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German Pages 460 [464] Year 2012
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 195
Christian Metz
Die Narratologie der Liebe Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹
De Gruyter
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
ISBN 978-3-026520-0 e-ISBN 978-3-026521-7 ISSN 0081-7236 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Systematik: Zum Verhältnis von Literatur und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . .
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Methodische Grundlagen der bisherigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Semiologie und Narratologie der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Semiologische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Romantische Hermeneutik: Lektüre als Intimsystem . . . . . . . . 2.1.2 Voraussetzung semiologischer Liebe: Das dekonstruktivistische Textmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Liebeskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Mit der und wider die Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Narratologische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Histoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Discours – die Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Narratologische Präsentationsformen der Liebe . . . . . . 2.2.3 Narratologische Modelle der Liebeskommunikation . . . . . . . . 2.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Historische Verortung des Projekts und Auswahl des Primärtextes . .
19 23 23 27 34 51 54 58 71 72 77 87 88
III. Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1.
Auf der Suche nach der romantischen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
2. Romantische Liebe hin, romantische Liebe her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Romantische Liebe im Zeitraffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Liebesinitiation als totale Emphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Romantische Liebe und die Poetik des Bildungsromans . . . . . . 2.1.3 »Domestizierte Liebe« in »wilder Form«: Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zurück auf Los. Romantische Liebe revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Liebe kann kein Zufall sein. Die Vivisektion eines Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gefühlsmechanismen: Individualisierung, Polykontextualität, Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 107 107 109 111 114 114 117 V
2.2.2.1 Dolores: Prämissen der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Karls Prämissen der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Zahnraderotik: Das persönliche Kennenlernen und die Zirkulation von Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Nach der Theorie: Was bleibt von der romantischen Liebe? . . . . . . .
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Bewegter Stillstand: Von der Verlobung in die Brautzeit . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kohärenz des Liebesmodells. Die Verlobung als Drehkreuz des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Liebe im Zeichen des Rings. Chronik einer Dauer-Krise . . . . . . . . . . 3.3 Liebe als kontinuierliche (Selbst-)Überredung. Kommunikationsformen in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Tägliche, allzu alltägliche Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Porträtkunst als Festhaltestrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Epistolare Un-Gewissheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Gekaufte Liebe: Geld regiert die Liebeswelt . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zirkulation ohne Ende. Die Ökonomisierung der Ehe . . . . . . . . . . . .
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156 160 163 164 170 177
4. Dolores’ Liebestragödie: Geschlechterkampf als Krieg der Theoreme . . . . 4.1 Hochmut oder Demütigung? Das ist hier die Frage . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die patriarchalische Gewalt im Kostüm des Alltäglichen . . . . . . . . . . 4.3 Die Unterdrückung der (Ehe-)Frau: Dolores chancenlos . . . . . . . . . . 4.4 Von der Krise zum Ehebruch – Verführte Demut . . . . . . . . . . . . . . .
180 180 185 194 207
5.
218 218 225 235 242 246 249 251
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Karls Liebestragödie: Autorschaft und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Karl als liebender Poet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Simulation einer Herzenssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Autorschaft und Liebeserlebnis: Wer zu spät kommt, den... . . . . . . . 5.4 Karls Poesie der Schwebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Poesie als Kompensation: Der liebende Autor auf Sicherheitssuche . . 5.6 Roman vs. Protagonist: Das Drama poetischer Autorschaft . . . . . . . . 5.6.1 Erdichtung und Enteignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.1 (Subjektives) Erlebnis statt (objektiver Wiederholung des) Ereignis’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.2 Zur Enteignung des Subjekts – Polyphone vs. Geniale Autorschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Die Erfindung des Subjekts und die polyphone Autorschaft des Markese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Eine Herzensangelegenheit: Karls Selbstmord als moralisches Theater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Die ›Gräfin Dolores‹ als melancholischer Liebesroman . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Erzähler als melancholisch Liebender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Plädoyer für ein gesundes Misstrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Der melancholische Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI
251 254 261
6.1.3 Mitten drin, statt nur dabei: Am Anfang war – die verpasste Liebeschance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Vom Schicksal geschlagen. Melancholisch Lieben . . . . . . . . . . 6.1.5 Vom Gefühl zum Programm: Erzählen im Zeichen melancholischer Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Noch eine Liebesbeziehung: Der (implizite) Autor und die verpasste Liebesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Wahrheitsliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Verwischung des Ursprungs: grundlos glücklich . . . . . . . . 6.2.3 Autorschaft: Mit Pfeil und Bogen im Labyrinth der Texte . . . . 6.3 Leserverführung: Wer die ›Gräfin Dolores‹ liest, der liebt . . . . . . . . . 6.3.1 Der Erzähler und die Reiselust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der (imaginäre) Leser und die Lust des Verstehens . . . . . . . . . 6.3.3 Die Verführung des Lesers und die Lektüre der Wollust . . . . . 7. Letzte Runde: Die tödliche Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Am Nullpunkt der Liebe: Heilige Liebe hin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Im Kontinuum: Realistische Liebe her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Expansion und Eskalation: Vom Liebes- zum Familienroman . . . . . . 7.4 Der Anfang vom Ende ist, dass man nichts vergisst: Die Rückkehr des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Dolores’ Liebestod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284 287 290 301 301 305 311 317 317 320 325 346 346 353 376 389 407
IV. Zusammenfassung und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 V. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
VII
I.
Einleitung
Wer Achim von Arnims ›Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores‹ liest, begibt sich in Gefahr.1 Bis heute eilt dem 1810 publizierten Roman der zweifelhafte Ruf voraus, er werfe »die Prinzipien zeitgenössischer Erzählkunst, wie sie im europäischen Gesellschaftsroman oder deutschen Bildungsroman galten, über den Haufen«.2 Die ›Gräfin Dolores‹ entfessele ihre »revolutionäre Form«3 »zum Chaos der extremen Verwilderung.«4 Die Romantik, nicht gerade für konventionelle Erzähltexte bekannt, habe »kaum einen ›verwilderteren‹ Roman hervorgebracht.«5 Noch die jüngste Studie zu Arnims Roman konstatiert, obwohl sie sich ausdrücklich Romanexperimenten widmet und sich mit allen poststrukturalistischen Theoremen rüstet, »Arnims ›Gräfin Dolores‹ müsste dem Projekt zur Feuerprobe werden.«6 Die »heftige, gefährdende, teils lebensbedrohliche Dimension«7 von Arnims Text ist kein Gespenst, das nur die Arnimforschung heraufbeschwört. Niemand geringerer als Joseph von Eichendorff hat ihr in seinem 1815 erschienenen Roman ›Ahnung und Gegenwart‹ ein eindrückliches Denkmal gesetzt.8 In dessen 12. Kapitel erzählt ein Vater, wie er sich auf den Weg macht, »um die seltsame Wirtschaft [s] eines Sohnes, von der [er] so viel gehört hatte, mit eigenen Augen anzusehen. Schon unterwegs hörte ich von einem seiner besten Freunde«, so berichtet er,
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Im Folgenden zitiert nach: Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, ›Hollin’s Liebesleben‹, ›Gräfin Dolores‹, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 1989 (›Gräfin Dolores‹ umfasst in dieser Ausgabe die Seiten 100–684). Michael Lützeler, Kommentar zur ›Gräfin Dolores‹, Struktur und Gehalt. In: Ders. (Hg.), Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, ›Hollin’s Liebesleben, Gräfin Dolores‹, Frankfurt am Main 1989, S. 685–794, hier S. 754. Michael Lützeler, Kommentar zur ›Gräfin Dolores‹, S. 760. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf. Zu Arnims ›Dolores‹. In: Gerhard Neumann (Hg.), Romantisches Erzählen, Würzburg 1995, S. 107–120, hier S. 107f. Nicola Kaminski, Kreuzweise lesen: »Changent Taft« und Venus Spiegel. ›Männliche‹ Schrift in ›weiblichen‹ Augen in Arnims ›Gräfin Dolores‹. In: Dies., Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik, Paderborn u. a. 2001, S. 237–305, hier S. 237. Nicola Kaminski, Kreuzweise lesen, S. 237. Vgl. Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Arnims Erzählwerk, Bern 1996, S. 61f. Zu Arnims Einfluss auf Eichendorff vgl. Wolfgang Frühwald, Repräsentation der Romantik. Zum Einfluß Achim von Arnims auf Leben und Werk Joseph von Eichendorffs. In: Aurora 46 (1986), S. 1–10.
1
daß sich manches verändert habe. Das Mädchen oder Weib meines Sohnes habe nämlich von ohngefähr ein Buch in die Hände bekommen und sie sei endlich darüber in eine schwere Krankheit verfallen. Das Buch war kein anderes, als eben diese Geschichte von der Gräfin Dolores.9
Als der Vater im Haus seines Sohnes ankommt, findet er die Kranke in ihrem Bett. Später am Abend bemerkt er, dass das regungslos vor ihm liegende Mädchen keineswegs schläft. Sie ist gestorben. Die Diagnose ist eindeutig: Tod durch Lektüre. Was den Vater unterdessen hindert, den Todesfall vor seinen Augen sofort nach seinem Eintreten als solchen zu erkennen? Der Vater vertieft sich in ein Buch, und man ahnt schon in welches: In der Stube fand ich auf einem Tisch ein Buch aufgeschlagen, es war die Dolores. Ich wollte die Kranke nicht wecken, setzte mich hin und fing an in dem Buche zu lesen. Ich las und las, vieles Dunkle zog mich immer mehr an, vieles kam mir so wahrhaft vor, wie meine verborgene innere Meinung oder wie alte, lange wieder verlorene und untergegangene Gedanken, und ich vertiefte mich immer mehr.10
Der Vater gerät in den Bann des Romans,11 und dem Sog »dieser Geschichte mit den tausend Geschichten«12 entkommt er nur, weil das reglos vor ihm liegende Mädchen ihm nach Stunden schließlich ebenso viele Rätsel aufgibt wie die ›Gräfin Dolores‹. Einzig die Frage, warum sich das Mädchen nicht rührt, reißt ihn aus seinem Lesefluss. Ihr Tod rettet ihn aus den Klauen des Romans. Leugnen hilft angesichts der soeben skizzierten Wirkungsgeschichte nicht: Die vorliegende Arbeit zu Arnims ›Gräfin Dolores‹ entsteht aus Lust an der Gefahr. Sie stellt sich dem Abenteuer, einen als unzugänglich, rätselhaft verschrienen und (vielleicht deshalb) an den Rand des romantischen Kanons gedrängten Roman zu lesen. Die Studie will erstens einen dezidierten Beitrag zur Arnimforschung leisten. Allerdings geht es ihr dabei nicht zuvorderst um Gefahr und Tod, sondern um die Liebe. Denn Arnims ›Gräfin Dolores‹ ist nicht nur ein wilder Text, sie ist vor allem auch ein Liebesroman.13 Die Arnimforschung hat in der Liebe ein Antidotum gegen die gefährliche Wildheit des Textes ausgemacht. Dieses Gegengift wirke zum einen auf formaler Ebene: Fuhrmann etwa behauptet, Arnims Text sei »eine Art Liebesspiegel« und bilde mit Hilfe seiner unzähligen Einlagen von Gedichten, Erzählungen und ganzen Dramen wie ein speculum amoris alle Variationen der Liebe ab.14
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Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart. In: Ders., Werke in einem Band, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 2007, S. 447–744, hier S. 585f. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 585. Zum romantischen Topos der wahnsinnig machenden Lektüre vgl. Jörg Bong, Texttaumel. Poetologische Inversionen von »Spätaufklärung« und »Frühromantik« bei Ludwig Tieck, Heidelberg 2000. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 582. In dieser Einschätzung ist sich die Arnimforschung ausnahmslos einig. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹. Versuch einer Interpretation, Köln 1958, S. 115f.
Wie ein »Band der Ideen« umfasse die Liebe den heterogenen Erzähltext und sorge damit für seine Einheit.15 Die versöhnende Kraft der Liebe entfalte sich zum anderen auch auf inhaltlicher Ebene. Dort erzählt der Roman, wie seine beiden Protagonisten, die Gräfin Dolores und der Graf Karl sich verlieben und kurze Zeit darauf heiraten. Dolores betrügt Karl, er aber verzeiht ihr, und das Paar lebt gemeinsam mit zwölf Kindern, bis Dolores’ Tod sie scheidet. Die bisherigen Interpreten sind sich nun darüber erstaunlich einig, dass Arnims Roman zwar die Geschichte eines Ehebruchs entwerfe16 und zunächst eine »pessimistische Liebesauffassung«17 verbreite, aber letztlich weise er eine deutliche Tendenz auf: »Er ist ein Lob der Ehe, das Alternativen zu dieser Lebensform nur negativ ausspielt.«18 Oder, wie es von Graevenitz formuliert: Der Roman »domestiziert nicht seine Form«, aber er »propagiert [...] einen domestizierten Liebes-Begriff.«19 Im Gegensatz zur Arnimforschung spielt die vorliegende Arbeit Wildheit und Liebe nicht gegeneinander aus, sondern schreibt Arnims Roman einen anderen Charakter zu: Die ›Gräfin Dolores‹ ist – so meine Hauptthese – ein Roman über die romantische Liebe. Sie unterzieht das romantische Liebeskonzept einer radikalen Kritik, analysiert scharfsinnig dessen Funktionsmechanismen und interne Logik und legt dessen Aporien schonungslos offen. Als eine »›erzählte‹ Theorie«20 verschreibt sie sich dem zugleich literarischen, anthropologischen, philosophischen, psychologischen und soziologischen Projekt, die romantische Liebe bis in das letzte Detail zu untersuchen.21 In ihrer Auseinandersetzung vollzieht sie nicht etwa eine konservative Wende. Keineswegs domestiziert sie das romantische Liebeskonzept,
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Bei Fuhrmann selbst heißt es: »Der gesuchte Hauptschlüssel, dessen wir uns bedienen müssen, um die verwirrende Fülle des Werkes unter einem einheitlichen Gesichtspunkt aufzuschließen, ist das Thema der Liebe. Auf diesen Generalnenner läßt sich die Menge der Episoden und Einlagen des Romans, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenso zurückführen wie die Handlung, in deren Zentrum als eine bestimmte Form der Liebe die Ehe steht.« Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 106. Ernst-Ludwig Offermanns, Der universale romantische Gegenwartsroman. Achim von Arnim Die ›Gräfin Dolores‹ – Zur Struktur und ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Köln 1959, S. 99. Renate Moering, Die offene Romanform von Arnims ›Gräfin Dolores‹. Mit einem Kapitel über Vertonungen Reichardts u. a., Heidelberg 1978, S. 137. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 116. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 107. Diese Kategorie führt Gerhard Neumann in seinen »Lektüren der Liebe« ein. Er zeigt, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Liebe von Platons Symposion an über Lukrez bis zu Ovid in erzählerischer Form stattfindet. Arnims Roman trägt sich angesichts dieser Überlegungen gezielt in eine Traditionslinie ein. Vgl. Gerhard Neumann, Lektüren der Liebe. In: Heinrich Meyer und Gerhard Neumann (Hg.), Über die Liebe. Ein Symposion, München 2001, S. 9–81, hier S. 49. Zur Anthropologie im Zeichen einer »beobachtenden Vernunft« vgl. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1977.
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sie etabliert vielmehr eine radikalisierte Form romantischer Liebe: eine romantische Liebe revisited. Damit potenziert die Liebe die Gefahr, die von der Wildheit des Textes ausgeht. Die Dekonstruktion des romantischen Liebesbegriffs korreliert mit jener der traditionellen Romanform. Der Roman wendet seine Reflexionsleistung zugleich poetologisch. Als ein Metaroman durchquert die ›Gräfin Dolores‹ die traditionellen wie die um 1800 gängigen Schreib- und Redemuster von Liebesromanen, stellt sie zur Diskussion und konstituiert gezielt eine neue Form, Liebe zu erzählen. Über diese Neubewertung von Arnims ›Gräfin Dolores‹ hinaus, ist es – zweitens – das Ziel der vorliegenden Arbeit, einen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Liebesforschung überhaupt zu leisten. Diese hat in den letzten Jahren einen ungeheuren Boom erlebt. Doch so zahlreich die Untersuchungen über die Liebe im und zum Roman sind, es gibt bisher keine Monografie, die eine spezifisch literarische Liebe rekonstruiert, oder genauer: einen narratologischen Liebesbegriff systematisch präzisiert und am literarischen Text operationalisiert. Dies holt das vorliegende Dissertationsprojekt nach. Damit ist zugleich das dritte Ziel der vorliegenden Arbeit benannt. Betrachtet man das Analyseverfahren meiner Studie aus narratologischer Sicht, dann leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Historisierung und Kontextualisierung der Erzähltextanalyse. Sie schließt auf diese Weise systematisch an das Feld der Literaturwissenschaft an, das jüngst Studien wie Vera und Ansgar Nünnings ›Erzähltextanalyse und Gender Studies‹ eröffnet haben.22 Für die Gender Studies gilt dasselbe wie für die Liebesforschung. Beide lassen sich mit der Narratologie zu einer produktiven Allianz vereinen. Es geht darum, das theoretische und taxonomische Erkenntnisinteresse der Erzähltextanalyse, welche die komplexen Strukturen, die das Erzählen einer Geschichte konstruieren, möglichst genau beschreibt,23 mit den kulturhistorischen und -theoretischen Überlegungen der Liebesforschung zu koppeln und so der formalen Beschreibung von Textstrukturen eine literaturgeschichtliche und interpretatorische Relevanz zukommen zu lassen. Damit überwindet die vorliegende Arbeit ein doppeltes Manko: Denn bisher spielt die Kategorie »Liebe« in der Erzähltextanalyse keine Rolle, während die Liebesforschung bislang narratologische Prämissen – wie beispielsweise die Trennung von histoire und discours – vollständig ignoriert und ihre Erkenntnisse fast ausschließlich im Hinblick auf die erzählte Geschichte gewonnen hat.24 Auf die Frage: »Why don’t Love Studies do Narratology?«25 antwortet die vorliegende
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Vera und Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies. Unter Mitarbeit von Nadyne Strizke, Stuttgart und Weimar 2004. Vera und Ansgar Nünning, Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 5ff. Zu einer vergleichbaren Ausgangslage aus Sicht der Gender Studies vgl. Vera und Ansgar Nünning, Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 8f. Vera und Ansgar Nünning, Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 7. Die Frage könnte auch lauten: Warum verzichten die Liebesstudien darauf, ihre Interpretationen durch erzähltheoretische Kategorien zu untermauern?
Arbeit mit der Frage: »Und warum machen Narratologen keine Liebesforschung?« Und sie beantwortet beide Fragen, indem sie im Zuge ihrer systematischen Überlegungen einerseits, und ihrer akribischen Arbeit am literarischen Text andererseits das Zusammenspiel der beiden Theorien exemplarisch erprobt.26 Um diesen drei Zielvorgaben gerecht zu werden, verfährt die vorliegende Arbeit in zwei Schritten. Sie stellt erstens ihre systematische Grundlage vor (Kapitel II). Dazu geht sie von Luhmanns Definition der Liebe als ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« aus und entwickelt im kritischen Dialog mit der Liebesforschung (II, 1) einen semiologischen und narratologischen Liebesbegriff (II, 2 u. II, 3). Zudem verortet die Studie ihre Systematik historisch, indem sie darlegt, warum die eigenen Überlegungen an Arnims ›Gräfin Dolores‹ und damit an einem um 1800 erschienenen Roman fruchtbar gemacht werden (II, 4). In ihrem zweiten und umfassenderen Teil erprobt die Studie ihre systematischen Überlegungen im Zuge einer akribischen Lektüre von Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹ (Kapitel III). In einem close reading führt sie vor, wie sich ein narratologischer Liebesbegriff für die Textarbeit fruchtbar machen lässt und welche Erkenntnisse man mit dieser (neuen) Perspektivierung der Liebesthematik gewinnt. Die Lektüre arbeitet heraus, wie gekonnt Arnims Roman sich in den romantischen Liebesdiskurs einschreibt, dessen Aporien und Paradoxien aufdeckt, reflektiert und in ein poetisches Programm umsetzt (zum Verlauf der Analyse s. u.). Arnims Roman, der in Sachen Liebe bislang als konservativ und reaktionär galt, kommt – unter der neuen Perspektive – eine wesentliche Funktion im literarischen Liebesdiskurs zu. Er stellt eine entscheidende Wegmarke in der evolutionären Entwicklung literarischer Liebe dar. Die Studie schließt mit einem Rück- und Ausblick (Kapitel IV). Sie schaut von Arnims ›Gräfin Dolores‹ zum einen auf den literarischen Liebesdiskurs der Empfindsamkeit zurück und wirft zum anderen einen Blick voraus auf den so genannten realistischen Roman und den Liebesroman der Moderne. Die Lektüre von Arnims Roman gibt den Anlass zu einem solchen Rundumblick, weil sie vorführt, dass die narratologische Fragestellung auch bei anderen Liebesromanen neue Erkenntnisse hervorbringt und dies Auswirkungen auf die Geschichte der literarischen Liebe hat. In den Fokus geraten solche Liebesromane, die alte Schreibweisen und Redemuster hinterfragen sowie durchkreuzen und neue narrative Liebesprogramme konstituieren. Diese Liebesromane haben als Grenzgänger zwischen einzelnen Liebesdiskursen in der bisherigen Geschichte der Liebesliteratur eher eine marginale
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Indem die Studie ihren Schwerpunkt auf die Lektüre eines Textes legt, füllt sie zugleich eine Lücke der bisherigen Forschung. Die produktive Allianz zwischen Narratologie und Literaturgeschichte ist in der Theorie zwar weit gediehen, aber die Forschung beschränkt sich erstens nur auf die Allianz zwischen Erzähltextanalyse und Gender Studies und zweitens fehlt es an konkreten Arbeiten am Text, welche die theoretischen Überlegungen in die Lektürepraxis umsetzen.
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Rolle gespielt. Unter der veränderten Perspektive aber kommt ihnen eine erheblich gesteigerte Bedeutung zu. Um zumindest die Umrisse eines derart strukturierten literarischen Liebesdiskurses zu skizzieren, betrachtet die vorliegende Arbeit eine Reihe solcher Schwellenromane.
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II. Systematik: Zum Verhältnis von Literatur und Liebe
1.
Methodische Grundlagen der bisherigen Forschung
Wer eine literaturwissenschaftliche Studie zur Liebe verfasst, begibt sich nicht etwa in Gefahr, sondern betritt ein gut bestelltes und liebevoll gehegtes Feld. Das liegt wahrscheinlich daran, dass seit Jahrhunderten eine Gewissheit als unumstößlich gilt, nämlich die, dass die Literatur und im Besonderen den Roman immer schon eine enge Verbindung mit der Liebe auszeichne. Diese symbiotische Beziehung bestätigt sich, gleich ob Johann Rist 1688 resümiert, in jenen »wahrscheinlichen Geschichten / oder Fabelhafften Historien / die man gemein Romans nennet« seien »mehrenteils leichtfertige Liebeshändel« zu finden,1 ob Friedrich Schlegel 1799 postuliert, »der Geist der Liebe muß in der romantischen Poesie überall unsichtbar sichtbar schweben«,2 oder ob Iris Radisch in der Wochenzeitschrift ›Die Zeit‹ die Literatur als das Medium bezeichnet, in dem man »noch immer unendlich viel von der Liebe erfahren [kann].«3 Mit dieser Gewissheit lässt sich gut forschen. Und so hat die geistes- und insbesondere die literaturwissenschaftliche Liebesforschung in den letzten Jahren (mal wieder) eine Konjunktur erlebt. Dies bezeugen nicht zuletzt zwei jüngst erschienene Habilitationsschriften und eine Dissertation.4 Die Zahl der Studien zu einzelnen Werken verschiedener Autoren und Epochen ist kaum mehr zu überblicken, und die Flut der Tagungs- und Sammelbände wie der Einzelvorträge reißt nicht ab. Trotz der vermeintlichen Diversität hat sich in den vergangenen Jahren ein methodischer common sense herausgebildet. Dessen Grundlagen arbeite ich im Folgen1
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Johann Rist, Die alleredelste Zeit=Verkürtzung Der Gantzen Welt, Frankfurt 1688. In: Eberhard Mannack (Hg.), Johann Rist, Sämtliche Werke, Bd. 6, Berlin, New York 1967, S. 336f. Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Ders., Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 473–529, hier S. 513. Iris Radisch, Zeichen und Wunder. Gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand: Sie machen auch glücklich. In: Die Zeit 51 (2005), S. 1. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik, Freiburg 2002. Niels Werber, Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, Würzburg 2005, S. 32. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt am Main und New York 2005.
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den heraus, um im zweiten Schritt meine eigenen systematischen Überlegungen anzuschließen. Hinter Niklas Luhmanns systemtheoretische Vorgaben, die er in seiner Studie ›Liebe als Passion‹ entwickelt hat, fällt seit den neunziger Jahren keine Arbeit mehr zurück.5 Luhmann definiert Liebe als ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«.6 Das Medium »Liebe« dient dazu,7 eine an sich unwahrscheinliche Kommunikation möglich zu machen, und fungiert speziell in Angelegenheiten mit höchstpersönlicher Relevanz. Seine Aufgabe besteht darin, Unwahrscheinlichkeitsschwellen, die eine intime Kommunikation verhindern oder erschweren, zu verschieben oder zu überwinden.8 So steuert das Medium Liebe über die Kommunikation innerhalb einer Liebesbeziehung hinaus auch schon die Suche eines Menschen nach einem Partner. Erst der Liebescode »macht das Fehlen eines Partners überhaupt spürbar und ermöglicht zugleich, sich vorab auf die Konsequenzen einer potentiellen, intimen Kommunikation einzustellen.«9 Dazu bedient sich das Medium spezifischer, semantischer Felder im Kontext von ›Liebe‹ und ›Freundschaft‹. Es operiert mit Begriffen, die Gefühle bezeichnen oder auf bestimmte Sachverhalte verweisen.10 Es ist wesentlich für die Kommunikation, dass das Medium selbst kein solcher Sachverhalt ist, sondern nur auf diesen verweist. In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.11
Mit dieser Definition errichtet Luhmann eine neue Hierarchie. An oberster Stelle steht der Liebescode, dem das Gefühl nur noch untergeordnet ist. Das Gefühl ›Liebe‹ ist stets den Regeln dieses Codes unterworfen. Der ermöglicht nicht nur eine Kommunikation über Emotionen, sondern vielmehr werden die Emotionen erst mit seiner Hilfe entfaltet. Deshalb müssen Gefühle – unabhängig davon, ob sie echt oder nur vorgetäuscht sind – immer in ihrer Relation zu dem Code betrachtet werden, der sie prägt. Diese Neuordnung des soziologischen Diskurses, die Luhmann interessanterweise anhand von poetischen Texten entwickelt, hat weitreichende Konsequenzen. Eine Person, die mit einem bestimmten Code kommuniziert, entwickelt Gefühle, die diesem spezifischen Code folgen. Eine Liebesbeziehung kann also nur unter der Voraussetzung ent- und bestehen, dass beide Partner in einem für den anderen verständlichen Liebescode kommunizieren. Der Code 5 6 7 8 9 10 11
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 9. Zu diesem Medienbegriff vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 6ff. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 21 u. 28. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 23. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 22. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 23.
aber verändert sich nicht nur von einem Kulturraum zum anderen, er verschiebt sich auch im Laufe der Zeit. Er ist einer evolutionären Entwicklung ausgesetzt. Dieses Denkmodell erlaubt es, die diachrone Veränderung des Liebescodes und damit auch die der Gefühle zu untersuchen, die nach dessen Vorgaben produziert werden. Und genau dies leistet Luhmanns Studie, wenn sie den Zusammenhang von Semantik und Gesellschaft, von Kommunikations- und Systemtheorie von der mittelalterlichen Minne über die passionierte bis zur romantischen Liebe aufzeigt.12 An Luhmanns Entwurf der Liebe als eines kulturellen Codes hat die Literaturwissenschaft angeschlossen, indem sie ihn mit diskursanalytischen, wissenssoziologischen und semiologischen Theorien (vor allem) von Michel Foucault13 und von Roland Barthes’14 gekoppelt hat. Dass dies nicht nur möglich ist, sondern regelrecht auf der Hand liegt, belegen exemplarisch Roland Barthes’ Überlegungen zum »Diskurs der Liebe«, mit denen er – deutlich an Foucaults Diskursanalyse anschließend – Luhmanns Einsichten 1977 bereits antizipiert: Obwohl der Diskurs der Liebe lediglich ein Schwarm von Figuren ist, die sich in unvorsehbarer Reihenfolge, nach Art der Zickzackflüge einer Fliege im Zimmer jagen, kann ich der Liebe doch, wenigstens retrospektiv, imaginär, ein geregeltes Werden und Entstehen bezeugen: durch eben diese historische Phantasie mache ich daraus manchmal: ein Abenteuer.15
Zum einen hebt Barthes hervor, dass von Liebe nur in Form schematischer Figuren und damit in Form eines semantischen Codes die Rede sein kann. Luhmann holt mit seinem Codebegriff also nur nach, was der Strukturalismus einige Jahre vor ihm bereits gedacht hat.16 Zum anderen (prä-)formuliert Barthes Luhmanns Ausgangsfrage, nämlich wie aus dem Zickzackkurs der Liebe ein geregeltes Werden konstruiert werden kann. Mit der von Barthes geforderten »historischen Phantasie« zeigt Luhmann, wie der gesellschaftliche Diskurs den Liebesdiskurs prägt, und zwar, indem der Übergang vom stratifikatorischen zum funktionalen Gesellschaftssystem die Regeln der Liebessemantik im 18. Jahrhundert bestimmt.
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Luhmanns zentrale These besagt, dass es vor allem die Komplexität des Gesellschaftssystems und die Kontingenz seiner Operationen ist, deren Veränderungen dadurch beantwortet werden, dass sich die Semantik verschiebt. Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1994. Ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt am Main 1988. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main 1988. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 50. Die systemtheoretische Verschiebung besteht darin, die Evolution des Codes an den Übergang vom stratifi katorischen zum funktionalen Gesellschaftssystem zu stellen. Zum Zusammenhang von Systemtheorie und Diskursanalyse vgl. auch Reinhardt-Becker, Seelenbund und Partnerschaft, S. 41ff.
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Im Wissen um die soeben vorgeführte Synergie hat sich die Literaturwissenschaft in den vergangenen dreißig Jahren enthusiastisch in das Barthessche »Abenteuer« gestürzt. Gekonnt hat sie den Zickzackflügen der Liebe ein Ende bereitet. Sie hat die Liebessemantiken gejagt und erlegt und ordentlich nebeneinander auf dem germanistischen Küchentisch drapiert. Eine ganze Reihe diskursanalytischer Arbeiten rekonstruiert, wie sich die »Semantik der Liebe« in der Literatur diachron verändert hat, korreliert diese Einsichten jeweils mit dem Einfluss anderer Wissensdiskurse und setzt zudem synchrone Schnitte. Mit den letzteren hält eine kulturwissenschaftliche Arbeitsweise Einzug in die Liebesforschung. Für die kulturwissenschaftliche Analyse sind alle vereinfachenden Metanarrationen verdächtig, weil sie angeblich alle problematischen und abweichenden Strömungen ausblenden. Vielmehr erweitert die Kulturwissenschaft in der Konsequenz eines semiologischen Kulturbegriffs das intertextuelle Interpretationsmodell, indem sie lebensweltliche, kulturelle Ereignisse und Handlungen als Texte aus Signifkanten begreift, die im System der Kultur Bedeutung tragen und mehr: diese erst hervorbringen.17 Sie führt vor, wie sich die literarischen Texte mit anderen Texten ihrer Zeit austauschen, untersucht »die Herkunft der sprachlichen, inhaltlichen und rhetorischen Elemente von Kunstwerken« und verfolgt, wie »die ›Fäden‹ aus den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen in einen Text hinein [...] und auch wieder aus ihm hinaus[führen]«.18 Der partikulare literarische Text wird in den Bezug zu jeweils partikularen philosophischen, anthropologischen, historischen, medizinischen und populären Texten gestellt. So erscheint das einst als autonom angenommene literarische Kunstwerk als Teil eines umfassenden Textes der Kultur. Es ist in den Zusammenhang eines synchronen Feldes von Texten gestellt, die an dem Diskurs derselben Zeitspanne partizipieren.19 Unter dieser Prämisse zeigt sich anhand des einzelnen literarischen Textes, wie sich der Liebesdiskurs aus unterschiedlichen Wissensdiskursen speist. Mit ihrem diskursanalytisch-kulturwissenschaftlichen Doppelblick hat die Literaturwissenschaft die Semantik der Liebe im Medium der Literatur inzwischen von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne nahezu lückenlos rekonstruiert. Das lässt sich sogar behaupten, wenn man über Arbeiten, die sich einzelnen Autoren widmen, oder über wissenschaftliche Aufsätze schlicht hinwegsieht.20 Das Ziel, das
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Moritz Baßler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, S. 148. Moritz Baßler, New Historicism, S. 134. Vgl. dazu auch Joseph Vogl, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–18. Das Spektrum der untersuchten Semantiken ließe sich sicherlich noch erweitern, denn auch die Forschung zur Liebe in der mittelalterlichen Literatur blüht seit einigen Jahren auf. Einen Überblick über die mediävistische Liebesforschung, welche Luhmanns Begriff »höfischer Liebe« als undifferenziert kritisiert, bietet Rüdiger Schnell, »Die ›höfi-
alle diese Analysen teilen, ist es – wie beispielsweise Julia Bobsin in ihrer Arbeit ankündigt –, die blinden Flecken von Luhmanns Studie zu beseitigen.21 Zum einen dort, wo er semantische Ausformungen der Liebe in der Literatur überspringt, zum anderen dort, wo seine soziologische Perspektive dadurch erweitert werden kann, dass man weitere Wissensdiskurse einbindet.22 Anschließen können diese Studien zudem an Luhmanns systemtheoretische Überlegungen in ›Die Kunst der Gesellschaft‹.23 In dessen Nachfolge konzentrieren sie sich darauf, welches Austauschverhältnis die Literatur (als Teil des Systems »Kunst«) mit ihrer Umwelt pflegt und wie das Verhältnis der Liebe in der Literatur zu dem in den anderen Diskursen zu denken ist. Diese Denkmatrix prägt auch die handlungssoziologischen Überlegungen, welche die Systemtheorie anstellt, um das Zusammenspiel zwischen literarischem System und der Wirklichkeit zu beschreiben, die durch den Leser vertreten wird.24 So resümiert bereits Schwanitz, dass die Koevolution von Liebe und Roman dazu führt, dass der Leser Liebe(n) aus der Literatur lernt. Nach Schwanitz weckt der Roman exaltierende Erwartungen und vor diesen warnt der Roman dann wieder.25 Den einzelnen Arbeiten hat die literaturwissenschaftliche Liebesforschung grundlegende Einsichten zu verdanken, auf die auch die nachfolgende Analyse von Arnims Roman zurückgreift. Sie basieren auf derselben methodischen Grundlage, sodass ihre jeweiligen Ergebnisse sich wie Puzzleteile zusammenfügen lassen und letztlich ein umfassendes Bild der Liebe entwerfen. Die Analysen unterscheiden sich hingegen durch die unterschiedlichen Schwerpunkte, die sie in der diachronen Betrachtung setzen, in der Auswahl der Primärtexte und der außerliterarischen Wissensdiskurse, die sie untersuchen. Im Folgenden gebe ich einen derartigen Überblick über die einzelnen Arbeiten, dass
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sche Liebe‹ als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Eine Standortbestimmung. In: Poetica 23 (1991), S. 374–424. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800, Tübingen 1994, S. 9. Das trifft nach Bobsin auf die 25 Jahre zwischen 1774 und 1799 zu. Dort habe Luhmann »den Eindruck, daß die Unterschiede von Autor zu Autor in dieser Zeit größer sind als die Unterschiede zwischen den historischen Epochen. Keine Leitdifferenz kann sich durchsetzen [...].« Diese Lücke zu schließen, sieht sie als Ziel ihrer Arbeit an. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise, S. 9. Dasselbe Argumentationsschema findet sich bei Reinhardt-Becker, die den literarischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit gegenüber Luhmanns »Kurzsichtigkeit« stark macht. Vgl. Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 38f. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. Zu diesem Zusammenhang von Liebe und Literatur vgl. auch Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 45f. Sowie Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990, S. 157 u. 160f. Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, S. 129. Auch diese handlungssoziologischen Überlegungen implizieren, dass Liebe und Literatur zwei von einander getrennte Phänomene sind, die eine hohe »Affinität« zueinander aufweisen, eng aneinander gekoppelt sind, aber immer voneinander getrennt zu betrachten sind.
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die chronologische Entwicklung des Liebesdiskurses in der Literatur sichtbar wird. Um auf die Erkenntnisse der bisherigen Liebesforschung gezielt zurückzugreifen, gehe ich auf die Arbeiten, die sich der Romantik und damit der Entstehungszeit von Arnims Roman widmen, ausführlicher ein als auf die Studien zu anderen Liebessemantiken. Die diachrone Rekonstruktion der Liebessemantik setzt im Rahmen der neueren deutschen Literaturwissenschaft mit Peter Raus ›Speculum amoris‹ ein, der sich in seiner Arbeit dem Zeitraum von 1640–1750 widmet und damit die Entwicklung der Liebessemantik bis zu dem Zeitpunkt nachvollzieht, den Luhmann als Beginn der »Neuzeit« bestimmt.26 Georg Jäger nimmt diesen Faden auf und untersucht Liebe, Literatur und Individualität gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das Gemeinsame von (romantischer) Liebe und Literatur sieht er in ihrer Abhängigkeit von der »produktiven Einbildungskraft«.27 Auch Niels Werbers Studie ›Liebe als Roman‹ schließt direkt an Rau an. Sie deckt den Zeitraum zwischen Barock, Empfindsamkeit und Romantik ab. Werber »möchte abstecken, was der Roman der Liebe und die Liebe dem Roman zu verdanken hat«, man werde sehen, »genau wie die Liebenden können die beiden nicht ohne einander sein.«28 Damit greift er auf ein seit Platon unumstritten gültiges Denkmodell zurück.29 Obwohl er eine symbiotischen Beziehung heraufbeschwört, denkt er Liebe und Literatur unabhängig voneinander: Hier die Liebe, dort die Literatur. Hier das Gefühl, dort der Text. Werber diagnostiziert eine Differenz zwischen der im System »Literatur« entworfenen Liebessemantik und der in der außerliterarischen Umwelt existierenden Liebe. Er untersucht mit Hilfe poetologischer, ästhetischer und literarischer Texte, »was an der Liebe im Roman gerade der Gattung des Romans geschuldet ist und nicht der Codierung von Intimität.«30 Erst aus ihrer Verbindung – dass diese eine Liebesbeziehung sei, ist Werbers Pointe – entwickeln sich die unterschiedlichen Varianten des Liebesromans. Mit dem ersten Teil von Werbers Studie überschneidet sich zum einen Nikolaus Wegmanns Untersuchung ›Diskurse der Empfindsamkeit‹,31 und zum anderen
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Peter Rau, Speculum amoris. Zur Liebeskonzeption des deutschen Romans im 17. und 18. Jahrhundert, München 1994. Georg Jäger, Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik: Produktion, Kommunikation und Vergesellschaftung von Individualität durch »Kommunikative Muster ästhetisch vermittelter Identifi kation«. In: SPIEL 9 (1990), H 1, S. 69–87. Ich erwähne diese Arbeit, weil Jäger mit ihr an seine wichtige Studie anschließt: Ders., Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 1969. Niels Werber, Liebe als Roman, S. 32. Vgl. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Artikel: Liebe, Darmstadt 1980, S. 290–328. Niels Werber, Liebe als Roman, S. 18 u. S. 40. Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988.
Jutta Greis’ Analyse zum deutschen Trauerspiel. Greis untersucht das »Drama Liebe« zwischen 1770 und 180032 und behauptet, die individualisierte Liebe habe ihr Medium zuerst im bürgerlichen Trauerspiel gefunden. Julia Bobsins Arbeit, die den Zeitraum ›Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe‹ untersucht, überschneidet sich mit dem zweiten Teil von Werbers Arbeit. Auch Julia Bobsins arbeitet gekonnt an der Schnittstelle von Diskursanalyse zur Kulturwissenschaft.33 Ihr Titel gibt eine diachrone Betrachtungsweise des literarischen Liebesdiskurses vor. Im Zuge ihrer Studie setzt Bobsin aber drei synchrone Schnitte und verfolgt, welche Wissensfäden von »außerliterarische[n] Diskurse[n] über Liebe, Ehe und Sexualität« jeweils in Goethes ›Werther‹ in Jean Pauls ›Hesperus‹ und in Schlegels ›Lucinde‹ hinein führen. Dazu zieht sie unter anderem den sozialgeschichtlichen, den juristischen, philosophischen, ästhetischen, medizinischen und pädagogischen Diskurs um 1800 heran.34 Hingegen legt es Thomas Klinkerts Studie ›Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe‹ auf eine andere Art synchroner Austauschprozesse an.35 Er richtet seinen Blick weniger auf den Kontext des literarischen Diskurses, sondern vergleicht vielmehr vier europäische Liebesromane. Um dieses komparatistische Vorhaben legitimieren zu können, entwickelt er im systematischen Teil seiner Arbeit, wie sich an der Schwelle um 1800 europaweit die Bedingungen der Möglichkeit literarischen Schreibens grundlegend verändert haben. Der historische Einschnitt vor 1800 bestätigt sich aus soziologischer, historischer, ästhetikgeschichtlicher und diskursarchäologischer Sicht auf je unterschiedliche Weise. Von dieser gemeinsamen Basis aus vergleicht Klinkert die einzelnen Romane. Seine Erkenntnis gewinnt er konsequenterweise im doppelten Blick sowohl auf die Gesellschaft als auch auf die Literatur: Während die Literatur die Gesellschaft um 1800 stabilisiere, garantiere die Liebe die Einheit des Subjekts, die durch den Wandel vom stratifikatorischen zum funktionalen Gesellschaftssystem bedroht sei. Diese Homologie führt Klinkert zu dem Schluss, die Literatur könne sich ihrer eigenen Funktion sowie ihrer Darstellungsweisen und -probleme selbstreflexiv im Medium der Liebe vergewissern. Hinderers prominenter Sammelband überschreitet vollständig die Jahrhundertwende 1800 und widmet sich den ›Codierungen von Liebe in der Kunstperiode‹.36 Jochen Hörisch erarbeitet von Goethes ›Lehrjahren‹ aus die Logik der Liebe im
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Jutta Greis, Drama Liebe. Liebessemantiken im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1991. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise, S. 10ff. Auch Elke Reinhardt-Becker gibt im Zuge ihrer systematischen Überlegungen an, diskursanalytisch und kulturwissenschaftlich zu arbeiten, holt diese Aussage aber später nicht ein, sondern zieht zu neunzig Prozent literarische Texte für ihre Untersuchung heran. Vgl. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 41ff. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Walter Hinderer (Hg.), Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997.
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Bildungsroman und weitet die Liebesforschung über Gottfried Kellers ›Der grüne Heinrich‹ bis zu Thomas Manns ›Zauberberg‹ aus.37 Reinhardt-Becker hingegen untersucht zunächst den romantischen Liebesdiskurs und setzt ihn anschließend gegen die Liebe der Neuen Sachlichkeit ab. Sie geht davon aus, dass nicht ein einzelner literarischer Text, sondern alle Texte gemeinsam und gleichsam keiner, den romantischen Code erfunden haben: »Sie alle waren es, und es war keiner von ihnen«.38 Diese aus systemtheoretischer Sicht nachvollziehbare These, die sie mit Luhmann teilt, führt zu dem Verfahren, dass sie die einzelnen literarischen Texte als Belegstellen für Luhmanns Theorie romantischer Liebe verwendet. Dazu zitiert sie aus den unterschiedlichsten Texten von Achim von Arnim, Novalis, Friedrich Schlegel, »Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Dorothea Schlegel, Sophie MereauBrentano [...] und, und, und...«.39 Reinhardt-Becker bleibt Luhmann auch insofern treu, als sie die literarischen Texte »nur im Blick auf die Themen« liest; und schon am Beginn ihrer Studie ankündigt, »auch die Unterschiede zwischen den Texten werden keine Rolle spielen«, obwohl »heterogene Textsorten ins Spiel [kommen], die sich sowohl in ihrer Form (Roman, Erzählung, Essay, Feuilleton-Text) als auch in ihrer literarischen Qualität (Höhenkamm- und Trivialliteratur) radikal unterscheiden.«40 Tatsächlich formuliert Reinhardt-Becker das Ergebnis ihrer Studie auch nicht im literaturwissenschaftlichen, sondern im systemtheoretischen Paradigma. Sie falsifiziert Luhmanns Behauptung, der binäre Code romantischer Liebe bestehe aus der Option zwischen »persönlicher/keine Relevanz« und überbietet Hartmann Tyrells Vorschlag von »Verstehen/Nichtverstehen« insofern, als sie der romantischen Liebe den binären Code von »Totalverstehen/Nichtverstehen« zuschreibt. 41 Mit der Hilfe des systemtheoretischen Begriffsapparats und Analyseverfahrens rekonstruiert Reinhardt-Becker im zweiten Teil ihrer Arbeit den Liebescode, der in der Neuen Sachlichkeit und damit um 1920/30 gültig sei. Susanne Baackmann nimmt diesen Faden auf und widmet sich der Liebe in der modernen und postmodernen Literatur. 42
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Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt am Main 1983. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 41f. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 41f. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 46f. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 303 u. 309. Susanne Baackmann, Erklär mir Liebe. Weibliche Schreibweisen von Liebe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Hamburg, Berlin 1995. Zu diesen Studien, die aus methodischer Sicht alle am gleichen Strang ziehen, kommen motivgeschichtliche Untersuchungen hinzu wie beispielsweise Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1991, oder Manfred Schneiders, Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, München 1992. Schneider führt in einem beeindruckenden Parforceritt durch die Liebesliteratur von Platon bis zur Moderne vor, dass der Liebescode in seinem Anspruch auf Wahrheit und Authentizität durch die gesamte Liebestradition hinweg von der Schriftlichkeit durchkreuzt wird. Liebe ist der Betrug immer schon eingeschrie-
Aus dem gegenwärtigen methodischen common sense und der derzeitigen Erkenntnislage lässt sich eine klare Aufgabenstellung für die weitere Liebesforschung ableiten. Der Raum für eine neue Ausrichtung der Liebesforschung öffnet sich, gerade weil die einzelnen Analysen Luhmanns Vorgaben so gekonnt aufnehmen und in Adaption von Foucaults Diskursanalyse entweder weit gespannte diskursanalytische Entwicklungsbögen entwerfen oder die Literatur in umfassende Wissensformation eingliedern. Die selektive Blickweise der Forschung lässt sich mit der Sehleistung des menschlichen Auges vergleichen: Die Forschung hat ihren Blick in der Nachfolge von Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Diskursanalyse darauf ausgerichtet, in der Ferne scharf zu sehen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die großen Konturen des Liebesdiskurses und stellt ihren Blick scharf auf die umfassenden Narrative, auf deren Wechsel von Epoche zu Epoche oder von Wissensdiskurs zu Wissensdiskurs. Die Fixierung auf Fernsicht aber – die Biologie bezeichnet dieses Phänomen als Akkomodation – hat in der Liebesforschung wie beim menschlichen Auge unausweichlich zur Folge, dass die nah liegenden Gegenstände in Unschärfe verschwimmen. Wer das Ferne scharf stellt, kann das Nahe nicht fokussieren. Es verwischt in undeutlichen Schemen. Im Sinne dieser biologischen Metapher bedarf es, um den literarischen Liebesdiskurs in seinem gesamten Ausmaß differenziert analysieren zu können, zusätzlich zum gemeinhin gepflegten Weitblick der vergangenen Jahre eines zweiten Blicks. Der muss den ersten ergänzen und sich komplementär auf das Kleinteilige, das Naheliegende konzentrieren. Im Fall der Literaturwissenschaft ist das die Funktions- und Verfahrensweise des einzelnen, literarischen Textes.43 Was die kulturwissenschaftliche wie systemtheoretische Liebesforschung demnach perfekt ergänzt, ist eine semiologische und narratologische Liebesanalyse. Es ist eine akribische Textanalyse, die paradigmatisch
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ben. Diesem semiologischen Faktum spürt Schneider nach. Auch Simone Winko setzt sich von der methodischen Gleichschaltung ab. Ihre Studie ›Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und peotologischen Texten um 1900‹ bildet eine Ausnahme in der bisherigen Liebesforschung. Winkos Arbeit verdanke ich eine Reihe von Anregungen. In Anlehnung an ihre Studie entwickle ich vor allem die Narratologie der Liebe (siehe unten). Diese Überlegungen führen anschaulich die (von den Studien einkalkulierten) Unschärfen der literaturwissenschaftlichen Luhmannadepten vor: Die Studien fokussieren sich ausschließlich auf die thematische Darstellung der Liebe in den literarischen Texten. Sie verwischen deren Poetiken und verlieren deren fi ktionalen Charakter aus dem Blick. Und obwohl Luhmanns Ansatz ausdrücklich dazu dient, die Komplexität von Erklärungsmodellen zu steigern, bleiben ihre Betrachtungen bezüglich ihrer literarischen Untersuchungsobjekte unterkomplex, denn Literatur ist mehr als die Darstellung von Liebe und sie kann mehr, als Liebe einfach nur thematisieren. So dienen die literarischen Texte ihnen nur – um eines der Schimpfwörter von Simone Winko zu zitieren, die diese Arbeiten der Liebesforschung schmäht – als »Belegspender«, mit denen sie ihre weit gespannten diskursanalytischen Entwicklungsbögen untermauern. Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003, S. 12.
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herausarbeitet, welche narrativen und semiotischen Verfahren eines Erzähltextes die (in diesem Sinne vorrangig) literarische Liebe auf welche Weise konstituieren. Die Forderung nach einer solchen Herangehensweise ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie wird von der Forschung selbst reklamiert und als eine absolute Notwendigkeit erachtet. So melden sowohl Julia Bobsin als auch Thomas Klinkert in ihren Studien den dringenden Bedarf einer intensiven Auseinandersetzung mit dem einzelnen literarischen Liebestext an.44 Allerdings fordert Bobsin dies nur in einem einzigen Satz. 45 Und Klinkert beschränkt seine methodischen Überlegungen zur Textanalyse auf eine Fußnote, in der er festhält: Grundlage einer als Textwissenschaft konzipierten Literaturwissenschaft muß [...] eine Methode der Einzeltextanalyse sein. Es gibt nach wie vor keine geeignetere und elaboriertere als die struktural-semiotische Methode. 46
Mit dieser zur Fußnote marginalisierten Forderung verkörpert ausgerechnet Klinkerts Studie, die den Blickwechsel so nachdrücklich wie keine andere einzulösen versucht und ihm mit ihren vier Textanalysen auch nachkommt, zugleich das Dilemma, den eigenen Anforderungen in diesem Punkt nicht gerecht werden zu können. Seine komparatistische Arbeitsweise fordert ihn nämlich so intensiv, dass er auf seine Apologie der Textanalyse keine weiteren systematischen Überlegungen zur Narratologie und Semiologie der Liebe folgen lässt. Stattdessen konzentriert sich seine kenntnisreiche Methodik darauf, einen gemeinsamen Ausgangspunkt für seine Vergleichsarbeit zu konstruieren. Seinen poetischen Untersuchungsgegenständen nähert er sich dann ausschließlich im Progress »ganz herkömmliche[r] literaturwissenschaftlicher Textanalysen«.47 Zudem schweift sein komparatistischer Blick zwar über Italien, Frankreich und Deutschland, die einzelnen Textanalysen sind deshalb aber nur sehr knapp bemessen. Die neuere deutsche Literatur ist mit einem kurzen Kapitel zu Hölderlins ›Hyperion‹ vertreten. Mehr geht angesichts des aufwendigen Arbeitsprogramms einfach nicht. So kann Klinkert – stellvertretend für die Liebesforschung der vergangenen Jahre – seine Forderung nach einer dezidiert semiologisch-narratologisch ausgerichteten Liebesstudie weder systematisch ausformulieren noch für einen exemplarischen Text fruchtbar machen. Seine Studie zeigt daher beispielhaft, dass die Liebesforschung ihren blinden Fleck zwar benennt, ihn selbst aber nicht beleuchten kann, weil sie sich auf kulturwissenschaftlichen, respektive diskursanalytischen Weitblick festgelegt hat. 48
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Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 43. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise, S. 15. Bei ihr fällt die Kritik anschließend unter den Tisch. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 43. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 43. Die Forderung nach einer semiologischen Arbeit beinhaltet für Klinkert und Bobsin eine fundamentale Kritik an den kulturwissenschaftlichen Verfahren. Es handelt sich um das analoge Argument, wie man es gegen die systemtheoretischen Arbeiten wenden
Denselben systematischen Scharfsinn wie Bobsin und Klinkert beweist – das muss an dieser Stelle noch hervorgehoben werden – auch Ulfert Ricklefs. Er hält am Beginn seines Aufsatzes zu den ›Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim‹ treffend fest: Codierungen von Liebe, also die epochenbezogene kulturelle Sprache der Liebe, ist an poetischen Werken wie denen Arnims [...] nur unter Berücksichtigung der vielfachen Vermittlungen verifizierbar. Nur bedingt, facettenhaft und partiell, vielfach kontaminiert und überlagert, als literarische vermittelt und dem poetischen Zeichensystem assimiliert, motivisch verwandelt und im poetischen Diskurs vielfältig vexiert und alteriert, begegnet die historische Grammatik und Semantik der Liebe, nur so wird sie lesbar. 49
Auch Ricklefs hebt hervor, wie stark die Eigengesetze des poetischen Zeichensystems die Semantik und Grammatik der Liebe prägen. Entsprechend betrachtet er sie auch nicht unmittelbar als die historische Liebessemantik von Arnims Zeit. Aber dennoch unterliegt er letztlich auch dem Weitblick anderer Liebesstudien. Denn in einer Art Parforceritt extrahiert er auf nur knapp 50 Seiten sowohl aus Arnims Dramen als auch aus seinen Erzählungen und Romanen dessen unterschiedliche Sprachen der Liebe. Ricklefs warnt zwar vor der »Herauslösung von Einzelformulierungen«,50 entwickelt seine Thesen aber selbst, indem er Stichproben aus den einzelnen Texten nimmt. Auf diese Weise wird er den poetischen Eigenschaften der einzelnen Texte und der Vermitteltheit der dort entwickelten Liebessemantik letztlich nicht gerecht. Was Bobsin, Klinkert und Ricklefs stellvertretend für die Liebesforschung als notwendig erachten, macht sich die vorliegende Arbeit zur vorrangigen Aufgabe. Mit ihrer Vorgehensart ergänzt sie gezielt die bisherige Forschung. Sie geht ausdrücklich weiterhin davon aus, dass sich die Liebe (auch die literarische) zweifelsohne aus den unterschiedlichsten Wissensdiskursen konstituiert. Liebe ist immer auch ein gesellschaftliches, biologisches, medizinisches oder auch anthropologisches Phänomen. Deshalb ist es unumgänglich, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, wo, welche Muster und Schemata, die dem Liebesgefühl zugrunde liegen und zugleich auf das kulturelle Wissen der Zeit verweisen, in den einzelnen Roman
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kann (vgl. FN 69). Sie werfen diesen Forschungsbeiträgen vor, dass dort literarische Texte neben allen anderen Formen empfindsamer Schriften in der nicht weiter differenzierten Rubrik ›Quellen‹ rangieren. Die poetischen Texte erhalten den Status historischer Dokumente und verlieren ihren literarischen Charakter. Welche Auswirkungen diese Betrachtungsweise in letzter Konsequenz haben kann, wird deutlich, wenn beispielsweise Wegmann – Luhmann folgend – erst (und nur) Goethes ›Werther‹ einen »gesteigerten Grad der Literarisierung« bescheinigt, während man die anderen »literarisch-fi ktionalen Texte ohne große Probleme in moralphilosophische Texte übertragen könne [...].« Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 105. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim, S. 239f. Leider konstatiert Ricklefs diese Einsicht nur. Er formuliert sie aber weder systematisch aus noch folgt er ihr konsequent. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim, S. 238.
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eingewoben werden.51 Die Arbeit zeigt aber, dass die literarische Liebe in dieser Wissensformation nicht aufgeht, sie ist im literarischen Text eben nicht nur ein Wissensphänomen, das in den Text eingeschleust wird, sondern sie konstituiert sich gleichzeitig immer erst in Form narrativer und semiologischer Verfahren. Die vorliegende Studie setzt sich also zum Ziel, die kulturwissenschaftliche, diskursanalytische Blickrichtung mit der semiologischen, narratologischen kurzzuschließen. Sie plädiert für deren Vermittlung, und verschreibt sich somit einem »Sowohlals auch«. Daher entwickelt sie ein Analyseverfahren, das gezielt von den bisherigen Arbeiten abweicht. Sie umstellt Arnims Roman nicht ausschließlich oder erst mit außerliterarischen Texten, sondern sie greift im Zuge der narratologischen Analyse gezielt auf die kulturwissenschaftlichen und diskursanalytischen Erkenntnisse der bisherigen Forschung zurück. In dieser Weise profitiert sie davon, dass die Forschung den Liebesdiskurs um 1800 bestens sondiert und aufbereitet hat. Mit diesem Doppelblick will sie den literarischen Liebesbegriff weiter ausdifferenzieren und so der Komplexität literarischer Texte gerecht werden. Denn die begnügen sich längst nicht damit, Liebe einfach nur zu thematisieren. In welcher Weise Literatur die gängigen Liebesmuster variiert, sie neu kombiniert oder durch bislang unbekannte Muster und Metaphern substituiert, auf welche Art sie das Spektrum der Schemata erweitert oder ob sie radikal mit den traditionellen Liebescodes bricht, bekommt man nur in den Blick, wenn man auch ihre Textverfahren in die eigene Analyse einbezieht. Um diesen Doppelblick auf den diskursiven Kontext und die narratologische Verfahrensweise in die Lektürepraxis umsetzen zu können, muss die vorliegende Arbeit allerdings zunächst den semiologisch-narratologischen Blick zu ihrem Prinzip erklären. Denn der semiologische wie narratologische Liebesbegriff muss im Gegensatz zum kulturwissenschaftlichen und diskursanalytischen erst etabliert werden.52 Im semiologischen wie narratologischen Sinne bietet die bisherige Liebesforschung nämlich keinerlei Anschlussmöglichkeiten. Das bedeutet für die vorliegende Studie erstens, dass dem eigenen Vorhaben aus methodischer Sicht ein ganz neuer – und wenn man eigentlich einen Beitrag zur Arnimforschung leistet, zudem auch unerwarteter – Stellenwert zukommt. Sie betritt ein neues Feld der Liebesforschung und verrichtet in dem Sinne Pionierarbeit, dass sie gezielt eine
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Es handelt sich bei diesem Bündel von Wissen, über das eine Kultur verfügt, ebenso um Schemata der Alltagskommunikation wie um Muster, die im Rahmen unterschiedlicher wissenschaftlicher Diskurse und der literarischen Reihe etabliert wurden. Vgl. zu diesem Modell auch Simone Winko, Emotionskodes und Lyrikgeschichte. Zum Verhältnis von Kontinuität und Differenz in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1800 und 1900. In: Steffen Martus, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern 2005, S. 127–140, hier S. 135. Das folgende Kapitel entwickelt die systematische Denkmatrix gezielt so allgemein, dass sie (theoretisch) auch über Arnims Roman hinaus für die Analyse weiterer Texte fruchtbar gemacht werden könnte.
systematische Lücke der bisherigen Liebesforschung schließt. Indem sie weitere Typen sprachlicher Gestaltung von Liebe erschließt, andere Informationen und andere historische Formationen hervorbringt, ergänzt sie systematisch die bisherige Forschung zur romantischen Liebe im Besonderen und die literarische Liebesforschung im Allgemeinen. Das schließt zweitens ein, dass sie ihre narratologische und semiologische Methodik eigenständig entwerfen und ihre Analyse auf diese Weise plausibilisieren muss. Sie muss das Feld semiologischer und narratologischer Liebe erst selbst methodisch erschließen und aufbereiten. Damit legitimiert sich die (aufwendige) Vorarbeit, die der eigentlichen Romananalyse vorgeschaltet ist. Die vorliegende Arbeit muss, wenn sie untersuchen will, wie in Arnims Roman zur Liebe was gesagt wird, zunächst die Bedingungen liebesbezogener Textanalysen darlegen und geeignete Untersuchungsverfahren und -kategorien vorschlagen. Eine narratologisch-semiologische Analyse, die zugleich das diskursive Umfeld des Romans beachtet, wäre ohne die vorherige methodische Sondierungsarbeit nicht durchführbar.
2.
Semiologie und Narratologie der Liebe
Um einen spezifisch semiologischen wie narratologischen Liebesbegriff zu entwickeln,53 weicht die vorliegende Arbeit, ausgehend von Luhmanns Überlegungen, methodisch gezielt von dem Weg ab, den die Forschung in den letzten Jahren eingeschlagen hat. In Luhmanns soziologischer Studie ›Liebe als Passion‹ selbst ist diese alternative Vorgehensart angelegt. Zumindest die Richtung hat bereits die erste umfassende Epochendarstellung gewiesen, die nach Luhmanns ›Liebe als Passion‹ erschienen ist: Nikolaus Wegmanns ›Diskurse der Empfindsamkeit‹ hat am Beispiel der Empfindsamkeit gezeigt, dass sich hinter Luhmanns Primat des Codes gegenüber dem Gefühl eine rhetorische Wende verbirgt. Die Empfindsamkeit gilt – auch, aber nicht nur bei Luhmann – als historische Spielart der Liebe im 18. Jahrhundert. Sie bildet eine entscheidende Wegmarke des Liebesdiskurses. Als sie sich um 1770 in Deutschland ausbreitet, bezeichnet der Begriff ›empfindsam‹/Empfindsamkeit – eine Übersetzung des englischen sensible/sensibility und des französischen sensible/sensibilité – ein Konzept der Empfindung. Dessen wesentliches Moment beschreibt bereits Adelungs ›Deutsches Wörterbuch‹, wenn Empfindsamkeit dort in einer für die Gegenstandsbestimmung charakteristischen Tautologie als »die Fähigkeit, leicht zu sanften Empfindungen geführt zu werden, und vice versa das Vermögen, diesen Zustand auch hervorrufen zu können« definiert wird.54
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Das bedeutet, die literarische Liebe über ihre thematische Behandlung hinaus zu erweitern und zugleich die traditionelle Dichotomie von Liebe und Roman aufzulösen. Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1774–1786, S. 148.
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Mit dieser Bestimmung schließt der Begriff ›Empfindsamkeit‹ an das Affektschema der Rhetorik an, das prinzipiell zwei Affektstufen unterscheidet: ethos, die sanftere Affektstufe, und pathos, die heftigere. Das Affektideal, das um 1770 mit dem Index ›empfindsam‹ versehen wird, basiert auf der Vorstellung eines konstanten Zustandes, der – im Prozess kontinuierlicher (Selbst-)Überredung – nur durch die Erregung der sanften Affekte hergestellt und erhalten werden kann. Das Empfi ndsame erweist sich somit als historische Konkretion des rhetorischen Paradigmas ethos. Empfindsamkeit ist demnach »nicht Gefühl« – auf diese Faustformel bringt Nikolaus Wegmann die Diskussion in seiner einschlägigen Arbeit –, »sondern Rhetorik und Pragmatik des Gefühls«.55 Wegmann vollzieht mit dieser These eine (systemtheoretisch fundierte) rhetorische Wende des Empfindsamkeitsdiskurses.56 Die Argumentation trägt im Folgenden Niklas Luhmanns und Nikolaus Wegmanns rhetorischer Wende der Liebesforschung Rechnung. Sie variiert den systemtheoretischen Ansatz aber insofern, als sie von der (schlichten) These ausgeht, dass sich literarische Texte qualitativ von außerliterarischen Texten unterscheiden und weder eine soziale Realität noch ein anthropologisches Modell oder auch nur einen verbindlichen Code abbilden.57 Ganz im Gegenteil basiert die folgende Analyse von Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹ auf der These, dass der literarische Diskurs erst einen spezifischen Liebescode generiert. Liebe ist daher ein Konzept, das folgerichtig nicht als Referenz, sondern als Verfahren des poetischen Textes betrachtet wird. Der literarische Text stellt sein Wörterbuch der Liebe erst selbst her. Um Liebe zu entfalten, entwickeln die einzelnen Texte jeweils eigene literarische Verfahren – Liebesverfahren. Die Prämisse der folgenden Überlegungen lautet demnach: erst der Text, dann die Liebe. Die Liebe ist aus semiologischer und narratologischer Perspektive vorrangig ein textinternes Phänomen. Sie tritt immer nur unter den Bedingungen in Erscheinung, die wir Literatur nennen. Literarische
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Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1990. Dieses Liebesmodell erlaubt Wegmann, Goethes ›Werther‹ exemplarisch für den Briefroman im Hinblick darauf zu analysieren, wie dort Gefühle rhetorisch konstruiert werden, und zwar nach den Vorgaben des empfindsamen Diskurses. So konsequent und eindrücklich wie Wegmann analysiert in der literaturwissenschaftlichen Liebesforschung in den folgenden Jahren keiner mehr einen Text. Analog zu Wegmann kann man auch mit dem Sturm und Drang und der Romantik verfahren. Wenn diese Spielarten des Liebesdiskurses sind, kann man sie ebenfalls an das Affektschema der Rhetorik anschließen. Der Sturm und Drang erweist sich dann als historische Konkretion des rhetorischen Paradigmas pathos. Das Romantische hingegen sucht zwischen ethos und pathos zu vermitteln. Zu dieser Stellung der Literatur vgl. Albrecht Koschorke, Codes und Narrative. Überlegungen zur Poeti der funktionalen Differenzierung. In: Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner u. Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 545–558, hier S. 547.
