne, davon betroffene, Mensch nichts „zu sagen" hat. Ich glaube, daß gerade aus diesem Sdilußbild des Romans, gegen dessen Ende Arnim in pathetisch gesteigerten Worten das Geschehen in eine Lehre zusammenfassen, ihm allgemeine Gültigkeit verleihen will, sehr deutlich wird, was ihm mangelt, nämlich eine echte Beziehung auf den Menschen. So wie Dolores bis zu den Sternen gehoben wird, alles Menschliche und Irdische von ihr abfällt — „der Mensch stürzt nieder, sein Göttliches steigt empor" (Werke VIII S. 450), sagt Arnim — fehlt im ganzen Romangeschehen der Mensch als Richtmaß eines Gesdiehens, das doch gerade ihn betrifft. Das zeigt sich in der Sprache. Sie wird theatralisch, d. h. es fehlt ihr eine innere Mitte, sie geht gleichsam über den Menschen hinweg, wo sie ihn deuten sollte. Sie verdeckt den Zwiespalt zwischen der Wirklichkeit eines ganz mechanischen Ablaufs und der verkündeten Sinnhaftigkeit, aber sie bleibt ein sehr feiner Anzeiger der wahren Verhältnisse. Der Zug zum symbolhaften, der sich in diesem Roman findet, scheint mir zum großen Teil entsprediend deutbar zu sein. Ich erinnere etwa daran, daß die Fürstin das tödliche Gift, das sie trinkt, in einem zufällig stehengebliebenen Becher „Christi Tränenwein" auflöst. „Sie mischte den edlen Sonnenwein, der zum Dienste des Herrn bestimmt war, mit den Schrecken der Unterwelt, welche Habsucht und Neugierde des Mensdien töricht ans Licht fördert" (Werke VIII S. 438).
Es läßt sich nirgends mit Sicherheit aus dem Text belegen, aber man hat das beklemmende Gefühl, als sei das Tun der Fürstin hier nicht mehr frei, jedenfalls, und darauf kommt es an, ist die Deutung, die der Dichter hier implicite gibt, nicht auf den Mensdien bezogen, er ist in seinem Tun nur nodi Demonstrationsobjekt.
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„HALLE U N D JERUSALEM" „Halle und Jerusalem" ist die Bearbeitung und "Weiterdichtung von Gryphius' „Cardenio und Celinde". In der zentralen Idee ist Arnim von Gryphius abhängig, dessen Vorsatz war, „zweyerley Liebe" darzustellen, „eine keusche sittsame und dodi inbrünstige in Olympien, eine rasende, tolle und verzweifelnde" in Celinden sowie die Schuld, in die die wilde irdische Liebe führt 45 ). Ähnlich sagt Olympie in Arnims Drama zu ihrem Bruder: »Erwecke nidit die wilden tobenden Gefühle, jetzt kenne idi die irdische Leidenschaft, die midi Cardenio verbunden . . . mein bessres Selbst gehöret ganz Lysandern, was kümmert mich mein sdilechtrer Teil, den die Natur Cardenio bestimmte, den strenge Tugend bald vernichtet" (Werke X V I S. 89).
Es stehen von vornherein zwei Pole allen Geschehens fest: Das Leben der Welt mit seinen Nöten und Gefahren der Sünde und das Leben der Buße, der Hinwendung zu Gott, symbolisiert im Zug nadi Jerusalem, zum Heiligen Grab. „Der Mittelpunkt der Erde ist Christi heiiges Grab" (Werke XVI S. 400 vgl. S. 27, 224) heißt es im Schlußchor des Dramas. Die Erlösung am Heiligen Grab ist die verbindende Mitte in dem dualistischen Dramengeschehen. Die Personen der Haupthandlung des ersten Teils finden wir alle im zweiten Teil wieder, als Pilger gen Jerusalem. In allen hat sich nach des Dichters Willen die große Lebenswende vollzogen. Wir sehen hier davon ab, daß der zweite Teil ein buntes Durcheinander ist, dem jeder einsichtige Zusammenhang fehlt, jede Wahrscheinlichkeit mangelt. Er ist als „Nachklang in der Phantasie" 48 ) mit dem ersten Teil nur nodi lose pragmatisch verbunden. Gut und Böse, Welt und Welt der Erlösung stehen sich kraß gegenüber. Es ist barocker Dualismus, der aber dem Arnimsdien Gestalten, für das ebenfalls ein Dualitätsempfinden wichtig ist47), entgegenkommt. Seinen Menschen droht, wie wir gesehen haben, die gegliederte Welt zu einem ungegliederten Ganzen zusammenzufließen, bzw. in isolierte Einzelheiten zu zerfallen, ähnlich fehlt ihm selber als Gestalter die Überschau, seine dichterische Welt neigt zur Dezentralisierung. Der christliche Dualismus bietet die Möglichkeit einer Gliederung und Überschau48). Arnim umschließt die Welt, so wie er sie erlebt, mit der Sicherung christlicher Weltschau. Wir wollen sehen, wie sich unter dieser Sicherung seine Gestaltung von dem, was wir bisher erfahren haben, unterscheidet. Im Unterschied zur „Dolores" stehen Schuld und Buße thematisch nicht mehr im Mittelpunkt. Der Akzent liegt so stark auf dem Vor-
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gang der Reinigung und Erlösung, daß f ü r die Handelnden die Einheit der Persönlichkeit zerbricht, wie es in Cardenios W o r t e n deutlich w i r d : „Sehnsucht meiner sündgen Tage, Morgenland voll heiiger Sage, Schließe auf dein Wundergrab, Daß ich steig zu dir hinab, Daß ich steig von dir hinaus, Schuldlos ohne Reu und Graus" (Werke X V I S. 251). Die Sünden werden völlig getilgt. So heißt es von der sterbenden Dirne Celinde: „ . . . die Heilige stirbt" (Werke X V I S. 392). Bezeichnend ist ein Zwiegespräch zwischen den beiden Pilgern Cardenio und Celinde: Cardenio: „ . . . ich sage dir, es weht ein wunderbar Vergessen in dieser warmen Luft, ich möchte neu zu leben hier beginnen, das Vergangene paßt nicht mehr zu meinem Wesen, idi war es nicht; war in Raserei, als ich noch unter Menschen wütete, ich weiß es nicht, dodi fühl ich mich gesund". Celinde: „Du greifst mir ins Herz und weißt es nicht, ich seh in deinen reinen Zügen die güldne Tafel deines Lebens von aller Sünde rein" (Werke X V I S. 324). Die irdische Leidenschaft ist von beiden gewichen. „Der heftige Aufruhr, der mich bei ihrem Anblick gestern noch durchdrang, ist wie ein Meeresschaum in Sonnenlicht zerplatzt" (Werke X V I S. 154), sagt Cardenio über Celinde, und diese berichtet umgekehrt: „ . . . all die Lieb ist mir vergangen, die Geisterhand hat alles ausgerissen, dich seh idi neben mir so wesenlos wie einen Schatten der Sonne hier" (Werke X V I S. 222). Alles frühere liegt weit hinter den Pilgern: „. . . es ist noch keine Woche — jetzt scheint es mir ein lang vergangnes Leben" (Werke X V I S. 181), berichtet Cardenio. Daß die Einheit der Charaktere nicht gewahrt ist, rügt audi W o l f gang Liepe: „Der jämmerliche Untergang des einstigen Helden Cardenio entspricht wenig seiner Charakteranlage . . . der sentimental-bigotte Predigtton, in den der flotte Bursche und die lebenslustige Dirne urplötzlich verfallen, macht uns beide Charaktere schließlich ganz unausstehlich" 49 ). Während in der „Dolores" wenigstens in Ansätzen nodi eine ethische Entscheidung da w a r , eine erschütternde Erkenntnis der Schuld der Umkehr vorausging, fehlt dies in „Halle und Jerusalem" völlig. Aufschlußreich ist die A r t , wie Cardenios „Entschluß" zur Pilgerfahrt motiviert wird. Er geht, um der ihn erwartenden polizeilichen V e r f o l gung zu entrinnen (Werke X V I S. 226), Celinde, die ihn liebt, folgt aus Anhänglichkeit, ihr, wiederum aus dem gleichen Grunde, folgt
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Viren. Es fehlt diesen Menschen jegliche Aktivität, sie reagieren wie Marionetten einer höheren Macht. „In wessen Leben die Geisterwelt so leibhaftig eindrang wie in Cardemos und Celindes, der hat es leicht, aus innerem Antrieb in sich zu gehen und zu büßen"50), heißt es bei W. Liepe, der audi darauf hinweist, daß Olympie die Abkehr von ihren ursprünglichen Entschlüssen von außen her aufgezwungen werde, es fehlt ihr jede Spur von Selbsttätigkeit. Die Zukunft werde ihr unzweideutig enthüllt, so daß sie genau wisse, wie sie sich zu verhalten habe. Ein Schwanken, ein Wählen, sei ausgeschlossen. Die göttliche Lenkung, das Geschick bestimmt völlig das T u n und Lassen der Menschen. Was dem Menschen widerfährt, ist nur Prüfung (Werke X V I S. 327). Cardenio ist die Frucht einer sündhaften Verbindung. Er ist der Sohn des Ahasver und einer Pilgerin. Diese T a t sache legt den Verlauf seines Lebens fest: „O wehe mir, daß idi nur der Gewalt mein Leben danke, darum war so gewaltsam auch mein Leben" (Werke XVI S. 337). Aber die Lenkung von oben verhütet Unheil : Olympie, zu der Cardenio in sündiger Liebe entbrannt ist, ist seine Schwester, von der er nichts weiß. Der Geist der toten Mutter erscheint mehrmals und greift schützend und leitend zum Besten aller in das Geschehen ein (Werke X V I S. 80, 231, 236, 244, 392). „O welchem Abgrund hat der Zufall midi entrißen; was sag ich Zufall, wo unter höchster Weisheit Lebende und Tote wandelten. Gelobt sei Gott" (Werke XVI S. 339), kann rückblickend Cardenio ausrufen. „Nicht helfen kannst du mehr den Armen, ihr eigenes Geschick reißt sie von uns" (Werke XVI S. 236 vgl. S. 224). Diese Worte Lysanders spiegeln das Schicksalsverhältnis der in „Halle und Jerusalem" geschilderten Menschen. Die aktive Mitwirkung des Menschen wird so sehr ausgeschlossen, daß die lenkende göttliche Macht als undurchschaubares Fatum erscheinen kann. Cardenio: „ . . . da Gott uns all erträgt, und da wir alle ihn ertragen müssen, der mit uns spielt in wunderbaren Launen" (Werke XVI S. 186). Das Stubenmädchen Doris singt: „ . . . und ist dem Höchsten alles gleich, den Reichen klein und arm zu machen, den Armen aber groß und reidi, Gott ist der rechte Wundermann, der bald erhöhn, bald stürzen kann" (Werke XVI S. 71). Das leichthin gesungene Liedchen ist in seinem Hinweis auf die Hintergründe des Geschehens durchaus gewichtig zu nehmen. Der Mensch wird gleichsam zur Marionette in der H a n d Gottes.
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Ähnliche Äußerungen sind Arnim audi sonst in seinem Werke nidit fremd. „Erzählungen von Schauspielen": „Die Weltseele scheint noch ein unerzogenes Mädchen mit ihren Bildungen aus Erdscholle zu spielen" (a. a. O. S. 163). „Sonett auf K a r l L u d w i g F e r n o w " : „Ich seh den Zufall jetzt mit Mänijern spielen wie Meereswellen mit dem leeren Nachen" (Inselausgabe Bd. 3 S. 448).
Als „Gottes leidige Puppe hier auf Erden" (Werke V S. 173) vermag der Mensch zu erscheinen. In der „Isabella von Ägypten" heißt es: „ . . . solch ein Grauen wohnt in der Tiefe des hochmütigen Menschen vor der unnennbaren Welt, die sich nicht unseren Versuchen fügt, sondern uns zu ihren Versuchen und Belustigungen braucht" (Werke I S. 20 vgl. auch S. 87).
Wenn W. Liepe sagt: „Die romantische Vorsehung ist bei Arnim in ganz orthodox protestantisch-kirchlidier Anschauung gesehen. Trotz aller überirdischen Eingriffe steht ihm der freie Wille des Menschen außer Zweifel" 5 1 ),
und wenn er dafür das Wort Cardenios anführt: „Es stammt der Geist aus sich, was er verbrochen, muß er audi büßen, nie trägt der Vater Schuld des Sohnes", so trifft er damit eine vordergründigere Schicht als die, um welche es uns hier geht. In der Idee, der bewußten Absicht der Darstellung, ist die Vorstellung der Buße im Sinne einer willentlichen Umkehr sicherlich vorhanden, und es ließen sich dafür wohl noch weitere Zitate außer dem von Liepe genannten anführen, in der Gestaltung jedoch, und darauf kommt es einzig an, spielt sie keine Rolle mehr, so wie sie bereits in der „Dolores" nicht mehr durchzudringen vermochte. Die Aufnahme von Elementen des romantischen Schicksalsdramas (dies fatalis) stimmt uns dort sehr bedenklich. Für die Menschen in „Halle und Jerusalem", deren aller Leben irgendwie in Beziehung zum Reich der Geister steht, gilt, was Tyche ihrer Tochter, die sich mit Hilfe der Geister Liebe gewinnen will, sagt: „ . . . das dunkle Reich erschließt sich nicht für einen Augenblick,
wir
stehen ewig dann in seiner Macht" (Werke X V I S. 200).
Das Auftreten einer derartigen Schicksalsidee setzt, ob sie gemildert wird oder nicht, einen tiefen Zweifel an der Verantwortlichkeit und Autonomie menschlichen Handelns voraus, an der Fähigkeit des Menschen, sein Leben überschauend zu lenken. Der Gegensatz zwischen Idee und Gestaltung wird sichtbar in dem, was Sdireyer 52 ) unter dem Stichwort der „doppelten Motivierung" behandelt. Es ist, wie dort deutlich wird, eine Gesetzmäßigkeit, die über „Halle und Jerusalem" hinaus Bedeutung hat, und wie ich hinzusetzen möchte, auch über den Bereich seines Dramenschaffens hinaus. Arnim
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setzt neben die schicksalsmäßig zwangsläufige Kausalreihe den psychologisch-ethischen Nexus 53 ). Schreyer biegt jedoch vom eigentlichen Problem ab, wenn er an Visdiers Begriff der „überfruchteten Motivierung" erinnert. Dieses Problem liegt doch in der Frage nach dem Schwerpunkt und dieser liegt eindeutig nicht im handelnden Menschen. Man darf hier an das für Arnim wichtige Problem der beiden Welten erinnern, der realen und der höheren, auf das idi noch zurückkommen werde. Und hier ist wiederum deutlich, wo das eigentliche Gewicht liegt, nämlich nicht auf der dem Menschen überschaubaren Welt. Ständig drohen seine Menschen in „Halle und Jerusalem" dunklen unberechenbaren Mächten zu verfallen. Lediglich Arnims Optimismus läßt das Dämonische, Zerstörerische einer solchen Situation nicht deutlich werden, in der der Mensch nur für den kurzen Augenblick seiner Tat oder seines Gefühls eigene Wirklichkeit hat. Was ihm widerfahren wird, ist ihm gänzlich unberechenbar, es gehört noch der höheren Wirklichkeit des göttlichen Weltplanes an, seine Vergangenheit wird ihm fremd und unverständlich. Er ist Durchgangspunkt eines Geschehens, dessen aktives Zentrum nicht in ihm liegt. Die Gegenwart läßt den Menschen von „Halle und Jerusalem" nach einem Wort des Ahasver (Werke XVI S. 183) „nicht Zeit zum zusehen", sie sind hingegeben an die Forderung des Augenblicks, erst in der völligen Abkehr von der Welt finden sie Ruhe und Besonnenheit. Das, was in der „Gräfin Dolores" gleichsam nur hinter der Fassade des ethisch betonten Geschehens spürbar wurde, ist hier, wo diese Fassade nicht mehr eindämmend und hindernd wirkt, weil sie angesichts des Erlösungsgeschehens ihre Bedeutung verliert, viel deutlicher. Es scheint als habe die Gewißheit der Erlösung den Dichter zu kühnerer, hemmungsloserer Gestaltung getrieben. Das mächtige Doppeldrama „Halle und Jerusalem" eröffne alle Pforten zum Verständnis Achim von Arnims, sagt Nadler 54 ) und er hat darin recht. Cardenio ist mit allen Vorzügen ausgestattet, die sich ein Mensch wünschen kann (vgl. Werke XVI S. 243), er zieht daraus die Berechtigung zu einem hybriden Eigenmachtsgefühl (vgl. Werke XVI S. 155, 172), wie Karl Moor fühlt er sich als „Gottes Richtschwert hier auf Erden" (Werke XVI S. 161, 187, 226), Philosophie nennt er „so überflüssig als Manschetten" (Werke XVI S. 180)55), das Eigensein der Welt negiert er zu Gunsten seiner Willkür: „So wie die Katze mit der Maus, so wie der Strom mit dem Ertrinkenden, ihn hebend bald und dann herniederstürzend, im Hoffen ihn vernichtend, so spiele ich mit dir mit mir mit meiner Liebe mit aller Welt" (Werke X V I S. 159, vgl. S. 112).
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.Halle und Jerusalem"
Es werden sicherlich gewisse Züge des Sturm- und Drang-Helden hier wieder aktiviert 56 ), das Entscheidende aber ist, daß Arnim die Tatsache, daß ein Mensch die Herrschaft über sein Leben verliert, Spielball des momentan auf ihn Einwirkenden wird, mit der unberechtigten Position eines übersteigerten Eigenseins motiviert, wie sie der Sturmund-Drang-Held repräsentiert, so wie er es bereits im „Hollin" getan hat. Cardenio ist weit aktiver und leidenschaftlicher als der lyrische Hollin, aber ebenso restlos wie dieser ist er der Stimmung und Situation des Augenblicks verfallen (vgl. Werke XVI S. 162). Nachdem er Olympie flüchtig gesehen hat, gibt er sich ihr schon völlig zu eigen, sie allein sei es, die ihn beseligen könne. Als er seine Liebe verraten glaubt, erscheint ihm „die Welt auf einmal anders" (Werke XVI S. 64), er fühlt sein „Dasein aus den Wurzeln fortgerissen und in den Strom gestürzt" (Werke XVI S. 110). Hemmungslos steigert sich sein Gefühl: „... weinen möcht ich, habe keine Tränen, daß die Welt mir ging verloren, könnt ich weinen ohne Maßen und in Tränen ganz zerfließen . .. ewig rauscht es wilder in meinem Hirn, jagd mich rasender zum Abgrund" (Werke XVI S. 104). „Schon fühl idi eine lächerliche Neigung, Feuer anzulegen oder Feuer auszurufen, das glanzerfüllte Hochzeitshaus brennt fürchterlich in meinen Augen und blendet aus das schwache Lichtlein der Vernunft." (Werke XVI S. 110).
Aber auch die übrigen Personen sind in ähnlicher Weise seelisch labil wie Cardenio, gebunden an den Augenblick. In eigentümlicher Bewußtheit preist Olympie die Hingabe an den Augenblick: „Wer auf den sicheren Besitz von etwas herrlichem nur eine Stunde rechnet, nein der besitzt es nie, der hat es nie besessen, sich nie dem Augenblicke hingegeben, der Jahre aufwägt. Und sind nicht Augenblicke mutgen Glücks und seliger Erhebung mehr, als ungenossene achtzigjährige Dauer des stets verkümmerten Daseins" (Werke XVI S. 38). Ensprechend widerstandslos ist Olympie aber dann auch gegen alles, was ihr widerfährt. Cardenio hält sie in „Zauberbanden wunderbarer Schönheit" (Werke X V I S. 194): „Mir selber hat er midi entführt und schweift mit mir, ich weiß nicht wo, herum." (Werke XVI S. 36).
Von Lysander, ihrem langen treuen Verehrer, sagt sie, daß sie ihn hasse und wenig später, als Cardenio sie verlassen hat, nennt sie ihn einen „edlen Mann" (Werke XVI S. 75), „schon muß ich sie lieben, da ich sie also habe verführt" (Werke XVI S. 86), entgegnet sie ihm als sie seinen ethisch redit zweifelhaften Versuch ihre Liebe zu gewinnen erfährt. Aber sie bleibt weiter anfällig für den Zauber Cardenios (vgl. Werke X V I S. 126). Auch für sie ist die Absage an das besonnene Denken bezeichnend (vgl. Werke XVI S. 39, 194, 306). Willenlos an Cardenio verfallen ist audi Celinde und in derselben Weise steht Doris zu Lysander.
Die Dramatik Arnims
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Lysander fühlt seine Liebe zu Olympie als völlige Verwandlung, wünscht in ihrer Nähe sein voriges Leben zu vergessen. Er versteckt sich im Kleiderschrank ihres Zimmers, um Olympie, der er ganz verfallen ist, mit Gewalt zu gewinnen: „Was tue idi? Es ist der Sprung des ganz Verzweifelten hin über einen Abgrund, schon hinter mir versinkt die Welt, idi kann nicht mehr zurück" (Werke X V I S. 54).
Wie Gefühle und Handlungen wie bei Marionetten wechseln, zeigt die Versöhnung Olympiens mit ihrem Bruder, nachdem dieser die vermeintlich entehrte Schwester ohne Besinnen niederstoßen wollte (Werke
EXKURS: DIE DRAMATIK ARNIMS Gundolf nennt Arnims Dramatik die „Verirrung eines genialen Fabulierers in das Reich der Gestalten" 57 ). Das Drama ist diejenige Dichtungsgattung, die Arnim und seinen Möglichkeiten des Gestaltens am fremdesten gegenübersteht und zwar aus zwei Gründen: Einmal, weil hier wie nirgends anders der Mensch Zentrum des Geschehens sein muß, zum andern, weil eine straffe, konsequente Formung unerläßlich ist, jeder Augenblick weist im Drama über sich hinaus auf ein Kommendes, auf das Ende, die Katastrophe. So kann Staiger, auf dessen Wesensbestimmung des Dramatischen ich verweise58), die strengste Hypotaxe als charakteristisch für den dramatischen Stil bezeichnen. In beiden Forderungen versagt Arnims Gestaltungsfähigkeit. Dieses so charakteristische Versagen erlaubt einen tiefen Einblick in Arnims Dichten. Deduktiv von den Forderungen der Gattung her kommt man zum gleichen Ergebnis, wie es die vorliegende Untersuchung, induktiv von den Einzelheiten der Dichtung ausgehend, bisher gewann. Ich möchte auf eine Darlegung entsprechenden Beobachtungsmaterials hier verzichten, weil es uns keine neuen Einsichten vermitteln, sondern nur das bisher Dargelegte bestätigen würde. Zum Problem der Mensdiengestaltung, der Charakterzeichnung, Schicksalsbindung (die Einheit des Charakters ist nicht gewahrt, die Mensdien sind Spielball verschiedener Eindrücke), verweise idi auf die Arbeit von Schreyer über die psychologische Motivierung in Arnims Dramen, die eine Fülle von Beobaditungsmaterial bietet, das sich vielfach in unseren Zusammenhang einordnen läßt, auch wenn es Schreyer von anderen Gesichtspunkten her deutet. Audi auf die fast zwei Jahrzehnte vor Schreyer liegende Arbeit von Max Hartmann über Arnim als Dramatiker weise ich hin, die Schreyers Arbeit zu ergänzen vermag. Nur zwei Feststellungen möchte ich besonders hervorheben, welche Schreyer erwähnt 59 ): Erstens die Simultanbühne, die das Arnimsche 7 Rudolph, Achim von Arnim
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„Die Kronenwächter"
Drama zum größten Teil beansprucht, und seine Mosaiktechnik, die Kombination vieler Einzelheiten, welche sich im Sinne einer epischen Hingabe an die bunte Welt und im Sinne der Tendenz zur Dezentralisierung deuten lassen. Zweitens die visuelle Technik Arnims, welche ich im Sinne der Augenblicksbindung deuten möchte, die letztlich wiederum zum Zerfall der einheitlichen Welt in Einzelheiten, zur Dezentralisierung, führt. Alles was der jeweilige Augenblick fordert, wird sinnlich sichtbar dem Zuschauer vor Augen gestellt, nirgends wird ihm eine Abstraktion oder ein Phantasieakt zugemutet. Das sinnliche Element hat in so extremem Maße die Funktion, die Einheit des Dramas zu wahren, daß der „pragmatische und illusionistische Nexus" in Disharmonie geraten können, wie Schreyer das nennt 60 ).