Liebe ist nur zu beschreiben, wenn man in seine Überlegungen einbezieht, wie Liebestexte, oder im vorliegenden Fall spezifischer, wie Liebesromane funktionieren. Wie wird Liebe inszeniert? Wie wird sie erzählt? Das sind die Fragen, die ins Zentrum dieser Untersuchung treffen. Inwiefern man Liebe als ein Textmodell entwickeln kann, wird deutlich, wenn man Luhmanns Entwurf der Liebe als »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« mit dem poetischen Kommunikationsmodell engführt. Auf diese Weise kommt man nämlich zu dem einfachen Schluss: Liebescodes können sich in einem literarischen Text überall dort konstituieren, wo kommuniziert wird. Das trifft erstens auf die Kommunikation zwischen den einzelnen Figuren des Romans zu. Es gehört zum Pflichtprogramm jedes Liebestextes, einen Liebescode oder mehrere Codes auf thematischer Ebene zu entwickeln. Figuren müssen als Liebende kommunizieren und handeln, das ist für einen Liebestext obligatorisch. Ohne thematisierte Liebe ist ein literarischer Text kein Liebestext.58 Das Ausschlusskriterium besagt aber keineswegs, dass sich die literarische Liebe in der Figurenkommunikation erschöpft. Vielmehr verfügen Liebestexte über eine zweite Spielfläche, auf der sie in jeweils unterschiedlicher Weise einen Liebescode entwerfen. (Dieser Code kann von den thematisierten abweichen, muss er aber nicht).59 Denn jeder literarische Text erfüllt eine kommunikative Funktion.60 Er konstituiert strukturell einen Leser und evoziert somit den Effekt, es müsse einen fiktiven Adressaten geben.61 Damit stellt jeder Text eine kommunikative Sprachhandlung dar, mit der sich jemand (ein
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Allerdings reicht dazu bereits, wenn ein Text eine Landschaft oder eine Figur aus der Perspektive eines Liebenden oder mit syntaktischen bzw. semantischen Mitteln, die mit Liebe konnotiert sind, präsentiert. In diesem Fall ist die Präsentation ein Bestandteil der thematisierten Liebe. Auf der Ebene der histoire muss dazu überhaupt keine Liebe und erst recht keine Liebesgeschichte erzählt werden. Grundsätzlich ist festzuhalten: Liebe ausschließlich auf dieser zweiten Ebene zu inszenieren, reicht nicht aus, um ein Liebesroman zu sein. Die thematische Inszenierung ist obligatorisch. Roman Jakobson, Poetik und Linguistik. In: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971, Frankfurt am Main 1979, S. 94f. In diesem Punkt sind sich alle Theorien von der Hermeneutik über den (russischen) Formalismus und den (französischen) Strukturalismus bis hin zur Dekonstruktion einig. Vgl. dazu Ulfert Ricklefs: Lesen/Leser. In: Ders. (Hg.), Das Fischer Lexikon Literatur, Bd. 2, Frankfurt am Main 1996, S. 961–1001, hier S. 694: »Schrift bedarf der Revitalisierung im Akt der Lektüre [...].« Diese Ansicht vertritt auch die Literatursemiotik, vgl. dazu Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von Heinz G. Held, München 1990, S. 7. Dasselbe Prinzip bestätigt auch die Phänomenologie. Allerdings setzt sie ihren Schwerpunkt auf die Perzeption. Aus ihrer Perspektive entsteht ein Text je nachdem, wie ein Leser ihn wahrnimmt. Er konstituiert sich in der Wahrnehmung einzelner Sequenzen, durch ihre Wiederholungen, durch ihre Struktur, die Leerstellen dazwischen. Die Textlandschaft erzeugt ein Feld von Bedeutungen. Der Perzeption bleibt aber ein kommunikativer Akt eingeschrieben. Vgl. Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung, Stuttgart 1981. Zur Gesprächsstruktur
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Sender) in Form der Rede jemandem (einem Empfänger) mitteilt. Der literarische Text nimmt die Position einer Nachricht innerhalb einer Kommunikationssituation ein.62 Angesichts dieser kommunikativen Funktion entsteht Liebe zweitens, und aus semiologischer Sicht sogar zuvorderst, im Zuge literarischer Rezeption.63 Sie ist eingespeist in das altbekannte Dreiecksverhältnis zwischen Autor – Text – Leser.64 Der Liebescode konstituiert sich somit nicht nur im Hinblick darauf, welche Liebe thematisiert wird, sondern wie diese Liebe dargestellt, mit welchen narrativen und rhetorischen Mitteln sie präsentiert und sprachlich gestaltet wird.65 Die beiden bisher genannten Formen literarischer Liebe verhandle ich unter dem Aspekt einer Narratologie der Liebe (vgl. Kapitel 2.2). Doch die literarische Liebe konstituiert sich noch auf eine dritte Weise. Wenn Liebe nur kommuniziert werden kann, dann bestimmt die Beschaffenheit des Nachrichtenträgers »literarischer Text«, der im jeweiligen Code vermitteln soll, entscheidend die Liebeskommunikation.66 Das bedeutet, dass die literarische Lie-
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literarischer Texte und zu ihrer Kommunikationsfunktion aus strukturalistischer Perspektive vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1997, S. 184. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 18f. Sowie Gérard Genette, Die Erzählung, S. 164f. Die Erzählanalyse geht von einer »doppelten Kommunikationssituation« in fiktionalen Texten aus: Ein (realer) Autor produziert Sätze, die zwar real, aber inauthentisch sind (1. Kommunikationssituation), und schreibt dieselben Sätze einer fi ktiven Erzählstimme zu. Mit dieser Zuschreibung zu einer rhetorisch konzipierten Stimme sind die Sätze imaginär, zugleich aber sind sie in Bezug auf eine vorgestellte Realität authentisch. Sie werden von der Erzählerfigur behauptet, aber nur im Rahmen einer imaginären Kommunikationssituation: Imaginär authentische Sätze schaffen eine imaginäre Objektivität, die eine fi ktive Kommunikationssituation, ein fi ktives Erzählen und eine fi ktiv erzählte Geschichte umfasst. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 17. Die poststrukturalistische Theorie erweitert dieses Modell, indem sie die (ehemals) externe Kommunikationsebene zwischen (ehemals) externem Autor und (ehemals) externen Leser als äußerste Ebene textueller Kommunikation erkennt. Vgl. hierzu Patrick O’Neill, Fictions of Discourse. Reading Narrative Theory, Toronto 1994. Sandra Heinen, Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen der) Narratologie. In: Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 243–264, hier S. 244. Diese Einschätzung, dass die Liebe sowohl die semantische als auch die pragmatische Ebene literarischer Texte bestimmt, teilt auch Thomas Klinkert. Am Ende seiner ›Hyperion‹-Lektüre kommt Klinkert zu dem Schluss: »›Liebe‹ als Lemma zur Einübung einer neuen Rezeptionsweise bestimmt im Hyperion das Text-Leser-Verhältnis.« Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 122f. Die folgenden Überlegungen setzen damit auch das Fazit von Klinkerts ›Hyperion‹-Lektüre methodisch um. Bildet aber die Analogie zwischen semantischer und pragmatischer Ebene den Endpunkt von Klinkerts Überlegungen, so steht sie hier am Anfang. Zu dieser Differenzierung zwischen Thematisierung und Präsentation von Liebe vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 111ff. Die Nachricht ist auch dann eine andere, falls sie von einer Postkarte, einem Brief, einer Email oder einem Anrufbeantworter statt von einem literarischen Text vermittelt wer-
be unausweichlich von den Grundbedingungen literarischer Kommunikation abhängt. Rauscht es – beispielsweise wegen schlechter Verarbeitung – während der Übertragung ständig, dann wird die (Liebes-)Kommunikation – unabhängig vom Code oder vom Inhalt – eine andere sein, als sie es ohne dieses Störgeräusch wäre. Dieselbe Varianz gilt auch für den Fall, dass die Aufnahmefähigkeit des Empfängers, in diesem Fall des imaginären Lesers, gestört wird. Die vorliegende Arbeit bezeichnet die Liebesformen, die sich auf pragmatischer Textebene quasi aus den Grundbedingungen literarischer Kommunikation konstituieren, als semiologische Liebe.67 Der Liebescode eines Romans konstituiert sich also aus einem hochkomplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen. Er umfasst die präsentierte Liebe, die Art und Weise ihrer Präsentation sowie die Art, wie das Kommunikationsmedium »Liebestext« beschaffen ist. Um diesem komplexen System gerecht werden zu können, gilt es im Folgenden, die einzelnen Elemente, die den Liebescode auf den einzelnen Ebenen generieren, systematisch zu erschließen. Dazu wende ich mich im ersten Schritt der semiologischen Liebe zu (2.1). Ich entwickle zunächst die Grundlage semiologischer Liebe anhand von Schleiermachers romantischer Hermeneutik, übertrage dieses Modell im zweiten Schritt auf das poststrukturalistische Textmodell und stelle dann die einzelnen Spielarten semiologischer Liebe vor. Im zweiten Teil der Systematik wende ich mich der Narratologie der Liebe zu (2.2). 2.1
Semiologische Liebe
2.1.1 Romantische Hermeneutik: Lektüre als Intimsystem Die Vorstellung, ein Text evoziere (unabhängig von seinem Inhalt) eine Liebesbeziehung, ist alles andere als neu. Sie kommt bereits in den 1770er Jahren auf.68
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den würde. Der Medienkritiker McLuhan hat gezeigt, dass die Wahl des Mediums die Art der Nachricht bestimmt und nicht umgekehrt. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, übersetzt v. M. Amann, Düsseldorf u. Wien 1968. Vgl. zu diesem Aspekt auch Jacques Derrida, Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Bd. 1, Berlin 1982. Wenn man Simone Winkos Differenzierung zwischen Thematisierung und Präsentation von Liebe folgt, erweitert die semiologische Liebe das Feld der Präsentation. Literarische Texte können mit der semiologischen Liebe eine Emotion inszenieren, ohne dass sie diese präsentieren, also sprachlich abbilden. Mit der semiologischen Liebe eröffnet sich ein ganz neuer Spielraum literarischer Liebestexte, in dessen Rahmen sie Liebe sprachlich gestalten können. Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 111ff., besonders S. 116. Zu dieser Zeit setzt sich nicht nur ein hermeneutisches Textverständnis durch, sondern mit ihm etabliert sich auch eine neue Lesepraxis. Ulfert Ricklefs hält diesen Wendepunkt in der Lesekultur fest: »In den Blickpunkt geriet in der Lesewut-Diskussion eine emotionalisierte, phantasieorientierte, teilweise ungehemmt triviale, aber auf allen Niveaus angesiedelte Literatur, die erstmals nicht mehr primär mit öffentlichem und moralischem Anspruch verbunden, nicht mehr wesentlich öffentlich war; sie konnte vielmehr
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Spätestens Friedrich Schleiermacher legt in seiner romantischen Hermeneutik die Grundregeln dieses Liebesspiels fest,69 und zwar, indem er die Leser-Text-Beziehung mit dem romantischen Intimsystem engführt.70 Nach Schleiermacher folgt die Kommunikation zwischen (Autor,) Text und Leser grundsätzlich den Regeln – Luhmann würde von der Semantik sprechen – des romantischen Liebescodes.71 Drei Charakteristika schreibt Schleiermacher der Liebeskommunikation »Lektüre« zu: Erstens hat man sich die Lektüre (oder allgemeiner: das universelle interpretative Verfahren) laut Schleiermacher in Analogie zum romantischen Liebesmuster als eine Begegnung zweier individualisierter Partner vorzustellen.72 Leser und Text
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als alternativ, subversiv, und privatistisch gelten, eröffnete eine Gefühls- und Nachtseite der Wirklichkeit, die den einsam-einzelnen Leser in suggestive, traumhafte, ästhetisch ambivalente (rührend, latent erotisiert, schauderhaft) wie auch in trivial alltägliche oder abenteuerlich exaltierte, jedenfalls fi ktive Welten entrückte.« Ulfert Ricklefs, Lesen/Leser, S. 975. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt am Main, 1995, S. 75. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint es alles andere als Zufall, dass Schleiermacher nicht nur die Hermeneutik zum universalen Prinzip erklärt, sondern zugleich der namhafteste Philosophen ist, der um 1800 – vor allem in seinen Briefen über Schlegels ›Lucinde‹ – für die individualisierte Liebe streitet. Zur Kultur des Lesens und zur um 1800 entstehenden »Lesewuth« als intime Begegnung zwischen Leser und Text vgl. einführend: Ulfert Ricklefs, Lesen/Leser, S. 961–1001. Schleiermacher ist wohl der erste, der sein Rezeptionsmodell als ein Intimsystem entwirft. In ›Wahrheit und Methode‹ spricht Gadamer der vorromantischen Hermeneutik eine nur »vorbereitende und hintergrundbildende« Funktion zu. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer Hermeneutik, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 462. Diese Beurteilung erlaubt es, von einem Umbruch im hermeneutischen Denken auszugehen. Selbstverständlich gibt es vor dieser schon hermeneutische Rezeptionsmodelle, aber erst im Dialog mit der romantischen Liebe ergibt sich diese Homologie. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 183. Vgl. dazu den informativen Band: Günter Figal (Hg.), Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007. Zu Gadamers Bewertung der romantischen Hermeneutik: Luca Crescenzi, Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik und ihrer Anwendung für die Historik (GW 1, 177–222), S. 75–86. Der Einschnitt in die hermeneutische Tradition bestätigt sich am eindrücklichsten, wenn man die Kriterien betrachtet, mit denen Gadamer die romantische Hermeneutik gegenüber ihren Vorgängern profi liert. Anhand seiner Schleiermacherlektüre lässt sich – ohne dass er selbst dies explizit äußert – das hermeneutische Rezeptionsmodell als ein Liebeskonzept identifizieren. Die Individualität gilt als die entscheidende Grundlage romantischer Liebe. Vgl. dazu Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 24ff. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 17ff. Aber beispielsweise auch Reingard M. Nikisch, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Leidenschaften literarisch, Konstanz 1998, S. 9–33, hier S. 15. In der englischsprachigen Forschung: Robert, C. Solomon, Love: Emotion, Myth & Metaphor, Buffalo, New York 1990, S. 136: »Only in a society with an enormously powerful ideology of the individual, in which the ›alienation‹ of the individual from the larger society ist not only tolerated but even encouraged and celebrated, can the phenomen of romantic love be conceivable.«
treten sich als zwei Individuen gegenüber.73 Für Schleiermacher trägt die Kommunikation zwischen ihnen den Charakter eines intimen Gesprächs. Sie findet in einem Umfeld »höchstpersönlicher Relevanz« statt. Text und Interpret lassen sich nach Schleiermachers Vorgaben klare Rollen zuteilen: Der Rezipient ist der Liebende, der Text ist der/die Geliebte. Zweitens beruht die Kommunikation zwischen Rezipient und Leser wie die eines romantischen Liebespaares auf dem Prinzip des Verstehens. Programmatisch bestimmt Schleiermacher »die Hermeneutik als Kunst des Verstehens«74, während der Leitsatz romantischer Liebe lautet: »Die romantisch Liebenden verstehen sich, und das Verständnis zwischen ihnen ist eine zentrale Qualität ihrer Liebe.«75 Es geht der romantischen Hermeneutik – so kommentiert Gadamer später die Art und Weise, in der Schleiermacher den Verstehensbegriff neu austariert – um die Verständigung mit dem anderen, es geht ihr um das individuelle Verständnis.76 Die Liebeslektüre verfolgt das Ziel, den anderen zu deuten. Die Liebe zwischen Leser und Text ist damit an die hermeneutische Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Textes gekoppelt. Drittens legt Schleiermacher prinzipiell fest, dass dieser Verstehensprozess sich nicht in bloßer Verstandeskraft erschöpft.77 Die
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Gadamer erkennt darin eine entscheidende Veränderung gegenüber der vorherigen Hermeneutiktradition. Für ihn besteht einer der Kernpunkte von Schleiermachers Hermeneutik darin, dass sie »mit der Erfahrung des Du und der Individualität einhergeht«. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. 1, S. 183 u. S. 189. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 1. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 124f. u. S. 300. Dort bessert Reinhardt Becker Luhmanns systemtheoretische Überlegungen nach: »Die binäre Codierung des Liebessystems lautet bei Luhmann folglich: persönlich / unpersönlich.« Nach Reinhardt-Becker »reicht dieser Code nicht aus, um die exklusive Aufgabe des Systems zu erfüllen. Der Liebende muss mehr tun, als die Selbstsicht des Geliebten zu bejahen und sich vollständig für ihn zu interessieren – er muss den Geliebten auch verstehen.« »Aus diesen Annahmen resultiert die binäre Codierung ›Verstehen / Nichtverstehen‹«, so folgert Reinhardt-Becker. Sie schließt mit ihrem Verständnis von Verstehen gezielt an die hermeneutische Tradition an. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 301. »Somit wird das Problem des Verstehens in das Problem der Verständigung uminterpretiert. Zum ersten Mal wird eindeutig klar, dass Verständnis zunächst Einverständnis heißt, dass Verständigung »immer Verständigung über etwas« ist. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 183. Schleiermacher geht, indem er das Gefühl nicht länger aussperrt, gezielt über Kants reines ästhetisches Urteil hinaus. Das reine ästhetische Urteil gilt nach Kant weder einer »Empfindung«, noch verschafft es ein »Vergnügen«: sein interessenloses »Wohlgefallen« wird im Modus eines reflektierenden »Gefühls« erfahren (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 8–10.), dessen Subjekt nicht der Körper, sondern allein die dem Verstand nahestehende Urteilskraft ist. Das reine Schöne »führt directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich« (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 75), und zwar allein des Lebens aller »oberen Seelenvermögen« (Verstand, Urteilskraft, Vernunft) (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft B LVI.). Schleiermacher vereint also die »oberen« mit den »unteren Seelenvermögen«. Wobei man auch in Kants Kritik der Urteilskraft durchaus Tendenzen erkennen kann, dass Kant die Reinheit der ästhetischen Urteils-
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Verständigung ist immer auch eine Frage des Gefühls.78 Nicht zuletzt in diesem Punkt überschneiden sich hermeneutisches Rezeptions- und romantisches Liebesmodell. Was unter diesem romantischen Gefühl zu verstehen ist, beschreibt wohl am prägnantesten einer der Diskussionsteilnehmer in Friedrich Schlegels ›Gespräch über Poesie‹: »Was ist denn nun dieses Sentimentale?«, fragt dieser, um sich selbst zu antworten: »Das, was uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches, sondern das geistige. Die Quelle und Seele aller dieser Regungen ist die Liebe«.79 Lesen ist im Sinne dieses geistigen Gefühls Lieben.80 Liebender und Geliebter vereinen sich im Zuge der Textlektüre.81 Indem sie sich mit Herz und Verstand auf den jeweils anderen einlassen,82 grenzen sie ihre intime Beziehung gezielt gegen ihre Umwelt, gegen den Rest der Welt, ab. Wie ein romantisches Liebespaar steuern sie eine exklusive Zweiergemeinschaft an, ein WIR ZWEI,83 in dem beide füreinander von wechselseitiger Höchstrelevanz sind.84 Zwei Schlussfolgerungen ziehe ich aus der romantischen Engführung von Rezeptions- und Liebesmodell. Erstens kann man das semiologische Liebesmodell als
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kraft selbst unterläuft. Vgl. dazu Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt am Main 1995, S. 37ff. Der Stellenwert, den die emotionale Komponente an der hermeneutischen Interpretation hat, lässt sich daran ablesen, dass selbst ein so kurzer Aufriss der hermeneutischen Theorie wie der von Jochen Hörisch diese ausdrücklich betont. Vgl. Jochen Hörisch, Theorieapotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen, Frankfurt am Main 2004, S. 128–133. Friedrich Schlegel, Gespräch über Poesie. In: Friedrich Schlegel. Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 513. Zudem ist ihre intime Gesprächssituation unübersehbarer von erotischer Brisanz, denn der eine versinkt lesend im anderen. Man denke nur an die intime Zweisamkeit, wenn man leise für sich liest, an das Lesen im Bett, an die vielfach beschworene Liebe zum Buch oder den Rausch der Lektüre. Die Metaphorisierungen sind bis heute wirkmächtig. Zumindest fördert der Literaturbetrieb bis heute den Topos, Texte würden ihre Leser verführen. Vgl. dazu zuletzt: Ulrich Greiner, Ulrich Greiners Leseverführer. Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur, München 2005. Auf diesen hermeneutischen Lektüremodus, der den Autor zum Liebesobjekt und zugleich zum neuen Helden in der Literatur erhebt, weist auch Friedrich Kittler hin. Ders., Autorschaft und Liebe. In: Ders. (Hg.), Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften – Programme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980, S. 78f. Zudem bezieht Schleiermacher mit der Divination eine psychologische Komponente in seine Texttheorie ein. Er denkt die Liebesbeziehung als triadisches Kommunikationsmodell, nach dem sich zwei Subjekte mit Hilfe eines Textes verständigen. Da es mir an dieser Stelle meiner Argumentation um die Intimität geht, und nicht um unterschiedliche Aspekte der Autorschaftstheorie, vernachlässige ich die (für die Theorie selbst wesentliche) Frage, ob und wie der Autor durch seinen Text spricht. Mir genügt an dieser Stelle, dass Text und Leser eine Liebesbeziehung eingehen. Vgl. zu diesem systemtheoretischen Terminus, Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999/2003, S. 17ff. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 44.
ein ursprünglich romantisches identifizieren und damit historisch verorten, und zwar an der Stelle, an der Schleiermacher die romantische Hermeneutik mit dem Intimsystem kreuzt. Diese Tatsache legitimiert, dass man mit einem solchen systematischen Modell Arnims 1810 erschienenen Liebesroman analysiert. Zweitens kann man aus der romantischen Identifikation des Rezeptions- als Liebesmodell schließen, dass es literarische Texte um 1800 auf ein solches Liebesverhältnis anlegen (können). Die Präsenz dieses Liebesmodells im zeitgenössischen literaturtheoretischen Diskurs deutet zumindest darauf hin. Da die semiologische Liebe in der bisherigen Liebesforschung keinerlei Beachtung gefunden hat, formuliere ich diese literarische Liebesform im Folgenden detailliert aus. Erst anschließend wende ich mich der narrativen Präsentation und Thematisierung der Liebe zu (vgl. Kapitel 2.2 dieser Studie). Die vorherigen systematischen Überlegungen zur semiologischen Liebe dienen dazu, den literarischen Liebesbegriff weiter (als die bisherige Forschung) auszudifferenzieren, um auf diese Weise in literarischen Texten eine Bühne der Liebesinszenierung in den Blick zu bekommen, die bislang zwar von den Texten bespielt, aber von den Liebesanalysen nicht beachtet worden ist. Um dies leisten zu können, zeige ich systematisch auf, welche Möglichkeiten ein Liebestext hat, semiologische Liebe zu inszenieren. Ich führe vor, nach welchen Regeln das Spiel funktioniert, welche Liebesverfahren ein Text auf dieser Ebene entwickeln kann. Dazu greife ich sowohl auf die hermeneutisch-strukturalistischen als auch auf die dekonstruktivistischen Literaturtheorien zurück. Das funktioniert, weil Liebe die Texttheorien offensichtlich umtreibt. Alles andere als zufällig, bedienen sich die Theorien nämlich konsequent einer Metaphorik der Liebe.85 Auf Letztere greife ich zurück, um im Folgenden die Spielmöglichkeiten semiologischer Liebe auszuloten. 2.1.2 Voraussetzung semiologischer Liebe: Das dekonstruktivistische Textmodell Obwohl die romantische Hermeneutik die theoretischen Parameter einführt, mit denen man die literarische Rezeption als ein Intimsystem identifizieren kann, und obwohl sich die nachfolgende Textanalyse einem romantischen Roman widmet und sich damit die zeitliche Koinzidenz von theoretischer Überlegung und poetischer Ausgestaltung zu nutzen machen könnte, schlägt die vorliegende Studie gezielt das Naheliegende aus. Sie legt ihren weiteren systematischen Überlegungen nicht das hermeneutische Textmodell zugrunde, sondern entfaltet die einzelnen Spielarten semiologischer Liebe am Textmodell, welches die Dekonstruktion entworfen hat. Diese Wahl ist legitim, weil die Dekonstruktion Schleiermachers Denkmuster, die
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In diesem Punkt stehen sich Hermeneutik, Strukturalismus und Dekonstruktion absolut gleichwertig gegenüber. Sie alle greifen auf eine Metaphorik der Liebe zurück. Die von Strukturalismus und Poststrukturalismus so vehement verfochtene teleologische Entwicklung von Theorie zu Theorie greift hinsichtlich dieses Aspekts also keineswegs.
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Rezeption (literarischer Texte) sei ein Intimsystem, mit den drei von ihm festgelegten Grundkategorien übernimmt.86 Sie denkt – so meine These – Rezeption als intimes Gespräch zwischen individualisierten Liebespartnern. Auch für sie ist das Liebesverhältnis eine Frage des Verstehens und der Bedeutungskonstitution, und auch im dekonstruktivistischen Paradigma überschneiden sich Verstandestätigkeit und Gefühl im Verstehens- bzw. Liebesprozess. Die Grundkonstellation des Liebesmodells bleibt also gleich.87 Nur bietet das dekonstruktivistische Textmodell im Vergleich mit dem hermeneutischen die Möglichkeit, die semiologische Liebe weitaus differenzierter zu beschreiben. Und zwar nicht, weil die Dekonstruktion im Vergleich mit der Hermeneutik gezielter von einer Liebesmetaphorik Gebrauch machen würde oder einen umfassenderen Katalog von (Liebes-)Termini erstellen würde. Nein, man könnte mit Hilfe hermeneutischer Theoreme ebenso viele Liebesphänomene ebenso genau beschreiben – zumal, wenn man auf Isers Rezeptionsästhetik und auf Ecos semiologische Hermeneutik zurückgreift.88 Den Differenzierungs- und Komplexitätsgrad erhöht man im Rückgriff auf die Dekonstruktion allein dadurch, dass sich in ihr Textmodell auch die Liebesmuster integrieren lassen, welche nicht sie selbst, sondern die hermeneutische Theorie ausbuchstabiert hat. Im Rahmen dekonstruktivistischer Denkstrukturen tragen die hermeneutischen Liebesvorstellungen eine kardinale Funktion. Während es umgekehrt die Hermeneutik verbieten würde, auf die dekonstruktivistischen Liebesmuster zurückzugreifen.89 Daher lässt sich mit Hilfe der Dekonstruktion exakt beschreiben, an welchen Textphänomenen man semiologische Liebe festmachen kann. Man bekommt in den Blick, wie das semiologische Liebesspiel funktioniert. Die Dekonstruktion ermöglicht, die Liebesverfahren zu typologisieren, die Texte auf ihrer pragmatischen Ebene entfalten.90
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Das zeigt sich daran, dass auch die Dekonstruktion auf eine Liebesmetaphorik zurückgreift, um die Rezeption von (literarischen) Texten zu beschreiben. Sie verhandelt die Textlektüre mit Hilfe von Kategorien wie Wollust und Begehren (s. u.). Man könnte von der romantischen Hermeneutik an wohl jedes theoretische Lektüremodell heranziehen, um die Intimsystem »Leser-Text« genauer zu durchleuchten, weil jede Theorie an der Intimität und Individualität der Beziehung festhält, und sie im Rückgriff auf eine Liebesmetaphorik beschreibt. Ich werde im Zuge der folgenden Argumentation an einzelnen Stellen darauf hinweisen, inwiefern hermeneutische Paradigmen vergleichbare Phänomene semiologischer Liebe herausgearbeitet und benannt haben und dort Ecos und Isers einschlägige Analysen anführen. Für die Wahl der Dekonstruktion spricht zudem ein Argument, dass sich nicht aus der systematischen Logik entwickelt, sondern aus dem Bezug der Methodik auf den Untersuchungsgegenstand. Die literaturwissenschaftliche Forschung weist seit Jahren darauf hin, dass es die Romanexperimente um 1800 darauf anlegen, die Prämissen hermeneutischer Lektüre zu sprengen. Daher können sie mit Hilfe der Dekonstruktion am differenziertesten beschrieben werden (s. u.). Nicola Kaminski, Einleitung. In: Dies., Kreuz-Gänge, S. 24. Die vorliegende Liebesstudie verfolgt auf diese Weise konsequent ihr Ziel, ihren Blick
Um anhand des dekonstruktivistischen Textmodells herauszuarbeiten, an welchen Textphänomenen sich die semiologische Liebe verorten lässt, muss man sich erst einmal nur eines vor Augen halten: Auch im Paradigma der Dekonstruktion bleibt die Liebesbeziehung zwischen Leser und Text abhängig vom Akt des Verstehen. Die Frage nach der semiologischen Liebe lautet also: Wie denkt der Poststrukturalismus diesen Verstehensakt, welche Vorstellung von Sinnkonstitution hat er? Ausschließlich im Hinblick auf diese Fragestellung rufe ich noch einmal den poststrukturalistischen Textbegriff auf.91 Das geht am pointiertesten, wenn man sich auf Roland Barthes bezieht. Denn hätte es je einen Wettbewerb gegeben, wer den poststrukturalistischen Textbegriff mit der treffendsten Metapher beschreibt, Roland Barthes hätte ihn wohl leicht für sich entschieden. In ›Die Lust am Text‹ definiert er: Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet [...].92
Nach Barthes ist ein Text ein dynamisches Gewebe. Barthes benötigt nur ein Attribut, um seine eigene strukturalistische Definition vom Text als Gewebe poststrukturalistisch zu spezifizieren. Indem er »Jetzt« gegen »Früher« und damit den Poststrukturalismus gegen den Strukturalismus ausspielt, profiliert er den dekonstruktivistischen Blick auf den Text. Erhalten bleibt, so Barthes, neben der Vorstellung vom »Text als Gewebe« auch der Analysefokus, den die Theorie vorgibt: Er zielt auf das »Wie« der Semiose.93 Als neu markiert Barthes die generative Vorstellung einer aktiven, selbsttätigen Textdynamik und den damit verbundenen Blickwechsel weg vom fertigen Produkt hin zum Prozess. Und neu ist nach Barthes’ Einschätzung ebenfalls der Ort, an dem er den Sinn verortet. Genauer gesagt benennt Barthes nur die Stelle, an der er ihn nicht mehr verortet: nämlich hinter einem »fertigen Schleier«.
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bezüglich der semiologischen und narratologischen Aspekte der literarischen Liebe scharf zu stellen, und den literarischen Liebesbegriff in Ergänzung zu den bisherigen Liebesstudien zu erweitern und zu differenzieren. Dass dadurch (in der Methodik) andere Aspekte in den Hintergrund treten, bedeutet nicht, dass diese irrelevant sind. Da der poststrukturalistische Textbegriff seit nunmehr dreißig Jahren in der Literaturwissenschaft verankert ist, wiederhole ich nicht alle seine (philosophischen) Konstitutionsbedingungen. Roland Barthes, Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main 1974, S. 94. De Man definiert »Semiologie«: »Semiology as opposed to semantic, is the science of study of signs as signifiers, it does not ask what words mean but how they mean.« Paul de Man, Semiology and rhetoric. In: Ders., Allegories of reading. Figural language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven / London 1979, S. 3–19, hier S. 5.
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Barthes’ Metapher ist zwar brillant, aber sie ist auch voraussetzungsreich. Aus ihr geht nicht unmittelbar hervor, auf welchen Prämissen dieser Phänotyp »Text« beruht, den er als revolutionäre Neuheit feiert. Vor allem eine (philosophische) Konstitutionsbedingung ist für die semiologische Liebe von besonderer Relevanz: Es ist die Frage, wie sich in einem dynamischen Textgewebe Sinn konstituiert. Die Antwort darauf gibt die Dekonstruktion, indem sie Charles Sanders Peirces Semiotik radikalisiert.94 Peirce definiert das Zeichen als das, [...] was etwas anderes (seinen Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum.95
Peirces im Unterschied zum Strukturalismus dreigliedriges Zeichenmodell setzt an die Stelle des Signifikats den so genannten Interpretanten. Der Verweis auf ein Signifikat verweist wiederum auf einen Signifikanten oder Signifikantenkomplex (eben den Interpretanten), der wieder auf einen weiteren Interpretanten verweist, und so fort bis ins Unendliche. Jeder Verweis setzt »einen Prozeß unbegrenzter Semiose in Gang«.96 Dieser Prozess kann prinzipiell von keinem Ursprung oder Telos her kontrolliert werden. Deshalb führt Peirces Semiose-Modell konsequenterweise zur Vorstellung vom kulturellen Universum als einem wuchernden Rhizom und virtuell unendlichen Netz von Interpretanten, in dem »jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden kann.«97 Die Dekonstruktion nimmt diese Offenheit des Zeichenbegriffs nicht nur ernst, sondern sie erkennt in ihr das sprachliche Prinzip schlechthin. Für sie gibt es kein Signifikat, das nicht zugleich ein weiterverweisender Signifikant, ein Interpretant wäre.98 In Konsequenz dieser Vorstellung,
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Dieter Mersch, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida, München 1998, S. 9–36, hier S. 28. Charles Sanders Peirce, Grundbegriffe der Semiotik und formalen Logik (1898, 1899, 1901/1902). In: Ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. u. übersetzt v. Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, S. 375. Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1995, S. 173. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 129. Für Derrida beschreibt »›Signifi kant des Signifi kanten‹ [...] die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifi kant des Signifi kanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht. Das Signifi kat fungiert darin seit je als Signifi kant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifi kat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang an, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifi kat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifi kanten entkäme [...]. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und
denkt Derrida, verkürzt gesagt, die Zeichenverkettung und Bedeutungsproduktion als von allen ontologisch-essentialistischen Fundierungen abgelöst, als eine immer nur sekundäre Struktur.99 Die Implikationen dieser Auffassung sind von enormer Tragweite, und sie machen deutlich, welche Charakteristika genau Barthes mit seiner Metapher des dynamischen Gewebes markiert hat. Aus dekonstruktivistischer Sicht befindet sich die Textstruktur »durch den Mangel, die Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprung«100 stets in einer Bewegung, die man sich als Spiel von Verweisen vorzustellen hat, als eine supplementierende Dynamik »unendlicher Substitution in der Abgeschlossenheit (clôture) eines begrenzten Ganzen«101. Barthes’ Kategorie der Dynamik entspricht dem, was die Semiotik als Abdrift der Semiose bezeichnet. Diese sprengt alle (intentionalen oder interpretatorischen) Rahmen. Als universale Abdrift entgrenzt sie den Text.102 Die entgrenzte Dynamik von Zeichenverkettung und Bedeutungsproduktion eröffnet theoretisch die Möglichkeit, wie auf einer Welle von Signifikant zu Signifikant durch den Text in das Universum der Zeichen zu surfen.103 Weil es intentional nicht steuerbar ist, welche Welle die Lektüre erwischt, ist jede einzelne ein (von Seite des Rezipienten) tätiger und ein ergebnisoffener Prozess. Diese Vorstellung eines Universums des Zeichens impliziert zugleich, dass Sinn und Bedeutung tatsächlich nicht hinter dem Text verborgen liegen. Sie liegen nicht als fertiges, vorab fein abgewogenes und verpacktes Produkt hinter
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alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten.« Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main 1983, S. 17f. Mit dieser Argumentation unterläuft Derrida zugleich die transzendentalphilosophische Machtstellung der »Metaphysik der Präsenz« und wendet sie logozentristisch. Er widerlegt die traditionelle Behauptung einer Ursprünglichkeit gesprochener Sprache, indem er ihr die Schrift als gleich (un)ursprünglich zur Seite stellt. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 422–442, hier S. 441. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen, S. 437. Jacques, Derrida, Die Struktur das Zeichen, S. 437. Während Peirce selbst und beispielsweise auch Eco versuchen, diesen unendlichen Prozess sinnvoll zu begrenzen. Sie entsprechen damit jener Literaturwissenschaft, die Barthes abfällig mit der Vergangenheitsform als eine »Frühere« und unausgesprochen als eine »veraltete« bezeichnet. Das Narkotikum der universalen Semiose ist für Eco die Abduktion. Diese stellt er dar als das »versuchsweise und risikoreiche Aufspüren eines Systems von Signifi kationsregeln, die es dem Zeichen erlauben, seine Bedeutung zu erlangen.« Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 68. Letztlich erlaubt die Abduktion eine pragmatische Entscheidung darüber, welche »semantischen Eigenschaften der im Text vorkommenden Lexeme« narkotisiert oder hervorgehoben werden. Umberto Eco, Lector in fabula, S. 114. Vgl. dazu auch: Ders., Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert, München 1992, S. 39. Das bedeutet, jede Lektüre konstituiert eine andere Bedeutung als die vorherige. Es gibt keine Stabilität des Textes.
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(dem von Barthes so bezeichneten) Schleier, sondern sie sind Oberflächenphänomene der Schrift, die sich in der dynamischen Bewegung von Zeichen zu Zeichen konstituieren.104 Allerdings ist die universale Abdrift nur das eine Charakteristikum des dekonstruktivistischen Textbegriffs. Die Lektüre verläuft sowohl in einer flüssigen Driftbewegung als auch (und zugleich) in einem Staccato. Der vermeintliche Lektürefluss, der einen Überfluss an Bedeutungen produziert, wird durch die Differenz zwischen den einzelnen Zeichen jäh unterbrochen. In der Dynamik der Zeichenverkettung und Sinnkonstitution tun sich unausweichlich Risse auf. An dieser Stelle greift eine zweite Radikalisierung der strukturalistischen Theorie durch die Dekonstruktion. Geht de Saussure davon aus, dass die relationale Differenz zwischen den Zeichen unabdingbar zur Sinnkonstitution notwendig ist, hebt Derrida hervor, dass diese Differenz zugleich eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Zeichen erzeugt.105 Derrida betont das Trennende zwischen diesen Zeichen. Die Dekonstruktion beharrt unversöhnlich darauf, dass diese Risse nicht zu kitten sind. Genau dieses Umbruchsmoment, durch das die Bedeutung der Schrift sich entzieht, nimmt Derrida in den Blick. Dort macht er neben der Abdrift der Semiose die zweite Form der Kontingenz fest, welche die Funktionalität aller einzelnen Textelemente im Sinn- und Ordnungszusammenhang eines Textes durchkreuzt.106 Der Poststrukturalismus betont, dass mit der radikalen Singularität der Zufall, das Fremde, in die Zeichenstruktur einbricht: Wie man ihn auch definiert, impliziert der Terminus Zufall zumindest zweierlei: Erstens, das Eintreten eines Ereignisses, das vom betreffenden System her – sei dieses als Ordnung, sei es als zweckmäßig handelndes Subjekt konzipiert – nicht vorausseh- und voraussagbar wäre, und nicht ableitbar ist; und zweitens, die Singularität dieses Ereignisses, die nicht aufgeht in einer wiederholbaren Funktion. Das Aussetzen der Regelhaftigkeit in der Zufälligkeit des singulären Ereignisses – diese Durchkreuzung der Funktionalität versucht der Poststrukturalismus zu denken.107
Indem die Dekonstruktion die »Textualität des Textes«108 und »Intervention der Schrift«109 in den Blick nimmt, legt sie ihr besonderes Augenmerk auf die Ak-
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Sandra Heinen, Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen), S. 244. Simone Roggenbruck, Saussure und Derrida. Linguistik und Philosophie, Tübingen 1998. David E. Wellbery, Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus. In: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992, S. 161–169, hier, S. 162. David E. Wellbery, Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs, S. 161ff. Jacques Derrida, Die zweifache Seance. In: Ders., Dissemination, Wien 1995, S.193–320, hier S. 276. Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext. In: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291–314.
te, die Kontingenz erzeugen.110 Sie erhebt die kommunikative Krise zum Prinzip. Die Dekonstruktion ersetzt die Textordnung aber nicht einfach durch Anarchie und Willkür. Vielmehr präpariert sie zwei spezifische Verfahren heraus, welche die Funktionalität unterminieren – und zwar die entgrenzte Dynamik des Textes111 und die unüberbrückbare Differenz zwischen den einzelnen Zeichen (deren radikale Singularität). Unter diesen Prämissen aber ist Bedeutungskonstitution nicht ohne Bedeutungsentzug zu haben. Texte fi xieren im Zuge ihres »seminalen Spiels«112 Bedeutung, um sie zugleich zu disseminieren, zu verstreuen.113 Sie rufen mit ihren Sinnangeboten permanent das hermeneutische Postulat des Verstehens auf, um dieses zugleich auszustreichen. Beide Bewegungen sind ineinander verschränkt, obwohl sie sich ausschließen. Diese aporetische Struktur bestimmt den Text,114 der sich demnach in einer Bewegung konstituiert, die Bedeutungskonstitution und -entzug dialektisch vereint.115 Es gibt angesichts dieser aporetischen Struktur nur temporäre Bedeutung, die nie präsent, sondern gleichzeitig an- und abwesend ist.116 Das bedeutet, dass der Prozess der Bedeutungskonstitution nie abgeschlossen ist. Ohne in einem Ursprung, in einer Wahrheit verankert zu sein, bewirkt die Verweisungsstruktur von Signifikant zu Signifikant, dass die Bedeutungskonstitution unendlich aufgeschoben wird.117 Derrida bezeichnet diesen unendlichen Aufschub
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Sascha Michel bescheinigt ihr daher zu Recht eine Kontingenzemphase. Vgl. Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano), Tübingen 2006, S. 12. Sandra Heinen, Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen), S. 246. Derrida bezeichnet diese Spiel der Verweisungen mit diesem Begriff: Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebner, existierender und präsenter Stücke Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus, dem seminalen Abenteuer der Spur.« Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 441. David Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Schrift, München 1993, S. 337–348. Paul de Man, Blindness and insight. Essays in the rhetoric of contemporary, Minneapolois 1997, S. 17. Vgl. dazu auch Christoph Menke-Eggers, »Deconstruction and Criticism« – Zweideutigkeiten eines Programms. In: Wilfried Barner (Hg.), Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit, Stuttgart 1990, S. 351–366, hier S. 357. Christoph Menke-Eggers formuliert diese dekonstruktivistische Prinzip so: »Dem bedeutungsermöglichenden Spiel der Differenzen muß eine Dynamik eignen, die seinen bedeutungs Vollzug unmöglich macht, weil sie bedeutungsdestruktive Potentiale entfaltet, die Bedeutungen nur unter der Bedingung ihres Ausschlusses denkbar erscheinen lassen.« Christoph Menke-Eggers, »Deconstruction and Criticism«, S. 353. Damit ergibt sich jene »Rhetorik der Aporie«, welche die Dekonstruktion in den einzelnen Texten ausmacht, und die Derrida in seinen Texten performativ zelebriert. Auf diese Weise stellt die Dekonstruktion radikal die Möglichkeitsbedingungen in Frage, welche die Transzendentalphilosophie für »das Funktionieren sinnhafter – bedeutungstragender und geltungsbeanspruchender – Diskurse vorgibt.« Für sie ist diese transzendentale Bedingung »gleich ursprünglich« mit einer zweiten, die jener ersten widerspricht und ihre sinnverbürgende Erfüllung unendlich aufschiebt. Jacques Derrida,
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der zugleich unverwirklichbaren wie unverzichtbaren Idealität des Sinns als différance. 2.1.3 Liebeskonzepte Der Clou, das dekonstruktivistische Textmodell für die Analyse semiologischer Liebe heranzuziehen, besteht darin, dass man sowohl die Bedeutungskonstitution als auch den Bedeutungsentzug als Liebesmuster operationalisieren kann.118 Auf der Seite des Sinnangebots lassen sich die Liebesmuster in das Textmodell integrieren, welche Hermeneutik und Strukturalismus formuliert haben. Auf diese Theoreme muss man zurückgreifen, weil diese Spielarten semiologischer Liebe zwar dem dekonstruktivistischen Textmodell eingeschrieben sind, die poststrukturalistischen Theorien aber keinen Blick für diese haben (wollen). Sie sind den poststrukturalitischen Theorien zwar inhärent, aber dort redet keiner über sie. Um es pathetisch zu sagen: sie werden totgeschwiegen. Dagegen haben sich die Dekonstruktivisten auf die Seite des Sinnentzugs fokussiert, und dort drei Spielarten semiologischer Liebe herausgearbeitet. Beide Seiten zusammen aber bilden erst die gesamte Palette des semiologischen Liebesspiels, mit dem der Text seinen Leser einspinnt. Das hat niemand geringeres als Julia Kristeva erkannt. Sie hat in ihrer umfassenden Studie ›Geschichten von der Liebe‹ den einseitigen Blick ihrer dekonstruktivistischen Vorgänger überwunden und die soeben skizzierte Doppelbewegung als Liebesphänomen identifiziert. Allerdings ist ihr Entwurf nicht nur voraussetzungsreich, weil sie in ihr Liebeskonzept die Denkfiguren einer ganzen Reihe poststrukturalistischer Vordenker integriert, sondern ihre Studie verzichtet darüber hinaus – wie sich das für dekonstruktivistische Arbeiten gehört – darauf, ihren Liebesentwurf systematisch vorzustellen. Deshalb schließt die vorliegende Studie zwar an Julia Kristevas Liebestheorie an. Bevor sie aber auf das Zusammenspiel der einzelnen Liebesformen zurückgreift, entwickelt sie zunächst die einzelnen Spielarten semiologischer Liebe systematisch. Erstens entfalte ich das Liebesideal, das sich im Rückgriff auf die Hermeneutik und den Strukturalismus auf der Seite der Sinnkonstitution profilieren lässt. Als zweites beziehe ich in meine Überlegungen ein, wie das (reale) Doppelspiel von Sinnkonstitution und Sinnentzug das hermeneutisch-strukturalistische Ideal durchkreuzt. Drittens formuliere ich, wie man unter dieser Vorgabe dekonstruktivistische Liebe denken kann. Diese Spielarten semiologischer Liebe konstituiere ich, indem ich mich der Theoreme Barthes’ und Lacans bediene. Als
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Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 441. Christoph Menke-Eggers, »Deconstruction and Criticism«, S. 351. Wobei die dekonstrukivistischen Liebesmuster in der Hermeneutik bereits angelegt worden sind. Dagegen lassen die dekonstruktivistischen Theoreme die Muster der Sinnkonstitutionsseite gerne unter den Tisch fallen. Das von der Hermeneutik formulierte Verständigungsideal ist dem Poststrukturalismus zwar eingeschrieben, aber er formuliert dies nicht aus.
viertes zeige ich, wie Julia Kristeva die dekonstruktivistische Doppelbewegung, im Zusammenspiel von Liebe, Lust, Wollust und Begehren, als Liebesphänomen denkt. Im Anschluss an diese typologischen Überlegungen führe ich aus, inwiefern ich mich des Dekonstruktivismus bediene, um zugleich gezielt von seinen Vorgaben abzuweichen. Liebe Die erste Spielart semiologischer Liebe kann man mit Hilfe der Hermeneutik beschreiben. Betrachtet man die Seite der Sinnkonstitution isoliert von ihrer dekonstruktivistischen Gegenbewegung, so ist jedem Text das Ideal der totalen Verständigung mit seinem Leser eingeschrieben, auch wenn dieses Ideal gezielt unterlaufen wird. Diese hermeneutische Idealvorstellung schwebt als Versprechen über den Texten und ihren Lesern.119 Das Entscheidende ist, dass dieses Lektüreideal exakt mit dem romantischen Liebesideal übereinstimmt.120 Die Textlektüre folgt also einem Liebesideal. Liebender Leser und geliebter Text streben danach, sich im Einverständnis zu vereinigen. Mit seinen Sinnangeboten evoziert der Text, es sei möglich, nicht nur »Unwahrscheinlichkeitsschwellen« zu verschieben, sondern diese vollständig zu beseitigen. Texte propagieren mit Hilfe ihrer Sinnangebote also das Liebesideal totalen Einverständnisses. Um dieses zu erreichen, um den Sinn des Kunstwerks vollständig zu erschließen, muss der liebende Leser häufig genug, und mit zunehmendem Vorwissen ausgestattet, den hermeneutischen Zirkel in Gang setzen. Im Idealfall erreicht er so das Telos der hermeneutischen Lektüre, und kehrt somit zur arché zurück – zum ursprünglichen, vom Autor intendierten Sinn des Textes.121 Der Text würde in diesem Fall hinter seiner Aussage verschwinden, so dass Autor und Leser, nicht mehr weiter durch die materiale Nachricht getrennt, in Eins verschmelzen. Damit wäre – so kann man in Analogie zum romantischen 119
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Dieses Totalitätsideal lässt sich an einer ganzen Reihe von Begriffen – wie Gadamers Horizontverschmelzung – ablesen. Es ist möglich, weil die Hermeneutik davon ausgeht, dass eine »gemeinsame menschliche Erlebens-Grundlage« dem Leser ermöglicht, dem im Text ausgedrückten Gefühl bis zur Quelle der Liebe nachzufühlen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Ders., Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13–15, Frankfurt am Main 1986, S. 429. Tatsächlich überbietet Reinhardt-Becker die binäre Codierung noch einmal, indem sie diese durch das Gegensatzpaar »Totalverstehen / Nichtverstehen« [meine Hervorhebung, C. M.] ersetzt. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 301. Schleiermacher selbst betont bei der psychologischen Interpretation, dass der Leser vom eigenem Gefühl auf das des Autors schließen lasse. »Alle Mittheilung, das Wiedererkennen des Gefühls, erfolgt hier nur vermittelst eines analogischen Verfahrens.« Frank S. 52 (=PHE 317, § 243). Während die Analogie also die Utopie eines vollkommenen Verstehens des Anderen einschränkt, betont Schleiermacher, dass das vollkommene Verstehen »ganz [nur] auf der Seite der grammatischen Kunst« denkbar sei. Manfred Frank, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik, S. 53. Vgl. auch Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 10.
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Liebescode übersetzen – die Liebessymbiose der beiden Partner perfekt. Das hermeneutische Lektüremodell formuliert demnach wie die romantische Liebe das Vorstellungsideal, das Subjektive sei kommunikabel.122 Das offerierte Ideal impliziert auch eine ästhetische Ebene. Es zielt darauf ab, dass die Lektüre (des anderen, des Textes) keinen unverständlichen Rest offen lässt. Interpretationslogisch vermittelt in diesem Idealmoment der hermeneutische Zirkel jedes einzelne Element eines Textes immer mit dem Ganzen eines Sinnzusammenhangs. Nach hermeneutischer Theorie unterliegt der literarische Text in diesem Idealfall der Ordnungsform der Harmonie:123 Das Einzelne fügt sich notwendig in den Chor des Ganzen ein. Diese Harmonie aller Elemente verweist gezielt auf das Feld der Ästhetik. Erstellt der Leser im Zuge seines hermeneutischen Verstehensprozesses eine Harmonie, folgt er der (platonischen) Liebe zum Schönen. Und weil die Lektüre nicht an der schönen Anordnung der materialen Zeichen auf dem Papier interessiert ist, sondern an einem eindeutigen Sinn, richtet sie die Liebe des Lesers nicht in erster Linie auf das Äußerliche, auf die (körperliche) Form des Kunstwerks, sondern auf dessen »höheren Sinn«, auf die – so Gadamer – »Wahrheit«.124 Die Hermeneutik schreibt der Literatur eine Schönheit und Wahrheit zu, die Platon ihr rigoros abspricht.125 Die harmonische Beziehung ist der Fluchtpunkt des hermeneutischen Liebesspiels zwischen Leser und Text. Texte offerieren – das hat die philosophische Hermeneutik auf psychologischer, ästhetischer und anthropologischer Ebene herausgearbeitet – ein Ideal geistiger Vereinigung und damit das Musterbild romantischer Liebe. Wenn ein Text diese Beziehung zwischen Leser, Text und Autor provoziert, wenn er es auf diese Spielart semiologischer Liebe anlegt, indem er Sinnangebote macht, auf Harmonie und Geschlossenheit auf »totales Verstehen« verweist, inszeniert er ein hermeneutisch-romantisches Liebesideal.126
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Das Liebesmodell schließt aus hermeneutischer Sicht mit ein, dass der Autor seine Gefühle und Gedanken im literarischen Kunstwerk ausdrückt, und diese sich dort in sprachlicher Ver-Dichtung kristallisieren. Der Rezipient steht seinerseits vor der interpretatorischen Aufgabe, den Text im Sinne der Autorintention auszulegen. Als das Paradigma dieser Dichtung gilt der Hermeneutik (nach Gadamer) im Anschluss an die Genieästhetik zum einen der Liebesroman, zum anderen die so genannte Erlebnislyrik – vor allem des jungen Goethe. Bernhard Waldenfels unterscheidet drei grundlegende Ordnungsformen: Archie und Teleologie sowie Harmonie. Vgl. Bernhard Waldenfels, »Das Ordentliche und das Außer-ordentliche«. In: Bernhard Greiner u. Maria Moog-Grünwald (Hg.), Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 1–13, hier S. 2. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 462. Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Gerhard Neumann, Lektüren der Liebe, S. 11. Neumann entwickelt diesen Gedanken der platonischen Liebe zum Schönen anhand von Herders 1778 erschienenem Aufsatz ›Denkmahl für Josef Winkelmanns‹. Dass die Hermeneutik dieses Ideal entwirft, bedeutet keineswegs, dass sie naiv davon ausgeht, es sei auch zu erreichen. Jede avancierte Hermeneutik denkt (relational zum Verstehen und zum Sinn) immer auch schon die Unverständlichkeit und den Unsinn
Lust Doch das Liebesspiel beschränkt sich auf der Seite der Sinnkonstitution keineswegs darauf, dass die beiden Partner im Sinne eines geistigen Ideals verschmelzen. Vielmehr umfasst die (im hermeneutischen Paradigma entwickelte) semiologische Liebe auch die körperliche Beziehung zwischen Text und Leser. Die Liebeskommunikation nimmt die Sexualität gezielt in Kauf. Und mehr noch, sie schätzt diese als einen ihrer wichtigen Bestandteile. Diese Hierarchie ist wesentlich, denn umgekehrt ist das geistige Liebesideal kein Teil der Sexualität.127 Wann immer ein Liebestext auf das Ideal geistiger Vereinigung abzielt, erzeugt er mit derselben Strategie auch eine (text-)körperliche Lust am Text. Dieses Lustprinzip ist der hermeneutischen Theorie zwar eingeschrieben, aber keine Theorie hat sich diesem eindringlicher verschrieben als der Strukturalismus. Das liegt daran, dass die strukturalistische Theorie sich aufgrund ihres Verständnisses vom Text als Gewebe128 – als Textur – und in Folge des von ihr propagierten »Tod des Autors«129 vorrangig den »for-
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mit. Die Hermeneutik weiß um die paradoxiale Struktur ihres Ideals. Sie reflektiert, dass Totalverstehen nicht möglich ist. Vgl. paradigmatisch dazu Friedrich Schlegel, Über die Unverständlichkeit. In: Friedrich Schlegel. Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 530–542. Oder Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt am Main 1995, S. 10ff. Es geht an dieser Stelle also keineswegs darum, die Dekonstruktion gegen die Hermeneutik auszuspielen. Ich prüfe die einzelnen Theorien nur unter dem (eingeschränkten) Gesichtspunkt, wie sich mit ihrer Hilfe Spielarten semiologischer Liebe konstituieren lassen. Im Gegensatz zur Dekonstruktion, die keinen Blick für dieses Liebesideal hat, formuliert die Hermeneutik dieses explizit aus. Die Hermeneutik selbst verankert nicht allein in der Erfüllung des Ideals einen Liebesbegriff. Sie erkennt auch in der Unerfüllbarkeit bereits ein Lustprinzip. Die Anlage dieser Lust lässt sich bereits in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ ausfindig machen, und zwar in seiner Ästhetik des Lachens. Der »lustvolle Affekt« (Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns, S 37) des Lachens entsteht »aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B, S. 225. Die »Verpuffung des hermeneutischen Prozesses in ein endliches Nichts« löst Lachen aus. Mit der Lust (zum Lachen), welche sprachliche Kunstwerke provozieren können, beschreibt Kant bereits die Affektreaktion, welche die dekonstruktivistische Theorie später weiter ausformulieren wird. Die Dekonstruktion radikalisiert dieses Muster allerdings, indem sie es zum Normalfall erklärt und zudem in den Liebesdiskurs einspeist. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sexualität alleine eben noch kein Liebesverhältnis ausmacht. Das wichtigste an der Liebe ist gerade nicht Sexualität. Peter Fuchs beschreibt dieses Verhältnis von Liebe und Sexualität pointiert: Würde das Körperliche die Liebe dominieren, »wäre Prostitution Liebe, und es ist ja bezeichnend, daß die Form der Prostitution Liebe ausschließt und umgekehrt. [...] Typisch ist es auch so, daß man nicht sagt, jemand liebt jemanden wegen der Geschlechtsorgane, über die der Andere verfügt. Dann würde es sich, so sagt man, nur um Sex drehen, und das hat mit Liebe nichts zu tun.« Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 46. Von textum, lateinisch Gewebe. Das Autorsubjekt, so Barthes paradigmatisch, löst sich »in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, [...] auf wie eine Spinne, die selbst in den konstruktiven Sekretionen ihres
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malen Möglichkeiten des Romans«130 zuwendet. Und da der Strukturalismus sein Augenmerk darauf richtet, wie Sinn konstituiert wird, nimmt er den Text als lebendigen Textkörper wahr: »Der literarische Text verhält sich wie eine Art lebender Organismus, der mit dem Leser durch eine Rückkopplung verbunden ist und ihm Unterricht erteilt.«131 Konsequenterweise umfasst die Spielart semiologischer Liebe, die der Strukturalismus in den Blick bekommt,132 die Beziehung zwischen Textkörper und Rezipient. Lesen ist unter diesen Umständen ein sinnliches Erlebnis, oder genauer ein lustvolles, ein erotisches.133 Barthes hält lakonisch fest: »Die Lust am Text lässt sich durch eine Praxis definieren (ohne jede Gefahr von Repression): Ort und Zeit der Lektüre.«134 Und Susan Sontag gibt die kämpferische Parole aus: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.«135 In Folge ist der erotisierte Textkörper das primäre Liebesobjekt des Lesers. Diesen Aspekt semiologischer Liebe bezeichne ich als strukturalistische Erotik und Lust. Analog zur hermeneutischen Liebe beruht die Lust am Text auf dem Harmoniebedürfnis des Lesers. Sie entspringt dem Moment des Risses, wenn beispielsweise der plot aus den Fugen gerät. Sie entzündet sich im Gewaltakt, in dem Moment, in dem Spannung konstruiert wird, wenn etwas unklar bleibt.136 Diese Bruchstel-
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Netzes aufginge.« Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 94. Vgl. dazu grundlegend: Emile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt am Main 1977, S. 287ff. Roland Barthes, La mort de l’auteur (1968). In: Ders., Le Bruissement de la Langue, Paris 1984, S. 61–67. Vgl. auch Michel Foucault, »Was ist ein Autor?« (1969). In: Ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, S. 7–31. Susan Sontag, Gegen Interpretation. In: Dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien, München 1980, S. 9–18, hier S. 18. Juri M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 42f. Christina Meyer, Roland Barthes: »Fragments d’un discours amoureux. In: Gislinde Seybert (Hg.), »Das Liebeskonzil« »Le Concile d’ amour«. Literarische Liebe und metaphorisches Begehren / Amour littéraire et désir métaphorique, Bielefeld 2004, S. 251– 274. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 94. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 17. Der agitatorische Ton von Susan Sontags Kampfansage darf nicht darüber hinweg täuschen, dass diese zweite Spielart semiologischer Liebe schon in der hermeneutischen Liebeskonstruktion angelegt ist. Der Strukturalismus schreibt sich dennoch auf die Fahne, sie gegen die hermeneutische Übermacht herausgearbeitet zu haben. Susan Sontag, Gegen Interpretation, S. 12. Dieselbe Art der Lust würde man mit Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik in den Blick bekommen. Die wirkungsästhetische Erotik entzündet sich ebenfalls in den »Unbestimmtheitsbetrag« literarischer Texte. Genau in der Konfrontation des Rezipienten mit der Leerstelle (der Unbestimmtheit) gewinnt in Isers Modell die Erotik ihre systematische Relevanz. Texte erzeugen durch ihre Leerstellen »Nervosität«. Als »stimulierende Momente« haben sie eine beunruhigende Wirkung. Sie wirken insofern erotisch auf den Rezipienten, als sie die »Kreativität der Rezeption« entzünden. Die unbestimmt/ bestimmte Leere animiert den Leser. Erotik treibt den Leservorgang an. Diese rezeptionsästhetische Erotik bringt – sozusagen durch die Hintertür – einen dynamischen Verständigungsprozess in Gang, in dessen Zuge der Leser immer wieder neu und sich
len im Blick folgert Thomas Anz: »Es gibt […] in der Literatur subtile Mittel, Wünsche dadurch zu wecken, daß vorübergehend Gefühle des Mangels erzeugt werden, die den Wunsch nach ihrer Beseitigung wecken.«137 Wird das strukturalistische Lustprinzip durch die Risse im Text geweckt, erfüllt es sich in dem Augenblick, in dem die funktionale Vollständigkeit erstellt wird. Die Lust stellt sich ein, wenn sich jedes noch so kleine Detail sinnvoll in den Chor des Ganzen integriert.138 Sie kommt im Moment harmonischer Schönheit über den Leser. Sie ist eine »ödipale Lust (den Ursprung und das Ende [zu] entkleiden, [zu] wissen, [zu] erfahren).«139 So kann sie beispielsweise, wenn der Leser das Ende einer Handlung aufdeckt, in der »Romanbefriedigung« kulminieren.140 Mit dem strukturalistischen Lustbegriff erweitert sich das Liebesverhältnis zwischen Leser und Text. Koppelt man Barthes’ und Sontags Lustmodell mit dem geistigen Ideal der Liebe, so holt der Strukturalismus im Zusammenspiel mit der Hermeneutik rezeptionstheoretisch nach, was für die romantische Liebe konstitutiv ist: Sie vermitteln Liebe und Sexualität. Das hermeneutische Ideal geistiger Verständigung und die strukturalistische Lust sind positiv rückgekoppelt.141 Die Texte evozieren mit ihrer Sinnkonstitution die Vorstellung einer zugleich körperlichen wie geistigen Verschmelzung. Lust und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden. Beide erfüllen sich im Moment der Harmonie, der gegenseitigen Verständigung und – um eine Metapher der Hermeneutik zu übernehmen – der cokreativen Schöpfung.142 Aus hermeneutisch-strukturalistischer Perspektive lässt
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fortwährend am Text korrigierend Signifi kate bildet. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 108. Wolfgang Iser, Die Apellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228–252, hier S. 229. Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998, S. 164. Vgl. Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 7f. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 17. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 17. Darüber darf man sich nicht dadurch hinwegtäuschen lassen, dass die Strukturalisten in ihren Arbeiten die (vermeintlich neu entdeckte) Lust hervorheben, um sie im literaturtheoretischen Diskurs zu etablieren. Erneut würde man eine analoge Liebeskonstruktion mit Hilfe der Rezeptionsästhetik in den Blick bekommen. Auch sie konstituiert eine geistige Vereinigung von Autor und Leser. »Autor und Leser also teilen sich das Spiel der Phantasie«, so konstatiert Iser knapp. Der Autor und seine Leser vereinen ihre Kräfte in einem gemeinsamen schöpferischen Akt, und zwar – wie könnte es bei Isers Betonung von Erotik und Sexualität anders sein – explizit in einem Geburtsakt: »Der schöpferische Akt ist beim Erschaffen nur ein unvollständiges, abstraktes Moment; wenn der Autor allein existierte, könnte er schreiben, soviel er wollte – das Werk würde nie als Objekt das Licht der Welt erblicken, er müßte die Feder niederlegen oder verzweifeln. Aber der Vorgang des Schreibens schließt als dialektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens ein [...]. Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und imaginäre Objekt entstehen, das das
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sich semiologische Liebe als Zusammenspiel von (geistigem) Vereinigungsideal und strukturalistischer Lust am Text operationalisieren. Diese Aspekte ruft der Text auch aus dekonstruktivistischer Sicht mit jedem Sinnangebot auf. Allerdings geschieht dies im Zuge der Dekonstruktion immer schon im Wissen um die andere Seite der Doppelbewegung: Diese Sinn konstituierende Bewegung ist stets schon mit der des Sinnentzugs dialektisch verschränkt. Während der Text hermeneutische Liebe und strukturalistische Lust in Aussicht stellt, unterminiert er diese zugleich. Die Kontingenzakte machen umgehend deutlich, dass das hermeneutisch-strukturalistische Verschmelzungsideal unerfüllt bleiben muss. Was nach dem Durchstreichen des Ideals allerdings übrig bleibt, ist der Wille dieses zu erreichen. Diesen Antrieb der Lektüre bezieht die dekonstruktivistische Theorie ebenso in die Liebeskonzepte ein, die sie selbst ausformuliert, wie das Wissen darum, dass das hermeneutische Ideal nicht zu erreichen ist. Aus dekonstruktivistischer Sicht richtet ein Text den Appell an seinen Leser: Lieb mich nach den Regeln romantischer Liebe. Versuche deren Ideal zu erreichen, und wisse, dass du stets daran scheiterst. Ziehe aber aus diesem Scheitern wiederum Lust und Liebe. Diese doppelte Struktur (der Lektürelust) kennzeichnet moderne Liebeskommunikation. Roland Barthes zum einen, Jacques Lacan zum anderen setzen die von Derrida entworfenen Momente der Inkommunikabilität in die Diskurse von Liebe und Sexualität um. Sie identifizieren die Kontingenzverfahren als Spielformen semiologischer Liebe.143 Mit Hilfe ihrer Theoreme kann man konstituieren, welchen Aspekt romantischer Liebe die Texte noch darstellen können. Während Barthes seine Lektüre der Wollust auf den (nicht mehr zu kittenden) Augenblick des Bruchs beschränkt, richtet Lacan seinen Blick auf die entgrenzte Abdrift der Semiose und identifiziert sie als Begehren. Beide Modelle ergänzen sich komplementär.
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Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch den anderen.« Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, S. 176f. Mit diesem Sartrezitat zeigt Iser wie Lektüre letztlich zur geistigen Liebesverbindung von Leser und Autor führt, die sich in ihrer Cokreativität vereinen. In ihrer erotischen Beziehung am Text zeugen sie ihr gemeinsames Kind. Der künstlerische und der ästhetische Pol kommen zur Konvergenz, sie verschmelzen. Vgl. dazu Wolfgang Iser, Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive. In: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 253–276, hier S. 253. Isers Entwurf der Cokreativität stützt Georg Jägers These, dass sich der literarische Diskurs der Romantik und die romantische Liebe in der Tätigkeit der Fantasie überschneiden. Allerdings ist diese Feststellung nach Iser über die Romantik hinaus auf jedes Text-Leser-Verhältnis zu erweitern. Vgl. dazu auch Julia Bobsin, Von der WertherKrise, S. 18. Auch die Hermeneutik kennt diese beiden Kontingenzverfahren. So macht zum einen Iser seinen Lustbegriff an der von ihm so genannten »Leerstelle« im Text fest und Eco widmet sich zum anderen intensiv der »Lust der Abdrift«. Die hermeneutische Theorie hat also durchaus schon die Lustprinzipien an Strukturen der Inkommunikabilität festgemacht. Sie hat die Wirkkraft dieser Verfahren aber stets als begrenzt angesetzt, während die Dekonstruktion diese Grenzen gezielt aufhebt.
Ereignishaftigkeit der Liebe Unter poststrukturalistischen Bedingungen können Texte zwar nicht mehr das romantische Verschmelzungsideal einlösen, sie können dafür aber eine andere Facette des Liebesgefühls inszenieren: Derridas Grammatik der Inkommunikabilität entpuppt sich insofern als eine Grammatik der Liebe, als die Texte, indem sie das Akzidentielle (die Singularität) ausstellen, exakt die Liebeserfahrung inszenieren, wie sie (zwar nicht Derrida selbst, dafür aber) zum einen Barthes in seiner dekonstruktivistischen Analyse des Liebesdiskurses zum anderen Lacan in seiner psychoanalytischen Argumentation entwerfen. Lacan erkennt paradigmatisch in den kontingenten Momenten der Singularität, die das Nicht-Symbolische, das Nicht-Integrierbare (in die von Lacan so genannte chaîne signifiante),144 das nicht Interpretierbare in Szene setzen, das Phänomen der Liebe wieder. Für ihn bricht die Liebe im Akzidentiellen in das Leben ein. Man wird von ihr getroffen, wie von einem Ziegelstein, wie von einem Blumentopf, der einem auf den Kopf fällt.145 Roland Barthes teilt Lacans Einschätzung, man habe die Liebesleidenschaft passiv hinzunehmen.146 Seiner Meinung nach, kommt die Liebe auf einen so unerwartet und unkontrollierbar nieder wie ein Dämon. Sie ist einer Schicksalsgöttin der griechischen Mythologie gleich. Wie eine Erynnie kommt sie mit Gewalt über den Menschen.147 Mit dieser Konzeption der Liebe schließen die beiden Theoretiker an den romantischen Entwurf der Liebesinitiation an. Sie adaptieren die berühmte »Liebe auf den ersten Blick«, welche die Liebenden nach romantischer Vorstellung wie ein Blitzschlag trifft. Da die Liebe blitzartig und nur augenblickshaft in das Leben einbricht, ist sie als das völlig Unerwartete, das eine Wunde hinterlässt, erst nachträglich zu spüren.148 Die Liebe ist, so kann man mit Derrida festhalten, ein Ereignis. Sie zeichnet sich durch Nicht-Präsenz aus.149 Es gibt Liebe, aber Liebe ist nicht.150 Man kann ihr nur nachspüren, sie ist immer schon vorbei. Die Lie-
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Christina Meyer, Fragments, S. 260. Lacan bezeichnet diesen teilnahmslosen Augenblick als »recontre du réel (tuché)«. Jacques Lacan, Les quatre concepts fondamentaux de la psychoanalyse, Le Séminaire XI, Paris 1973, S. 53. Vgl. dazu auch Reingard M. Nikisch, Leidenschaften literarisch, S. 11. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 20. Barthes warnt: »man darf, wie ein Mathematiker sagt, ›die Macht des Zufalls nicht unterschätzen, der auch Monster zeugen kann.‹« Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 21. Vgl. auch Christina Meyer, Fragments, S. 258. Zu diesem Kurzschluss der Augenblickshaftigkeit der Liebe mit dem Trauma der Wunde vgl. Christina Meyer, Fragments, S. 257. Zur Dekonstruktion des Augen-Blicks und zu seiner Nicht-Präsenz vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979, S. 121. Den Zusammenhang zwischen Liebe, Gabe und Schrift stellt Derrida selbst her, wenn er in einer Fußnote zu Beginn seiner Theorie direkt auf Lacans Liebesmodell verweist.
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be ist nicht im Moment des Geschehens, sondern immer erst danach verstehbar. Sie zeichnet sich durch das Augenblickhafte, Akzidentielle, Blitzartige, Inpräsente, Subversive aus und trägt damit eine aporetische Struktur. Lacan bezeichnet sie deshalb als traumatische Erfahrung.151 Lacans und Barthes Entwüfe zeigen jeweils, dass sich der poststrukturalistische Liebes- und der dekonstruktivistische Kontingenzbegriff aneinander koppeln lassen. Die radikalisierte Herausstellung des Akzidentiellen verbindet das Liebeserlebnis mit der Lektüre eines Textes.152 Wer einen Text aus dekonstruktivistischer Perspektive liest, wird immer wieder verletzt. Er wird, indem der Text die Singularität der Zeichen betont, blitzartig aus seiner Ordnung gerissen. Er greift im Zuge der Signifikation nach Bedeutung, ohne sie festhalten zu können und muss sich – nach einem Moment der Suspension – stattdessen von einer Bildmasse überfluten lassen. Kurz gesagt: Wer einen Text unter poststrukturalistischen Prämissen liest, macht im Wechsel von Sinnkonstitution zu Sinnentzug eine Liebeserfahrung nach der anderen. Mehr als das immer neue Initiationsgefühl aber, dem man immer nur nachsinnen, über das man stets nur nachdenken kann, bleibt von der Liebe jedoch nicht. Die Liebe befindet sich also während der Lektüre stets schon in der Krise. Wenn Liebe nur als sekundäre Erscheinung erfahren werden kann, bleiben mit der ständigen Enttäuschung nur das Versprechen einer künftigen Verschmelzung und die Entwicklung eines alternativen Lust- und Liebesprinzips. Ein solches etabliert die Dekonstruktion: Erfüllt sich für die Liebes- und Verstehenslehre der Hermeneutik und des Strukturalismus die Liebe in der (totalen) Kommunikabilität, machen Lacan und Barthes sie an der Inkommunikabiltät fest. Tatsächlich zieht die dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit der Liebe – quasi nach systemtheoretischem Lehrbuch – die logische Konsequenz daraus, dass sie grundlegend an der Kommunikabiliät von Liebe zweifelt. Sie verlagert ihr Augenmerk weg vom Liebesversprechen hin zur Sexualität. Die Dekonstruktion konzentriert sich darauf, die sexuelle Beziehung zwischen Leser und Textkörper, welche der Strukturalismus formuliert hat, auszubuchstabieren. Aus ihrer Sicht kann der Text seinen Leser nur dazu auffordern, eine sexuelle Beziehung mit ihm einzugehen. Inwiefern sie mit dieser Annahme aber der Vorstellung einer Liebeskommunikation treu bleiben, zeigt ein Seitenblick auf die Systemtheorie: Ein grundlegendes Diktum lautet dort nämlich: Wenn es in Intimsystemen mit der Liebeskommunikation nicht mehr klappt, und das System in eine Krise gerät, müssen die Körper einspringen. In Krisenlagen scheitert das Intimsystem nicht einfach, vielmehr greift dann der
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Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993, S. 12. Trauma aus dem Griechischen stammend, bedeutet »Wunde«. Zur Unverfügbarkeit der Liebe vgl. Ulrich Pothast, »Liebe und Unverfügbarkeit«. In: Heinrich Meyer u. Gerhard Neumann (Hg.), Über die Liebe. Ein Symposion, München 2001, S. 305–332. Es ist die Plötzlichkeit des Blitzschlages, samt Bildüberflutung und Bildentzug, die in diesem Moment eintritt. Christina Meyer, Fragments, S. 260.
»symbiotische Mechanismus« Sexualität: »Symbiotische Mechanismen finden sich in den Funktionssystemen der Gesellschaft als Körperbezüge, die in Krisensituationen aktiviert werden.«153 Nach diesem Muster verfährt die Dekonstruktion. Im Angesicht der unausweichlichen »Krise« verlegt sie sich weg von der symbolisch generalisierten Kommunikation auf den symbiotischen Mechanismus Sexualität, sie referiert auf die erotische Beziehung zwischen Leser und Textkörper. Deshalb erfüllt sich anhand der dekonstruktivistischen Theorie die Behauptung: Die Krise des Intimsystems lässt sich an der kommunikativen Referenz auf Sexualität erkennen, vorzugsweise in der Verweigerung, die den anderen zwingt, auszutesten, ob das noch geht, was eigentlich selbstverständlich zu gehen hat.154
Diese sexuelle Lust erzeugt der Text im ständigen Verweis auf seine Materialität und durch Strategien des Sinnentzugs, nämlich die »Unterbrechung« einerseits, die »Abdrift der Semiose« andererseits. Diese aber evozieren im Leser durchaus auch Sinn- und Liebesideale, um sie zugleich wieder zu unterlaufen. Die Dekonstruktion steigert nun die sexuelle Lust insofern, als sie das Wissen des Lesers, dass alle Konstruktionen brüchig und alle Versprechen uneinlösbar sind, umkodiert: Sie versteht die Tatsache, dass Liebe ein uneinholbares Ereignis ist, nicht länger als »Krise«, sondern sie sieht in ihr die Bedingung zur Möglichkeit des (potentiell unendlichen) Liebesspiels. Und dieses bejaht sie lustvoll.155 Damit bleibt das Liebesverhältnis zwischen Leser und Text auch auf der – von der Dekonstruktion betonten – Seite des Sinnentzugs grundsätzlich den Regeln des romantischen Intimsystems treu. So dominant die Sexualität in den semiologischen Verfahren sein mag, welche der Poststrukturalismus entwirft, sie streicht die Liebe(sversprechen) dennoch nicht vollständig aus. Ihr bleibt das von der Hermeneutik formulierte Liebesideal eingeschrieben. Und mehr noch, es bildet stets den Fluchtpunkt der Lektüre – des Liebesspiels. Denn bestünde der Text nur aus Unsinn und aus Strategien des Sinnentzugs, würde wohl jeder Leser die Lektüre sofort beenden und den Text zur Seite legen. Ohne Sinnkonstitution und hermeneutisches Idealversprechen ist also die dekonstruktivistische Texttheorie nicht zu denken. Daher lässt sich grundlegend behaupten: Die dekonstruktivistische Sexualität ist und sie bleibt (wie die strukturalistische Lust vor ihr) ein Bestandteil der Liebeskommunikation (und nicht
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Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 46. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 46. Denn Derrida trauert nicht etwa um den Verlust des ontologischen Fundaments. Im Gegenteil, wie vor ihm wohl nur Nietzsche begrüßt er den Verlust des Zentrums emphatisch als »fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist.« Diese Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. »Denn es gibt ein sicheres Spiel, dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener, existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung.« Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 441.
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umgekehrt).156 Dies gilt, obwohl die Dekonstruktivisten – so scheint es weithin – darüber gerne den Mantel des Schweigens legen. Die Liebe tritt demnach nur in ihrer schon dekonstruierten Form auf. Nach Derrida, Barthes und Lacan ist Liebe einzig in der »krisenhaften», sexualisierten, spielerischen Form von Wollust und/ oder Begehren erfahrbar. Damit lassen sich die Begriffe Wollust und Begehren der poststrukturalistischen Theorie als zwei Spielformen semiologischer Liebe am Text operationalisieren. Wollust Unter diesen Prämissen macht Roland Barthes die Wollust an dem Moment des Risses fest, anhand des Gewaltakts, mit dem die Funktionalität von Ordnungsund Sinnzusammenhängen durchkreuzt wird. Was die Wollust am (erotisch konnotierten) Textkörper ausmacht, zeigt sich im Vergleich mit der »Lust am Text«. Beiden ist ein Moment des Schmerzes und der Gewalt eingeschrieben. Konzentriert sich die Lektüre der Lust aber auf die »Anekdote« und die »Ausdehnung des Textes« und »ignoriert die Sprachspiele«157, lässt die Lektüre der Wollust nichts aus: »sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann mit Besessenheit, erfasst an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, das die Sprachen zerschneidet.«158 Nicht die Struktur des plots fesselt sie, [...] sondern das Blattwerk der Signfi kanz; wie bei jenem Spiel, wo immer die unterste Hand auf die oberste gelegt wird, geht die Erregung nicht von der Geschwindigkeit des Vorgangs aus, sondern von einer Art vertikalem Charivari (die Vertikalität der Sprache und ihrer Zerstörung); in dem Moment, wo jede (verschiedene Hand) über die andere springt (und nicht eine nach der anderen) entsteht das Loch und reißt das Subjekt des Spiels mit sich fort – das Subjekt des Textes.159
Die wollüstige Lektüre stürzt sich in den Sog der paradigmatischen (metaphorischen) Textstruktur. Sie verliert sich in der dort entstehenden Arbitrarität, wenn Signifikanten immer nur auf Signifikanten verweisen und die Signifikation suspendieren. Barthes konstatiert: »Das Brio des Textes (ohne daß es im Grunde keinen Text gibt) wäre also sein Wille zur Wollust.«160 Der schriftliche Text, der seine sprachliche Verfasstheit selbst reflektiert, ist in diesem Fall der Täter, der Leser sein
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Peter Fuchs beschreibt dieses Verhältnis von Liebe und Sexualität wie folgt: »Sexualität ist, so wollen wir folgern, indem wir uns Luhmann anschließen, der symbiotische Mechanismus des Intimsystems, also so etwas wie die mitlaufende Referenz auf die Körperbasis, deren heftige Aktualisierung den Krisenfall anzeigt, den Krisenfall und gerade nicht die Normalität.« Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 46. Aus Sicht der Dekonstruktion ist der Krisen- der (fröhlich bejahte) Normalfall. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 19. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 19. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 19f. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 21.
Opfer. Diese Struktur, die den Leser zum Opfer der über ihn kommenden Leidenschaft degradiert, bestätigt Barthes im Zuge seiner theoretischen Überlegungen zur Fotografie. In ›Die helle Kammer‹ betont er, dass nicht das Bewusstsein des Rezipienten souverän ist. Vielmehr schießt das einzelne Element aus der Textur des Bildes »wie ein Pfeil aus dem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.« Punctum ist die Kategorie, mit der Barthes »diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal« umschreibt.161 Und er weist darauf hin, dass das punctum sowohl auf »den Wurf des Würfels« verweist, »den Zufall, der mich besticht,« als auch auf den kleinen Stich, den Amor mit seinem Liebespfeil hinterlässt.162 Der Seitenblick auf das punctum führt vor, dass es Amor selbst ist, der als Textstruktur die Wunde der Wollust zufügt. Zu diesem Entwurf der Wollust gehört auch, dass die einmal zugefügte Wunde nicht mehr verheilt, sondern immer wieder aufs Neue aufgerissen wird. Der Text der Wollust befriedigt im Gegensatz zum Text der Lust die im Leser geweckten Erwartungen nicht.163 Er verweigert sich des Kreisschlusses und löst den Mangel des Lesers nicht in Harmonie auf. Vielmehr betont er die krisenhafte Praxis der Lektüre und zerreißt den Prozess der Signifikation. Der Text der Wollust legt es darauf an, dass der Rezipient vor Lust vergeht.164 Diese Strategie löst sich aber nur ein, wenn der Text (im Sinne der hermeneutischen Liebesmuster) zugleich immer wieder den Impuls erhält, Bedeutung zu konstituieren. Sonst vergeht nicht der Leser vor Lust, sondern dem Leser vergeht die Lust. Begehren Als weitere Spielart semiologischer Liebe lässt sich mit der Hilfe von Lacans Terminologie die entgrenzte Abdrift der Semiose identifizieren. Ausgehend von Lacans psychoanalytischen Studien kann man diese als eine unüberwindbare Struktur des 161 162
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Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 35, 53 u. 105. Roland Barthes, Die helle Kammer, S. 36. Barthes Kategorie des punctum, die er gegen das studium abgrenzt, entspricht (meiner Meinung nach) Stephens Greenblatts Begriffspaar Resonanz und Staunen. Wie Barthes so schreibt auch Greenblatt dem ausgestellten Kunstwerk die Macht zu, »den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen [...], eine Ergriffenheit in ihm zu provozieren.« Als zentrale Metapher, um dieses Staunen zu beschreiben, nennt Greenblatt das »Herz«. Vgl. Stephen Greenblatt, Resonanz und Staunen. In: Ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt am Main 1995, S. 7–29, hier S. 16. Über den Brückenschlag von punctum zu Staunen lassen sich die vorliegenden Überlegungen also an das kulturwissenschaftliche Paradigma anbinden. Wenn man Lust und Wollust im Feld der Ästhetik betrachtet, weiden sich beide an der vergänglichen Schönheit, am Bruch der Harmonie. Im Fall der Lust wird diese allerdings nur gefährdet, um nachträglich wieder rehabilitiert zu werden. Im Fall der Wollust wird diese Rehabilitation verweigert. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 18f. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 22.
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Mangels interpretieren. Diese Interpretation erklärt sich vor dem Hintergrund des – schon von Freud beschriebenen – Verhältnisses zwischen Bedürfnis und Wunsch: Für Freud ist die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Bedürfniserregung her der kürzeste Weg zur Wunscherfüllung [...]. Die erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist.165
Entscheidendes Movens bei diesem Vorgang ist der Drang, das Befriedigungserlebnis wieder herzustellen. Das geschieht nach Lacan im »Realen«, welches nicht der Realität entspricht, sondern »die Erfahrung des Seins in seiner primären Undifferenziertheit und Positivität« markiert:166 »Das Reale ist absolut ohne Riß.«167 Es ist der Prototyp menschlicher Wunscherfüllung. In ihm fallen Innen und Außen, Phantasie und Realität, Ich und Anderer zusammen. Omnipotentes Erleben und Lustprinzip sind hier in ihrer reinsten Form verkörpert.168 Aus Sicht der vorliegenden semiologischen Studie besteht der Clou von Lacans psychoanalytischem Konzept darin, dass die von ihm behauptete Strukturanalogie von Text und Unterbewusstem erlaubt,169 das Modell des Realen mit dem strukturalistisch-hermeneutischen Textmodell gleichzusetzen. Solange das strukturalistische Gewebe sowohl metonymisch als auch metaphorisch lückenlos geknüpft ist, erfüllt es alle Leserwünsche. Es genügt mit seiner durchgehenden Funktionalität dem strukturalistischen Lustprinzip. Die Lust an dieser Ordnung korreliert offensichtlich mit Barthes’ Lustbegriff, und sie verspricht das hermeneutische Ideal gegenseitigen Totalverstehens. Allerdings ist der »reale« Text aus Lacans Sicht grundsätzlich nicht erfahrbar. In diesem Sinne nimmt Lacan die poststrukturalistische Theorie voraus.170 Am eindrücklichsten lässt sich dies an Lacans Verständnis der Metapher darstellen. Hat die Metapher nach strukturalistischer Auffassung stets den Sinneffekt, die Identifikation garantiert, streicht Lacan ihr Totalitätsversprechen gezielt aus. Für ihn bleibt bei jeder paradigmatischen Ersetzung das Verdrängte im Sinne einer abwesenden Anwesenheit latent.171 Um dies zu verdeutlichen,
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Sigmund Freud, Die Traumdeutung. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. II/III, hg. von A. Freud u. a., London u. Frankfurt am Main 1940 ff, S. 571ff. Jacques Lacan, Seminar XI, S. 51. Ders., Seminar II, S. 128. Gerda Pagel, Jacques Lacan zur Einführung, Hamburg 1989, S. 57. Lacans zentrale These lautet: »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache.« Gerda Pagel, Jacques Lacan zur Einführung, Hamburg 1989, S. 47. Nach Lacans semiologischer Psychologie ist der Bruch mit dem Eintritt des Imaginären im Spiegelstadium des Kindes unhintergehbar. Seither ist der Mensch an die Struktur der Sprache gebunden, um seine narzisstische Kränkung zu kompensieren. Die Sprache aber bietet keine Rückkehr zum Ursprung, sondern sie setzt ein unendliches Begehren in Gang. So spricht Lacan nicht von einer metaphorischen »Ersetzung«, sondern er geht davon aus,
greift Lacan auf Peirces Zeichenbegriff zurück und hält fest, dass der Signifikant zwar auf ein Signifkat verweist. Dieses aber operiert als latenter Signifikant – Peirce würde vom Interpretanten sprechen – weiter, und zwar sowohl im Bereich der Signifikate als auch im Bereich der Signifikanten. Auf diese Weise setzt sich jener Prozess unbegrenzter Semiose in Gang. Das bedeutet, dass der Metapher immer schon eine metonymische Struktur eingeschrieben ist.172 Sie geht über in eine metonymische Bewegung der Signifikantenverkettung, deren Ende wiederum immer der Anfang einer neuen Verkettung darstellt. Die endlose Verkettung der Signifikanten führt zu einem unendlichen Aufschub des Identitäts- und Totalitätsbedürfnisses. Die Wunscherfüllung, die Erfahrung des (in Lacans Sinne) »Realen«, bleibt unerreichbar. Diese Figur der différance hindert das Subjekt daran, seine Bedürfnisse jemals befriedigen zu können. Der Leser gerät auf diese Weise in einen unstillbaren Sog der Verweisungen, indem seine Lust immer neu entfacht, aber nie erfüllt werden kann.173 Mit Lacan bezeichne ich diese entgrenzte Dynamik, diese »unstillbare Lust der Abdrift«174
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dass ein Signifikant den anderen »verdrängt, versteckt, verstellt«. Diese Begriffe weisen bereits darauf hin, dass die Metapher ihrem Totalitätsanspruch nicht gerecht wird. Vgl. zu dieser Dekonstruktion der Metapher Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens. In: Anselm Haverkamp (Hg), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 175–215. Die Entgrenzung unterscheidet Lacans Begehren von Umberto Ecos »Lust an der Abdrift«, die letzterer im Zuge seiner »hermeneutischen Semiotik« erarbeitet. Wie Lacan so zeigt auch Eco, dass Texte Lust erzeugen, indem sie die von Peirce aufgezeigte Offenheit nutzen, die im Zeichenbegriff selbst angelegt ist: Der Leser kann je »nach Laune, nach vorheriger Kenntnis, nach den eigenen Idiosynkrasien [...] vom Ausgangspunkt Kentaur zur Einheit Atombombe oder Mickey Maus« gelangen. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, S. 126. Dabei erlebt er – so Eco – die absolute Lust der Abdrift. Außerhalb dieser gibt es nichts mehr, »weil die Lust der Abdrift völlig im Gleiten von einem Zeichen zum nächsten liegt und es keine Ziele gibt außerhalb der Lust an der labyrinthischen Reise durch die Zeichen und Dinge.« Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 429. Zu diesem Lustprinzip gehört nach Eco konstitutiv, dass die Abdrift durch den Interpretationsprozess sinnvoll begrenzt ist. Der Interpret ist aufgefordert, »plausible und ökonomische Sinn-Hypothesen zu erheben.« Der Leser hat im Zuge seiner Lektüre vor allem die Frage zu beantworten: »worum zum Teufel geht es?« Umberto Eco, Lector in fabula, S. 114. Die Lust der Abdrift, die man mit Eco in den Blick bekommt, ist stets verschränkt mit der Notwendigkeit »einer Hypothese über die Natur der Tiefen-intentio des Textes«. Eco bleibt mit seinem Entwurf einer semiotischen Lust der Abdrift ein romantischer Liebesidealist. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 39. Dieselbe Lust lässt sich übrigens auch mit Hilfe der Phänomenologie beschreiben: als »Lust der Assoziation«. Nach deren Erfahrungsablauf löst dort ein emotionaler Impuls die ästhetische Erfahrung aus, er bedingt den Übergang von Perception zur Imagination. Die Art des Impulses bestimmt die Ordnung der folgenden Gedankenflüsse. Ideenflüsse sind »gefühlsgetränkt«. Der Denkfluss bleibt über immer neue Impulse so lange aufrecht erhalten, bis der kohärente Ablauf affektgestättigt ist. Diesen Ablauf nennen die Phänomenologie »Erfahrung des Schönen, des Erhabenen«. Vgl. Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999, S. 81f. Und nicht zuletzt ist von dieser Lust auch der New Historicism betört, wie Moritz Baßlers Assoziationskette quer durch das enzyklopädi-
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mit seinem Begriff des Begehrens (désir).175 Für ihn wird beim Lesen »das Begehren dadurch permanent in Bewegung gehalten, daß sich das Begehrte ihm immer wieder entzieht.«176 Das Begehren umfasst zwei unterschiedliche Komponenten: zum einen das Ordnungsbegehren, das aber sein Ziel nie erreicht und deshalb mit einer Erfahrung von Mangel und Verlust besetzt ist. Zum anderen die »absolute Lust der Abdrift«, die erzeugt wird, wenn man durch das Universum der Zeichen surft. Zudem fallen im Textbegehren 177 zwei Bedeutungskomponenten zusammen.178 In der Form des Genitivus subjectivus bezeichnet der Terminus die syntagmatisch entgrenzte, spielerisch-lustvolle Bewegung des Textes selbst. In der Form des Genitivus objectivus verweist er auf das Begehren des Lesers. Schließlich erfährt auch dieser einen Mangel. Denn im Rezipienten wird ebenfalls das Begehren geweckt – der Wunsch, Bedeutung zu konstituieren, der zugleich ausgestrichen und als unerreichbar markiert wird.179 In diesem doppelten Sinne ernennt der Poststrukturalismus das Begehren zur Konstante.180 De-konstruktivistische Liebe Da Liebe per se ein komplexes Konzept ist, das sich aus verschiedenen, widerstreitenden Emotionen zusammensetzt,181 kann man zuletzt die dekonstruktivistische
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sche Wörterbuch zeigt, die er vom Lustobjekt »Banane« aus unternimmt. Vgl. Moritz Baßler, Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: Ders. (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 1995, S. 12 u. 21. In Konsequenz dieser Entgrenzung lässt sich an Batailles Theorie der Verausgabung anschließen, die den Höhe- oder Endpunkt entgrenzter Semiose als orgastische Struktur darstellt. Jacques Lacan, Schriften II, Olten und Freiburg 1975, S. 167ff. Vgl. auch Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 164. Ich werde diesen Terminus auch im Zuge der Arnimlektüre verwenden, obwohl dieser Anachronismus Foucaults These widerspricht, dass das »Sexuelle« als Dispositiv der Macht erst um 1900 auftritt. Dieses Textbegehren stimmt mit dem der Queer Studies überein: Sie rechnet mit der Möglichkeit eines Textbegehrens, das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, der Erzählers und der Figuren artikuliert. Dieses Textbegehren kann den heteronormativen Zeichenökonomien zuwiderlaufen. Vgl. Andreas Kraß, Queer Studies – eine Einführung. In: Ders. (Hg.), Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt am Main 2003, S. 7–30, S. 22. Dazu Nicola Kaminski, Einleitung, S. 17. Helga Gallas hat diesen von literarischen Texten gezielt provozierten Effekt anhand von Kleists Michael Kohlhaas herausgearbeitet und den literaturtheoretischen Begriff damit textanalytisch operationalisiert. Helga Gallas, Das Textbegehren des »Michael Kohlhaas«. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Frankfurt am Main, 1981. Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 112.
Doppelbewegung als die umfassendste Spielart semiologischer (und postmoderner soziologischer) Liebe identifizieren. Diese Liebesform umfasst wie eine Klammer alle bisher aufgezeigten Spielarten. Sie schließt alle Liebesformen ein. Im literaturtheoretischen Paradigma hat Julia Kristeva dieses Zusammenspiel als ein Liebesspiel erkannt. Sie verwebt in ihrer Studie ›Geschichten der Liebe‹ die einzelnen bis hierhin gesponnenen Fäden der strukturalistisch-hermeneutischen Theorie einerseits, der poststrukturalistischen Konzeption andererseits zu einem einzigen Liebesmuster. Ihre Arbeit legt es gezielt darauf an, den Blick der poststrukturalistischen Liebesforschung zu weiten, indem sie die Theorien der Wollust, des Begehrens und der Ereignishaftigkeit von Liebe mit den strukturalistisch-hermeneutischen Entwürfen vermittelt. Kristeva erkennt in diesen widerstreitenden Liebesbegriffen die zwei Bestandteile der einen, dekonstruktivistischen Doppelbewegung. Deshalb setzt ihre Studie gegen den Abgesang der Liebe durch Begehren und Wollust demonstrativ mit einem ›Lob der Liebe‹ ein. Und daher verfolgt sie in ihren Textlektüren konsequent eine Doppelstrategie: Sie denkt die destruktive Seite der Dekonstruktion, verliert aber an keiner Stelle deren konstruktive Kehrseite aus dem Blick und betont somit die Gleichzeitigkeit von Sinnentzug und -konstitution. In Kristevas Konzept steht keine der beiden hinter der jeweils anderen zurück. Im Hinblick auf die semiologische Liebe bedeutet das: Erfüllt sich nach hermeneutischem Muster die Liebe in der (totalen) Kommunikabilität, erkennt die dekonstruktivistische Theorie nur die Lust der Inkommunikabilität, so identifiziert Kristeva die Liebe in der Doppelstruktur der In-Kommunikabilität.182 In dieser zweifachen, widerstreitenden Bewegung identifiziert sie das Liebes- als ein Textphänomen. Mit den ersten Sätzen ihrer Arbeit schon zeigt sie, dass sich Liebe ihrer Meinung nach als Literatur manifestiert: »Die unmögliche, unangemessene, unmittelbar anspielende und sich jeder gewollten Direktheit entziehende Sprache der Liebe setzt Metaphern frei: Sie ist Literatur.«183 Die Metapher garantiert nach Kristeva aber keineswegs Totalität, sondern nur eine Verdichtung von Sinn, die bis zur Leere des Nicht-Sinns übersteigert wird: Denn jede Metapher ist eine Verschmelzung (Identifizierung) des Figurativen mit der Figur und gleichzeitig eine ›Erhebung‹ [...] des Sinns, der über verschmolzene Bedeutungen zur Unendlichkeit der Konnotation und zur Leere des Nicht-Sinns erhoben wird.184
Im Zuge der Erhebung eröffnet sich der Raum, für die Abdrift der Semiose in das Universum der Zeichen. Damit wird die paradigmatische, identitätsstiftende Struktur der Metapher aus Kristevas Sicht ausdrücklich immer schon von einer 182
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Für das Lesen als eine spezifische Kommunikation per Liebescode bedeutet dies, dass der Ausgangspunkt gegenseitiger Verständigung – egal mit welchen Code – grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Kommunikation selbst wird angezweifelt, und ihre Möglichkeit Unwahrscheinlichkeitsschwellen vollständig abzubauen. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe. Aus dem Französischen von Dieter Hornig und Wolfram Bayer, Frankfurt am Main 1989, S. 9. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 316.
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metonymischen Bewegung durchkreuzt, die »endlos von einem Text zum anderen zur Unendlichkeit des Sinns und der Lesarten führen kann.«185 Ihr Totalitätsversprechen stellt sich als nur imaginäres dar, weil ihr eine »interne Destabilisierung in Richtung auf ein »Begehren-Rauschen« eingeschrieben ist.186 Wie konsequent Kristeva die aporetische Liebes- als Textstruktur denkt, zeigt sich auch darin, dass die Liebe ihrer Meinung nach das Subjekt gefährdet, dass sie als Ereignis, als Nicht-Präsenz zu verstehen, und immer nur nachträglich zu beschreiben ist, von der »Wunde« aus, die sie hinterlässt:187 »Taumel der Identität, Taumel der Wörter: für das Individuum ist die Liebe jene plötzliche Umwälzung, jener irreparable Kataklysmus, von dem man nur nachträglich spricht.«188 Dem gegenüber steht aber die Tendenz der (dekonstruierten) Liebe und Metapher zur »Identifizierung«, zur Totalität, zur »Erhebung«, die ihr ebenfalls immanent ist. Die Figur der »Erhebung« ruft gezielt das hermeneutische Verschmelzungsideal auf. Kristeva zeigt, wie die Schönheit der Sprache dieses Ideal kurzzeitig einholt und es nur in letzter Konsequenz nicht einlösen kann. Liebe zeichnet sich nach Kristeva also durch eine »permanente Stabilisierung-Destabilisierung« aus, durch eine verwirrende »Liebesdynamik«, ein Hin- und Her zwischen Liebesglück (Sinnkonstitution) und Schmerz (Sinnentzug):189 Allerdings ist die leidenschaftliche Liebe alles andere als Eintracht, wie sie auch weniger dem ruhigen Schlummer der in sich versöhnten Zivilisation entspricht als vielmehr ihrem Wahn, ihrer Entzweiung, ihrem Zerbrechen. Eine gefährliche Gratwanderung, bei der Tod und Regenerierung um die Vorherrschaft ringen.190
Kristeva hält fest, »daß die Liebe ein Schmelztiegel aus Widersprüchen und Doppeldeutigkeiten ist, Unendlichkeit und Untergang des Sinns zugleich.«191 Indem Kristeva diese aporetische Struktur als Liebe identifiziert, schließt sie zugleich – wie ihre Vorgänger – an das romantische Liebesmodell an. Aus Kristevas Perspektive zeigt sich, dass romantische Liebe mit ihrer Setzung von Totalität gezielt eine aporetische Konzeption entworfen hat.192 Romantische Liebe weiß darum, dass das to-
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Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 318. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 23. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 10. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 11. Zur paradoxialen Zeitlichkeit der Liebe vgl. auch: »Die Begegnung, die Lust und Verheißung oder Hoffnung vermengt, bleibt dann in der gleichsam vollendeten Zukunft. Sie ist die Nicht-Zeit der Liebe, die mich als Augenblick und Ewigkeit, Vergangenheit und Zukunft, abreagierte Gegenwart ausfüllt, aufhebt und dennoch unerfüllt läßt [...]. Auf morgen, auf immer, ewig wie nie zuvor, so wie es gewesen ist, wie es gewesen sein wird, dein [...] Permanenz des Wunsches oder der Enttäuschung?« Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 14. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 24. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 12f. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, S. 10. Zu dieser aporetischen Liebeskonzeption vgl. Marcus Steinweg, Aporien der Liebe, Berlin 2010.
tale gegenseitige Verständnis zwischen Liebenden unmöglich ist. Und dennoch hält sie dieses Ideal hoch, als Teil einer Doppelbewegung, die zugleich das Wissen einschließt, an diesem Ideal zu scheitern und dieses nunmehr reflektiert. In dieser aporetischen Figur erkennt Kristeva das Charakteristikum romantischer Liebe.193 Für Kristeva ist Liebe also Versprechen geistigen Einverständnisses, Totalität und Lust sowie Wollust und Begehren zugleich. Für sie umfasst Liebe beides, ein paradoxes Wechselspiel von geistigem Ideal und Sexualität. In dieser Verschränkung einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit entpuppt sich zuletzt die Textualität des Textes als eine Figur der Liebe. Dem Text ist dieselbe aporetische Struktur eigen wie der Liebe. Im Sinne der dekonstruktivistischen Doppelbewegung lässt sich semiologische Liebe daher im Zusammenspiel von Wollust und Begehren sowie von immer nur versprochenem Vereinigungsideal und Lust im und am Text operationalisieren. Obwohl ich oben bereits einmal kurz die subjektgefährdende Wirkung von Kristevas Liebeskonzept hervorgehoben habe, bleibt noch die Frage offen, was für eine Leserfigur dieses semiologische Liebesspiel konstruiert. Wie sieht der Liebhaber dieses Textes aus, wie fühlt er sich, wenn er mit dieser Liebesform konfrontiert wird? Diese Frage treibt bereits Paul de Man am Ende seines Aufsatzes zur ›Semiologie und Rhetorik‹ um. Nachdem er so sicher wie ein Seiltänzer in der Zirkuskuppel allen nur denkbaren Facetten und Wendungen des dekonstruktivistischen Doppelspiels nachgegangen ist und alle nur vorstellbaren Analysevarianten durchdacht hat, fragt er sich – geradezu neoplatonisch – nach der »Gefühlsreaktion auf die Unmöglichkeit zu wissen.« Der Wunsch, den anderen (in diesem Fall den Text) vollständig zu verstehen, erfordert eine ebenso rationale wie emotionale Anstrengung. Die emotionale Seite aber übersteigt die in der Aufklärung etablierte Affektstufe des kühl und rational abwägenden ethos. Vielmehr schwankt das vom Text provozierte Gefühl zwischen den Extremen, es ist daher zugleich in der Affektstufe des pathos zu verorten, welches die Romantik emphatisch gepflegt hat: Das aus dem Drama semiologischer Liebe »resultierende Pathos ist Angst (oder Wonne, je nach der momentanen Stimmung oder dem individuellen Temperament) vor Unwissenheit.«194 Das Pathos aus Angst und Wonne ist im Rekurs auf den romantischen Emotionscode einerseits und seiner Kreuzung mit dem Verständigungsideal andererseits als »Liebe« zu bezeichnen. 2.1.4 Mit der und wider die Dekonstruktion Obwohl der Poststrukturalismus das vielversprechendste Theorem ist, um einen semiologischen Liebesbegriff systematisch zu entwerfen, setzt sich eine literatur193 194
Vgl. zu dem Wissen der romantischen Liebe um die uneinholbare Totalität Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft?, S. 303. Paul de Man, Semiologie und Rhetorik. In: Ders., Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt am Main, 1988, S. 31–51, hier S. 50.
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wissenschaftliche Studie doch einer Gefahr aus, wenn sie sich Derridas Dekonstruktion kritiklos anschließt. Richard Rorty nennt diese Gefahr beim Namen. Aus seiner Sicht verführt Derridas philosophische Perspektive mit ihrem »ultratranszendentalen«195 Anspruch dazu, seine dekonstruktivistische Tätigkeit als einen Generalschlüssel zu betrachten, [...] mit dessen Hilfe sich das Geheimnis wirklich aller Texte lüften lässt. In ihrer Extremform verleitet diese Auffassung die Literaturwissenschaftler dazu, jeden Text so anzugehen, als ›handle‹ er von den immer gleichen alten Gegensätzen: Zeit und Raum, Sinnliches und Intelligibles, Subjekt und Objekt, Sein und Werden, Identität und Verschiedenheit und so fort.196
Abgesehen davon, dass Rorty der Literaturwissenschaft im Anschluss an seine Derridakritik gleich selbst mit einem alternativen philosophischen Generalschlüssel zur Hilfe eilt,197 teile ich seine Skepsis. Die literaturwissenschaftliche Analyse darf sich nicht darin erübrigen, in jedem Text aporetische Strukturen aufzudecken und damit nur Derridas »dekonstruktivistische Wahrheit« zu bestätigen. Eine poststrukturalistische Literaturwissenschaft würde so nur in einer self-fulfilling-prophecy ihre eigenen theoretischen Vorgaben im Text wiederholen. Die vorliegende Arbeit schließt daher zwar (im oben ausgeführten Sinne) an Derridas Dekonstruktion an,198 sie wendet sich zugleich aber auch gegen sie. In Frage stelle ich, dass die dekonstruktivistische »Logik des Sinns« als transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeder Sprachverwendung und Diskursform verwendet werden kann. Christoph Menke-Eggers hat darauf hingewiesen, dass sich die Dramen der Dekonstruktion beispielsweise im Ordnungsrahmen alltäglicher Kommunikation keineswegs abspielen.199 Und Paul de Man führt gegen Derridas universalen Anspruch ins Feld, dass dieser seinen Befund der »selbstsubversiven Logik allen Sinns« überwiegend aus literarischen Texten der Avantgarde entwickelt. De Man gesteht Derrida zu, dass diese Texte zweifelsohne seine dekonstruktivistische Sichtweise bestätigen. Doch zugleich zeigt er, dass nicht Derrida (von außen) die Texte dekonstruiert, sondern dass den literarischen Texten die dekonstruktivistische Doppelbewegung 195 196 197
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Christoph Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹« S. 354. Richard Rorty, Dekonstruieren und Ausweichen. In: Ders. Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart 1993, S. 104–146, hier S. 143. Rorty empfiehlt, die metaphysischen Gegensätze auf die leichte Schulter zu nehmen, sie zu dethematisieren und nichts weiter in ihnen zu sehen als ein paar zusätzliche Bilder. Richard Rorty, Dekonstruieren und Ausweichen, S. 143. Ich stimme den poststrukturalistischen Liebestheorien zu, wenn sie die Liebe nicht nur an die Inkomunikabiltät koppeln, sondern zudem davon ausgehen, dass diese Risse in der Textordnung nicht mehr zu kitten sind. Mit der Dekonstruktion betone ich (im Anschluss an vor allem Kristeva) zudem, dass die destruktive Bewegung, dialektisch verschränkt ist mit immer neuen Sinnangeboten. Die dekonstruktivistischen Dramen schließen damit immer auch hermeneutische Sinnangebote ein. Literarische Texte versprechen Sinn, können dieses Versprechen aber nicht endgültig einlösen. Christoph Menke-Eggers, Deconstruction and Criticism, S. 353.
selbst eigen ist.200 De Man kommt daher zu dem Schluss: »Die Dekonstruktion ist nichts, war wir dem Text hinzugefügt hätten, sondern sie ist es, die den Text allererst konstituiert.«201 Statt allgemein, ist die Dekonstruktion also nur im speziellen Fall literarischer Texte gültig. Deshalb gehe ich – mit de Man gegen und mit Derrida argumentierend – davon aus, dass literarische Texte nicht einfach nur als exemplarische Belege von différance und Dissemination zu lesen sind. Für sie gilt vielmehr allgemein, was Menninghaus am Beispiel frühromantischer Unsinnspoesie herausgearbeitet und mit seinem wunderbar paradoxen Begriff »vorsätzlicher Dissemination« festgehalten hat: »Wenn man so will, betreibt die Literatur des Unsinns insofern, was im Sinne der Dekonstruktion gleichermaßen unmöglich und unnötig ist: nämlich eine vorsätzliche Dissemination.«202 Menninghaus’ Terminus schließt ein, dass literarische Texte das dekonstruktivistische Doppelspiel von Sinnkonstitution und -entzug wie ein Drama in Szene setzen können.203 Meine These lautet daher: Jeder Text kann semiologische Liebe inszenieren. Als solche operationalisieren kann man sie aber nur, wenn ein Text – wie Arnims Roman – Liebe zugleich auch auf seiner Figurenebene darstellt.204 Die semiologische Liebe muss also immer in einem Funktionszusammenhang mit der thematisierten Liebe stehen. Thematisiert umgekehrt ein Text Liebe, liegt es nahe, dass er die Grundbedingungen der Lektüre, die grundsätzlich jedem Text eigen sind, als Spielarten semiologischer Liebe kalkuliert einsetzt.205
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De Man bezeichnet dies als den blinden Fleck von Derridas Randgängen an der Literatur. Nach de Mans Auffassung vermitteln die literarischen Texte Derrida zwar, er würde sich am Rande der Signifi kation bewegen. Doch die Texte bewegen sich selbst dort. Deshalb bekomme, so de Man, Derrida den Charakter der Texte nicht in den Blick. Weil es diesem darum gehe, die Metaphysik der Präsenz an jedem Ort herauszufordern, neige er dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Seine Lektüren tragen stets exemplarischen Charakter, um die ultratranszendentalen Aussage der Dekonstruktion zu bestätigen. Das bedeutet, Derrida überblendet mit seiner Perspektive auf die Logik des Sinns im Allgemeinen die je spezifische dekonstruktivistische Spielart des einzelnen literarischen Textes. Dieses Argument führt auch Umberto Eco im Zuge seiner Derridakritik an: Derrida verfolge konsequent das Ziel, »eine mehr philosophische als literaturwissenschaftliche Praxis zu instaurieren.« Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 430. Paul de Man, Semiologie und Rhetorik, S. 48. Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 17f. Menninghaus’ Metaphorik weist übrigens darauf hin, dass diese dekonstruktivistische Theorie ihrerseits ein Liebesspiel inszeniert. »Und sie ›subvertiert‹ dabei nicht den Logos überhaupt, sondern hat stets einen historisch spezifischen Gegner im Visier, dessen Imperativen sie in Haßliebe verbunden bleibt.« Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 18 [meine Hervorhebung, C. M.]. Auch Roland Barthes geht davon aus, dass sich eine ganze Reihe literarischer Arbeiten mit einer »behaglichen Praxis der Lektüre« voll und ganz zufrieden geben. Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 22 u. 30. Zur Begründung, warum in diesem Fall auch Aussageinstanzen, die traditionell zur Präsentationsseite zählen, Teil der thematisierten Liebe sind, vgl. S. 23 dieser Studie. Liegt dieser funktionale Zusammenhang nicht vor, handelt es sich nicht um semiolo-
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Mit diesem Gestaltungspotential, kann jeder einzelne Liebestext und somit auch jeder Liebesroman die Spielfläche, die das ihm eingeschriebene dekonstruktivistische Doppelspiel ihm eröffnet, auf jeweils seine Weise nutzen.206 Jeder Liebestext entwirft, indem er sein eigenes Drama der Dekonstruktion aufführt, seine eigene, spezifische semiologische Liebe. Diese konstituiert sich aus dem individuellen, vorsätzlichen Zusammenspiel unterschiedlicher semiologischer Liebesspielarten. Das individuelle Gesicht der semiologischen Liebe hängt davon ab, auf welches Verhältnis zwischen den beiden Seiten der Doppelbewegung ein Text setzt. Offeriert er seinem Leser das Ideal harmonischer Liebeslust, oder spinnt er ihn offen in ein Spiel der Wollust und des Begehrens ein? Um sich eine eigene semiologische Kontur zu verleihen, entwickeln die einzelnen Liebestexte verschiedene (Mischformen) der aufgezeigten Liebesverfahren.207 Zur Disposition steht demnach die Frage, auf welche Weise der einzelne literarische Text das Drama semiologischer Liebe in Szene setzt. Diese Frage gilt es, paradigmatisch anhand der Analyse von Arnims Roman zu beantworten.208 Seine individuelle Inszenierungsform will die vorliegende Arbeit mit Hilfe der zuvor entwickelten Kategorien semiologischer Liebe herausarbeiten. 2.2. Narratologische Liebe Um die narrative Inszenierung der Liebe in den Blick zu bekommen, wende ich mich an dieser Stelle vom Feld der Literaturtheorie und Semiologie ab und der Narratologie sowie der Rhetorik zu. Die beiden stellen das nötige Beschreibungsvokabular zur Verfügung, um analysieren zu können, wie Liebe im Erzähltext präsentiert und thematisiert wird. Allerdings muss man angesichts des in den vorherigen Kapiteln entwickelten Textmodells grundlegend einräumen, dass die strukturalistischen Termini, mit denen die Narratologie Textstrukturen beschreibt, mit einer Einschränkung zu verwenden sind. Mit ihnen lässt sich nur die eine Seite der Liebesinszenierung kategorisieren. Die Narratologie bekommt in den Blick, wie wel-
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gische Liebe, sondern entweder um die unvermeidliche Dissemination oder um eine vorsätzliche Dissemination, die aber in einen anderen Funktionszusammenhang eingebettet ist. Texte können also auch vorsätzliche Dissemination betreiben, die nichts mit Liebe zu tun hat. Er kann beispielsweise vermehrt auf die Strukturen des Begehrens und der Wollust setzen oder es umgekehrt darauf anlegen, diese zu minimieren oder zumindest zu verdecken. Nur Ausschalten wird er sie nicht können. Die Liebesromane schlagen – das hat Luhmann selbst entnervt festgestellt – ganz unterschiedliche Erzählwege ein, um sich am doch immer gleichen Problem der Liebe abzuarbeiten. In Konsequenz meiner These gehe ich davon aus, dass sich die semiologischen Liebesentwürfe nicht nur von Text zu Text verändern, sondern auch einer zeitlichen Entwicklung unterliegen. Es wäre äußerst interessant, sprengt aber den Rahmen der vorliegenden Analyse, die semiologische Liebe in einer diachronen Studie zu beleuchten.
che Liebeskommunikation und -geschichten konstruiert sind. Was sie strukturell erfasst, zielt also letztlich auf das strukturalistisch-hermeneutische Ordnungs- und Liebesideal ab. Dennoch muss man auch aus narratologischer Perspektive davon ausgehen, dass Texte generell eine »immanente Tendenz zur Dekonstruktion«209 aufweisen. Konstruktion und Destruktion bleiben dialektisch ineinander verschränkt.210 Dies verdeutlicht der Narratologe O’Neill, indem er auf das beliebte Bild der zwei Medaillenseiten rekurriert: »Ultimately, structuralist reconstruction and post-structuralist deconstruction, apparently irreconciabley, are only two sides of the same coin.«211 Man kann also nur dann mit den Begriffen der Narratologie arbeiten, wenn man auch die rückseitige Prägung der Medaille in seine Überlegun-
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Sandra Heinen, Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen), S. 249. Heinen bezeichnet mit dem Terminus Dekonstruktion (wie so viele) die destruktive Seite der dekonstruktivistischen Doppelbewegung, die des Sinnentzugs. In dieser Weise ist dieser Begriff an dieser Stelle zu verstehen. Allerdings wäre es der dekonstruktivistischen Theorie gegenüber angemessener, mit diesem Terminus stets die dialektisch ineinander verschränkte Doppelbewegung zu bezeichnen. In dieser Weise verwendet die vorliegende Studie den Begriff. Aus dekonstruktivistischer Perspektive zeigt Derridas Lektürepraxis der »Randgänge«, dass man sich zwar gegen die strukturalistischen Paradigmen und die damit – so Derridas Verdacht – inhärente Metaphysik der Präsenz wenden kann. Aber Derrida gesteht auch ein, dass es das ganz andere Vokabular nicht geben kann: »es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.« Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 425. An der Sprache der Metaphysik und ihren Grenzen führt kein Weg vorbei. Derridas Meinung nach ist jede noch so kritische Äußerung von dieser Denkstruktur infi ltriert. Ausdrücklich führt Derrida diesen Vorbehalt auch gegen die Kategorien der Textanalyse in das Feld. In ›Die zweifache Seance‹ fragt er: »Wie nur sollen die Kategorien der klassischen Rhetorik mit diesen Verschiebungen klar kommen.« Jacques Derrida, Die zweifache Seance, S. 297. Ausgehend von Derridas Zweifel, wie die Kategorien der klassischen Rhetorik mit den dekonstruktivistischen Verschiebungen zurecht kommen sollen, hat sich in den letzten Jahren – vor allem in der englischsprachigen Literaturwissenschaft – ein Vorbehalt gegen die narratologischen Begriffe breit gemacht. Doch entgegen den postmodernen Erzähltheorien, die einen radikalen Bruch mit der strukturalistischen Tradition fordern sowie gänzlich neue Kategorien erfinden und verwenden wollen, halte ich an dem strukturalistischen Begriffsapparat fest. Ich berufe mich damit auf Derridas Aussage, dass es sie eben nicht gibt – die ganz andere Sprache. Ein radikaler Verfechter poststrukturalistischer Theorien in der Narratologie, der einen ganz neuen Begriffsapparat einführen will, ist Andrew Gibson. Vgl. Andrew Gibson, Towards a Postmodern Theory of Narrative, Edinburgh 1996. Vgl. dazu auch: Sandra Heinen, »Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen), S. 243ff. Patrick O’Neill, Fictions of Discourse. O’Neill versucht, die poststrukturalistische Theorie mit dem Strukturalismus zu vermitteln, indem er die (ehemals) externe Kommunikationsebene zwischen (ehemals) externem Autor und (ehemals) externen Leser als äußerste Ebene textueller Kommunikation erkennt.
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gen einbezieht. Man muss also stets das Paradoxon mitdenken, dass die narrative Liebe sich auch konstituiert, indem sie gezielt die Strukturen unterläuft, welche die Narratologie in den Blick bekommt. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Narrative Liebe entsteht nicht nur, wenn eine liebende Erzählinstanz installiert wird, sondern sie kann den imaginären Leser darüber hinaus auch dadurch in ein Liebesszenario einspinnen, dass die Vorstellung einer solchen Instanz kalkuliert unterlaufen wird. Erst unter dieser Voraussetzung stellt sich die Frage, an welcher Stelle sich die narrative Liebe innerhalb des Textes verorten lässt. Wie bei der Untersuchung semiologischer Liebe gilt erneut, dass die Abfolge der Signifikanten – die Narratologie bezeichnet diese als den Text des Erzähldiskurses (Erzählung, récit) – das einzig konkrete ist, das beim Lesen zur Verfügung steht. Ist die Signifikantenfolge als unhintergehbare Setzung anzusehen, so ist die gesamte Einrichtung des Textes heuristisch als Manifestation einer zugleich im Diskurs verorteten und dem Diskurs als gleichsam transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit vorausliegende Textinstanz zu denken, die weder mit dem realen Autor noch mit der Erzählerfigur zu verwechseln ist. Die Narratologie bezeichnet diese Instanz als Impliziten Autor.212 Man kann von diesem Impliziten Autor immer schon annehmen, dass er den Text aus bestimmten Gründen so und nicht anders eingerichtet hat. Wie jede Ordnung, so folgt auch der Text des Erzähldiskurses ganz bestimmten Regeln und Prinzipien. Er folgt einem spezifischen, namentlich vom Impliziten Autor verantworteten Code. Es ist sinnvoll, davon auszugehen, dass es sich bei diesem Code im Fall eines Liebesromans um einen Liebescode handelt. Und das bedeutet, die gesamte narrative Organisation ist als Bestandteil eines spezifischen Liebescodes zu betrachten. Da sich unter diesen Prämissen die gesamte narrative Organisation eines Romans als Konkretation und Interpretation des material vorliegenden Textes erweist, umfasst der Liebescode aus narratologischer Perspektive daher erstens die Ebene des discours, den Text der Geschichte im Sinne der materialiter vorliegenden Zeichenfolge, und zweitens die histoire, das Signifikat, die erzählte Welt samt der dort entworfenen Handlung.213 Zu ihm gehören sowohl die Präsentationsstrategien, welche ein Roman einsetzt, um von Liebe zu sprechen, als auch die explizit thematisierte Liebe.214
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Vgl. zu diesem Terminus zuletzt äußerst knapp und einschlägig: Jörg Schönert, Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 289–294. Zur Differenzierung von histoire und discours vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 20ff. Zu dieser Differenzierung von Thematisierung und Präsentation vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 112f. Indem die vorliegende Systematik Simone Winkos Kategorien übernimmt, adaptiert sie allerdings nicht zugleich Winkos Erkenntnisinteresse. Die Untersuchung, die Winko hinsichtlich der kodierten Gefühle in der Lyrik des 19. Jahrhundert geleistet hat, wird spezifiziert, semiologisch erweitert und in eine andere literarische Gattung übertragen: Spezifiziert, weil sich die vorliegende Studie nicht wie
Analysiert man die narrative Liebe, ist die Reihen- und Rangfolge von erstens disours und zweitens histoire ernst zu nehmen. Denn die erzählte Liebesgeschichte ist keineswegs vor dem Erzähldiskurs präsent und liegt diesem auch nicht zugrunde.215 Sie wird vielmehr erst auf der Grundlage des Erzähldiskurses generiert, entsteht erst beim Lesen (der Signifikantenfolge) und ist damit eine Konstruktion aus dem Erzähldiskurs, die auf einer Interpretation beruht.216 Daher kann man über die Liebe, die auf der Ebene der histoire thematisiert wird, nur etwas aussagen, wenn man sie in ihrer Abhängigkeit vom discours betrachtet. Aufgrund dieser Hierarchisierung vermeidet die vorliegende Studie, sich wie die diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen des Phänomens »Liebe« ausschließlich auf die im Roman thematisierte Liebe zu konzentrieren und somit die dargestellte Liebe von der Art und Weise der Darstellung (künstlich) zu isolieren. Die vorliegende Analyse wendet sich zwar ebenfalls der histoire zu, aber stets im Wissen, dass das »Wie« des Erzählens erst die Liebe konstituiert, die erzählt wird.217 Dieses »Wie« lässt sich fassen, wenn man nach der narrativen Konstruktion, den Begrifflichkeiten und der Bildlichkeit fragt, die im Sprechen von Liebe herangezogen werden. Es schließt die Häufigkeit und die Sprachebene ein, auf der sich die einzelnen Aussageinstanzen über Liebe äußern. Dieser Darstellungsform der Liebe gelten die folgenden systematischen Überlegungen. Indem die vorliegende Untersuchung
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Winko im Plural Gefühlen widmet, sondern sich auf das Liebesgefühl konzentriert; Kritisch erweitert, weil Winko sich damit zufrieden gibt, die konstruktivistische Seite zu betrachten und jede semiologische Überlegung außen vor lässt; übertragen, weil die Methode, nachdem Winko sie für die Lyrikanalyse entwickelt hat, nun auch für die Erzähltextanalyse fruchtbar gemacht wird. Karlheinz Stierle geht von der umgekehrten Reihenfolge aus. Für ihn repräsentiert der Erzähldiskurs mit Hilfe der Sprache eine Geschichte. Vor der Geschichte und dem Text der Geschichte existiert – im wahrsten, präsenzmetaphysischen Sinne des Wortes – ein von ihm so genanntes Geschehen, auf dem die Geschichte nur basiert. Dieses Repräsentationsmodell widerspricht meiner Meinung nach dem strukturalistischen Primat der Textstruktur. Vgl. Karlheinz Stierle, Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel, Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 530–534. Hinter diese Prämisse fällt in einigen Passagen sogar Martinez’ und Scheffels Einführung in die Erzähltheorie zurück. Vor allem dann, wenn sie ihre Grundlagen mit Hilfe von Beispielen erläutert. So suggeriert beispielsweise die Aussage »jede Geschichte läßt sich auf verschiedene Weise erzählen«, dass die Geschichten dem Erzähltext – in diesem Fall Qeneaus ›Stilübungen‹ – voraus liegen. Die Narratologie müsste eigentlich argumentieren, dass die Ereignisfolge eine Konstruktion des Textes (und des Lesers) ist und nicht vorab präsent. Martinez u. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 27ff. Dieser Primat des discours hebt noch einmal hervor, wie stark die Regeln und Gesetze des poetischen Zeichensystems die Semantik und Grammatik der Liebe prägen, so dass man diese eben nicht unmittelbar als die historische Liebessemantik einer Zeit betrachten kann. Die Hierarchie von discours und histoire stellt somit eine der wesentlichen systematischen Differenzen dar, welche die vorliegende Studie von der bisherigen literaturwissenschaftlichen Liebesforschung unterscheidet (vgl. Kapitel 2.1 der Systematik).
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sich intensiv der Präsentation von Liebe widmet, erschließt sie (nach der semiologischen Liebe) einen weiteren Typ, wie Liebe in literarischen Erzähltexten sprachlich gestaltet wird. Dieser Typus erst bringt andere Informationen hervor und fördert andere historische Formationen zutage als es der kulturwissenschaftliche und diskursanalytische Blick auf die Thematisierung der Liebe bisher getan hat. Zu fragen ist demnach, auf welche Weise – mit welchen Mitteln, in welchen Traditionen, mit welchen Modifikationen im Vergleich zu anderen Texten und mit welchem Ziel – Liebe in einem Text präsentiert wird. Dazu ist im ersten Schritt zu klären, an welcher Stelle der histoire Liebe überhaupt präsentiert werden kann. Der zweite Teil der narratologischen Überlegungen widmet sich den Präsentationsformen und damit der Darstellung (dem discours) der Liebe. 2.2.1 Histoire Will man untersuchen, was für eine Liebe auf der Ebene der histoire präsentiert wird, muss diese Analyse drei Aspekte umfassen. Wesentlicher Bestandteil der erzählten Liebe ist erstens die Figurendarstellung. Zu beachten ist bei dieser wiederum das Zusammenspiel von drei unterschiedlichen Elementen: Wichtig für die Liebesanalyse sind die äußerlichen, die sozialen und damit meist statischen Merkmale der liebenden Figuren, deren Innenwelt und zudem deren Kommunikation. Zur präsentierten Liebe gehören zweitens auch die räumlichen wie zeitlichen Umstände, unter denen sich die Figuren lieben oder die das Aufkeimen jeder Liebe be- oder sogar verhindern. Und drittens muss man bei der Liebesanalyse beachten, welche Konstellation liebender Figuren, respektive welche Helfer oder Gegner ein Text aufruft, welche story er entwirft und welchen plot-mustern die Liebesgeschichte folgt. Figurendarstellung, äußerliche Merkmale, Typisierung 218 Die Liebesanalyse hat sich auf der Ebene der histoire zunächst darauf zu konzentrieren, welche Figuren in einem Roman überhaupt lieben und welche äußerlichen Merkmale diese Liebenden auszeichnen.219 Zu beachten sind neben sex und gender, vor allem auch das Alter, die ethnische Herkunft der Liebenden, welcher sozialen Klasse oder (Bildungs-)Schicht die Figuren angehören, welchen Beruf sie ausüben oder welche Vorlieben sie haben.220 Offensichtlich verfügen bestimmte Kulturen
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Bezeichnenderweise stammt die bislang ausgiebigste strukturalistische Systematik der Figurendarstellung nicht aus der Erzähltheorie, sondern aus der Dramenanalyse. Ich richte mich deshalb nach Manfred Pfister, Das Drama, S. 220–265. Pfister bezeichnet diese als »personalstrukturierende Merkmale«, vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 228. Vgl. dazu auch das Kapitel »Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung« in der von Ansgar und Vera Nünning herausgegebenen Studie zu Erzähltextana-
und Epochen nur über ein begrenztes story-Repertoire.221 Von der Anlage ihres Figurenpersonals her erzählen Romane seit Jahrhunderten nur eine hochgradig determinierte Anzahl verschiedener Liebesgeschichten. Wie nachhaltig die erzählte Liebe davon geprägt ist, dass bestimmte Figuren – wie beispielsweise die unverheiratete ältere Frau – im Liebesroman nicht vorkommen,222 hat exemplarisch Silvia Bovenschen in einem Interview bemerkt. Süffisant stellt sie fest, dass Romane – wie Martin Walsers 2008 erschienener Goethe-Roman – allein schon durch ihre Entscheidung, welche Figurentypen als Liebende auftreten, dazu nötigen können, »dass wir uns in die Erektionsschwächen von 80-Jährigen einfühlen.« Darauf fragt Bovenschen ihre Interviewerin provokant: »Kennen Sie ein Gegenbeispiel? Wo Männer sich veranlasst sehen, sich literarisch einfühlsam mit den Sexualproblemen einer Greisin zu befassen?«223 Bovenschens Gesprächspartnerin muss passen, und zwar nicht aus Unkenntnis eines weiten literarischen Feldes, sondern weil es bis heute wohl eher schwierig ist, ein literarisches Beispiel zu finden, in dem von der Sexualität und Liebe einer Greisin erzählt wird. Wie dem auch sei: Zweifelsfrei macht es einen erheblichen Unterschied, ob ein Fürst eine weitaus jüngere Hofdame (wie in La Roches ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹), ob sich die Abkömmlinge fürstlicher Familien oder ein jugendlicher Bauernsohn eine ebensolche Tochter (wie in Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹) oder ob sich Bruder und Schwester (wie in Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹) lieben. Dass die Liebenden zumal in der kanonisierten Literatur meist einem sehr engem Rahmen stereotypisierter Vorstellungen (jung, schön und heterosexuell) und bestimmten sozialen Rollenmustern – wie dem männlichen Verführer, der femme fatale oder der perfekten Mutter – folgen, ist nicht zuletzt durch die gender studies breit diskutiert worden.224 Offensichtlich rekurriert der Großteil von Liebesromanen seit Jahrhunderten sein Liebespersonal aus einem schmalen Angebot von Typenvorlagen. So kann man vorab schon festhalten, dass die Liebesromane allein durch ihre typisierte Personalwahl Träger von
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lyse und Gender studies. S. 122–142. Die Erzähltextanalyse bezeichnet Sätze, die solche Merkmale beschreiben, als »statische Ereignisse«. Vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 108f. Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 101. Zur Theorie möglicher Welten vgl. Andrea Gutenberg, Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung im englischen Frauenroman, Heidelberg 2000. Silvia Bovenschen, Nichts gegen Zorn und Grimm. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6. April 2008, Nr. 14, S. 27. Diese literarischen Frauen- und Männerbilder bilden einen Schwerpunkt einer Großzahl feministisch ausgerichteter literaturwissenschaftlicher Studien. Im deutschsprachigen Raum findet diese Forschung, die stets auch das Thema Liebe in ihre Überlegungen einbezieht, ihren Ursprung in Silvia Bovenschens Studie zur »imaginierten Weiblichkeit«. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979.