DIE
„KRONENWÄCHTER"
Die „Kronenwächter" sind das Werk, mit dem sich Arnim am längsten beschäftigt, das er am breitesten angelegt hat. Von der Ungeheuerlichkeit des Planes her ist es zu verstehen, daß es Fragment geblieben ist 61 ). W i r dürfen es unter den größeren Werken Arnims auch als das reifste ansehen, als den Höhepunkt seines Schaffens, denn nach Veröffentlichung seines ersten Teils (1817) hat Arnim nur noch kleinere, meist schon früher entstandene Arbeiten veröffentlicht, wenn man von den 1819 erschienenen „Gleichen" absieht. Die letzten Veröffentlichungen waren stets abhängig von sich bietenden Gelegenheiten (Taschenbücher, Zeitschriften). Das „Landhausleben" (1826), die letzte selbständige Veröffentlichung spiegelt bereits deutlich einen Abstieg. Die „Kronenwächter" lassen sich mit der „Dolores" und „Halle und Jerusalem" zusammen als Verkörperungen der Essenz Arnimschen Schaffens ansehen 62 ). W i r fragen, wieweit dort die Gesetzlichkeiten der Gestaltung gelten, die wir bis jetzt kennen gelernt haben. Im zweiten Teil der „Kronenwächter" tritt uns in Anton, dem Maler, eine derjenigen Gestalten Arnims entgegen, die am extremsten von den Gesetzen des Zufalls beherrscht wird. Seelisch labil ist er jedem Eindruck preisgegeben. „ . . . er fühlte, daß er nie gewußt, was er getan, sondern, daß der Zufall
mit ihm gespielt" (Werke I V S. 54, vgl. S. 250), lautet die Selbsterkenntnis Antons. E r gerät, das entspricht seiner widerstandslosen, abenteuerlichen Natur, in den Machtbereich zauberischer Gewalten (Zauberdegen und Glücksbeutel). Als er ersteren verloren, ist er froh, „von einer der schrecklichen Gewalten frei zu sein, die ihn bisher getrieben hatten" (Werke I V S. 290). In verzweifelter Stimmung betet er einmal um Befreiung von den „grauenvollen
„Die Kronenwächter"
99
Wunderlichkeiten, die ihn umdunkelten" (Werke IV S. 281), denn aus eigener Kraft ist er dazu nicht fähig. Aber dunkle Stimmungen halten sich nicht bei dem stets auf neues, buntes Erleben Eingestellten: „Der Überdruß audi weichen muß, die Langeweil hat nimmer Heil; mach dich von allem frei, so ist dir alles neu." (Werke I V S. 84).
Dieses „einfältige Lied", vermag ihn einmal rasch von aller schweren Stimmung und allem Nachdenken zu befreien. Er lebt ganz aus dem Augenblick: „ . . . morgen ist die Sündflut . . . da ist alles ein Aufwaschen . . . " (Werke IV S. 218). Sein Vermögen hat er leichtsinnig verspielt und dann seine Frau verlassen, um als Landsknecht sein Glück zu machen. Er führt das freie ungebundene Leben der Landstraße, wo jeden Augenblick ein neues Abenteuer warten kann. Wir treffen außer Anton nodi eine Menge soldier Zufallsgestalten 63 ). Wir müssen zwar beachten, daß der zweite Teil der „Kronenwächter" nicht mehr überarbeitet wurde, deshalb nach der relativen Chronologie des Arnimschen Werkes vor dem ersten Teil liegt, aber es ist nicht anzunehmen, daß ihn Arnim so verändert hätte, daß er das Zentralgeschehen des Landstraßenlebens geändert hätte. Idi glaube, man kann deshalb ruhig sagen, daß es charakteristisch für Arnim ist, daß er die umfriedete, kleinbürgerliche Welt Weiblingens, die der Schauplatz des ersten Teils des Romans ist, durchbricht, wieder die Weiten der Welt öffnet, in der Abenteuer und Zufall herschen. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht Berthold. Da ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit die „Kronenwächter" nicht eingehend behandeln kann, möchte ich midi darauf beschränken, an der Art wie Berthold geschildert wird wenige symptomatische Einzelheiten hervorzuheben, welche zeigen, daß auch in diesem reifsten Werk Arnims in Bezug auf die Gestaltung der Menschen und ihres Erlebens die Position des „Hollin", von der wir ausgingen, im Grunde nidit überwunden ist. Nach seiner Genesung heißt es von Berthold: „Es war diese Zeit des Glücks gefährlich für ihn, der so lange durch seine Erziehung und seine Schwächlichkeit von der Welt in eigenen Wünschen und Leidenschaften abgehalten worden" (Werke III S. 292).
Nach allen Seiten hin lockt Neues und Berthold gibt sich ihm hin, er macht immer größere Pläne. Über „seine früheren Jahre (die vor der Genesung durch Fausts Wunderkur) suchte er in sich ein Vergessen zu breiten" (Werke III S. 293). Das Jahr „hatte ihm einen zweiten Lebenslauf geschenkt, und der wich immer weiter von jenem ersten ab, der mit Fingerling und Hildegard Haus und Handlung begründete" (Werke III S. 419).
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„Die Kronenwäditer"
Die Kontinuität des Lebensvollzugs, die audi in einer lebendigen und bewegten Entwicklung stets da sein muß, ist im Falle Bertholds nicht* gewahrt, auch für andere Romangestalten gilt das, ζ. B. für Appolonia, für die es Wilhelm Grimm besonders hervorhebt: „Ihr Charakter gehört aber audi zu denen, wo der Dichter etwas verschiedenartiges zusammengesetzt zu haben scheint, es wird sich nicht jeder den Raum zwischen der sdiönen Jungfrau, die uns von der nächtlichen Kirchenscene als eine edle Gestalt mit dem Lamme im Arm in Gedanken schwebt, bis zu dem zankenden Weibe mit einem nidit abzuleugnenden Zuge von Gemeinheit ausfüllen können" 6 4 ).
Bezeichnend ist es auch wie Berthold seine Frau kennen lernt. Bei seinem ersten Ausritt nach seiner Gesundung gibt er sich staunend der neuen bunten Welt hin, die er zum ersten mal sieht. Vor Augsburg, wo eine Fürstenhochzeit stattfindet, treibt ihn die Volksmenge fort „wie ein höheres Geschick" zu jenem Stadttor, wo er ein über sein zerrissenes Kleid weinendes Mädchen trifft, dessen er sich liebreich und hilfsbereit annimmt. Im Hause Annas, findet der Fremde Herberge. Ein Traum des schönen Mädchens, den sie dem Verwirrten erzählt, daß er nämlich für sie im Turnier gekämpft habe, bestimmt ihn, sich Waffen zu kaufen und an einem Turnierkampf teilzunehmen. Obwohl er sich nie vorher in Waffen geübt hatte, gewinnt er den ersten Preis. Durch eine zufällige Verwechslung lernt er Kaiser Maximilian kennen und gewinnt dessen Gnade. Momentan wie der Entschluß zum Turnier ist auch der, Anna zu heiraten. So kehrt er nach wenigen Tagen in seine Heimatstadt zurück, glücklich durch so vieles, was er sich vorher kaum hätte träumen lassen. Berthold ist ebenso wenig wie Anton, wie die Menschen von „Halle und Jerusalem", wie Dolores und ihr Gatte, Herr über sein Leben, vermag es planend und überschauend zu lenken, auch wenn das bei ihm weniger kraß in den Vordergrund tritt. Genauso stark wie in den bisher behandelten Dichtungen ist in den „Kronenwächtern" die Bindung der Menschen an ein ihnen nicht überschaubares Schicksal betont. Der Schicksalsverlauf ist zwar meist positiv gesehen, es wird der Glaube ausgesprochen an eine höhere Hand, die unsichtbar und weise die menschlichen Gesdiicke lenkt 65 ), alle Zufälle greifen wunderbar ineinander' 6 ), aber das ändert nichts daran, daß das Zentrum des Geschehens nicht im innermenschlichen Bereich liegt. Das wird auch deutlich an der anderen Mächtigkeit, die in diesem Roman herrscht: der des Blutes. Berthold ist an das Geschlecht der Hohenstaufen durch Blutsverwandtschaft gebunden. Nicht nur, daß ihn die Kronenwäditer dauernd beobachten, das ist rein äußerlich, auf wunderbare Weise ist er dem Haus der Hohenstaufen mannigfach verflochten. Ich erinnere an den geheimnisvollen Alten, der ihm den
„Die Kronenwächter"
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Schatz in dem Barbarossapalast zeigt, in dessen Ruinen er durch einen Zufall, der sich als Fügung erweist, gerät, dadurch sein Geschick bestimmend, oder daran, daß die Rüstung, die er sich, von einem Augenblickseinfall bestimmt, kauft, die ihm wie angegossen sitzt, einst einem Hohenstaufer gehörte (Werke III S. 207). Das Blut Antons, das ihm Faust bei seiner Wunderkur einpumpt, ist wieder Stauferblut. Mit der wunderbaren Bluterneuerung wird übrigens motiviert, daß das „zweite Leben" Bertholds so gänzlich vom ersten abweicht. Die Tatsache des Zerfalls der Lebenseinheit, bleibt damit aber dennoch bestehen. Die Bindung an die Staufer formt entscheidend Bertholds Lebensschicksal, wie audi das der anderen Glieder dieses Geschlechts. Daß in den Adern dieser Menschen Stauferblut fließt, genügt dazu, die Richtung ihres Schicksalsverlaufs festzulegen. Diese Feststellung meinte der Hinweis auf die Mächtigkeit des Blutes. Trotz der im Ganzen gesehen positiven Sicht des Schicksals fehlen aber audi hier nicht die dunklen, fatalistischen Elemente, welche die positive Einstellung, die Arnims bewußtem Gestaltungswillen entspringt, wiederum aufheben, zweideutig machen. So ist der T o d des alten Martin, der geschworen hat nichts über seine Tätigkeit als Kronenwächter zu sagen, die mechanische Folge des Verrats seines Geheimnisses. Als er seinen Eid bricht, verliert die Sonne ihren Glanz (Werke III S. 34). Man sucht ihm seine Furcht zu nehmen und erklärt diese Erscheinung natürlich, als eine Sonnenfinsternis. „ . . . mir aber ist es mehr als eine Sonnenfinsternis, was ich gesehen; vergebens ziehen die Tauben ihre Kreise um mich her, sie können mich nicht schützen" (Werke I I I 36).
Wenig später trifft ihn der Pfeil des Rächers ohne daß dieser auf natürlichem Wege vom Verrat des Geheimnisses erfahren konnte (Werke I I I S. 52, vgl. S. 43). Ein andermal greift ein Sturm ein und trägt zur Lösung einer heiklen Situation bei. Bedeutsam ist wie Arnim diesen Sturm ankündigt, darin die Bindung seiner Menschen an ein außer ihnen liegendes Geschehen betonend: „Eine Unbestimmtheit hatte alles ergriffen, die jeden lahmte, und wie Krankheiten im Menschen solche Vorgefühle von Erschöpfung voransdiicken, so schien diesmal ein gewaltsames Ereignis in den Lüften wie eine allgemeine Krankheit des Gestirns auf alle Bewohner zu wirken. Ein Sturm erbebte durch die Gassen der Stadt, den die innerlich Erschütterten bis jetzt überhört hatten" (Werke I I I S. 133)«?).
Entsprechend der Absicht des Dichters, ein Geschichtsbild zu geben, vor allem Welt zu schildern, stehen die Gestalten der in dieser Welt handelnden Menschen nicht im Vordergrund. Sehr schön formuliert das H . Riebe für Berthold:
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Das Problem des Schicksals in Arnims dichterischer Welt
„Berthold bleibt einer unter vielen und Vielem, Menschen und Dingen: die Welt ist nicht auf ihn hingeordnet, sondern er ist in sie hineingemalt wie in ein großes Bild"68). Wollte man hier aber bei der Feststellung einer Absicht des Dichters stehen bleiben, so hieße das an der Oberfläche verharren. Es wäre Arnim gar nicht möglich, den Menschen als ein selbständiges K r ä f t e zentrum mit der Fähigkeit zur Überschau über sein Leben und zu bewußter freier Entscheidung zu gestalten.
DAS P R O B L E M DES S C H I C K S A L S IN ARNIMS DICHTERISCHER WELT Wir haben immer wieder Gelegenheit gehabt zu der Feststellung, daß in der Weltsicht, wie sie Arnim in seinen Dichtungen beschwört, das Schicksal fatalistische Züge anzunehmen vermag, zum mindesten ist das Erlebnis einer Macht da, die die Bahnen des Menschen lenkt. Es liegen hier zweifellos Beziehungen zur Epoche vor, ich erinnere an das Schicksalsdrama wie wir es ζ. B. von Werner kennen, um nur den künstlerisch bedeutendsten Vertreter zu nennen. Aber idi möchte darauf nicht eingehen. Einer besonderen Hervorhebung würdig scheint mir dagegen eine andere Beziehung innerhalb des Arnimschen Werkes zu sein: das auffällige Neben- oder Gegeneinander von Occassionalismus, Zufallsbindung, Momentbindung, also einer extremen, bis zur Orientierungslosigkeit gehenden Freiheit des Menschen auf der einen und des strengsten Determinismus auf der anderen Seite, wie ihn die beschriebene Art der Schicksalsbindung verkörpert. Der Mensch, wie ihn Arnim sieht, ist gleichsam stets bereit, dem einen oder dem anderen Extrem zu verfallen, eben deshalb, weil er die ihm zukommende Position der Überschau, das, wovon der alte Goethe im Divan so erschütternd einfach und unvergeßlidi kündet 6 9 ), an die auf ihn eindringenden Mächtigkeiten abgibt. Er vermag nichts dem jeden Augenblick drohenden dialektischen — dialektisch, denn die beiden Einstellungen fordern und bedingen sich gegenseitig wie Thesis und Antithesis — Umschlag von einer gesteigerten Bedingungslosigkeit in äußerste Determiniertheit entgegenzusetzen.
ABSCHNITT ΠΙ RÜCKBLICK U N D NEUE FRAGESTELLUNG Idi möchte versuchen, einmal generalisierend „den Menschen Arnims" zu beschreiben: Er ist passiv, seelisch labil, der Stimmung und dem Augenblick unterworfen, neuen Eindrücken gegenüber extrem offen und empfänglich. Jeder einzelne Eindruck ist potentiell dazu fähig, in occassionalistischer Weise auslösendes Moment für weiteres Geschehen zu werden. Es fehlt ihm an Überschau und selbstverantwortlicher Lenkung seines Lebens, er ist nicht mehr „selbständiges Kräftezentrum 1 ), ein Mikrokosmos. Seine Persönlichkeit wie auch die Kontinuität seines Lebensvollzugs sind ständig vom Zerfall in isolierte Einzelheiten bedroht. Das Zentrum des ihn betreffenden Geschehens liegt außerhalb seiner, in einem ihm nicht mehr zugänglichen Bereich. Auf mannigfache Weise spüren wir die Bindung dieses Menschen an ein lenkendes und bestimmendes Geschick, an überpersönlidie Mächtigkeiten. Die verschiedensten Kräfte vermögen auf ihn einzuwirken. Es vermag sich ein dialektischer Umschlag von der Willkürlichkeit occasionalistischer Welteinstellung zu strengster Determiniertheit zu vollziehen, der uns nachdrücklich darauf hinweist, wie im Spiel der Kräfte und Gegebenheiten die Mitwirkung des Menschen letztlich ausgeschaltet ist. So wie der Mensch Arnims ist auch die Welt, in der er lebt, ständig vom Zerfall in isolierte Einzelheiten bedroht — die Episodenaufsplitterung, für die auch Arnims Dramatik ein eindrucksvolles Beispiel ist, spiegelt das in der äußeren Gestaltung —, bzw. sie verliert im Ineinanderfließen aller Gegensätze (wie im „Hollin") ihre Gliederung, hebt sich selbst in ihrer Wirklichkeit auf. Der Welt wie sie Arnim gestaltet fehlt die repräsentative Kraft, sie ist immer in hohem Grade zufällig. Die Gesetzlichkeit, die ich oben mit dem Begriff der Dezentralisierung bezeichnet habe, prägt sich deutlich in ihr aus. (Bedeutsam ist auch, wie Arnims Motivierung immer wieder den Zufall einbezieht.) Beides, der Zerfall der einheitlichen Welt und die beschriebene Position des Menschen stehen in engstem Zusammenhang, man kann sogar sagen in kausaler Beziehung. „Der Roman der Spätromantik nun verkündet das Ende der romantischen Not und e n d g ü l t i g e Ü b e r w i n d u n g d e r P r o b l e m a t i k (der Zerrissenheit und seelischen Labilität). Das romantische Individuum ist der Vereinzelung, in der sein ganzes Leid beschlossen war, entronnen", schreibt Gerhard Thrum 2 ). Arnim verurteilt an der Position Hollins,
Der Einzelne
104
an Dolores, die Vereinzelung und „hochmütige Isolierung".
Ich habe
in diesem und dem folgenden Abschnitt meiner Untersuchung darzustellen versucht, wie sich in Arnims Weltanschauung die Gegebenheiten seiner geistigen Situation ausprägen, die uns bisher als
Formkräfte
seiner dichterischen Welt entgegentraten, um diese dadurch tiefer zu verstehen. Dem bisher Erkannten kommt dabei eine gewisse selektive Funktion zu. Angeregt durch zahlreiche Äußerungen Arnims, die sich auf den Einzelnen beziehen, sowie durch Aussagen in der wissenschaftlichen Literatur, wie die eben zitierte von Thrum, und durch die Rolle, die die Kategorie des Einzelnen im Werke Kierkegaards spielt, dessen Romantikkritik ich viele Hinweise verdanke, war dabei leitend die Frage nach dem Einzelnen. Das was ich im positiven Sinne die Auffassung des Menschen als eines „selbständigen Kräftezentrums" 3 ) nenne, die Notwendigkeit, daß der Mensch versuche, Zentrum seiner Welt zu werden, d. h. nicht widerstandslos den verschiedenen Kräften und Mächtigkeiten hingegeben ist, hat Arnim in einen negativen Begriff, den des Einzelnen verkehrt. Der Weg der Verurteilung des Einzelnen, den Arnim einschlägt, ist nicht der einer echten Überwindung der uns bisher deutlich gewordenen Problematik. Es fehlt damit das innere Recht, Arnim positiv gegen die romantische Bindungslosigkeit und Zerrissenheit abzusetzen, wie man das immer wieder versucht hat 4 ), obwohl von außen gesehen bei Arnim etwa gegenüber der Frühromantik das Moment des Normativen sehr stark betont ist, die Lehre, die Verbindlichkeit beanspruchende Sentenz, sehr hervortreten. Von den Kapitelüberschriften in diesem und dem folgenden Abschnitt der Untersuchung dürfen wir sagen, daß sie Schlüsselbegriffe bezeichnen, die geignet sind, uns wesentliche Einblicke in Arnims dichterische Welt zu eröffnen. DER EINZELNE „Je tiefer wir in uns versinken, J e näher dringen wir zur Hölle, Bald fühlen wir des Glutstroms Welle, U n d müssen bald darin ertrinken; E r zehrt das Fleisdi von unserm Leibe, Und öde wirds im Zeitvertreibe, In uns ist T o d ! Die Welt ist Gott! O Mensch laß nicht vom Menschen l o s . . ( W e r k e V I I I S. 287).
Diese beschwörenden,
angstvoll
gesteigerten Verse aus der
„Gräfin
Dolores" spiegeln Arnims Verhältnis zum Einzelnen, den er lediglich
Der Einzelne
105
negativ bewertet. An zahlreichen Stellen seines Werkes läßt sich diese Einstellung belegen. Von seinem Aufsatz "Von der Nachahmung des Heiligen" sagt Arnim, daß er „die sichere Verzweiflung in allem, was den Einzelnen losreiße vom Allgemeinen" („Trost Einsamkeit" a. a. O. S. 12), ausspreche. „Nur der Ruchlose fängt eine neue Welt an in sich, das Gute war ewig, das Bestehende soll gut gedeutet werden" (Werke VII S. 106).
Arnim bindet den Einzelnen an die Tradition, ich führe das nicht näher aus, weil es sich dabei um eine Einstellung handelt, die er mit seiner Epoche teilt, welche immer wieder in der Romantikliteratur besprochen wurde. An der zu seiner Zeit durchgeführten Agrarreform beklagt Arnim, daß sie, „aus einem verbundenen Ganzen lauter Individuen" (Steig III S. 363) mache. „Wehe dem, der sich in eigener Lust der allgemeinen Liebe verschließt" (Werke VIII S. 146), heißt es in der „Dolores". Die Verneinung des Einzelnen geht so weit, daß Arnim seine eigenen Gedanken, von denen er einmal sagt, sie seien „so alt wie die Edda" (Steig III S. 401), ganz als Ausdruck eines überindividuellen Zusammenhangs sieht. „Nichts fängt mit dem einzelnen Menschen an und das originellste Werk ist doch nur eine Fortsetzung von etwas, das vielleicht gerade nicht so sichtbar geworden" (Steig III S. 299), schreibt er an Jacob Grimm. Die Wunderhornherausgeber nennt er „Werkzeuge einer allgemeinen Gesinnung" (Geiger a. a. O. S. 79). „Gott schafft und der Mensdi, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werkes" (Steig III S. 249), damit verteidigt er gegenüber Jacob Grimm seine zahlreichen Übernahmen vorgeprägten Erzählstoffes. „Wer sich dem Volke anschließt, empfängt dessen Geist und Erfindung" (Werke VIII S. 410), das ist Arnims Überzeugung, die er in dieser Weise einmal in der „Dolores" ausspricht. Ich komme auf die Bindung an das Volk zurück. Arnim verurteilt mit Beziehung auf Hollin den Einzelnen als den „stolzen einsamen Flüchtling zwisdien Himmel und Erde" (Werke VII S. 143). Er läßt Hollin einmal seine stolze Isolierung wie folgt aussprechen: „ . . . Da dachte idi wie viele Tausende unter mir (er blickt von der Höhe auf eine Stadt herab) mit demselben Ansprüche zum Leben, mit demselben Gefühle und Hoffen wie idi, sich im Mittelpunkte, um sich die Mensdiheit und für sich geschaffen glauben, idi dachte zum ersten mal und es grauete mir dabei, wie andere noch Lust zum Leben bewahren könnten ohne zu leben wie ich . . . alle ihre Bestrebungen kamen mir so nichtswürdig, so ehrwürdig der Schlaf vor, der sie alle gehemmt hatte" („Hollin" a. a. O. S. 57).
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Der Einzelne
Diese gefährliche und verurteilungswerte Haltung sucht Arnim noch einmal in der „Gräfin Dolores" darzustellen und zu überwinden. „Ihr Wille war ihr Mittelpunkt der Welt" (Werke V I I S. 416), heißt es von Dolores. An mehreren Stellen hebt Arnim ihre hochmütige Isolierung hervor (Werke V I I S. 69, 140, 384), den hochmütigen „Eigensinn, das törichte Vertrauen zu sich, an welchem sie endlich zugrunde gehen mußte" (Werke V I I S. 95). Er bemüht sich darzustellen, wie sich moralisch negative Eigenschaften mit dieser Haltung der Vereinzelung verknüpfen 5 ). Die Gemeinschaft der Ehe bedeutet hier für Arnim eine Möglichkeit zur Überwindung der Gefahr der Vereinzelung, er wertet sie ausdrücklich in dieser Weise: „Da stehet geschrieben, die Ehe soll ehrlich gehalten werden, die Übertreter richtet Gott und schlägt sie in ihrer Blüte darnieder, daß sie nicht Frucht bringen des Verderbens. Sage keiner, daß ihn Gott versuche, daß er allein sei: wo zwei in seinem Namen versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen. Ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gelockt wird" (Werke VII S. 143). Die Normen des sittlichen Verhaltens, welche in der „Gräfin Dolores", ebenso im übrigen Werk Arnims, bedeutend werden, sind alle im Sinne der Verpflichtung gegenüber dem anderen Menschen, gegenüber der Gemeinschaft zu verstehen. So ist es wichtig, daß Dolores und ihr Gatte ihre Verfehlungen im Dienst am Mitmenschen büßen, daß an Klelia, dem Urbild der Tugend, vor allem der tätige Einsatz für andere Menschen hervorgehoben wird. Es gelingt Arnim aber nicht, die als sittliche Bindung an die Gemeinsdiaft (Gemeinschaft als Ehe, wie im weitesten Sinne verstanden) verkündete Uberwindung der Gefährdung Gestalt werden zu lassen. Auffällig ist, wie audi Kluckhohn hervorhebt 6 ), daß die Beziehung zwischen dem persönlichen Erleben der Liebe und den Forderungen des Vaterlandes, so oft im Arnimschen Dichten zum Problem wird. Der Einzelne hat sich stets hier zu beugen 7 ). In „Halle und Jerusalem" werden die Menschen schuldig, weil sie sich „in eigener Lust der allgemeinen Liebe verschlossen", aber auch wenn hier Olympie und Lysander die heiligende und reinigende K r a f t der Ehe erfahren, so steht doch weit stärker als die Gemeinschaftsbindung, die Bindung des Einzelnen an die Welt des Religiösen im Vordergrund. Das zeigt sich an dem dort wichtigen Gegensatz von himmlischer und irdischer Liebe. Es ergab sich jedoch die gleiche Problematik wie in dem Doloresroman: Sündenleben und Leben der Buße brachen als unverbundene Hälften auseinander. Die Überwindung der Vereinzelung und ihrer Gefahr, man denke vor allem an die Gestalt Cardenios, der sich „lächelnd der Welt entgegenstellt", sich als „Gottes
Der Einzelne
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Richtsdiwert hier auf Erden" fühlt, ist wiederum nicht künstlerische Gestalt geworden. Wir wollen nun nicht bei der Feststellung eines künstlerischen Mangels stehen bleiben, sondern nach seinen tieferen Ursachen fragen. In Übereinstimmung mit seiner Epoche hat Arnim wieder die Bindung des Einzelnen in größere Zusammenhänge erkannt 8 . Er verwirft mit Recht die „Freiheit und konstitutive Macht des Ich" 9 ), aber er verabsolutiert die wieder neu entdeckten Bindungen, so daß der Einzelne audi da, wo sein Fürsichsein eine unbedingte Forderung sein sollte, nämlich im Bereich des Sittlichen und Religiösen 10 ), negiert wird. Das sittliche Verhalten wird einseitig von der Gemeinschàftsbindung her bestimmt, welche mit ihren unbedingten Forderungen dem Menschen die freien Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt, ja im Grunde die eigene Entscheidung in sittlich-moralischen Konfliktsituationen überhaupt abnimmt, weil ja die rechte Entscheidung von vornherein feststeht, nur der „Abtrünnige" kann hier irren. Die schöpferische Leistung, die es auch auf diesem Gebiete gibt, wird geleugnet. W o es kein persönliches Verdienst, keine Bewährung im Angesicht der Ewigkeit mehr gibt, da gewinnt die Macht des Schicksals, der Göttlichen Weltenlenkung absolute Bedeutung. Arnim waren diese Konsequenzen nicht bewußt. Dazu daß wir sie ziehen dürfen, geben uns seine dichterischen Gestaltungen das Recht. Wichtig zur Bestimmung der Situation des Einzelnen im Werk Arnims ist die in bemerkenswerter Veränderung in die „Gräfin Dolores" übernommene Vorrede zu „Hollins Liebesleben" („Hollin" a. a. O. S. 5 f, „Dolores" Werke V I I I S. 143 ff). Die allgemeine Klage über die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge in der Hollinvorrede wird in der „Dolores" zur Anklage des Einzelnen, nur f ü r ihn trifft jetzt noch die Vergänglichkeit zu. Ihm wird die Unvergänglichkeit pflanzlichen Seins gegenübergestellt und die dem Menschen gegebene Möglichkeit genannt, sich eine solche Seinsweise zu erwerben, indem er sich in die Gemeinschaft des Volkes einfügt. An der Gegenüberstellung des Einzelnen und eines vegetativ gebundenen Seins wird deutlich, was Arnim an der Situation des Einzelnen verwirft, oder besser gesagt fürchtet: die Orientierungslosigkeit, die U n gesichertheit, den Zwang da zu handeln, wo der Ausgang der H a n d lung ungewiß ist, das, was wir als freie Entscheidung bezeichnet haben. Isoliert steht in dieser Beziehung im Zusammenhang des gesamten Arnimschen Werkes die Novelle vom „tollen Invaliden auf Fort Ratonneau". Darüber hinaus bildet sie auch eine Ausnahme im Umkreis der romantischen Novellendichtung 1 1 ). In einem Geschehen, das zunächst ganz von einem finsteren Fluch bestimmt scheint, tritt eine Frau
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Die Geborgenheit in der Gemeinschaft des Volkes
in einer personalen T a t dem dunklen Schicksal entgegen, zereißt die Fesseln, mit denen es ihr und ihres Mannes Leben umsponnen hatte. Die Novelle erinnert darin an Kleist 1 2 ). Sie schreitet dem auf sie gerichteteten Kanonenlauf entgegen als sich, ihr Mann in Wahnsinn gegen eine ganze Stadt allein in einem Fort verschanzt hat. „Was siehst du, Weib! brüllte Francoeur, sieh nidit in die L u f t , deine Engel kommen nidit, hier steht dein Teufel und dein T o d . — Nicht T o d , nicht Teufel trennen mich mehr von dir, sagte sie getrost und sdiritt weiter hinauf die großen Stufen" (Werke II S. 290).
Ihre kühne Entschlossenheit und das Durchhalten der Liebe, da, wo sich alles zu verwirren scheint (man denkt hier an die Marquise von O.), besiegen den Wahnsinn Francoeurs. Er bläst die schon brennende Lunte aus und fällt seiner Gattin weinend in die Arme. „Liebe treibt den Teufel aus", damit schließt die Novelle. Es kann in ihr deutlich werden, was oben abstrakt über die freie Entscheidung des Einzelnen gesagt wurde. Vielleicht kann man sogar sagen, es sei die Last des Bewußtseins überhaupt, die Arnim negativ empfindet, denn Bewußtsein setzt ja immer eine Trennung zwischen dem Einzelnen, als dem Bewußtseinsträger, und der Welt, dem allgemeinen Sein, voraus. Eine Stelle aus den „Kronenwächtern" scheint mir auf die Berechtigung einer solchen Deutung hinzuweisen: „Selige T a g e der Krankheit, die Welt liegt abgestorben fern, aber in uns blüht alles und regt sidi in seinen Übergängen" (Werke I V S. 109).
Das Sein in der Welt, das Trennung und Bewußtsein bedeutet, liegt fern, die Krankheit verbindet wieder, weil sie das wache Bewußtsein ausschaltet, mit jenem Grunde, in dem noch alles ununterschieden ist. Auch Arnims heftigste Abneigung gegen die Philosophie ist wohl hier heranzuziehen. In jenem Preis eines pflanzenhaften Seins reiht sich Arnim wieder in eine allgemeine Richtung seiner Zeit ein 13 ).
DIE GEBORGENHEIT IN DER GEMEINSCHAFT DES VOLKES Die Gemeinschaft des Volkes spielt in Arnims Dichten und Denken eine entscheidende Rolle. In der Vorrede zur „Trost Einsamkeit" sagt Arnim, er habe in seiner Einsiedlerzeitung „die hohe Würde alles Gemeinsamen und Volksmäßigen" darstellen wollen. Er bezeichnet sich selbst als der „geringste Diener seines Volkes", vor dem er sich „demütig" niederwerfe („Trost Einsamkeit" a. a. O. S. 12). Von dem, der „viel und innig das Volk berührt", heißt es im Aufsatz „Von Volksliedern" :
Die Geborgenheit in der Gemeinschaft des Volkes
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„ . . . ihm ist die Weisheit in der Bewährung von Jahrhunderten ein offenes Buch in die Hand gegeben, daß er es allen verkünde, Lieder, Sagen, Sprüche, Geschichten und Prophezeihungen, Melodien; er ist ein Fruchtbaum, auf den eine milde Gärtnerhand weiße und rote Rosen eingeimpft zur Bekränzung." „Ohne Arbeit" ernte er „im gottähnlichen Leben" (Werke X I I I S. 478)").
Es ist Arnims größte Sehnsucht, zum Volksdiditer zu werden: „Ich würde es als einen Segen des Herrn erachten, wenn idi gewürdigt würde, ein Lied durch meinen Kopf in die Welt zu führen, das ein Volk ergriffe!" (Steig III S. 135),
schreibt er an Jacob Grimm. Er ist stets bemüht, sich ans Volk anzuschließen. Die zahlreichen volkstümlichen Elemente, die sich in seinem dichterischen Werk finden1*) (aus den verschiedensten Gebieten wie Sitte und Brauch, Sprache, Erzählgut, Liedgut etc.), zeugen außer seinen theoretischen Äußerungen für dieses Bemühen. Leider kann in dem hier gesteckten Rahmen die Bedeutung des Volkes für Arnim nicht erschöpfend behandelt werden. Es steht hier nur in Frage auf welche Weise sich Arnim diese Berührung des Volkes, die Einordnung des Einzelnen in seine große Gemeinschaft denkt. Es gibt darüber eine Stelle in seinem Werk, die das mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausspricht, nämlich den Schluß der Hollinvorrede aus der „Dolores": „ . . . Die Lilie erhebt ihr hohes weißes Haupt, aber des Menschen Haupt, das unter ihr ruhet, erhebt sich nicht wieder; jede Lilie scheint aber der anderen gleich, die im vorigen Jahre abblühte, ist es gleich eine andere; denn sie deuten aufeinander und leben durch einander fort: so der fromme Mensdi, der in der Gesinnung seines Volkes und mit ihm fort lebt, treu seinen Vätern in Tat und Glauben; er kennt den T o d nicht und braucht ihn nidit unter Blüten zu verstecken . . . " (Werke VII S. 144 f.).
Die Einordnung geschieht unter dem Bilde der Pflanze, d. h. es ist eine absolute Beugung des Einzelnen unter die Gesetzlichkeit des Volkes, denn der Bereich auf den metaphorisch dabei hingewiesen wird, ist jener Bereich des Lebendigen, in dem strengste Gebundenheit herrscht 16 ). Es ist ein Zurücktauchen des Einzelnen in einen Bereich der Geborgenheit, aus dem er sich zu Unrecht gelöst hat. Der Einzelne überwindet seine Not, erlangt Unsterblichkeit, aber um den Preis seines individuellen Seins. Radikalste Verurteilung des Einzelnen, wird uns auch hier wiederum spürbar. Damit stimmt überein, daß das Volk bei Arnim eine Rolle spielt als jener Bereich, der noch den Ursprüngen des Lebens nahe steht, dem regenerierende Kraft zukommt (vgl. „Von Volksliedern" Werke X I I I S. 441 ff.).
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Die Gebundenheit des Einzelnen in Arnims Bild der Vergangenheit
DIE GEBUNDENHEIT AN DIE ZEIT Wir wissen von Arnims Epoche, daß in ihr auf allen Gebieten der historische Sinn erwadite. So ist es nicht verwunderlich, daß Arnim die Gebundenheit des Einzelnen an seine historische Situation mit ihren Problemen und Nöten betont', die Gebundenheit an die Zeit wie er es nennt: „Der Einzelne achtet sich reicher an Vertrauen als seine Zeit, und achtet sidi groß, sich ihr zu entziehen. Aber keiner vermag es, seiner Zeit zu entfliehen, wie nodi keiner seine Mutter verleugnen konnte ehe er geboren" (Werke V I I S. 143). „Tor, der du absprichst über deine Zeit, steckst du denn nicht mit deinem ganzen Wesen so fest darin als ewig unsere Brust die Luft der Atmosphäre einatmen muß — und steckte auch die Pestilenz darin. Verkürze auf die H ä l f t e dir das Leben, die letzte Hälfte ist so wenig frei von deiner Zeit wie jene erste" (Werke X V I S. 168).
Aber audi hier neigt Arnim dazu, die Bindung zu verabsolutieren* die Rolle, die dem Einzelnen im Geschichtsverlauf zukommt, zu leugnen. (Die Geschichte ist ja keine ruhige und festgelegte Entwicklung, die sich von selbst vollzieht, sie wird immer wieder fortgetrieben durch T a t und Entscheidung Einzelner, audi wenn die Zeit gerade „reif" für diese Taten und Entscheidungen ist, wenn diese „in der Luft liegen".) Das Mütterliche wird an der Zeit betont, die Geborgenheit, die sie bietet. (Vgl. Werke I I I S. 417, Werke V I I I S. 125.)
D I E G E B U N D E N H E I T DES E I N Z E L N E N I N ARNIMS B I L D D E R V E R G A N G E N H E I T Den Sinn für die Vergangenheit teilt Arnim mit seiner Epoche, ebenfalls die Bewertung der vergangenen Zeit, die er, ein positives Gegenbild, über die eigene stellt 17 ): „Das Himmlische war damals nodi nicht so weit der Erde entrückt, sondern wohnte vertraulich unter den Wahrhaften" (Werke I I I S. 142).
Die historische Entwicklung wird als Abstieg gesehen: „Rätselhaftes, trostloses Geschick, seine Heiligen hat uns der Himmel entzogen, sie wandeln nicht mehr unter uns, die Engel verstecken sich den ernsteren Tagen, und die Gewalt der Jahrhunderte fällt wie ein Fels unerwartet, oft unerkannt auf die Brust des Erwachsenen, der gegen sie immer ein Neugeborener ist, und wer ist der Engel bedürftiger als wir Abkömmlinge großer Begebenheiten" (Werke I I I S. 110).
Für diese Höherbewertung lassen sich verschiedene Gründe anführen. Einer davon ist, daß in der vergangenen Zeit, wie sie Arnim sieht, alle Einzelheiten ihren fest bestimmten Ort haben, daß sie ein einheitlich formendes Zentrum kennt.
Die Gebundenheit des Einzelnen in Arnims Bild der Vergangenheit
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„Eine Zeit, welche durch ihr Bestreben zum Allgemeinen alle besonderen Ansprüche aufhebt" (Werke IV S. 402), nennt er in seinen Notizen zur Fortsetzung der „Kronenwächter" das Mittelalter in richtiger Erkenntnis des Übergewichts des Normativen in jener Zeit. „O mein Gott, wo sind die alten Bäume, unter denen wir nodi gestern ruhten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen? — was geschieht?" (Werke XIII S. 444), fragt er in seinem Aufsatz "Von Volksliedern", darin wieder den Gedanken der gegenwärtigen Ordnungslosigkeit und damit den der Isolierung des Einzelnen aufgreifend. In den „Kronenwächtern" heißt es: „ . . . das Jahr ist uns eine Tat, die uns vom Beginnen bis zum Schluß unter Arbeit und Festen an sich fesselt, als gehörten wir notwendig zur Welt, ja wir fühlen uns als Mitschöpfer und Mitgeschaffene zugleich" (Werke III S. 415). Der Einzelne f a n d in der Vergangenheit in der Bindung an einen naturhaft gesehenen Jahreslauf Geborgenheit und sinnvolle Einfügung in das Ganze. An anderer Stelle wird die Bindung an die Heimat, an die Sdiolle betont: »Dieses war das Segensvolle der ruhigen Zeit Europas, daß jeder Stand und jede Bestimmung sich genügte, durch Jahrhunderte finden wir dieselben Bauernnamen auf den Höfen, selbst in unseren Gegenden; jeder hatte eine feste Heimat und auch zum ärmsten Landstriche wurde eine unauslöschliche Vorliebe den Bewohnern angeboren und anerzogen!"18) Der gefährdete Einzelne findet Sicherung in der Bindung an die Erde: „ . . . die Sonne und der Pflüger kennen einander und tun beide das ihre zum Gedeihen der Erde. Fest fortschreitend, von allen geschätzt und geschützt, sehen wir die Tätigkeit, die sich zur Erde wendet; sie ist auch dauernd bezeichnet und gründet solange sie sich selbst treu bleibt, mit unbewußter Weisheit das Redite, das Angemessene, im Bau des Ackers wie des Hauses, in der Beugung des Weges wie in der Benutzung des Flusses. Die Zerstörung kommt von der Tätigkeit, die sich von der Erde ablenkt." (Werke III S. 3). „Als sie auseinandergegangen, mußte Berthold eingestehen, so seltsam dieses Völkchen sei, so stehe doch jeder fest auf seinen Füßen und wisse seine Bahn" (Werke III S. 404), heißt es in den „Kronenwächtern" über die Bewohner der Kronenburg. Bei der Beschreibung eines alten Bildes im „Wintergarten" sagt Arnim: „ . . . keiner von allen schaut in die Ferne, jeder hat da sein befriedigtes Leben, seinen Genuß und Vergnügen" (Werke XII S. 244). Auch die Schilderung der freien Reichsstadt Augsburg in den „Kronenwächtern" ist hier anzuführen:
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Die Idee der Welt als eines Organismus in Arnims Epoche „ . . . bis in Kleinigkeiten macht sich eine freie Stadt kenntlich, schon in den herrlichen Glocken tönts entgegen aus der Ferne, da darf keine gesprungene schnarren, dann kommen viele zierliche Gärten, und auch im ärmsten ist nodi etwas für den Anblick getan, die Zäune verziert und angestrichen; die Stadtmauern und T o r e sind aber vor allem gut erhalten, und aus den reichlichen Häusern strecken sich überall die Gewerbszeichen wie Siegesfahnen heraus, und die Wirte stehen ruhig und fest in den Türen, sie wissen, daß sie mit zu regieren haben." (Werke I I I S. 234).
Der Mensch der Vergangenheit steht deshalb so „fest auf seinen Füßen", schaut nicht „sehnsuchtsvoll in die Ferne", weil er sich als Teil einer großen, reich in sich gegliederten Lebenseinheit fühlt. Ich glaube, das ist in den wenigen Stellen, die ich ausgewählt habe, spürbar geworden. Die Negation des isolierten Einzelnen, seine Einordnung in übergreifende, bergende Bereiche zeichnet sich deutlich in Arnims Bild der Vergangenheit ab.
E X K U R S : DIE IDEE DER WELT ALS EINES ORGANISMUS IN ARNIMS EPOCHE Ich habe darauf hingewiesen, daß Arnim in der Hochschätzung des Vegetativen, des pflanzenhaften Seins, nicht allein steht. Es würde eine eigene Untersuchung beanspruchen, wollte man alle entsprechenden' Belege sammeln. Allein die Häufigkeit der Pflanzenmethaphern, die seit Herder schon, unübersehbar, bis auf unsere T a g e nachwirkend, die Sprachformung beeinflussen, vermitteln uns den deutlichen Eindruck einer entsprechenden Denk- und Lebenseinstellung. Wir müssen uns darüber klar sein, daß den Wortprägungen, die dem Bereich des Pflanzlichen, Organischen entnommen sind, jede Unverbindlichkeit mangelt. Eine echte Erschütterung durch das Erlebnis der Einsamkeit menschlichen Schaffens spüren wir aus der Betrachtung des Straßburger Münsters in Brentanos „Chronika": „Besonders aber hat mein H e r z der hohe Münsterthurm erschüttert, als idi aus einem schattigen Baumgang herfürtrat und er so allmächtig vor mir in die Wolken ragte, alles Menschenwerk hat etwas erschrekendes, und das Gemüth muß lange darauf verweilen, biß es Trost findet. Die gewaltige Künstlidikeit dieses wunderwürdigen Thurmes hätte midi beinahe wieder niedergeschlagen, und idi gedachte bei mir mit Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen in finstern Wäldern und bei den stürzenden Waßerfällen in einsamen Thälern recht in der Einsamkeit ganz verlaßen, audi wohl gar hungrich geseßen und midi doch nicht so bewegt gefühlt, als bei dem Anblick des Münsterthurms. Wenn ich die Blätter und Zweige der Bäume betrachte, so frage idi nicht, wie sie da hinaufgekommen, und ersdireke nidit, wenn sie sich bewegen und hin und her neigen mit rauschen, aber wenn idi so den ungeheuren Thurm ansehe mit den vielen Säulen, Thürmlein und Schnörkeln, die immer
Die Idee der Welt als eines Organismus in Arnims Epoche
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aus einander steigen und durchsichtig sind wie das Gerippe eines Blattes, adi, so kommt es mir vor wie der Traum eines tiefsinnigen W e r k meisters, vor dem er wohl selbst erschrecken würde, wenn er erwachte und ihn nun ausführen sollte, und wie nun so ein hohes Werk durch vieler Menschen Hände vollendet, ja an dem auch mandies Leben sich tod gearbeitet hat, wie dieser Thurm dasteht, stolz und eisern, wie er kein Herz hat und keinen Verstand, ja wie er ein redit unvernünftiger Thurm ist und dodi da steht, als wäre er aus sich selbst hervorgewachsen und es keinem Menschen zu danken brauche, das ist, was den Anblick mir so erschütternd machte, da doch in den Blumen und Bäumen, ja selbst in den harten Felsen eine Seele zu wohnen scheint, welche gleich dem Menschen athmet und fühlt, sich im Frühling mit ihm erfreut und im Winter mit ihm trauert" 1 9 ).