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konservativen Liebescodes und kulturellen Liebeskonstruktionen sind,225 welche sie durch den Prozess performativer Wiederholung unablässig reaffimieren. Von dieser Selbsteinschränkung der Romane bezüglich ihrer Figurenwahl abgesehen, ist für die Liebesanalyse interessant, dass einzelne Figurentypen als Personifikation einer gesamten Liebessemantik auftreten können.226 In Sophie von La Roches ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ verkörpert beispielsweise der Fürst die höfische Liebe, die Titelfigur jedoch, eine jenseits des Hofes, auf dem Land aufgewachsene junge Frau, personifiziert das empfindsame Liebesideal. Treten solche verschiedenen überindividuellen Typen in einem Roman auf, zeichnet sich dieser von vornherein und damit unabhängig von der Liebesgeschichte, die er erzählt, dadurch aus, dass er unterschiedliche, im Fall von empfindsamer und höfischer Liebe sogar gegensätzliche Liebescodes präsentiert. Bewusstsein und Gefühl Seit die individualisierte Liebe sich im literarischen Diskurs zu entfalten beginnt – die Forschung nennt paradigmatisch Petrarcas Lieder und setzt diese gegen den mittelalterlichen Minnesang ab227–, ist die Innenwelt der Liebenden ein wesentlicher Bestandteil der dargestellten Liebe. Zu dieser gehören die Emotionen und Gefühle, das Bewusstsein sowie das Unbewusste, und die individuellen Wahrnehmungsweisen der liebenden Figuren. Die Zäsur, welche die Literaturwissenschaft im Übergang von der mittelalterlichen Minne zur amour-passion zieht, deutet darauf hin, dass die jeweilige historische Semantik grundlegend bestimmt, ob die Innenwelt der Liebenden überhaupt beschrieben wird oder nicht. Für den Liebesroman lässt sich dieser historische Einschnitt, von dem an die Gefühlswelt der Liebenden eine hervorgehobene Rolle spielt, im Vergleich zur Lyrik erst erheblich später festmachen. Doch spätestens Friedrich Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahre 1774 schreibt diesen Wendepunkt in der Geschichte des Liebesromans fest. Nach Blanckenburg – das macht den turn seiner Romanpoetologie aus – stehen nicht mehr »Thaten und Begebenheiten« wie etwa im antiken Heldenepos, sondern die »Handlungen und Empfindungen des Menschen«228 im Zentrum des Romans. Er fordert, dass sich Geschichten um »das Innre«229 des Sujekts zu drehen haben:
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Dazu gehört die meist heterosexuelle Zuordnung des Begehrens »desir« zu »sex« und »gender«. Zu den Termini »Personifi kation« und »Typ« vgl. in diesem Zusammenhang Manfred Pfister, Das Drama, S. 244f. Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München 2003, S. 477–525. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 17. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 18 und S. 305.
Bey einer gewonnenen Schlacht ists nicht das Innre des Feldherrn, um das wir uns bekümmern; die Sache selbst hat ihren Reiz für uns; aber bey den Begebenheiten unsrer Mitmenschen, ist es der Zustand ihrer Empfindung, der uns, bey Erzählung ihrer Vorfälle, mehr oder weniger Theil daran nehmen läßt.230
Statt die Einbildungskraft und Sittlichkeit der Leser – vor allem der Leserinnen – mit »außerordentlichen Zufällen, Entführungen, Blutschande, Verwechselungen unter dreyfachen Namen, Einbrüchen, Zweykämpfen, Verkleidungen, Gefahren zu Wasser und zu Lande« zu verderben231 und bloß die »Sucht nach Abentheuern«232 zu bedienen, soll der pragmatische Roman die äußere Begebenheit nur noch in kausaler Verbindung mit dem »innre[n] Zustand« der Figuren erzählen.233 Der Akzent des Dargestellten liegt mithin auf den Innenwelten des Romanpersonals. Seit dem 18. Jahrhundert also begnügen sich Romane nicht mehr damit, zwei bestimmte Liebestypen aufeinander treffen, sie einige Abenteuer überstehen oder Hindernisse überwinden zu lassen und sie entweder (tragisch oder komisch) an diesen scheitern zu lassen oder sie ihrem Happy-End zuzuführen. Die Romane verschreiben sich »eine[r] realistisch-mimetische[n] Figurenkonzeption«, die erlaubt, die »mehrdimensionalen«234 Romanfiguren wie Personen des echten Lebens zu betrachten. Der Roman avanciert im Zuge der Aufklärung zur Paradegattung dieser Darstellungsweise. Dieser Anspruch an den Roman schließt ein, die Gefühle und das Bewusstsein der Liebenden nicht nur ausführlich, sondern vor allem auch (für den Leser) nachvollziehbar darzustellen. Dazu bedient sich der Roman der jeweiligen historischen Semantik. Ohne auf einen kulturell normierten Liebescode zurückzugreifen, lässt sich keine Psychologie von liebenden Figuren präsentieren. Umgekehrt gehören die einzelnen Elemente des Bewusstseins unausweichlich zur präsentierten Liebe. Je nachdem, was die Liebenden fühlen und denken, welche Emotionen und Bewusstseinsprozesse sie entwickeln, was sich grundsätzlich jenseits ihres Bewusstseinshorizonts abspielt, was sie (von sich und ihren Emotionen) wahrnehmen oder was ihnen entgeht – nicht zufällig heißt es, Liebe mache blind – generieren die Romane jeweils spezifische Liebescodes. Sie konstituieren Gefühls- und Denkmuster und präsentieren auf diese Weise die Liebe als eine Abfolge von Gefühls- und Bewusstseinszuständen. Zu analysieren ist unter diesem Aspekt beispielsweise, in welchem Verhältnis Gefühle und Verstand stehen. Treten sie in einen inneren Liebeskampf oder in ein »vernünftiges Gleichgewicht«, in welchen Momenten überwiegen die Leidenschaften, welche Emotionen und Affekte spielen für die Liebe eine Rolle,
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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 18. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 307. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 309. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 305. Manfred Pfister, Das Drama, S. 243f.
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welche werden benannt, welche fallen weg, welche Rhetorik und Grammatik des Fühlens und Denkens entwickelt sich usw. Da kein Bewusstsein außerhalb von Raum und Zeit existiert, gehört zur präsentierten Liebe per se auch, was die Liebenden von ihrer Umwelt sinnlich wahrnehmen können und was nicht, und auf welche Weise die Figuren es (bewusst oder unbewusst) verarbeiten. Zu untersuchen ist, ob die Liebenden je nach Liebescode spezielle Wahrnehmungsarten präferieren – vertrauen die Liebenden auf das, was sie sehen, auf das was sie hören, entfaltet sich Liebe über Berührung, oder braucht es – wie bei der höfischen Liebe – überhaupt nicht diesen persönlichen Kontakt, sondern nur die Erotik des Maskenspiels. Um zu zeigen, wie wichtig dieser Aspekt für die Liebesanalyse ist, sei auch an die synästhetischen Erfahrungen erinnert, welche beispielsweise die romantische Poesie als die Liebeserfahrung schlechthin inszeniert. Liebe ist, wenn sich die Sinneseindrücke derart überschlagen, dass sie keinem einzelnen Kanal mehr zugeordnet werden können. Bestandteil der Liebe ist auch, ob und von welchen Faktoren ihrer Umwelt sich die liebenden Figuren gestört fühlen, was ihre Aufmerksamkeit erregt oder sogar fesselt und für welche Phänomene ihrer Umgebung sie ein Sensorium entwickeln. Zur Liebeskonstitution gehört auf dieser Ebene aber auch, auf welche Umweltfaktoren sie überhaupt nicht reagieren, für welche ihnen jede Wahrnehmung fehlt und was ihnen also entgeht. Ein wichtiger Bestandteil der präsentierten Liebe ist darüber hinaus, inwiefern und auf welche Weise die Innenwelt das Verhalten der Figuren motivieren oder beeinflussen.235 Liebeskommunikation Ein wesentlicher Bestandteil der präsentierten Liebe ist die intersubjektive Kommunikation zwischen Romanfiguren.236 Die Kommunikation umfasst sowohl die
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So besteht der Vorwurf der Empfindsamkeit gegenüber dem höfischen Liebescode beispielsweise darin, dass letzterer sich in der Äußerlichkeit erschöpfe. In der höfischen Gesellschaft käme es in keiner Weise auf die Gefühlswelt der Liebenden an. Die Liebe bestünde nur aus äußerlichem Spiel und gesellschaftlichen Reigen. Vgl. dazu Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 23ff. Obwohl die empfindsame Pauschalkritik der höfischen Liebe abspricht, dass sie überhaupt die Bezeichnung »Liebe« verdiene, kann man einwenden, dass es sich bei der höfischen Liebe dennoch um »authentische Liebe« handelt. Ein Fürst liebt wie ein Fürst, auch wenn das den Ansprüchen individualisierter Liebe nicht genügt. Die Prämissen höfischer Liebe erfüllt der Fürst, gerade weil er Ränkespiele inszeniert und seine Liebe in der höfischen Kultur vollkommen aufgeht. Das gilt nur, wenn es sich bei den liebenden Figuren um individualisierte Charaktere handelt. Deren Individualität konstituiert sich aus dem Zusammenspiel zwischen den drei genannten Aspekten (äußere Faktoren, Innenwelt, Kommunikation). Selbstverständlich existiert eine Vielzahl von Liebesgeschichten, welche diese Individualität nicht aufweisen.
Figurenrede als auch das Handeln der einzelnen Figuren.237 Für die Liebesanalyse relevant sind alle intradiegetischen (bzw. auch metadiegetischen etc.) Sprechakte und jedes Handeln mit höchstpersönlicher Relevanz.238 Die Kommunikation speist sich in diesen Fällen auf jeweils spezifische Art und Weise aus den semantischen Feldern von Liebe und Freundschaft. Das gilt auch für die Kommunikationen, in denen sich nur einer der Liebespartner einer dritten (oder vierten, fünften) Figur zuwendet oder wenn sich zwei Figuren, die selbst kein Paar sind, über ein Liebespaar oder über Freundschaft und Liebe im Allgemeinen unterhalten. Über diese Kommunikationen generiert der Roman seinen Liebescode. Zu beachten ist also zunächst, wer mit wem, auf welche Weise über was kommuniziert. Das soziale System von Freundschaft und Liebe, das ein Roman knüpft, ist bereits Teil seines spezifischen Liebescodes. Den jeweiligen Liebescode konstituiert zudem, auf welche Weise und mit Hilfe welcher Medien die Liebenden miteinander kommunizieren. Die Medien müssen die Exklusivität sowie die höchstpersönliche Relevanz der Kommunikation garantieren. Zum festen Repertoire der Kommunikationsformen gehören: Blicke, gemeinsames Musizieren, Tanz, Gespräch, gemeinsame Lektüre und gegenseitige Geschenke – hinzu kommt im 17. Jahrhundert der intime Brief.239 Zu analysieren ist, in welcher Weise die Liebenden dieses relativ konstante Repertoire der Kommunikationsformen erweitern, ob sie eine spezifische Reihenfolge der Kommunikation einhalten (Küssen vor der Ehe verboten) und ob sie einen spezifischen Umgang mit diesen Kommunikationsformen pflegen. Um ein Beispiel zu nennen: Setzt die
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Zur Kommunikation beachte man Luhmanns weite Definition: »Alles Handeln [»Handeln« hier im weitesten Sinn] in Gegenwart anderer ist zugleich Kommunikation, macht nicht nur das Handeln und seine nächsten Wirkungen sichtbar, sondern gibt zugleich Aufschluß darüber, wer der Handelnde ist.« Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Köln 1970, S. 100. Vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 258. Will man der Lieblingsbeschäftigung der Narratologie nachgehen, lässt sich bereits an dieser Stelle eine erste (quantitative) Typologisierung von Liebesromanen durchführen: Treten in einem Roman Figuren in eine intime Kommunikation ein, handelt es sich um einen Liebesroman. Je größer der Anteil der Figuren an dieser Kommunikationsform ist, desto klarer ist diese Zuteilung zum Liebesroman. Das Optimum ist erreicht, wenn alle Figuren mit höchstpersönlicher Relevanz kommunizieren. Vorstellbar sind aber auch Romane, in denen diese Kommunikationsform und damit der Liebescode keine Rolle spielen. Die Literaturgeschichte dieser letzteren Romane zu schreiben, hat schon Gerhard Neumann, als interessantes Projekt in Aussicht gestellt. In Arnims Roman führen beispielsweise die beiden Hauptfiguren, die titelgebende Gräfin Dolores und Graf Karl, eine intime Kommunikation. Letztlich aber sind alle Figuren von Klelia, über den Markese, vom Dichter Waller bis zu Dolores’ Vater in den Liebesreigen eingebunden. In Arnims Roman gibt es keine Figur, die nicht irgendwann eine intime Kommunikation im Feld von Liebe und Freundschaft führt. Seit Blankenburg stehen die Handlungen und Empfindungen des Menschen im Zentrum des Romans, der psychologisch motivierte Geschichten über das Innere des Subjekts erzählt. Vgl. Friedrich von Blankenburg, Versuch über den Roman, S. 17.
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höfische Liebe auf große Feste, auf Musik, Tanz und Verkleidung als Katalysatoren eines allgemeinen Rausches, so ziehen sich die Liebenden in der Empfindsamkeit in intime Situationen zurück, um dort gemeinsam zu musizieren. Die Wahl der Kommunikationsformen spielt vor allem am Anfang der Liebesbeziehung eine entscheidende Rolle, wenn sich die Liebenden über ihre eigenen Gefühle und über die Zuneigung des anderen zunächst grundsätzlich klar werden müssen. Ein essentielles Element des Liebescodes ist allerdings nicht nur die Kommunikationsform, sondern auch, wann die liebenden Figuren auf welche Art und Weise über welche Themen kommunizieren (dürfen). Je nach Liebescode sind bestimmte Kommunikationsthemen und -formen in die Semantik von Liebe integriert oder nicht. Zu Fragen ist daher, über was die Figuren überhaupt kommunizieren, wenn sie es auf höchstpersönliche Relevanz und Exklusivität anlegen. Tanzen sie nur miteinander, ohne jedes Gespräch, reicht ein Blick, um sich zu verlieben? Sprechen sie wie Werther und Lotte über das Wetter und eben über Klopstock, der mit seiner ›Frühlingsfeyer‹ diese Gesprächsthemen für die Liebeskommunikation fruchtbar gemacht hat?240 Darf über sinnliche Liebe und Sexualität gesprochen werden oder sind sie Tabu? Gibt es nur einen Code der Allusion? Der Code legt fest, welche semantischen Einheiten den Figuren zur Verfügung stehen, und welche Relevanz den einzelnen Elementen zugesprochen wird. Zum kommunikativ entfalteten Liebescode gehören ebenfalls die rhetorischen und grammatischen Regeln der Figurenrede. Zu beachten ist, in welcher Form die Liebenden mit ihren Partnern und über ihre Partner kommunizieren. So entwickelt sich beispielsweise von der Empfindsamkeit an eine bis in das letzte Detail ausgeklügelte Rhetorik des Gefühls, welche auf der vermeintlichen Voraussetzung beruht, dass die Sprache die Empfindungen angemessen artikulieren könne. Diese Herzenssprache legt es gezielt auf grammatikalische Verstöße an, um den Eindruck eines wahrhaftigen und emphatischen Gefühlsausdruck zu erzeugen. Damit sich das Chaos der Gefühle im Chaos der empfindsamen Sprache vermeintlich widerspiegelt, strotzt sie vor Tautologien, Ellipsen, Aposiopesen und Synchysen. Sie inszeniert Stottern sowie Glossolalie und bricht die Rede ihrer Figuren mit Hilfe von Gedankenstrichen mitten im Satz ab. Um die Kongruenz zwischen Sprache und Gefühl zu etablieren, funktionalisiert sie sogar noch das Schweigen. Das beredte Schweigen avanciert zum letzten Garanten der Authentizität, da es den (vermeintlich unaussprechlichen) Überschwang der Gefühle repräsentiere.241 Zu analysieren
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Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Frankfurt am Main 1982, S. 74. Nikolaus Wegmann nennt diese anti-rhetorische Ausrichtung des empfindsamen Codes treffend eine »(paradoxe) Kunst einer gewollten Kunstlosigkeit, das sie die geforderte Natürlichkeit – doch wieder nur? – mit Absicht nach Plan herstellen kann.«, vgl. Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 35. Perfekte Beispiele für diese rhetorische Inszenierung findet man u. a. in La Roches Briefroman, Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 103, 225 u. 226.
ist unter dem Aspekt der Liebeskommunikation demnach auch das Zusammenspiel zwischen dem Bewusstsein der Liebenden und ihren Sprechakten und Taten. Denn im Rahmen des empfindsamen Liebesromans basiert die Kommunikation der Liebenden auf dem, was in ihnen vorgeht, was sie fühlen und denken. Dass auch das Zusammenspiel zwischen Innenwelt und Kommunikation der liebenden Figuren historisch variabel und somit Bestandteil eines Liebescodes ist, zeigt sich beispielsweise anhand von Blanckenburgs Poetik. Damit dieser Zustand der Empfindung überzeugend wirkt und die Anteilnahme daran überhaupt möglich ist, müssen die Figuren nach Blanckenburg nicht etwa einem realistisch-mimetischen Konzept folgen, sondern ihre »innre Geschichte eines Charakters«242 soll streng kausal als »Kette von Ursach und Wirkung«243 geordnet sein. Das romanpoetologische Ideal ist eine geradezu »lückenlose Kausalmotivation, die keine Leerstellen der inneren oder äußeren Handlung mehr aufweist«244: Bei jedem erzählten Vorfall soll der Leser »all’ die Ursachen« erkennen, »warum die Begebenheit erfolgt ist, und warum sie vielmehr so als anders hat erfolgen müssen«.245 Diese Forderung, so unerfüllbar sie per se ist, würde schon in der Romantik, mit ihrer Entdeckung des Unbewussten und mit ihrem Faible für das Wunderbare und Unbestimmte, keiner mehr stellen. Wer wollte schon den realistischen Effekt der Figurenkomposition unterminieren, indem er versucht, die Kommunikation eines Liebenden vollständig zu motivieren? Selbst wenn man Blanckenburgs Vollständigkeitsideal widerspricht, bleibt doch festzuhalten: Um die erzählte Liebe zu analysieren, muss man beachten, welche Affekte und Emotionen auf welche Weise die Liebeskommunikation beeinflussen.246 Zur erzählten Liebe gehört außerdem, welche Gefühle die Figuren überhaupt bewusst in Sprache fassen können und über welche sie dann auch tatsächlich mit anderen Figuren kommunizieren.247 Häufig besteht eine signifikante, und für den Code aussagekräftige Diskrepanz zwischen den Gefühlen, Wünschen und Träumen, die allgemein werden können, und denen, über welche die Liebenden tatsächlich kommunizieren. Die erzählte Liebe konstituiert sich auch dadurch, was sich in Kommunikation umsetzen lässt und was nicht. Zu Fragen ist daher, ob die Figuren direkt über ihre Gefühle kommunizieren können oder ob sie vielleicht sogar dazu verpflichtet sind, sich dem anderen zu offenbaren, im Vertrauen auf stillschweigen-
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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 390. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 10. Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 187. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 309. Blanckenburg hebt den Einfluss der Liebe auf die übrigen Empfindungen und Taten der einzelnen Figuren als ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Romanen und Dramen hervor. Vgl. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 182f. Pfister bezeichnet jene Figuren, deren Bewusstheit ihrer selbst das realistische Maß überschreitet, als »transpsychologisch«. Figuren, denen verdrängte, traumatische Erlebnisse, Emotionen, Stimmungen nur begrenzt rational zugänglich sind, sind seiner Nomenklatur nach »psychologisch« konzipiert. Manfred Pfister, Das Drama, S. 247f.
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des Einverständnis, indem sie ihre Gefühle und Wünsche beim Namen nennen. Gibt es Missverständnisse? Kommunizieren Figuren authentisch ihre Liebe, dann stimmen die Themen und die Form der intersubjektiven Kommunikation und die Inszenierung ihrer »inneren Welt« überein. Beide Welten konstituieren sich in diesem Fall nach demselben Code. Wenn Figuren sich verstellen, wird ihr Bewusstsein mit einem alternativen (meist konkurrenten) Liebescode entworfen. Zeit und Raum Da sowohl die Innenwelt als auch die Kommunikation situativ in Raum und Zeit eingebettet sind, müssen auch diese beiden Faktoren als Bestandteil der präsentierten Liebe betrachtet werden. Die fiktionale Konstitution von Raum und Zeit gehört zum spezifischen Liebescode, den ein Roman entwirft. Räume und Zeiten sind immer sozial definiert, sie repräsentieren Machtbereiche, sind an Geschlechterkonzepte gekoppelt und tragen spezifische Konnotationen. Beispielsweise die Konzipierung der unkontrollierbaren Stadt, mit ihrem Chaos, ihrer Gefahr, weckt – so Nünning – im Mann das wilde Begehren. Sie ist aus dieser Sicht weiblich konnotiert. Zugleich weist Nünning aber darauf hin, dass die Stadt als Ort der Kultur und Zivilisation ebenso männlich kodiert sein kann.248 Zu berücksichtigen ist angesichts dieser Ambivalenz von Zeichen grundsätzlich an jedem einzelnen Romantext, wie sich die Liebenden in Raum und Zeit bewegen, wie sie ihre Umstände wahrnehmen und wie sie (und der Roman) die Räume und Zeiten kodieren. So verändert sich beispielsweise diachron, welche räumlichen und zeitlichen Umstände als förderlich oder hinderlich für die Liebe gelten. Beispielhaft führt dies Goethes ›Werther‹ vor, indem er anhand von Werthers und Lottes berühmter Fensterszene zeigt, welche Schauplätze und Zeitfaktoren zum einen die höfische und zum anderen die empfindsame Liebe für ihre Liebesinitiation präferiert: Die gesellschaftlichen Ereignisse, die festlichen Bälle und Maskenspiele, die auf Schlössern der Herrscher ausgerichtet werden, die sich meist über eine ganze Nacht ziehen und bei aller Ausschweifung doch zuletzt einer klaren Ordnung folgen, wenn sie diese nicht gezielt unterlaufen, gelten der höfischen Liebe als ideale Umstände, um eine Liebeskommunikation in Gang zu setzen. An diesen Schauplätzen gibt es nicht nur den nötigen Tanz und Gesang, sondern der Glanz des repräsentativen Ortes, durch den sich der gesellschaftliche Kreis von der Außenwelt abgrenzt, die Exklusivität, die dieser garantiert, und die Gewissheit, die Nacht zum Tag zu machen, dienen als Katalysatoren der Liebe. Aus der Perspektive empfindsamer Liebe hingegen verhindern diese räumlichen wie zeitlichen Umstände jede Liebeskommunikation. Das gesellschaftliche Treiben, das rauschhafte Gemeinschaftserlebnis stehen jeder individualisierten Kommunikation im Wege. Um nach dem empfindsamen Code lieben zu können, ziehen sich die Liebenden aus der Gesellschaft zurück. So suchen schon Werther und Lotte
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Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 50.
während einer solchen Gesellschaft eine Fensternische auf, die ihnen nicht nur die Ruhe und Abgeschiedenheit zu einem intimen Gespräch gewährt, sondern darüber hinaus auch den Blick auf die umliegende Natur eröffnet. Diese konnotiert als der Raum, in dem sich die wahren Gefühle authentisch kommunizieren lassen. Empfindsame Liebe findet ihren Platz – folgt man Goethes ›Werther‹ – in Abgrenzung zur höfischen Gesellschaft zumindest an deren Rand, wenn nicht sogar jenseits von dieser. Sie sucht den privaten, statt den öffentlichen, den unberührt natürlichen, statt den künstlich gestalteten Raum. Das hängt in Werthers und Lottes Fall auch damit zusammen, dass die schon vergebene Lotte sich von Beginn an auf ein gesellschaftlich und moralisch heikles Unterfangen einlässt. Auch deshalb entzieht sich das Paar räumlich dem Machtbereich der Gesellschaft, bleibt diesem aber zugleich so nahe, dass keiner Verdacht schöpfen kann. So bleibt das Paar auch nur kurze Zeit in der Fensternische, lang genug, dass Werther sich endgültig verliebt, kurz genug, damit sie nicht weiter auffallen. Der Vergleich zwischen höfischer und empfindsamer Liebe zeigt, nicht nur, dass Raum und Zeit selbstverständlich sozial definiert und Träger spezifischer Konnotationen sind. Es zeigt darüber hinaus, dass man bei der Liebesanalyse exakt auf die Standorte und auf die räumlichen Bewegungen sowie auf die zeitlichen Umstände der erzählten Liebesereignisse zu achten hat. Die Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Standorte kann sich weithin an oppositionellen Schemata orientieren: Halten sich die Liebenden in einer Stadt oder auf dem Land auf? Befinden sie sich dort in Innenräumen oder in der freien Natur, in einem Schloss oder in einer Arbeiterwohnung, in ihrer Heimat oder jenseits dieser etc.? Oder befinden Sie sich in Zwischenräumen, wie die Fensternische im Wertherbeispiel einen darstellt, oder wie Gärten oder Parks es tun, durch welche die Liebenden spazieren gehen? Wichtig ist es, ob die Liebenden sich im Laufe ihrer Liebesbeziehung räumlich bewegen und ob sie (zuvor gezogene) Grenzen überschreiten. Zu untersuchen ist, ob sie beispielsweise Haus und Gesellschaft für einen Gang durch den Garten verlassen. Gehen sie gemeinsam oder getrennt auf Reisen oder richten sie sich beispielsweise dauerhaft einen Rückzugsraum ein? Legen es die Partner darauf an, sich ein Idyll zu schaffen, das jenseits des gesellschaftlichen Umfelds liegt? Zum Liebescode kann es optional gehören, ob das Paar oder einer der Liebenden ein klares Reiseziel hat, oder planlos durch die Welt schweift. Im Blick zu behalten ist auch, ob den Liebenden bestimmte Räume unzugänglich sind. Dürfen sie sich beispielsweise im Haus der Eltern oder am Hofe nicht sehen, sondern nur außerhalb dieser Orte? Oder bleibt ihnen nur, die Nacht, um sich heimlich zu treffen? Von Bedeutung für den Liebescode sind auch die räumlichen Trennungen der beiden Partner. Bleiben sie auf räumlicher Distanz und wie, mit Hilfe welcher Kommunikationsformen überbrücken sie diese? Der Email-Roman ›Gut gegen Nordwind‹ von Daniel Glattauer249 hat kürzlich gezeigt, dass sich Liebe in der
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Daniel Glattauer, Gut gegen Nordwind, München 2007.
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Literatur trotz ungebrochener räumlicher Distanz entwickeln kann. Dort lieben sich zwei Menschen, die sich nie zu Gesicht bekommen.250 Ihre innige Liebe findet ausschließlich im virtuellen Raum statt, per Email und mit Nachrichten, welche die beiden auf dem Anrufbeantworter des jeweils anderen hinterlassen. Sie erfüllt sich in der sprachlichen Kommunikation der beiden Partner und ist zumindest für einen bestimmten Zeitraum den Beziehungen außerhalb des Netzes im echten Leben überlegen.251 Diese Liebesform haben erstmals die empfindsamen Briefromane ausformuliert, an deren Tradition Glattauers Text gekonnt anschließt. Die räumlichen und zeitlichen Umstände bestimmen also auch, auf welche Kommunikationsmedien die Liebenden zurückgreifen. So können die Liebespartner oft nur heimlich kommunizieren und bedienen sich, um die räumliche Distanz zu überbrücken, beispielsweise ihrer Dienstboten oder sie entwickeln eine intensive Briefkorrespondenz.252 Ebenso wie die räumlichen sind auch die zeitlichen Umstände für die Liebescodierung von entscheidender Bedeutung. Zu welcher Jahreszeit begegnen sich beispielsweise die beiden Partner? Sehen sie sich erstmals in der Nacht oder am Tag? Brauchen Sie nur einen Augenblick, sich ihrer Liebe gewiss zu sein, oder benötigen sie dafür Jahre? Wann sehen sie sich wieder, immer zur gleichen Zeit, immer nur nachts, in einem bestimmen zeitlichen Abstand oder von ihrem ersten Treffen an dauerhaft und ohne jede Unterbrechung? Wie lange bleibt das Paar zusammen, wie viel Zeit verlebt es getrennt? Zu diesen Aspekten kommt noch hinzu, dass die Figuren sich nicht nur in Raum und Zeit bewegen, sondern dass sie diese selbstverständlich auch erfahren. Der jeweilige Liebescode eines Ro250
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Eine solche Beziehung entwickelt im Prinzip auch schon Edmond de Rostands ›Cyrano de Bergerac‹. Allerdings kommen die Figuren dort nicht ohne persönlichen Kontakt aus, denn Roxane identifiziert den Verfasser ihrer Liebesbriefe ja mit Christian und ordnet so der Schrift eine für sie greifbare Person zu. Vgl. zu diesen Zusammenhängen Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2006, S. 114f. Weiterhin Erich R. Merkle u. Rhonda A. Richardson, Digital Dating and Virtual Relating. Conceptualizing Computer Mediated Romantic Relationships. In: Family Relations 49 (2000), S. 187–192. Das Beispiel des Briefverkehrs zeigt zudem eindrücklich, dass die räumlichen und zeitlichen Umstände zugleich die Art und Weise festlegen, wie die einzelnen Medien genutzt werden. Dient der Brief vor dem 18. Jahrhundert noch zur formellen und geschäftlichen Kommunikation und folgt einem statischen Aufbau und einer hochgradig konventionalisierten Rhetorik, fordert Gellert den Bruch mit dieser Briefform und führt ein natürliches, lebendiges und individuelles Stilideal ein. Beide erprobt er nicht zuletzt in seinem Roman Die schwedische Gräfin von G*, in dem der Brief für individualisierte, höchstpersönliche Mitteilungen dient. Christian Fürchtegott Gellert, Gedanken von einem guten deutschen Briefe, Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Christian Fürchtegott Gellert, Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. von Bernd Witte, Berlin, New York 1989, S. 97–221. Siehe auch die grundlegende Arbeit von Claudia Kaiser, ›Geschmack‹ als Basis der Verständigung. Christian Fürchtegott Gellerts Brieftheorie, Frankfurt am Main 1996. Christian Fürchtegott Gellert, Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1750), hg. von Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1997.
mans bestimmt auch den Wechselbezug zwischen Raum-, respektive Zeiterfahrung und damit die Art und Weise, wie sich die Subjekte in Relation zu ihrer Umwelt konstituieren. Die Frage, wie die Figuren ihre Umwelt wahrnehmen und welche Bedeutung sie ihr zumessen, führt zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen – zur Bewusstseindarstellung der Figuren: Nehmen die Liebenden die Raum und Zeit als bedrohlich war? Wünscht sich das Paar, dass die Zeit verfliegt oder träumen die Liebenden davon, die Zeit möge stehen bleiben? Wer die dargestellte Liebe analysiert, muss diese Aspekte in seine Überlegungen einbeziehen. Story, plot und Handlungsmuster Zuletzt hat die Liebesanalyse zu berücksichtigen, dass die einzelnen Kommunikationsakte der liebenden Figuren im Zusammenhang mit der Romanhandlung so genannte Ereignisse konstituieren, die so etwas wie die Mikroeinheiten der Liebesgeschichten bilden.253 Über ihre Kommunikation werden die Figuren im Rahmen dieser Ereignisse zu Trägern spezifischer Codes. Und weil ihr Handeln und ihre Rede sowohl als nichtintendierte – die Narratologie spricht vom Geschehnis – als auch als intendierte Motive – die Narratologie bezeichnet diese als Figurenhandlung – in jedem Fall eine dynamische Funktion haben, setzen die Figuren ihren jeweiligen Liebescode als Aktanten in Handlungen um. Da in Liebesromanen die Figuren aus Liebe handeln (weil sie lieben) und das kodierte Gefühl nicht nur in Ereignisse umgesetzt wird, verknüpft es schließlich die einzelnen Geschehnisse zu einer Handlung. Die Geschichten sind aus Liebe motiviert. Vollkommen zu Recht konstatiert Ricklefs mit dem Blick über den Liebesroman hinaus: »Liebe ist die literarisch meistgebrauchte Motivation und ein probates Handlungsvehikel.«254 Wenn die Liebe aber die Handlung motiviert und antreibt, bedeutet dies: Der Prozess, in dessen Zuge die Ereignisfolge (story) kausallogisch zu einem sinnhaften Zusammenhang (plot) verschaltet wird (weil er/sie liebt, sagt/macht er/sie), folgt einem Liebescode. Unterschiedliche Liebesarten, sorgen für verschiedene Handlungen: Weil er/sie auf diese oder jene Weise liebt, sagt/macht er dieses oder jenes. Der Liebescode konstituiert daher die Ordnung eines Erzähltextes als eines inhaltlich geregelten Zusammenhangs – d. h. als Geschichte, die erzählt wird. Je nach den Vorgaben eines Codes, je nachdem, ob die Umstände einer spezifischen Liebeskommunikation zu- oder abträglich sind, entfalten die einzelnen Figuren nicht nur ihre Gefühle, sondern es entstehen auf diese Weise zugleich verschiedene Liebesgeschichten. Handelt eine Figur nach einem spezifischen Code, erzeugt dies eine entsprechende Handlung. Das bedeutet, dass man die einzelnen Erzählsequenzen als Einheiten des Liebescodes analysieren kann. Nun erlaubt es ein sechshundertseitiger Roman wie beispielsweise Arnims ›Gräfin Dolores‹ nicht, jede einzelne dieser Sequenzen zu untersuchen, aber die wichtigsten Funktionseinheiten sind bei 253 254
Vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltextanalyse, S. 109. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim, S. 237.
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einer Liebesanalyse als Teil des Liebescodes unbedingt zu betrachten. Denn erst die Varianzen innerhalb dieser Sequenzen zeichnen die jeweilige Liebesgeschichte individuell aus. Verschaltet werden diese Einheiten durch die Ereignisse und Handlungen, welche durch die anderen liebenden Figuren motiviert werden. Auf diese Weise setzt der Roman sein story-Repertoire in Erzählsequenzen um. Als Kombinationsmechanismen ist dabei nicht nur an die gegenseitige Liebe zu denken. So können Figuren, die nach unterschiedlichen Codes handeln, miteinander in Konkurrenz treten. Oder die Handlung konstituiert sich darüber, dass einzelne Figuren (beispielsweise der besorgte Vater oder Liebeskonkurrent) die Liebe eines Paares verhindern. Ein weiterer Grundtyp von stories entsteht dadurch, dass eine Figur auftritt, welche den Liebescode der anderen Figuren nicht nachvollziehen kann. Hinzu kommen Handlungsmotivationen wie Eifersucht, Skepsis gegenüber oder Angst vor einer möglichen Heirat, oder die Motivierung, die andere Figur zu verführen. Die Handlungseinheiten variieren nicht nur dadurch, welche Liebesformen sie motivieren, sondern darüber hinaus auch dadurch, in welcher Konfiguration die einzelnen Figuren nach- und nebeneinander auftreten. Bestandteil des narrativ entfalteten Liebescodes sind die Interaktionsmuster, die ein Roman inszeniert.255 Hinzu kommt hinsichtlich der Handlungskonstruktion zuletzt noch, dass bestimmte Kulturen und Epochen offensichtlich nicht nur über ein begrenztes story-, sondern auch über ein determiniertes plot-repertoire verfügen.256 Mit der Konstitution individualisierter Liebe im Roman haben sich vom 18. Jahrhundert an eine Reihe von plot-mustern entwickelt. Zwei allerdings haben sich vor allen anderen fest etabliert. Entweder verlaufen die Liebesgeschichten nach dem Schema »encounter, attraction, union, break, and resolution in either final reunion or separation« teleologisch auf die Hochzeit oder die endgültige Trennung des Paares zu.257 Gutenberg bezeichnet dieses Erzählmuster als romance plot (Liebesplot) und differenziert dieses, an den Bildungsroman angelehnte, Muster (quest-plot) je nachdem, ob es zu einem glücklichen Ende (courtship plot) oder zu einem tragischen Ende kommt (Verführungsplot/seduction plot).258 Dieses Schema kann in zwei unterschiedlichen Varianten durchgespielt werden. Entweder steht ein männlicher Protagonist oder – wie in der ›Gräfin Dolores‹ oder in Sophie von La Roches ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ – eine weibliche Protagonistin im Zentrum des Geschehens.259 Das zweite Erzählmuster, das in der Romantik allerdings weniger häufig vertreten ist,
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Zum Terminus der Konfiguration vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 235ff. Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 101. Andrea Gutenberg, Handlung, Plot und Plotmuster. In: Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 98–121. Andrea Gutenberg, Handlung, Pot und Plotmuster, S. 108. Zum frauenzentrierten Plotmuster Andrea Gutenberg, Handlung, Plot und Plotmuster, S. 108.
bezeichnet Gutenberg als Eheplot/wedlock plot.260 Die Ehebruchgeschichte setzt erst nach der Hochzeit ein und steuert von da an gezielt auf die Katastrophe, den Ehebruch, zu. Diese Romane stellen die Frage, wie sich die individualisierte Liebe im Alltag der Ehe bewährt, sie kreisen um Gefährdung der Harmonie. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass es die Narratologie erlaubt, die Liebeskonstitution auf der Ebene der histoire mit einer so hohen Auflösung zu betrachten, als untersuche man sie unter dem Mikroskop. Zu erwarten ist daher ein enormer Gewinn an Differenzierung. Mit dieser exakten Untersuchungsmethode lässt sich detailliert herausarbeiten, wie literarische Liebe konstituiert wird und welche funktionalen Unterschiede zwischen den einzelnen Liebesromanen und ihren Liebeskonzeptionen bestehen. Außerdem zeigen die vorherigen Überlegungen, dass die mikroskopisch genaue Analyse keineswegs den Blick auf die Makrostrukturen verdecken muss (und darf). 2.2.2 Discours – die Narration Auf der Ebene des discours, der Darstellung, umfasst der Liebescode mit der Signifikantenfolge (Erzählung, récit) zugleich den »produzierenden narrativen Akt« sowie im weiteren Sinne die reale oder fiktive Situation, in der er erfolgt (Narration, Erzählen).261 Teil der narratologischen Liebe sind damit die beiden Aspekte der Darstellung: das Erzählen, als die Art und Weise, wie eine Liebesgeschichte im Zuge einer fiktiven Kommunikationssituation präsentiert wird,262 und die Erzählung, welche die erzählten Ereignisse auf spezifische Art anordnet.263 Die Untersuchung des Liebescodes schließt demnach die gesamte formale Präsentation des Erzählten, also die Frage nach der Erzählordnung, der Erzählzeit, der Distanz, der Fokalisierung, der Stellung des Erzählers zum Geschehen (einschließlich räumlicher Textstrukturen wie Symmetrien und Parallelismen etc.) eines Textes ein. Je nach Darstellungsform variieren die Merkmale des Liebescodes, und die Kommunikation über ›Liebe‹ verläuft auf unterschiedliche Art und Weise. Dies impliziert, dass auch die rhetorische und die semiotische Konstitution des narrativen Diskurses
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Andrea Gutenberg, Handlung, Plot und Plotmuster, S. 108. Gérard Genette, Die Erzählung, S. 16. Diese Binnendifferenzierung der Darstellungsebene ist sinnvoll, weil die Narration »in fi ktionaler Rede nämlich nicht mehr als die fi ktionsinterne pragmatische Dimension der ›Erzählung‹ umfaßt (die Dimension der ›Stimme‹ [›voix‹], d. h. die zeitliche und räumliche Position des fi ktiven Erzählers gegenüber seiner Geschichte und seines fi ktiven Adressaten)«. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 24. Dabei muss man nicht nur davon ausgehen, dass die Figur »Erzähler« ein von der Textinstanz konstruierter Redner ist, sondern auch davon, dass ihre kommunikative Sprachhandlung einen imaginären Leser konstituiert, der ebenfalls Teil dieser Konstruktion ist. Zur Gesprächsstruktur literarischer Texte und zu ihrer Kommunikationsfunktion vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, S. 184. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 25.
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sowie die von ihm (de-)konstruierte »Aussage« Bestandteil eines entsprechenden Liebescodes sind. 2.2.2.1 Narratologische Präsentationsformen der Liebe Zeit Die Art und Weise, wie Liebesgeschichten präsentiert werden, ist erstens durch den Aspekt der Zeit bestimmt. Die Narratologie betrachtet den Faktor Zeit grundsätzlich als Relation zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Gemessen wird diese schlicht daran, wie viele Seiten ein Liebesroman umfasst und welchen Zeitraum er in Relation zu seinem Umfang darstellt. An dem Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit lässt sich ermessen, wie detailliert sich ein Roman den einzelnen Phasen und Episoden einer Liebesgeschichte widmet und in welcher Spanne er sie erzählt. Zu den Darstellungsoptionen gehört, den einzelnen Liebeserlebnissen oder Lebensabschnitten (also bestimmten Spannen erzählter Zeit) unterschiedlich lange Erzählzeit einräumen zu können. Liebesromane gewichten auf diese Weise ihr Interesse an unterschiedlichen Phasen des Liebeslebens. So hält beispielsweise Gerhard Neumann fest, dass romantische Romane einen – im Vergleich zu ihren Vorgängern – erheblichen Anteil ihrer erzählten Zeit der Liebesinitiation widmen und sich demnach mit hohem zeitlichen Aufwand einem meist nur sehr kurzem Augenblick (erzählter Zeit) widmen. Neumann begründet diesen Fokus der Liebesromane damit, dass die romantische Literatur die Frage nach dem Ursprung und daher auch die nach dem Ursprung der Liebe in besonderer Weise umtreibe. Dieser Schwerpunkt lässt sich ebenfalls aus der diachronen Entwicklung der Liebessemantik erklären. Da ab dem 18. Jahrhundert das Sexualdispositiv das bis dahin unumstößlich geltende Allianzdispositiv, bei dem die Väter die Ehe ihrer Kinder vermitteln, überlagert,264 muss sich die Liebe von dort an allein aus der individuellen Zuneigung der beiden Liebespartner begründen.265 Spielt die Liebesinitiation zuvor eine untergeordnete Rolle, da sie durch die Abmachung der Eltern ja bereits geregelt war, so erlangt sie im Zuge des 18. Jahrhunderts eine alles entscheidende Bedeutung. Von der Partnerwahl hängt das spätere Liebesglück oder -unglück im Wesentlichen ab. Sie konfrontiert die Liebenden mit einem schier unlösbaren Komplex von Fragen und Problemen. Die Liebenden müssen den richtigen Partner erst einmal ausfindig machen, sie müssen den anderen als solchen erkennen, die eigenen Gefühle als Liebe identifizieren und sich der Gefühle ihres Gegenübers versichern. Die romantischen Liebesromane spielen – wie vor ihnen in Ansätzen schon die
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Zum Allianz- und Sexualdispositiv vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. 128ff. Gerhard Neumann, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Romantisches Erzählen, Würzburg 1995, S. 14.
empfindsamen Romane – angesichts dieser einschneidenden Verschiebung innerhalb des Liebeskonzepts die Bedingungen der Möglichkeit von Liebe durch. Sie räumen deshalb der Liebesinitiation einen beträchtlichen Teil ihrer Erzählzeit ein. Die (meist männlichen) Protagonisten der Bildungsromane finden sich beinahe über die gesamte erzählte Zeit auf der Suche nach dem Liebesglück, ohne es zu finden. Mit Hilfe des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit lässt sich also analysieren, welche Erzählspanne die Liebespaare tatsächlich gemeinsam verbringen, wie groß der Anteil des gemeinsamen Liebesglücks an der erzählten Zeit und der Erzählzeit ist, oder ob die Liebenden die meiste Zeit über getrennt voneinander, nur in sehnsüchtiger Liebe verbunden sind. Drei weitere Aspekte, die der Kategorie Zeit untergeordnet sind, bestimmen, wie die Liebe im Roman präsentiert wird: die Ordnung, die Dauer und die Frequenz der Erzählung. Die Ordnung beschreibt die Abfolge, in welcher der Roman die einzelnen Ereignisse seiner Liebesgeschichte darstellt. Weicht sie von der chronologischen Ordnung (ordo naturalis) der Ereignisse ab, spricht man von einem ordo artificialis. Die Ordnung zeichnet sich in diesem Fall durch Anachronien aus. Einerseits hebt der Liebesroman mit Hilfe seiner Ordnung eine bestimmte Ereignisfolge hervor und drängt andere dafür in den Hintergrund. Andererseits unterbrechen die Analepsen und Prolepsen (gezielt) die einzelnen narrativen Sequenzen und konstituieren Handlungseinheiten. Die Rück- oder Vorschauen setzen die erzählten Ereignisse mit vorherigen oder folgenden in Verbindung, sie tragen Vergangenes nach oder nehmen Zukünftiges vorweg und stiften auf diese Weise unmittelbare Beziehungen, die in der Chronologie der Liebeshandlung untergegangen wären (vgl. auch die Ausführung zur Spannung in dieser Studie). Ähnliche Effekte wie mit der Ordnung erzielen Erzähltexte auch mit der Dauer von Erzählzeit und erzählter Zeit. Der Liebesroman steuert über diese seine Erzählgeschwindigkeit und bestimmt somit, welchen Ereignissen er sich ausführlich und detailliert widmet und welchen nicht. Einzelne Szenen, wie beispielsweise die zuvor erwähnte Liebesinitiation, können auf diese Weise unter dem Eindruck einer engen Übereinstimmung der Zeit von Erzählung und Geschichte vermittelt und damit in ihrer Bedeutung für die erzählte Geschichte aufgewertet werden. Die Verlangsamung kann sich bis zum zeitdehnenden Erzählen steigern. Hingegen dient summarisches Erzählen dazu, das Wesentliche einer Liebesbegegnung oder eine ganze Reihe von Liebesbegegnungen zusammen zu fassen. Zur Präsentation einer Liebesgeschichte gehört aber auch, dass Romane mit Hilfe von Ellipsen ganze Szenen und Ereignisse auslassen und überspringen. Diese extreme Beschleunigung bedeutet keineswegs automatisch, dass ein Geschehen ausgelassen wird, das für die erzählte Geschichte nicht von elementarer Bedeutung ist. Die berühmtesten Beispiele der Literaturgeschichte, die das Gegenteil belegen, stammen ausgerechnet aus Liebesromanen: Die bekannteste Auslassung im Zuge des literarischen Liebesdiskurses betrifft die entscheidende Szene in Fontanes ›Effi Briest‹. Während der Kutschfahrt von Crampa und Effi Briest bleibt dort ausgerechnet die vermeintliche Verführungsszene ausgespart. Nach demselben Prinzip verfährt auch Kleists ›Mar73
quise von O...‹ . Gezielt verschweigt die Erzählung, indem sie einen Gedankenstrich setzt, was im Zwischenraum des »hier – traf er« zwischen der Marquise und dem russischen Offizier passiert. Diese Auslassung ist weniger der delikaten Szene geschuldet, als sie vielmehr dazu dient, Spannung zu erzeugen. Immerhin kreisen alle weiteren Geschehnisse der Novelle um diesen übersprungenen Augenblick und die Frage, für was der Gedankenstrich tatsächlich steht. Als letzte Möglichkeit, die Liebesgeschichten bezüglich der Dauer zu gestalten, ist die Pause zu erwähnen. Während dieser stellt die Erzählung ihre Geschichte in einer bestimmten Situation still, um auf einer anderen Ebene weiterzuerzählen. Die Pause dient beispielsweise Erzählerfiguren dazu, um die Ereignisse zu reflektieren, mit anderen Ereignissen zu vergleichen oder schlicht abzuschweifen. Zum Faktor Zeit gehört drittens noch der Aspekt der Frequenz, mit dem Liebesromane ebenfalls gezielt ihre Schwerpunkte setzen. Mit Hilfe der Frequenz unterscheidet die Narratologie, dass ein einmaliges Ereignis entweder einmal (singulatives Erzählen) oder wiederholt (repetitives Erzählen) oder ein wiederholtes Ereignis einmal (iteratives Erzählens) erzählt wird. Modus Die Präsentation von Liebesgeschichten hängt außerdem vom Modus der Erzählung ab. Dieser bezeichnet den Grad an Mittelbarkeit (Distanz) und die Perspektivierung (Fokalisierung) des Erzählten. Die Narratologie unterscheidet graduell zwischen dem narrativen (mit Distanz), dem transponierten und dem dramatischen Modus (ohne Distanz) der Darstellung. Der erste Modus beschreibt eine Erzählung von Ereignissen, der letztere eine Erzählung von Worten.266 Eine Mischform bildet die transponierte Figuren- oder Gedankenrede, bei der eine Erzählstimme mit Hilfe von erlebter oder indirekter Rede das von der Figur Gesagte oder Gedachte wiedergibt. Die Kategorie des Modus macht klar, dass das Erzählte stets subjektiv gebrochen durch eine Erzählstimme ist. Auch wenn sich eine Erzählinstanz scheinbar hinter der Rede ihrer Figuren verschwindet und diese selbst zu Wort kommen lässt, bleibt sie doch im Hintergrund stets präsent. Die Stimme der Figuren ist stets eine, welche die Erzählinstanz im Munde führt. Die Liebeskommunikation, die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren ist demnach nur als ein Entwurf einer Erzählinstanz zu werten. Diese werden inszeniert, selbst wenn sie eigenständig und mithin authentisch erscheinen. Die Wiedergabe von Gedanken und Rede kann sich entweder durch eine ironisch-distanzierte Haltung der Erzählerfigur oder durch Sympathie oder durch eine neutrale Haltung gegenüber dem Geäußerten auszeichnen.267 Trotz der Einschränkung, dass jede Unmittelbarkeit 266
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Martinez und Scheffel unterscheiden zwischen »Erzählung von gesprochenen Worten« und »Darstellung von Gedanken«, d. h. von unausgesprochener, innerer Rede, Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 56. Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Conscousness in Fiction, Princeton 1978, S. 99.
stets nur inszeniert ist, ist der direkte Modus von entscheidender Bedeutung für die Darstellung der Liebe. In Liebesromanen nimmt die Darstellung von Wahrnehmungsprozessen und Bewusstseinsinhalten einen erheblichen Raum ein. Dabei ist stets zu beachten, auf welche Weise die vermeintlich wirklichen Empfindungen und Gefühle dargestellt werden. Nur bei der Erzählung von Worten, wenn die Figuren – so die Simulation – in ihrem jeweiligen Duktus direkt zur Sprache kommen, lassen sich Schlüsse auf die Rhetorik und die Grammatik der Liebe ziehen. Der Text simuliert, dass er die (innere) Rede der Figuren bis hin zu dem von ihnen verwendeten Bildmaterial ohne ordnende Eingriffe wiedergibt. Die Szenen also, in denen der Roman die Liebeskommunikation seiner Figuren sowie deren Gefühlswelten (scheinbar) unmittelbar wiedergibt, sind von besonderer Bedeutung für die Liebesanalyse. Dort lässt sich rekonstruieren, mit welchem Liebescode die Liebespartner kommunizieren und in welcher Weise sie – so der sprachlich erzeugte Eindruck – Liebe fühlen, denken und äußern. Den Modus einer Liebesdarstellung macht zweitens die Art und Weise der Fokalisierung aus. Mit ihr rückt die Frage »wer sieht« in das Zentrum des Interesses. Die Fokalisierung steuert, aus welcher Perspektive die fiktionale Wirklichkeit wahrgenommen wird. Die Fokalisierung des Erlebten inszeniert die Subjektivität und Individualität des Erfahrenen. Sie führt zur identifikatorischen Lektüre mit der jeweiligen Perspektivfigur. Auf diese Weise entsteht ein Moment der Nähe und der Einfühlung. Wenn der Leser die erzählten Ereignisse mit den Augen einer Perspektivfigur sieht, teilt er mit dieser mithin auch Sympathien und Einschätzungen. Die Narratologie unterscheidet drei Fokalisierungstypen: Nullfokalisierung (der Erzähler weiß mehr als jede Figur), interne Fokalisierung (Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiß, die Wahrnehmung bleibt an den Horizont einer Figur gebunden), externe Fokalisierung (Außensicht, der Erzähler sagt weniger, als die Figur wahrnimmt). Meist kombinieren Texte die unterschiedlichen Fokalisierungsmöglichkeiten, die Narratologie spricht dann von variabler Fokalisierung. Von besonderem Interesse sind im vorliegenden Fall die unterschiedlichen Arten der internen Fokalisierung. Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob eine Liebesgeschichte aus der Sicht des ehebrechenden oder des betrogenen Ehepartners geschildert wird, ob die Ereignisse aus der Perspektive eines Mannes oder einer Frau betrachtet werden oder ob dieselben Ereignisse – wie im polyperspektivischen Briefroman – mit Hilfe der multiplen internen Fokalisierung und des repetitiven Erzählens nacheinander aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Im letzten Fall stehen sich die unterschiedlichen Blickweisen der Liebenden auf die Liebesereignisse gegenüber. Stimme Die Frage nach der Darstellung von Liebe umspannt auf der Ebene des discours zuletzt auch die Kategorie der Stimme. Das Phänomen der Stimme, die zeitliche und räumliche Position des fiktiven Erzählers gegenüber seiner erzählten Geschichte 75
und gegenüber seinem Adressaten, ist nur ein metaphorischer Effekt.268 Jede Erzählerfigur ist nur eine sprachliche Konstruktion, eine Interpretation.269 Inwiefern die Stimme beeinflusst, auf welche Art und Weise Liebe präsentiert wird, zeigt sich anhand von vier Aspekten: Dem Zeitpunkt des Erzählens (wann wird erzählt?), dem Ort des Erzählens (auf welcher Ebene wird erzählt?), der Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen (in welchem Maße ist die Erzählerfigur am Geschehen beteiligt?) und dem Subjekt und Adressat des Erzählens (Wer erzählt wem?). Mit der Frage »Wann wird erzählt?« bekommt man den zeitlichen Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt der erzählten Liebesgeschichte in den Blick. Liegt die erzählte Liebesgeschichte aus der Sicht der Erzählinstanz abgeschlossen in der Vergangenheit, spricht man von einem späteren Erzählen. Spielt sich die Liebesgeschichte gleichzeitig zum Zeitpunkt des Erzählens ab, bezeichnet die Narratologie dies als gleichzeitiges Erzählen. Dieses Erzählprinzip inszenieren beispielsweise die Briefromane, deren Figuren ihre Erlebnisse und Gefühle unmittelbar in ihren Korrespondenzen festhalten. Liebeserlebnis und Schreibmoment sind in diesem Fall deckungsgleich. Früheres Erzählen von Liebesgeschichten findet beispielsweise statt, wenn eine Figur von einer zukünftigen Liebesbegegnung träumt oder ihr eine solche prophezeit wird. Meist handelt es sich im Fall von früherem Erzählen um Binnenerzählungen. Der Ort des Erzählens bestimmt die Präsentation von Liebe insofern, als er die Differenzierung erlaubt, auf welcher Ebene eine Liebesgeschichte erzählt wird. Eine extradiegetische Erzählinstanz entwirft im Zuge ihres Erzählens eine (intradiegetische) Liebesgeschichte. Auf der intradiegetischen Ebene kommen dann wiederum Figuren zu Wort, welche Sprechakte vollziehen oder ihre Gedanken und Gefühle formulieren und damit eine Liebeskommunikation entwerfen. Oder sie erzählen ihrerseits (metadiegetische) Liebesgeschichten, in denen wiederum Figuren auftreten, die ihrerseits Liebesgeschichten erzählen. Diese Typologisierung macht deutlich, welcher Aussageinstanz das Gesagte oder Gedachte zuzuordnen ist, und sie zeigt, dass sich in einem Roman, und wenn er nur aus einer Erzählerfigur und Figuren besteht, immer unterschiedliche Liebeskommunikationen überdecken.
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Zur rhetorischen Konstitution der Stimme im Erzähltext vgl. auch Paul de Man, Semiologie und Rhetorik, S. 49: »Der Begriff Stimme ist, auch wenn er in einem grammatikalischen Sinn gebraucht wird, wie dort, wo wir von einer passiven oder fragenden Stimme sprechen, selbstverständlich eine Metapher [...].« Zur Konstitution des Erzählsubjekts über strukturelle Merkmale des Textes vgl. auch Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main 1978, S. 49, 52, 67, 205. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch: Hans-Thies Lehmann, Das Subjekt als Schrift. Hinweise zur französischen Texttheorie. In: Merkur 7 (1979), S. 665–677, hier S. 676. Ein Roman gilt gemeinhin ohne erzählte Liebesgeschichte nicht als Liebesroman, ohne liebende Erzählinstanz aber schon. Theoretisch denkbar (aber mir nicht bekannt) ist ein Roman, der keine Liebesgeschichte erzählt, dessen Erzählinstanz aber als Liebende markiert wird und der auf diese Weise zum Liebesroman wird.
Für die Liebespräsentation ist es zugleich von entscheidender Bedeutung, inwiefern die Erzählinstanz an dem von ihm geschilderten Geschehen beteiligt ist. Steht sie außerhalb der von ihm geschilderten Liebesgeschichte und gehört sie nicht zu den Figuren ihrer erzählten Welt, handelt es sich um eine heterodiegetische Erzählinstanz. Romane konstruieren in diesem Fall meist eine korrelative oder konsekutive Verknüpfung zwischen der Erzählinstanz und ihrer Erzählung. Sie begründen, beispielsweise psychologisch oder durch die Vorgabe eines didaktischen Anliegens (»ich erzähle, um vor dem und dem Schicksal zu warnen...«), warum die Erzählinstanz ihre Liebesgeschichte überhaupt zu Gehör bringt. Tritt die Erzählinstanz als eine Figur in der von ihr erzählten Geschichte auf, bezeichnet man sie als homodiegetisch. Diese besteht sowohl aus einem erzählenden und einem erzählten Ich. Die homodiegetische Erzählinstanz hat einen direkten Erlebnisbezug zu der dargestellten Liebe, sie ist von den Ereignissen persönlich betroffen und damit auch von ihr affektiert. Das bedeutet, dass die Beteiligung der Figur als fester Bestandteil der Liebespräsentation eingerechnet werden muss – beispielsweise was die Darstellung und Bewertung von einzelnen Figuren und von ihren Taten angeht. Der Grad, wie sehr eine Erzählinstanz an dem von ihr entworfenen Geschehen beteiligt ist, lässt sich stufenweise vom neutralen Beobachter und Augenzeugen, über den beteiligten Beobachter (ein entfernter Bekannter) und die Nebenfigur (der Vater, ein Verwandter oder ein Freund der Liebenden) bis zu seinem Maximum steigern, wenn die Erzählerfigur zugleich auch die Hauptfigur ihrer Erzählung ist. In diesem Fall, in dem die Narratologie von einer autodiegetischen Erzählinstanz spricht, muss man vom höchsten Grad an Affektiert- und Betroffenheit ausgehen. Im Hinblick auf die Präsentation der Liebe ist zuletzt auch die Form zu bedenken, in der ein Liebesroman seine intradiegetische Kommunikation zwischen (imaginärem) Leser und der Erzählinstanz ausstattet. Extradiegetische Aussagesubjekte können zum einen körperlos und scheinbar unabhängig von jeder festen Bindung an Raum und Zeit bleiben. In diesem Fall sind sie ausschließlich durch ihren Akt des Erzählens (durch ihre Stimme) präsent. Die Aussageinstanz kann aber auch wie jede andere Romanfigur mit Eigenschaften ausgestattet sein. Und ihre Erzähloder Schreibszene kann deutliche Konturen annehmen. In diesem Fall ergibt sich ein detailliertes Bild der Schreib- und Erzählumstände. Zugleich können sich die Stimme entweder an einen anonymen Leser wenden, oder ihren (imaginären) Adressaten charakterisieren, sie können ihn in ein persönliches Gespräch verwickeln, oder mit kühle eines Geschäftsmannes über Fakten informieren usw. 2.2.3 Narratologische Modelle der Liebeskommunikation Die Erzählinstanz, liebend Die Überlegungen zu den beiden letzten Aspekten der Kategorie Stimme – zur Stellung der Erzählinstanz und zu ihrer Kommunikation mit dem imaginären Leser – bilden die Basis für die These, dass Liebesromane sich gerade nicht darin 77
erschöpfen, eine spezifische Liebesform auf eine bestimmte Art und Weise zu präsentieren. Vielmehr nutzen sie die Spielfläche der Narration, um auch auf der Ebene des discours Liebe zu thematisieren. Sie tun dies, indem sie ihre (extradiegetische) Erzählinstanz als liebende Figur inszenieren. Dass dies häufiger der Fall ist, als es in der Forschung bislang beachtet worden ist, liegt nahe. Denn »erzählt werden die meisten Romane nicht von geschlechtslosen Stimmen, sondern von weiblichen oder männlichen Erzählinstanzen.«270 Wo Geschlechterfragen eine Rolle spielen, wäre es kurzsichtig, die Geschlechterbeziehungen auszublenden. Tritt eine Erzählerfigur, egal welchen Geschlechts, in Kontakt mit anderen Figuren, sind Sympathie und Antipathie, sind Emotionen und Gefühle und sind letztlich Hass und Liebe nicht weit. In Liebesromanen – so meine These – ist Liebe die meistgebrauchte Motivation des Erzählens. Liebesgeschichten werden aus oder in Hoffnung auf Liebe erzählt.271 Zu einem Liebesverhältnis gehören mindestens zwei. Wen also liebt die Erzählinstanz? Erstens kann die Erzählinstanz eine Figur (oder mehrere Figuren) ihrer erzählten Welt lieben. Und zweitens kann sie sich in Liebe oder Freundschaft dem (fiktionalen) Leser zuwenden und seinen Rezipienten in eine Liebeskommunikation einbinden, die ihrerseits noch einmal einem eigenständigen Code folgt. Man kann daher Nünnings oben zitierte Aussage in Bezug auf Liebesromane spezifizieren: Erzählt werden Liebesromane nicht nur von männlichen oder weiblichen Erzählfiguren, sondern diese sind ihren Figuren und ihren Zuhörern entweder freundschaftlich oder in Liebe verbunden – wobei diese Beziehungen keineswegs heteronormativen Regeln unterliegen müssen. Statten Romane ihre erzählende Figur als Liebende aus, so erzählen sie auf der Ebene des discours eine eigenständige Liebesgeschichte. Das ist auch dann möglich, wenn auf der Ebene der histoire überhaupt keine Liebe thematisiert wird, es sich im traditionellen Sinne also überhaupt
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Ansgar u. Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 1. Selbst wenn das Geschlecht bei einer heterodiegetisch-extradiegetischen Erzählinstanz offen bleibt, weist eine Großzahl der Leser dieser Erzählinstanz doch eines der beiden Geschlechter zu. Und zwar richten sie sich dann entweder nach dem Geschlecht des Autors/der Autorin oder sie gehen heteronormativ vor und bewerten, wie das Verhältnis zur dargestellten Figur vermeintlich ist. Gaby Allrath u. Carola Suhrkamp, Erzählerische Vermittlung [...]. In: Ansgar u. Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 143– 179, hier S. 150 f . Als Liebende kann eine Erzählinstanz entweder über ihre eigenen Aussagen, welche ihr Aussehen, ihre erlebte Welt etc. betreffen, oder nur indirekt, über die Art ihrer Präsentation und, wie sie sich ihrem Leser zuwendet. So können sich die verschiedenen Informationen über eine Figur, die Leser im Rezeptionsprozess erhalten, einerseits zu einem detaillierten Eindruck der beschriebenen Figur ergänzen, sie können aber auch – weil jede Figurencharakterisierung als subjektiv gebrochen zu konzeptualisieren ist – zugleich auch als eine implizite (oftmals als unbewusst inszenierte) Selbstcharakterisierung der Aussageinstanz gelesen werden. Wie eine Erzählinstanz u. a. die Aussagen ihrer Figuren in Szene setzt und wie sie diese beurteilt, lässt Rückschlüsse auf ihren eigenen Charakter und ihre Gefühle zu.
nicht um einen Liebesroman handelt. Wann immer aber eine Erzählinstanz liebt, prägt dieses Verhältnis nachhaltig sowohl die Art und Weise, wie sie ihre Geschichte präsentiert, als auch das, was sie überhaupt erzählt. Das betrifft Zeit und Modus der Darstellung und reicht bis zur Charakterisierung der einzelnen Figuren, ihrer Handlungen, Gedanken und Gefühle. Erzählt wird in diesem Fall wie durch einen Schleier der Liebe, der über dem gesamten Roman liegt. Ob und auf welche Weise eine Erzählinstanz eine Liebeskommunikation mit ihren Figuren oder ihrem Leser etabliert, muss in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text erarbeitet werden. Zum Abschluss der systematischen Überlegungen aber stelle ich zumindest die wesentlichen (narratologischen und rhetorischen) Techniken vor, mit denen Liebesromane ihre imaginären Leser in ein Liebes- und Verführungsspiel einbinden. Meine Ausgangsthese lautet, dass in Liebesromanen die Kommunikation mit dem Leser weit darüber hinaus geht, ihn nur davon zu überzeugen, dass er die dargestellten Liebesgefühle nachvollziehen und übernehmen soll.272 Wer darin das poetische Programm von Liebesromanen aufgehen sieht, der setzt zu einseitig auf die ratio. Vielmehr beziehen Liebesromane auch die Emotionen ihrer Leser ein. Sie entwickeln neben den semiologischen auch narratololgische und rhetorische Strategien, um ein Liebesverhältnis zu ihren Lesern zu entwickeln.273 Erneut konstituiert sich Liebe über ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Erst wenn sowohl Lust und Leidenschaft als auch das Einfühlungsvermögen und das Verständnis für den Anderen geweckt wird, kann man von einer Liebesbeziehung sprechen. Vier Liebesstrategien stelle ich im Folgenden vor, denen eine narratologische Analyse besondere Aufmerksamkeit schenken sollte. Wichtig ist, dass die beschriebenen Textphänomene, welche die Liebeskommunikation zwischen Leser und Text steuern, sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der des discours zu finden sind. Auf der Ebene der histoire gibt der Romantext erstens seinem imaginären Leser vor, wie dieser sich in die liebenden Figuren einfühlen und seine Handlungen nachvollziehen soll. Zweitens übt allein schon die Tatsache, dass in Liebesromanen eben Liebe inszeniert wird, einen Reiz auf die Leser aus und affektiert sie. Mit der dritten und vierten Textstrategie, die ich vorstelle, wende ich mich der Rhetorik zu. Wenn man die Verführungsstrategien eines Liebesromans hinsichtlich seines Lesers analysiert, führt selbstverständlich kein Weg an der Affektentheorie der Rhetorik vorbei. Nahe liegender Weise entfaltet schon Thomas Anz den Zusammenhang von
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Simone Winko, Kodierte Gefühle, S. 143. Vgl. dazu Friedrich von Blanckenburgs Aussage: »Es ist das Geschäft des Dichters, durch die Erregung der Leidenschaften seiner Leser, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Empfindungen in dem gehörigen Maaß, und für solche Gegenstände auszubilden, die es werth sind, uns in Bewegung zu versetzen.« Ders., Versuch über den Roman, S. 424. Nach Blanckenburg macht das Einüben der Leidenschaften den Meister: »Uebung macht stark.« Ebd., S. 425.