Wie anders hatte rund drei Jahrzehnte vorher Goethe das Straßburger Münster angesehen. Es muß sich dodi eine bedeutsame geistesgeschichtliche Wandlung vollzogen haben, daß jemand jetzt so sprechen kann. Das Brentanozitat vermittelt uns einen Eindruck von dem, was die Zeit dazu zwingt, sich dem Bereich des Organischen zuzuwenden, um das Stichwort zu geben, das in der Romantikforschung bereits bedeutend geworden ist. Man befindet sich gleichsam ständig auf der Flucht vor sich selbst, erschrickt vor den eigenen Möglichkeiten, die, im Straßburger Münster in grandioser Steigerung verkörpert, bei einer Generation vorher Entzücken auszulösen vermochten. Man ist nun bereit all diese Möglichkeiten der einen zu opfern, sich vom süßen Gefühl des Geborgenseins im organischen Zusammenhang der Natur durdidringen zu lassen, Trost zu finden. Die Brentanostelle ragt in ihrer radikalen Offenheit und Deutlichkeit unter ähnlichen Aussagen dieser Zeit hervor, vermag blitzartig sonst verborgene Zusammenhänge zu erhellen 2 0 ). „Die Welt wird vom Organismus aus gesehen und der Organismus erwächst in stufenweiser Steigerung aus den Potenzen des Universums", formuliert Alfred Kühn in einem Vortrag 2 1 ), um darzutun, wie sehr der Biologe sich von romantischer Geistesart angezogen fühlen mußte. Görres' „Wachstum der Historie" überschriebene Abhandlung 2 2 ) darf als schlagende Erläuterung dieser Aussage gelten. Görres schildert die Entwicklung der Menschheit zu ihrem gegenwärtigen Zustande als eine stufenweise organische Entfaltung, wobei nodi im Hintergrund die Auffassung der Geschichte als eines naturhaften Kreislaufs steht. Bis in alle Einzelheiten ist eine entsprechende Terminologie konsequent durchgehalten 28 ). „Und wahrlich wenn beides, Naturleben und Geistesleben nicht ganz im Einklang, nicht durch und durch dasselbe wären, dann wäre alles nichts" 2 4 ).
Mit diesen Worten verleiht Bettina von Arnim der gleichen geistigen Haltung Ausdruck. 8 Rudolph, Achim von Arnim
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Das Typische
Das, was man die Organismusidee 25 ) nennen kann, die Auffassung des organischen Zugehörens des Menschen in all seinen Äußerungsformen zur Natur und zum Kosmos, findet sich bereits bei Herder, den man hierin als geistigen Vater der Romantik bezeichnen darf 28 ). Wenn wir die Romantik als eine einheitliche geistige Bewegung erfassen wollen, müssen wir zwei wesentliche, zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehende, Tendenzen in gleidier Weise berücksichtigen. Einmal die äußerste Ungebundenheit des souveränen Geistes, das freie Spiel der Möglichkeiten, das, was die Stichworte romantische Ironie, ästhetische Lebenseinstellung, magischer Idealismus, andeuten mögen. Zum anderen die Sicht der Welt als eines organischen, in allen Einzelheiten aufeinander abgestimmten Ganzen, in das man sich willig zum eigenen, wie zum Heile des Ganzen einfügen muß. Die erstgenannte Tendenz neigt dazu, selbst in ihrer extremsten Steigerung, in die andere, in die Gebundenheit umzuschlagen. Das, was hier, von dem für das Besondere Arnims sinnvolleren Leitgedanken der Frage nach dem Einzelnen ausgehend, erörtert wird, ließe sich weitgehend unter dem Stichwort der Organismusidee fassen. (Vgl. das, was ich die Lebenseinheit einer vergangenen Zeit genannt habe.) Immer wieder geht es ja auch hier darum, daß sich der Einzelne in ein durdiformtes Ganzes einfügt. Arnims Zentralproblem, das der Isolierung des Einzelnen, ist ein Problem, das seiner Epoche nicht fremd ist, seine dichterische Welt ist hierin, darauf wollte der Exkurs hinweisen, von der Epoche mitbestimmt. DAS T Y P I S C H E In den „KronenWächtern" bringt man den erschlagenen Martin nach der Badestube. „Da ward ein Aufsehen", erzählt Arnim, „denn es war ein Sonnabend, und alle Handwerker wollten zum Sonntag reinlich erscheinen, die rot angelaufenen Gestalten drangen neugierig aus der dampfenden Badestube heraus, mancher mit Schröpfköpfen besetzt, ein anderer mit halb beschnittenen Haaren, und allen tat der alte Martin leid, weil er ein stattliches Ansehen im Tode bewahrte" (Werke III S. 53).
Als der Wunderdoktor Faust eine Bluttransfusion vornehmen will, erkundigt sich die Mutter des Patienten was es mit dieser Transfusion „auf sich habe, wie sie gekocht und abgedämpft werde" (Werke III S. 166). Während Faust den Kranken untersucht, steht sie im Hintergrund und streicht sich verlegen an den Armen auf und nieder (Werke III S. 165). Als Berthold, der Sohn, eine Reise unternimmt, gerät sie in größte Sorgen über das, was einem jungen Menschen (Bert-
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hold ist über 40 Jahre alt) alles in der Welt zustoßen könne, sie packt ihm die überflüssigsten Dinge ein und kann mit ihren guten Ratschlägen gar nicht zu Ende kommen. Der ganze Stolz der Äbtissin des Nonnenklosters, einer „alten, sehr lebendigen, dürren Jungfrau von gar unermüdlicher Tätigkeit" ist ihr Garten und sie verzeiht den Novizen jede Unart, wenn sie nur im Garten mitarbeiten, die gewonnenen Früchte sorgsam dürren, und in selbst gewirktem Honig einmachen, die Kräuter für die Armenapotheke trocknen und kleinreiben (Werke III S. 90). Die Weiber der „KronenWächter" kommen, um ihren Männern weiße Wäsche zu bringen (Werke III S. 403), Konrad und Anton, die Staufernachkommen, machen auf der geheimnisvollen Kronenburg unbekümmert ihre Jungenstreiche, schmieren dem bewachenden Löwen Butter auf die Nase, daß er sich eine ganze Woche danach die Nase leckt (Werke III S. 433). Zahllos ließen sidi aus den Dichtungen Arnims, solche Züge liebenswürdiger oder behaglicher Alltäglichkeit, uns vielfach durch eigene Beobachtungen vertraut, aufzählen. Mitten aus dem Leben gegriffen scheinen uns Gestalten wie die alte Sdiaffnerin im herzoglichen Schloß in der Erzählung „Martin Mártir", die dem jungen Edelknaben über das Haar streicht, wenn er mit einer Bestellung zu ihr kommt, dem sie auch wohl einen Bissen extra zusteckt, die der jungen Magd befiehlt, die Schuhe auszuziehen, damit sie sich diese beim Scheuern des Fußbodens nicht verdirbt, oder in den „Kronenwächtern" der Geistliche, der an einem kalten Januartag frierend aus der Kirche kommt und deshalb nur mit Mühe zu bewegen ist, sogleich eine Taufe vorzunehmen und Berthold, der das Findelkind zur Taufe bringt, in seiner unbeholfenen Junggesellenart aber in der Eile vergessen hat, sich einen Namen für den Täufling zu überlegen, weshalb er ihm in der Verlegenheit seinen eigenen gibt. In der „Päpstin Johanna" schildert Arnim wie die Geistlichen, die Pflichten ihres Standes vergessend, nach ritterlichen Ehren streben und Turniere ausfechten. Statt der hohen Frauen, um deren Gunst der Ritter kämpft, läßt bei diesen Turnieren zu unserer Verblüffung Arnim als Beifall spendende Zuschauer die Pfarrköchinnen auftreten (Werke X I X S. 347). Idi glaube, dieser absonderliche Einfall läßt sich nur aus seinem Streben nach lebensechten Schilderungen verstehen. Züge des Menschlich Allzumenschlichen hält Arnim fest. Der geistliche Herr im „Pfalzgrafen" betet einige Vaterunser, um die zum Weichkochen von Eiern nötige Zeit abzumessen (Werke IX S. 10). Der Edelknabe Kurt in „Martin Mártir" trinkt heimlich vom Portwein seines Herrn. Die goldene Ehrenkette, die in der gleichen Erzählung 9'
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der Herzog bei einer allgemeinen Komödie seinem H o f k a p l a n , dem ahnungslosen Objekt des Witzes, umhängen läßt, ist aus „Sparsamkeitsgründen" inwendig aus K u p f e r . Im „ P f a l z g r a f e n " drückt der alte T ü r steher, wenn man ihm einen guten Bissen oder eine Pfeife T a b a k bietet, ein Auge zu und läßt trotz strengen Verbotes einen Besucher passieren. Man denke auch an den Superintendenten in der „Kirchenordnung", der nach der Kirdien- und Schulvisitation einem guten Sdimaus nicht abgeneigt ist und von all dem Guten gesättigt, es nicht unterlassen kann, seinem Amte gemäß salbungsvolle geistliche Reden zu führen: „Ihr habt wohlgetan, spricht Paulus, denn idi bin erfüllet, da idi empfing, was von eudi kam, ein süßer Geruch, ein angenehmes O p f e r " (Werke I X S. 147).
Ihm ist ein würdiges Seitenstück der Prediger im „glücklichen Färber und den drei liebreichen Schwestern", der seine Töchter an den M a n n bringen will und sich, als der in Aussicht genommene junge Mann schon gebunden ist, sofort wieder in seinen Predigerton zurückzieht, der ihm bei jeder Gelegenheit zu Gebote steht. Man könnte mit dieser Aufzählung seitenlang fortfahren. All die Züge, von denen wir nur weniges andeuten konnten, sieht Arnim liebevoll mit einer epischen Behaglichkeit, man spürt, wie er seine Freude an jeder Kleinigkeit hat. So verstehen wir audi, warum ihm das gelingt, was seinen Romantikergenossen fehlschlug: vergangenes Leben in seiner All tags Wirklichkeit glaubhaft zu beschwören. Man denke nur an den Eingang der „Kronenwächter" oder an den der Erzählung „Der P f a l z g r a f , ein Goldwäscher". "Wir berühren hier jenen Punkt, an dem Arnims Leistung von zeitlosem R a n g ist. Zeitlosigkeit, das bildet auch das Stichwort f ü r unsere folgenden Überlegungen. Wenn wir versuchen, alles, was uns Arnim in seinen Bildern deutscher Vergangenheit (es handelt sich bis auf die Ausnahme der „Päpstin J o h a n n a " immer um die beginnende Neuzeit, die Zeit der Reformation) vor Augen stellt, zu einer gemeinsamen Aussage zusammenzufassen, so kann diese nur lauten: es war ja schon zu allen Zeiten so. Ob im Wams und Barett oder in moderner Kleidung, menschliches Leben hat sich immer in gleicher Weise geäußert, die kleinen und großen Leidenschaften, die Sehnsüchte und Wünsche haben immer gleiches Ziel. D a s ist beinahe eine Banalität, die aber bei der Betrachtung des Arnimsdien Werkes einmal ausgesprochen werden muß, denn erstens sieht Arnim die vergangene Zeit immer aus der Perspektive des Alltags, gleichsam als einer unter den vielen damals lebenden Menschen. D a s große Geschehen, das, was man sub specie aeternitate sehen kann, kümmert ihn nicht. Zweitens sind alle Menschen, die er schildert,
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Typen, nirgends haftet ihnen etwas Besonderes, Einmaliges an. Es sind Menschen, die einer durch den andern fortleben können, entsprechend dem Liliengleichnis (Werke VII S. 143 f.), die nur Glieder in der immergleidien Kette menschlichen Seins sind. Man sucht vergeblich im ganzen Werk Arnims nach Gestalten, die mehr als allgemein menschliche, wiederholbare Eigenschaften besitzen. Die großen verehrten Gestalten der Vergangenheit, wie Dürer oder Rembrandt hebt er nidit heraus. Ich erinnere an die Verserzählung „Rembrandts Versteigerung" aus dem „Landhausleben", wo Rembrandt nichts mehr als ein biederer Bürger ist, der in seiner Werkstatt dunkel sitzt, weil die Frau die Lampe mitgenommen hat, um sich beim Sdieuern des Fußbodens damit zu leuchten, der einem fremden Besucher stark „duftenden" Käse anbietet. Es sind besdieidene Menschen, die wie Handwerker ihre göttliche Begabung nur wie eine Geschicklichkeit betrachten. In seiner Menschlichkeit sieht er audi Raffael (s. seine Erzählung: „Raffael und seine Nadibarinnen"). Man gewinnt den Eindruck als besitze Arnim ein festes Repertoire von Gestalten, mensdilichen Einzelzügen und Motiven, aus dem er immer wieder schöpft. Man' hat immer wieder, besonders im Zusammenhang mit seinem historischen Erzählen, Arnims Realismus hervorgehoben 27 ) oder wenigstens seinem Werk eine Übergangsstellung zwischen Romantik und dem kommenden Realismus zugewiesen. Angesichts des bisher Erörterten erweist sich die ganze Problematik solcher Begriffsbildung und einer solchen immer wieder mitgeschleppten Aussage. Der Realismus, wenn man von der Wortbedeutung ausgeht, will Wirklichkeit erfassen. Das ist in letzter Konsequenz der Wunsch, die Einmaligkeit dessen, was sich dem die Welt Beobachtenden darbietet, festzuhalten. Aber selbst wenn man zugesteht, daß es sich um typische Wirklichkeit handeln kann, trifft der Begriff des Realismus nicht Arnims Dichten, denn all die kleinen menschlichen Züge, die Arnim immer wiederkehrend anbringt, zielen letztlich auf eine metaphysische Aussage, die er etwa in seinem Aufsatz „Von Volksliedern" wie folgt ausdrückt: „ . . . was da lebt und wird, und worin das Leben haftet, das ist weder von heute nodi von gestern, es war und wird sein, verlieren kann es sich nie" (Werke XIII S. 479).
Die Kontinuität menschlichen Seins, an die er glaubt, will Arnim darstellen. Für einen Realisten spricht übrigens auch nicht Arnims momentanes, fast impressionistisches Schauen, das ich bereits erwähnt habe. Wichtig ist auch die Beobachtung, die man immer wieder machen kann, daß Arnim sich bemüht, die Menschen, die er schildert, audi in für sie typischen Situationen auftreten zu lassen, gleichsam den Augen-
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blick festzuhalten, in dem das Leben gerade zum Bilde erstarrt (vgl. Tableau), wie im Dornröschenschloß, wo plötzlich alles Leben vom Schlaf überrascht wird. Der reiche Kaufherr Stutzer läßt gerade Pfeffersäcke in sein Vorratshaus packen, als Berthold und Anna vorübergehen (Werke I I I S. 259) und den Einsiedler Anno trifft man betend vor seiner Klause (Werke I I I S. 440). Diese Neigung typische Situationen zu erfassen, geht bis ins Groteske. So zieht im zweiten Teil der „Kronenwächter" der wilde Jäger am Himmel daher (Werke I V S. 374) und seine wolkenweißen Jagdhunde laufen bellend durcheinander. Als einer an der Spitze einer Tanne riecht, an deren Fuß in der Nacht ein Hase geschlafen hatte, kommen gleidi seine Genossen und riechen und bellen, bis sie der wilde Jäger mit starker Jagdpeitsche heulend in die Weite treibt. Arnims Gespenster benehmen sich genau wie die Menschen audi. Idi erinnere an den ehrgeizigen und eifersüchtigen Alraun und den geldgierigen Bärenhäuter aus der Novelle „Isabella von Ägytpen". Nodi ein weiterer Zug sei erwähnt, welcher hier von Bedeutung ist. Er findet sich in den „Kronenwächtern", aber auch in anderen Erzählungen; seine Erwähnung mag zunächst nebensächlich oder gar gesucht erscheinen, dem aufmerksamen Beobachter drängt er sich jedoch geradezu auf: wo Arnim die Kleidung seiner Personen beschreibt, verwendet er fast ausschließlich die Farben rot und grün, bei Prachtkleidung vielleicht noch Purpur, Gold und Silber 28 ). Was uns bei der Schilderung der Kleidung entgegentritt, gilt für Arnims Farbgebung überhaupt. Vielfach analysiert er Farbeindrücke gar nicht, bezeichnet sie einfach als bunt, wo er sie aber wiedergibt sind es immer satte und wirkkräftige Farben, die er anwendet. Die gebrochene oder die Übergangsfarbe kennt er überhaupt nicht 29 ). Er unterscheidet sich hier bemerkenswert von der meist stimmungshaften Farbgebung der Romantik 3 0 ). Audi wo er Stimmung wiederzugeben scheint, sind es einfache Kontraste, die er zeichnet: „ . . . die Strahlen der sinkenden Sonne warfen den Schein des blutroten Weines auf J a n , der nur das durchschimmerte weiße Kleid und die zierlichen Füße in grünen Sdiuhen wahrnahm" (Werke X V S. 174).
Arnims Farbgebung vermittelt uns den Eindruck einer einfadi gegliederten, überschaubaren Welt. Die Farbe der Kleidung wird gleichsam zum Ausdruck des unkomplizierten Inneren dieser Menschen. Wir überblicken sie wie ein Blumenfeld, das zwar bunt und vielfältig ist, aber überschaubar, weil sich immer wieder die gleichen Farben zeigen. Er strebt danach, die Menschen so zu sehen wie den Kinderzug im zweiten Teil der „Kronenwächter" :
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„ . . . nahet sich der wunderliche Zug der Kinder, die wie ein Mohnfeld mit weiß, rot und blau, wie der Wind ging, abwechselten" (Werke I V S. 339).
Alles Einzelne, alles Individuelle, tritt zurück gegenüber dem allgemein Menschlichen, dem zeitlos Wiederkehrenden, dem Typischen. Auf dem Weg über die Einordnung des Einzelnen, wie sie sich bis ins Äußere der Farbe der Kleidung andeutet, scheint die Welt wieder überschaubar zu werden. Vielleicht darf man hier so etwas wie eine Gegenbewegung zu dem sehen, was uns bisher als Zerfall und Dezentralisierung der Welt entgegentrat. Die Neigung zum Typischen und Allgemeinen drückt sich auch überzeugend in den zahlreichen reflexiven Bemerkungen in Arnims Werken aus, die den Einzelfall immer wieder als Ausdruck des immer Gültigen hinstellen, ihn mit dem in Verbindung bringen, was man schon kennt und wiederholt beobachten konnte.
DIE L E U G N U N G ALLER GEGENSÄTZE Arnim spricht von seiner Zeit als derjenigen, in der alles „in trostloser Mannigfaltigkeit gestört und verwirrt" (Werke X I I S. 3) werde. Dieser trostlosen Mannigfaltigkeit stellt er seine Auffassung von der Einheit alles Seienden entgegen. An Jacob Grimm schreibt er, daß er „sowohl in der Poesie wie in der Historie und im Leben überhaupt alle Gegensätze, wie sie die Philosophie unserer Tage zu schaffen beliebt hat, durchaus und allgemein"
ableugne (Steig III S. 11). Bezeichnend ist seine Haltung in dem Streit um die Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie (von J. Grimm unterschieden). Er streitet die Möglichkeit der Entgegensetzung ab 31 ). Auf alle mögliche Weise beschäftigt ihn das Problem der Aufhebung von Trennungen und Gegensätzen 32 ). Die vergangene Zeit erscheint ihm als die Verwirklichung jener großen Lebenseinheit, die seinem Geiste vorschwebt (vgl. Werke III S. 141 f.), er spricht von der „Einheit, die uns in aller ihrer Geschichte anspricht" (Werke I S. 181). Erst im Laufe der Geschichte haben sich die Künste nach Nationalitäten getrennt (Werke III S. 143), die geistliche und die weltliche Ordnung, der Glaube selbst haben sich gespalten. Wie stark der Gedanke der Vereinigung auch hier Arnim bewegt, zeigt die Erzählung „Die Kirchenordnung". Die Sprache hat sich gespalten: „So verstehen bei uns Herren und Knechte sich nie, Jene sprechen zu hoch und diese nur plattdeutsch; Die sich bildend getrennt, einet die N o t nidit einmal". (Werke X I S. 197, vgl. auch Werke X I I I S. 467 „Von Volksliedern".)
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Die Leugnung aller Gegensätze
Der Mensdi habe getrennt, was Gott zusammenfügte, er habe sich die Worte antik und modern erfunden, „um durch die Weltgeschichte eine Bretterwand zu ziehen, die ihm jede Aussicht über das Ganze raubt" (Werke II S. 261).
Wichtig für Arnim ist nun sein Glaube an eine Zukunft, die die verlorene Einheit wiederherstelle, die Gegensätze seiner Tage versöhnen werde, „den großen Riß, aus dem die Hölle uns angähnt" heilen, die nichts mehr wisse „von einem Streite zwischen Christlichem und Heidnischem, zwischen Hellenischem und Romantischem". (Von Volksliedern" Werke X I I I S. 468 f.).
Ich erinnere in der „Kirchenordnung" an die Worte des scheidenden Vaters über die Trennung von ritterlich-weltlicher und religiöser Ordnung, die die Zukunft überwinden werde (Werke I X S. 237). Arnim glaubt, daß man wieder bruchlos an die ideal gesehene Vergangenheit anknüpfen könne. „Vielleicht wird ungestört fortgearbeitet werden, w o Cranach, Dürer und Raphael ihre Pinsel niederlegten . . . Ehe aber diese Zeit eintreten kann, muß Alltägliches und Sonntägliches, muß Haus und Kirche aus einem Stüde gebildet sein wie damals, als unser Dürer den heiligen Hieronymus mit seinem Löwen in sein eigenes Wohnzimmer setzte, als Cranach den Melanchthon zur Taufe, den Luther zur Kreuzigung Christi führte." (Werke III S. 142).
Ich habe die Problematik der Überwindung der Gegensätzlichkeiten erwähnt, weil sie zeigt, daß Arnim der Gefährdung und Orientierungslosigkeit des Einzelnen nicht nur dadurch abzuhelfen sucht, daß er den Einzelnen aufruft, sich einzufügen in übergreifende Ordnungen, sondern audi dadurch, daß er das „Übel" von der anderen Seite her zu beheben sucht, indem er die Möglichkeit, orientierungslos zu werden, beseitigt. Arnim schwebt dadurch in Gefahr, das geistige Element in der Welt zu eliminieren, denn, wo es keine Gegensätze gibt, gibt es auch keine Entscheidung und geschichtliche wie allgemein menschliche Bewährung mehr, im Grunde auch nichts Neues, im positiven wie im negativen Sinn. Es ist ein Zustand der Stagnation und Spannungslosigkeit, der nidit einmal mit dem Bereich des rein naturhaften Seins zu vergleichen ist, denn auch dort gibt es nodi Gegensatz und Kampf. Relativismus und Zerfall der einheitlichen Welt in bunte gleichberechtigte Einzelheiten, das ist die sich in der genannten Haltung andeutende Tendenz — „O sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker", heißt es in den „Majoratsherrn" (Werke II S. 239) —, also gerade das Gegenteil von Arnims bewußter Absicht. Ich habe in meinem Urteil vergröbert und. übertrieben, aber doch wohl nicht unberechtigt, denn es geschah nur, um die Hintergründe der beschriebenen Problematik zu verdeutlichen.
ABSCHNITT IV RÜCKBLICK U N D NEUE FRAGESTELLUNG Arnim versieht den Einzelnen mit einem stark negativen Wertakzent. Auf verschiedenste Weise sucht er ihn in übergreifende Zusammenhänge einzuordnen, so daß vielfach nahezu jeglicher Anspruch auf Eigensein geleugnet wird. Audi im folgenden Abschnitt ist das Problem des Einzelnen für die Untersuchung leitend; auch wenn es uns, abgesehen vom Verhältnis zur Geschichte, dort nicht so ohne weiteres greifbar wird, bildet es stets den Hintergrund des Erörterten, bestimmt unsere Blickrichtung. Während die bisher besprochenen übergreifenden Bereiche innerweltlicher Natur waren, weisen Geschichte und Leben über das innerweltliche Sein hinaus. Während die Geschichte den Sinnbezug menschlicher Dinge zum Methaphysisdien, Transzendenten, hin wahrt, ist das Leben eine aus jenem Bereich stammende Mächtigkeit (vgl. unten über die christliche Tradition des Begriffs). Geschichte und Leben sind ihrem metaphysischen Range nach vor dem einzelnen Menschen. Interessant ist uns nun wie Arnim hier dessen Einordnung vollzieht: Er macht aus der Geschichte, die wesenhaft auf den Menschen als Einzelnen bezogen ist, etwas Schutz und Geborgenheit Verleihendes, sie dadurch aber gerade in ihrem Sinnzusammenhang vernichtend. Die Beziehung zu jener Mächtigkeit, die sich mit Leben bezeichnen läßt, ist sehr viel schwieriger zu erfassen. Es steht dahinter die Sehnsucht nach einer absoluten Einordnung, im Vergleich zur relativen in innerweltlich gegebene Strukturen, ein Zurückdrängen hinter die Grenzen des Geformten, Gewordenen. Die vor jeder Form stehenden Kräfte schöpferischer Fülle werden angerufen. Über die Mächtigkeit des Lebens wird versucht, eine Verbindung zum schöpferischen Urgrund der Welt herzustellen. Der Einzelne wird dadurch absolut aus seiner Vereinzelung zurückgenommen. Das Eintreten für alles Unergründbare, für das Geheimnis, scheint mir in Entsprechung zum hieraus entstehenden Verlust einer wachen, bewußten, Überschau zu stehen.
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GESCHICHTE Daß in Arnims Dichten und in seinem Denken die Vergangenheit eine wichtige Rolle spielt, habe ich erwähnt. Sie liefert ihm das Bild einer reich in sich gegliederten Ordnung, in der jeder Einzelne seinen festen Platz hat, sie ist ihm Inbegriff von Fülle und Lebensreichtum, Verwirklichung einer großen Lebenseinheit, die im Lauf der geschichtlichen Entwicklung zerfallen ist. Wir wollen deshalb einmal die Frage stellen nach seiner Auffassung der Geschichte, seiner geschichtsphilosophischen Haltung, oder besser danach, wie er den Bereich der Geschichte konzipiert hat, ihn in seine Weltschau und Weltgestaltung einordnet, denn bis zur Klarheit einer philosophischen Haltung ist sein Verhältnis zur Geschichte nicht gereift. Bei aller Anteilnahme am Geschehen des Tages, am Schicksal seines Vaterlandes in der stürmisch bewegten napoleonischen Zeit, man hat das vaterländische Moment im Schaffen Arnims in der älteren Forschung über Gebühr betont, spüren wir eine starke Neigung in seinem Leben und Schaffen, Abstand von jenen Ereignissen zu wahren, aus denen die künftige Geschichte erwächst, sich zurückzuziehen in einen zeitlosen Bezirk. (So hat es wohl auch tiefere Gründe, wenn es Arnim nicht gelang, die so oft erstrebte öffentliche Wirksamkeit zu erlangen.) „Die eigentliche Geschichte war mir damals (1805/06) unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland ruhte, ein Gegenstand des Abscheus, ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen; ich f a n d in ihr etwas, das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern frei durch alle Zeiten hindurchlebte. Dieses Wesen, das mich in neuen und alten Schriften gleich lebhaft anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten Zeichen auch anderen mitzuteilen". („Des Knaben Wunderhorn", 2. Nachschrift an den Leser, Werke X I I I S. 488.)
Die Zeitgeschichte versuchte er von sich „abzublasen wie den Dampf von einer fremden Pfeife", er habe sich eine Drehbank gekauft und wolle sich „bald seine eigene Welt drehen" (Steig I S. 159), schreibt er an Brentano. Im Erzählkreis des „Wintergarten" ist „Geschichte im strengsten Sinne" ausgeschlossen, ein Erzähler, der den Verdacht erregt, diese Abmachung zu brechen, wird ausdrücklich ermahnt (Werke X I I S. 36). Der Ariel in dieser Erzählsammlung, in dem sich Arnim selbst porträtiert hat, äußert die Absicht, die Welt zu umsegeln, bis in Europa eine bessere Zeit angebrochen sei. „Komm idi wieder, so hab idi meine Zeit nach bester K r a f t genutzt und trete schuldlos in die neue Zeit von Europa." (Werke X I I S. 29).
Als Arnim nach der Niederlage von Jena mit dem Königshaus und den preußischen Patrioten nach Königsberg geflüchtet ist, zieht er sich auch dort in seine eigene Welt zurück 1 ).
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Das Bewußtsein wie es nodi Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede verkündete 2 ), daß es jedem Einzelnen obliegt, mitzuarbeiten an dem großen Geschehen, das wir Geschichte nennen, fehlt offenbar Arnim. Wenn er an Clemens Brentano schreibt: „Wer des Vaterlandes Not vergißt, den wird Gott audi vergessen in seiner Not" (Steig I S. 191), so ist Vaterland hier erlebt als ein Bereich der Geborgenheit wie Heimat, Scholle, Volk, dem sich der Einzelne nicht entreißen darf. Ich erinnere an Arnims Worte bei der Rückkehr nach Preußen (14. Juni 1806): „Vaterland, du bist kein leerer Name, es ward gleich anders, Wohlsein überall wo idi in die Uckermark k a m " (Steig I S. 180),
sowie an das Erleben des Vaterländischen in der Fremde, auf seiner großen Reise. Der Einsatz fürs Vaterland, sein geistiges Wirken für die Wiedergeburt einstiger deutscher Größe, entspringen nicht dem Bewußtsein geschichtlichen Tuns. Was wir unter geschichtlichem T u n verstehen, ist ein verantwortliches, freies Handeln aus dem Bewußtsein, mitzuwirken an der Sinnverwirklichung der Geschichte. Sofern ein Geschehen nämlich durch die Zeit bestimmt ist, und das macht ja das Wesen geschichtlichen Geschehens aus, gewinnt es eine Richtung, ist nicht mehr in die Gesetzlichkeit der Wiederkehr eingeordnet wie auf der Ebene des Naturhaften. Jede Einzelheit und jeder Einzelne, der in dieses Geschehen einbezogen ist, gewinnt eine Spannung über sich hinaus. „Mit der eindeutigen Gerichtetheit der Zeit ist grundsätzlich ihre Sinnhaftigkeit gegeben" 3 ). Ich kann hier, wo es um Arnim geht, das nicht eingehender ausführen und verweise auf das, was Paul Tillich darüber sagt 4 ). Ich möchte nur noch auf die Bedeutung der Freiheit in jenem geschichtlichen Tun hinweisen, die Paul Tillich als „Möglichkeit des Seienden (des geschichtlich Handelnden), Neues zu setzen" definiert 5 ). Die Geschichte ist nämlich nidit nur kein naturhaft in sidi geschlossener Verlauf, sondern auch kein Evolutionsprozeß, sie führt wesenhaft ins Neue und damit zugleich ins Ungewisse, denn auch wenn sie ein Ziel, einen zu verwirklichenden Sinn kennt, gibt es doch ebenso die Drohung der Sinnlosigkeit 6 ). Im „Wintergarten" wird bei der Erörterung des Begriffs der „geheimen Geschichte" deutlich wie sich Arnims Geschichtsbegriff von dieser Auffassung unterscheidet. „Geheime Geschichte", das ist jenes bunte, immer wiederholbare Kleingeschehen, das nicht in die großen Geschichtsdarstellungen eingeht. In diesem Sinne schwebt ihm als Vorbild der „geheimen Geschichte" seiner Zeit Freißart vor: „Alles suchte er wie Herodot, an Ort und Stelle auszufragen, anzusehen, . Reisebekanntschaften, Hofversammlungen, nichts ließ er unbenutzt, um
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Geschichte seine Chronik der merkwürdigen Zeit, die er durchlebte und die sidier nicht viel reizvoller für den untätigen Betrachter als die unsere war, nach aller Eigentümlichkeit den Nachkommen zu überliefern" (Werke X I I S. 36).
Memoiren im weitesten Sinne nennt er das „Wesen, das höchste der Geschichte" (Werke X I I S. 34). Er erhebt das Anekdotische und Chronikalische zur eigentlichen Geschichte. Aus anderem Zusammenhang läßt sich aus dem „Wintergarten" hier zur Seite stellen: „Die Jahrtausende, die ich voraus zu übersehen glaubte, schienen mir so leer wie ein ewiger Kalender, ich hatte das Einzelne in der Geschichte achten gelernt, und wie ich sonst nur eine einzige Ansicht in der Welt, die vom Chimborasso, glaubte, so befriedigte midi jetzt der kleine belebte Winkel, den idi ganz erkennen konnte". (Werke X I I S. 119, vgl. auch Werke III S. 7.)
Man kann sagen, daß Arnim in seinen Geschichtsbegriff gerade das aufnimmt, was keine Geschichte ist, er hebt das hervor, was zeitlos, was wiederholbar ist. Geschichtlich aber kann nur das Einmalige sein. Im „Wintergarten" ist es einem der Erzählenden „mehr um das Bild der Zeit, einiger ihrer Männer und eines ihrer wunderbaren Abenteuer zu tun als um geschichtliche Vollständigkeit." (Werke X I I S. 36).
Was Arnim unter Geschichte versteht, ist das bunte Leben selber, ist seine ewige Folge von Wachsen, Blühen, Sterben 7 ). Er preist jene Zeit, wo „man die Welt mit aller Herrlichkeit aus sich selbst allein hervorzublühen meint, wo die Geschichte nichts als der veränderliche Luftstrom ohne Gestalt zu sein scheint, der an jedem Blatte anders anlispelt, und ohne einen Mund, in dem er tönt, und ohne ein Herz, das ihn einzieht nidits, garnichts zu sein scheint." (Werke X I I S. 119).
Die Geschichte wird mit den Charakteristika behaftet, die man sonst dem Lebensstrom zuschreibt. Geschichte als naturhaftes Geschehen8), das hat etwas vom Charakter einer Fluchtposition an sich (vgl. Arnims Ausweichen vor dem Zeitgeschehen), indem nämlich darin der Einzelne als der Träger der Geschichte verneint wird, die Möglichkeit der Entscheidung, auch zum Schlimmen hin, tritt an Stelle des Geschichtsgeschehens, das zu einem wesentlichen Teil in den Wirkbereich des Menschen fällt, eine überpersonale Mächtigkeit, die man, wie wir es getan haben, am besten mit Leben bezeichnet. Die Drohung der Sinnlosigkeit, wie sie die echte Geschichtsauffassung nicht verkennen darf, ist damit scheinbar überwunden, der Mensch ist wie in der Natur geborgen in einem gottgewollten Geschehen, ist nicht mehr der orientierungslose Einzelne, aber nur scheinbar, denn dem tiefer Nachdenkenden wird sie an anderer Stelle viel schwerwiegender sieht-
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bar. Während sie im ersten Fall als Möglichkeit der Fehlentscheidung und des Irrwegs am Ende der Geschichte steht 9 ), ist jetzt die Geschichte viel grundsätzlicher davon bedroht. Alle ihre einzelnen Momente sind nun vertauschbar. „Das sinnfrei Nurseiende ist vertauschbar. Die Zeitordnung, der es unterworfen, trifft es nicht im "Wesen"10). Als solches, wie Blume und Tier, erscheint auf einmal in Bezug auf die Geschichte der Mensch. Er ist nicht mehr „auf ein Telos, ein Wesensziel"11) gerichtet. Wenn man hier noch einen Sinn annehmen will, kann er nur im allerpersönlichsten Schicksal, im Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott liegen, ist menschlichem Denkbemühen nicht mehr zugänglich. Menschheit und Menschsein als etwas Übergreifendes vermag er nicht mehr zu umfassen. Der Begriff des Heils vermag sich nicht mehr mit der Geschichte zu verbinden, kann sich nur noch im pietistischen Sinn auf die Einzelseele beziehen. In der Sehnsucht, dem gefährdeten Einzelnen Sicherungen aufzubauen, spürt es Arnim nicht, wie der sinngewährende Zusammenhang der Geschichte, in den er flieht, ihm unter den Händen zerbricht. Der so stark empfundenen Lebenseinheit einer vergangenen Zeit steht auch hier die Tendenz zur Dezentralisierung gegenüber.
DIE KATEGORIE DES URSPRÜNGLICHEN, UNMITTELBARKEIT In der Vorrede zu seiner Ausgabe der Predigten des Magister Mathesius wünscht Arnim, daß diese den Predigern seiner Zeit zur „Veranlassung werden möchten, ihr ewig wiederkehrendes Sammelsurium von eingelernten Redensarten abzulegen und zur Urquelle zurückzukehren, aus der alles Echte in unerschöpflicher Fülle fließt" (a. a. O. S. VI).
An gleicher Stelle tadelt er an den ihm bekannt gewordenen Auszügen der Predigten des Mathesius, daß sie bemüht waren, „das Lebendigste wegzuschneiden, um dadurch nicht an der trockenen Fülle der Begebenheiten gestört zu werden" (a. a. O. S. IV).
Mit dem Streben zur Urquelle, zum Ursprünglichen und Unmittelbaren, wobei synonym der Begriff des Lebens gebraucht werden kann, wie es in dem eben Mitgeteilten bereits spürbar wird, läßt sich ein wichtiger Zug des Arnimschen Schaffens bezeichnen, der uns schon wiederholt begegnet ist. Wir spüren ihn etwa in seinem Bemühen, Menschen möglichst unmittelbar in einem lebendigen Eindruck zu schildern. So findet sich unter den „Vorsätzen zum Anton" in seinen Notizen zur Fortsetzung der „Kronenwächter" die Forderung: „Unmittelbarkeit in allem" (Werke IV S. 402). Darum sind seine Menschen
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meist im Momentbild deutlich und eindrucksvoll geschildert, verschwimmen aber dann im Verlauf der Handlung, ja entwickeln sich oft zum Gegensatz des ersten Eindrucks, den wir von ihnen gewinnen. „Laßt sie singen und sagen, wie es ihnen in den Mund kommt, Gottes Natur in uns ist doch besser als alle Stümpereien der Menschen an uns" Steig I S. 171),
schreibt Arnim an Brentano; und an J . Grimm im Zusammenhang der Diskussion um Natur- und Kunstpoesie: „So gering ich Voß adite, audi in ihm wirkt hin und wieder die Urnatur" (Steig I I I S. 109).
Das Unmittelbare, das Arnim stets als einen Ausdruck höherer Zusammenhänge versteht, reicht allein schon aus, um den Wert einer Sache oder Tätigkeit zu rechtfertigen. Der nach Offenbarung drängenden Natur in uns nachgeben, künstliche Regeln zerbrechen, dahin geht Arnims Wunsch und Forderung. Jugendliche Lebensfreude wird dann in seine alt gewordene Zeit zurückkehren. „Lernt erst fühlen in diesem Frühling, und statt ihm Regeln und Gesetze vorzuschreiben, statt ihm zu raten, werft euch vor ihm nieder und reinigt euch in seinem Ansdiaun" 1 2 ),
ruft er einmal aus. In diesem Sinne hebt er das Jugendliche, über dem noch der Zauber des Anfangs liegt, das Werdende und Wachsende über das schon Geformte, Gewordene: „Reines Bild jugendlichen Lebens, wir blicken zu dir und flehen, reinige uns von eingebildeten Leiden der Liebe, und angebildeten Sünden der Zeit" (Werke I S. 186),
ruft er die Heldin seiner Novelle „Isabella von Ägypten" an. Daß er K a r l V zweimal als jungen Prinzen, am Anfang seiner Bahn stehend, in seiner Dichtung gestaltet (in „Isabella von Ägypten" und in „Der Pfalzgraf, ein Goldwäscher"), in der „Isabella" sein Geschick daraus erklärt, daß er seine erste Liebe, das „Köstlichste, . . . was sein ganzes Leben ausgestattet hätte" (Werk I S. 175), an den Geist „törichter Klugheit", an den Geist der Geldgier, der Ökonomie, der Herrschlust, verraten hat, ist nicht zufällig. Es wird aus jener Liebe für das Jugendliche, noch alle Möglichkeiten der Entfaltung Bergende, verständlich. Die Liebe zu Isabella steht symbolisch für jene an Möglichkeiten reiche Jugend gegen welche er sich allzufrüh verhärtet hat. Die Förderung des Jungen, Werdenden läßt sich als Motto auch über die Einsiedlerzeitung stellen. In der Vorrede zur „Trost Einsamkeit" heißt es:
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„Die einzelnen Absichten, die ich nidit als Herausgeber, sondern als Mitarbeiter hatte, habe ich in dem freien Diditergarten deutlich bezeichnet, welcher diese Schrift eröffnete . . . was idi darin wünschte: Fröhliche Erzeugnisse jugendlichen Lebens, befreit von dem Schulbanne einiger veralteter Männer, die ihre Jugend vergessen hatten, das ist mir geworden" (a. a. O. S. 9).
Zum Repräsentant jener „auf alles Werdende und literarischen Rufs stürzte" Stelle heißt, dazu da, daß wecken" (ibid. S. 10).
„veralteten Männer" wurde ihm Voß, der Wachsende den plumpen starren Fels seines (ibid. S. 10). Dichter sind, wie es an gleicher sie „wie Strahlen höheren Lebens die Tiefen
Seine Abneigung gegen alle Philosophie und gegen alles, was Kritik heißt 13 ), läßt sidi ebenfalls aus der Sorge um das Werdende und Wachsende, aus dem Eintreten für das Ursprüngliche verstehen, denn beide setzt er dem Versuche gleich, dieses sich nicht entfalten zu lassen, sondern es in Regeln und Schemata zu zwingen. Aufschlußreich sind folgende Zeilen über eine Theaterkritik: „.. . Und dieses ihr Verderben trägt sich über auf das Leben, je mehr solchen kritischen Zeugs in öffentlichen Blättern erscheint, desto mehr Langeweile und Anteillosigkeit, desto trostloser die Geselligkeit. Mit ganzen Ländern, Wissenschaft und Künsten wird in Pausdi und Bogen verhandelt und das meiste ist längst abgetan, jede keimende Tätigkeit wird niedergetreten, und die Welt kommt ins Greisenalter" (Geiger a. a. O. S. 35 f.).
Arnim spricht vom „falschen kritischen Geist, der wie der T o d die Lebenden umklammert und Schönheit und Häßlidikeit mit gleichem Grimm an sich reiße" (Steig I S. 220).
Die Forderung der Unmittelbarkeit, der Hingabe an „Gottes Natur in uns" wird von Arnim so unbedingt und so extrem erhoben, daß die berechtigte Kritik und das berechtigte Formbewußtsein mitverworfen, das überschauende Subjekt ausgeschaltet werden. Arnims Beiträge zur Einsiedlerzeitung, wie auch sein übriges Schaffen bestätigen uns dies. Die entfesselte Phantasie und der ungezügelte Einfall erlangen dort teilweise absolute Herrschaft. Arnim empfindet den Einzelnen eingefügt in den großen, rational nicht erfaßbaren Zusammenhang allen Seins. Er kann nach seinem Glauben zum Ausspracheorgan des irrationalen Grundes der Welt werden (s. die Rolle, die er der Phantasie zuschreibt). Hier wird auch die Problematik seines Verhältnisses zum Ursprünglichen sehr deutlich. Die immer größere Isolierung des Individuums ist nämlich etwas notwendig geschichtlich Gewordenes, deshalb wesenhaft unumkehrbar 14 ), ist Kennzeichen jenes Weges, der zur Situation der Moderne führt. Die übergreifenden Zusammenhänge, in die der Mensch
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früherer Zeiten eingeordnet war, haben immer mehr an T r a g k r a f t verloren. Wenn Arnim glaubt, daß die so gepriesene unmittelbare Aussprache mehr als subjektiv sei, so negiert er die historisch gewordene Situation in einer Radikalität, die nodi hinter die geschichtlich faßbare Position des Menschen zurückführt. In mythischen Zeiten mögen die Menschen die Fähigkeit besessen haben, auf diese unbewußte Weise Weltzusammenhänge auszusprechen. Die Liebe zum Werdenden teilt Arnim mit seiner ganzen Zeit, ja darüber hinaus mit modernem Denken überhaupt. Für Arnims Epoche möge ein Wort von Friedrich Schlegel aus dessen Kölner Vorlesungen stehen: „Die wahre Philosophie kann nirgends eine beharrliche Substanz, ein Ruhendes, Unveränderliches statuieren, sie findet die höchste Realität nur in einem Werden, einer ewig lebendig bewegten Tätigkeit, die unter stets wechselnden Formen und Gestalten eine unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit aus sich erzeugt" 1 5 ).
Fritz-Joachim von Rintelen betont mehrfach als eine der „Erbsünden" unserer Zeit, daß sie aus einer Vorliebe für Dynamik dem Werdenden den Vorzug gegenüber dem ruhenden und geformten Sein gegeben habe 16 ). Das führt, und wir spüren es im Werke Arnims, dazu, daß sich die Welt in ihren festen Konturen auflöst, wie es in dem mitgeteilten Zitat Friedrich Schlegels spürbar wird. Eine „ewig lebendig bewegte Tätigkeit erlangt als Gegenpol des Geformten Bedeutung. Im „Ariel" findet sich eine gelehrte Betrachtung, die die Fiktion, daß das „Heldenlied von Hermann und seinen Kindern" eine unbekannte alte Dichtung sei, vertritt. Die Regellosigkeit dieser Dichtung, die man dem „Dichter der Vorwelt" verzeihen müsse, verteidigt Arnim damit, daß dieser „nur das Leben und nicht ihre (der Kritiker, die die Maßstäbe des französischen Theaters anlegen) Regeln kannte" (a. a. O. S. 207) „ . . . und das Leben hat diese unbequeme Einrichtung", nämlich die Regeln zu überspringen, fährt Arnim fort. In der „Päpstin Johanna" wendet er sich gegen die Dichter, die sich „ihre menschlichen Maschinen zu aller Art aus einem Holze schnitzen. Jeder lebende Mensch ist aber nicht bloß Eigenschaft, sondern ein Dasein eigener A r t " (Werke X I X S. 338).