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Literatur und Lust aus »der Tradition der Rhetorik und der ihr nahen Poetik«.274 In dieser Tradition »verband sich das Wissen über Möglichkeiten des Stils und der Textstrukturierung mit der Affektenlehre. Deren Leitfrage lautet: Wie stimuliert man mit bestimmten Kunstgriffen bestimmte Affekte im Zuhörer?«275 Um diese Stimulanz geht es, wenn ich drittens darstelle, wie ein Text Spannung erzeugt und den Leser damit an seine Erzählung fesselt. Diese Verführungsrhetorik, die vor allem Lust erzeugt, ist in erster Linie von der Ordnung der erzählten Ereignisse und damit vom discours abhängig. Viertens schließlich kommt den Tropen und unter diesen vor allem der Allegorie und der Metonymie eine entscheidende Funktion zu. Denn diese erzeugen im Leser jenes Begehren, von dem bereits im Rahmen der semiologischen Liebe die Rede war. An diesem Punkt stellt die Narratologie der Liebe eine direkte Verbindung zur semiologischen Liebe her. Je nachdem, in welcher Weise ein Liebesroman diese vier Strategien einsetzt, affektiert er seinen Leser mit einem Wechselbad der Gefühle, das zwischen Lust, Wollust, Begehren oszilliert. Das Gefühl ist verschränkt mit der performativen Aufforderung an den Leser, den Text rational zu begreifen. Auf diese Weise konzipieren Liebesromane das Text-Leser-Verhältnis als eine Liebesbeziehung, die komplementär zur semiologischen Liebe strukturiert ist. In diesem Fall besteht zwischen der pragmatischen Ebene des Textes und seiner semantischen Ebene ein Analogieverhältnis: Beide weisen die Liebe als zentrales Merkmal auf. Der Liebesroman setzt sich auf diese Weise in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst. Er reflektiert sich im Medium der Liebe.276 Lieben stellt somit eine vom Text evozierte Rezeptionshaltung dar. Beide lassen sich gegenseitig metaphorisch ersetzen.277 Liebe dient unter diesen Umständen als Lemma, um neue Rezeptionsweisen einzuüben, um neu über die Konstitution von Liebe und von Liebesromanen zu reflektieren. Das Einfühlen in die Figuren und in die dargestellten Ereignisse Inwiefern Liebesromane ihren imaginären Leser in die Position eines Liebenden versetzen, lässt sich zunächst anhand der Frage darstellen, wie die Liebesromane ihre Handlung motivieren. Texte können ihr Geschehen entweder final oder kausal motivieren, sie führen die Ereignisfolgen entweder auf numinose oder auf empirische Erklärungen zurück. Im Fall von Liebesromanen herrscht, das liegt an der seit dem 18. Jahrhundert anthropologischen Ausrichtung des literarischen Liebesdiskurses (vgl. S. 61 dieser Studie), die kausale Motivierung vor. Matias Martinez und Michael Scheffel weisen darauf hin, dass »die Motivation der Ereignisse [...] im Text selten explizit ausgesprochen [wird].«278 In diesen Fällen von Unbestimmtheit 274 275 276 277 278
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Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 155. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 155. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 123. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 123. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltextanalyse, S. 112.
konkretisiert der Leser selbstständig die Motivation für die erzählte Handlung. Er setzt eine implizite Motivierung der Ereignisse voraus und fügt die nicht prädikativen Eigenschaften der erzählten Welt eigenständig hinzu, und zwar, indem er sie (kausal) aus der Charakterisierung der beteiligten Liebespartner ableitet. Er führt jede Zustandsänderung darauf zurück, dass die Liebenden ihre Handlungsabsichten realisieren. Wenn der Leser die (dargestellten) Liebenden derart intensiv beobachten muss, wenn er sich emphatisch in ihr Denken und Fühlen eindenken und -fühlen muss, um ihre Handlungsmotivation zu erschließen, dann funktioniert die Lektüre nach den Funktionsprinzipien individualisierter Liebe.279 So konstatiert Luhmann, die romantische Liebe definiere sich durch die Einbeziehung von grenzenlos steigerbarer Individualität, »dadurch, dass die Liebe sich immer neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zu Grunde legt.«.280 Die »aufwendige und prekäre Kommunikation« zwischen Liebespartnern beruht somit auf unablässiger Beobachtung, wobei der Liebende verpflichtet ist, sich in dessen Gedanken und Gefühle einzufühlen.281 Er muss die Wünsche und Sehnsüchte des anderen erschließen, »alles Verhalten des Anderen (und wiederum: in Wechselseitigkeit) als Handeln«282 auslegen und das Handeln kausallogisch verrechnen. Um das Intimsystem auf diese Weise zu stabilisieren, steht der Liebende vor einer doppelten Herausforderung. Er muss aus dem Erleben, das heißt, aus der Art, wie der Andere seine Umwelt wahrnimmt und die einzelnen Eindrücke verarbeitet, die Motivierung des Handelns erschließen, also die Art, wie der Andere das System aktiv verändert283 – und umgekehrt. Zugleich gilt es in der Liebe, das Erleben des anderen stets in dessen und in das eigene Handeln einzukalkulieren. Der Liebende muss die Welt durch einen anderen wahrnehmen und so »die Konkretheit und Einzigartigkeit des Individuums zum universalistischen Prinzip erklären.«284 Äquivalent dazu verhält sich auch der Leser gegenüber der im Roman liebenden Figur. Einen Liebesroman zu lesen, bedeutet in diesem Fall, sich der dargestellten (liebenden) Figur zuzuwenden wie ein Liebender einer Geliebten. Der Leser ist gefordert, das Erleben der Figuren zu ergründen, um es als Grundlage ihres Handelns zu verrechnen und so durch ihre Augen hindurch die entworfene Diegese betrachten zu können. Zu erwarten ist, dass Liebesromane dieses Einfühlen und -denken besonders zielgerichtet gestalten und exzessiv herausfordern, dass sie unüberschaubare Handlungssituationen konstituieren, um sie aus den Bewusstseinszuständen ihrer Protagonisten zu begründen. Im Zuge der Liebesanalyse ist daher besonders
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Zu dieser Form des Welterlebens als Liebe vgl. Alain Badiou, Lob der Liebe, Wien 2011, S. 24 Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 31. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 31. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 31. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 167.
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zu beachten, wie der Liebesroman den Zusammenhang zwischen Handlungsmotivation und Figurenpsychologie ausgestaltet. Thematisierte Liebe als Mittel zur Affektübertragung Zudem zielt die dargestellte Liebe darauf ab, dass der Leser von dem literarischen Vorbild die Muster der dargestellten Liebeskommunikation und der präsentierten Liebesgefühle übernimmt. Liebesromane legen es darauf an, die Art und Weise, wie man liebt oder nicht liebt, auf ihre Leser zu übertragen.285 Der Leser wird durch die Konfrontation mit der Liebe, deren Rede- und Schreibweise er im Zuge der Lektüre einübt, in die Liebeskommunikation einbezogen. Er muss sich in den Liebesdiskurs einfinden, und wird so gleichsam in Liebe versetzt. Das geschieht selbstverständlich nicht ausschließlich mittels der Verstandestätigkeit. Vielmehr zielen Liebesromane mit ihren Liebesszenen – im Anschluss an die klassische Rhetorik – darauf ab, die Liebesgefühle affektiv auf ihre Leser zu übertragen. Diese direkte Wirkung dargestellter Liebe ist wohl genau so alt wie die Liebesliteratur selbst. Die Erregung von Affekten durch unmittelbare Anschauung einer Handlung war um 1800 in Folge von Lessings ›Hamburgischen Dramaturgie‹ nicht nur für die Tragödie und damit für die Bühne verbindlich, sondern Friedrich von Blanckenburg nimmt diese Rezeptionsästhetik und -praxis auch für den Liebesroman in Anspruch. In seinem ›Versuch über den Roman‹ macht er unmissverständlich klar: Daher hat sie [die dargestellte Liebe, C. M.] einen so mächtigen Reiz, der beinahe bis zum Erhabenen geht. [...] Und die süßen Träume von künftiger Glückseligkeit, die entzückenden Hoffnungen, womit sich alle Liebhaber, vor dem Besitz ihrer Geliebten, unterhalten, als ihnen jene Freuden durch diese zugeführt werden würden, sind es, die den Leser so sehr hinreißen.286
Die dargestellten Liebesgefühle reißen den Leser zur Liebe hin. Aus Blanckenburgs Bemerkung geht zugleich aber auch schon hervor, dass ein Roman, der dauerhaftes Liebesglück darstellt, beim Leser keine Sympathie, im Sinne eines Mitfühlens, sondern Gelächter hervorruft.287 Denn diese Harmonie widerspreche der »Natur der Verbindungen« und der der »Personen, die sich verbinden«.288 Sie verstößt gegen die von ihm geforderte Wahrscheinlichkeit des Dargestellten. Deshalb konstatiert Blanckenburg, dass der Leser nicht durch die Entzückungen der Liebe, sondern »durch die, mit ihnen verknüpfte Furcht und Hoffnung in Bewegung gesetzt wird. [...] Die mehr, oder weniger bessere Verbindung dieser zwen
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Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 142–174. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 47. Friedrich Blanckenburg, Über den Roman, S. 179. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 179. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 180.
Leidenschaften mit der Liebe ist es also, die den größten Teil des Reizes erzeugt, der uns so sehr hinreißt.«289 Die ansteckende Wirkung von Liebesromanen ist um 1800 unbestritten. Diskutiert wird nur über die Dosis und die Art der Liebe, welche den Lesern zugemutet werden darf, ohne deren Seelenheil zu gefährden. Blanckenburg beispielsweise warnt vor der »Gefahr platonisierender und romantischer Darstellung der Liebe«,290 welche die wahre Natur der Liebe verschweige. Blanckenburg kritisiert unter dem Schlagwort romantischer Liebe nicht etwa das, was wir heute gemeinhin darunter verstehen, sondern vielmehr die Idealisierung der Liebe,291 aufgrund derer alles Sinnliche verschwiegen werde: In unseren Romanen erscheint die Liebe gewöhnlich so engelrein, so unkörperlich, so geistig, daß nichts darüber gehen kann. Aber man rede noch so feyerlich von dauernder Unschuld, man platonisiere noch so zauberisch [...] der Roman endigt sich immer , und muß sich immer, bey den Voraussetzungen, daß wir Menschen sind, mit einer Hochzeitnacht endigen. In der Natur führt die Liebe gewiß dahin.292
Blanckenburg will »die Wahrheit und Natur in ihre Rechte wieder einsetzen,«293 und das bedeutet für ihn: die sinnliche Liebe darf nicht ausgespart werden. Denn jeder Dichter »bedenke, daß er die Wahl hat, entweder Verführer oder Lehrer seiner Leserinnen zu werden, wenn er gleich dies letztere nicht, ohne Wahrheiten zu sagen, werden kann.«294 Wer lehren will – so das aufklärerische Authentizitätsdogma – muss die sinnliche Liebe schildern. Um eine um 1800 wirkungsmächtige Gegenposition ins Feld zu führen: Jean Paul beschreibt in seiner ›Vorschule der Ästhetik‹, dass die dargestellte sinnliche Liebe im Betrachter von Kunstwerken einen regelrechten Widerstand auslöse, der jeden reinen Kunstgenuss verhindere: »Es gibt zwei Empfindungen, welche keinen reinen freien Kunstgenuß zulassen, weil sie aus dem Gemälde in den Zuschauer hinabsteigen und das Anschauen in Leiden verwandeln, nämlich die des Ekels und die der sinnlichen Liebe.«295 Kunst hat in Jean Pauls Augen unbedingt darauf zu verzichten, Ekel und sinnliche Liebe darzustellen. Und zwar gerade weil Jean Paul ihnen eine extreme Wirkung zuschreibt. Welcher ästhetischen Position ein Liebes-
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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 180. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 479–488. Eine weitere »Falschheit« in der Liebesdarstellung, so Blanckenburg, besteht darin, Charaktere zu entwerfen, »denen man ganze Jahre hindurch kein ander Geschäft giebt, und dies Geschäft ihnen, als Verdienst anrechnet, – als Liebe, und Liebe! In der Natur ist dies schlechterdings unmöglich.« Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 483. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 480. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 482. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 482. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 427 (hier zitiert nach Winfried Menninghaus, Ekel, S. 203).
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roman sich auch anschließt, um zu analysieren, welche Gefühle er auf seine Leser überträgt, ist darauf zu achten, welche Art der Liebe er in welchem Modus darstellt, und welche er auslässt (vgl. Ellipse, Ordnung). Spannung Von Blanckenburgs Feststellung, dass sich die Leidenschaften der Furcht und Hoffnung mit der Liebe verbinden müssen, um den Leser emotional zu bewegen, lässt sich eine Brücke zur Ordnung der Erzählung schlagen. Über die Ordnung ihrer Liebesgeschichte und die kalkulierte Vergabe von Informationen an den Leser erzeugen die Romane gezielt Überraschung, Neugier und Spannung.296 Alle drei dienen zur Affektübertragung auf den Leser. Bereits Blanckenburg weist darauf hin, dass der Leser einem Wechselspiel von Anspannung und »entspannten« Sequenzen auszusetzen sei: Es ist nicht möglich, daß wir immer empfinden könnten, so thäte der Dichter Unrecht, uns einem fort anzuspannen, weil die Empfindungen selbst, die er in uns zuletzt würde erzeugen wollen, darunter leiden müßten; wir würden erschlaffen, und des Grades der Spannung nicht mehr fähig seyn.297
An diese Spannungsführung knüpft stellvertretend für die jüngere Wirkungstheorie auch Thomas Anz an.298 Die Rhetorik, so Anz, habe ihren Spannungsbegriff mit Hilfe ihrer Handlungsstruktur (ordo artificialis), und noch genauer anhand der Metabasis, dem Wechsel von Glück zu Unglück oder von Unglück zu Glück, entfaltet: »Für sie ist ›Spannung‹ eine mit Hoffnung und Furcht, mit spes und metus des Zuschauers spielende Ausprägung der Metabasis.«299 Den in diesem Kontext entscheidenden Kunstgriff vollzieht Anz, indem er darauf hinweist, dass spes eben nicht nur mit Hoffnung, sondern auch mit Begehren zu übersetzen sei. Mit diesem Hinweis schließt Anz die Wirkung, die durch die Spannung erzeugt wird, direkt mit dem Liebesdiskurs kurz.300 Der Kreis zwischen Blanckenburgs Kopplung von Liebe und Hoffnung schließt sich insofern, als die Hoffnung selbst nun als Teil der Liebesgefühle zu identifizieren ist.301 An den Spannungsbegriff knüpfen wie-
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Zur Affektenlenkung und zum kognitionspsychologischen Ansatz der Narratologie vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 149–153. Friedrich Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 420. Zu Blanckenburgs anthropologischer Legitimation, warum »die Erregung unserer Leidenschaften zu unserer Bestimmung« gehört, vgl. Ders., S. 423f. Zu Spannung und Lust vgl. Thomas Anz, Literatur und Lust, 5. Kapitel, Spannungskunst und Glückstechniken, S. 150–172. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 164f. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 164. Anz bezieht sich in diesem Kontext zunächst auf Otto Ludwigs Romanstudien. Dieser hat den literarischen Techniken zur Spannungserzeugung folgende Wirkung zugeschrieben: »Wir [die Leser, (C. M.)] werden gewonnen, etwas leidenschaftlich zu begeh-
derum die Paradigmen semiologischer Liebe an. Denn Anz beschreibt an dieser Stelle nichts anderes, als was Roland Barthes mit seiner »Lust am Text« bezeichnet hat.302 Die Spannungsführung entpuppt sich als eine narrative Konkretisierung des semiologischen Lustmodells (vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Studie). Zu beachten ist also, welche Art der Spannungsführung ein Liebesroman entwirft. Legt er es darauf an, ob überhaupt ein bestimmtes Ereignis eintritt (ob-überhaupt-Spannung),303 oder er lässt er allein offen, auf welche Weise sich eine bestimmte Gegebenheit einstellt (Wie-Spannung)304 und inwiefern er Spannung und Überraschung über eine ungleiche Informationsvergabe inszeniert.305 Damit ist es beinahe überflüssig zu erwähnen, dass es Liebesromane – und vor allem die wild wuchernden romantischen Liebesromane – gezielt darauf anlegen, das von Blanckenburg geforderte Maß von Spannung zu überschreiten oder zu unterlaufen und so die Lust am Text, in Wollust und Begehren (oder auch in Langweile) umschlagen zu lassen. Diese Texte entwickeln Poetiken der Kontingenz, sie inszenieren die Zufälligkeit und Planlosigkeit. Sie unterbrechen den ordo artificialis ihrer Handlungen. Das entscheidende rhetorische Mittel ist in diesem Zusammenhang die digressio, die Abschweifung.306 Diese inszeniert das Begehren, indem sie die erzählte Geschichte unterbricht, um sie anschließend gerade nicht »wieder geschickt und elegant zur Sache führ[t]«,307 um die es eigentlich geht.308 Tropen Eine besondere Rolle spielen im Zuge der Liebeskommunikation zwischen Liebestext und Leser die Tropen. Dass Metaphern und Metonymien auf der Ebene der histoire dazu dienen, Gefühle und Gedanken sprachlich zu präsentieren, habe ich
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ren.« Ludwig fungiert in Anz’ Argumentation als eine Art Statthalter für Freud. Wie bei diesem die literarische Produktion aus dem Mangel des Begehrens entspringt, so gründet nun auch die Lektüre in eben diesem Lustprinzip. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 164. Wenn Barthes letztlich auch eine eigene Lust empfindet, wenn er den Realitätseffekt einer beschriebenen Wäscheleine genießt, dann kehrt sich diese Ruhepause in der Spannungsführung in eine zweite Lust am Text um. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 157. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 158f. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 157. Zur Narratologie der Kontingenz vgl. Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 25ff. Zur Gefahr der digressio innerhalb der Rede vgl. Marcus Tullius Cicero, De oratore, übers. u. hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1991, III, 203, S. 575. Zu demselben Effekt vgl. Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart und Weimar 1996, S. 193. In diesem Zusammenhang spielt auch das unzuverlässige Erzählen eine entscheidende Rolle. Dieses wird der Erzählinstanz von den Lesern zugeschrieben, weil der Text inkohärent ist. Es trifft also auf Texte zu, die ihre Spannung und damit auch ihre Lusteffekte gezielt stören, gegen einen Mangel ersetzen und so Begehren initiieren.
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bereits beschrieben. Aber auch auf der Ebene des discours tragen bestimmte Tropen insofern eine entscheidende Funktion, als sie als Strategien semiologischer Liebe zu operationalisieren sind. Sie setzen exakt die Doppelstruktur von Sinnkonstitution und -entzug in Gang, die Kristeva als Liebesspiel identifiziert (vgl. Kapitel 2.1.3). Sascha Michel hat im Rückgriff auf de Man zum einen und auf Roman Jakobson zum anderen gezeigt, dass es vor allem die Allegorie und die Metonymie sind, welche eine »Neigung zum Narrativen« aufweisen.309 Michel macht diese konstruktive Leistung anhand von Quintilians berühmter Definition der Allegorie fest: Die Allegorie [...] stellt einen Wortlaut dar, der entweder einen anderen oder gar zuweilen den entgegengesetzten Sinn hat. Die erstere Art erfolgt meist in durchgeführten Metaphern, so etwa ›Schiff, dich treibt die Flut wieder ins Meer zurück! Weh, was tust du nur jetzt! Tapfer dem Hafen zu‹ und die ganze Stelle bei Horaz, an der er Schiff für das Gemeinwesen, Fluten und Stürme für Bürgerkriege, Hafen für Frieden und Eintracht sagt.310
Indem die Allegorie der Textstruktur – qua Wiederholung – Ordnung verleiht und innerhalb der erzählten Zeit eine histoire mit Anfang, Mittelteil und (dem Telos des) Happy-End ausbildet, erfüllt sie zum einen die hermeneutisch-strukturalistischen Lust und Liebe (vgl. S. 32ff.).311 Da der Allegorie zum anderen aber ein Kontingenzeffekt zu eigen ist, erzeugt sie jene »vorsätzliche Dissemination«, von der bereits die Rede war.312 Auf diese »andere Seite« der Allegorie mit ihrer Tendenz zur »sprachlichen Wucherung«313 weist ebenfalls bereits Quintilian hin: »Wie aber maßvoller und passender Gebrauch der Metapher der Rede Glanz und Helle gibt, so macht ihr häufiger Gebrauch sie dunkel und erfüllt uns mit Überdruß, ihr dauernder Gebrauch aber läuft schließlich auf Allegorie und Rätsel hinaus.«314 Hebt Quintilian noch den Überdruss hervor, den die sprachliche Wucherung hervorrufe, stellt in Nachfolge poststrukturalistischer Theorie die sinnstreuende, verrätselnde Seite der Allegorie eine Verbindung zur zweiten Seite semiologischer Liebe her. Ihre tropologischen Kontingenzeffekte lassen sich im Kontext der zuvor entwickelten Liebeskommunikation als Strategien der Begehrens und der Wollust spezifizieren. Sie provozieren diese, indem sie durch sprachliche Wucherung die Konstruktion einer eindeutigen histoire durchkreuzen.
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Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 34ff. Quintilianus, Ausbildung des Redners, Buch VIII, S. 237. Zur ästhetischen Motivierung in Erzähltexten vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltextanalyse, S. 114f. Zugleich ist daher die allegorische Reflexion und Erzählweise auch eine Vernunftkritik, sie führt Disparatheit und Brüchigkeit von Sprache vor und zeigt dass jede Bedeutungssetzung nur eine vorläufige ist. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1988, S. 246. Heinz J. Drügh, Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Freiburg i. Br. 2000, S. 11. Quintilianus, Ausbildung des Redners, Buch VIII, S. 223.
Dieselbe Doppelstruktur zeichnet auch die Metonymie aus. Betont Jakobson in erster Linie die Ordnungseffekte, welche die metonymischen Brücken erzeugen, macht die poststrukturalistische Literaturtheorie die »Kontiguitäts- und Kontingenzbeziehungen«, welche die Metonymie stiftet, dafür verantwortlich, dass »jede Figur, die Beständigkeit, Notwendigkeit und Unmittelbarkeit der Bedeutung und Anschauung verspricht«,315 dementiert wird. Auch die Metonymie erzeugt also jenes Doppelspiel aus hermeneutisch-strukturalistischer Lust und Liebe sowie aus Wollust und Begehren, das nur noch eine nachträgliche Darstellung des Liebesideals möglich erscheinen lässt.316 Liebe zu erzählen, ist damit zuletzt auch als ein Erzählen zu bestimmen, das mit Hilfe von tropologischen Strategien semiologische Liebe erzeugt. 2.2.4 Fazit Im Anschluss an die vorherigen systematischen Überlegungen lässt sich literarische Liebe als ein komplexes Konstrukt unterschiedlicher Textphänomene beschreiben. Der Liebescode, wenn man bei dem Grad an Komplexität überhaupt noch den Singulativ verwenden darf,317 konstituiert sich im Zusammenspiel der thematisierten Liebe auf der Ebene der histoire, aus der Form ihrer Präsentation sowie aus der Art, wie auf der discours-Ebene Liebe noch einmal thematisiert wird. Sie wird darüber hinaus im Zuge des semiologischen Liebesspiels generiert. Es steht demnach außer Frage, dass dieser hochkomplexe Liebescode sich seinerseits diachron verändert. Zur Ausstattung einer narrativen Liebessemantik gehört damit nicht zuletzt auch, wie sich ganze literarische Gattungen und Formtraditionen entwickeln.318 Deutlich wird dies beispielsweise in der Verschiebung vom polyperspektivischen Briefroman der Empfindsamkeit zum (überwiegend) auktorial erzählten Liebesroman der Ro-
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Werner Hamacher, Lectio. De Mans Imperativ. In: Ders., Entferntes Verstehen, Frankfurt am Main 1998, S. 151–194, hier S. 161. Wie zuvor schon anhand von Lacans Theorie gezeigt, geht die poststrukturalistische Literaturtheorie sogar so weit, die Kohärenz, welche die Metapher erzeugt, als ein Trugbild zu identifizieren. Wenn die Metapher sich aber nicht mehr auf ein solches Versprechen reduzieren lässt, wenn man die vertikale Achse paradigmatischer Beziehungen auf die horizontale Achse metonymischer Beziehungen umklappen kann, dann vereinen sich auch in der Metapher die beiden Seiten semiologischer Liebe. Angesichts der entworfenen Komplexität ist es wahrscheinlicher, dass der Liebescode eines Romans kein einheitlicher ist, sondern sich heterogen aus unterschiedlichen Codes zusammensetzt. Zur narrativen Liebe gehört ebenfalls der Einsatz von oder der Verzicht auf Herausgeberfi ktionen, sowie die Gestaltung von Widmungen, Titeln und anderen Paratexten. So beginnt Hölderlins Vorrede zum ›Hyperion‹: »»Ich verspräche gerne diesem Buch die Liebe der Deutschen.« Friedrich Hölderlin, Hyperion, Gesammelte Werke, hg. von Winfried Barners, Frankfurt/M., S. 324. Vgl. hierzu Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfi ktion: Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, München 2007.
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mantik. Der Liebescode verschiebt sich mit der »Lesbarkeit eines Kunstwerks«, das an »jeweils geltende ästhetische Konventionen gebunden«319 ist. Erst wenn man das Zusammenspiel dieser Ebenen im Blick behält, kann man von einem Liebecode sprechen, den ein Liebesroman konstituiert. Noch ein Schluss lässt sich aus den vorherigen Überlegungen ziehen. Das Entfalten des narratologischen wie semiologischen Liebesfeldes, erlaubt es, unterschiedliche Liebesromantypen zu differenzieren: 1. Thematische Liebesromane, in denen Liebe auf der Ebene der histoire eine entscheidende Rolle spielt. 2. Liebesromane, die ausschließlich ihre extradiegetische Aussageinstanz als eine Liebende figurieren oder/und in ein Liebesszenario einbinden. Diese Liebesromane inszenieren Liebe auf der Ebene des discours, verzichten aber auf der Ebene der histoire darauf. 3. Liebesromane, die Liebe auf beiden Erzählebenen inszenieren. 4. Romane, die zusätzlich ihren (imaginären) Leser in ein Verführungs- und Liebesspiel einspinnen, und dazu (u. a.) gezielt Strategien semiologischer Liebe verwenden. Erst diese Romane schöpfen die gesamte Palette der verfügbaren Möglichkeiten aus, um Liebe zu inszenieren. Erst sie gehen in ihrer Gesamtkonstruktion in Liebe auf, erst sie sind demnach komplette Liebesromane. 2.3
Historische Verortung des Projekts und Auswahl des Primärtextes
Haben die bisherigen Überlegungen das Feld der Liebesanalyse methodisch definiert, so wirkt an dieser Stelle die Art, wie sich die vorliegende Arbeit systematisch situiert, zurück auf die Verfahrensweise der Liebesstudie. Das narratologische-semiologische Erkenntnisinteresse gibt den Rahmen für die weitere Vorgehensart vor. So fordert die Komplexität des Textmodells »Liebe« wohl unausweichlich ein close reading. Um die narrativen und semiotischen Textverfahren literarischer Liebe zu analysieren, ist es zumindest ratsam, sich intensiv mit einzelnen Liebesromanen auseinanderzusetzen. Ausschließlich in einer akribischen Einzelstudie ist es möglich, das per se kleinteilige und fein aufeinander abgestimmte Zusammenspiel einzelner Textstrategien in den Blick zu bekommen. Um dem Phänomen »literarische Liebe« gerecht zu werden und die Lücke der bisherigen Liebesforschung nicht nur systematisch, sondern darüber hinaus auch in der analytischen Arbeit am literarischen 319
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Zum Problem der »Lesbarkeit eines Kunstwerkes«, die sich für ein bestimmtes Individuum in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit nach der Distanz zwischen dem »Emissionsniveau« des Werks, und dem geeigneten »Rezeptionsniveau« bemisst, vgl. Pierre Bourdieu, Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, übersetzt von Wolf H. Fietkau, Frankfurt am Main 1970, S. 159–201, hier S. 177. Dass ein Kunstwerk an jeweilige ästhetische Konventionen gebunden ist, betont auch Umberto Eco: Ders, Die ästhetische Botschaft, übersetzt von Jürgen Trabant. In: Dieter Henrich u. Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main 1982, S. 404–428. Den Zusammenhang dieser ästhetischen wie soziologischen Überlegungen zur Narratologie stellen Martinez und Scheffel her. In: Dies., Einführung in die Erzähltheorie, S. 19.
Text zu schließen, beschränkt sich die vorliegende Studie konsequent auf einen Liebesroman und widmet sich ausschließlich der Liebe in Achim von Arnims ›Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores‹. Mit ihrer Vorgehensweise verschiebt die vorliegende Studie gezielt den Akzent literaturwissenschaftlicher Liebesforschung: Nachdem diese in den letzten Jahren durch den diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Weitblick geprägt wurde, macht die narratologische Perspektive wieder den einzelnen literarischen Text stark und sieht ihre Aufgabe darin, sich intensiv mit dessen Strukturen und Verfahren auseinander zu setzen. In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit als ein Plädoyer dafür zu lesen, über dem kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresse nicht den narratololgischen und semiologischen Blick auf die literarische Liebe und ihre Schreibweisen zu vergessen. Aus der Überzeugung, dass erst die Vermittlung kulturwissenschaftlicher und narratologischer Fragestellungen der literarischen Liebe gerecht werden kann, tritt sie bewusst vom kulturwissenschaftlichen Konsens einen Schritt zurück, um einen neuen, narratologischen Blick auf die literarische Liebe zu werfen. Allerdings wirft die Diskrepanz zwischen einer umfassenden Systematik zur narratologischen Liebe einerseits, und einer Textanalyse, die sich auf einen einzelnen Liebesroman konzentriert, andererseits umgehend die Frage nach der Textauswahl auf. Warum also muss es mit Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹ gerade ein romantischer Liebesroman sein? Und weshalb ausgerechnet dieser? Inwiefern ist dieser Liebesroman prädestiniert, um an seinem Beispiel eine narratologische Liebesanalyse zu erproben? Die Fragen sind berechtigt, und ich beantworte sie in zwei Argumentationsschritten. Zuerst stelle ich dar, warum ein romantischer Liebesroman in besonderer Weise für die vorliegende Liebestudie geeignet ist. Daraufhin begründe ich, warum die Wahl aus der unüberschaubaren Masse romantischer Liebesromane ausgerechnet auf Arnims ›Gräfin Dolores‹ gefallen ist. Das erste Kriterium für die historische Eingrenzung des Themas ist in den systematischen Vorüberlegungen bereits angelegt. Sich auf die romantische Liebe zu fokussieren, legitimiert sich aus den Bedingungen, welche die Liebesforschung der vergangenen Jahre vorgibt. Da die kulturwissenschaftliche und diskursanalytische Liebesforschung die romantische Liebessemantik so gut wie keine andere erforscht hat, bietet sich dort besser als irgendwo anders die Möglichkeit, an die bislang gewonnenen Erkenntnisse anzuknüpfen, sie für das eigene Erkenntnisinteresse fruchtbar zu machen und sie gezielt durch die eigene narratologische Perspektive zu ergänzen. Man kann diese Überlegung noch zuspitzen: Nur weil die Forschung die romantische Liebe in den letzten Jahren so intensiv untersucht hat, kann die vorliegende Studie die kulturwissenschaftliche Perspektive – ohne eigene kulturwissenschaftliche Vorarbeiten – mit einer narratologischen Liebesanalyse kurzschließen und so die bisherigen Erkenntnisse gezielt erweitern. Eine solche Vorgehensweise ist auf dem Gebiet der neueren deutschen Literaturwissenschaft angesichts des derzeitigen Standes der Liebesforschung ausschließlich im Hinblick auf die romantische Liebe möglich. 89
Für die Auswahl eines romantischen Liebesromans spricht außerdem, dass exakt an der Epochenschwelle um 1800 die Grundlagen moderner Liebe und des modernen Liebesromans etabliert werden, und zwar im Zuge eines umfassenden Veränderungsprozesses. Friedrich Kittler hat in seiner wegweisenden Studie ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹ diesen grundlegenden Wechsel präzise herausgearbeitet.320 Man kann diese Zäsur mit Hilfe unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen festmachen:321 Luhmann formuliert sie systemtheoretisch als Übergang vom stratifikatorischen zum funktionalen Gesellschaftssystem.322 Kosellek verortet sie historisch, indem er das neue Zeitbewusstsein, genauer – die Beschleunigung des Lebens, und die Erkenntnis, dass die eigene Perspektive nur relativ sei –, als die entscheidenden Veränderungen dieser Umbruchsphase beschreibt.323 Und nach Foucault kommt eine ästhetische und semiotische Wende hinzu, in deren Zuge die »Episteme der Geschichte« die »Episteme der Repräsentation« ablöst.324 Im Zuge dieses Umbruchs – der sich noch an einer Reihe weiterer, wichtiger Diskursfelder wie vor allem der Bewusstseinstheorie festmachen lässt325 – entsteht ein völlig neues, funktional organisiertes Zusammenspiel zwischen den einzelnen Diskursen. Welche Rolle die Liebe in diesem Zusammenhang spielt, macht Luhmann besonders prägnant deutlich. Er verknüpft die Entstehung des funktionalen Gesellschaftssystems mit dem Subjektdiskurs, begründet aus diesem Wechselspiel, warum sich das Konzept individualisierter Liebe etabliert, und schließt mit diesen Überlegungen zuletzt noch kurz, welche gesellschaftliche Funktion der romantischen Literatur zukommt. Ich skizziere dieses Zusammenspiel im Folgenden, indem ich auf Niklas Luhmanns und auf Thomas Klinkerts Ausführungen zurückgreife (vgl. S. 13 dieser Studie):326 Galt in der stratifikatorischen Gesellschaft noch die Inklusion jedes Individuums zu einer Gesellschaftsgruppe (beispielsweise durch die Stände oder Zünfte) als verbindlich, kommt es im Übergang zum funktionalen Gesellschaftssystem zu einem zweifachen Wandel: Erstens verliert das Subjekt seine bisher sicher
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Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. Eine pointierte Zusammenfassung von Kittlers Ausführungen bietet Thomas Klinkert in seiner Einleitung. Vgl. dazu Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 14ff. Vgl. dazu ausführlich Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt am Main 1999, Bd. 2, S. 634–776. Reinhart Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269–282. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1994. Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre. In: Ders. (Hg), Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Main 1991, S. 413–599. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 177–194. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 17–41.
geglaubte, weil eindeutig definierte Position. Die polykontextualisierte Gesellschaft geht mit einer Aufspaltung des Subjekts einher, das sich nun ebenfalls in ein wirtschaftliches, ein familiäres, eine berufliches (etc.) aufspaltet. Die Polykontextualität der Gesellschaft führt zur Destabilisierung des Subjekts. Das Individuum löst sich in eine Reihe unterschiedlicher Instanzen auf. Es kann sich nicht mehr als Einheit betrachten, sondern definiert sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme. Damit kommt es zweitens zu der von Luhmann so genannten Exklusion: Der Einzelne lebt als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft. Beide Faktoren gemeinsam führen dazu, dass das Subjekt zum Problem wird.327 Diese Extensivierung unpersönlicher Beziehungen und die Exklusion aus dem gesellschaftlichen System löst – so die Systemtheorie – eine Gegenreaktion aus. Um den Einzelnen aufzuwerten, kommt es zu einer (mit Rousseau einsetzenden) Flut dazu passender philosophischer Theoreme. Außerdem wird die Ich-Stabilisierung jetzt dadurch geleistet, dass die Intimbeziehungen intensiviert werden. Allerdings birgt diese Reaktion eine Reihe eigener Schwierigkeiten und Gefahren: denn die intime Kommunikation ist unwahrscheinlich, da sie von höchstpersönlicher Relevanz sein muss. Um dieses Problem zu beheben, entwickelt sich das Kommunikationsmedium »individualisierte Liebe«. Das neue Liebeskonzept hat die Aufgabe, Unwahrscheinlichkeitsschwellen abzubauen, die eine intime Kommunikation erschweren oder verhindern. Die Etablierung eines neuen Liebeskonzepts um 1800 schließt ein, dass die Evolution der Liebessemantik ebenfalls von einer deutlichen Zäsur bestimmt wird. Von Niklas Luhmann bis zu Thomas Klinkert erkennt die Liebesforschung einhellig einen tiefen Einschnitt zwischen dem romantischen Liebeskonzept und ihren beiden Vorläufern, der höfischen Liebe des Mittelalters und der amour-passion, die im Laufe des 16. Jahrhunderts entsteht.328 Was für die romantische Liebe gilt, trifft in dieser Form nicht für die Liebeskonzepte zu, welche ihr vorausgegangen sind. Die romantische Liebe beruht ausschließlich auf der gegenseitigen persönlichen Zuneigung der beiden Partner. Die Individualität bildet damit die Basis und den Kern ihres Konzepts.329 Zudem erhebt die romantische Liebe die elementare Forderung, die »Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe«330 aufzulösen, ja: die »Liebe zum Grund der Ehe« zu machen.331 Auf diese Weise avanciert die
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 23ff. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 49–56. Zudem Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, Kapitel 5.0, Liebeskonzeptionen aus diachroner Sicht, S. 39–42. Luhmann definiert, der Liebescode habe die »Einbeziehung von grenzenlos steigerbarer Individualität« zu leisten. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178. Peter von Matt, Liebesverrat, Die Treulosen in der Literatur, Kapitel VII., Die Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe, München 1989, S. 67. Peter von Matt erkennt in dieser Unvereinbarkeit den »Problembereich«, »der die Literatur seit Jahrhunderten prägt.« Ebd. Dazu, dass die Ehe auf individualisierter Liebe basiert, vgl. erneut Luhmann: »Liebe wird zum Grund der Ehe, die Ehe zum immer wieder Verdienen der Liebe.« Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178, außerdem S. 173. Vgl. auch Adam Müller, Von der Idee
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Liebe zur Grundlage eines ganzen Lebensmodells, vermittelt über die Institution »Liebesehe« soll sie zugleich die dauerhafte Stabilität des Subjekts garantieren. Die Liebe erschöpft sich damit allerdings nicht im Lieben selbst, sie soll das gefährdete Ich stabilisieren. Vor allem aus der Brisanz, welche die Gefährdung des Subjekts in dieser Umbruchsphase um 1800 zukommt, erklärt sich, warum die Liebe in derselben Zeit so stark aufgewertet wird, dass sie schließlich von höchster Relevanz ist.332 Zwar greift es zu weit, im Sinne des heutigen Wortsinns von »romantisch« davon zu sprechen, dass die gesamte Epoche in Liebe aufgehe, aber der Liebe kommt im Zusammenspiel der unterschiedlichen Diskursfelder eine entscheidende Funktion zu, sie etabliert sich als zentraler Wertbegriff um 1800. Aber selbstverständlich ist die romantische Liebe nicht der Heilsbringer, der alle Schwierigkeiten mit einem Schlag löst. Vielmehr sind dem Kommunikationsmedium »Liebe« selbst eine Reihe von Problemen eingeschrieben. Am prominentesten zeigt sich dies wohl daran, dass das Bewusstsein der Liebenden für den jeweils anderen stets opak bleibt. Luhmann betrachtet dies als unumstößliche Tatsache: Kommunikation kann Wahrnehmung nie transparent machen, sie kann sie nur bezeichnen.333 An dieser Stelle greift die Kunst und mit ihr die Literatur in die Mechanik des gesellschaftlichen Räderwerks ein. Nach Luhmann kompensieren Kunst und Literatur die Schwäche des Kommunikationsmediums »Liebe«. Der Systemtheoretiker geht davon aus, dass die Formen der Identitätsstabilität nirgendwo so intensiv erprobt werden wie in der Kunst. Für ihn hat Kunst die »Funktion, etwas prinzipiell Inkommunikables, nämlich Wahrnehmung, in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft einzubeziehen.«334 Mit diesem emphatischen Kunstbegriff ziehen Liebe und Kunst an einem Strang, sie arbeiten gemeinsam für die gute Sache: die Stabilität des Ich.335 Weil Liebe und Literatur derart ineinan-
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der Schönheit, Berlin 1809, insb. S. 146ff. Zum Anspruch, Liebe und Ehe zu vermitteln, vgl. weiterhin Bettina Recker, »Ewige Dauer« oder »Ewiges Einerlei«. Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800, Würzburg 2000, S. 33ff. und 75ff. Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 115ff., und Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle 1922. Zum Zusammenhang von Liebe und Romantik vgl. einführend die beiden Handbücher von Detlef Kremer, Romantik, Stuttgart u. Weimar 2003, S. 137ff. Sowie Monika Schmitz-Emans, Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2004. Zudem Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration 1789–1830, 2. Bde, Zweiter Teil, Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806–1830, München 1989. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 13–91, hier S. 21. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 21. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 227. Die Pointe von Thomas Klinkerts systematischen Überlegungen besteht darin, diese Homologie herausgearbeitet zu haben (vgl. S. 13 dieser Studie). Meine Überlegungen zur semiologischen und narratologischen Liebe schränken diesen emphatischen Literaturbegriff ein. Meiner Meinung nach erfüllt sich die Aufgabe der Literatur gerade nicht
der verschränkt sind, korreliert die enorme Relevanz, welche der Liebe um 1800 zukommt, mit einer erhöhten Wertschätzung von Liebesromanen. Je wichtiger die Liebe, desto bedeutender die Liebesliteratur. Dass der Liebesroman um 1800 zu der Gattung schlechthin avanciert, in welcher die Zusammenhänge zwischen Subjekt- und Liebesdiskurs konzipiert und reflektiert werden, habe ich zuvor bereits erwähnt. Diese positive Rückkopplung erzeugt und erklärt den regelrechten Boom von Liebesromanen. In der Umstellungsphase, einer Zeit der allgemeinen Verunsicherung, wird derart auf Hochtouren produziert und publiziert, dass es zu einer Flut von Liebestexten kommt. Die Romantik avanciert – im Rückblick – zur Hochzeit der Liebe und der Liebesliteratur. Noch ein weiterer Aspekt spielt in dieses Funktionssystem hinein. Die neuartige Rolle, welche die Literatur im Zusammenspiel der Systeme spielt, geht damit einher, dass sich zuletzt auch die Art literarischer Kommunikation entscheidend verändert. Thomas Klinkert konstatiert: »Die Romantik markiert einen grundlegenden Einschnitt in der Geschichte literarischer Kommunikation.«336 Diese Einsicht lässt sich nicht nur im Rückgriff auf Blanckenburgs und späterhin Schlegels Romantheorien bestätigen (vgl. Systematik, Kapitel 2.3). Sie verfestigt sich zugleich auch dadurch, dass Schleiermachers Hermeneutik das Lektüremodell analog zu einem Intimsystem konzipiert. Die Literatur übt auf diese Weise Wahrnehmungsmechanismen der Liebe ein. Wenn das Lesen den Regeln des Liebens folgt, lässt sich der Lektüreprozess im Medium der Literatur einüben und auf die faktuale Liebeskommunikationen übertragen. Diese tief greifenden Veränderungen an der Epochenschwelle um 1800, die mit einer Neuformulierung sowohl des Liebeskonzepts als auch der Romanpoetik einhergehen, lassen es sinnvoll erscheinen, einen literarischen Text zu untersuchen, der jenseits der Zäsur situiert ist. Hinzu kommt nämlich, dass von diesem Einschnitt an die Evolution der Liebessemantik kontinuierlich vonstatten geht. Die geisteswissenschaftliche Forschung bescheinigt der romantischen Liebe einhellig, dass sie ungebrochen bis in die Moderne und sogar darüber hinaus bis in die Gegenwart wirkungsmächtig ist.337 Untersucht man die romantische Liebe, so analysiert man gleichsam die Wurzeln moderner Liebe und betreibt damit Grundlagenforschung. Demnach behalten die anhand der romantischen Liebe gewonnenen Erkenntnisse bis heute ihre Valenz. Die Analyse schließt immer schon einen Ausblick auf die
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darin, die Stabilität des Ich zu garantieren. Vielmehr spielen Liebesromane mit diesem Anspruch, der an sie gestellt wird. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 11. Am prominentesten identifiziert der soziologische Diskurs die moderne mit der romantischen Liebe. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 189ff. Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 23f. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990.
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Moderne und Gegenwart ein. Es liegt daher nicht nur nahe, sondern es drängt sich geradezu auf, einen romantischen Liebesroman zu untersuchen, der nicht mehr – wie noch die empfindsamen Romane – gegen die Vorgängermodelle ankämpfen muss, um die individualisierte Liebe zu etablieren, sondern in dessen Zentrum die Grundlagen und Bedingungen der Liebe sowie des Schreibens von Liebe(sromanen) selbst stehen. Es ist nur folgerichtig, einen Roman aus einer Zeit zu analysieren, in der das Nachdenken über die Selbstvergewisserung der Liebe ihrerseits von größter Bedeutung ist und an einer der ersten Stellen der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht. Deshalb konzentriert sich die vorliegende Studie auf einen romantischen Liebesroman. Die bisherige Argumentation ist zwar für die Auswahl eines romantischen Liebesromans hinreichend, sie legitimiert aber nicht notwendig, warum sich die vorliegende Studie darauf beschränkt, ausschließlich Arnims ›Gräfin Dolores‹ zu analysieren. Zwei Kriterien erfüllt Arnims Liebesroman, welche diese Fokussierung rechtfertigen. Zum einen unterscheidet sich Arnims ›Gräfin Dolores‹ signifikant von allen anderen romantischen Liebesromanen. Würde er dies nicht, könnte man beliebig irgendeinen romantischen Liebesroman untersuchen. Zum anderen aber stellt Arnims Roman die romantische Liebe zugleich auch repräsentativ dar. Würde ihm dies nicht gelingen, so könnte man gegen das Vorhaben, sich ausschließlich auf Arnims Roman zu konzentrieren, einwenden, dass jeder Roman seine ureigene Liebesvariante ins Spiel bringt. Luhmann hat ja gerade für die deutsche Literatur um 1800 konstatiert, dort bilde sich vor lauter Distinktion keine Leitdifferenz aus.338 Repräsentation und Distinktion, beide Kriterien erfüllt ›Gräfin Dolores‹. Einen repräsentativen Charakter trägt sie, weil sie die Quintessenz des romantischen Liebeskonzepts zu seinem zentralen Thema macht. So erzählt er anhand seiner beiden Protagonisten, der Gräfin Dolores und des Grafen Karl, eine Geschichte individualisierter Liebe.339 Die Liebe dieses Paares beruht einzig auf der gegenseitigen persönlichen Zuneigung der beiden Partner. Da romantisch Lieben in letzter Konsequenz bedeutet, »dass die Liebe aus sich selbst heraus motiviert werden muß«,340 widmet der Roman sich ausführlich dem Zufall der ersten Liebesbegegnung, durch den die Liebe mit blitzartiger Plötzlichkeit auf den Plan tritt.341
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Vgl. dazu noch einmal Luhmanns »Eindruck, daß die Unterschiede von Autor zu Autor in dieser Zeit größer sind als die Unterschiede zwischen den historischen Epochen. Keine Leitdifferenz kann sich durchsetzen [...].« Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 171. Vgl. auch Julia Bobsin, Von der Werther-Krise, S. 9. Zu den Charakteristika romantischer Liebe in Arnims Roman vgl. auch Kapitel III, 1 dieser Studie. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 170. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 41. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 181., Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 42.
Zudem setzt die ›Gräfin Dolores‹ konsequent die elementare Forderung der Romantik um, die »Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe« aufzulösen, ja: die »Liebe zum Grund der Ehe« zu machen. Die titelgebende Gräfin Dolores und ihr zukünftiger Ehemann Graf Karl verlieben sich zuerst ineinander, bevor sie eineinhalb Jahre nach ihrem ersten Treffen heiraten.342 Die ›Gräfin Dolores‹ ist ein Roman über die Liebesehe – sie ist ein Liebeseheroman. Indem sie die grundlegende Funktion hervorhebt, welche die individualisierte Liebe für die Ehe hat, repräsentiert sie das Großprojekt romantischer Literatur schlechthin: »Liebe als zentralen Wertbegriff um 1800 zu etablieren«.343 Einen repräsentativen Status hat die ›Gräfin Dolores‹ außerdem im Hinblick auf einen zweiten Aspekt. Arnims Roman vereint die beiden um 1800 konventionellen Erzählweisen der Liebe in sich. Auf seinen ersten knapp siebzig Seiten erzählt er zunächst ausführlich Dolores’ und Karls Liebesgeschichte, die mit dem ersten Zusammentreffen der beiden Partner einsetzt, und sich über die Brautzeit bis zu ihrer Hochzeit fortspinnt. Dieser Romananfang enthält in breve alles, was ein Bildungsroman von der Liebe erzählen kann. Er repräsentiert damit das um 1800 wohl einflussreichste Erzählmuster, das die literarische Rede von Liebe bestimmt. Im Anschluss an die Hochzeit widmet sich Arnims Roman der Ehegeschichte seines Paares, die erst 17 ½ Jahre, nachdem das Paar sich kennen gelernt hat, endet. In diesem zweiten Teil folgt Arnims Roman dem Schreibmuster des Eheromans. Indem er aber die einzelnen Phasen von der Liebe- bis zur Ehegeschichte nacheinander darstellt, repräsentiert er den Ehe- und den Liebesroman zugleich. Er gibt damit ein umfassendes Bild der im romantischen Roman gängigen Schreibweisen und Denkmuster der Liebe.344 Kommt der ›Gräfin Dolores‹ also zum einen ein repräsentativer Status zu, ist um 1800 zum anderen die Art und Weise einmalig, wie der Roman das romantische Liebeskonzept in Szene setzt. So erstaunlich das vielleicht klingt: durch sein Erzählmodell unterscheidet sich Arnims Roman von allen vor ihm erschienenen deutschsprachigen Liebesromanen. Denn diese folgen einheitlich entweder dem teleologischen Handlungsmuster der Bildungsromane. Das bedeutet, sie erzählen
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An dieser romantischen Prämisse zerbricht beispielsweise noch die Ehe in Jean Pauls ›Siebenkäs‹. Da Siebenkäs und Lenette ausdrücklich nicht aus Liebe heiraten, ist ihre »historisch überholte, alte Ehe« von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Vgl. zu diesem Zusammenhang Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 151. Vgl. weiterhin Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 182. Zu Arnims Beteiligung an diesem romantischen Projekt vgl. Dagmar Ottmann, Achim von Arnim, ›Der tolle Invalide auf dem Fort Ratenneau‹. Zur Funktion der Metonymie in romantischen Texten. In: Gerhard Neumann u. Günter Oesterle (Hg.), Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 1999, S. 73–104, hier S. 178ff. Dieser Eindruck, die ›Gräfin Dolores‹ lege es auf eine umfassende Repräsentation der um 1800 gängigen Schreibmuster von Liebe an, verstärkt sich, wenn man weitere Ebenen des Romans hinzu nimmt. Mit seinen dramatischen, novellistischen und lyrischen Einlagen stellt er einen Fundus der konventionellen Schreibweisen zusammen.
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ausschließlich von den vorehelichen Liebeabenteuern ihres (meist männlichen) Protagonisten und enden konventionell mit dessen Hochzeit.345 Oder die Liebesromane setzen mitten in der Ehe ein, konzentrieren sich thematisch auf die Liebe in der Ehe, beschreiben meist deren Schwierigkeiten und enden unausweichlich in der Liebeskatastrophe; sprich: sie schließen mit dem Ehebruch. Die voreheliche Liebe hingegen blenden die Eheromane höchstens in Form von Rückwendungen und Rückblicken ein – die Narratologie spricht in diesem Fall von Analepsen.346 Arnims Roman hingegen fusioniert beide traditionellen Formen der Liebesdarstellung. Die Besonderheit dieser Erzählkonstruktion besteht darin, dass der Roman seine Aufmerksamkeit sukzessive sowohl auf die Liebe vor als auch auf die Liebe in der Ehe richtet. Die ›Gräfin Dolores‹ ist der einzige Roman um 1800, der nicht die eine Liebesphase beleuchtet, indem er die andere in den Hintergrund drängt oder sogar komplett ausspart. In ihm stehen beide Darstellungsformen und damit auch beide Liebesphasen gleichrangig nebeneinander. Er gibt Raum. Liest man Arnims Roman im Vergleich mit den Liebesromanen, die den teleologischen Mustern der Bildungsromane folgen, kommt ihm der Status einer intertextuellen Fortsetzung zu. Bis zur Hochzeit ist seine Liebesgeschichte mit der von Bildungsromanen deckungsgleich. Nach der Hochzeit aber spinnt er den Faden der Liebesgeschichte fort, indem er auch von Dolores’ und Karls Ehe erzählt. Er pfropft den Ehe- auf den Liebesroman. Im Vergleich mit den Erzählformen der Eheromane weitet Arnims Liebesroman deren Rahmen gezielt aus. Anders als die Eheromane setzt er nicht in medias res, nämlich mitten in der Ehe ein, um von dort aus den für dieses plot-muster obligatorischen Ehebruch zu motivieren. Die ›Gräfin Dolores‹ erzählt ab ovo zunächst die Liebesgeschichte ihrer Protagonisten. Sie legt offensichtlich besonderen Wert darauf, dass die Ehegeschichte als Liebesgeschichte beginnt. Die Eheerzählung ist die Fortsetzung, die Liebe aber bildet (zur Entstehungszeit von Arnims Roman erstmals) die Voraussetzung für die Ehe. Arnims Roman verlieht diesem ersten Akt der Ehegeschichte ein besonderes Gewicht, in-
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Hegel sieht dieses teleologische Modell als derart standardisiert an, dass er es als Kriterium des »Romanhaften« bezeichnet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II. In: Ders., Werke, Bd.14, hg. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1986, S. 220. Als Paradebeispiel dieses Liebeskonzepts gilt bis heute Friedrich Schlegels ›Lucinde‹. Allerdings unterscheidet sich die ›Lucinde‹ von der ›Gräfin Dolores‹ insofern, als Schlegels Roman erst in der Ehe einsetzt und die »wilde Jugend«, die »Lehrjahre der Männlichkeit« sowie die Liebesinitiation nur analeptisch nachträgt. Vgl. Friedrich Schlegel, ›Lucinde‹, Erster Teil, Berlin 1799, Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Abt. 1, Bd. 5, Dichtungen, hg. von Hans Eichner, München u. a. 1962, S. 35ff. Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ setzt ebenfalls erst mitten in der Ehe ein. Charlotte trägt dann die »frühesten Verhältnisse« nur in Form einer summarischen, eine Viertelseite umfassenden Analepse kurz nach. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, ›Die Wahlverwandtschaften‹, Frankfurt am Main, 1981, S. 14f.
dem er ihn ausführlich darlegt.347 Nicht nur aufgrund ihrer Themenwahl stellt die ›Gräfin Dolores‹ somit einen Liebeseheroman dar,348 sondern auch aufgrund ihrer chronologischen Darstellungsform von Liebe und Ehe im Erzähldiskurs. Sie entwickelt eine neue Form eines Eheromans, indem er ihm den Liebesroman direkt voranstellt. Darüber hinaus sprengt Arnims Roman auch an seinem Ende gezielt den Rahmen, den die Eheromane seiner Zeit konzeptuell vorgeben. Obwohl die Ehe seiner Protagonisten – wie es für den Eheroman um 1800 obligatorisch ist – scheitert, bildet der Ehebruch keineswegs den Schlusspunkt der Liebesgeschichte. Das Paar versöhnt sich wenige Wochen nach dem Ehebruch wieder und lebt im Anschluss daran noch über 12 Jahre gemeinsam in Italien. Arnims Roman inszeniert also eine zweite Phase (und Chance) der Liebesehe, die erst endet, als Dolores’ Tod das Paar endgültig scheidet. Eine solche Liebesgeschichte in der Ehe hat es zuvor in der deutschsprachigen Literatur noch nicht gegeben. Die ›Gräfin Dolores‹ ist der umfassendste Liebesroman der Romantik. Sie stellt die Liebe in allen denkbaren Phasen von der Initiation, über die Brautzeit, über die Ehe- und die Krisenzeit bis hin zum Liebestod dar. Mit dieser um 1800 einzigartigen Schreibweise der Liebe legt Arnims Roman gezielt den Schwerpunkt seines Erzählprojekts fest. Aus seiner Darstellungsart kann man schließen, dass der Roman sich vor allem anderen für das romantische Liebeskonzept selbst interessiert. Die Liebe verfolgt er, während sie die verschiedenen Stadien durchläuft. Da die ›Gräfin Dolores‹ über das Wissen, die Schreibmuster und das Material ihrer Vorgänger verfügt, erhält sie den Status eines Metaromans. Mit von Graevenitz kann man daher festhalten: »Die Dolores ist ein Roman über den Roman. Der Text reagiert gleichermaßen auf Goethes »Wahlverwandtschaften«, Schlegels »Lucinde« und Brentanos »Godwi«.«349 Allerdings lässt sich von Graevenitz’ Aussage an dieser Stelle spezifizieren. Arnims ›Gräfin Dolores‹ ist nicht einfach irgendein Metaroman, sondern ein Metaliebesroman: Aufgrund seiner Eigenart, die wichtigsten Schreib- und Denkmuster romantischer Liebe aufzunehmen, deren Funktionsweise zu hinterfragen, sie zu erweitern oder gegebenenfalls zu durchkreuzen, erhält Arnims Liebesroman den Charakter einer literarischen Enzyklopädie.350 Als
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Der Gegenentwurf zu seiner narrativen Konstruktion bestünde darin, wie in einer TVSerie zu Beginn rückblickend und damit summarisch zu wiederholen, was »bisher geschehen war«, und dann die Handlung fortzusetzen. Ein thematischer Liebeseheroman ist auch Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹. Seiner Darstellungsform nach beschränkt er sich aber auf die Ehe und ist somit ein Eheroman. Vgl. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 107. Zum enzyklopädischen Verfahren grundlegend und wegweisend: Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger u. Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, besonders Kapitel III, Komplementäre Modelle der Strukturierung, 3. Enzyklopädie, S. 293–332.
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solche setzt sich die ›Gräfin Dolores‹ in ein spezifisches Verhältnis nicht nur zu den ihr vorausgegangenen Romanen, sondern darüber hinaus zum enzyklopädischen Universum ihrer Zeit. Letzteres hat man sich als ein nicht-hierarchisches Labyrinth vorzustellen,351 als ein Rhizom, wie es Eco an anderer Stelle vorschlägt, indem er eine Metapher von Deleuze und Guattari übernimmt.352 Arnims Liebesroman konstituiert seinerseits, indem er zum einen hochspezifische Lexeme gebraucht, und indem er zum anderen ein ganzes Konglomerat stereotyper Liebesvorstellungen verwendet, eine lokale Repräsentation des enzyklopädischen Rhizoms.353 Narrativ erstellt er ein Wörterbuch romantischer Liebe und ihrer literarischen Schreibweisen, die er im Rahmen seines Erzähldiskurses neu hierarchisiert.354 Diese narrative Hierarchisierung – um eine solche handelt es sich im Vergleich zum wild wuchernden Rhizom – leistet Arnims Liebesroman auf der Ebene seiner Rahmenhandlung. Bereits in seinen ersten Kapiteln greift er gezielt auf die wichtigsten Topoi romantischer Liebe zurück, um die Liebesinitiation seiner Figuren zu konstruieren (vgl. III. Kapitel 2.1 u. 2.2). Die ›Gräfin Dolores‹ erstellt narrativ einen profunden Lexikonartikel zur »romantischen Liebe«. In diesem Lexikonartikel finden sich selbstverständlich auch Wissensbausteine anderer Gebiete wieder. Denn die Liebe ist ja kein isoliert für sich stehendes Phänomen, sondern konstituiert sich aus einem ganzen Wissenskomplex.355 Unter dem Lemma »romantische Liebe« verhandelt die ›Gräfin Dolores‹ unter anderem die Inkommunikabilität des Gefühls, aber auch Themenkomplexe wie die Geschlechterrollen um 1800. Sie verweist zum Subjekt- und zum Autorschaftsdiskurs sowie auf den Zusammenhang von Religion und Liebe356 und knüpft somit narrativ (nicht systematisch) ein spezifisches Netzwerk des Wissens. Arnims Liebesroman ordnet das Wissen seiner Zeit auf der Folie romantischer Liebe. Relational zu dieser betrachtet und formiert er die einzelnen Wissenskomplexe. Auf diese Weise löst er letztlich die romantische Epoche im Wirkungsfeld der Liebe auf.357 Romantik zu erzählen, bedeutet für Arnims Roman: Liebe zu erzählen. Noch in einem zweiten Sinne kann man von Graevenitz’ Einschätzung spezifizieren. Offensichtlich feiert Arnims Liebesroman das romantische Liebeskonzept nicht mehr emphatisch, wie es beispielsweise noch Schlegels ›Lucinde‹ getan hat, er reagiert auch nicht einfach nur auf seine Vorgänger. Arnims Roman inszeniert Lie-
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Christoph Brecht, Enzyklopädie, S. 297. Zur semiotischen Enzyklopädie vgl. zudem Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 133–241. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 125–127. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 108. Zu diesem Verhältnis lokaler Repräsentation zum enzyklopädischen Universum vgl. Christoph Brecht, Enzyklopädie, S. 298. Vgl. zu dieser komplexen Kontextualisierung der Liebe, S. 17f. der vorliegenden Studie. Ihr Verfahren, mit dem sie von der romantischen Liebe aus Fäden zu anderen Lemmata und Einträgen in des Lexikon des Wissens spinnt, verläuft analog zu dem des enzyklopädischen Querverweises. Über diese webt der Roman die romantische Liebe in ein komplexes Diskursfeld ein. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 32.
be, um sie gemeinsam mit den konventionellen Inszenierungstechniken zu reflektieren. Er stellt die interne Logik romantischer Liebe dar und sucht Antworten auf die Fragen, wie die Liebe funktioniert oder besser: warum das Konzept gerade nicht so funktioniert, wie es eigentlich sollte. Demnach analysiert und kritisiert er das romantische Liebeskonzept. Er verfolgt das Ziel, die romantische Liebe samt den Schreibweisen, welche seine Vorgänger konventionalisiert haben, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren. Wie grundlegend dieses kritische Potential die Erzählkonstruktion von Arnims Liebesroman bestimmt, erkennt man, wenn man ihn wiederum mit den teleologischen Erzählmustern der Bildungsromane einerseits und mit denen der Eheromane andererseits vergleicht. Will man die romantische Liebe nicht nur darstellen, sondern analysieren, darf man seine Liebesgeschichte nicht wie die Bildungsromane abrupt mit der Hochzeit abbrechen. Es widerspricht dem Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung, einen solchen künstlichen Schnitt zu setzen und mit diesem ein dauerhaftes Liebesglück zu versprechen. Man muss vielmehr über das Happy-End hinaus erzählen und in den Blick nehmen, wie die Liebe auf Dauer funktioniert.358 Stellt man wie die Eheromane um 1800 ausschließlich die Zeit nach der Hochzeit dar und lässt sie unausweichlich auf den Ehebruch zulaufen, zeugt dies zwar von einer kritischen Position, automatisch aber machen diese Romane mit ihrer Darstellungsart das Scheitern der Liebe einseitig an den Umständen des Ehealltags fest. Sie behaupten damit implizit, dass dieser prosaischen Zeit die Poesie der Liebe vorausgegangen sei. Will man das romantische Liebeskonzept hingegen kritisch hinterfragen, muss man den Fokus der Betrachtung ausweiten und untersuchen, welche Schwierigkeiten des Ehealltags ihre Ursache schon in den Funktionsweisen der Liebe haben. Dafür aber muss man die voreheliche Liebe detailliert darstellen und nicht nur ihr vermeintliches Glück behaupten. In die Kritik geraten auf diese Weise sowohl das romantische Liebeskonzept als auch die um 1800 zur Konvention geronnenen Schreibweisen und Erzählmuster der Liebe. Arnims Roman fordert die Frage heraus, ob die romantische Liebesliteratur sich nicht längst auf solche Darstellungsmuster geeinigt hat, die ein spezifisches und vor allem einseitig positives Bild des Liebesphänomens zeichnen. Der Roman geht auf kritische Distanz zum romantischen Liebesmodell einerseits und zu den traditionellen Erzählweisen der Liebe andererseits. Aufgrund dieser Konzeption trägt die ›Gräfin Dolores‹ den Charakter einer ebenso umfassenden wie akribischen Liebesstudie.359 Als enzyklopädischer Liebesroman ist Arnims Text, der nicht allein vom romantischen Liebeskonzept durchdrungen ist, sondern es zugleich einer ak-
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Auf diese Weise fokussiert der Roman das grundlegende Problem, dass die Liebe trotz ihrer Plötzlichkeit zur dauerhaften Grundlage der Ehe werden muss. Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 42. Thomas Klinkert sieht in dieser Kritik eine der grundlegenden Aufgaben von Literatur. Vgl. Ders., Literarische Selbstreflexion im Medium, S. 42. Vgl. auch Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 179.