Er sei „zugleich Quelle des Lebens". Arnim betont die Spontaneität, mit der sich Eigenschaften nach verschiedenen Richtungen entwickeln können. In einem Brief an Jacob Grimm spricht er über die häufige Langweiligkeit, Unwahrheit, Maschinenhaftigkeit alter Dichter, in die man sich „keinen lebendigen Menschen hineindenken" könne (Steig I I I S. 224).
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Wie die Gestaltung des lebendigen Menschen aussieht, der Arnim als ein Ideal vorschwebt, habe idi dargestellt. Die Kontinuität eines geschilderten Lebens zerspringt, die momentane Empfindung wird auf ihre Kosten gefördert: „Jetzt ist es mir gewiß geworden, daß jedes einzelne sich für den einzelnen Punkt der Empfindung rechtfertigen läßt" („Ariel" a. a. O. S. 210). Als die Unmittelbarkeit gegen Regel und Form fördernd, erscheint, worauf uns dauernd der Sprachgebrauch hinweist, das Leben.
LEBEN Dichten und Wirken Arnims ist Gegenbewegung gegen Tendenzen, die er in seiner Zeit erlebte, gegen die Mechanisierung des Lebens in der Zeit des ancien régime 17 ), gegen den Versuch der Aufklärung, vom verständigen Menschen, von der ratio her, die Welt neu zu formen, gegen eine spießbürgerlich gewordene, peinlich genau geregelte Welt 1 8 ). Er ist darin eng jener geistesgeschichtlichen Erscheinung verbunden, die wir als romantische Bewegung bezeichnen. U n d wie man diese in einem wesentlichen Aspekt als eine Bewegung sehen kann, die die Belange des Lebens vertritt 1 »), letzteres einfach als Gegenbegriff zum Mechanischen, Künstlichen gefaßt, gilt das auch f ü r Arnim. Arnim beklagt sich über die Menschen, die „sich den Bart nicht scheren, wenn er lang, sondern wenn ihr Tag gekommen, nidit einheizen wenn sie frieren, sondern wenn ihre Stunde kommt" (Werke X I I I S. 449).
„Der Mensch ward Eigentum der Dinge dieser Welt" (Werke XIII S. 452), das beschreibt den gleichen Tatbestand der Bindung an irgendwelche mechanischen Regelungen. Das alles bedeutet letzten Endes Vernichtung des Lebens. „Seit ich denken kann", schreibt Arnim, „merkte idi einen immer langsameren Gang menschlicher Tätigkeit. Wie die Stunden der Ruhe und Nahrung einander verdrängen und beeinträchtigen, so haben alle Leidenschaften und Liebhabereien ihre kürzere Periode, geringeren Grad . . . Wie die Balken unserer Decken heutigen Tags von einem sonst unbekannten Schwämme verschwächt werden, so werden die Menschen um uns plötzlich hohl und leer" (Werke X I I I S. 460 f.).
Im Aufsatz „Von Volksliedern", dem diese Zitate entstammen, heißt es weiter: » . . . jeder wußte etwas über sein Leben zu sagen, nur hatte keiner Leben . . . so wurde auf einmal die ganze Welt arm, weil keiner dem Drange seiner Natur, sondern ihrem Zwange nachleben wollte und konnte . . . Kein Stand meinte, daß er wie die Früchte der Erde durch sein notwendiges Entstehen trefflich gut sei, sondern durch einige Taufformeln vom Zweck ihres Geschäfts . . . " (Werke X I I I S. 452 f.), 9 Rudolph, Achim von Arnim
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Leben „ . . . die singenden frommen Bettler wurden wie Missetäter eingefangen u n d gefangengesetzt . . . die Volkslehrer, statt in der Religion zu erheben, was Lust des Lebens w a r und werden konnte, erhoben schon früh gegen Tanz und Sang ihre Stimme, w o sie durchdrangen zur Verödung des Lebens und zu dessen heimlicher Versündigung" (Werke X I I I S. 455 f.).
Immer wieder taudien im Werke Arnims die Worte Leben und lebendig in charakteristischen Zusammenhängen auf. Wir wollen dem nach dem Hinweis, den uns schon das vorige Kapitel gab, weiter nachgehen. An dieser Stelle eröffnet sich nämlich die Möglichkeit, das Arnimsche Werk in seinen Absichten, Hintergründen und Gefahren zu verstehen. In der Sehnsucht nach Fülle und Reichtum des Lebens liegt der mächtigste Trieb dieses Diditens, es ist die Kraft, die wesentlich dazu beiträgt, Arnims dichterische Welt in die Wirklichkeit des Wortes treten zu lassen. Man mag skeptisch sein bei der Einführung eines so schillernden und verschwommenen Begriffs, der Generationen seit Nietzsche mit seinem anziehenden Dunkel fasziniert hat. Man mag auch sagen, daß eine Behauptung, wie idi sie soeben aufgestellt habe, nicht mit philologischer Sicherheit zu belegen sei und deshalb in präwissenschaftliche Bereiche führe. Idi möchte sie doch wagen und dabei vor allem auf Arnims Aufsatz „Von Volksliedern" hinweisen (Werke X I I I S. 441 ff.), sowie auf die „Nachschrift" zum Wunderhorn, in denen sich nach Görres Arnims ganzes Leben ausspreche20). Görres rühmt die „lebendige Teilnahme an allem, was vom Leben ist und wieder ins Leben geht" 21 ), welche daraus deutlich werde. Wer zu lesen vermag spürt immer wieder die übermäßige Sehnsucht nach Leben im Werke Arnims, die manchmal in eigentümlichem Kontrast zu bestimmten Zügen seines Diditens steht, zu der gespenstigen Phantastik vieler seiner Dichtungen, so daß ihn Heine geradezu einen Dichter des Todes nennen konnte 22 ). Man spürt diese Lebenssehnsucht an der Art wie Arnim im Volksliedaufsatz seinen Glauben an eine anbrechende neue Zeit begründet, die der eigenen, heftig kritisierten, entgegensteht. In ähnlicher Weise äußert er sich im „Wintergarten" über das anbrechende Neue (Werk XII S. 250 f.). Aus dem Volksliedaufsatz teile ich mit: „Das Eis hält lange, ehe es bricht und trägt viel, aber wer nur einmal über das glatte Eis durch alle wunderbare Bahnverschlingungen seiner Vorläufer fest dahingefahren, w o seine Augen den Schein der Sonne vor sich her springen sahen, er ahnet das freudige Leben im freien Strom — zu schwimmen darin, zu segeln darauf, hindurdireiten dem rauchenden Hirsche nach, dann ausruhen im Grünen an seinen Ufern, die Sterne darin zu sehen — kommen und untertauchen in ewiger Spiegelung. Ja, wer nur einmal im Tanze sidi verloren und vergessen, — wer einen Luftball ruhig wie die Sonne empor ziehen sah — den letzten Gruß des Mensdileins darin empfing — der jemals v o m jubelnden Taktschlage der Janitsdiaren hingerissen, einen Feind gegen sidi — den
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mutigen Freund neben sich glaubte, der die Reiter auf Wolken gegen sich ansprengen sah, unwiderstehlich — wie ein Trompetenstoß den mächtigen Strom hemmte, — oder etwa gar im Sonnenscheine einer Kriegsflotte Anker-Lichten sah, w o wenige Augenblicke hinreichen voll Weben und Leben auf Masten und Stangen, diese goldenen Schlösser und Gallerien, alle wie Flossen eines Fisches ruhig in das luftbegrenzte Meer hinschwinden zu sehen, alles Dinge, die uns umgeben, uns begegnen; — der muß an eine höhere Darstellung des Lebens, an eine höhere Kunst glauben, als die uns umgibt und begegnet; an einen Sonntag nach sieben Werktagen" (Werke X I I I S. 461 f.).
Dieser Glaube an eine bessere Zeit hat sein Dichten bestimmt, audi •wenn er ihn später mit mehr Skepsis bekannte 23 ). Idi möchte Leben zunächst in seinem begrifflidi verschwommenen, aber im Emotionalen uns allen dodi irgendwie zugänglichen Gehalt stehen lassen, so wie ihn uns die glutvollen Bilder hochgesteigerten Lebens in dem eben Zitierten vermitteln. Die Bemühungen um Volkslied und Volkspoesie, die in dem mit dem Freunde Brentano zusammen herausgegebenen „Wunderhorn" ihren unvergänglichen Ausdruck gefunden haben, nehmen in Arnims leidenschaftlichem Eintreten für das Leben einen zentralen Platz ein. So wie Arnim glaubt, daß „das Abbild des höchsten Lebens oder das höchste Leben selbst, Sinn und Wort, vom Ton menschlich getragen, auch einzig nur aus dem Munde des Menschen sich offenbaren könne" (ibid. S. 449),
erlebt er als reinste Möglichkeit solcher Offenbarung das Volkslied. Er stellt es der Sentimentalität, dem „Nachahmen und Aufsudien des Gefühls" (ibid. S. 442 Anm.), gegenüber. In ihm sei noch ein „wahrer Ton" (ibid. S. 442), wie „im derben Lachen aus Herzensgrund" (ibid. S. 443). Mit dem Volkslied verfliege das Unechte (ibid. S. 448). Beim Hören von Volksliedern überkommt ihn „das alte reine Gefühl des Lebens, von dem wir nicht wissen wann es gelebt, was wir der Kindheit gern zuschreiben möchten, was aber früher als Kindheit zu sein scheint" (Werke X I I I S. 468, vgl. Werke I V S. 89, Geiger a. a. O. S. 79).
Das Volkslied reicht für Arnim in jene schon mythischen Tiefen, in denen die Quellen des Lebens entspringen 24 ). Außer seiner Nähe zu den Quellgebieten des Lebens und seiner Fähigkeit, Ausdrude der Lebensfreude zu werden, verbindet sich nodi ein Drittes mit dem Volkslied, nämlich das, was nach Korff 25 ) den „romantischen Affektionswert" des Wunderhorns ausmacht: daß es Spiegelung eines freien, unbürgerlichen, noch nicht in die Banden der Zivilisation geschlagenen Lebens ist. Das nodi ungebrochene, von jedem modernen Zwang freie Leben bedeutet einen mächtigen Reiz. 9«
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„Warum zieht es uns in Büchern an, was wir von den ersten Entdeckungsreisen, von den Weltfahrten, von ziehenden Schauspielern, insonderheit, was wir von dem wunderbaren Wandel, des Zigeunerreichs lesen?" (Werke XIII S. 457), fragt Arnim im Volksliedaufsatz. Die Liebe zum nodi ungebundenen Leben wird mehrfach in seinem Werk spürbar (vgl. etwa das Zigeunerleben in der „Isabella von Ägypten", Antons Fahrensieben im zweiten Teil der „Kronenwächter", die Moscheroschbearbeitung im „"Wintergarten": „Philander unter den streifenden Soldaten und Zigeunern im 30jährigen Krieg", entsprechende Lieder im „Wunderhorn" 2 6 ) etc.). Die Vergangenheit sieht Arnim vor allem unter dem Gesichtspunkt des Lebensreichtums, in ihr beschwört er das Bild seiner Sehnsucht. So ist es nicht zufällig, d. h. nicht nur durch die Quellen bedingt, die ihm zur Verfügung standen, daß er immer nur das ausgehende Mittelalter dichterisch gestaltet, wo an die Stelle einer strengeren Lebenseinheit im hohen Mittelalter eine Fülle bunten Lebens tritt. In den „KronenWächtern" ist Bertholds zweites Leben ausdrücklich als ein Erwachen zum ganzen Reichtum der ihn umgebenden Welt gestaltet (vgl. Werke I I I S. 188 und 240). Eine kindliche Freude zeigt Arnim am grellbunten Hofleben vergangener Zeiten (vgl. etwa „Martin Mártir" oder „Der Pfalzgraf, ein Goldwäscher"). Görres weist in seinem Nachruf auf Arnim auf diese Wertung der „alten Zeit" hin: „Das Wesen alter Zeit wie es in den Dichtungen der Vergangenheit fortlebte, schien mit Redit Arnim am tauglichsten, die erstarrte Gegenwart wieder einigermaßen zu erwärmen und zu beleben"27). Zugleich bestätigt uns Görres hier, daß sich die Wirkt«ndenz des Arnimschen Schaffens mit dem Wunsch zu „beleben" bezeichnen läßt. Einen ausgebildeten und durchreflektierten Begriff Leben besitzt Arnim, was nicht weiter verwunderlich ist, nicht. Wenn wir aber den emotionalen Gehalt, der sich mit Leben verbindet, begrifflich zu fassen versuchen, so müssen wir sagen, daß es schöpferische U r k r a f t und der Form spottende Fülle ist, was Arnim einseitig mit Leben zu verbinden scheint, sich darin von einer Auffassung unterscheidend wie sie etwa Goethe hat (von Goethe auch nirgends zusammenhängend formuliert und dort in erster Linie auf das Biologische, das Leben der N a t u r bezogen), dessen Hauptanliegen in diesem Punkte ist, Fülle und Form zu vereinigen 28 ). Statt weiterer Reflexionen möchte ich wiederum in medias res gehen und Arnims Schilderung eines Einzugs auf einer mittelalterlichen Burg mitteilen 29 ), welcher ihm als Manifestation kräftigen Lebens erscheint, und in der sehr deutlich wird, wie f ü r ihn dabei die überströmende Fülle im Vordergrund steht. Sie findet sich als Beschreibung eines alten Bildes im „Wintergarten":
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„Das Bild stellt auf der Burghöhe der einen Seite den Eingang einer prächtigen, alten, wohlerhaltenen, aber stark mit Epheu bewachsenen Burg dar; Störche nisten auf der Turmspitze des Tores, bunte Fahnen wehen auf den blanken Zinnen, aus den Hauptfenstern blasen Trompeten und Posaunen einem festlichen Zuge entgegen, der von tanzenden Bäuerinnen bewillkommet, unter Ehrenpforten den Burgweg hinansteigt. An der Spitze dieses Zuges zeichnet sich aus vor allem ein junger Ritter und eine Frau, beide auf demselben prächtigen weißen Zelter sitzend, der Ritter ohne Rüstung in hellblausammetnem mit Weiß geschlitztem Wams, die Hosen weiß mit blau geschlitzt, ein rotes Barett mit einem Reiherbusche auf dem Haupte, die Frau in weißem Kleide mit Blumen aufgesteckt, sitzt hinter ihm, beide Beine nach unsrer Seite herunterhängend, einen Arm um seine Brust geschlagen, sich zu halten, in der andern H a n d hält sie eine Blume, an der auf einem Bande ganz fein mit alten Buchstaben, die Zeitenlose, geschrieben steht. Diesen beiden folgt eine abwechselnde Menge von Rittern zu Pferde und von Wagen, offen nach alter Art, mit Frauen und Kindern, manche trägt einen flatternden Falken auf ihrer Schulter, andere pflücken Früchte im Vorbeifahren von den Waldbäumen, die künstlich daran gebunden und aufgehängt waren. An der Bergecke des ansteigenden Weges steht ein hohler, aber nodi grünender, von Kürbissen umrankter Baum, auf dem oben ein großes Faß halbversteckt liegt; aus einem Aste unten zapfen die Bauern roten Wein in Henkelkrüge und erfrischen die Dienerschaft: Jäger mit großen Koppeln Hunde, Fischer mit Netzen, Schalksnarren und Musikanten, die dem Zuge zu Fuß nachgefolgt sind. Unzählige Vögel durdisdrwârmen die Luft, das Schloß ist mit bunten Tauben bedeckt; aus dem Walde auf der andern Seite des Bildes drängen sich hochbejahrte Hirsche und flüchtige Rehe neugierig hervor, selbst das Elentier kommt herangeschnaufelt und sieht mit langem Barte, wie ein alter Jude, aus dem Dickicht. Ganz neu scheint der Jubel in dieser wilden Gegend, in welche heute die Sonne in wunderbar prächtiger Strahlung lichtet; alles ist Ruhe und Fülle, die einzigen Wolken im Blau sind Zugvögel, alles ist unendlich belebt bis zu den kleinsten Winkeln, wo das Eichhörnlein seine Kleinen mit einer N u ß herauslockt und wo der Einsiedler unter wildem Weine mit seinem Löwen vor einem Kreuze knieet und den Ankommenden Glück des Himmels erfleht. Doch verweilet endlich der Blidc am liebsten auf der fernen, zwischen dem Schloß und dem Walde weit eröffneten, Welt. Wer erst in spätem Jahren zum erstenmal einen bedeutenden Berg erstiegen, kann nur die Überraschung dieses neuentdeckten Weltteils mitfühlen, diese ungeahnten Weiten alle mit uns zu einem Leben verbunden; alle die seligen Inseln im Strome, der das ganze Land zu trennen scheint, auf denen Heerden und Hirten von großblättrigem Grün fast versteckt sind; alle Städte, die sich wie Heerden an dem Strome tränken; alle Mühlen und Brücken, die kleine Bäche, in ihrer Lust zum Strome herabzustürzen, umspannen und halten; alle Weinberge, denen der Strom Feuer anspiegelt und in den sie ihr Schattenbild senken; alle Glücklichen, die er in bunten Schiffen von beiden Ufern vereinigt; alles Glück dieser Welt ist da mit uns verbunden, auch wir, auch wir können dahin, auch zu uns strömt Leben, aus den zackigen Urfesten der Erde . . (Werke X I I S. 240 ff.).
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Die Art wie hier Arnim das Leben apostrophiert, die Möglichkeit unserer Anteilnahme betont, läßt uns die schon hervorgehobene Lebenssehnsucht spüren. Ich gehe nicht mehr näher darauf ein, wie ich überhaupt die eben mitgeteilte Schilderung, die wie ein Kardiogramm die wesentlichen Züge Arnimschen Dichtens wiedergibt, hier nicht ausschöpfen kann. Nur eines hebe ich, wo es darauf ankommt, einen für Arnim zutreffenden Lebensbegriff zu erschließen, hervor: die ungeheure Fülle der Einzelheiten in dieser bis zum letzten Winkel belebten "Welt. Man kann nicht mehr sagen, was im Vordergrund steht und was bescheidener und weniger bedeutend zurücktritt, selbst das Brautpaar, das doch eigentlich Mittelpunkt des Ganzen sein sollte, wird zu einer Einzelheit unter vielen. Wo Lebensfülle herrscht, da spielt die einzelne Manifestation dieses Lebens keine entscheidende Rolle mehr. Der Betrachter dieser lebensvollen Welt ertrinkt, sich seiner Begeisterung und Sehnsucht nach Geborgenheit in ihr hingebend, in ihrem unerschöpflichen Reichtum. Es ist eine Welt, in der die Neigung zur Dezentralisierung, zur Zerlösung in Einzelheiten herrscht, das Bindende ist das Leben, eine irrationale, alle Grenzen und Formen sprengende Mächtigkeit. Es fehlt die Gestalt und Überschau verleihende Mächtigkeit des Geistes, oder um es milder auszudrücken, sie hat nicht mehr die ihr zukommende Bedeutung. Das Unwichtigwerden der Einzelheit, um das es hier geht, spüren wir sehr deutlich in einer Formulierung aus Görres' Schrift über die teutschen Volksbücher, der, wie Görres selbst bekennt 30 ), in einer Arnim verwandten geistigen Haltung verfaßt ist. Ich teile sie mit, weil es sich darin inhaltlich um dasselbe handelt, was uns Arnims Bildbeschreibung bot, Görres aber im Gegensatz zu Arnim die Folgerung selbst zieht, die wir für Arnim erst nachträglich deutend ziehen mußten. Vom Mittelalter heißt es da: „. . . es war ein großer kunstreich verschlungener Tanz, in dem sich die ganze Generation bewegte, und in eine schöne wundersame Arabeske war das ganze Geschlecht verwachsen unten mit dem Blumenreich und oben mit dem Himmelreich, und es sangen alle Vögel in den Zweigen, und die Kinder spielten in den Blumen, und es rührten schöne Frauen die Laute in den Schirmen, und es hasteten geharnischte Ritter durch das Dickicht, und kämpften mit Serpenten, und Eremiten knieten betend, und auf bunten Libellen trieben sich Scherze umher, es gingen Löwen stolz und freudig an der Minne Zügel, und das ganze Gewächs tränkte Himmelstau und der Erde Mark, in dem sich auch die Rebe nährt" 31 ).
In der bunten, lebendigen Welt, die Görres zeichnet, ist alle Einzelheit und alles Einzelne eingefügt in die groß verschlungene „wundersame Arabeske" allen Seins, alle Einzelheiten sind zu einem Ganzen verwachsen.
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„Das Leben ist uns ewig offen, daß wir uns schauend mit seiner Allgegenwart erfüllen, aber wir selbst stehen uns im Lichte mit toter Vorsicht, wie mancher große Mann gähnend einem Kind im Lidite steht bei einem Festaufzuge, der das Kind entzückt hätte; könnten wir uns nur überzeugen, daß nichts alt und nichts neu in der Welt, nichts abgetan und nichts erschöpft" (Werke VIII S. 4)32). Mit diesen Worten spricht Arnim mahnend die H i n g a b e an die Fülle des Lebens aus. Leben faßt in seinem Geheimnisklang alle Hoffnungen auf eine erlösende, erfüllende, Zukunft in sich, Leben ist das, was der eigenen Zeit fehlt und was eine geahnte nahe Zukunft wieder in Fülle besitzen wird, das müssen wir uns vor Augen halten, um die ganze antreibende, elektrisierende K r a f t , die in dem Wort Leben f ü r Arnim liegt, erfassen zu können, den tieferen Sinn der Forderung der Hingabe an das Leben. Arnim steht in seiner Hochschätzung des Lebens in einem großen geistesgeschichtlichen Zusammenhang, welcher über Arnims Epoche, zu der ich in einem Exkurs einiges angedeutet habe, hinausreicht bis in die Moderne, deutlich faßbar ist im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. In dem geschichtlichen Prozeß, der zur Herausbildung der Situation des modernen Menschen führte (und nodi nicht abgeschlossen ist), gibt es zwei Tendenzen, welche wir beide schon berührt haben: die, welche zu einer wachsenden Isolierung des Individuums führt, und jene andere auf Verhärtung, Mechanisierung des Lebens, auf Verstandesaufklärung zielende. Ich habe sie hier negativ gefaßt, positiv bedeuten sie, wie das Altern des Menschen, die Chance einer Herrschaft des Geistes. Ich kann diese, besonders im Hinblick auf die Gegenwartssituation sich sehr komplizierenden, Probleme hier nicht näher ausführen, mir ist daran lediglich die Feststellung wichtig, daß beide innerlich zusammenhängenden Tendenzen sich geschichtlich herausgebildet haben und deshalb nicht rückgängig gemacht werden können. J e mehr sie sich jedoch verschärfen, desto heftiger werden die die Geschichte verkennenden Gegenreaktionen. Eine der frühesten und bedeutendsten Gegenbewegungen ist, wie bereits erwähnt, die Romantik, die jedoch eine zu vielfältige Erscheinung ist als daß man sie hier auf engem R a u m in dieser Weise analysieren könnte. Ich möchte nur noch die Philosophie Schopenhauers und Richard Wagners Tristan als bedeutende Zeugnisse für das immer stärker werdende Leid der Individuation und die Sehnsucht zurück in eine verlorene Geborgenheit nennen. Unter diese Gegenbewegungen läßt sich die, etwa von der Wende unseres Jahrhunderts ab sich verstärkende Neigung zum Irrationalismus und philosophischen Intuitionismus einreihen. Innerhalb der als Lebensphilosophie bekannten, selbst wiederum komplexen, Erscheinung hat sie weite Bedeutung erlangt 3 8 ). Eine ihrer bemerkenswertesten Manifestationen ist wegen
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der Klarheit, mit der ihr Anliegen hier ausgesprochen ist, und wegen der fast religiös berauschten Begeisterung, die wir zugleich hinter seinen Formulierungen spüren, Max Sdielers Aufsatz: „Versuche einer Philosophie des Lebens" 3 4 ). Was uns im Werke Arnims mehr oder weniger nur in der Sphäre des Emotionalen greifbar wird, ist in diesem Aufsatz, den wir als eine geschichtlich späte Verkörperung der gleichen Tendenzen ansehen dürfen, konsequent durchdacht und zugleich noch vom gleichen Enthusiasmus durchglüht, mit dem das Zauberwort Leben auch Arnim erfüllte. Sdielers Gedanken können uns dazu verhelfen, und darum möchte ich einiges andeuten, Arnim tiefer zu verstehen, den Begriff des Lebens in rechter Weise in seine dichterische Welt einzuordnen. Scheler spricht von einer „neuen Haltung", von Anfängen der Umbildung innerhalb der europäischen Weltanschauung, die er in poetischen Schlußworten preist: „Sie wird sein wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten. U n d dieses Gefängnis wird unser, durch einen auf das bloß Mechanische und Mechanisierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu mit seiner Zivilisation sein. U n d jener Garten wird sein — die bunte Welt Gottes, die wir — wenn auch noch weit in der Ferne — sich uns auftun und hell uns grüßen sehen . . ," 3 5 ).
Spürt man hier nicht den gleichen Geist, der auch hinter Arnims Sehnsucht nach buntem Leben steht? Aber wir wollen zunächst versuchen tiefer in den Geist einzudringen, der sich hier ausspricht. Scheler demonstriert die so gepriesene „neue Haltung" an der Philosophie Bergsons. Er beschreibt sie zunächst vage und emotional „als ein Sichhingeben an den Anschauungsgehalt der Dinge, als die Bewegung eines tiefen Vertrauens in die Unumstößlichkeit alles schlicht und evident Gegebenen, als mutiges Sichselbstloslassen in der Ansdiauung und in der liebenden Bewegung zu der Welt in ihrer Angeschautheit . . ."36).
Der Verstand, das sei eine von Bergsons Zentralhypothesen 37 ), sei ein System von Selektionsfaktoren, welches die „andrängende Fülle des Seins, der Qualitäten und des unendlich mannigfaltigen heterogenen Werdens der wahren Welt"
im Hinblick auf ein mögliches Beherrschen dieser Welt siebe, stets einen pragmatischen Einschlag habe. Ein „purer Geist" würde diese „Auswahlstrukturen" unter sich sehen, so interpretiert Scheler, ihm „wäre jedes feste dingliche Sein in eine Fülle qualitativer Werdensströme aufgelöst, in eine unendlich mannigfaltige, fliehende Gesamtrealität — ähnlich jener, die wir im freien Strömenlassen unseres inneren Lebens erleben. Hier wäre nichts teilbar, nichts additiv verknüpft, nichts auseinander, sondern alles wäre in allem tätig" 3 8 ).
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Ziel der „neuen Haltung" sei, hinauszuschreiten über die gegenwärtige selektive Stufe des Denkens, auf ein intuitives Denken zu, das das „reine Bild des Alls" wiederherstelle 39 ). Den so Philosophierenden umspült, wie Sdieler sagt, „bis in seine geistige Wurzel hinein der Strom des Seins wie ein selbstverständliches und schon als Seins-Strom selbst — von allem Inhalt abgesehen — wohltätiges Element. Nicht der Wille zu Beherrschung, Organisation, eindeutiger Bestimmung und Fixierung, sondern die Bewegung der Sympathie, des Daseingönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle, in dem dem erkennend hingegebenen Blick die Inhalte der Welt allem menschlichen Verstandeszugriff immer neu sich entwinden und die Grenzen der Begriffe überfließen, durdiseelen hier jeden Gedanken" 40 ).
Was hier als denkerisches Ideal gepriesen wird, ist in Wirklichkeit die Aufhebung jeglichen Denkens 41 ) und der Verzicht auf Überschau über die Welt, in der wir leben. Nur ein Gott vermöchte so die umfassende, vielfältig bunte Wirklichkeit der Welt, wie es die mitgeteilten Zitate aussprechen, zu erfassen. Die Folge jenes Versuches die Endlichkeit des menschlichen Verstandes zu ignorieren, ist die passive Hingabe an das Strömen der Eindrücke. Sdieler wußte um diesen zentralen Einwand gegen seine „neue Haltung" und hat ihn verächtlich zu machen versucht, er komme von den „durch die Erdenarbeit hypnotisch gefesselten Geistern" 42 ). Lebensphilosophie im Sinne des Schelerschen Aufsatzes bedeutet unmittelbare Hingabe an den „Strom des Seins", aus dem Wunsch heraus, getragen zu werden, geborgen zu sein. Leben ist der Brennpunkt, in dem sich alle Intentionen dieser Welteinstellung vereinigen, Leben bedeutet Teilnahme an der Fülle der Welt. Genau in diesem Sinne müssen wir die Funktion des, nirgends klar durchreflektierten, Begriffs Leben im Denken Arnims auffassen. Leben heißt für den Einzelnen Geborgenheit und Einordnung absoluter Art und zugleich Teilnahme an der Fülle des Seienden. Die innere Richtung eines so konzipierten Lebensbegriffs drängt auf Passivität, Hingabe, Verzicht auf Überschau, denn Lebensvollzug und Denken stehen einander antagonistisch gegenüber, die Augenblicke höchsten und lebendigsten Erlebens schließen die gleichzeitige Reflektion über sie aus. Das Nachdenken über die Gegebenheiten menschlichen Lebens ist immer Rückschau, fällt, wie Bollnow einmal sehr schön sagt, in die „Pausen des wirklichen Existierens" 48 ). Es ist dies eine so einfadie Tatsache, daß sie jeder leicht aus eigenem Erleben bestätigen kann. Man kann sagen, daß jeder geistige Akt, ob es sich um philosophische Reflexion oder um dichterische Gestaltung handelt, der sich unmittelbar an Leben und Erleben anschließen will, den wesenhaften Abstand geistiger Tätigkeit verkennt, ihren der Wirklichkeit gegenüber selektiven Charakter 44 ),
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Der Begriff des Lebens in Arnims Epoche
sich selbst aufhebt. Welt und Wirklichkeit verschwimmen in ihren festen Konturen zu einem Ineinander und Durcheinander, so wie es sich in Schelers Darlegungen klar abzeichnet. Der so Betrachtende fällt der „Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube" 45 ), die Welt beginnt sich zu dezentralisieren, in lauter selbständige Einzelheiten und Mächtigkeiten zu zerfallen. Letzteres ist, wie wir an vielen Einzelzügen erfahren haben, in hohem Maße im Arnimschen Werke der Fall. In Arnims Einstellung zum Leben, wie idi sie im vorliegenden Kapitel angedeutet habe, wird uns etwas von der Notwendigkeit spürbar, mit der seine dichterische Welt so und nicht anders werden konnte als sie uns als kritisch Verstehenden erschien. Ein Wille, der auf Teilnahme und Getragenwerden drängt, ist so extrem in diesem Werke spürbar, daß aller Wille auf Formung und Überschau ihm gegenüber kraftlos wird. In diesem Sinne ist der Begriff des Lebens für die Erkenntnis des Arnimschen Dichtens der aufschlußreichste, den man neben dem des Einzelnen anführen kann; beide bilden in ihrem Verhältnis zueinander die Grundformel, auf die man sein Schaffen bringen könnte.
EXKURS: DER BEGRIFF DES LEBENS I N ARNIMS E P O C H E H . A. Korff möchte im Begriff des Lebens das Zentrum Goetheschen Dichtens erblicken48), darüber hinaus weist er ihm eine entscheidende Bedeutung in seiner Darstellung der Goethezeit an 47 ). Für Novalis, aber mit Ausblicken auf die Epoche, weist H . Brinkmann die Bedeutung des Lebensbegriffs nach48). Mit der Frage nach der Richtigkeit dieser Anschauungen und Deutungen können wir uns an dieser Stelle nicht auseinandersetzen. Abgesehen von ihnen bleibt aber die Tatsache bestehen, daß Leben und lebendig zu den am häufigsten gebrauchten Worten jener Epoche gehören. Ein Versuch zu ihrer Erfassung, der hier einsetzt, scheint mir sehr aussichtsvoll, fordert aber zunächst grundlegende Einzeluntersuchungen, die trotz dem Vielen, was zu diesem Thema bereits gesagt wurde, noch fehlen. Sie müssen wortgeschichtlicher Natur sein, vom Sprachgebraudi der Worte Leben und lebendig ausgehen und vor allem sorgfältig alle Bedeutungsgehalte ausschließen, die von modernem lebensphilosophischen Denken, das Nietzsche mitgeprägt hat, in dem biologische Theorien eine Rolle spielen, einfließen könnten. Der alternde Schlegel faßt fünfzehn 1821 zu Wien gehaltene Vorlesungen 1828 unter dem Titel „Philosophie des Lebens" zusammen. Die Philosophie des Lebens stellt er der Philosophie der Schule entgegen, so wie Wilhelm Grimm gefordert hatte, daß die „Philosophie ebensowohl wie die Poesie ein Resultat des Lebens" sein müsse
Der Begriff des Lebens in Arnims Epoche
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(Steig I I I S. 105). Seit Herder wurde es audi üblich, Dichtung nadi dem Grad ihrer Lebendigkeit zu beurteilen. Interessant sind in diesem Sinne die Rezensionen der „Dolores" und der „Kronenwächter" durch W . Grimm in den „Heidelberger Jahrbüchern" 5 0 ). Über die „Dolores": „Was die Poesie selber sei, wird uns ein ewiges Geheimnis bleiben, wie das Leben selber, das unaufhaltsam fortschreitend stets ein neues Antlitz zeigt und zu keiner verlassenen Gestalt zurückkehrt. So tut jeder originelle Dichter eine neue Welt auf, über die zu urteilen wir kein Recht haben, sondern, die wir anerkennen und ehren müssen." Die „Kronenwächter" nennt er eine „lebenswarme Dichtung", die aus einem „vollen überströmenden Herzen" geflossen sei, jedes Blatt gebe Zeugnis von ihrem Leben, welches auszulösdien in keines Menschen Gewalt stehe. Görres schließt die Ankündigungen seiner Heidelberger Vorlesungen am 6. November 1806 5 1 ) mit dem Wunsche, daß es ihm gelingen möge, indem er vom „Leben lebendig spricht" audi „Leben im Lebensfähigen zu erwecken". Eindrucksvoll ist die außergewöhnliche Häufigkeit, mit der er das W o r t Leben in seiner Schrift über die teutsdien Volksbücher 52 ) gebraucht. Das ganze Mittelalter wird dort unter dem Begriffe des Lebens gesehen: „Welch wunderseltsame Zeit ist nicht dieses Mittelalter, wie glühte nicht in ihm die Erde liebeswarm und lebenstrunken auf; wie waren die Völker nicht kräftige junge Stämme noch, nichts Welkes, nichts Krankhaftes, alles saftig frisch und voll, alle Pulse rege schlagend, alle Quellen rasch aufsprudelnd, alles bis in die Extreme hin lebendig!" 5 3 ).
Auf die Wiederkehr dieses Lebens, das in seiner Zeit versiegt ist, hofft Görres, denn „ewig beherrscht der Kreis alles Menschentum . . . mit dem Kreislauf ist ewiger Wandel und auch ewige Wiederkehr gegeben; unaufhaltsam dreht sich das Rad der Dinge jetzt durdi den Winter durdi und dann wieder durch des Frühlings Blüten" 5 4 ).
Aus der Fülle des zu Gebote stehenden Materials, dem idi ein paar Stichproben entnommen habe, seien noch folgende Verse Bettine von Arnims mitgeteilt: „Die Sterne wandeln ohne festen Stand, Der Bach enteilt der Quelle, kehrt nicht wieder, Des Lebens Strom, er woget auf und nieder U n d reißet mich in seinen Wirbeln fort. Sieh alles Leben! Es hat kein Bestehen, Es ist ein ewges Wandern, Kommen, Gehen. Lebendger Wandel! Buntes reges Streben! O Strom, in dich ergießt sich all mein Leben."55)
Was verbindet nun diese Epodie mit Leben? Leben und lebendig spielen mit vielfachen Zusammensetzungen im Wortschatz der Mystik und des Pietismus eine wichtige Rolle, das wird aus der Arbeit von August Langen deutlich 58 ). Durch manigfache Kanäle, die man teil-
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Der Begriff des Lebens in Arnims Epoche
weise im Einzelnen nachweisen kann, gingen sie in den allgemeinen Wortschatz über, wobei ihnen etwas, wenn auch säkularisiert und abgeschwächt, von der Bedeutung in jenen geistigen Strömungen haften blieb. Dort ist Leben Gott zugeordnet 57 ). Leben bedeutet dieser Epoche, darin treffen sich wohl die verschiedenen Auffassungen, wie sie sich in dem Gedicht Bettinens und Görres' Streben in die Tiefe, zu den Quellen des Lebens, andeuten, ob man das Leben als Strom oder im Bilde der blühenden
und vergehenden
Natur
sieht, Teilnahme
an
jener
schöpferischen Mächtigkeit, die aus Nichts und Chaos die Welt in ihrer bunten Fülle hervorgehen ließ. Man spürt allenthalben eine Verwandtschaft der romantischen Ideen des Lebens mit der christlichen Tradition dieses Begriffs, die man sicherlich annehmen muß. Sein Gebrauch in der Naturwissenschaft der Zeit ist sekundär. Man spürt das etwa an Reils Theorie der Lebenskraft, die die Unterschiede von organischer und anorganischer Natur aufheben will, im Leben eine Art universales Weltprinzip sehen will. Deutlich ist die Beziehung zur christlichen Tradition bei Fichte, in dessen Denken ja der Begriff des Lebens eine entscheidende Rolle spielt. Idi beziehe midi nun auf das Werk Arnims und das ihm in diesem Punkte sehr verwandte Schaffen von Görres, wenigstens des Görres der Heidelberger Zeit. Macht man sich dort klar wie wenig Leben aus-sichselbst-bewegt-sein bedeutet, wie sehr es Teilnahme an der weltschaffenden K r a f t bedeutet, so wird uns ein entscheidender Antrieb im Wirken dieser beiden Männer faßlich. ». . . wo ist all dies freudige Leben hingekommen, hat es in der Erde Klüfte sich gezogen, um zum neuen Springquell sidi zu sammeln?" 5 8 ),
fragt Görres nach seiner Schilderung des Mittelalters als des Lebensfestes, an dem alle europäischen Nationen teilgenommen 59 ). Arnim und Görres wirken, die „erstarrte Gegenwart" zu lösen, damit die Quellen des Lebens wieder empor dringen können. „ . . . auch wir, auch wir, können dahin, auch zu uns strömt Leben", hatte Arnim nach jener oben mitgeteilten Schilderung aus dem „Wintergarten" ausgerufen. Sein Aufsatz „Von Volksliedern" ist durchzittert vom Glauben an eine nahe anbrechende lebensvolle Zeit und der „Wintergarten" schließt symbolisch mit der Zerstörung eines künstlichen Blütengartens, weil der Winter vorbei, weil ein neuer Frühling anbricht. Als „Wintergarten" in dem vergangenes Leben bis zum neuen Frühling bewahrt ist lassen sich auch Titel und Sinn jener Erzählsammlung deuten. Arnims so sehr im politischen Sinn mißdeutetes Wirken für sein Volk, besonders während der Freiheitskriege, läßt sich als Eintreten für das Leben in jenem tiefen, eben erläuterten Sinn, verstehen.
Das Geheimnis, das Problem der beiden Welten
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Es ist der Forschung bekannt, welch große Rolle in der durch die Romantik bezeichneten Epoche hochgesteigerte Zukunftserwartungen gespielt haben, die manchmal geradezu den Charakter eschatologischer Erwartungen annahmen 6 0 ). Wir müssen den romantischen Lebensbegriff im Zusammenhang
mit den eschatologisdien
Erwartungen
der
Zeit
sehen, er kann zum Gefäß werden, das all diese Hoffnungen aufnimmt. D a s wurde uns bei Arnim spürbar, der an dieser Stelle, darum die Andeutungen dieses Exkurses, von seiner Epoche aus zu verstehen ist.
DAS GEHEIMNIS, DAS PROBLEM DER BEIDEN WELTEN „Wie oft soll es gesagt werden, daß wir von Wundern umgeben sind, sofern wir Geistesgröße genug haben, sie zu fassen . . . des Menschen Geist ringt sich am Wunderbaren stark . . . Die neuere deutsche Physik kann nach unserer Ansicht gar nicht die Geister bestreiten." Diese Sätze finden sich in der Besprechung von Jungs „Geisterkunde" durdi Arnim (1817, Geiger a . a . O . S. 17ff.). Die sehr aufschlußreidie Besprechung läßt sich als Teil eines umfassenderen Bemühens verstehen: dem Unerklärbaren und dem Geheimnis wieder zu seinem Recht in der Welt zu verhelfen, in einer Zeit, in der man im Gefolge der Aufklärung die Tiefen des Geheimnisses mit dem Lichte des Verstandes zu durchleuchten strebte, die Welt immer weiter zu durchforschen begann, das Geheimnis und Abenteuer der Ferne vernichtend. „So gings damals sehr häufig, die Welt war noch nicht so durchwandert und umschifft, es war damals dem Himmel noch leicht, durch einen guten Gedanken einem ehrlichen Kerl unter die Arme zu greifen und ihn zu erheben" (Werke III S. 235, vgl. Werke X V S. 95, Werke X I I I S. 450), heißt es von der vergangenen Zeit in den „KronenWächtern". In „ H a l l e und Jerusalem" stellt Cardenio dem Philosophen Wagner, der die Welt aus „Vernunft und Atomen" konstruieren will, das Geheimnis der religiösen Offenbarung entgegen. In seiner Vorrede zu Marlowes Faust spricht Arnim von der „Anmaßung des Bewußtseins, das unbekannte, unendliche Reich des Herzens und der Phantasie begrenzen zu wollen." (a. a. O. S. 36). D a s Eingreifen von Geistern, geheimnisvolle Fügungen, die alle Zufälle ineinandergreifen lassen, finden sich vielfach als Motive im dichterischen Werk Arnims. Auch das Problem der Schicksalsbindung des Menschen wäre hier zu nennen. In all seinen Werken finden sich Bemerkungen, meist Sentenzen und Reflexionen des Erzählers, aber auch Aussagen der von ihm geschilderten Menschen, die eine entsprechende geistige Einstellung formulieren.
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Das Geheimnis, das Problem der beiden Welten
Wir wollen einmal im ersten Teil der „Kronen wacht er" blättern. Schon die erste Bemerkung führt uns auf das Problem der beiden "Welten: „Aber so ists mit dem Menschen, der bildet sich viel auf seine Natur ein und meint, seine Liebe und sein Haß, seine Furdit und Hoffnung müssen einen wahren Grund und Boden in der Welt haben.* (Werke III S. 46).
Von dem träumenden jungen Berthold heißt es: „Ganz unbemerkt versank er in eine andere Welt, die sidi nur ungern mit jener befassen mag, in der wir zu wachen meinen." (Werke III, S. 62, vgl. audi S. 40, 56, 230).
Die Welt des Wachbewußtseins, die dem Verstände erfahrbare Welt, empfindet Arnim als von einer höheren, eigentlicheren Welt umschlossen, in sie eingefügt. In ihr herrscht das Geheimnis und das Wunder 61 ). Dadurch, daß der Mensch beiden Welten angehört, aber audi die Dinge dieser Wirklichkeit in die höhere hineinragen können, wird das, was einem Menschen widerfährt, für den Erlebenden wie für den Zuschauenden letztlich unbegreifbar. Mit einem Schauer, der bis zum Grauen gehen kann, reagiert der Mensch auf das Unbegreiflidie: » . . . es graute ihm vor dem Unnennbaren, der durch Zeichen dieser Welt andeutet, was eine andere mit ewiger Klarheit ausspricht." (Werke X S. 25).
Alles ist nur Zeichen eines höheren Ganzen. So kann der Einsiedler Anno in den „Kronenwächtern" sagen, er könne die Ereignisse dieser Welt immer nur als Gleichnisreden zur Belehrung, „aber nicht als etwas, das an sich bestehe", ansehen (Werke III S. 441). Das Problem des Eintretens für das Geheimnis zieht sich in der Frage nach dem Verhältnis der beiden Wirklichkeiten zusammen. Ich verweise zur Entlastung meiner Darstellung auf die Dissertation von Harald Riebe, für die diese Frage einen wesentlichen Gesichtspunkt zur Erfassung des Arnimschen Werkes ausmacht62). Was läßt sich aus dem Gesagten für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit folgern? „Wir Menschen sind Nachtwandler mitten am Tage, nur ein kleiner Kreis unsres Lebens ist zu unsrer Prüfung der freien Wahl überlassen, öfter ist es unsre höchste Tugend, dem Gesetze und dem Triebe unsres Herzens uns mutig zu überlassen, wo der Geist nidit widerspricht." (Werke III S. 107). „Was sind wir anders denn als Sommernachtsträume? Durch uns hin zieht der leichte Elfenflug der Gedanken, die mutwillig froh sich necken, und die kläglichen Schauspieler im dunklen Walde unserer Handlungen aufschrecken." („Erzählungen von Schauspielen" a. a. O. S. 161).
Das Eintreten für das Geheimnis grenzt dem Menschen mit dem Bereich des Überschaubaren auch die Möglichkeit der freien Willensent-
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Scheidung ein, bzw. ist eine Parallelerscheinung. D a wird vom „dunklen W a l d der H a n d l u n g e n " gesprochen und die Hingabe an den Trieb des Herzens empfohlen. Letzteres ist an sich noch nicht bedenklich, erst wenn es in der Radikalität geschieht, wie wir es von Arnims Menschen wissen, dann bleibt es nämlich nicht bei der H i n g a b e an den Trieb des Herzens, sondern der Mensch gibt sich an alles hin, was da in ihm drängt. Arnim neigt stets dazu, nur das Positive dieser Hingabe zu sehen. Der reinste Ausdruck für seine Haltung ist die Erzählung „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche F ä r b e r " . In märchenhafter Weise kommt der naiv vertrauende, nicht berechnende H e l d gleichsam schlafend in das L a n d des Glücks. D a s Gefährliche dieser Haltung haben wir bereits an anderer Stelle beobachten können, z . B . im Zusammenhang mit der Groteske. Es kam hier nur darauf an, zu zeigen, wie die Gesetzmäßigkeiten des Arnimsdien Gestaltens, die wir in den beiden ersten Abschnitten der Untersuchung ermittelt haben, in seiner Weltanschauung, als dem denkerisch bewußt formulierten Ausdruck seines Welterlebens, sich ausprägen. I m Eintreten für das Geheimnis, im Problem der beiden Welten, liegt einer der Schlüssel, welche zur Wesenserkenntnis des Arnimschen Schaffens führen. Es drückt sich in dem von Arnim so sehr durchdachten Problem der beiden Welten die Tatsache aus, daß der Mensch in diesem Schaffen nicht mehr Mittelpunkt ist.