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ribischen Analyse unterzieht, das »Fazit einer ganzen Epoche«.360 Aufgrund dieser Eigenschaft aber ist er zugleich wie kein anderer romantischer Liebesroman für eine exemplarische Untersuchung romantischer Liebe geeignet. Bezieht man an dieser Stelle noch einmal in die Überlegungen ein, dass Arnims Roman mit dem romantischen Liebeskonzept gerade das Modell kritisch hinterfragt, das bis in die Gegenwart die Bedingungen der Liebe definiert, nimmt die ›Gräfin Dolores‹ eine exponierte Rolle im literarischen Liebesdiskurs ein. Als erste umfassende Kritik am romantischen Liebeskonzept und seinen Schreibmustern kommt ihr dort eine Schlüsselrolle zu. Das bedeutet nicht, dass die ›Gräfin Dolores‹ ein gänzlich neues Liebesmodell erfindet. Ein solches, alternatives Konzept, das die romantische Liebe ersetzt, gibt es bis heute nicht.361 Wenn Arnims Roman zwar die romantische Liebe nicht verwirft, so vollzieht er doch auf einer zweiten Ebene einen Umbruch. Er setzt seine Erkenntnisse, die er aus seiner Liebesanalyse gewinnt, in ein neues Erzählmodell um. Die ›Gräfin Dolores‹ generiert eine Alternative, Liebe zu erzählen.362 Auf diese Weise markiert der Roman einen Wendepunkt innerhalb des literarischen Liebesdiskurses. Die 1810 publizierte ›Gräfin Dolores‹ ist eine Grenzgängerin ihres Genres. Als erster Vertreter der so genannten Spätromantik bleibt der Roman dem romantischen Liebesrepertoire noch grundlegend verhaftet,363 doch zugleich blickt er bereits im Stile eines kühlen Beobachters auf die romantische Liebe zurück, um darüber hinaus auch noch Erzählweisen zu implementieren, welche auf die literarischen Verfahren des realistischen Liebesromans voraus weisen. Diese Position auf der Schnittstelle der Diskurse – dieses enzyklopädische Doppelspiel aus Sammeln und Kritisieren – macht ihn zu einem reizvollen Untersuchungsobjekt, dessen Analyse eine Reihe von Erkenntnissen verspricht, welche die romantische Liebe betreffen und damit bis in die Moderne voraus weisen.364 360 361
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Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 108. Diese Behauptung bestätigt ein Blick auf die gegenwärtige Liebessemantik, bei der es nur leichte Varianten zur romantischen Liebe gibt. Vgl. beispielsweise Andrea Leupold, Liebe und Partnerschaft: Formen der Codierung von Ehen. In: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), H. 4, S. 297–327, aber auch Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 21ff. Diese Einschätzung deckt sich mit der Feststellung der Arnimforschung, dass Arnims Erzählungen und Romane einerseits der Romantik verbunden bleiben, während sie mit ihren anthropologischen, naturwissenschaftlichen Interessen – wie sie sich auch in der nüchternen Liebesanalyse ausdrücken – sowie mit ihren auf Authentizität abzielenden Erzählverfahren bereits auf den literarischen Realismus voraus weisen. Vgl. zu dieser Einschätzung vor allem Dagmar Ottmann, Der tolle Invalide, S. 194. Detlef Kremer, Romantik, S. 137ff. Auf diese kontinuierliche Wirkung der Romantik weist die Forschung immer wieder hin. So gilt beispielsweise Klinkert die »Romantik als erste literaturgeschichtliche Manifestation der Moderne, und zwar sowohl aus diskursarchäologischer als auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive.« Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, S. 43.
Bleibt noch anzumerken, dass die ›Gräfin Dolores‹ den enormen Aufwand, eine semiologische und narratologischen Systematik zu entwickeln, in besonderer Weise rechtfertigt. Allein schon die oben dargestellte programmatische Auseinandersetzung mit den um 1800 konventionellen Erzählmustern der Liebe führt eindrücklich vor, dass man die Liebeskonstitution in Arnims Roman nur in den Blick bekommt, wenn man seine Augenmerk auf dessen narratologische und semiologische Verfahrensweisen richtet. Aus dieser Perspektive erweist sich Arnims Roman als einer jener literarischen Liebestexte, welche die romantische Liebe auf allen ihm zur Verfügung stehenden Ebenen in Szene setzen. Er thematisiert Liebe und entwirft eine neue Form, Liebe zu präsentieren. Da nicht zuletzt seine Erzählkonstruktion den Leser performativ auffordert, das romantische Liebeskonzept zum Gegenstand »vernünftiger Beobachtung« zu machen,365 bezieht er auch die Kommunikation zwischen Leser und Text in sein Liebesspiel ein.366 Indem die ›Gräfin Dolores‹ sich auf allen Ebenen der Liebe verschreibt, ist sie auch aus systematischer Sicht als Untersuchungsmodell prädestiniert. Beachtet man hingegen nur die Liebe, die der Roman thematisiert, entgeht einem unausweichlich die Auseinandersetzung mit der romantischen Liebe, die der Roman so akribisch wie konsequent führt. Den Beitrag, den Arnims Erzählung zum literarischen Liebesdiskurs leistet, kann man erst auf der Grundlage einer narratologischen Analyse erkennen und bemessen. Da der Roman seine Liebeskritik konsequent narrativ und semiologisch entfaltet, erklärt sich, warum er in der bisherigen Liebesforschung eine marginale Rolle spielt. Der bisherigen Forschung ist Arnims Roman entgangen, weil er auf thematischer Ebene – vermeintlich – nichts Neues zu bieten hat. Seine programmatische Auseinandersetzung mit der romantischen Liebe hingegen konnte die Liebesforschung aufgrund ihres notorischen Weitblicks erst gar nicht in den Blick bekommen. Die Auswahl von Arnims Roman dient damit nicht zuletzt dazu, das eigene Projekt zu profilieren. Bringt die folgende Analyse entscheidende Erkenntnisse zu tage, fordert sie automatisch dazu auf, den literarischen Liebesdiskurs aus einem veränderten Blickwinkel neu zu sondieren. Es ist gut möglich, dass sich in Folge dieser neuen Perspektive auch noch weitere vernachlässigte Liebesromane in den Vordergrund drängen und eine prominentere Stellung im literarischen Liebesdiskurs einnehmen werden.
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Sergio Moravia. Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Allerdings läuft dieser Aufgabenstellung eine zweite Inszenierungsform diametral entgegen. Erinnert sei nur an die so viel beschworene Gefahr, die von Arnims Roman ausgeht, an seine »tödliche« Wirkung. Die ›Gräfin Dolores‹ ist nur zum einen eine akribische Liebesstudie, zum anderen aber ist sie ein notorischer Sinnverweigerer, die ihren Leser verführt. Tatsächlich hat die Arnimforschung in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass der Roman mit seiner offenen Form, seiner omnipräsenten Inszenierung von Ambiguität und Ambivalenz, seiner Vorliebe für das Groteske und seiner Inauguration intertextueller Autorschaft das hermeneutische Ordnungsideal gezielt durchkreuzt.
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III. Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹
1.
Auf der Suche nach der romantischen Liebe
Wer dem performativen Sprechakt des Erzählarrangements folgt und die Liebe in Arnims ›Gräfin Dolores‹ zum Gegenstand »vernünftiger Beobachtung« macht (vgl. Textauswahl), steht zunächst vor einem Problem. Man muss die Liebe in Arnims Roman nämlich erst einmal zu fassen bekommen. Das liegt nicht etwa daran, dass es keine Liebesgeschichte gebe, sondern es gibt zu viele. Beinahe jede der insgesamt einhundert Prosa- und Gedichteinlagen behandelt das Thema »Liebe« auf ihre Weise. Die unüberschaubare Masse der Liebesdarstellungen ist die herausragende Charaktereigenschaft der ›Gräfin Dolores‹. Sie macht den Roman »zu einer Art Liebesspiegel, zu einem speculum amoris«, in dem sich »alle Arten der Liebe widerspiegeln«.1 Man kann daher Fuhrmanns These nur zustimmen, der Roman sei ein »Variationswerk der Liebe«.2 Nur hilft einem die Feststellung, es werde jede denkbare Liebesform dargestellt, nicht wirklich weiter, und Klarheit bringt sie in keinem Fall. Tatsächlich aber erschöpft sich das Erzählprinzip gerade nicht darin, alle Liebesvarianten willkürlich wie in einer Wunderkammer zu versammeln und sie in ein Spiegelverhältnis zu stellen. Um dies zu erkennen, muss man allerdings der Verlockung widerstehen, sich von Beginn an im Spiegellabyrinth zu vergnügen. Wie so viele andere Erzähltexte Arnims unterläuft nämlich auch die ›Gräfin Dolores‹ gezielt die Erwartungen ihrer Leser3 und verhandelt die Liebesproblematik nicht dort, wo es am augenscheinlichsten wäre, sondern dort, wo man es vom verwildertsten Roman der Romantik am wenigsten erwarten würde. Da mag das Zusammenspiel der Einlagen noch so hervorstechen, seine Radikalkritik am romantischen Liebeskonzept, die nach allem bisher Gesagten den Kern des Erzählprojekts ausmacht, entfaltet der Roman im Schatten des Wildwuchses und damit ganz konventionell im Zuge seiner Rahmenhandlung.
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Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 109ff. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores, S. 109ff. Diese Vorliebe von Arnims Erzähltexten für »eigentümliche Wendungen« arbeitet bereits Wolfdietrich Rasch als Charakteristikum von Arnims Erzählkunst heraus. Vgl. Wolfdietrich Rasch, Achim von Arnims Erzählkunst. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 7 (1959), H. 2, S. 38–55, hier S. 45.
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Das zeigt sich schon daran, wie präzise die Auseinandersetzung mit den Schreibweisen und Topoi der Liebe auf dieser Handlungsebene verläuft (vgl. S. 97 dieser Studie). Dort entwirft der Text das Konzept des Liebeseheromans, dort überdenkt und erweitert er innovativ die Erzählmuster der Bildungs- und Eheromane. Im Zuge seiner Rahmenhandlung setzt der Roman sich kritisch mit der romantischen Liebe auseinander und entwickelt, von der Anarchie weit entfernt, ein konzises Erzähl- und Liebesprogramm, das von der Arnimforschung bisher unbeachtet geblieben ist.4 Um dieses Programm zu rekonstruieren, konzentriere ich mich zunächst auf Dolores’ und Karls Liebesgeschichte, folge dem Text also absichtlich nicht in das Labyrinth der Einlagen. Die vorliegende Untersuchung räumt der Rahmenhandlung den Primat gegenüber allen Einlagen ein.5 Mit dieser Entscheidung nimmt sie bewusst in Kauf, sich auf relativ kleine Textpassagen zu fokussieren und sie weitaus umfassenderen Passagen (wie der Einlage von ›Hollins Liebesleben‹) erst einmal vorzuziehen. Um zu beschreiben, auf welche Art die Reflexion romantischer Liebe im Zuge von Dolores’ und Karls Ehegeschichte vonstatten geht, lässt sich auf eine der zen-
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Der Großteil der bisherigen Arnimforschung hat den Einlagen gegenüber der Rahmenhandlung das größere Gewicht eingeräumt und hat – bis hin zu Kaminskis Studie – seine zentralen Thesen aus dem Zusammenspiel der beiden Textelemente entwickelt. Vgl. exemplarisch Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 252. Ausnahmen bilden vor allem Klaus Peters und Renate Moerings Analysen. Vgl. Klaus Peter, Achim von Arnim: ›Gräfin Dolores‹ (1810). In: Paul Michael Lützeler (Hg.), Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, Stuttgart 1981, S. 240–263. Und Renate Moering, Die offene Romanform. Beide Studien mussten sich aber einige Kritik dafür gefallen lassen, dass sie sich vornehmlich auf die Rahmenhandlung konzentriert haben. Exemplarisch steht dafür Ernst L. Offermanns Urteil: »Diese [die Einlagen, C. M.] und damit große Teile des Romans bleiben in den beiden neueren Interpretationen zur ›Gräfin Dolores‹ fast völlig unberücksichtigt.« Ernst L. Offermanns, Achim von Arnims Beitrag zum romantischen Roman. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 46 (1986), S. 120–128, hier S. 126. Diese Vorgehensart lässt sich narratologisch untermauern. Einlagen sind – wie es die narratologische Nomenklatur bereits vorgibt – in der Hierarchie der Erzählebenen der Rahmenhandlung immer nach- und damit untergeordnet. Arnims Roman hebt diesen Status hervor, indem er seine Einlagen (bis auf drei Ausnahmen, die der Erzählinstanz zugewiesen sind) intradiegetischen Aussageinstanzen zuschreibt. Es wird in diesen Fällen erzählt, was eine Figur erzählt hat. Die Einlagen sind – so die in diesem Punkt exakte Terminologie – metadiegetische Erzählungen, die der intradiegetischen Erzählung unterliegen. Die Rahmenhandlung erzählt dann (selbstreflexiv) vom Erzählen. Das ändert aber nichts daran, dass die Einlagen die hierarchische Erzählordnung zu keiner Zeit zerstören, obwohl sie den Phänotyp des Gesamtromans auf den ersten Blick dominieren. Aus narratologischer Perspektive kommt es in Arnims Roman zu keiner Zeit zu der Enthierarchisierung der Stimmen. Vielmehr setzt der Roman die Polyphonie der Stimmen wohl kalkuliert unter dem Dach seiner Rahmenhandlung ein. Die drei Ausnahmefälle unter den Einlagen werden der Erzählinstanz zugeschrieben. Ihnen kommt eine besondere Stellung und damit auch eine besondere Bedeutung zu (vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit).
tralen Positionen der Arnimforschung zurückgreifen. Diese hat das Erzählprinzip der ›Gräfin Dolores‹ bereits vor einigen Jahren präzise erfasst. Sie hat dazu auf eine poetologische Metapher zurückgegriffen, mit der Arnim in einem seiner ›Freundschaftsbriefe‹ an Brentano selbst die Struktur seiner literarischen Texte beschrieben hat. Die ›Gräfin Dolores‹ funktioniert demnach wie ein »changent-taft«, wie ein gewobenes Tuch, das je nachdem, in welche Richtung man es streicht, eine andere Textur aufweist.6 Arnims Liebesroman verfolgt – so würde man im trockenen Fachjargon sagen – eine doppelte, eine de-konstruktivistische Erzählstrategie.7 Im Fall seiner Liebesthematik spitzt die ›Gräfin Dolores‹ ihr Modell des doppelten Erzählens gleich noch einmal zu: Sie legt es nämlich gerade nicht darauf an, ein spezifisches Bild der Liebe zu entwerfen und dieses harmonisch durch ein zweites (drittes, viertes) zu ergänzen.8 Vielmehr hinterfragt sie das zuerst entworfene Liebesprogramm gezielt. Sie unterminiert es und fordert auf diese Weise eine Konfrontation zwischen den einzelnen Bildern der Liebe heraus. Diese Strategie des Doppelblicks, des Sowohl-als-auch, das ein Entweder-oder einschließt, fordert logischerweise auch eine doppelte Lektüre. Der Schillertaft muss einmal mit seinem augenscheinlichen Liebesmuster, ein zweites Mal aber gezielt gegen den Strich gelesen werden.
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Auf den Begriff des »changent-taft« hat zuerst Ulfert Ricklefs hingewiesen. Vgl. Ulfert Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Achim von Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«, Tübingen 1990, S. 13ff. Ulfert Ricklefs, Magie und Grenze. Arnims »Päpstin Johanna«-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte, Göttingen 1990. Aber erst Nicola Kaminski gelingt es, diese poetologische Kategorie narratologisch zu operationalisieren. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 262ff. Das Prinzip des Changierens macht – ohne es mit dem Begriff zu benennen – aber auch schon Wingertszahn fruchtbar, wenn er Ambiguität und Ambivalenz als die entscheidenden Erzählstrategien von Arnims Erzähltexten herausarbeitet. Vgl. Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß, St. Ingbert 1990. Dasselbe gilt für Gottfried Knapps Analyse, der die ›Gräfin Dolores‹ – wie auch Wingertszahn – im Kontext von Bachtins Romantheorie untersucht und sie als polyphonen Roman identifiziert. Gottfried Knapp, Groteske, Phantastik, Humor und die Entstehung der polyphonen Schreibweise in Achim von Arnims erzählender Dichtung, München 1972, zur ›Gräfin Dolores‹ vor allem S. 16–85. Zur Dekonstruktion als »Strategie der textlichen Arbeit«, vgl. Jacques Derrida, Positionen. Gespräch mit Jean Louis Houdebine und Guy Scarpetta. In: Peter Engelmann (Hg.), Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, Graz, Wien 1986, S. 120. Das Nebeneinander würde die ›Gräfin Dolores‹ wiederum zu einem »speculum amoris« machen, vgl. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 109ff. Doch auch auf dieser Ebene geht der Roman über das Nebeneinander hinaus.
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2.
Romantische Liebe hin, romantische Liebe her
Diese Technik einer doppelten Lektüre erprobt die vorliegende Arbeit induktiv mit Blick auf Dolores’ und Karls Liebe. Sie konzentriert sich auf die dargestellte Liebe und fokussiert ihren Blick zunächst auf den Beginn von Dolores’ und Karls Liebesbeziehung.9 Die erste Lektüre zeigt, dass dieses erste (romantische) Syntagma eine Art zweigliedrige Bestandsaufnahme leistet. Im Zeitraffer führt es vor, was romantische Liebe ist und wie sie im romantischen Roman erzählt wird. Der Roman bedient sich mit vollen Händen im Archiv der Schreib- und Redemuster romantischer Liebe. Unter der Prämisse, dass Dolores und Karl ein ideales romantisches Liebespaar sind, entwickelt sich dann die Geschichte des von Dolores’ verschuldeten Ehebruchs, ihrer Buße und der Versöhnung des Paares. Die vorliegende Analyse rekonstruiert diese Liebesgeschichte von der Liebesinitiation bis zum Romanschluss und entfaltet eine erste Lesart des Romans. Die bisherige Arnimforschung hat dem Entwurf des romantischen Liebeskonzepts zwar keine detaillierte Beachtung geschenkt, sie hat sich dafür aber einheitlich der Meinung verschrieben, dass Karl und Dolores zunächst ihr Liebesglück finden. In der Arnimforschung hat man ausschließlich die erste Lesart der Liebesgeschichte wahrgenommen. Weil alle bisherigen Forschungsbeiträge zu Arnims Roman, so unterschiedlich ihre einzelnen Lesarten auch sind, auf der Einschätzung basieren, dass Karl und Dolores zunächst ihr romantisches Liebesglück finden, bietet der erste Durchgang durch den Roman also zugleich einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand (Kapitel 2.1). Die zweite Lektüre zeigt, dass der Roman diese von romantischen Liebestheoremen, Erzählweisen und Topoi gesättigte Liebesinitiation konstruiert, um von diesem, im literarischen Liebesdiskurs um 1800 geltenden common sense aus, einen präzisen Ausgangspunkt für seine Kritik zu konstituieren.10 Von Beginn an seziert der Roman die »interne Logik« romantischer Liebe scharfsinnig und radikalisiert ihre Konzeption. Die vorliegende Analyse arbeitet die Arnimsche Radikalkritik der romantischen Liebeskonzeption heraus. Im Zuge eines close-readings rekonstruiert sie die einzelnen Kritikpunkte, führt vor, wie die romantische Liebe in Arnims Roman »tatsächlich« funktioniert und zeigt auf, welche Konsequenzen dies für die Erzählkonstruktion der ›Gräfin Dolores‹ hat (Kapitel 2.2 u. 2.3). In der Tat bildet die Liebesinitiation nicht nur die Basis für Dolores’ und Karls gesamtes späteres Ehe-
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Wer die erste Phase der Liebe als die Zeitspanne vom Kennenlernen bis zur Hochzeit des Paares festlegt, folgt per se den Vorgaben des romantischen Liebeskonzepts. Erst als die individualisierte Liebe das zuvor herrschende Allianzdispositiv ablöst, spielen Kennenlernen und gegenseitige Partnerwahl eine Rolle. Lützelers Kommentar, die ›Gräfin Dolores‹ werfe »die Prinzipien zeitgenössischer Erzählkunst, wie sie im europäischen Gesellschaftsroman oder deutschen Bildungsroman galten, über den Haufen«, greift dennoch zu kurz, da Lützeler dort Anarchie behauptet, wo Arnim scharfsinnig analysiert. Michael Lützeler, Kommentar zur Gräfin Dolores, Struktur und Gehalt, S. 754.
leben, sondern sie determiniert zudem, was für eine romantische Liebesgeschichte Arnims Roman überhaupt erzählen kann. Was auf welche Weise erzählt wird, hängt ja unmittelbar vom Ergebnis der Liebeskritik ab. Da die Initiationsszene eine solche Schlüsselposition einnimmt, ist es sinnvoll, gleich nach den ersten beiden Streifzügen durch das changent taft, ein erstes Fazit zu ziehen. Erst im Wissen um die Ergebnisse der (ersten) Liebeskritik und damit am Ende dieses Kaptitels legt deshalb auch die vorliegende Studie fest, wie sie weiter verfährt (Kapitel 2.4). 2.1
Romantische Liebe im Zeitraffer
2.1.1 Liebesinitiation als totale Emphase Folgt man dem performativen Sprechakt, welcher dem Erzählarrangement eingeschrieben ist, und richtet sein Augenmerk auf die Frage, welche Art der Liebe Dolores’ und Karls Eheleben begründet, fällt unweigerlich auf, dass die beiden eine »emphatische Liebe« verbindet.11 Mit allen Mitteln der Kunst entfaltet die ›Gräfin Dolores‹ von der Liebesinitiation an eine Phänomenologie romantischer Liebe.12 Schon die erste Begegnung der beiden Partner vereint das »Who ist Who?« romantischer Liebestopik. Zu dieser gehört obligatorisch, dass das Paar sich zufällig findet (129),13 denn bei der romantischen Liebe wird der »Startmechanismus der vernünftigen Überlegung und der galanten Kunstfertigkeit durch den Startmechanismus Zufall« ersetzt.14 Unabdingbar ist es auch, die Liebesinitiation schicksalhaft an den natürlichen Lauf der Dinge zu koppeln. Dolores und Karl verlieben sich deshalb nicht nur im Frühling ineinander – der topischen Jahreszeit der Liebe –, sie lernen sich zudem auch noch an einem Sonntag kennen (124), und zwar an einem, der seinem Namen von der »Morgensonne« (124) bis zum »Abendschein« (133) alle Ehre macht. Und weil die emphatische Liebe um 1800 nicht mehr unabhängig von ihrem Prototypen »Werther« gedacht werden kann, tritt Karl als Postfigurant der Goetheschen Figur auf. Karls Wanderung über »abgelegene Fußpfade« (124) sowie sein Blick von der Anhöhe auf Dolores’ Schloss herab spielen deutlich auf Werthers
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Zum »Anfang der Paarbildung« als Teil der »erotischen Ordnung« vgl. auch Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 231ff. Hartmann Tyrell, Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer »quantitativen Bestimmtheit«. In: Dirk Baecker, Jürgen Markowitz u. a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1987, S. 570–599. Karl gerät wegen seines »Vergnügen[s] Anhöhen zu besteigen« (129) auf einen »Wege, den sonst jedermann, dem er nicht notwendig, zu vermeiden pflegte« (124). Der Zufall wird noch einmal betont, wenn Karl mit »großer Verwunderung« Dolores entdeckt. (124). Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 180. Der »Zufall« gilt in der Systemtheorie als Kontingenzformel, ohne die moderne Liebe nicht mehr vorstellbar wäre. Liebe darf auf keinem Plan beruhen. Erlaubt ist nur, wie Karl es später tun wird, den Zufall an den Mythos einer unkontrollierbaren Kraft zu koppeln und ihn damit aufzuwerten. Vgl. hierzu: Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen., S. 59f.
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Weg nach und seinen Ausblick auf Wahlheim an, die er in einem seiner Maibriefe zelebriert.15 Aus dem Überangebot schwärmerischer Herzensprosa der Maibriefe ausgerechnet diese Textpassage aufzurufen, hängt damit zusammen, dass der Name »Wahlheim« nur zu gut mit Karls Liebes-Wahl korreliert. Dolores ihrerseits hält sich weißgekleidet in einem Rosengarten auf, der – die einschlägige Venus- und Marienikonografie darf nicht fehlen – als »hortus conclusus« deutlich auf den paradiesischen Garten Eden verweist (124).16 Auch die weitere Erzählung setzt sich aus topischen Mosaiksteinen zusammen. Der gemeinsame Abendspaziergang, der das Paar durch den verwildernden englischen Landschaftspark führt, verweist auf die Natürlichkeit und Unverstelltheit ihrer Kommunikation. Hinzu kommen die Laube aus Geißblatt,17 die gemeinsame Lektüre eines in Stein verewigten Liebesgedichts (132) – all diese Elemente fügen sich zu einem perfekten Bild emphatischer Liebe. In dieses passt sich auch der Höhepunkt der Initiation ein. Wenn Karl und Dolores in den Augen des jeweils anderen versinken,18 und ihr Seelenblick pantheistische Ausmaße annimmt, da auch die Abendsonne »tausend Liebesblicke […] dem schönen Tale schenkte« (132), vereint sich das Paar im Zeichen vollkommener Harmonie. Es folgt der obligatorische »keusche Kuss«, der Karl in der Tradition des Unsagbarkeitstopos zwar zunächst die Sprache verschlägt, den er aber noch am selben Abend in einem (ersten) Gedicht beschwört. Dass den Mann mit der Geliebten zugleich auch die Muse küsst,19 gehört ebenso zum festen Repertoire emphatischer Liebestopik wie der Verschmelzungstopos, den Karls Doppelvers »Ich hauchte meine Seele / Im ersten Kusse aus«
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Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 18, Brief vom 26. Mai: »Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf Einmal das ganze Tal.« Auf eine mythologische Diskursformation weist auch Nicola Kaminski hin. Da sie aber behauptet, Karl nehme Dolores »von Anfang an […] im Zeichen dieses blind machenden und zugleich selbst blinden Amor wahr«, bezieht sie sich auf die »falsche« Szene. Nicht Karls Ankunft vor Dolores’ Schloss, sondern die des Erzählers steht im Zeichen des »schlafenden Amors« (105). Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 271. Das Geißblatt wird im Volksmund »Je länger, je lieber« genannt. Spätestens seit Rembrandts »Selbstporträt mit seiner Ehefrau« gehört es zum ikonografischen Repertoire des Liebesdiskurses. »er sah ihr so sicher in die Augen und sie konnte sich nicht von ihm wenden.« (132) Zur dyadisch-reziproken Tendenz im Sinne einer »Soziologie der Sinne« und zum Motiv des »Auge in Auge« vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 647. Simmel bezeichnet in romantischer Tradition das gegenseitige Sich-Anblicken als »die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.« Vgl. hierzu weiter Hartmann Tyrell, Romantische Liebe, S. 586. Von ›Wilhelm Meister Lehrjahren‹ bis zum ›Grünen Heinrich‹ sind die Helden der Bildungsgeschichten immer zugleich Künstler und Liebende. Zur Initiation von Autorschaft und Liebe im Austausch der Blicke vgl. beispielsweise Friedrich Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 78f.
aufruft – findet doch die Liebe – so Hegel – ihr »Höchstes in der Hingebung des Subjekts an ein Individuum des anderen Geschlechts.«20 Vollendet wird das Bild romantischer Liebesinitiation dadurch, dass Karl und Dolores die, spätestens seit Schlegels ›Lucinde‹ topische, Plötzlichkeit ihrer Liebe auf Dauerhaftigkeit umstellen.21 Exakt vierundzwanzig Stunden nach ihrer ersten Begegnung – und damit im Zeichen des harmonischen Kreisschlusses22 – verlobt sich das Paar mit einer symbolischen Ringübergabe (135). Ihre Verbindung gründet einzig in gegenseitiger Zuneigung, ohne auf gesellschaftliche oder politische Interessen Rücksicht nehmen zu müssen. Sie erfüllt damit Schleiermachers Ideal der »individuellen Liebesentscheidung«.23 Zufall, vollkommene Verschmelzung und individualisierte Liebesentscheidung – Initiator, Höhepunkt und Kreisschluss der Initiationsszene – haben einen gemeinsamen Effekt: Durch sie wird »die Bedeutung der Liebesbeziehung nicht beeinträchtigt, vielmehr als Unabhängigkeit von jeder Außenprägung diese Bedeutung gerade [ge]steigert, sozusagen in sich verabsolutiert.«24 Diese Verabsolutierung garantiert das vollkommene Glück, das Dolores und Karl im Moment ihrer Liebesinitiation erleben und das sie mit ihrer Verlobung in eine »schöne Ehe« überführen wollen.25 2.1.2 Romantische Liebe und die Poetik des Bildungsromans Arnims ›Gräfin Dolores‹ lässt nicht nur das philosophisch-anthropologische Liebesideal aufleben, sie bettet es darüber hinaus gekonnt in das Handlungsmodell der Bildungsromane ein. Diese hatten um 1800 das romantische Liebesglück geradezu exzessiv gefeiert,26 indem sie die Liebesgeschichten über das Muster des Initiationsromans an die »Persönlichkeitsentfaltung des autonomen Subjekts« gekoppelt
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Friedrich Hegel, Werke IX, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 182. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 180 und Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 60. Der glückliche Ausgang der Initiationsgeschichte verläuft nach dem bewährten Muster der »Schließung des Kreises«, das – wie Blumenberg formuliert – einer Sinnrestitution entspricht, »die den Ordnungstenor der Welt und des Lebens gegen jeden Anschein von Zufall und Willkür verbürgt.« Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1996, S. 86. Zu Schleiermachers – im kritischen Dialog zu Fichtes Naturphilosophie entstandenen – Ehekonzept, vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik, Dritter Teil. Von den vollkommenen ethischen Formen. Von den Geschlechtern und den Familien. In: Ders., Schriften, hg. von Andreas Arndt, Frankfurt am Main 1996, S. 262–335. Vgl. auch Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 92ff. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 181. Zum ästhetischen Liebesideal der »schönen Ehe« vgl. Friedrich Schlegel, Lucinde, S. 76. Hiltrud Gnüg, Der erotische Roman. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002, S. 227. Zur Vereinigung des narrativen Typus von Bildungs- und Liebesroman, vgl. Niels Werber, Liebe als Roman, S. 450.
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hatten.27 Diesem konventionellen Erzählmuster folgend, verläuft sowohl Karls als auch Dolores’ Lebens- bzw. Liebesgeschichte nach der Formel von »Trennung – Initiation – Rückkehr«.28 Beide durchlaufen, nachdem sie ihre Eltern durch deren Flucht respektive Tod verloren haben (= Trennung), eine Transitionsphase. In diese fällt ihre Liebesinitiation. Mit ihrer Hochzeit schließlich kehren sie zu ihrer familialen Ordnung zurück. Aufgrund dieser Motivierung läuft ihre Liebesgeschichte nach dem teleologischen Handlungsmuster der Bildungsromane zielstrebig auf ihre Heirat zu.29 Im Gegensatz zu den Protagonisten der Bildungsromane, die teilweise jahrelang ausharren müssen, bis sich ihre Hochzeitspläne erfüllen,30 haben Karl und Dolores auf ihrem Weg zum Eheschluss ein eher symbolisches Hindernis aus dem Weg zu räumen: Wenn Karl seine Geliebte nach sechs Wochen wieder verlässt, um seine Ausbildung an der Universität abzuschließen (140f.), gefährdet diese Trennung weniger die Beziehung des Paares, als sie vielmehr indiziert, dass die Liebesgeschichte tatsächlich nach dem Muster der Bildungsromane verläuft und damit »den Schauplatz des Liebesglücks konsequent in das Selbst seines (männlichen) Protagonisten versetzt«.31 Subjektbildung ja, Wartezeit nein – Arnims Paar verliert keine Zeit auf seinem Weg zum Ziel. Nach einem Herbst und Winter der Trennung kehrt Karl genau ein Jahr nach seiner ersten Begegnung zu Dolores zurück. Da sich ihr Liebesschicksal in den natürlichen Kreislauf des Lebens fügt, fällt ihre »Auferstehung der Liebe« just in den Frühling, genauer: in die Osterzeit (149). Von dem Moment des Wiedersehens an geht alles ganz schnell: Noch im Sommer, nur 1 ½ Jahre nach der 27 28
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Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 21. Michael Titzmann hat den Initiationsroman als »repräsentative Erzählform der Epoche« um 1800 bestimmt, vgl. Ders., »Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830)«. In: Jürgen Link u. Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 100–120, hier S. 101. Joseph Campbell sieht in der dreiphasigen Ordnung der Initiationsgeschichte den Kern der großen Heldenmythen: »Der Held tritt aus einer etablierten sozialen Ordnung in den außersozialen Raum aus, wobei diese Transitionsphase durch eine Reise markiert wird, um am Ende in eine neue, mit der ersten nicht identische soziale Ordnung einzutreten.« Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 36. Zum Muster der Bildungsromane vgl. auch Kapitel 2.3 dieser Arbeit. Das Schicksal, das die Protagonisten der Bildungsromane trifft, bleibt auch Charlotte und Eduard in Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ nicht erspart. Die beiden »liebten einander als junge Leute herzlich« (14), müssen dann aber jeweils Partner heiraten, die sie nicht lieben. Erst Jahre später finden sie sich wieder und erfüllen sich den Jugendtraum ihrer Liebeshochzeit. Ihrer Liebesehe haftet aber grundsätzlich der Makel des zu spät erfüllten Liebesglücks an, ihr ist daher – aus romantischer Sicht – das Scheitern bereits eingeschrieben. Arnims Roman unterscheidet sich also in einem zweiten Punkt von Goethes Roman: Dadurch, dass Dolores und Karl ihre Liebeshochzeit umgehend verwirklichen. Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 23. Vgl. zu diesen Zusammenhängen Kapitel 5 dieser Arbeit.
ersten Begegnung, heiratet das Paar. Das romantische Liebesglück ist perfekt, das Verlobungsversprechen erfüllt, das Happy End der Bildungsromane erreicht und die eingangs gestellten Fragen, was das romantische Liebesideal auszeichnet und wie es um 1800 erzählt werden sollte, sind beantwortet. 2.1.3 »Domestizierte Liebe« in »wilder Form«: Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores Von der Hochzeit des Paares aus erschließt sich im Zusammenspiel mit dem Romantitel auch die Makrostruktur der Romanhandlung. Im vierstufigen Lebensweg »Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores«, der zugleich die Folge der vier Abteilungen des Buches vorgibt, leitet die Hochzeit von der ersten zur zweiten Station, von Armut zu Reichtum über. Der Reichtum korrespondiert mit dem Liebesglück des Paares. Der weitere Verlauf der Liebesgeschichte ist nach dieser Zuordnung leicht erzählt, zumal das viergliedrige Handlungsmodell noch einmal zusätzlich gestärkt wird: Insgesamt fünf gemeinsame Reisen des Liebespaares segmentieren den Handlungsstrang und unterlegen ihn zugleich mit einer binären topografischen Matrix, der von Stadt- versus Landleben. Im Frühling nach ihrer Vermählung, die Jahreszeit verweist selbstverständlich erneut auf das Liebesglück, zieht das Paar von Dolores’ Stadtschloss auf den Landsitz von Karls Eltern (165).32 Sie folgen mit dieser Reise dem Rousseauschen Topos von ländlicher Zurückgezogenheit, Einfachheit und natürlicher Harmonie. Die Landreise verstärkt den Eindruck, dass es Karl und Dolores gelingt, »Liebe, Individualität und Ehe zu vereinen«.33 Als wäre das Liebespaar ein Prototyp des von Habermas um 1800 verorteten »Strukturwandels der Öffentlichkeit« sucht es auf dem Land die »dauerhafte Intimität des neuen Familienlebens, das sich einerseits von dem Leben des städtischen Adels, andererseits vom Leben der Großfamilie unterscheidet.«34 Die beiden sind so ernsthaft um ihre intime Zweisamkeit besorgt, dass sie auf dem entlegenen Landsitz selbst noch einmal zwischen der eigenen Privatsphäre und dem öffentlichen Raum differenzieren. Die gelegentlichen Gesellschaften, bei denen das Paar niemals mehr als eine handvoll Besucher und Bekannter empfängt, sowie die Hochzeit von Dolores’ Bediensteter Rosalie mit Lorenz und der Gerichtstag finden entweder im Schlosshof oder in einem eigens
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»Der Drang des Grafen zu seiner eigentlichen Tätigkeit, und einige arkadische Träume der Gräfin, auch ihr Wunsch sich den zufriedenen Untertanen recht prachtvoll und wohltätig zu zeigen, beschleunigte die Abreise aufs Land nach dem Stammschloß des Grafen.« (165). Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 190. Vgl. auch Luhmanns Aussage: »Romane schließen mit der Ehe, Liebende suchen die Ehe.«, Ebd., S. 190. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 65. Tatsächlich erwartet Karl und Dolores auf dem Landschloss des Grafen kein einziges Familienmitglied. Das Paar lebt jenseits der Großfamilie und ist ganz auf sich gestellt.
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dafür eingerichteten Saal statt. Sie bleiben aber streng von den Wohnräumlichkeiten getrennt.35 Die Innenarchitektur des Schlosses spiegelt das Ansinnen des Liebespaares wider, das – um noch einmal Habermas zu zitieren – »die Sphäre des Familienkreises […] selbst als unabhängig, von allen gesellschaftlichen Bezügen losgelöst, als Bereich der reinen Menschlichkeit wahrhaben möchte.«36 Mit Hilfe radikaler Privatisierung, gesichert über die doppelte Opposition von Stadt- und Landleben sowie von Außen- und Innenraum, führen Dolores und Karl die »Poesie der Liebe« in ihre »schöne Ehe« über. Deren »harmonische Ordnung entspricht zugleich dem ästhetisch Vollkommenen«.37 Die zweite, mit »Reichtum« überschriebene Abteilung endet gemeinsam mit dem Sommer des Eheglücks. Kurz nach Erntedank, zu Beginn des Herbstes, kehrt das Paar wieder in die Stadt zurück. Dort betrügt Dolores in der dritten Abteilung »Schuld« ihren Mann und bricht die Ehe. Dolores’ Schuld kontrastiert nun offen mit der Tugendhaftigkeit ihres Mannes, zumal die Erzählinstanz keine Gelegenheit auslässt, um Dolores’ Vergehen anzuprangern. Das topografische Stadt und LandMuster unterstützt diese Opposition noch einmal. Während Dolores sich den Verführungskünsten des Markese in ihrem Stadtschloss hingibt, hält sich Karl alleine auf seinem Landsitz auf, an dem Ort des vorherigen gemeinsamen Eheglücks.38 Was Arnims Roman in seinen beiden mittleren Abteilungen erzählt, verläuft nach dem um 1810 – spätestens durch ›Die Wahlverwandtschaften‹ – eingeübten Schema der Ehebruchsgeschichten: Das Paar wird durch eine dritte Person gestört, seine Liebe zerbricht, es kommt zur unausweichlichen Katastrophe.39 35
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Der Roman rekurriert beispielsweise auf diese räumlich, semantische Differenzierung, wenn der hässliche Baron, nachdem ihm von Karl Hausverbot erteilt wurde, auf Karls Frage »wie können Sie sich unterstehen wieder mein Haus zu betreten?« (173) antwortet, er sei deshalb – und das zeigt sein exaktes Bewusstsein von der Trennung des öffentlichen vom privaten Raum – »auf dem Hofe geblieben« (173). Die Trennung wird ebenfalls während Rosalies und Lorenz’ Hochzeit deutlich. Die Hochzeit findet ausdrücklich »im Hof« statt (236). Nur ein kleiner, erlesener Kreis der Landbevölkerung betritt das Haus. Aus diesem verweist Karl die beiden Prediger am späten Abend, indem er ausdrücklich von seinem »Hausrecht« gebrauch macht. (236) Die Einrichtung eines öffentlichen Raums zeigt sich schließlich noch beim »Gerichtstag«, der in einem »großen Saal« abgehalten wird und sich von dort aus bis auf den Hof zieht (288f.). Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 63. Zu dieser Idee des Vollkommenen vgl. Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 11 und S. 77f. Zur Diskussion um 1800 vgl. Adam Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe, hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert, Bd. 2, Ästhetische Schriften. Von der Idee der Schönheit, In Vorlesungen gehalten zu Dresden im Winter 1807/1808, Neuwied und Berlin, 1967, S. 94ff. Da das Stadtschloss zuvor schon Schauplatz von Dolores’ Armut war, sprechen Gottfried Knapp und Klaus Peter von einer »moralischen Topographie«. Gottfried Knapp, Groteske, Phantastik, Humor, S. 19. Klaus Peter, Achim von Arnim: ›Gräfin Dolores‹ (1810), S. 247. Der Vergleich mit den ›Wahlverwandtschaften‹ provoziert die Behauptung, Charlottes und Eduards Ehe sei dort nicht erst durch die Ankunft eines Dritten, sondern von Be-
Doch gemessen an dieser Erzählkonvention nimmt Dolores’ und Karls Liebesgeschichte eine unvorhersehbare Wende. Das außergewöhnliche Ereignis des Romans vollzieht sich während der dritten gemeinsamen Reise des Paares, deren Verlauf selbst schon außerordentlich wirkt: Ohne nämlich vom jeweils anderen zu wissen, brechen Dolores und Karl kurze Zeit nach dem Ehebruch voneinander getrennt zu der gleichen Pilgerreise auf. Die Kirche, in der sich das Paar zu Beginn der 4. Abteilung »Buße« zufällig wieder trifft, wird vom Text als ein von Foucault später so genannter dritter, heterotopischer Ort inszeniert. 40 Sie fällt ostentativ aus der binären Matrix von Stadt und Land heraus. Der Bruch mit dem binären Muster ist ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas Außerordentliches von statten geht: Karl und Dolores versöhnen sich. Das geläuterte Paar verlässt zusammen den Wallfahrtsort und kehrt – mit seiner vierten Reise – zu seinem Stadtschloss zurück. Von dort aus treibt es Karl und Dolores nur wenige Wochen später weg aus Deutschland nach Italien. Sie ziehen auf das sizilianische Landgut von Dolores’ Schwester Klelia – eine italienische Variante der rousseauschen Insel. Diese fünfte Reise dient ausdrücklich dem Vergessen: »Ihrem Sinne war das Neue schon darum lieb, weil es das Alte verlöschte« (462). Die ländliche Zurückgezogenheit und der dort herrschende, ewige Sommer legen nahe, dass das Paar sein zuvor verlorenes harmonisches Liebesglück wieder findet. Die topografische Opposition zwischen Deutschland und Italien verweist zudem darauf, dass im topischen Land der Sehnsucht das Liebesglück wahr wird – bringt man nur ausreichend Geduld, Demut, Bußfertigkeit und Versöhnungswillen auf. Gekrönt wird Dolores’ und Karls Liebesglück erst durch ihre zwölffache Elternschaft, dann aber durch Dolores’ Liebestod und zuletzt durch Karls Denkmalbau, der nach 16 ½ Jahren Ehe das Andenken daran wach hält, dass seine Liebe nicht nur solange dauert »bis dass der Tod sie scheidet«, sondern über den Tod hinaus reicht. Die Besonderheit von Arnims Liebesroman besteht demnach darin, dass er bis zum Ehebruch zielgerichtet auf eine tragische Katastrophe zuläuft, er mit einem Kreisschluss der Versöhnung die Liebe des Paares aber noch einmal auferstehen lässt. Da der zweite Versuch nach Dolores’ und Karls »außerordentlicher« Wiedervereinigung vermeintlich zum Erfolg führt, konnte von Graevenitz das Telos des Romans paradigmatisch für die Arnimforschung gleich auf drei Ebenen festmachen:41 Erstens, fordere Dolores’ viergliedriger Lebensweg geradezu plakativ eine allegorische Lektüre heraus. Ikonografisch mit allen Attributen des Vorbilds Maria Magdalena ausgestatteten, wandele sie sich von der heidnischen Sünderin
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ginn an wegen der Verspätung gestört. Diese Verspätung entsteht aber exakt dadurch, dass ein Dritter die Liebe des Paares stört, denn beide Partner heiraten ja zunächst einen Anderen. Die Störung durch den Dritten wiederholt sich dann noch einmal in der Ehe. Michel Foucault, Die Heterotopien/Les hétérotopies. Die utopischen Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt am Main 2005, S. 7–23. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 109f.
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zur demütigen christlichen Büßerin und zuletzt zur »Heiligen Mutter Maria«. 42 Da Dolores sich Karls männlicher, religiös fundierter Liebe demütig füge, domestiziere der Roman den verwilderten Liebesbegriff der Romantik. 43 Zweitens feiere Arnims Roman somit eine Apotheose der Ehe. Und drittens begründe die ›Gräfin Dolores‹ in der Idealisierung der Ehe durch den demütigen Tod der ehemaligen Sünderin ihr diskurspolitisches Programm. Die romantische Liebesgeschichte folge offensichtlich dem »doppelten Kursus des höfischen Romans«. Es gelte demnach, den »roman libertin in seinen Ursprung im höfisch-allegorischen Roman« zurückzuerzählen und auf diese Weise die »moralische Erneuerung des Erzählens« zu garantieren. Kurzum, Arnims ›Gräfin Dolores‹ Roman eilt aufgrund der Versöhnung des Paares der Ruf voraus, formal zwar der verwildertste, in Sachen Liebe aber der moralistischste, konservativste, ja der verstaubteste Roman der Romantik zu sein. 2.2
Zurück auf Los. Romantische Liebe revisited
2.2.1 Liebe kann kein Zufall sein. Die Vivisektion eines Phänomens Im Folgenden gilt es, ein (der Arnimforschung) bisher verborgen gebliebenes Bild der Liebe zum Vorschein zu bringen. Von Graevenitz’ Einschätzung eignet sich deshalb gut als Ausgangspunkt der weiteren Argumentation, weil sie davon ausgeht, dass Arnims Roman sich kritisch mit dem Konzept romantischer Liebe auseinandersetzt. In diesem Urteil stimme ich von Graevenitz zu. Nur sehe ich in der ›Gräfin Dolores‹ keineswegs den Versuch, den romantischen Liebesbegriff gemeinsam mit dem narrativen Programm zu domestizieren und ihn konservativ zu wenden. Im Gegenteil: Arnims Roman denkt das romantische Liebeskonzept in solcher Konsequenz weiter, wie es die Romantiker selbst nicht gewagt haben. Statt das Liebeskonzept in der dritten und vierten Abteilung des Romans zu domestizieren, radikalisiert er es und mit ihm gemeinsam die Poetik des romantischen Liebesromans von Beginn an. Der erste Schritt dieser Radikalisierung besteht darin, die romantische Simplizität des angeblich unergründlichen Liebesgefühls zu analysieren und durch einen komplexen Liebesbegriff zu ersetzen. Die Gegenbewegung zur bisher aufgezeigten Konstruktion romantischer Liebesideale ist bereits an der perfektionistischen Inszenierung der Initiation selbst zu erkennen. Aufgrund der »globalen« Bestechung des Schicksals, aufgrund der Tatsache, dass das Liebespaar wie von einem manischen Vollständigkeitswahn besessen keinen einzigen romantischen Topos auslassen darf, nimmt ihre Liebesge-
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In der Versöhnung des Paares kulminieren zwei außergewöhnliche Ereignisse: Die Erneuerung der Liebe und die Neugeburt der Titelheldin, der – so von Graevenitz paradigmatisch für die Arnimforschung – »eine zweite Identität zugeschrieben« werde. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 107. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 107.
schichte nahezu absurde Dimensionen an. 44 Der Effekt dieser Überinszenierung ist gerade nicht Natürlichkeit oder Authentizität, sondern ausgestellte Artifizialität. Der Roman erzeugt mit seiner Materialschlacht eine ironische Distanz, von der aus das Kulissenhafte der Inszenierung deutlich wird. Gezielt reißt der Erzähltext seine romantische Fassade nieder. Diese »Poetik der Dissoziation« zielt in erster Linie gegen die so vehement behauptete »Verabsolutierung« romantischer Liebe. Als deren ersten Garanten unterläuft der discours die Kontingenzformel »Zufall«. Er durchkreuzt den schicksalhaften natürlichen Ablauf der Liebesinitiation, und macht Dolores’ und Karls Liebesglück als Produkt einer rekonstruierbaren »internen Logik« der Liebe sichtbar. 45 So lernen sich die beiden Liebenden zwar im zentralen 5. Kapitel der ersten Abteilung kennen (124–126), persönlich treffen sie sich aber keineswegs. Weil Karl seine zukünftige Frau – durch eine Gartenmauer von ihr getrennt – zuerst vor ihrem Schloss sieht, Dolores aber nur nachträglich, nachdem sie sich längst wieder in das Schlossinnere zurückgezogen hat, durch die Erzählung eines »alten Bedienten« von ihm hört, sind die beiden nicht nur räumlich und zeitlich voneinander getrennt, sie unterscheiden sich zudem noch in ihrer Art, wie sie den anderen (sinnlich) wahrnehmen. Das Nacheinander von Karls Blick und Dolores’ Zuhörerschaft zerreißt das Bild des sympathetischen Augenblicks. Statt in diesem gründet ihre Liebe in zwei separaten Wahrnehmungsakten:46 Da trat der alte Bediente wie gewöhnlich in seinem Sonntagsrocke mit derselben Art zu ihnen ein, wie er in Zeiten des Glücks zu ihnen gekommen war […]. Aber statt wie gewöhnlich von ihrem Vater zu erzählen […], begann er heute seine Reden ganz anders wohlgefällig, geheimnißvoll. Erst nach langen Umschweifen von dem Glücke, das oft unverhofft käme, brachte er vor, daß ein junger Graf […] sich dem gräflichen Lustgarten angeschlichen und über der Mauer, von der die Deckplatten und manchen Stein gestohlen, zu seiner großen Verwunderung vor dem Palaste zwei schöne Mädchen gesehen, die er für Königinnen gehalten […]. (124)
Dieses narrative Arrangement des 5. Kapitels hat nicht nur den Effekt der Dissoziation, es richtet darüber hinaus den Fokus des Erzählens auf die Differenz zwischen dem objektivem Sachverhalt einerseits und der subjektiven Einschätzung durch die Figuren andererseits. In den Vordergrund der Betrachtung geraten die Verarbeitungsmodi des »erlebenden Bewusstseinssystems«. 47 Deren Objektivität aber ist (spätestens) seit Kants ›Kritik der telelogischen Urteilskraft‹48 grundlegend in Frage ge-
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Vgl. zu Arnims Romantikkritik: Bernd Haustein, Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim von Arnims, Göppingen 1974. Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 16 u. 25. Von Beginn an erzählt die ›Gräfin Dolores‹ zwei unterschiedliche, deutlich voneinander geschiedene Liebesgeschichten. Zur Parallelisierung von Handlungssträngen vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 79ff. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 23. Kants Bedenken, ob wir die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von unserem Wahrneh-
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stellt. 49 Tatsächlich zeigt sich, dass sowohl Karls als auch Dolores’ Wahrnehmung und Denken von einer unhintergehbaren Befangenheit befallen sind.50 Beide verfügen nur partiell über Informationen, beide sind in einem in sich geschlossenen, sich selbst immunisierenden telelogischen Interpretationssystem eingebunden und beide verfügen deshalb nur über einen eingeschränkten Blick.51 Diese erkenntnistheoretische und psychologische Verortung der Liebe impliziert zugleich,52 dass Dolores’ und Karls Liebe abhängig von den Reden und Begehren der Anderen und damit von der Zirkulation der Zeichen ist.53 Der letzteren sind sowohl bei Karl als auch bei Dolores die Gefühle nachgeordnet, obwohl diese doch die Grundlage der Liebe sein sollten. Die Liebe unterliegt einer Logik des Tausches, deren Ökonomie sie unterworfen ist. Ihre Liebe konstituiert sich – funktional analog zu Derridas Spurbegriff – als eine immer schon sekundäre Erscheinung, deren medialisierte Struktur nicht zu hintergehen ist.54 Ihre Liebe gehört einer symbolischen Ordnung an. Sie resultiert als ontologisch substanz- und grundlose Ordnung aus der Zirkulation von Zeichen. Augenscheinlich wird diese Tatsache dadurch, dass das Paar auf die Dienste eines Vermittlers angewiesen ist. Der alte Bediente füllt die Lücke zwischen den beiden Partnern. Er vereint die Liebenden mit seiner Erzählung, andererseits steht er aber (trennend) zwischen ihnen. Zudem schleicht sich mit dieser Figur des Dritten »die Weltlichkeit als solche« gleichsam durch die Hintertür in die »weltliche Religion des Herzens« ein, die strikt auf Zweisamkeit beschränkt ist.55 Diese Zerstörung der intimen Dyade markiert, dass Dolores’ und Karls Liebesentscheidung nicht von ihren Lebensumständen und damit von politischen, ökonomischen, religiösen etc. Faktoren zu trennen ist. Dazu
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mungsvermögen und Denken ist, treffen oder verfehlen, kristallisiert sich im folgenden Satz: »Wir können nicht entschieden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.« Kant, Werke II, S. 634. In Arnims Fall begründet sich diese Skepsis gegenüber der Wahrnehmung auch aus seiner naturwissenschaftlichen Forschung, vor allem aus seiner Kritik an Newtons Optik. Vgl. hierzu Frederick Burwick, Elektrizität und Optik: Zu den Beziehungen zwischen wissenschaftlichen und literarischen Schriften Achim von Arnims. In: Aurora 46 (1986), S. 19–47, hier S. 30ff. Dieser Skeptizismus ist nach Heidegger bereits auf Platons Höhlengleichnis zurückzuführen. Vgl. Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit. In: Ders., Wegmarken, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, S. 203ff. Allein der Leser erhält aufgrund der Interferenz des inneren und äußeren Kommunikationssystems einen Gesamtüberblick. Dass Arnim einen besonderen Akzent auf den »psychischen Mechanismus« legt und damit den Gegensatz von Kants praktischer Vernunft zu der Welt der reinen Vernunft beleuchtet, erkennt bereits Ricklefs. Allerdings ohne diese Erkenntnis in irgendeiner Art narratologisch zu operationalisieren, vgl. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim, S. 255. Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 23. Vgl. Jacques Derrida, Die différance, S. 26ff. Georg Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 186.
gehört, dass die erste Abteilung des Romans die Liebe ihrer Figuren mit erheblichem Aufwand psychologisch aus ihrer gegenwärtigen Lebenssituation einerseits, aus ihrer Kindheitsgeschichte andererseits entwickelt. Jochen Hörisch hat, mit Verweis auf die etymologische Verwandtschaft von »Glück« und »Lücke« gezeigt, dass das Liebesglück zur »Supplementierung eines tiefenstrukturellen Mangels« dient.56 Exakt diese Geschichtlichkeit der Liebe hebt die ›Gräfin Dolores‹ hervor, wenn sie in den Kapiteln 2–4 vor Karls Ankunft Dolores’ Kindheit ausführlich schildert und wenn sie an das 5. Kapitel – auf der Ebene des discours – nicht etwa sofort die erste persönliche Begegnung des Paares anschließt, sondern einen Rückblick in Karls Vergangenheit. Demonstrativ zerstört dieser Riss in der Erzählordnung den »natürlichen Ablauf« der Ereignisse. An dieser Bruchstelle spielt der Roman das romantische Liebeskonzept gegen »die romantische Entdeckung der Kindheit« aus. Die Romantik trennt zwar einerseits strikt zwischen der Liebe, die »in edleren, feurigen Gemütern […] aufkeimt«, und dem »für sich festen Dasein«.57 Sie hebt diese Trennung andererseits eigenhändig auf, da sie behauptet, die Kindheit sei ein »traumatischer Ort, der das spätere Leben nachhaltig bestimmt.58 Kurzum: Dolores und Karl treffen zwar aufeinander, ohne dies zuvor geplant zu haben. Ihre Liebesentscheidung beruht aber ausdrücklich nicht auf einem Zufall. Mit der topologisch beschworenen »Spontaneität des Herzens« hat ihre gegenseitige und individualisierte Liebesentscheidung genauso wenig zu tun,59 wie mit der Forderung, die Liebe ausschließlich in den individuellen Eigenschaften des Gegenübers zu begründen. Auch die romantische Vorstellung einer symbiotischen Subjektverschmelzung wird hinfällig. Das narrative Arrangement von Dolores’ und Karls Liebesentscheidung enttarnt die Voraussetzungslosigkeit und Verabsolutierung der Liebe als romantisches Konstrukt, das den Vorgaben des eigenen Konzepts widerspricht. Der Roman zeigt, dass die Liebe des Paares auf einer rekonstruierbaren Logik beruht und verpasst dem romantischen Liebesideal auf diese Weise einen Realitätsschock. 2.2.2 Gefühlsmechanismen: Individualisierung, Polykontextualität, Perspektivität Mit dem nüchternen Blick des Anthropologen rekonstruiert der Roman die einzelnen Komponenten, welche Dolores’ und Karl Liebesentscheidung logisch steuern. Er entwirft zwei individualisierte Liebesvorstellungen. Anhand dieser führt der
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Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 23. Dieser These stimmt – aus anderer Perspektive – auch die Systemtheorie zu, vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 60. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 186. Detlef Kremer, Prosa der Romantik, Stuttgart 1996, S. 144ff. Zum Konzept der »Spontaneität des Herzens« innerhalb des romantischen Liebesdiskurses vgl. beispielsweise das ›Lucinde‹-Kapitel von Hiltrud Gnüg, Der erotische Roman, S. 216ff.
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Roman vor, was die Soziologie heute mit der »Polykontextualisierung des Subjekts« bezeichnet: Die individualisierte Liebe konstituiert sich erst im Austausch des Subjekts mit den (Wahrnehmungs-)Objekten seiner Umwelt; sie entsteht – mit Worten der Systemtheorie – in der reziproken Verrechnung von Zeichen.60 Der Austausch zwischen Subjekt und Umwelt aber führt dazu, dass sich das Subjekt aus einem hochkomplexen Zusammenspiel der unterschiedlichsten Systeme von der Kultur, über die Familie (frühkindliche Prägung) bis hin zur Ökonomie, zum Recht und zur Religion konstituiert. Die Identität des Subjekts löst sich infolgedessen in eine Vielzahl von Subsystemen auf. Das Ich ist keine verlässliche Größe mehr. Der Roman spinnt aus feinen Fäden ein Liebesgewebe.61 Die Komplexität dieser Struktur ist aber nicht mit einem Rückfall in Willkür und Anarchie gleichzusetzen, vielmehr weisen die Liebestexturen deutlich erkennbare Muster auf. Und tatsächlich bleiben die Konstituenten dieser individualisierten und polykontextualisierten Liebe vom ersten Moment an über den gesamten Roman hinweg konstant. (Nur in Karls Fall kommt anschließend noch der Themenkomplex »Religion« hinzu). Sie bestimmen das Geschick der Romanfiguren.62 Der Entwurf der beiden Liebessubjekte dient zugleich also zu der Exposition der wesentlichen Themenkomplexe, welche die ›Gräfin Dolores‹ im Zusammenhang ihres Liebesdiskurses verhandelt. Nacheinander stelle ich zunächst Dolores’ und anschließend Karls Prämissen ihrer jeweiligen Liebesentscheidung vor. 2.2.2.1 Dolores: Prämissen der Liebe Die Psychologisierung der Lebensumstände Als Dolores ihren zukünftigen Ehemann kennen lernt, lebt sie gemeinsam mit ihrer Schwester Klelia vollkommen verarmt in einer Dachkammer des verlassenen, langsam verfallenden Palastes, den ihr Vater Jahre zuvor gebaut hat. Von der Außenwelt sind die beiden Schwestern isoliert, um sie herum herrscht allgemeine Not. Ein Krieg hat jede gesellschaftliche und familiäre Ordnung aufgelöst.63 In welchem Maße diese gesellschaftliche und ökonomische Notsituation Dolores’ Liebesentscheidung prägt, spiegelt sich in ihren Wünschen, Vorstellungen und Träumen. Jeden Morgen hat sie »immer einen wunderbaren Traum im Kopfe, der ihr großes Glück versprochen.« (113) Einmal träumt sie – einen Topos christlicher Liebe zitierend – »ein ritterlicher Fürst [sei] in ihr Haus gebracht worden und ha[b]e sich
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Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 24ff. Selbstverständlich ist dieses Gewebe nichts anderes als ein »changent taft«. In jeder Kommunikationssituation kann man es von unterschiedlichen Perspektiven aus betrachten, und jeweils offenbart sich ein anderes Bild des Schillertafts. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 23. Der Romantext verzichtet auf jede weitere Spezifizierung des Krieges. Es bleibt vollkommen offen, um was für einen Krieg es sich handelt.
ihr ehelich verbunden, zum Danke, wie sorgfältig sie seine Wunden verbunden.« (113) Ein anderes Mal klagt sie in Anspielung auf die mittelalterliche Minne, »dass dem Adel die Heiratslust so ganz vergangen schiene; eine glänzende Heirat sei der höchste Preis einer Frau, alle turnierten darauf.« (123) Und als Klelia ihr die Geschichte des Ritters Hugh Schapler erzählt, bemerkt Dolores lakonisch: »Den nähme ich schon zum Mann.« (121). Noch am Morgen von Karls Ankunft beobachtet sie von ihrem Fenster aus einen schönen Bauernburschen und zeigt sich im Sinne passionierter Liebe bereit, alle ständischen Regeln über Bord zu werfen: »Wahrhaftig ich möchte lieber solch einen Burschen zum Manne haben, als gar keinen« (114), bemerkt sie,64 bevor sie singt: »Will ich mit schönen Knaben reden, die neigen sich in Demut gleich, und merken nicht wie gern ich jedem den roten Mund zum Kusse reich, Ach dacht ich oft bei mir so schwer, Ach wenn ich keine Gräfin wär!« (115) Anhand dieser Träume und Wünsche lassen sich insgesamt sechs wesentliche Aspekte von Dolores’ psychologisierter Liebe verdeutlichen. Erstens haben sie alle einen gemeinsamen Nenner: Sie drücken ihr sehnsüchtiges Verlangen aus, ihrer Notsituation mit Hilfe einer Heirat zu entkommen. Im Anschluss an Platons Erosbegriff gründet Dolores’ Liebesvorstellung auf einer Situation des Mangels.65 Ihre Liebesbegehren motiviert sich demnach auch aus ihrer finanziellen Misere. Dolores’ Armut konnotiert zugleich ihren gegenwärtigen Mangel an Liebe und ihre ökonomische Not. Beide will Dolores mit einem Streich beheben. Ihre Wünsche verweben zweitens also die Paradigmen »Gefühl«/»Liebe« und »Ökonomie« miteinander.66 Über diese erotische Paradigmatisierung hinaus,67 zeigt sich drittens der schematische Charakter von Dolores’ Liebesvorstellungen. Ihre Liebesvorstellungen folgen kulturellen Codes, sie bestehen aus allgemeinen Topoi der Liebe und sind somit eine (willkürliche) Setzung von Zeichen. Zu diesen gehört auch, dass sich Dolores, wenn sie auf ihren Erlöser wartet, den Stereotypen des Geschlechterkodes unterwirft. Schließlich wartet sie über Jahre hinweg passiv, im Schloss ihres Vaters eingeschlossen auf ihren männlichen Erlöser.68 Viertens zeigt der Synkretis-
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Allerdings weist die Distanz zwischen ihrer erhabenen Position am Schlossfenster und dem Bauernburschen zu ihren Füßen darauf hin, dass diese Idee nur Koketterie ist. Der Bauernbursche würde, wenn es zu einer Begegnung käme, nicht allen ihren Vorstellungen entsprechen (vgl. Punkt 6 der folgenden Aufzählung). Platon, Symposion. In: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 2, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck, Reinbek 1964, S. 203–250, hier S. 229f. Wenn Dolores’ finanzielle Not ihre Liebe begründet, verstößt der Roman gegen alle Konventionen romantischer Liebesromane, welche – wie Peter von Matt noch beklagt – die »handfest ökonomischen Gegebenheiten in der Regel kurzerhand unterschlagen«. Peter von Matt, Liebesverrat, S. 68. Vgl. zu dieser semiologischen Textproduktion in Arnims Erzähltexten den Aufsatz von Dagmar Ottmann, Achim von Arnim, Der tolle Invalide auf dem Fort Ratenneau, S. 73–104. Dolores’ Träume erhalten bereits einen subtilen Hinweis darauf, dass sie späterhin gegen
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mus ihrer Vorstellungen, die sich aus dem Repertoire aller möglichen Liebescodes von der Minne bis zur Passion bedienen, dass Dolores’ Liebe nicht in der »Vortrefflichkeit des geliebten Objekts gründet«.69 Das individualisierte Liebeskonzept hat offensichtlich nichts mit der Individualität des Geliebten zu tun. Statt dessen Charakter steht seine ökonomische und gesellschaftliche Funktion als »Retter« im Vordergrund ihres Interesses. Fünftens wird Dolores’ Liebe von einer zweifachen metonymischen Struktur geprägt:70 Über die Paradigmen »Ökonomie« und »Gesellschaft« verbinden sich ihre Imaginationen direkt mit ihrer Kindheit. Diese ist geprägt, so erfährt der Leser zuvor, durch das traumatische Ereignis der väterlichen Flucht, die ihrerseits den Niedergang der gräflichen Familie, den Tod der Mutter und das ärmliche Leben der beiden Schwestern nach sich zog (vgl. 110ff.). Vor seiner Flucht jedoch hat der Vater seinen Töchtern ein luxuriöses Leben geboten, sie – ohne Rücksicht auf konventionelle Geschlechterrollen – an politischen Entscheidungen beteiligt und gleichberechtigt neben dem Erbprinzen des Fürsten aufwachsen lassen (vgl. S. 107ff.). Als Symbol dieses väterlichen Reichtums und zugleich als Symbol von Dolores’ sorgenfreier Kindheit fungiert bis in ihre Gegenwart der Palast ihres Vaters. Dessen langsamer Zerfall verweist darauf, dass Dolores’ vom Bau des Palastes geprägte Vergangenheit im umgekehrten Spiegelverhältnis zu ihrem gegenwärtigen Leben steht.71 Träumt sie heute vom Reichtum, heißt es von ihrer Kindheit: »Dolores kannte die Armut gar nicht, sie war ihr eine poetische Person, die sie einmal als Maske darstellte […].« (108) Jetzt aber kennt Dolores die Armut, und der Reichtum ist für sie – vice versa – in das Land der Träume und der Phantasie entrückt. Folgt man Dolores’ Blick von ihrer Gegenwart in die Zukunft, bedeutet dies: Wünscht sie sich heute einen Ehemann, der sie aus ihrer Armut be-
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diese Vorgaben verstößt. In ihren Träumen turnieren die Frauen nach dem höchsten Preis, der Heirat. Sie lassen sich nicht von den Männern erobern. Ihre Vorstellung entspricht an dieser Stelle aber noch nicht ihrem Handeln. Dem Zusammenhang von Gender und Rhetorik, der Dolores’ Liebesbeziehung von dieser Szene an mitbestimmt, bin ich inzwischen in einem eigenen Aufsatz nachgegangen: Rhetorik der Unterbrechung. Zur Konstruktion weiblicher Rede in Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 29 (2010), Rhetorik und Gender, hg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf, Berlin 2011, S. 78–94. Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe Nahrung wurde. Zur Alphabetisierung der Empfindsamkeit. In: Benedikt Burkhard (Hg.), Liebe.komm: Botschaften des Herzens. Eine Publikation der Museumsstiftung Post und Telekommunikation anlässlich der Ausstellung »Liebe.komm: Botschaften des Herzens« im Museum für Kommunikation Frankfurt (15. Februar bis 31. August 2003), Frankfurt am Main, 2003, S. 82–94, hier S. 83f. Roman Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metapher und Metonymie. In: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 1, Grundlagen und Voraussetzungen, Frankfurt am Main 1971, S. 323–333. Der väterliche Palast entsteht im Laufe von Dolores’ Kindheit. Seine Fertigstellung verändert die Lebensbedingungen der gräflichen Familie und ihrer fürstlichen Nachbarn schlagartig (vgl. Kapitel 7.4 dieser Arbeit).
freit, steht ihre Sehnsucht nach Liebe automatisch im Zeichen ihrer väterlich garantierten, reichen und unbesorgten Kindheit. Dolores will mit ihrer Heirat die Lücke füllen, die ihr Vater hinterlassen hat. Ihre Liebe ist ein nostalgisches Projekt. Sie sucht – ob bewusst oder nicht – nicht irgendeinen Mann, sie sucht einen Vaterersatz.72 Bestandteil dieser ödipalen Struktur ist, dass ihr zukünftiger Ehemann nicht irgendeine Ordnung, sondern exakt die »heile« Welt ihrer Kindheit wiederherstellen soll, und zwar mit allen Implikationen, vom luxuriösen Leben im prächtigen Palast bis zur Gleichberechtigung der Geschlechter.73 Die zukünftige Vermählung dient dazu, die gegenwärtigen Vorstellungen zu realisieren, das heißt, die Kindheit wieder aufleben zu lassen. Die Hochzeit büßt damit den Nimbus eines Neuanfangs ein und erhält dafür den Status einer Wiederholung. Nur durch eines soll sich der künftige Ehemann von ihrem Vater unterscheiden: Sein Vermögen soll nicht per Kredit finanziert sein, sondern einem tatsächlichen (Geld)Wert entsprechen, die Zeichen seines Reichtums sollen referenzialisiert sein. Der Rückblick auf Dolores’ Kindheit erlaubt es, ihre Liebesvorstellungen um einen sechsten Aspekt zu ergänzen. Sie und ihre Schwester Klelia sind gewissermaßen von Kindheit an Konkurrentinnen in Sachen Liebe. Klelia ist ihrer Schwester gegenüber sogar im Vorteil, weil sie als die Ältere konventionell das Recht hat, vor Dolores zu heiraten. Der Liebeswettkampf tritt deutlich zutage, wenn der alte Bediente in Dolores’ und Klelias Dachkammer tritt, um ihnen gemeinsam von Karl zu erzählen (123). Auch die Erzählung selbst verweist auf die Konkurrenz der Schwestern, da der alte Bediente offen lässt, welcher der beiden Frauen Karls Blicke galten (123). Die Forschung hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass während der Kindheitsgeschichte Dolores und Klelias Charakter durch »verschiedene Reaktionen auf gleiche Ereignisse« und damit im direkten Vergleich konstruiert wurde. Klelia agiert als empfindsame, tugendhafte Kontrastfigur zu Dolores.74 Würde Klelia Karls Liebe erobern, würde dies den Triumph der empfindsamen Liebe bedeu-
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Nach Lacan kann man sicherlich von einer phallischen Kodierung ihrer Liebe sprechen. Das »phallische« verweist dann aber stets schon auf eine symbolische Ordnung, also nicht auf den konkreten Penis als Geschlechterdifferenz, sondern auf das Abstrakte. Lacan selbst hat eindringlich vor der Verwechslung von Phallus und Penis gewarnt: »[…] on peut s’apercevoir […] que toute la dialectique d’une analyse (,) tourne autour d’un objet majeur, qui est le phallus. Nous verrons plus en détail qu’il ne faut pas confondre phallus et pénis.« Jacques Lacan: Le Séminaire livre IV, La relation d’ objet (1956–1957), Paris 1994, S. 30. An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig die Distanz während Dolores’ Blick auf den Bauernburschen ist. Bei näherer Betrachtung würde dieser aus Dolores’ »Beuteschema« fallen. Vgl. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann, Frankfurt am Main 1971, S. 19. Meiner Meinung nach ist es aber gerade nicht der Charakter, der den wesentlichen Unterschied ausmacht, sondern die Implikation des empfindsamen Liebescodes.