RÜCKBLICK Die uns im Bereich des „Formalen" und im Weltverhältnis der von Arnim dichterisch gestalteten Menschen, in ihrem Lebensvollzug, sichtbar gewordene Tendenz zur Dezentralisierung, findet ihre Entsprechung im Bereich des Weltanschaulichen, des Gedanklichen, das ich durch H e r ausarbeiten von „Schlüsselbegriffen" zu erfassen suchte. Sie darf deshalb als Grundgesetz dieser dichterischen Welt gelten. Die beiden Aspekte: Dezentralisierung, Bindungslosigkeit, Zufallshingegebenheit und das Streben nach Einordnung in H a l t gewährende Zusammenhänge, die „organische Weltsicht", das scheinbare Gewicht des Normativen, stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis. Bindungslosigkeit und Determination vermögen ineinander umzuschlagen, bedingen sich wie Bewegung und Gegenbewegung. (Man darf nicht, vom Gewicht des Normativen ausgehend, Arnim gegen die übrige Romantik als Überwinder ihrer Krisen absetzen.)
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Die Deutung der Rolle, welche Arnim dem Einzelnen zumißt, hilft uns dieses dialektische Verhältnis, das in seinem Ineinander und Gegeneinander die Grundstruktur seiner dichterischen Welt bildet, zu verstehen. Arnim glaubt, daß seine eigene, von Gegensätzen zerspaltene Zeit, die den Menschen orientierungslos zu machen droht, überwunden werden kann, daß man wieder an die ideal gesehene Vergangenheit anknüpfen kann. Er ersehnt für die Zukunft wieder eine so lebensvolle, lebenskräftige Welt, wie sie nach seiner Ansicht einmal in vergangener Zeit gewesen ist. Seine aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit geborene Zukunftshoffnung wird seinem Schaffen zu einem mächtigen Antrieb, bestimmt die von ihm beabsichtigte Wirkrichtung seines Dichtens (wie wir sie etwa in den an die Zeitgenossen gerichteten Mahnungen und Belehrungen fassen können): er will einer besseren Zukunft vorarbeiten. Der Weg, auf dem sich seine Erwartungen in der Welt verwirklichen sollen, führt nach seiner Auffassung über die Vernichtung der unberechtigten Position des Einzelnen in seiner Zeit. Er allein steht der Lebenseinheit entgegen, verschließt sich dem Strömen lebendiger Kräfte. Er muß wiederum einen fest bestimmten Platz innerhalb des Ganzen einnehmen, dann überwindet er zugleich die eigene Not der Isolierung. Indem sich Arnim seiner Phantasie, seinen Einfällen, dem, was in ihm dichtet, hingibt, überwindet er für sidi nach seinem Glauben die Position der Isolierung, lebt als Dichter in der Welt wie sie sich seiner Sehnsucht darstellt. Wo immer wir ihn als Gestalter fassen konnten, verhielt er sich hingebend und nachgebend, als einer der sich tragen und treiben ließ, der immer wieder seine Formkraft, von dem, was auf ihn einwirkte, überspülen ließ. Daß seiner Dichtung das Echo, die ersehnte Breitenwirkung (s. seinen Wunsch Volksdichter zu werden) versagt blieb (noch nach 1900 war die Auflage seiner gesammelten Werke nicht verkauft), liegt daran, daß sie als Phantasiedichtung zu sehr in sich ruht; jede verbindliche Form zerspringt vor dem Nachgeben gegenüber der Phantasie. Die Problematik der Vereinzelung ist Arnims zentralste und entscheidendste geistige Erfahrung. Er versucht sie zu lösen unter Verkennung der historischen Situation und der wesenhaften Unumkehrbarkeit des Geschichtsprozesses, indem er glaubt, daß es möglich sei, die geschichtlich gewordene Isolierung des Einzelnen durch seine Wiedereinfügung in übergreifende Ordnungen zu beheben, die historisch gewordenen Gegensätze aufzuheben. Ich möchte abschließend zu skizzieren versuchen, wie das Mittelpunktserlebnis des „hochmütigen isolierten" Einzelnen zum Kristallisationspunkt wird, um den sich die Struktur
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von Arnims dichterischer Welt bildet, die verschiedenen Gegebenheiten ordnen, die in den Bereich seines Denkens und Erlebens hineinwirken. In welchem Verhältnis steht Arnim zu seinem Zentralerlebnis, das ihm an seiner Einstellung zur Vergangenheit deutlich wird? Es entspringt einmal dem Nachdenken über die geistige Situation der Zeit, er konnte hier genügend, ihn zutiefst erschreckende, Erfahrungen machen, zum anderen, und das ist viel wesentlicher, spürt er, wie nah er selbst der mit Schrecken geschauten Gefahr steht. Wie anders ließen sidi sonst Gestalten wie Hollin, wie Dolores, wie der Markese, wie Cardenio, verstehen, wenn sie nicht eine innere Selbsterfahrung voraussetzten? In seiner Gestaltung ist Arnim wie Hollin bis zur Hingerissenheit jedem neuen Eindruck gegenüber offen. Seiner primär gegebenen Labilität fehlt die feste Einstellung, er hat in der eigenen Seele erfahren, was er in seinem Schaffen zu überwinden trachtet. Allerdings sicher nicht als eine gedanklich zu klärende und zu fassende Erfahrung, er ist innerlich zu sehr von der ihr zu Grunde liegenden Welteinstellung erfüllt als daß er die nötige Distanz gewinnen könnte. Sie bleibt in ihrer Wirksamkeit unbewußt, ist spürbar, erfahrbar, aber nicht in echter Weise zu überwinden: Die Haltung, aus der heraus Arnim die erspürte Gefahr der Orientierungslosigkeit zu überwinden trachtet, ist die gleiche, die seine unbewußte Erfahrung erst auf sie hinlenkt. Die Labilität und Nachgiebigkeit den andringenden Erlebnisinhalten gegenüber wandelt sich in die Forderung einer möglichst vorbehaltlosen Hingabe und einer absoluten Einordnung in Bergung gewährende Zusammenhänge. Nur der, der sich immer wieder auf sich selbst zurückzuziehen vermag, sich der in die Tiefe des Seins reichenden Kräfte seines Inneren zu versichern vermag 6 4 ), gewinnt die K r a f t der Überschau über sein Leben, formend über all dem zu stehen, was auf ihn eindringt. Wenn es ihm auch nie gelingt, eine Herrscherstellung zu gewinnen, so ist er doch nie der wehrlos Preisgegebene. Im Bereich des Psychologischen beginnend als Forderung, sidi von seinen Eindrücken nicht überwältigen zu lassen, besteht ein Anspruch an den Menschen, der bis zur Forderung reicht, seine Mittestellung innerhalb der Schöpfung, die ihm potentiell zukommt, zu verwirklichen, die Welt von den Wesensforderungen des Menschen her, die er in sich spürt, zu gestalten, statt ein Spielball der Geschicke und Mächte zu werden, die auf ihn eindringen, ihn tragen, aber auch vernichten können. Die, Arnims Sehnsucht nach einer festen Orientierung entspringende, Bewegung dringt über den einzigen Punkt, der ihr Gewährung bringen könnte, das in rechter Weise erlebte Ich, eben diesen „orientierungslosen" Einzelnen selbst, hinaus zur Forderung einer absoluten Einord10 Rudolph, Achim von Arnim
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nung. Vom Einzelnen wird die Ausschaltung seiner Eigeninitiative gefordert. Die ihrem Ursprung nach negative Haltung der Hingerissenheit und Labilität, wird Arnim bewußt als die Antwort des Einzelnen auf die berechtigte Forderung jener überindividuellen Zusammenhänge und Mächtigkeiten. Die Deutung des Bewußtseins sanktioniert damit nachträglich die unbewußt gespürte und gefürchtete Haltung der Hingerissenheit, ja macht sie zu einer allgemeinverbindlichen Forderung. Arnim steht im Bann all jener Kräfte, die ihn von einer besonnenen Überschau wegdrängen, wenn er die positiven Aspekte des Einzelnen wegen einer, zweifellos auch vorhandenen, Problematik mit verwirft. Die Art der geforderten Einfügung erfolgt nämlich nicht über die Anerkennung einer normativen Forderung, die an das schwankende Ich herangetragen wird, ist nicht T a t , bewußter Entschluß. Die ursprüngliche Richtung der Hingabe, des Nachgebens, wird nidit gebrochen, sondern sogar noch radikalisiert. Die Verantwortung wird abgewälzt auf die tragenden Mächte außerhalb des Ich, des Einzelnen. Die Hinwendung zu Bereichen von überpersönlicher Gültigkeit erfolgt aus der Sehnsucht nach Sicherung und Geborgenheit. Die bergenden Bereiche, so wie sie Arnim konzipiert, lassen sich in zwei Gruppen trennen: 1. Sie sind dem einzelnen Menschen gegenüber beziehungslos, unbewegt ob dessen Geschick und Vergehen, verharren von hier aus gesehen in größtmöglicher Abstraktheit. Es wären in diesem Zusammenhang anzuführen: das Volk, das ewig aus seinen eigenen Gesetzen lebt, das nur des Menschen als eines Gliedes in der Kette seines Fortlebens bedarf, dem er aber in seiner Besonderheit in jeder Hinsicht bedeutungslos ist, die Zeit, die aus sich abläuft, in die der Mensch mit seinem Schicksal hineingebunden ist, die als Organismus verstandene Welt, in der er nur ein Glied ist. Das Streben, ihn typisch zu sehen, die Idee der Lebenseinheit einer vergangenen Zeit, weisen in diese Richtung. 2. Sie stehen zwar jenseits und über dem Menschen, sind aber zugleich Träger der projezierten Strebungen und Forderungen seines Ich selbst, seines Wunsches, sich spontan verhalten zu dürfen, räumen als soldie dem Einzelnen eine weitgehende Freiheit der Einstellung ein. Der Bereich des Lebens und was ihm nahe steht muß hier genannt werden. Die Geschichte gehört hier her, indem sie Freiheit gibt, das bunte Leben, wo es erscheint zu fassen, sich an ihm zu orientieren. Die Freiheit, die diese Bereiche innerhalb der Geborgenheit gewähren, läßt sich mit dem Begriff des Unmittelbaren fassen. Die Möglichkeit der Einstellung und Hingabe an die verschiedensten Erlebnisinhalte ist so zahlreich wie die Fülle der Erlebnismöglichkeiten, die das Geschehen des
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Lebens birgt. Man fühlt sich getragen von der Bewegung des Lebens, der man sich hingibt. Es entsteht auf diese Weise ein dialektisches Schwanken zwischen äußerster Freiheit und Ungebundenheit und strengster Determination, je nachdem innerhalb welches Bereichs Arnim den Mensdien sieht, vom Gesetz welches Bereichs er sich selbst überformen läßt. Wo er den Mensdien als Repräsentant des Lebens sieht, da gewinnt der Zufall, der Einfall, das Momentane an Gewicht, er selbst läßt sich in seinem Gestalten tragen und treiben, überläßt sich dem Einfall. Aber ebenso kann er den Menschen plötzlich als unter dem Gesetz der Determination stehend erleben, wenn er etwa das Schicksal als Repräsentant all der Bereiche sieht, in die der Mensch hineingebunden ist, fatalistische Züge auftauchen, wenn er auf einmal um die Kausalität seelischer Prozesse weiß. Allerdings darf man nicht vergessen, daß auch da, wo äußerste Freiheit zu herrschen scheint, im Verhältnis zum Bereich des Lebens, wo sich der Erlebende nach Belieben hierhin und dorthin wenden kann, sich das Geschehen des Lebens letztlich aus seinen eigenen Gesetzen vollzieht (von daher die Fähigkeit des Bereichs des Lebens, dem sich ihm Hingebenden das Gefühl getragen zu werden, geborgen zu sein, zu vermitteln), der Einzelne insofern wieder gebunden ist, als hier jeglicher Wille, selbst Schwerpunkt im Geschehen der Welt zu werden, radikal verneint ist, auch wo sein Eigenwille berechtigt wäre. Mit dem Einzelnen als dem geheimnisvollen Zentrum der Welt, das allein imstande ist, den ständig drohenden Umschlag von Orientierungslosigkeit zu Determiniertheit zu lenken, zu verhindern, daß jeweils das Pendel zu weit nach einer Seite ausschlägt, wird im Grunde' der Mensch überhaupt ausgeschaltet als das eigentlich schöpferische Element im Geschehen der Welt, als der, welcher vor allen Geschöpfen Gott gegenüber Verantwortung hat. Es ist vergessen, daß der Mensch, wie Pascal sagt, den Menschen um ein Unendliches übersteigt, daß er das eigentliche Überraschungszentrum der Welt ist. Er wird vom Mitwirkenden zum Zuschauer degradiert, vertauscht seinen Standort an der Spitze der Schöpfung, der ihm nach dem göttlichen Weltenplan zukäme, mit dem Zufallsstandort innerhalb des bunten Lebensgeschehens, das er nicht mehr zu überblicken vermag. Das Geschehen der Welt geht letztlich über ihn hinweg. Das Gewicht verlagert sich in der Welt, wie sie Arnim erlebt und gestaltet, vom Menschen auf die Mächte. Die berühmte Wende vom Individuum zur Gemeinschaft, die Arnim mit seiner Epoche teilt, ist nur Ausdrude einer tiefer gehenden Wandlung. Die Gegenbewegung gegen die Aufklärung, gegen die Versuche, den verständigen Menschen zum Mittelpunkt einer rational überschaubaren Welt zu machen, schlägt M*
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ins andere Extrem um, sie verdrängt den Menschen aus seiner natürlichen und berechtigten Zentrumsstellung, nimmt ihm audi da, wo sie ihm zukommt, die Initiative aus der H a n d . Der außerordentliche Beifall, den bei Arnim der Spruch f a n d , den ihm Goethe ins Stammbuch schrieb: „consiliis hominum pax non reparatur in orbe" 8 5 ), stimmt uns in diesem Zusammenhang nachdenklich. Die Welt, die strukturell auf den Menschen bezogen war, nämlich die von der geistigen Macht der Weimarer Klassik geprägte, in die Arnim hineingeboren war, löst sich auf. Es vollzieht sich ein Vorgang der Dezentralisierung, der darin gipfelt, daß die Welt doppelbödig wird. (s. das Problem der beiden Welten.) Die Einheit des denkerisch ausgesprochenen, wie des dichterisch gestalteten Bildes der Welt ist allenthalben zerrissen. Hier liegt die Gefahr des Arnimschen Werkes, das darin repräsentativ f ü r weitgreifende geistesgeschichtliche Umschichtungen ist. Der Mensch wird immer stärker irrationalen K r ä f t e n preisgegeben. Das deutete sich in der zur Lebensphilosophie verlängerten Linie an oder in der Parallele, die idi im Zusammenhang mit Arnims Phantasie zum Surrealismus zog. Diese Gefahr äußert sich am deutlichsten in der Sphäre des Personalen. Die Einheit der Person und die Kontinuität des Lebensvollzugs drohen zu zerbrechen. Die ethische und religiöse Verantwortlichkeit sind gefährdet, auch wenn Arnim diese in seinen bewußt vertretenen Ideen und Lehren besonders stark betont. (Vielleicht als Gegenreaktion gegen diese erspürte Gefahr.) Der Mensch wird Spielball seiner sinnlichen Eindrücke, gibt dem nach, was jeweils den stärksten Eindruck auf ihn ausübt. Die theoretisch noch unangegriffene und selbstverständliche Position Gottes ist, von der geistesgeschichtlichen Entwicklung aus gesehen, heimlich bereits gefährdet. Jederzeit können andere Mächte an seine Stelle treten, das Leben, oder, wie es sich in der „Gräfin Dolores" andeutet, die N a t u r , „die sich in ihrer Sehnsucht und Laune selten ungestraft widersprechen läßt . . . sie allein weiß, was sie will, wir aber wollen, was wir nicht wissen". (Werke VII S. 77, vgl. Werke VIII S. 112). Was uns die einzelnen Gegegebenheiten des Arnimschen Werkes vermitteln, ist Ausdruck jener sich in der Tiefe der Welt, wie sie Arnims Erleben erscheint, vollziehenden Bewegung zwischen den Extremen äußerster Freiheit und absoluter Determination, die zu bannen beim Ubertritt in das gestaltete W o r t die formende Schöpferkraft des Dichters nicht ausreicht. Was sie uns nicht vermitteln, ist die Überzeugung, daß hier etwas entstanden ist, das in dem einleitend im Ansdiluß an Heidegger skizzierten Sinne eine Welt genannt werden darf,
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ein vom Dichter als Sinnträger her geformtes Ganzes. Nur in einem metaphorischen Sinne dürfen wir diesen Begriff hier gebrauchen, um darzutun, daß hier ein von einheitlichen Grundkräften durchwalteter Komplex vorliegt, — aber eine dieser Grundkräfte ist eben die Tendenz zur Dezentralisierung, die es nie zu einem geschlossenen Ganzen kommen läßt, immer wieder aus sich wirkende Eigenmächtigkeiten zuläßt. Idi möchte, das sei abschließend gesagt, die Anwendbarkeit des eingangs skizzierten Weltbegriffs nicht zu einem Mittel machen, das es erlaubt, ein dichterisches Werk zu verwerfen oder zu akzeptieren, ich glaube auch nicht, daß sich von hier aus immer ein dichterisches Werk erfassen läßt, lediglich eine methodische Funktion möchte ich ihm zuerkennen. Im Falle Arnims hat er uns geholfen, die Struktur seiner dichterischen „Welt" in ihren Grundzügen zu erschließen, ihre geistesgesdiichtliche Einordnung anzudeuten, von hier aus zu einer Wertung anzusetzen. Das Ergebnis einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung läßt sich nicht evident machen wie ein mathematischer Satz. Einzig die innere Übereinstimmung aller herangezogenen Gegebenheiten, so daß diese sich gegenseitig erhellen, läßt in uns das Gefühl aufkommen, daß eine Deutung zu Redit besteht, eine dichterische Welt in ihrer Struktur und ihrem Wesen erschlossen ist. Kann die Deutung einer Einzelheit willkürlich erscheinen, die Auswahl einzelner Belege den Interpreten einer subjektiven Bewertung verdächtig machen, so verliert dieser stets zu Recht bereite Einwurf seine K r a f t , wenn alle Einzelheiten in die gleiche Richtung zu deuten scheinen. Ich glaube, daß die vorliegende Untersuchung den Punkt erreicht hat, wo das mitgeteilte Material für sich selbst sprechen möge.
Anmerkungen (Die Anmerkungen sind, getrennt nach den vier Abschnitten der Untersuchung, jeweils innerhalb eines Abschnittes durchlaufend nummeriert.) Abschnitt
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*) Staiger: „Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters", Zürich und Leipzig, 1939, S. 16. 2) ibid. S. 15. 3 ) Zur Kritik der Steigschen Briefausgaben s. E. Beutler FDH 1934/35 S. 368. Vor allem bedenklich sind darin die nicht zu rechtfertigenden Kürzungen Steigs. In der vorliegenden Arbeit kommt es lediglich darauf an, daß genügend Untersuchungsmaterial zur Verfügung steht, um ein gesichertes Ergebnis zu erreichen. Diesem Anspruch genügen bereits die gekürzten Briefabdrucke durch Steig, so daß wir an dieser Stelle nicht näher auf deren Kritik einzugehen brauchen. In ähnlicher Weise wird hier ja auch nicht die ganze Breite des Arnimschen Werkes erschöpft, weil bereits geeignete Ausschnitte das Untersuchungsergebnis festlegen. 4 ) M. Heidegger: „Vom Wesen des Grundes", Frankfurt 1955, S. 37. 5) ibid. S. 37. β) ibid. S. 39. 7 ) Vgl. Emil Staiger: „Grundbegriffe der Poetik", 3. Aufl., Zürich 1956, S. 173. Staiger weist darauf hin, daß in ästhetischer Forschung die Begriffe Stil und Welt austauschbar sind. 8 ) „Ahnung und Gegenwart" : „Sämtliche Werke", hist. krit. Ausg. ed. W. Kosch und A. Sauer, Regensburg 1913, Bd. 3 S. 153. e ) Neben Brentano, der von der Möglichkeit sprach, daß Arnims scharf gesehene Personen plötzlich „ein wenig gespensterisch" werden (Steig I S. 282), möchte ich nur Scherer nennen, der als erster auf die damit verbundene Gefährdung der Realität hinwies, einem Problem, auf das wir oben nicht eingehen können. Siehe W. Scherer: „Kl. Schriften", Berlin 1893, Bd. II S. 118. 10 ) Im Gespräch mit Varnhagen, vgl. Schriften der Goethegesellschaft, Bd. XIV, ed. Oskar Walzel und Carl Sdiüddekopf, Weimar 1899, S. 346. n ) Werke I S. VII, ähnlich äußert er sich Görres gegenüber, vgl. „Neue Heidelberger Jahrbücher" X S. 162. 12 ) Wie wenig Arnim die Form als inneren Ausdruck des Inhalts empfindet, spiegelt sich in folgender Äußerung: „Ich habe meine Johanna zu ungeheurer Dicke in gereimten Jamben fertig; da mir aber Reimer (der Verleger) gesagt hat, daß Verse keinen sonderlichen Absatz haben, so wird täglich eine gewisse Zahl in Prosa zusammengezogen, aus Drama in Erzählung" (Arnim an Clemens Brentano, Steig I S. 307), ebenfalls in der Sorglosigkeit, mit der er die Gattungsformen behandelt. Den „Hollin" plant er als eine „Art Trauerspiel mit Erzählung und Briefen durchschnitten" (Steig I S. 52). Seine dramatischen Dichtungen sind in ihrer Episodenaufschwellung oft nur dialogisierte Epik, ernste und grotesk-komische Szenen werden gemischt, es fehlt jeder straffe Aufbau, vor allem die Kategorie der Entscheidung, die jede echte dramatische Handlung weitertreibt. Bezeichnend sind die Untertitel, die Arnim seinen Dramen gibt: „eine Geschichte in vier Handlungen" (Auerhahn), „dramatische Erzählung in drei Handlungen" („Marino Caboga"), „ein Nachspiel" („Das Frühlingsfest"), „Schattenspiel" („Das Loch . . . " ) , „Puppenspiel" („Die Appelmänner"). Er sucht bunte Welt in wechselndem Spiel vorzuführen. Das ist
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aber eine spezifisdi epische Absidit, die dramatische Form bleibt äußerlich. Vgl. dazu auch Gundolf a. a. O. S. 366 ff. 13) „Neue Heidelberger Jahrb." X S. 143, Brief vom 2. July 1810. κ ) a . a . O . S. 48 ff. und S . 5 2 f f . ι») Brief an W. Grimm Steig I I I S. 50. ιβ) Vgl. Ricarda Hudi: „Ausbreitung und Verfall der Romantik", Leipzig 1902 S. 129 ff. !