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ten. Aufgrund dieser Figurenkonstellation steht Dolores’ Liebe grundsätzlich in Relation zu ihrer Schwester. Liebe vom Hörensagen Die Szene, in welcher der alte Bediente von Karls Ankunft erzählt, zeigt, dass sich Dolores’ Liebe exakt auf der Basis ihrer zuvor entworfenen Erwartungen entfaltet. Hingegen schließt dieselbe Situation explizit aus, dass ihre – oder Klelias – Wahl in irgendeiner Weise auf der von der Romantik geforderten Kenntnis des Liebesobjekts, geschweige denn auf dem Tugendenkatalog der Empfindsamkeit basiere. Obwohl der alte Bediente eine Vorliebe für Klelia hat (127) und obwohl er mit seiner emblematischen Erzählung ein durch und durch empfindsames Idealbild eines männlichen Liebhabers entwirft,75 ist eine Liebeswahl in dem dargestellten Kontext nach traditionellen Kriterien grundsätzlich ausgeschlossen: Klelia und Dolores dürften eigentlich schon deshalb nicht auf die Erzählung des »Alten« reagieren, weil der sie in eine topische Szene weiblicher Verführung verstrickt.76 Zudem erscheint der Liebesbote selbst alles andere als vertrauenswürdig. Dessen kupplerische Intention zeigt sich bereits darin, dass er den Schwestern »wohlgefällig, geheimnisvoll« (125) von Karl erzählt. Zudem ist er als personifiziertes Kommunikationsmedium, das wörtlich von einer Fügung »göttlichen Schicksals« berichtet, ein direkter Nachfolger des Götterboten Hermes. Dessen Verlässlichkeit steht traditionell in Frage, immerhin ist er der »Gott der Diebe« und der »Täuschung«.77 Als Kuppler ist der alte Bediente außerdem ein Widergänger des »Mittler« aus Goethes ›Die
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Der alte Bediente entwirft Karls Bild (pictura) unter dem Lemma »von dem Glücke das unverhofft komme« (125). Die emblematische Struktur seiner Schilderung entwirft Karl als Personifi kation des unverhofften Glücks. Während der alte Bediente als erzählender Verführer auftritt, stehen Dolores und Klelia in der traditionellen Position der verführten, weiblichen Rezipientin. Dolores ist demnach als Nachfolgerin von Richardsons Clarissa figuriert. Von dieser Negativfolie löst sie sich im Folgenden aber, die verführte Clarissa ist also nur das pejorative Gegenbild. Vgl. Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 304ff. Außerdem: Stendhal, De l’amour, dt: »Über die Liebe«. Übersetzt mit einer Einführung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Frankfurt am Main 1987, S. 338: »Seit dem ersten Roman, den eine Frau mit fünfzehn Jahren heimlich gelesen hat, wartet sie im Stillen auf die Liebe aus Leidenschaft.« Die Formel lautet: 1. (Heimliche) Lektüre der Frau mit 15 Jahren. Das Gelesene nimmt die erotische Empfangsszene vorweg. 2. Seither: Warten auf Liebe aus Leidenschaft 3. Imaginär durchlebt die Frau die Szene (beim/nach dem Lesen) 4. Verwirklichung. Vgl. hierzu Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 311. Dieses Modell hatte Dolores bereits erprobt, als ihre Schwester ihr die Geschichte des Hugh Schaplers erzählt hatte, den Dolores bezeichnenderweise nicht nur heiraten wollte, sondern auch mit ihrem Vater identifiziert hat. Jochen Hörisch, Zu Hermes und der Hermeneutik. In: Ders., Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt am Main 1988, S. 9–16.
Wahlverwandtschaften‹, eines leidenschaftlichen Lottospielers.78 Der alte Bediente, der noch Dolores’ lottospielenden Vater bediente, fordert jetzt ebenfalls das Glück heraus. Zwar versichert er, »der Mensch denke, Gott lenke und dann sei ihnen allen geholfen«, in Wahrheit aber mimt er selbst den Schicksalsgott, der den Zufall besticht. Wird der Wahrheitsgehalt der Geschichte bereits durch den Boten fragwürdig, so führt der Roman auch die Referenzialität seines Berichts insgesamt ad absurdum. Denn der alte Bediente hat die Karlsgeschichte seinerseits nur vom Wirt des Gasthauses der »drei Weltkugeln« gehört (vgl. 125).79 Dem Wirt aber hat Karl zuvor »mit großer Heimlichkeit sein Geschichtchen erzählt« (125).80 Ostentativ weist dieses »Stille Post-Spiel« auf die Kontingenz der Nachricht hin. Eine ganze Kette von Signifikanten vereint und trennt das Paar zugleich – und macht zumindest eines sicher: eine Entscheidung über Karls Charakter lässt sich aus dieser Erzählung sicherlich nicht fällen. Klelia machen allein schon diese zwielichtigen Umstände der Erzählung eine positive Liebesentscheidung unmöglich – absolut gleichgültig, ob da der Traummann wartet oder nicht. Und Dolores? Dolores reagiert ihrerseits überhaupt nicht auf das Bild vom »Heilsbringer Karl«, das der alte Bediente mit seiner Erzählung entwirft. Dies wird dadurch deutlich, dass sie seinen Redefluss barsch unterbricht, als der gerade seinen empfindsamen Höhepunkt erreicht. Sie zerbricht die empfindsame Pictura und macht sich zudem auch noch über Karls »törigtes« Verhalten lustig.81 Offensichtlich wirkt nicht das Erzählte (der Inhalt) auf Dolores. Das Szenenarrangement offeriert, dass ihre Liebe durch etwas ganz anderes geweckt 78
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Der Einsatz solcher Mittlerfiguren erlebt in der Literatur um 1800 eine Hochkonjunktur. Weitere Figuren dieser Art sind beispielsweise der alte Bediente Waitwell in Lessings ›Miss Sara Sampson‹ oder die alte Barbara in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Die Schenke »der drei Weltkugeln« spielt ironisch auf die um 1800 – auch von Arnim – gerne inszenierte Kopplung der Liebe an die Alchemie an. Vgl. dazu Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 138. Nur, Dolores’ und Karls Verbindung kommt nicht aufgrund alchemistischer Gesetze, sondern in erster Linie durch ökonomisches Kalkül zustande. In der – wie sollte es anders sein – sperrigen Nomenklatur der Narratologie, die aber präzise die konstruierte Mittelbarkeit zwischen Ereignis und Erzählung erfasst, heißt dies: Karl hat dem Wirt sein Erlebnis als ein metameta- und autodiegetischer Erzähler geflüstert, der Wirt seinerseits fungiert, als er die Geschichte dem Bedienten erzählt, als meta- und heterodiegetischer Erzähler, und der Diener gegenüber seinen beiden Zuhörerinnen als ein intra- und heterodiegetischer Erzähler. Meta-meta bedeutet: »Jemand erzählt, das jemand erzählt, das jemand (nämlich Karl) erzählt.« Autodiegetisch bedeutet, dass Karl die Hauptfigur seiner von ihm erzählten Geschichte ist. Heterodiegetisch, dass der Erzähler in seiner erzählten Welt nicht vorkommt. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 25ff. Dieses Lektüremodell zieht sich durch den gesamten Roman: Dolores unterbricht bereits ihre Schwester Klelia mehrfach, sie unterbricht auch Karls Bericht von ›Hollins Liebesleben‹, sie »zerbricht« die allegorische Struktur vom ›Heidenmädchen‹ etc. Dolores bricht mit der weiblichen Rolle der Verführten. Von dieser Art der Lektüre unterscheidet sich das Modell der Lektüre von Markese und Dolores. Nach Karls Streit mit Dolores
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wird. Die heterodiegetische Erzählinstanz hebt nämlich ausdrücklich hervor, dass der alte Bediente jetzt von Karl berichtet, »statt wie gewöhnlich von ihrem Vater zu erzählen und von dem vielen Weine, den er bei Tische umhergesetzt und eingeschenkt, wie er dem Herrn den Schlossbau einst abgeraten, aber dafür beinahe aus dem Dienst gejagt.« (124) Verliert der Bediente sich sonst in Vaternostalgie, schwärmt er jetzt von Karl. Seine gegenwärtige Erzählung substituiert somit seine üblichen Grafenanekdoten. Karl nimmt auf diese Weise die Stelle des Vaters ein.82 Und diese Positionierung koinzidiert zu gut mit Dolores’ Erwartungen. Geschickt rückt der alte Bediente den Fremden auch rhetorisch in eine Vaterposition, wenn er ihn auf »die zwei schöne[n] Mädchen« (124) unter sich blicken lässt. In diesem Zusammenhang erweist sich der zuvor skizzierte »Umweg«, den die Information von Karls Ankunft vom Wirt bis zu Dolores genommen hat, als Teil eines auf den Vater verweisenden, ökonomischen Kreislaufes: Der »schlaue Wirt« erzählt dem alten Bedienten ausdrücklich nur von Karl, weil er hofft, dass eine der Schwestern im Falle einer Hochzeit die Schulden ihres Vaters bei ihm begleichen werde (vgl. 125 u. 129). Die Zirkulation der Information, die Zirkulation der Liebeszeichen, basiert auf den patriarchalisch geprägten Tauschgesetzen.83 Genau diese Kopplung von Ökonomie, Vaterschaft und Liebe entspricht im Kern Dolores’ Liebesvorstellungen und weckt jetzt ihre Gefühle. Dolores verliebt sich im Zuge einer narzisstischen Rezeption, weil ihre Erwartungen mit den gesendeten Zeichen – wie beim SchlüsselSchloss-Prinzip – kompatibel sind. Die Erzählung des alten Bedienten setzt einen komplexen Kreislauf der Liebe in Gang, das Liebesobjekt selbst muss dafür nicht einmal anwesend sein.84 Das Rad der Fortuna beginnt sich zu drehen.
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vermittelt der alte Bediente erneut, dann sogar, indem er Karl offensichtlich belügt, und ihm vortäuscht, Dolores habe um sein Wegbleiben getrauert (vgl. S. 162). Vermittelt über den dionysischen Liebes-Rausch des Weines und das dem Vater zugeordnete Stichwort »Schlossbau«, mit dem der Graf seiner heimlichen Eroberung der Fürstin und damit seiner männlichen Potenz Ausdruck verliehen hatte, könnte man im Anschluss an Lacan von einer phallischen Kodierung dieser Situation sprechen. Die Geschichten des alten Bedienten statten den Vater mit erotischen Insignien aus, welche ihrerseits mit Dolores’ Begehren verwoben werden. Bestandteil dieses Emotions- und Geldkreislaufes ist auch, dass Dolores innerhalb des Hauses (oikos) von ihrem Mann erfährt, der Kreislauf der Zeichen daher an die um 1800 weiblich kodierte Hauswirtschaft gekoppelt ist. Da das Haus aber der väterliche Palast ist, ordnet sich dieser sehr gut in Dolores’ Vorstellungen väterlicher Kompensation ein. Andermatts Stufenmodell, mit dem er zeigen will, wie die erotische Ordnung an höhere Ordnungen gekoppelt wird, ist auf diese Weise bereits hinfällig. Die erotische Ordnung ist immer nur in ihrer Verstrickung mit anderen Ordnungen zu verstehen, eine Hierarchie schließt dieser Modus der Verknüpfung aus, vgl. Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, S. 272.
2.2.2.2 Karls Prämissen der Liebe Die Psychologisierung der Lebensumstände Karls Liebe steht von vornherein im Kontext des – um 1800 männlich geprägten – idealistischen Subjektdiskurses. Nicht umsonst setzt seine Suche nach Liebe mit einer studentischen Wanderschaft und demnach mit einem zentralen Topos der Entwicklungsgeschichten ein. Dass diese »Bildungsreise« nach konventionellen Vorgaben verläuft, hebt die Erzählerfigur nachdrücklich hervor, wenn sie zunächst über die Studenten »im Allgemeinen« (127) referiert: »Eine der ersten Welterfahrungen, die solche wandernden Scharen zu machen Gelegenheit haben, betrifft das allgemeine Mißverhältnis des Geldes zu den Bedürfnissen […].« (128). Der Erzählerkommentar zielt zum einen auf die unbezahlten Rechnungen ab, welche die Studenten bei den Wirten hinterlassen (128). Zum anderen aber bezieht er sich ausdrücklich auf die studentischen Liebesabenteuer, die alle nach dem gleichen Muster enden: »Und dann geht’s an die Arbeit für Amt und Brot, die sonst nur leichte Gewohnheit gewesen, er mag nicht warten, sie will auch gern unter die Haube, die er auf der Reise kennen lernte, wie die Leute sich ausdrücken« (129). Das Stufenmodell vom Studienabschluss über die Arbeit bis zur Ehe verwebt Bildung, Ökonomie und Liebe zu einem untrennbaren Komplex. Bei Karl ist das nicht anders. Und doch unterscheidet er sich von der Studentenmasse, weil dem Grafen nicht notwendig war; wenn er heiraten wollte sich dem Joche fremder Dienste zu unterziehen. Er besaß ein artiges Vermögen, ungeachtet ihn die vormundschaftliche Verwaltung aus Klugheit nur sehr wenig für seine Studienzeit auswarf […]. (129)
Die Feststellung, Karls Vermögen helfe ihm, seine zukünftigen Hochzeitspläne zu realisieren, ist gelinde gesagt eine Untertreibung. Sein finanzieller Reichtum gewährt ihm zuvor schon die »individuelle Autonomie und Freiheit«, »seine Liebesentscheidung unabhängig und nach eigenem Gutdünken zu fällen.«85 Karl verfügt über einen »freien Zugriff auf Leben und Liebe«.86 Nur im Wissen um diese Freiheit kann er unbesorgt durch Berge und Täler des vom Krieg versehrten Süddeutschlands wandern, als flaniere er durch die Regalreihen eines Warenhauses der Liebe.87 Analog zu Dolores’ Liebesentscheidung ruht also auch Karls Liebeswahl auf einer ökonomischen Basis.
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Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000, S. 62. Zum Thema weiterhin: Eva Illouz, Der Konsum der Romantik, S. 7ff. Andreas Hirseland, Werner Schneider, Christine Wimbauer, Paare und Geld. Zur Ökonomisierung der Beziehungskultur. In: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. Liebe und Kapitalismus 1 (2005), H. 1, S. 108–118. Niklas Luhmann, Vertrauen, S. 64. Nur durch eine Einschränkung ist Karls Liebeskonsum gekennzeichnet. Er kann noch nicht vollständig über sein Vermögen verfügen. Analog zur noch nicht vollendeten Aus-
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Die Analogie ihrer Vorstellung reicht so weit, dass ebenso wie Dolores’ Armut auch Karls Reichtum an eine »familiäre Ordnung« gekoppelt ist.88 Karl hat sein stattliches Vermögen geerbt. Da seine Liebeswahl von seinem finanziellen Vermögen abhängt, ist sie immer auch an die Erinnerung an seine Eltern gekoppelt. Deren Tod bedeutet gerade nicht, dass der Sohn seine Liebesentscheidung unabhängig von ihnen trifft.89 Auch seine Liebe zeichnet sich also durch eine nostalgische und gleichermaßen ödipale Struktur aus. Er versucht, mit seiner Liebesehe die »familiäre Leerstelle« zu schließen, die seine Eltern hinterlassen haben.90 Karls Prämissen für seine Liebesentscheidung funktionieren, indem sie familiäre, ökonomische und psychologische Komponenten vereinen, komplementär zu Dolores’ Vorstellungen. Allerdings sind sie in keiner Weise äquivalent. Karl tritt in Rückkopplung an die Schemata der Charakterrollen um 1800 als der männlich-aktive, der Außenwelt zugeordnete, potente Geldgeber auf, während Dolores als weibliche, dem Hausinneren zugeordnete, passive und notbedürftige Empfängerin von Liebe und Geld figuriert.91 Liebe auf den ersten Blick Die Komplexität von Karls Liebesbedingungen steigert sich dadurch, dass sich seine Gefühle im Zuge eines Wahrnehmungsakts entzünden, nämlich exakt in jenem Augenblick, in dem er von einer Anhöhe aus Dolores und ihre Schwester in ihrem Garten beobachtet.92 In diesem Moment ist Karl nicht etwa ein Verführer, er ist ein
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bildung stellt sein Reichtum bis zu seiner Volljährigkeit mehr ein Versprechen für die Zukunft als einen realen Wert dar. Zum Zusammenhang zwischen dem romantischen Liebesmodell und der Kaufhauskultur und Warenästhetik vgl. Christian Metz, Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment »Bedeutende Objekte«. In: Heinz Drügh, Björn Weyand u. Christian Metz (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 269–296. Vgl. zu diesem Begriff: Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, S. 272ff. Karl denkt im Folgenden immer wieder an seine Mutter, und er fällt wichtige Entscheidungen, indem er sich an ihre Weisungen hält. Vgl. S. 139, 147 u. 155. Die Lücke bleibt auch für den Leser bestehen, der keinerlei Informationen über Karls Eltern erhält. Zum Motiv der »familiären Leerstelle« in Arnims Erzähltexten, vgl. Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, S. 294. Diese Feststellung widerspricht der moralischen Opposition, welche die bisherige Forschung durchweg vertreten hat; nämlich, dass der »bösen Dolores« eine »sittlich gute«, perfekte Karlfigur gegenüber stehe. Wenn beide nach einem äquivalenten Muster lieben, ist die pejorative Sicht auf Dolores hinfällig. Noch einmal im Überblick: Geschlechterdiskurs: Mann/Frau; Ökonomie: Reich/Arm; ödipale Sehnsucht nach Mutter/Vater; stereotype Denkmuster männlicher/weiblicher Liebe. Um das Informationsdefizit zu kompensieren, das den Bericht des alten Bedienten prägt, setzt der Roman ein repetitives Erzählverfahren ein: Nach dem alten Bedienten berichtet erst der Erzähler und schließlich noch einmal Karl selbst von seiner Ankunft bei den beiden Schwestern. Die Erzählungen überlappen und ergänzen sich, so dass für den Le-
Voyeur, dessen Liebesblicke auf Heimlichkeit und deshalb auf Distanz zu dem geliebten Objekt beruhen (107). Als versteckter Beobachter einer schönen Unbekannten figuriert Karl als ein Nachfolger (beispielsweise) des Actaeon, der seinerseits heimlich Artemis beobachtet hat.93 Die intertextuelle Referenz macht deutlich, dass Karl in diesem Augenblick weniger die Forderung männlicher Tatkraft als vielmehr den Typus des zurückhaltenden, schüchternen, unschuldigen Jünglings verkörpert. Er bleibt ebenso ein Rezipient wie Dolores.94 Die Erzählung von Karls Liebesinitiation vollzieht an dieser Stelle eine transzendentale Wende. Sie zeigt, dass Karls Emotionen aus der Art und Weise entstehen, in der er (seine künftige Frau) wahrnimmt. Im Gegensatz zu Dolores’ Zuhörerschaft zielt Karls Lektüre des »schönen Bildes« sehr wohl auf die persönlichen Eigenschaften seines Gegenübers ab. Das ist seine Intention, die auf die empfindsame Tradition rekurriert. Wenn Karl nach den Worten des Erzählers »mit der seligen Empfindung des Balboa, wie er zuerst das stille Meer entdeckte, die beiden schönen Kinder unter sich erblickte: wie zwei glückliche Inseln in dem stillen grünen Meer vor ihm« (129), ruft er mit dem Inselvergleich nicht einfach nur das »empfindsame Weiblichkeitsideal« auf. Darüber hinaus liefert er im Zusammenspiel mit dem »Wunderbild von weiblicher Sanftheit, Zurückgezogenheit und Freundlichkeit in seinem Kopfe, das ihm bei den Gräfinnen zum erstenmal gegenwärtig geworden [ist, C. M.] (130)«, gleich auch noch die Allegorese des Bildes dazu – zumindest, wenn man sie im Kontext des empfindsamen Liebescodes entschlüsselt. (Die Formel zur Entschlüsselung lautet: weibliche Sanftheit = stilles Meer, Zurückgezogenheit und jungfräuliche Unberührtheit = Insel; Freundlichkeit = Seichtheit, Ruhe des stillen Meeres). Nur erweist sich sein »Wunderbild«, aufgrund dessen er sich verliebt, als ein »subjektabhängiges Konstrukt«. Karls Blick ist »projektiv« 95 und zugleich produktiv. Wenn Karl das Bild der beiden Schwestern liest, vollbringt er zugleich einen hochgradig subjektiven Produktionsakt.96 Vom ersten Augenblick an ist die Liebesgeschichte demnach zugleich eine Initiationsgeschichte zur Autorschaft. Um den
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ser – im Gegensatz zu Dolores – ein konsistentes Bild von Karls Liebesinitiation entsteht (vgl. hierzu auch Kapitel 6 dieser Arbeit »Die Verführung des Lesers«). Vgl. Ovid, Metamorphosen, aus dem Lateinischen übersetzt von Erich Rösch, hg. von Niklas Holzberg, München 1997, S. 138ff. Als Actaeons Nachfolger ist Karl über den »Augenblick« hinaus auch durch seine »grüne Jägerkleidung« gekennzeichnet (vgl. S. 127). Vgl. Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München u. Wien 1983, S. 135ff. Jürgen Manthey, Wenn Blick zeugen könnten, S. 64. Im Verlauf der Liebesgeschichte steigert sich diese imaginative Produktion schrittweise. Karl schreibt Gedichte, führt ein Tagebuch, errichtet verschiedene Denkmäler, will ein Buch über Staatskunst verfassen und entwirft als letztes großes Projekt – sozusagen in Siebenkäs’ Nachfolge – das Drehbuch zu seinem eigenen Selbstmord. Er inszeniert großes Theater auf der Bühne der Liebe (vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit).
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Modus dieser Autorschaft herauszuarbeiten, bedient sich die Szene ein zweites Mal der »Mythologisierung des Eros«.97 Karls »geistige Schöpferkraft« ist als Umkehr des Pygmalionmythos konzipiert: Im Gegensatz zu diesem verwandelt Arnims Protagonist das Leben in Bilder – in Denk-Male.98 Deshalb weisen seine Bilder einen allgemeinen, schematischen Charakter auf. Karl verleiht den beiden Schwestern unspezifische Attribute. Seine Bildeindrücke hängen offensichtlich mehr von kulturell kodierten Mustern ab als von den tatsächlichen Eigenschaften der betrachteten Objekte.99 Nach diesen Stereotpyen imaginiert Karl ein Bild verführerischer Weiblichkeit. Karls Liebe ist ebenso wenig in der Individualität seines Gegenübers verankert, wie Dolores’ Liebesgefühl, zumal er nicht einmal zwischen Dolores und Klelia differenziert, sondern beide immer als Ensemble wahrnimmt.100 Diese Entindividualisierung des Liebesobjekts bildet die eine Seite des produktiven Blickes. Zugleich ist die Pygmalionfigur traditionell verwoben mit derjenigen des Narziss. Beide vermeiden das andere Geschlecht zugunsten einer amor sui. Karl wäre ein musterhaftes Beispiel für Dorothea Schlegels berühmte rhetorische Frage »Die Dichter alle Narzisse?« (zumal der Narzissmus bei Freud als Symptom eines unaufgeklärten Ödipuskomplexes gilt).101 Karl spiegelt sich und seine Wünsche in seinem produktiven Blick selbst (vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit). In Karls Fall erzeugt seine imaginative, narzisstische Autorschaft Liebe. Die im individualisieren Liebessystem befangene Wahrnehmung zerstört nicht – wie Andermatt behauptet – die Liebe, sie begründet sie. Dies geschieht aus der Sicht empfindsamer und romantischer Konzepte unter schlichtweg inakzeptablen Bedingungen, nämlich um den Preis der Authentizität und Individualität. Sein narzisstischer Wahrnehmungsakt widerspricht seiner Intention, einen authentischen Eindruck von seiner Geliebten zu erhalten. Karl wird seinem eigenen Authentizitätsanspruch nicht gerecht. Als Reflexionsfigur des Romans verkörpert er Kants Skeptizismus:102
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Anton Herbert, Mythologische Erotik in Kellers »Sieben Legenden« und im »Sinngedicht«, Stuttgart 1970, S. 29. Zur Ästhetik des Blicks, vgl. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 79. Im Zusammenhang mit Kants Begriff der Annschauung wird Karls Beobachtung als eine Wahrnehmungsstudie lesbar, als eine Reflexion über die transzendentalen Bedingungen des Schönen, Vgl. Kants »Ästhetik als Lehre der Wahrnehmung« und Anz, Literatur und Lust, S. 80. Vgl. hierzu Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 64. Die ›Gräfin Dolores‹ folgt mit diesem Entwurf Lessings Diktum bezüglich der schönen Helena: »Malet uns Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung der Liebe, das Entzücken, welche die Schönheit verursacht, und ihr habt die Schönheit selbst gemalt.« Gotthold Ephraim Lessing. In: Ders., Werke, Bd. 6, hg. von Heinrich G. Göpfert München 1974, S. 139. Sigmund Freud, Das Ich und das Es. In: Ders., Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., S. 273–330, hier S. 299. Von Kants Skeptizismus spricht Bernhard Greiner, der diesen Terminus zugleich für die
Karl scheitert daran, die Welt so zu erkennen, wie sie wirklich ist. In einer Art double bind nimmt er die realistische Szenerie zu seinen Füßen wahr, verklärt sie aber zugleich, indem er sie in sein eigenes Interpretationssystem einschleust.103 Er verliebt sich, animiert durch ein imaginäres »Wunderbild«.104 Die Liebe überwindet ausdrücklich nicht die Begrenztheit der Erkenntnis. Im Gegenteil, sie ist ein Bestandteil der grundlegenden Befangenheit des Denkens und der Wahrnehmung. Karl übersieht nicht »aufgrund einer Unachtsamkeit Dolores persönliche Fehler«,105 er übersieht sie aufgrund seines narzisstischen, produktiven Blicks, der die Liebe erst begründet. Die ironische Pointe dieser Konstruktion besteht darin, dass sich Karl seiner Autorschaft selbst nicht bewusst ist. Wie im Hinblick auf die ödipale Struktur seiner Liebe angedeutet, konstruiert der Text eine Dimension des Un(ter)bewussten, das die Liebesentscheidung seines Protagonisten entscheidend beeinflusst. Zwar fordert die Tatsache, dass Karl seinen Blick ausschließlich auf die empfindsamen Tugenden seiner Geliebten fokussiert, direkt dazu auf, von der Blickrichtung auf das zärtliche Liebesgefühl eines feinsinnigen Beobachters zurückzuschließen.106 Doch Karls Wunderbilder lassen sich als Wunschbilder eines unterbewussten Begehrens lesen.107 Seine schematischen Imaginationen, die er dem aufklärerischen Tugendkanon entlehnt, erweisen sich durchgehend als erotisch konnotiert. Wie Vexierbilder verändern sie sich und geben – gegen den Strich gelesen – Auskunft über Karls (unterdrückte) Begierde. Die sprachlich-literarische Struktur seiner Wünsche offenbart, dass Seelen- und Sinnenliebe, wie sie die philosophische Äs-
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Analyse literarischer Texte, in erster Linie für die Lektüre von Heinrich von Kleists Dramen und Erzählungen operationalisiert. Vgl. Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum Fall der Kunst, Tübingen u. a. 2000. Zum »double bind« von Arnims Liebessemantik vgl. Ralf Simon, Text und Bild. Zu Achim von Arnims Isabella von Ägypten. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft Bd. 6/7 (1994/95), S. 168–187, hier S. 174. Der Roman spielt an dieser Stelle ironisch auf das Initiationsmoment der kanonischen Bildungsromane an. Für deren männliche Protagonisten ist die Initiation als »Verwandlung[...] von Natur in Kultur« an den Erwerb von Zeichen und an die Kompetenz gekoppelt, diese Zeichen lesen zu können. Karl teilt das Schicksal dieser Figuren: Zeichen lesen kann er. Als lesendem Autor gelingt ihm dies sogar ganz ausgezeichnet. Nur fehlt diesen Zeichen und damit auch seiner Lektüre ihre sichere Referenz. Sie bereiten dem empfindsam Liebenden, der sich auf die Authentizität seiner Eindrücke verlassen muss, ein grundlegendes Problem: Trotz der Koinzidenz von Autorschaft und empfindsamer Liebe schließen sich die beiden nämlich gegenseitig aus. Vgl hierzu beispielsweise Gerhard Neumann, Struktur und Gehalt. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. von Friedmar Apel, Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Frankfurt am Main 1989, S. 915–987, hier S. 955. Offermann, Der universale romantische Gegenwartsroman, S. 52. Vgl. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 94f. Die Liebesentscheidung gründet auch in Karls Fall nicht auf einer »autonomen Willenserklärung«, vgl. zu diesem Zusammenhang, Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 65.
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thetik seit Schiller streng zu separieren versucht, untrennbar miteinander verbunden sind.108 Diese erotische Sinnlichkeit wider Willen zeigt sich bereits, als Karl seinen ersten Blick auf das geschwisterliche Inselpaar wirft, und zwar ausgerechnet »mit der seligen Empfindung des Balboa, wie er zuerst das stille Meer entdeckte«. Als Nachfolger des Konquistadors »Balboa«109 wird ihm automatisch die Lust zugeschrieben, die beiden Inseln im Kampf einzunehmen. Karls Liebe schließt eine männliche Eroberungslust ein, die in der Tradition von Burkes »sexueller Begierde« zum »Besitz gewisser Dinge treibt«. Für Karl gilt Burkes berühmtes Diktum: »wir lieben, was wir unterwerfen«.110 Die Tatsache, dass Karl nicht zwischen den beiden Schwestern differenziert, liest sich in diesem Zusammenhang als Ausdruck männlicher Promiskuität, der es darum geht, beide »Inseln« für sich einzunehmen. Noch deutlicher offenbart sich diese ambivalente Überkreuzung von Tugend- und erotischem Wunschbild, als er die beiden Schwestern beobachtet, wie sie »ihre zahmen Dompfaffen aus dem Munde mit etwas grünem [...]fütter[n].« (125). Spontan wünscht er sich »nur eine Stunde so ein Vogel zu sein.« (125) Aus empfindsamer Perspektive handelt es sich bei Karls Eindruck um ein Seelenbild, bei dem der Vogel als Metapher für die weibliche Seele fungiert, welche die zukünftige Geliebte küssend preisgibt. In diesem erotisch heiklen Moment garantiert der geküsste »Dompfaff« als namentlich kirchlicher Vertreter, dass die Liebesgabe den moralischen Kodex nicht verletzt. Doch als traditionelles Phallus-Symbol deutet der geküsste Vogel zugleich darauf,111 dass Karl mit seinem Blick – grün ist die Hoffnung, mit welcher der Vogel gefüttert wird – den ersten Geschlechtsakt vorwegnimmt. In 108
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Wenn Seelen- und Sinnenliebe nicht zu trennen sind, schließt Arnims Roman programmatisch an Schlegels ›Lucinde‹ an, vgl. Hiltrud Gnüg, Der erotische Roman, S. 224. Zur Ambiguität als narratives Verfahren in Arnims Erzähltexten vgl. Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz. Der Stellenkommentar weist Vasco Núnez de Balboa (um 1475–1519) als spanischen Konquistador aus, der 1513 von der Karibik aus zu einer südwestlichen Entdeckungsreise aufbrach und als erster Europäer den Pazifi k erreichte. Vgl. Paul Michael Lützeler, Die ›Gräfin Dolores‹, Kommentar, S. 765. Edmund Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1980, S. 127f. Vgl. auch Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 92ff. Zur Phallussymbolik des Vogels vgl. Sigmund Freuds Aufsatz »Zur Gewinnung des Feuers« (1932). Dort stellt Freud die Frage, warum an den Mythen der Feuergewinnung immer ein Vogel beteiligt ist. Er schlägt von dieser Frage aus einen Bogen vom Vogel des Prometheus-Mythos bis zum »Phönix aus der Asche« und deutet diese Vögel als phallische Symbole. Um das Anspielungspotential von Arnims Text nachvollziehbar zu machen, seien zwei auffällige Analogien mit den »Vogelmythen« kurz genannt: Erstens verläuft die Bewegung von Dolores’ Vogel zu ihrer Mundöffnung in auffälliger Analogie zur Bewegung des Vogels zu Prometheus’ Körper(öffnung) hin. Diese aber dechiffriert Freud als verschlüsselten Geschlechtsakt. Zweitens lässt sich Karl selbst als Vogelfigur, genauer als »Phönix aus der Asche« entziffern. Immerhin steht seine Liebe aus einem in Schutt und Asche liegenden Kriegsgebiet auf. Freud deutet Phönix’ »Vergehen« sowie sein »Auferstehen« als die Angst vor dem Erschlaffen der Libido. Sigmund Freud, Zur
diesem Kontext hebt ausgerechnet Karls Einschränkung »nur eine Stunde so ein Vogel zu sein« das orgiastische Moment hervor.112 Die Erotik unterminiert Karls zuvor noch von der Erzählerfigur betonte moralische Integrität. Karl ist nicht so tugendhaft, wie er denkt. Trotz aller moralischen Vorsätze ist er kein empfindsamer Liebhaber.113 Die literarische Strukturierung seines Unterbewusstseins verrät ihn als Abenteurer, der auf der Grenze zwischen Tugendnorm und Sinnlichkeit wandelt. Da Karl seine Beobachtungsobjekte als Projektionsfläche für seine erotischen Wünsche missbraucht, da seine Liebe – analog zu derjenigen Dolores’ – auf einer narzisstischen Lektüre- und Produktionstechnik beruht, da die persönlichen Eigenschaften seines Liebesobjekts auch für ihn nur eine marginale Rolle spielen, ist die von der Arnimforschung ebenso wie von der Erzählinstanz des Romans selbst behauptete moralische Differenz zwischen den beiden Partnern mit einem deutlichen Fragezeichen zu versehen. 2.2.3 Zahnraderotik: Das persönliche Kennenlernen und die Zirkulation von Zeichen Die Wirkkraft der beiden hochgradig individualisierten und zugleich doch analog strukturieren Liebesvorstellungen offenbart sich gleich bei der ersten persönlichen Begegnung des Paares. Der Roman stellt dort erstmals die »interne Logik« von Dolores’ und Karls gegenseitiger Liebe detailliert dar. Dazu ergänzt er das objektive Geschehen durch eine zweite, eine Bewusstseins- bzw. Wahrnehmungsebene seiner beiden Protagonisten. Auf dieser zeigt er – mit Hilfe wechselnd interner Fokalisierung – wie sie das Erlebte subjektiv verarbeiten. Das äußere Geschehen wird »bewusstseinsmäßig gefi ltert« und es wirkt zugleich tiefenpsychologisch auf die Liebenden. Umgekehrt beeinflussen Dolores’ und Karls Gefühle, Bewusstsein, Phantasiebilder, Wünsche das äußere Geschehen.114 Zwischen den »Wahrnehmungsebenen« der beiden Figuren vermittelt, trotz aller intimen Zweisamkeit, als unhintergehbares Drittes, der Signifi kant. Diesem müssen sie sich anvertrauen,
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Gewinnung des Feuers. In: Ders., Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe, Bd. 9, S. 445–458, hier S. 452. Zudem ist dieser Vogelkuss samt seiner doppelten Kodierung nichts anderes als ein Zitat. Niemand geringeres als Goethes Werther leidet unter dieser Überschneidung der Bildbedeutung. Während Lotte in aller Unschuld ihren Kanarienvogel küsst, hält Werther diesen Anblick kaum aus, da er in ihm das erotische Begehren weckt: »Ich kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun! Sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen [...].« Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Frankfurt am Main 1982, S. 108, Brief am 12. September. Zu dieser Forderung vgl. Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe, S. 83. Zu dieser Konzeption der Szenen in Arnims Erzähltexten einerseits, des Figurenbewusstseins andererseits vgl. Dagmar Ottmann, Der tolle Invalide, S. 82. Und Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 136.
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um ihre »im monadischen Bewusstsein eingeschlossene Liebe« zu kommunizieren.115 Nicht zufällig also, sondern in logischer Konsequenz seiner Liebeserwartungen, setzt Karl noch vor seinem Eintritt in das Schloss erneut den emotional-ökonomischen Liebeskreislauf in Gang, indem er seine »Begierde, die beiden Schwestern kennen zu lernen« (130), mit dem Vorwand »bemäntelt«, den gräflichen Palast kaufen zu wollen. Zwar überkommen ihn beim Betreten des Schlosses plötzlich Skrupel. Da ihm der empfindsame Liebescode vorgibt, dass ihm die Gräfinnen mit dem Schlossinneren ihr intimstes Inneres öffnen, und er dieser »Wahrheit« unmöglich mit einer Lüge begegnen kann, bereut er seine »erlogene Kauflust« (130). Dennoch übernimmt im Folgenden nicht etwa der Tugendkanon die Regie. Als Karl Dolores sieht, verstößt er umgehend gegen das empfindsame Postulat: Zum einen, weil sein Blick in keiner Weise die sinnlich-schöne Fassade von Dolores’ Erscheinung durchdringt. Aus diesem Grund kann die Erzählerfigur auch behaupten: »Wäre Klelia ihm so begegnet, wahrscheinlich hätte er sich ihr ebenso bestimmt ergeben, wie er sich jetzt der schöneren, prächtigeren Schwester eigen fühlte« [meine Hervorhebung, C. M.] (130).116 Zum anderen, weil Karl seine Liebe sofort wieder mit der Ökonomie verflicht.117 Schon bei den ersten Schritten im Schloss schlägt sein zuvor fingiertes Kaufinteresse in ein reales Kaufvorhaben um: »Der Graf hatte nie etwas so Prächtiges gesehen. Ohne alle Kauflust war er eingetreten, jetzt aber dachte er sich’s als das höchste Glück in den schönen Verhältnissen dieser Zimmer sein Leben zu führen.« (131) Rhetorisch ist die ökonomische Grundlage von Karls Liebesentscheidung bereits damit besiegelt, dass Karl sowohl Dolores als auch das Schloss mit dem Epitheton »prächtig« schmückt. Vorerst nur unbewusst, so betont der Erzähler, vereint Karl seinen Wunsch, das Schloss zu besitzen, mit seiner Liebeslust; »noch gestand er sich nicht, daß ihm zur Seite auch solche frische Lebensgöttin von so schönem Verhältnisse wie Dolores gehen möchte« (131). Doch Dolores’ sexualsymbolische, auf Venus anspielende Deifizierung spiegelt sich sowohl in der Motivwahl als auch in Karls Blickrichtung: Der schaut jetzt – in Inversion seines ersten Liebesblicks vom Hügel hinab – von unten zu Dolores auf. Im selben Moment, in dem Dolores wie eine Götterstatue über ihm steht, wechselt Karl gekonnt das Register, indem er, von den »schönen Verhältnissen« ihrer Statur
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Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe, S. 84. Dieses »so« ist von entscheidender Bedeutung. Denn Dolores’ aufreizende Schönheit korrespondiert mit Karls sinnlicher Vorliebe. Und zudem liegt es in der Konsequenz des empfindsamen Liebescodes, wenn Karl sich für die schönere Schwester entscheidet. Schließt doch der analytische Blick aufgeklärter Liebe ausdrücklich von der äußerlichen Schönheit der Frau auf ihren »schönen Charakter«. Genau deshalb ist ja auch Karls empfindsamer Blick alles andere als gegen die Sinnlichkeit gewappnet. Zur Ökonomie der Liebe vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin 2004 sowie Kapitel 3.3 dieser Arbeit.
ausgehend, Dolores metonymisch zur »Baugöttin« erhebt und sie mit dem prächtigen Palastbau vereint:118 [I]hm war es als sei ihre Schönheit, die Wölbung ihrer Augenbrauen, das schöne Verhältnis ihrer Zähne, woran die edelste Säulenordnung zu erläutern, nur eine Wirkung von Herrlichkeit dieses Baues, oder sie selbst die Baugöttin, so ganz erbaut war er von ihrer Rede, von ihrer Bewegung. (130)
Wenn Karl seinerseits »erbaut« ist, greift – doppelt gesichert durch die figura etymologica – die Raummetaphorik in einem metonymischen Sprung auf Karls Emotionen über. Zur Topik ästhetischer Subjektivität gehört, dass dieses Glücksgefühl unmittelbar auf Karls Psyche wirkt. So »hoffte er, müsse dies [das höchste Glück C. M.] alles Widersprechende, Ungleiche in ihm ordnen.« (130) Die Zirkulation der Zeichen weckt aus Karls Sicht die Heilkraft der Liebe. Sie stabilisiert das stets von Fragmentierung bedrohte Subjekt. In einer Art (metonymischem) Rundumschlag, der alle Paradigmen von Karls Erwartungen – vom Subjektdiskurs bis zur Ökonomie, von der ästhetischen Anschauung bis zur Sinnlichkeit – verwebt, schildert der Bewusstseinsbericht die Logik von Karls Liebesinitiation. Erfüllt sich Karl seine Liebeswünsche narzisstisch selbst, so schlägt bereits sein Vorwand, das gräfliche Schloss kaufen zu wollen, die entscheidende Brücke zu Dolores’ Liebesvorstellungen. Karls Plan, von dem sie durch den alten Bedienten erfährt und der die tugendhafte Klelia umgehend veranlasst, sich still und stumm in ihre Dachkammer zurückzuziehen,119 trifft sozusagen den Kern all ihrer Hoffnungen. Die Verbindung von Liebe und Schlosskauf schließt für sie ein, dass Karl sie aus ihrer Einsamkeit erlöst, sie aus ihrer finanziellen Not rettet, er an die Stelle des Vaters tritt und ihre Wunde der Kindheit heilt. Diese umfassende Glückserwar-
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Wingertszahn weist ebenfalls auf die Sexualsymbolik der folgenden Passage hin: »Das Schloß symbolisiert die Frau selbst; die »verstopfte Wasserleitung« des »unteren Speisesaals«, auf die man Karl hinweist, ist eine deutliche Anspielung auf die Physis der Dolores.«, Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 304. Klelia hält sich im Gegensatz zu Dolores streng an den Tugendkanon der Aufklärung und an die Geschlechterrollen der Romantik, die ihr grundsätzlich verbieten, Karl auf die bisher beschriebene Weise kennen zu lernen (126). Sie trifft ihn erst, als er schon mit Dolores verlobt ist. Arnims Roman übt mit dieser Konstellation beißende Kritik an den empfindsamen Leitbildern, denn diese machen ihr eine individuelle Liebeswahl schlicht unmöglich. Ihr Wertekodex ist mit ihrer Realität nicht zu vereinbaren. Ausdrücklich bezieht sogar die sonst so konservative Erzählinstanz in diesem Moment Stellung, wenn sie Dolores’ Tatendrang lobt, während sie Klelias Rückzug kritisiert: denn »schließlich kommt viel darauf an, jedes zur rechten Zeit zu sehen und zu tun.« (130) Als Klelia später in Italien heiratet, versagen ihre empfindsamen Kriterien erneut. Heiratet sie doch ausgerechnet den Markese, einen einschlägigen Verführer (vgl. 366), der nicht einmal vor ihrer Schwester halt macht. Nein, die Aufklärung – da hat Arnims Roman seine Lektion aus den Leidensgeschichten der Sternheim und ihrer Nachfolger/innen gelernt – bietet kein praktikables Liebesmodell.
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tung bestätigt sich für Dolores noch einmal, da Karl ausgerechnet in Begleitung des alten Bedienten zum Schloss kommt und damit exakt den phallisch kodierten Spuren des vorherigen Geschichten- und Geldverkehrs folgt. Wie konsequent Dolores’ präfigurierte Liebesideale ihr intimes Treffen mit Karl bestimmen, zeigt sich exemplarisch im Moment absoluter Harmonie. In diesem Augenblick der Verabsolutierung, in dem die Blicke der Liebenden ineinander versinken, erkennt Dolores in Karls Augen nicht etwa seine Seele. Vielmehr sah [sie] den Glanz ihrer Geburt wieder hervorgehen, sie hörte wieder die rollenden Kutschen vor ihrer Türe, sah in den Fenstern des Schlosses, die vom Abendhimmel widerschienen, alles wie ehemals von Wachskerzen erleuchtet, in den Büschen schienen ihr Musikchöre versteckt und verweigerte ihm nicht den keuschen Kuß, den er auf ihre Lippen drückte. (133)
Für Dolores’ narzisstischen Blick bilden Karls Augen nur eine opake Spiegelfläche, auf der sie – in Analogie zu Karls Hügelblick bei seiner Ankunft – mit Hilfe eines projektiv-produktiven Blicks das väterlich geprägte Idealbild ihrer Kindheit wieder auferstehen lässt. Mit dieser narzisstischen Lektüre, die sich ihre eigenen Wünsche im Anblick des anderen selbst erfüllt, lösen sich auch Dolores’ Liebeserwartungen ein.120 Die Analyse des Phänomens »Liebe« lässt Dolores’ und Karls vermeintlich spontanes Liebesglück als vermittelt erscheinen. Die Koinzidenz von »Höchstrelevanz« und »Selektion« gründet zum einen in den Projektionen der beiden Partner,121 zum anderen in der Tatsache, dass ihre Vorstellungs- und Erwartungsmuster so kompatibel sind, dass der Austausch und die Lektüre der Zeichen zwischen ihnen funktionieren.122 Die Tauschmechanismen greifen ineinander, weil sowohl Karl als auch Dolores in raumzeitlichem Kontext einerseits, in den Sprechakten (zu diesen gehört auch ihr gemeinsames Schweigen etc.) und Handlungen des Gegenübers andererseits, Zeichen identifizieren, die aus ihrer Perspektive auf die Erfüllung ihrer Liebeswünsche verweisen. Die Liebe der beiden Partner basiert auf zwei jeweils individuellen Lektüren. Ihre Gefühle entfalten sich, wenn die Zeichen des Gegenübers mit den eigenen Erwartungen korrelieren. Weil die Tauschmechanismen perfekt ineinander greifen, erzeugen sowohl bei Karl als auch bei Dolores – und damit unabhängig davon, wie tugendhaft eine Figur sein will oder nicht – ein individuelles Liebesgefühl. Das Paar erfüllt die romantische Totalitätsforderung: Liebe ganz oder gar nicht. Sowohl Dolores als auch Karl lieben sich in dem Sinne ganz, dass alle ihre Liebesvorstellungen im Anblick ihres Gegenübers in Erfüllung gehen. Die-
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Die ostentative »Scheinhaftigkeit« dieser Vorstellung verweist darauf, dass Dolores sich in ihrer Idealisierung ihrer Kindheit täuscht. Sie bedeutet aber nicht, dass Dolores sich in Karl täuscht. Hartmann Tyrell, Romantische Liebe, S. 570–599. Jochen Hörisch spricht von »Sozialisierungsformen des Unterbewussten«, Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 39.
se optimale Ausnutzung aller Kapazitäten führt nach den ökonomischen Liebesmechanismen zur individuellen Liebesentscheidung und produziert in Rekordzeit ein verliebtes und bald verlobtes Liebespaar.123 Im Sinne des narzisstischen Kommunikationsprinzips wählen beide den jeweils passenden, ja sogar den perfekten Partner. 2.3
Nach der Theorie: Was bleibt von der romantischen Liebe?
An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal festzuhalten, was nach Arnims Anthropologie noch von der romantischen Liebe bleibt. Arnims Kritik setzt bei der Individualisierung der Liebe und damit implizit beim Subjektdiskurs des 18. Jahrhunderts ein. Dolores’ und Karls komplexe Liebesvorstellungen führen eine Polykontextualisierung des Subjekts vor Augen. Ihre Identität löst sich in ein komplexes Zusammenspiel diverser Subsysteme auf. Wie Arnims Roman unter anderem an der ödipalen Liebesstruktur und an den Imaginationen seiner beiden Liebenden vorführt, bedeutet dies, dass die Subjekte nicht mehr vollständig und souverän über sich selbst verfügen können. Kants erkenntnistheoretischer Skeptizismus betrifft demnach auch die Selbstbeobachtung. Wenn die Romantik – wie der Systemtheoretiker Peter Fuchs stellvertretend für die Liebesforschung behauptet – angeblich die Liebe als »den Stabilisator der EINS« etabliert hat,124 womit nichts anderes gemeint ist, als dass die romantische Liebe die Identität der Liebenden garantieren soll, tritt Arnims Roman den Gegenbeweis zu diesen Behauptungen an. Er führt vor, dass die Liebe dieses Versprechen grundsätzlich nicht halten kann, weil sie in ihrer sprachlichen Konstitution selbst von der Polykontextualität betroffen ist, weil sie der Logik des (Zeichen-) Tausches nachgeordnet ist und weil sie zudem auch die Befangenheit gegenseitiger Wahrnehmung nicht überwinden kann.125 Unter diesen Prämissen entpuppen sich die wesentlichen romantischen Liebesideale als Utopien.126 So wählen Dolores 123 124 125
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Zur Mechanik in der Romantik vgl. Lieselotte Sauer, Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik, Bonn 1983. Auf dieser Theorie beruht die Studie von Peter Fuchs. Ders., Liebe, Sex und solche Sachen. Arnims Roman radikalisiert somit auch Kleists Auseinandersetzung mit der Kantschen Philosophie. Kleist sieht auch nach seiner Kant-Krise immer noch in der Liebe die Möglichkeit, die Befangenheit der Wahrnehmung zu überwinden. Arnim streicht diese Möglichkeit hingegen grundsätzlich aus. Zur Kleistschen Erkenntniskritik vgl. die einschlägige Publikation: Bernhard Greiner, »Die neue Philosophie in dieses … Land verpflanzen«: Kleists literarische Experimente mit Kant. In: Kleist-Jahrbuch 1998, S. 176–208. Oder: Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Diese Liebeskonzeption widerspricht Ulfert Ricklefs Urteil darüber, welche Rolle die Liebe in Arnims Prosa spielt. Aus seiner Sicht besteht die Botschaft »vieler Werke Arnims« darin, dass »nur die Liebe die Kraft hätte«, die unüberbrückbaren Antagonismen, welche die conditio humana prägen, zu überwinden. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnims, S. 245. Renate Moering hingegen urteilt, allerdings nicht in Bezug auf Karls und Dolores’ Liebesinitiation, sondern erst im später entwickelten
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und Karl ihren Liebespartner zwar individuell aus, aber ihre Entscheidung gründet keineswegs darin, dass die Liebenden die individuellen Charakterzüge des jeweils anderen besonders schätzten. Sie nehmen diese nicht einmal wahr. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die Liebespartner ihre narzisstischen Liebesvorstellungen erfüllt finden. Das monadische Bewusstsein ihres Gegenübers hingegen bleibt für sie unzugänglich und damit immer opak.127 Karl beispielsweise sendet gemäß seines subjektiven Denkens und Fühlens Zeichen. Reagiert Dolores in der Weise auf seine Kommunikation, wie er es erwartet, deutet Karl dies als sicheres Signal für ihre Liebe zu ihm. Karl entwickelt in Folge dieser Übereinstimmung Liebesgefühle. Ob die gesendeten respektive empfangenen Zeichen tatsächlich mit Karls bzw. Dolores’ Fühlen/Denken korrespondieren, bleibt unklar. Das bedeutet, die Kompatibilität der Kommunikationsmuster drängt die von der Romantik geforderte Entscheidung, für ein ganz bestimmtes, individuelles Liebesobjekt in den Hintergrund. Auch die Symbiose der beiden Liebenden erweist sich als ideales Konstrukt. Der Roman besteht vielmehr auf der Tatsache, dass Individualität immer auch Differenz bedeutet. Bestünde die Verschmelzung doch darin, alle seine (auch die einem selbst nicht bewussten) Liebesvorstellungen von der Ökonomie, bis zur frühkindlichen Erfahrung, bis zum Vaterverlust im anderen erfüllt zu finden. Obwohl Karl und Dolores (in ihren Vorstellungen) vermeintlich perfekt ineinander verschmelzen, enttarnt ihre Initiation die Forderung nach einer reziproken »Komplettberücksichtigung« doch als Paradoxon.128 Sie zersetzt die romantische Totalitätsforderung.129 Was mit dieser Liebeskonzeption grundsätzlich in Frage steht, ist die romantische Vorstellung vom absoluten Liebesglück. Es ist die Harmonie nicht nur dieses einen, sondern jedes Paares, das sich der romantischen Liebe verschreibt. Eindrücklich zeigt Dolores’ und Karls Liebe, dass ihr selbst im Augenblick höchster Intimität ein Moment der Trennung eingeschrieben ist.130 Die Romantik verspricht im Sinne der
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Zusammenhang von Verführungsszene und Ehebruch: »Die Liebe ist eingeredet, das ursprüngliche Gefühl ist verloren gegangen durch angelesenes Wissen. Dolores merkt die Täuschung zu spät.« Renate Moering, Der offene Roman, S. 133. Moering geht dennoch davon aus, dass Dolores und Karl zunächst ein romantisches Liebesglück erleben. Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe, S. 84. Die Opazität des Gegenübers schließen spätere Romane mit der Oberflächenästhetik der Pop- und Warenkultur kurz. Vgl. Christian Metz, Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion, S. 270f. Niklas Luhmann erkennt diese »Einbeziehung von grenzenlos steigerbarer Individualität« als Charakteristikum romantischer Liebe. Die Liebe wird so zum potentiell unendlichen Prozess des sich neu- und wieder Erkennens. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178. Die Systemtheorie bezeichnet diese Prämisse romantischer Liebe als »reziproke Komplettberücksichtigung der EINS« oder »psychische Komplettakzeptanz«, vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 35f. Trotzdem trifft Ricklefs für die Arnimforschung paradigmatisches Fazit, »die Liebe der Dolores in der ›Gräfin Dolores‹ besteht aus Täuschungen und Selbsttäuschungen«,
»Verabsolutierung« also ein Liebesglück, das es nicht geben kann. Ihr Liebesbegriff ist aporetisch.131 Arnims ›Gräfin Dolores‹ wendet ihre Radikalkritik auch poetologisch. Am Ende des ersten Lektüreganges durch den Text müssen daher die gattungspoetischen Implikationen von Arnims Liebeskonzept betrachtet werden. Die folgende Analyse schließt auf diese Weise an die romantheoretischen Überlegungen an, die sie im Zuge der »romantischen Lektüre« entwickelt hat. Sie vollzieht somit einen Kreisschluss.132 Aus dem fundamentalen Gegensatz zwischen dem von Arnim entworfenen und dem romantischen Liebeskonzept ergeben sich eine Reihe poetischer Konsequenzen. Die ›Gräfin Dolores‹ wirft selbst die Frage auf, was ein romantischer Liebesroman angesichts des oben erarbeiteten Befundes noch erzählen kann? Die Antwort des Romans lässt sich deutlich machen, indem man das Erzählmodell der Bildungsromane als Vergleichsfolie heranzieht. Das gilt auch deshalb, weil der Roman dieses Modell ja selbst aufruft. Zunächst ist Eines festzuhalten: Die Radikalkritik am romantischen Liebeskonzept führt ausdrücklich nicht dazu, dass Arnims Roman in die Vorzeit individualisierter Liebe zurückfällt. An keiner Stelle des Romans findet sich die Forderung, das Allianzdispositiv, bei dem der Vater über das Liebesschicksal seiner Kinder entscheidet, zu rehabilitieren. Hinter die individualisierte Liebe gibt es für den Liebesroman (und seine Poetik) offensichtlich kein zurück. Sie bildet »den Grund der Ehe«.133 Ein zweites Essential des romantischen Liebesdiskurses bleibt unangefochten bestehen: Dolores und Karl treffen nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gleichberechtigte Liebesentscheidung. Dolores, das zeigt der Kontrast zu ihrer Schwester Klelia, gestaltet ihre Liebesbeziehung zu Karl von Beginn an aktiv. Sowohl Dolores’ als auch Karls Wünsche erfüllen sich aus ihrer jeweiligen Perspektive voll und ganz. Zwischen den beiden Partnern herrscht ein Gleichgewicht. Diese Egalität der Liebespartner wird im Laufe des Romans eine entscheidende Rolle spielen (vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit).
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nicht den Kern von Dolores’ und Karls Liebesverhältnis. Ihre Vorstellungen erfüllen sich durchaus, nur die reziproke Komplettberücksichtigung ist anzuzweifeln. Vgl. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim, S. 256. Moerings Fazit lautet: »Mit seiner pessimistischen Liebesauffassung wendet sich Arnim gegen die hohe Wertschätzung, die die weltliche Liebe in der Aufklärung und in der Frühromantik erringen konnte, und zwar gegen beide Liebesauffassungen in gleicher Weise.« Spielerische Liebe vs. leidenschaftliche Liebe, beide – so urteilt Moering – erkenne Arnim nicht an. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 137. Vgl. auch Kluckhohns Dichotomie von romantischer Liebe. In ihr erkennt er die »Synthese von religiöser Liebe und Liebe zum Weib.« Paul Kluckhohn, Über die Liebe, S. 607. Ich gehe somit in beiden Lektüren in analogen Schritten vor: Lektüre A) 1. Rekonstruktion des romantischen Liebeskonzepts. 2. Einbetten dieser Überlegungen in einen gattungstheoretischen Kontext. Lektüre B) 1. Dekonstruktion des romantischen Liebeskonzepts. 2. Einbetten dieser Überlegungen in einen gattungstheoretischen Kontext. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178.
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Doch abgesehen von dieser grundsätzlichen Zustimmung zur um 1800 gängigen Semantik der Liebe, legt die ›Gräfin Dolores‹ gezielt den Finger in die Wunde der Bildungsromane. Der Vorwurf der ›Gräfin Dolores‹ an ihre Vorgänger lautet: Um Liebe als zentralen Wertbegriff um 1800 zu etablieren,134 haben die romantischen Romane die Aporien, die dem romantischen Liebeskonzept eingeschrieben sind, bagatellisiert. Sie haben die romantische Liebe gefeiert, statt sie einer kritischen Analyse zu unterziehen und ihr tragisches Potential zu erkennen. Die ›Gräfin Dolores‹ nimmt in ihrem ersten Syntagma die Verschleierungstechniken der Bildungsromane kritisch in den Blick: Erstens deren Zelebrieren einer »Liebe auf den ersten Blick« als Moment der Verabsolutierung. Da die »Liebe auf den ersten Blick« nicht voraussetzungslos und spontan entsteht, steht die Initiation paradoxerweise nicht mehr am Anfang, sondern ist in die Kontinuität einer Ereigniskette eingegliedert. Die Liebesgeschichte verliert auf diese Weise ihr eindeutiges Gründungsmoment, das sich in (hypothetisch) unendlich viele Ausgangspunkte auflöst. Die ›Gräfin Dolores‹ entzieht dem teleologischen Roman seiner arché, seinen Ursprung. Zweitens kritisiert sie deren Handlungskonstruktion, bei der sie die Hindernisse, welche die Liebenden auf ihren Bildungswegen bewältigen mussten, ausschließlich außerhalb der Liebe sahen. Sie motivierten den tragischen Verlauf ihrer Liebesgeschichten entweder mit der fehlenden Reife ihrer Protagonisten, die erst noch eine Reihe von Prüfungen in ihrer education sentimentale zu bestehen haben, bis sie liebensfähig wurden. Oder mit der Tatsache, dass die Figuren erst den richtigen Partner finden mussten, oder – wie die ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ – schlicht mit der Existenz eines konkurrierenden Codes.135 Diese äußerlichen Hindernisse galt es für die Protagonisten aus dem Weg zu räumen. Hatten sie diese Passionszeit hinter sich gebracht, stand ihrem individualisierten, romantischen Liebesglück nichts mehr im Wege. Tatsächlich geht es im Roman der Romantik darum, »dass für Liebe, Sexualität und Ehe eine neue Einheitsformel gesucht und in der Idee persönlicher Selbstverwirklichung gefunden wird.« 136 Der romantische Roman verspricht, da er die Liebesprobleme nach außen verlagert, spätestens mit seinem Happy-End ein absolutes Glück.137 Um bei aller Glorifizierung nicht als realitätsfremd zu gelten, hat er zum Zeitpunkt der Hochzeit aber eine Bruchstelle
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Dagmar Ottmann, Der tolle Invalide, S. 178ff. Dort finden sich Sophie und Seymour gleich zu Beginn des Romans. Doch der Feind ihrer Liebe hört mit, nutzt die Ambivalenz der empfindsamen Liebeszeichen und drängt sich zwischen das Paar. Erst am Ende des Romans findet sich das Paar. Alternativ dazu können – wie bei Shakespeares ›Romeo und Julia‹ oder Kleists ›Die Familie Schroffenstein‹ und ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ – die betreffenden Familien in Zwist liegen; der Ständeunterschied kann eine Heirat unmöglich machen (Prinzip Aschenputtel) oder der Partner ist schon vergeben (Prinzip Werther). Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 150. Dieser Vorwurf der Glorifizierung gilt in gewisser Weise auch gegenüber Jean Pauls ›Siebenkäs‹. Denn Siebenkäs’ Ausbruch aus seiner unglücklichen Ehe dient nur zur Glorifizierung der persönlichen, individualisierten Liebe mit Natalie. Nur sprengt diese pas-
etabliert: Mit dem Eintritt in die Ehe sollte sich die Opposition von Liebesdyade und Außenwelt aufheben, die Lebensumstände wirken dann in die Liebesbeziehung ein.138 Diese Bruchstelle in den Übergang zur Ehe zu legen, scheint auf den ersten Blick soziologisch wie historisch durchaus plausibel. Denn um 1800 führen die Liebespaare ja erst nach ihrer Hochzeit einen gemeinsamen Lebensalltag (und einen gemeinsamen Haushalt) miteinander.139 Der Umstellungsprozess gilt in der Romantik schon als äußerst heikel.140 Die Festlegung dieses »heiklen Momentes« zur Zeit der Hochzeit entpuppt sich unter Arnims kritischen Blick aber als Teil der Verschleierungsstrategie, um die Schwierigkeiten, die der romantischen Liebe eingeschrieben sind, zu verheimlichen, und die »Verabsolutierung der Liebe« weiterhin zu behaupten: Zwei unterschiedliche Strategien haben die romantischen Romane entwickelt, um diesen heiklen Moment zu entschärfen. Der überwiegende Teil der Romane entwickelt eine Strategie des Verschweigens: Sie besteht darin, die Liebesgeschichten strikt mit der Hochzeit enden zu lassen, höchstens noch einen kurzen Ausblick auf das angebliche Familienglück zu werfen, das die Liebe verspricht, dann aber mit dem behaupteten »Happy End« schnell auszublenden. Schon Hegel moniert, dass es zum »Romanhaften« gehört, die Protagonisten letztlich doch nur in den »Katzenjammer der Ehe« einzuführen. Entgangen aber ist ihm, dass die Romane exakt diesen Katzenjammer geflissentlich unter den Tisch fallen lassen. Die zweite Strategie, die sich die, um 1800 raren Eheromane zueigen machen, besteht darin, die auftretenden Probleme bis hin zur Katastrophe »Ehebruch« auszubuchstabieren. In der deutschsprachigen Literatur verfolgt bis 1810 einzig Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ konsequent diese Strategie.141 Da er allerdings ausdrücklich darauf hinweist, dass Charlottes und Eduards Eheproblemen, obwohl sie den idealen Zeitpunkt ihrer Liebe verpasst haben, auch eine Phase intensiver Liebe vorausgegangen ist, rekurriert er deutlich auf die romantische Bruchtheorie, in der auf die Verliebtheit die Schwierigkeiten im Ehealltag folgen. Der Roman tut die Probleme in diesem Sinne als Probleme einer gesellschaftlichen Institution ab.
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sionierte Liebe – im Gegensatz zu den Bildungsromanen – bereits die gesellschaftliche Ordnung. Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 222: Darzustellen sei in Romanen die »reale Wirklichkeit in ihrer vom Standpunkt des Ideals aus betrachtet prosaischen Objektivität« (im Original kursiv): »der Inhalt des gewöhnlichen täglichen Lebens, das nicht in seiner Substanz, in welcher es Sittliches und Göttliches enthält, aufgefaßt wird, sondern in seiner Veränderlichkeit und endlichen Vergänglichkeit.« Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 182. Vgl. auch Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 103. Im soziologischen Liebesdiskurs der Moderne wird die romantische Bruchstelle von dem Eintritt in das Eheleben abgekoppelt. Eheunabhängig wird dort die erste (rosarote) Phase der Verliebtheit, von dem die Liebe später einholenden (grauen) Liebesalltag geschieden wird. Figuren, wie Mellfefont aus Lessings ›Miss Sara Sampson‹ sind dafür ein Beleg. In Jean Pauls ›Siebenkäs‹ hingegen ist der Ehebruch Konsequenz daraus, dass sich seine Figuren nicht einmal vor ihrer Ehe geliebt haben.
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Zum Ehebruch kommt es, weil die Ehe die romantische Liebe ausschließt. Bei aller Kritik die Goethes Roman im Zuge seiner Ehegeschichte an dem romantischen Liebeskonzept äußert,142 verspricht er doch mit seinem Entwurf einer erfüllten Anfangszeit noch ein Liebesglück, dass es nach der in Arnims Text geleisteten nüchternen Analyse des romantischen Liebeskonzepts so nicht geben kann. Für letzteren gibt es nicht einmal die von der Romantik behauptete Bruchstelle, weil die Liebe grundsätzlich nur in Bezug auf die Lebensumstände, aber nicht in Trennung von ihnen entstehen kann.143 Arnims Liebesroman stimmt angesichts dieser Einsicht weder in das Klagelied über die »böse Außenwelt«, welche die Liebe angeblich bedrohe, noch in die Lobeshymne »romantischer Verschmelzung« ein. Für ihn liegen die Probleme nicht außerhalb des Liebeskonzepts, sondern sie gründen in der Logik der Liebe selbst. Wenn die ›Gräfin Dolores‹ überhaupt eine im emphatischen Sinne »wahre Geschichte« erzählen will, dann ist es die von der wahren Funktionsweise romantischer Liebe. Im Kontrast zu den Bildungsromanen verlagert die ›Gräfin Dolores‹ deshalb auch systematisch den Fokus ihres Erzählens: Karl und Dolores müssen weder die Konkurrenz anderer Codes fürchten noch müssen sie nennenswerte äußerliche Hindernisse überbrücken. Sie lieben sich von Beginn an unter romantischen Idealumständen. Statt eine Opposition von Innen- und Außenwelt zu konstituieren, richtet der Roman seinen Fokus direkt auf die Funktionsweisen romantischer Liebe selbst. Seine Handlung entwickelt sich aus der Komplexität und (späterhin auch) Fragilität der romantischen Liebe. Das Liebeskonzept aber ist die tragische Denk-Figur des Romans schlechthin, da sie ständig an ihren eigenen Aporien (an den von ihr selbst erzeugten unerfüllbaren Erwartungen) scheitern muss. Im Prinzip ist das Schicksal von Arnims Figuren nach der Radikalkritik romantischer Liebe besiegelt. Die Grundlagen ihrer Liebe liegen nicht nur außerhalb ihres bewussten Erlebens, sondern es liegt auch außerhalb ihrer Macht, diese zu verändern. Es geht daher in Arnims Roman nicht darum, ob die Figuren ihrem Schicksal noch ein Schnippchen schlagen und den Mechanismen romantischer Liebe noch entkommen können. Vielmehr zeigt der Roman, wie Liebe(n) unter den gegebenen Bedingungen funktioniert. Vor allem anderen ist die ›Gräfin Dolores‹ ein Refle-
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Zur Romantikkritik in ›Die Wahlverwandtschaften‹ vgl. Hartmut Böhme, »Kein wahrer Prophet« Die Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. In: Gisela Greve (Hg.), Goethe. Die Wahlverwandtschaften, Tübingen 1999, S. 97–124. Hartmut Böhme erkennt in ›Die Wahlverwandtschaften‹ das Einstürzen der Romantik. Vgl. hierzu die Anmerkung des Predigers Frank als Karl ihm Arnims Erstlingsroman Hollins Liebesleben vorträgt. Hollin gibt sich dort noch als romantisch Liebender, der die Absolutheit der Liebe einfordert: »der Liebe gehöre jede Hingebung und alle äußeren Verhältnisse müssten vor ihr verschwinden.« Leonardo (in der Romaneinlage) und Frank widersprechen dieser Behauptung: »ich leugne, was er von dem Hinaussetzen der Liebe über äußere Verhältnisse sagt, insofern sie doch nicht aus der Welt hinaus versetzen kann.« (200).
xionsroman. Sie benutzt ihr Personal und ihre Liebesgeschichte vom Anfang bis zum Ende, um die romantische Liebe bis in das letzte Detail zu durchleuchten. Dazu durchläuft Dolores’ und Karls Liebesgeschichte von ihrer Initiation an vier aufeinander folgende Phasen, in denen sich für das Paar an den Grundvoraussetzungen ihrer Liebe nichts ändert, sich dafür aber die Umstände ihrer Beziehung verschieben. In diesen unterschiedlichen Sphären seiner Geschichte konfrontiert der Roman seine Figuren und damit seine Leser nacheinander mit allen um 1800 wesentlichen Fragestellungen, Aspekten und Zusammenhängen romantischer Liebe. In jeder Erzählsequenz rückt ein anderer Themenkomplex in den Vordergrund der kritischen Betrachtung. So durchläuft das Paar im Zuge seiner zyklischen Reflexionsbewegung unterschiedliche Lebenssphären,144 während der Leser im Zuge derselben Bewegung, die verschiedenen Aspekte romantischer Liebe durchdenkt. Die Gesamtarchitektur des Romans verläuft nach den Prinzipien frühromantischer Reflexion. Als »lebendige Reflexion« wird Arnims Romankunst auf diese Weise zur »Philosophie kat exochen.«145 Diese Struktur des Romans bestimmt zugleich den Fortgang der Analyse. Die vorliegende Studie folgt der Rahmenhandlung chronologisch von einer Sphäre zur anderen und arbeitet die Reflexions- und Erzählleistung des Liebesromans in vier weiteren thematischen Kapiteln heraus. In der Zeit zwischen Initiation und Hochzeit erleben Dolores und Karl nur oberflächlich betrachtet einen Sommer des Glücks. Wirklich aber arbeitet der Roman den konzeptuellen Bruch weiter heraus, der ihre Beziehung von Beginn an prägt. Die ›Gräfin Dolores‹ zieht aus ihrer Radikalkritik schonungslos die Konsequenzen. Das eigentliche Anliegen dieser Erzählsequenz besteht darin, einen der wichtigsten Aspekte romantischer Liebe zu sondieren, nämlich die Frage, ob »Liebe« kommunizierbar ist, und wenn ja, mit Hilfe welcher Kommunikationsmedien. Um diese Frage zu beantworten, unterzieht der Roman alle, in der Diskussion um 1800 relevanten, Kommunikationsformen systematisch einem Test (Kapitel 3). Anhand von Dolores’ Liebesgeschichte
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Zur Auflösung des teleologischen Erzählmodells in der ›Gräfin Dolores‹ vgl. auch Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 293ff. Allerdings löst Kaminski die Gesamtarchitektur des Romans nicht in eine (frühromantisch fundierte) zyklische Reflexionsbewegung auf, sondern zieht in den Text eine Spiegelachse ein. Diese Lesart setzt voraus, dass sich in der Mitte des Liebesromans noch etwas Entscheidendes verändert. Die vorliegende Lesart widerspricht dieser Behauptung vehement. Sie behauptet, dass nach der Liebesinitiation keine essentiellen Veränderungen mehr stattfinden. Die Liebesmechanismen bleiben bis zum Romanende konstant. Vgl. Novalis Schriften, 2. Band, Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1981, S. 525. Zur frühromantischen Reflexion vgl. unter einer Vielzahl von Publikation zu diesem Thema: Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt am Main 1987.
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schließt der Roman anschließend den Liebes- mit dem Geschlechterdiskurs kurz. Mit dieser Interferenz spielt der Roman ein weiteres um 1800 virulentes Thema ein: den Konflikt zwischen dem Egalitätsversprechen individualisierter Liebe einerseits, und der patriarchalischen Geschlechter- und Eheordnung andererseits. Aus dieser Konfrontation der Theoreme motiviert sich Dolores’ Ehebruch (Kapitel 4). Während Dolores ihren Geschlechterkampf führt, spielt der Roman mit Blick auf Karls Liebesgeschichte parallel einen ganz anderen Themenkomplex durch. Karl wird als ein liebender Poet inszeniert. Anhand seines männlichen Protagonisten durchleuchtet der Roman den Zusammenhang von Subjekt-, Autorschafts- und Liebesdiskurs. Karls Schicksal als liebende Dichterfigur mündet in seinen Selbstmordversuch (Kapitel 5). An dieser Bruchstelle zwischen der dritten und vierten Abteilung der Erzählung146 verlasse ich die Chronologie der Rahmenhandlung und zeige, dass der Roman seine Erkenntnisse über die romantische Liebe und über ihre konventionellen Schreibweisen mit Hilfe seiner Erzählinstanz in ein poetologisches Konzept umsetzt. Die Studie wendet sich also dem discours und der semiologischen Liebe in Arnims Roman zu (Kapitel 6). Darauf allerdings kehre ich noch einmal zur thematisierten Liebe und zur Figurenebene zurück. Dolores’ und Karls vermeintliche Versöhnung entpuppt sich nicht als der Wendepunkt und Neuanfang, die sie zu sein verspricht. Der Roman gestattet seinem Paar keine Versöhnung, sondern setzt sie einer letzten, tödlichen Zirkulation aus (Kapitel 7). In deren Zuge konfrontiert er die Liebe mit zwei weiteren Themenkomplexen und Diskursfeldern: Zunächst dekonstruiert er mit der »heiligen Liebe« seines Paares, die religiöse Fundierung der Liebe, um zuletzt das harmonische Familienbild der Romantik zu entlarven. Damit endet gemeinsam mit der Revision romantischer Liebe auch Dolores’ und Karls Liebesgeschichte. Dolores’ Tod setzt beiden ein Ende.
3.
Bewegter Stillstand: Von der Verlobung in die Brautzeit
3.1
Kohärenz des Liebesmodells. Die Verlobung als Drehkreuz des Romans
Bis hierhin könnte man mit Recht gegen die bisherige Analyse einwenden, dass sie sich ausschließlich auf die Liebesinitiation und damit auf eine im Vergleich zum Gesamtroman kurze Textpassage beschränkt. Man könnte argumentieren, die aufgezeigten Aporien romantischer Liebe seien zwar im Anfangsstadium von Dolores’ und Karls Beziehung virulent, sie würden aber – beispielsweise – durch die Verlobung, deren synthetische Wirkung das romantische Liebeskonzept beschwört, aufgehoben. Doch erweitert man seinen Blick auf die Verlobungsszene, dann zeigt
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Bereits diese Zäsur widerlegt Kaminskis Behauptung, der Roman zeichne sich durch eine Spiegelachse aus. Da der Einschnitt nicht nach zwei, sondern erst nach drei der insgesamt vier Abeilungen erfolgt, könnte es sich bei der ›Gräfin Dolores‹ höchstens um einen Zerrspiegel handeln. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 293ff.
sich, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Übergang von der ersten Liebesbegegnung in die Brautzeit zeichnet sich durch ein sowohl kohärentes als auch konsistentes Liebes- und Erzählmodell aus. Dolores’ und Karls Verlobung bestätigt diese Kontinuität. Die Erzählinstanz fasst lakonisch zusammen: Am andern Morgen wurde alles fest unter ihnen besprochen, sie verstanden einander, daß sie verlobt wären und wußten nicht wie; er hatte keinen Ring bei sich, sonst wäre auch diese Förmlichkeit beobachtet worden, von der Universität wollte er einen zierlichen Goldring senden, er nahm Maß an ihrem schönen Finger mit einem seiner Haare. Klelia trat darauf ein. [meine Hervorhebungen, C. M.] (135)
Erstens bestätigt diese Szene, dass der Roman seine analytische Sichtweise beibehält. Die Erzählerfigur ist an den Ereignissen unbeteiligt. Sie »beobachtet« – so lautet das Schlüsselwort des summarischen Berichts. Diese Beobachtung zielt ausdrücklich auf die Form (»Förmlichkeit«) ab, auf das »Wie«, das im Text durch eine syntaktische Inversion an das Satzende verschoben und dadurch hervorgehoben wird. Kontinuierlich ersetzt der Roman die in den Bildungsromanen erprobte Strategie des Verschweigens durch seine eigene, deren oberstes Prinzip darin besteht, die Liebesmechanismen und ihre Funktionen exakt offen zu legen. Von der Verlobung zu erzählen bedeutet demnach nicht, sie als Höhepunkt romantischer Liebesharmonie zu feiern, sondern ihre Funktions- und Wirkungsweise kritisch in den Blick zu nehmen. Konsequent gestaltet der Roman das andere Bild romantischer Liebe aus. Einzig der Untersuchungsgegenstand verschiebt sich im Vergleich zur Liebesinitiation: Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen jetzt nicht mehr die Bedingungen, unter denen sich das Paar findet, sondern jene Kommunikationsformen, welche dem Paar erlauben, seine Liebe (vom Initiationsmoment an) auf Dauerhaftigkeit umzustellen.147 Zweitens hebt die Verlobungsszene hervor, dass Dolores’ und Karls Liebe einer ökonomischen Logik unterworfen bleibt. Im Zentrum des Verlobungsrituals steht ein Gabentausch: Karl will Dolores einen Ring schenken. Marcel Mauss hat »Die Gabe« in seiner gleichnamigen Studie als grundlegenden ökonomischen Mechanismus erkannt.148 Mauss hebt hervor, dass jede Gabe obligatorisch eine Gegengabe fordert. Er hat herausgearbeitet, dass bis in die Moderne hinein bei ökonomischen Transaktionen nie allein materielle Werte, sondern immer auch Gefühlswerte gehandelt werden.149 Und er hält fest, dass diese Prinzipien des Gabentauschs bis in
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Die Verlobung nimmt im romantischen Liebesdiskurs das Eheversprechen »Für immer« vorweg. Sie soll die Beziehung stabilisieren, damit das Paar heil durch die Klippen seines Alltags schiffen kann. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main, 1990. Albrecht Koschorke hat ebenfalls Mauss’ Ökonomie der Gabe an den Liebesdiskurs gekoppelt. Koschorke konzentriert sich allerdings auf die Funktion des Gabentauschs im Konzept höfischer Liebe und beschreibt, wie sich dort mit Hilfe von Geschenken und Gaben ein Netzwerk gegenseitiger Verpflichtungen entspinnt, vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 22ff. Marcel Mauss, Die Gabe, S. 157f.
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das 20. Jahrhundert ritualisierte Feste wie Verlobung und Hochzeit steuern.150 Auf der Basis von Mauss’ Ausführungen erkennt man, worauf die Inszenierung von Karls und Dolores’ Verlobungsszene hinausläuft. Als Gegengabe für sein Ringgeschenk fordert Karl von Dolores ihre Liebe, ihre Treue und ihre sexuelle Hingabe. Gibt sie sich hin, schenkt er ihr wiederum seine Liebe. Die Liebe folgt damit einer unhintergehbaren Logik des Tausches. Das Gesetz der Arnimschen Liebesökonomie lautet: Es muss getauscht werden!151 Dass dieser Tausch- als Kommunikationsakt zu verstehen ist, macht die Verlobungsszene deutlich, indem sie das Phänomen der Gabe mit dem der Rede verschränkt: Karl verspricht Dolores die Gabe eines Rings. Er gibt ihr ein Versprechen seiner Treue. Ausdrücklich hebt die Passage hervor, das Paar habe sich »besprochen«, es habe einander »verstanden«. Dolores’ und Karls gegenseitige Liebe ist (und bleibt) das Resultat ihres kommunikativen Austauschs. Über diese Grundlegung ihrer Liebe kommt das Paar nicht hinaus. Allerdings bedeutet dies nicht das Ende allen Glücks: Der Ring symbolisiert, dass sich das Paar in einem in sich geschlossenen ökonomischen wie emotionalen Zirkulationssystem von Gabe und Gegengabe verständigt. Das Paar isoliert sich mit Hilfe des Gabenkreislaufes von der Außenwelt. Es etabliert sein intimes, zweisames Glück. Statt jedoch den Kreis der Verliebten endgültig zu schließen und sie auf direktem Weg ihrem gemeinsamen Telos »Hochzeit« zuzuführen, hebt die Verlobungsszene drittens hervor, wie brüchig die Liebesordnung ist. Gefährdet ist der Gabenkreislauf der Liebenden nicht nur, weil Klelia direkt nach der Verlobung zu dem Paar tritt (»Klelia trat darauf ein«, s. o.) und die intime Zweisamkeit auflöst. Brüchigkeit bestimmt darüber hinaus auch den Verlobungsakt selbst. Ausgerechnet der Verlobungsring, das Symbol des harmonischen Kreisschlusses, stört die Harmonie des Paares. Karl – so der ironische Seitenhieb gegen die Romantik – kann aufgrund der Zufälligkeit und Plötzlichkeit der gegenseitigen Liebesentscheidung Dolores keinen echten Ring überreichen. Daher misst er mit einem seiner Haare den Umfang ihres Fingers aus und verspricht ihr nur, dass er ihr nach seiner Rückkehr zur Universität einen »zierlichen Goldring« (135) senden wird. Der Haarring verweist jetzt symbolisch auf den versprochenen Verlobungsring, der seinerseits als Symbol der Verlobung fungiert, die ihrerseits symbolisch die Liebe besiegelt. Als
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Als Beispiel für diese Tauschökonomie jenseits des »Markts«, in denen die archaische Form der Gabe bis heute Gewalt ausübt, führt Mauss die dörflichen Hochzeitsfeiern des 20. Jahrhunderts an. Arnims Verlobungsszene bestätigt Mauss’ Annahme, der Gabentausch ziehe sich kontinuierlich von den archaischen Gesellschaften bis in die Moderne. Marcel Mauss, Die Gabe, S. 157f. Weil beide Partner an diesen Zirkulationsmechanismus gebunden sind, weil keiner diese kommunikativen Mechanismen überwinden oder umgehen kann, lieben sie auf die gleiche Weise. Keiner liebt vollkommener, keiner tugendhafter als der andere. Dolores und Karl sind in diesem Sinne gleichwertige Partner. Sie erfüllen die romantische Forderung der Egalität.
Symbol des Symbols verkörpert der Haarersatz, der zudem noch herausgerissen ist, zum einen die Brüchigkeit der Zeichenrelation. Er hebt ihre grundsätzliche Gefährdung hervor und rückt den Zeichentausch auf diese Weise ins Zwielicht. Zum anderen macht der Ersatzring deutlich, dass Karls und Dolores’ Verlobung als Akt des Versprechens performativ in die Zukunft weist. Der Haarring potenziert den Gesprächsbedarf, denn er erzwingt zwei weitere Kommunikationssituationen: Er weist konventionell auf die Hochzeit voraus, bei welcher der Verlobungs- durch einen Hochzeitsring ersetzt werden soll. Zusätzlich generiert er einen Moment, in dem Karl seine Hilfskonstruktion gegen den echten Verlobungsring eintauschen muss. Die Verlobung öffnet somit die intime Zweisamkeit, sie bricht die Kreisstruktur, erhöht die Komplexität der Liebesbeziehung und entlässt das Paar in eine letztlich endlose Abfolge von Zirkulationen. Der erste Tausch zieht unwillkürlich weitere Tauschaktionen nach sich. Statt die Beziehung in den harmonischen Stillstand zu überführen, entwickelt sich die Verlobung zum Dreh- und Angelpunkt einer dynamischen Liebe. Die Verlobung legt fest, welche Prinzipien und Aspekte den weiteren Verlauf der Liebesgeschichte bestimmen.152 Nach der Liebesinitiation fungiert sie als zweiter Knotenpunkt innerhalb des Romans, von dem sich einzelne Fäden in das Textgewebe ausspinnen und zu dem sie sich zurückverfolgen lassen. Um zu veranschaulichen, welche Prinzipien Dolores’ und Karls Liebesleben bestimmen, nimmt die vorliegende Studie exemplarisch einen Faden auf, der während der Verlobung gesponnen wird, und verfolgt ihn durch den Roman. Diese paradigmatische Lektüre konzentriert sich auf den Verlobungsring. 3.2
Liebe im Zeichen des Rings. Chronik einer Dauer-Krise
Schonungslos macht der Roman kurze Zeit später das Störgeräusch hörbar, mit dem er die Verlobung unterlegt hat. Es wird unüberhörbar laut, als Karls Ringversprechen bei der notwendigen -übergabe in den ersten Streit des Paares mündet. Karl löst sein Verlobungsversprechen im zweiten Kapitel der zweiten Abteilung ein. Das Kapitel trägt den unmissverständlichen Titel: »Missvergnügen und Streit« (149).153 Das Missvergnügen kommt auf, weil Karl zwar insofern seinem Liebesversprechen und der Kreisstruktur des Ringes treu bleibt, als er nach dem Winter an 152
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Die Verlobungsszene nimmt voraus, dass sich auch während der folgenden Brautzeit in der Liebe des Paares alles um ökonomische Werte (Armut, Reichtum, Gold und Geld), um die ödipale Struktur (Vater, Mutter), um Geschlechterrollen (Karl als männlicher Geber, Dolores als passiv-weibliche Nehmerin) drehen wird. Diese Aspekte bleiben bis zum Romanende virulent. Es sind die großen Liebesthemen des Romans. Dieses Pattern wird nur noch um das Themenfeld Religion ergänzt. Mit der direkt im Anschluss besprochenen Szene ist es komplett. Dass Dolores’ und Karls Liebesprobleme im Gegensatz zur Initiationsphase offen und für die Liebenden selbst spürbar zutage treten, darauf weist auch Helmut Schmiedt in seiner Analyse hin. Er kontrastiert diese Zeit mit der seiner Meinung nach harmonischen nach Dolores und Karls Versöhnung, vgl. Helmut Schmiedt, Liebe, Ehe, Ehebruch. Ein
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der Universität zu Dolores zurückkehrt. Nur, einen Goldring sendet er ihr vorher nicht. Er bringt ihr stattdessen einen Silberring mit, den er ihr gemeinsam mit einer »Reihe von zierlichen Nonnenarbeiten« (155), mit Heiligen- und Marienbildern, mit Tabernakeln und Rosenkränzen überreicht: Der Graf deckte nun ein Paket auf, wonach sie neugierig geblickt hatte; oben auf lag der Verlobungsring, den er ihr aus der Nachlassenschaft seiner Mutter verehrte: die zwölf Apostel jeder mit seinem Zeichen bildeten in halberhabener Silber Arbeit den Reifen; in ihrem Kreise glänzte in Golde Christus in einem Strahlenscheine hoch erhaben, in seinen Händen Kelch und Brot: alles von sehr schöner Arbeit, aber freilich nicht im neuesten Stile; er übergab ihn ihr als das liebste Geschenk unter allem, was er je besessen […]. (155)
Diese Schenkungsszene spielt aus, dass mit der Transaktion des materiellen Rings zugleich individuelle Vorstellungen und Gefühle ausgetauscht werden. Ich betrachte zunächst Karls und anschließend Dolores’ Sichtweise auf diese Szene. Karl hat die Verlobungsszene nach seinen individuellen Wahrnehmungsmustern gedeutet und den Haarring seinen Liebesvorstellungen gemäß gegen ein Original ersetzt. Wie bei der Prägung von Münzen erhält das Liebeszeichen seinen Wert über die Inschrift der Autorität. Karl hat sich bei seiner Zeichenprägung eng an den Ideenund Verstehenshorizont gehalten, den er während der Initiation profiliert hatte. Seine Liebesvorstellungen, die er jetzt mit der Ringgabe in die Beziehung einbringt, sind konstant dieselben. Für Karl ist der Verlobungsring »das liebste Geschenk unter allen«, weil er ein Erbstück seiner Mutter ist. Indem Karl seine Verlobung mit diesem Ring besiegelt, weist er Dolores symbolisch die Nachfolge seiner Mutter zu. Er selbst aber nimmt als Ringgeber gegenüber der »empfangenden« Frau eine patriarchalische Position ein. Karl inszeniert die Verlobung als einen Akt der Familiengründung, die er in der Kontinuität seiner eigenen Familiengeschichte verstanden wissen will. Zugleich bringt er einen neuen Aspekt in seine Liebeskommunikation ein, der zuvor mit den moralischen Bildern und dem hortus conclusus eher unterschwellig ein Thema war: seine christliche Religiosität. Er rückt seine Liebe in die Nachfolge der »heiligen Familie«.154 Karl figuriert im Sinne der Ringsymbolik als Gottvater und Jesusfigur zugleich, Dolores als »heilige Mutter« und die 12 Apostel spielen bereits auf die 12 Kinder des Paares an.155 Im Sinne dieser religiös fundierten Familiengründung ist das emphatische Liebeszeichen »Ring« für Karl von größ-
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Spannungsfeld in deutscher Prosa von Christian Fürchtegott Gellert bis Elfriede Jelinek, Opladen 1993, S. 72–87, hier S. 83f. Vgl. zu dieser Tradition Albrecht Koschorke, Die heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt am Main 2000, S. 129ff. Die Ironiesignale sind an dieser Stelle alles andere als Zufall. Sie deuten auf Karls männliche Hybris hin, der in keiner Weise durchschaut, dass er, wenn er seine Geliebte zur Marienfigur verklärt, Jesus nachträglich einen Ödipuskomplex unterschiebt. Der Roman aber spielt im Gegensatz zu seiner männlichen Protagonisten mit diesem Deutungspotential.
ter Bedeutung: Es ist ihm »Gold wert«, weil es metaphorisch auf seine Mutter, seine Religion, seine Familienvorstellung und seine Emotionen verweist. Offensichtlich hat er das »Gold« des versprochenen Rings metaphorisch gedeutet. Er hat unabhängig von Dolores’ Liebesvorstellungen den Ring mit seinen eigenen Idealen aufgeladen. Da er sich in der Position des patriarchalischen Gebers sieht, steht es ihm seiner Meinung nach selbstverständlich zu, seine Vorstellungen als verbindlich vorzugeben. Er diktiert sie, Dolores hat sie anzunehmen. Sie ist aus seiner Sicht verpflichtet, das Geschenk anzunehmen. Dass aus dem versprochenen Goldring »nur« ein vergoldeter Jesus geworden ist, ist aus Karls Perspektive eine Marginalie.156 Obwohl dies Karls Überzeugung widerspricht, führt Arnims Roman doch vor, dass die Ringübergabe wie jede Kommunikation dazu dienen muss, den Wert der einzelnen Liebeszeichen mit dem jeweiligen Gegenüber abzugleichen. Die TauschPartner sind dazu – in auffälliger Analogie – sowohl durch das romantische Liebesprinzip der Egalität als auch durch das ökonomische Marktgesetz von Angebot und Nachfrage verpflichtet. Diese Analogie zwischen Ökonomie- und Liebesdiskurs arbeitet der Romantext heraus. Das bedeutet im konkreten Fall: soll die Liebeskommunikation gelingen, muss Dolores dem erhalten Liebeszeichen einen und am besten denselben Wert beimessen wie Karl. Dolores hat die vorherige Verlobung ebenso kompromisslos wie Karl nach ihren Erwartungsmustern gedeutet und sie mit ihren eigenen narzisstischen Vorstellungen symbolisch aufgeladen. In diesem Sinne steht sie ihrem Mann in Nichts nach. Parallel zu Karl hat sie dem Ringversprechen aber eine ganz andere Bedeutung zugeschrieben als dieser.157 Für sie hat die materiale Referenz des Wortes »Gold« höchste Priorität. Diese Tatsache bedeutet aber keinesfalls, dass der Ring für sie ausschließlich von materiellem Wert ist. Das Gold hat für sie durchaus auch einen emotionalen Wert. Es verweist in ihren Augen nicht allein auf Karls Reichtum, sondern auf das ganze Panorama ihrer Wünsche und Gefühle. Der Goldring konnotiert ihre Sehnsucht, sich im Zeichen individualisierter Liebe zu verheiraten. Er verspricht ihr, den schmerzhaften Verlust ihres Vaters zu ersetzen und ihre traumatische Kindheitserfahrung, die sie mit der väterlichen Flucht erlitten hat, zu kompensieren. Und er repräsentiert ihren Wunsch, in das gesellschaftliche Leben zurückzukehren. In diesem Sinne hat Dolores das Ringsymbol in ihren eigenen Bedeutungshorizont eingeordnet. Die Szene zeigt, dass beide Liebenden davon ausgehen, ihre Vorstellungen würden exakt mit denen ihres Partners übereinstimmen. Doch die Individuen bleiben in ihren Vor-
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Auch die erhabene Hervorhebung der Jesusfigur im Ring kann man als ironische Anspielung an die männliche Eitelkeit verstehen. Auch Nicola Kaminski spricht in ihrer Arbeit von differenten »Sinnzuweisungen an den Ring«. Sie macht diese aber erst in dem Moment aus, in dem Dolores den echten Verlobungsring verliert. Von dieser Stelle aus folgt sie dem Ringmotiv durch den Text. Allerdings schenkt Kaminski der Vorgeschichte des Verlobungsrings keinerlei Beachtung. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 253f.
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stellungs- und Gefühlsmustern gefangen – zwischen diesen gibt es nur eine kleine Schnittmenge. Zum Streit kommt es, weil bereits der Ablauf der Ringübergabe gegen das romantische Egalitätsprinzip verstößt: Da der Mann das Privileg, die Verlobungsringe zu beschaffen und zu schenken, traditionell (und ausschließlich kulturell tradiert) für sich beansprucht, da er die Münzprägung zu seinem Machtbereich erklärt, ist die Frau ihm als Beschenkte trotz aller romantischen Egalitätsversprechen nachgeordnet und damit unterlegen. Karl bestimmt, wie der Ring auszusehen hat, Dolores kann nur reagieren. Der Geschlechtercode schafft – im Kontrast zur Initiation, bei der sich Dolores über diesen hinweggesetzt hatte – ein Ungleichgewicht. Der Mann besitzt einen Spielraum, den er gestalten kann, die Frau verfügt über keinen. Indem Karl sich mit der Ringübergabe seine Wünsche erfüllt, verstößt er gegen ein Grundprinzip individualisierter Liebe. Diese fordert von den Liebenden, dass sie sich über die Gefühle ihres jeweiligen Partners »immer neu informier[en], indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zu Grunde leg[en].«158 Karl versäumt, sich empathisch in seine Verlobte hineinzuversetzen und ihre Vorstellungen zur Grundlage seines Handelns zu machen. In Folge dieses grundlegenden Fehlers beweist der Moment der Ringübergabe für Dolores, dass ihre Wünsche für Karl entweder nicht zugänglich oder irrelevant sind. Zumindest ist für sie klar, dass seine Liebesvorstellungen von ihren differieren. War sie nach der Liebesinitiation noch davon ausgegangen, dass ihre Vorstellungen mit Karls vollkommen übereinstimmen, erweist sich dies nun als Illusion. Der Silberring, den sie von Karl erhält, enttäuscht all ihre Liebesvorstellungen und -gefühle (155). Er zerstört mit einem Schlag ihre Hoffnungen, die sie an ihre Liebe geknüpft hatte. Aus Dolores’ Sicht hat Karl einen wesentlichen Bestandteil des Verlobungsversprechens gebrochen. Sie fühlt sich gemäß ihren Vorstellungen und Gefühlen zu Recht als Verliererin. Der Ring selbst ist ihr entsprechend weniger wert, als er Karl bedeutet. Das anfängliche Gleichgewicht gerät für Dolores spürbar in Schieflage und verschiebt sich zu ihren Ungunsten. Dolores kann in dieser Situation nur unter schlechten Handlungsoptionen wählen. Sie könnte den Ring beispielsweise vollständig ausschlagen. Auf diese Weise würde sie ihre Freiheit (und Egalität) behaupten. Das würde allerdings zugleich den endgültigen Bruch der Beziehung bedeuten. Dass diese Option in Dolores’ Fall unrealistisch ist oder zumindest jeder »vernünftigen Vorstellung« (147) widerspricht, führt der Roman selbst vor. Als Dolores kurzzeitig bereit ist, die Hochzeit mit Karl für ein Leben in Italien auszuschlagen (147), versagt ihr die Obristin, Dolores’ Tante, die in diesem Augenblick die gesellschaftliche Reglementierung personifiziert, »den Platz in ihrer Kutsche« (147). Dolores wird von den gesellschaftlichen Konventionen und von ihrer Armut dazu gezwungen, Karls Liebe und somit auch seine Gabe anzunehmen. Erst dieser äußere Zwang manövriert Dolores in
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178.
eine unlösbare Konfliktsituation. Sie muss den Ring annehmen, obwohl Karl sie narzisstisch kränkt und ihren Wünschen keinerlei Beachtung schenkt. Wenn die Beziehung in diesem Augenblick nicht in die Brüche geht, liegt das nicht an Karl, sondern an Dolores. Sie wählt die zweite, immer noch schlechte Option. Sie ist durchaus bereit, in ihre Liebe zu investieren. Zudem ist sie in Sachen Liebe durchaus empathisch. Und sie handelt aus Liebe: Sie »tat zwar ihm zur Liebe, als wenn er [der Ring, C. M.] ihr lieb sei, doch dachte sie mit Ärger daran, daß sie ihn in Gesellschaft nicht würde tragen können, steckte ihn aber an und bewahrte ihn.« (155) Dolores verbirgt gegenüber Karl ihre Enttäuschung, indem sie schweigt. Ihr »Schweigemanagement«159 festigt einerseits ihre Beziehung und vor allem Karls Glücksgefühl. Trotzdem kann ihr Schweigen nicht über den Riss hinwegtäuschen, der das Schweigebündnis durchzieht. Denn andererseits verstößt Dolores’ Schweigsamkeit gegen das Totalitätsgebot romantischer Liebe, nach dessen Vorgabe dem Partner nichts zu verheimlichen ist. Aus Liebe verheimlicht sie Karl, dass sie ihn in diesem Augenblick nicht lieben kann, und verstößt auf diese Weise gegen die Liebesgesetze. Dieses Paradoxon des romantischen Liebeskonzepts (Schweigen müssen für die Liebe, obwohl schweigen per Code verboten ist) zeigt das Paar in einer ausweglosen Situation.160 Das Paar hat sich mit dem zweiten Akt seines Verlobungsdramas also alles andere als verständigt. Die Ringübergabe wird durch die Gleichzeitigkeit von Trennung und Vereinigung bestimmt. Dieser Rest an Unverständnis, an unerfüllten Wünschen verhindert, dass die Ringübergabe den Verlobungsakt harmonisch abschließt. Per Dominoeffekt erzeugt Dolores ihrerseits eine weitere Kommunikationssituation. Dolores bringt zwar Verständnis dafür auf, dass der Verlobungsring Karl von größtem Wert ist, aber die religiöse Wende, die Karl ihrer Liebesbeziehung mit seinem Geschenk gibt, kann sie in keiner Weise nachvollziehen. Das übersteigt ihren eigenen (Liebes-)Horizont und ihr Einfühlungsvermögen. Zu Dolores’ Gunsten muss man festhalten, dass von Religion – zumindest auf der Gesprächsoberfläche – bisher auch keine Rede war. Karl bringt eine Facette seiner Individualität ins Spiel, die aus Dolores’ Perspektive nichts mit ihrer gegenseitigen Liebe zu tun hat. Er speist mit dem Ring seiner Mutter Vorstellungen in die Zirkulation ein, die für Dolores außerhalb ihrer Liebesbeziehung liegen. Anhand seiner Doloresfigur führt der Roman eine weitere unlösbare Schwierigkeit des individualisierten Liebeskonzepts vor. Dolores ist zwar bewusst, dass sie sich darüber informieren muss, was Karl denkt und fühlt. Sie ist
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Zum Begriff des Schweigemanagements vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 29. Fuchs beschreibt mit diesem Terminus die Situationen, in denen ein Liebespartner gegen das Totalitätsversprechen romantischer Liebe verstoßen muss und seine Gedanken und Gefühle gerade nicht vollständig offenbaren darf, wenn er seine Liebesbeziehung retten will. Jede Beziehung beruht demnach auf einem ausgeklügelten Schweigemanagement, einem kalkulierten Einsatz der Schweigsamkeit. Zu diesem Paradoxon des romantischen Liebeskonzepts, Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 29.
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sogar bereit, Rücksicht auf seine Gefühle zu nehmen, und dennoch bleiben ihr Karls Beweggründe für sein Handeln letztlich verborgen. Sein Bewusstsein ist für sie opak. Der Geliebte bleibt eine Rätselfigur, und doch verpflichtet das Liebeskonzept den Liebenden dazu, das unlösbare Geheimnis seines Denkens und Fühlens vollständig zu lüften. An diesem Anspruch müssen die Liebenden unausweichlich scheitern.161 Dolores bewahrt also brav den Ring, ihre Enttäuschung aber schafft sich in einer Übersprungshandlung Luft. Da sie mit Karls religiöser Liebesbegründung nichts anfangen kann, verkennt sie den Wert, den die Heiligenbilder für ihren Verlobten haben. Für sie sind die Reliquien nur unbedeutende Beigabe zum Liebesgeschenk. Die ungläubige Dolores betrachtet die Marienbilder (!) nur als Bildmaterial, das sie einem skandalträchtigen Akt künstlerisch nach ihrem Sinn umgestaltet. Die Erzählinstanz macht keinen Hehl aus ihrem Entsetzen: Diese Betrachtungen geben wir als Leichenrede jenen artigen Sächelchen, die der Graf zum Geschenke brachte und ein paar Tage darauf die Heiligen mit Schnurrbärten und Schönheitspflästerchen schrecklich bemalt bei Dolores antraf, die von dieser Arbeit ausruhend, sich vor Lachen nicht zu lassen wußte. (156)
Karl reagiert zutiefst verletzt, stellt sie zur Rede und ermahnt sie. Dolores jedoch spitzt den Konflikt nur noch weiter zu: »sie lachte immer mehr und schlug scherzend mit dem Rosenkranze auf ihn.« (156)162 Damit ist das Paar in Sachen gegenseitigem Unverständnis quitt. Daraufhin allerdings kommt es, wie es kommen muss; das Paar findet keine Ruhe, auch wenn es erst einmal in Schweigen verfällt. Karl zieht sich narzisstisch gekränkt in sein Gasthaus zurück.163 Obwohl der Ro-
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Axel Honneth weist zu recht darauf hin, dass diese mangelnde gegenseitige Verständigung sich auch auf die Subjektkonstitution auswirkt. Weil das »normative Selbstbild eines jeden Menschen [...] auf die Möglichkeit der steten Rückversicherung im Anderen angewiesen ist.« Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992, S. 212. Die Liebenden gleichen in Arnims Roman die fehlende Rückversicherung durch ihren übertriebenen Narzissmus aus. Dass es von der Kreisform des Verlobungsringes zum Rosenkranz nicht weit ist, zeigen auch die beiden Titelvignetten des Romans. Auf der des ersten Bandes finden sich der Verlobungsring und ein Rosenkranz. Letzterer allerdings nicht als religiöses Relikt aus geweihten Holzkugeln gefertigt, sondern aus echten Rosen gewunden (737). Die Vignette des zweiten Bandes zeigt einen Dornenring ineinander verschränkt mit einem Goldring, den Karl in Italien anfertigen lässt, um den zwischenzeitlich verloren gegangenen originalen Verlobungsring zu ersetzen. Die Titelvignetten symbolisieren zudem anhand der ineinander verschlungenen Ringe und Kränze die soeben vorgeführte Parallelität von Karls und Dolores’ Bewusstsein, die letztlich ohne Berührung bleiben. Der Rosenkranz überschneidet sich auf dem Bild an keiner Stelle mit dem Verlobungsring, sondern beide umfassen sich ohne jede Berührung. Zu den Titelvignetten Roswitha Burwick, Dichtung und Malerei bei Achim von Arnims, Berlin u. New York 1989, S. 269f. Anstatt diesen narzisstischen Konflikt narratologisch zu operationalisieren, stellt Wingertszahn in seiner Arbeit nur lapidar fest: »Gewisse Motive des Romans deuten auf eine Modellierung und Verarbeitung eines narzißtischen Konflikts, der hervorgerufen wird durch die Konfrontation mit Sexualität. Der Roman hält im Zusammenleben der
senkranz als Attribut der Mutter Gottes deutlich macht, dass Dolores aus seiner Sicht (im Wortsinne) schlagartig Karls christlich fundiertes Zukunftsprojekt »Familiengründung« sowie sein Gedenken an seine (heilige) Mutter ausgestrichen hat, setzt Karl jetzt seinerseits die Liebeskommunikation fort: »er fühlte sein Recht und wollte es ihr in einer leichten Allegorie deutlicher machen und dazu schrieb und übersandte er ihr die beigefügte Erzählung: ›Das Heidenmädchen‹« (157f.). Doch auch der lyrische Text, der nach den beiden Ringen und den heiligen Reliquien der nunmehr vierte Mediator ist, erzeugt wieder nur ein neues Missverständnis. Nicola Kaminski hat in ihrer Analyse dieser Kommunikationssituation prägnant herausgearbeitet, dass sich Dolores der moralpädagogischen Intention des Gedichts verweigert, indem sie es als changent taft liest.164 »Aber sie verstand kein Wort davon, sie las es von hinten rückwärts, es war ihr unbegreiflich«, resümiert tatsächlich die Erzählinstanz. Dolores liest den Text gegen den Strich. Ihre Lektüre unterläuft die Autorität des Geschriebenen (vgl. 351). Sie deckt performativ die »durchgehende Janusköpfigkeit« allegorischer Texte auf.165 Nach langem Lesen erkennt sie, »der Graf halte sich für unseren Herrn Jesus, weil sie mit dem Kinde bezeichnet sei.« (160) Obwohl diese Deutung mit Karls Selbstinszenierung korrespondiert, die er im Zeichen des Verlobungsrings initiiert hat, widerspricht sie zugleich seiner gegenwärtigen didaktischen Intention. Statt sich einfach nur mit dem Heidenmädchen zu identifizieren, überführt Dolores ihren Mann exakt jener Hybris über die göttliche Ordnung, welcher er ihr zum Vorwurf macht. Dolores enttarnt Karls Scheinheiligkeit. Sie unterminiert den moralischen Anspruch ihres »guten Hirten«, indem sie ihn unverschlüsselt benennt. Das moralische Gedicht zeitigt demnach nicht den von Karl erhofften Effekt. Zumal Dolores ihm keine Antwort auf sein Gedicht zukommen lässt. Unterdessen wartet Karl in seinem Gasthaus gespannt auf eine Nachricht von Dolores. Das Paar unterbricht seine Kommunikation für drei Tage, oder besser: es friert sie ein (160f.). Denn selbst Karls Überlegung, in den Krieg zu ziehen, wäre nur als Reaktion auf Dolores’ Schweigen und damit innerhalb des Systems »Liebe« zu verstehen. Drei Tage nach der Trennung findet das Paar dann doch wieder zusam-
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Eheleute immer wieder narzißtische Kränkungen und Verletzungen Karls fest.«, vgl. Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 305. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 249ff. Kaminskis Lektüre ist an diesem Punkt absolut überzeugend. Jedoch stimme ich ihrer ebenfalls am ›Heidenmädchen‹ entwickelte Grundthese nicht zu, dass an dieser Stelle ein Schema männlicher Produktion und weiblicher Rezeption etabliert werde. Denn Karl ist ja wie Dolores ein Leser. Seine Lektüre findet ebenfalls – wie bei seiner Liebe auf den ersten Blick gezeigt – »quasi von hinten rückwärts« statt. Ihm ist seine Lektüretechnik ebenso in keiner Weise bewusst wie Dolores. Und umgekehrt hat Dolores ihre skandalöse Künstlerschaft anhand der Marienbilder ja gerade erst unter Beweis gestellt. Zur Janusköpfigkeit der Allegorie vgl. Heinz Drügh, Anders-Rede, S. 8 und 24. Zur Janusköpfigkeit vgl. auch die Systematik dieser Arbeit. Zur Allegorie in Arnims Roman vgl. Kapitel 6 der Textanalyse.
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men. Allerdings nicht motiviert durch eine persönliche Ausspräche, sondern weil ein Kommunikationsmedium, das sich zuvor schon einmal um ihre Beziehung verdient gemacht hat, ihr Schweigen unterbricht: Dolores und Karl versöhnen sich, da der alte Bediente, ohne von Dolores’ beauftragt worden zu sein (162), Karl erzählt, »seine [Karls, C. M.] Gräfin sei seinetwegen in großen Sorgen gewesen; es habe ihr nichts geschmeckt, sie habe immer geweint« (162). Dieser falsche Lagebericht ruft für Karl ein Bild auf, das seinem Vorstellungsmuster der »demütig, leidenden Frau« entspricht. In Folge dieser Kompatibilität eilt er umgehend zu Dolores. Das Paar aber versöhnt sich, ohne sich auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein als bei seiner Initiation. Die Figur des »alten Bedienten« hingegen markiert, dass das Dolores und Karl erneut an den Ausgangspunkt ihrer Beziehung zurückgeworfen sind. Die Lüge des alten Bedienten verweist zudem darauf, dass ihrer Kommunikation weiterhin ein Störfaktor eingeschrieben ist. Das Paar versöhnt sich zwar, aber es verständigt sich nicht. Wollen Dolores und Karl ihr gemeinsames Liebesglück auf Dauer zu stellen, bleibt ihnen nichts andere übrig, als ihre jeweiligen Vorstellungen und Handlungen wieder und wieder mit denen ihres Gegenübers abzustimmen. Da die Partner dabei aber stets zum Scheitern am romantischen Ideal vollkommener Verständigung verurteilt sind, muss sich ihre Liebe von einer Kommunikationssituation zur nächsten neu konstituieren.166 Sie folgt damit einem Gesetz endloser Zirkulation. Um zu zeigen, dass diese Bewegung in offener Kreisform mit dem Zirkelschlag von der ersten Vermittlungstätigkeit des alten Bedienten zu seiner zweiten nicht endet, sondern dass sie das gesamte Liebesleben des Paares bestimmt, verfolge ich – in einem knappen Exkurs – die Ringisotopie weiter über die Brautzeit hinaus.167 Ich stelle also für kurze Zeit die ästhetische bzw. kompositorische Motivierung des Textes in den Vordergrund und lasse die Handlungslogik hinter sie zurücktreten.168 Die Zirkulationen führen dann in die Makrostruktur des Textes. Das Ringmotiv organisiert den Erzähldiskurs von der Verlobung aus bis zum letzten Kapitel. Es durchwebt den Romantext,169 indem es Dolores’ und Karls Verlobung unter anderem mit der vermeintlichen Freundschaft verknüpft, welche der Markese mit Karl schließt. Dolores’ Verführer schenkt ihrem Ehemann einen Ring. Karl trägt seither
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178. Man könnte ebenso gut und müsste sogar, wenn man hermeneutischer Vollständigkeit verpflichtet wäre, den »alten Bedienten«, die »Rosenkränze«, die »Marienbilder« etc. durch den Text verfolgen. Die Erzähltheorie unterscheidet zwischen kausaler und finaler Motivierung von Handlungen und setzt von diesen die kompositorische bzw. ästhetische Motivierung als »eine ganz andere Dimension narrativer Texte« ab. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 114f. Kaminski behauptet zu Recht, dass das Ringmotiv die Diskursebene des Romans organisiert. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 253ff. Vor Kaminski verfolgt bereits Meixner das Ringsymbol durch den Roman. Horst Meixner, Figuralismus, S. 67–76.
das Pendant zum Verlobungsring als Zeichen seiner Freundschaft an seiner Hand (413). Der schließt somit Freundschaft und Liebe miteinander kurz. Im selben Zuge geraten alle vier Hauptfiguren, Klelia, Dolores, Karl und der Markese, in den Bannkreis eines Rings. Der Kreis der Figuren erweitert sich, wenn der betreffende »Karniol« an Karls Hand späterhin Arnica Montana zu »große[r] Offenherzigkeit« veranlasst. Er weckt »ihren Wunsch, sich ganz zu erklären.« (413) Und sie erzählt, wie ihre Schwester ebenfalls vom Markese verführt wurde. Über den Ring sind auf diese Weise auch Ferne Figuren wie Divina und zu Florio in den Figurenreigen eingebunden. Das Ringmotiv führt darüber hinaus aber auch zum »Gedankenspiel« ›Der Ring‹« (623), das in der letzten Romanabteilung, kurz vor Dolores’ Todestag in die Rahmenhandlung eingelegt ist. Das Ringmotiv schleust dann auch Dolores’ Vater und mit ihm sein außereheliches Verhältnis zur Fürstin in den Zirkulationsmechanismus ein. Denn bevor die Dichterin zu erzählen beginnt, betont sie ausdrücklich: Es ist ein kleines Gedankenspiel, was ich nach allerlei Gerüchten über ihr [des Vaters, C. M.] Verhältnis zur Fürstin freilich unter veränderten Nebenumständen, und selbst mit mancher Verwandlung, die mir in der Arbeit gut dünkte, damals darstellte, als sie sich mit ihr nach dem Tode des Fürsten versöhnten. (622)
Die Konstellation von Ring und Vater hier korrespondiert mit Karls Verlobungsring, der ja ein Erbstück seiner Mutter war. Kurz vor der Rückkehr des Vaters zu Dolores und in unmittelbarer Verbindung mit ihrem tragischen Ende, spielt der Roman mit Hilfe des Rings also wieder die ödipale Struktur ein, welche ja sowohl Karls als auch Dolores’ Liebe eingeschrieben ist. Aber auch der Verlobungsring selbst führt nach Italien, und zwar exakt zu der Szene, in der Dolores ihn im Meer verliert (vgl. 563). Trüge die Verlobung nicht schon einen brüchigen Charakter, so könnte man den Verlust als Nahtstelle im Eheglück ausmachen. So aber zieht die Zirkulation nur ihre weiteren Kreise: An Dolores’ Todestag kommt nicht nur ihr Vater in Sizilien an, und kehrt – im Kreisschluss der Geschichte – wieder zu seinen Töchtern zurück, sondern Karl reist am selben Tag nach Palermo, um nach einem Ersatzring für das im Meer versunkene Original zu suchen. Wie schon in der Brautzeit geht es erneut um eine Substitution von Original und Kopie. In Palermo kauft Karl Dolores tatsächlich einen Goldring. Das Substitut löst damit endlich, 17 ½ Jahre später, Karls originales Verlobungsversprechen ein (653). Dabei handelt es sich um solch einen Goldring, wie er die Titelvignette des zweiten Romanbandes ziert (736). Mit dieser Abbildung greift die Ringisotiopie von der erzählten Geschichte auf die Ebene des discours über. Denselben Kreisschluss vollzieht auch Dolores. Sie stirbt am selben Tag noch, just als Karl ihr den goldenen »Planetenring« an den Finger steckt (670), und wandelt sich so von der ›lebenden Person‹ zur Geschichte der ›Gräfin Dolores‹. Der Ring zieht weiter seine Kreise. Er verbindet die Verlobung nicht zuletzt mit der Zeit nach Dolores’ Tod. Denkt Karl nämlich an seine Frau, so »mußte er des Verlobungsringes gedenken, welcher in der Meerfahrt verloren gegangen; mit wunderbarer Sehnsucht wünschte er ihn zurück, der Ring hatte ihn 153
an das Meer gebannt [...].« (674) Letztlich bindet der Ring auch den Prinz von Palagonien in die Zirkulation ein. Denn dieser macht das Unmögliche möglich und findet den originalen Verlobungsring in den Weiten des Meeres wieder (674). Selbst der letzte Satz des Romans steht im Zeichen des Verlobungsrings, allerdings des (original versprochenen) Goldrings: Alle Liebe, die der Graf mit diesem Ringe der Verstorbenen geschenkt hatte, wandte er nun zu dem ewigen göttlichen Vorbild aller Leidenden, den dieser Ringe in dem Kreise der Apostel darstellte [...]. (674f.)
Indem der letzte Satz mit Hilfe des Ringmotivs und dem Aufruf der christlichen Ikonografie eine unmittelbare Beziehung zu der heiklen Verlobungsszene stiftet, vollzieht der Roman nicht etwa einen harmonischen Kreisschluss, sondern inszeniert ein offenes Ende (vgl. Kapitel 7 dieser Studie). Der Ring steht im Dienste »lebendiger Reflexion«, die über Dolores’ Tod hinaus reicht (vgl. S. 141 dieser Studie). Doch statt dem Impuls nachzugeben und umgehend den makrostrukturellen Zirkulationsmustern des Romans zu folgen, konzentriert die vorliegende Untersuchung sich zunächst noch auf die Brautzeit des Liebespaares. Sie folgt der linearen Handlungslogik bis zu Dolores’ und Karls Hochzeit, an dem die beiden ihre Verlobungs- gegen Eheringe tauschen. Festzuhalten ist für die Brautzeit, dass das Paar von seiner Verlobung ausgehend also ein ständiges Wechselbad der Gefühle durchlebt. Dolores und Karl geraten immer wieder in Streit (149, 161), nach dem sie sich mit eben solcher Regelmäßigkeit versöhnen. Eine Bemerkung der Erzählinstanz bringt dieses Auf- und Ab noch unmittelbar vor der Hochzeit auf den Punkt: Karl und Dolores »vermochten noch jedes aufsteigende Missverhältnis wie junge Zweige zur Laube zusammen zu beugen, die Versöhnung war immer noch reicher als der Streit, und jede neue Vertraulichkeit weckte noch immer heftigere Neugierde« (163) Trotz seines kommunikativen Aufwands wird das Liebespaar gezielt in eine Art bewegten Stillstand versetzt. Jeder ihrer Vereinigungen ist zugleich immer schon ein Bruch eingeschrieben.170 Der Riss zwischen Dolores und Karl aber ist zu keiner Zeit so tief, dass er nicht wieder gekittet werden kann. Die Liebenden befinden sich stets in einem Zwischenstadium, in einer Sphäre des Sowohl-als-auch. So kann es – theoretisch – endlos weitergehen. Und exakt diesen »Stillstand« in der Beziehung inszeniert der Roman lustvoll-ironisch, nicht nur während der Brautzeit des Paares, sondern bis zu seinem Ende. Sind die eingangs entwickelten Liebesmechanismen und -aspekte das durchgängige Strukturprinzip des Romans, so ist dieses ab der Brautzeit mit einem zweiten kurzgeschlossen. In Sachen Liebe tut sich nichts Neues mehr. Der Roman friert sein Paar im Spannungsfeld von Streit und Versöhnung und 170
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Den Liebenden ist es unmöglich sowohl die eigenen Vorstellungen als auch die des Gegenübers vollständig zu überblicken. Dazu sind die individuellen Liebesvorstellungen viel zu komplex und vielschichtig, dazu lässt sich ein viel zu kleiner Anteil von ihnen artikulieren und dazu sind die Lektüretechniken der Liebenden nicht fein genug justiert.
damit in einer Art Schwebezustand ein. Im Folgenden schlägt der Zeiger des Liebesbarometers lediglich mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung aus. Ein weiteres Prinzip kommt noch hinzu: Erzählerisch ist Dolores’ und Karls Liebesleben nämlich nicht nur durch das Wechselspiel von Streit und Versöhnung gestaltet, sondern auch durch Karls ständiges Kommen und Gehen Karl unterliegt einem Reisefluch. Dieser schlägt sich in der Brautzeit nicht nur in seinen beiden prominentesten Reisen nieder – zur Universität (140f.) zum einen, zum Erbschloss seiner Eltern zum anderen (164).171 Er bestimmt darüber hinaus auch das übrige Zusammenleben des Paares. So verlässt Karl seine Geliebte noch am Abend ihrer ersten Begegnung (134). Und wenn sich das Paar über den Rest des Sommers zusammen »in dem geliebten Kreis der Stadt« (136) aufhält, verbringt Karl seine Tage zwar im gräflichen Schloss, übernachtet aber – wie es sich gehört – getrennt von Dolores beim Wirt in der Stadt. Selbst als Karl im folgenden Frühling zu Dolores zurückkehrt, bezieht er eine »Wohnung in der Nähe der Gräfin« (152). Aus Sicht der Figuren haben alle diese An- bzw. Abreisen denselben Effekt: Sie unterbrechen Dolores’ und Karls gemeinsames Glück und lösen die intime Nähe zu »Gunsten« einer räumlichen Distanz auf.172 Daher konstituiert sich die Liebesgeschichte aus einzelnen Bruchstücken entweder von räumlicher Nähe oder von Distanz. Sie ist eine in sich brüchige Liebesgeschichte. »Reisefluch« lautet auch der programmatische Titel eines Gedichts, welches die Erzählerfigur in den Romantext einfügt (543).173 Diese Einlage hebt die strukturelle Bedeutung hervor, welche die »Bilder der Ausreise und der Rückreise« (362) für den Roman haben.174 Sie schließt zudem das Reiseprinzip direkt im Anschluss an das
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Dieses Prinzip prägt den gesamten Roman. Insgesamt 9 Reisen unternimmt Karl ohne Dolores: 1. Zur Universität, 2. zum Erbschloss (164), 3. auf sein Landgut (370), 4. gemeinsam mit dem Markese auf das Land (385) – 5. die Rückreise führt den Grafen zu Arnica Montana –, 6. auf Wallfahrt – nur die Hinfahrt alleine – (450), 7. Zum Ätna (gemeinsam mit der Fürstin und dem Schreiber) (558), 8. nach Palermo (657), 9. nach Dolores’ Tod nach Deutschland zurück (675). Eine Trennlinie bestimmt das Leben des Paares auch, wenn sie zusammen sind: So hält beispielsweise schon während der Initiationsszene die Schlossgartenmauer den Beobachter Karl auf Distanz zu Dolores. Karl verzichtet, indem er die Idee, die Mauer einfach zu überspringen, verwirft, auch darauf »in diesen geheiligten Kreis zu dringen« (129). Bei Karls Rückkehr von der Universität überspringt er demonstrativ dieselbe Mauer, dringt in ihren Kreis ein und mischt sich in das Kreisspiel von Dolores’ Gesellschaft (vgl. 150). Ebenso ist Dolores’ und Karls erste Begegnung von einer unmerklichen Trennlinie bestimmt, da Dolores sich im ersten Stock aufhält, während Karl sie im unteren repräsentativen Stockwerk erwartet. (130). Zu weiteren Kreisschlüssen und -brüchen dieser Art vgl. S. 166, 189, 464, 660. Sowohl Nicola Kaminski als auch Gottfried Knapp messen diesem Gedicht eine erhebliche Bedeutung zu. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 256, Gottfried Knapp, Groteske, Phantastik, Humor, S. 18. An anderer Stelle klagt die Erzählinstanz: »O Bilder der Ausreise und der Rückreise [...].« (362)
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Gedicht mit dem Zirkulationsmuster des Erzählens kurz. Denn der Erzähler verweist auf die in sich verschlungenen Ringe bzw. Kränze, die auf den Titelvignetten der beiden Romanbände abgebildet sind – darunter auch der Verlobungsring (vgl. 737 u 738): »Möge der Leser mit diesem Gefühle die Sinnbilder beschauen, welche beide Titel des Buches bezeichnen.« (543) Das Zusammenspiel des Reisemotivs mit den Ringen und Kränzen der Titelvignetten macht bildlich klar: Jede Abreise impliziert einen Bruch, mit jeder Rückkehr schließt sich der Kreis der Liebenden wieder. Beide zusammen verschlingen sich zur rhythmischen Zirkulationsbewegung. Die Bruchgefahr schlägt sich direkt im Liebesleben der beiden Partner nieder. Das Wechselbad ihrer Gefühle und die ständige Unterbrechung ihrer intimen Nähe machen deutlich, dass sie bis zur Hochzeit keinen Sommer des Glücks erleben. Ihre Beziehung weicht von dem progressiven Verlauf ab, den der Übergang von der Abteilung »Armut« zum »Reichtum« vollmundig behauptet. Dolores’ und Karls vermeintliche »Kometenbahnen der Liebe« (164) verlaufen nach einem Zickzackkurs, wie man ihn am Himmel (hoffentlich) nicht zu Gesicht bekommt. 3.3
Liebe als kontinuierliche (Selbst-)Überredung. Kommunikationsformen in der Kritik
Den Sommer der Liebe als ihren Herbst zu enttarnen, ist aber nicht das einzige Ziel dieses Erzählabschnitts, der den Zeitraum von der Verlobung bis zur Hochzeit im darauf folgenden Jahr umspannt. Vielmehr verlagert der Roman sein Erzählinteresse weg vom Plot, der ohnehin nur einen Stillstand in der Annäherung bereithält, zu einem ganz anderen Aspekt der Liebesthematik. Das Resultat des ständigen Kommens und Gehens, der Kreisschlüsse und Unterbrechungen ist, dass in dem Zeitraum eines Jahres ein Stufenmodell der Intimität entsteht. Insgesamt vier unterschiedliche Typen räumlicher Nähe bzw. Distanz lassen sich unterteilen. Sie reichen von Dolores’ und Karls intimer Zweisamkeit bis hin zu ihrem räumlich getrennten Leben in zwei unabhängigen Sphären. Je nach Distanzgrad müssen Karl und Dolores auf unterschiedliche Medien zurückgreifen, um ihre Liebe zu kommunizieren. Die Typologie der räumlichen Distanz korrespondiert daher mit einer Typologie der Kommunikationsformen.175 Das Paar durchläuft einen Hindernisp175
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Die vier graduellen Abstufungen von räumlicher Nähe, respektive Distanz und damit die ebenso vielen unterschiedlichen intimen Kommunikationstypen lauten: 1. Das Paar befindet sich wie bei ihrer ersten Begegnung und auch noch bei ihrer Verlobung ungestört, in intimer Zweisamkeit. Diese Intimität ist in Arnims Roman ausschließlich auf kurze Szenen beschränkt. Im gesamten Roman erlebt das Paar nur fünfzehn dieser zweisamen Augenblicke. Sie fallen meist in die Randstunden der Tage, auf den frühen Morgen oder späten Abend. Ihre Kommunikationsform ist die direkte, mündliche Kommunikation. Während dieser Szenen kommt es entweder zu »Missvergnügen und Streit« (149, 234) oder komplementär zur »Versöhnung« (165, 235) der beiden Liebenden. In den meisten dieser Augenblicke dreht sich die Kommunikation um etwas Drittes (ein Buch, einen Brief, einen Gegenstand, eine Person). Trotz Zweisamkeit ist das Paar daher
arcours. Während es ihn durchquert, testet es nacheinander die Funktionsfähigkeit unterschiedlicher Kommunikationsformen in Sachen intersubjektiver Liebeskommunikation. Indem der Roman vorführt, mit Hilfe welcher Kommunikationsmedien das Paar seine Liebe auf Dauer stellt, verschränkt er den Themenkreis »Liebe« mit einem zweiten, »medienkritischen«. Er verwendet die Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit zu einem Schaulaufen der Medien und nutzt mithin die Liebesgeschichte seines Paares, um eine Medienkritik durchzuführen. Selbstverständlich treffen Dolores und Karl eine – historisch bedingte und im zeitlichen Kontext gut begründete – Auswahl von Medien.176 Sie greifen ausschließlich auf jene Kommunikationsformen zurück, denen um 1800 Relevanz innerhalb intimer Beziehungen zugeschrieben wird. Sie vertrauen auf die in ihrer Zeit etablierten Orientierungsmuster und Ordnungskonzepte des Wertsystems »romantische Liebe«. Die Kommunikationsformen »Botendienst«, »Blicke« und »Gabentausch«, die im Zuge der bisherigen Analyse schon bearbeitet wurden, bilden den Prolog jener kritischen Untersuchungsreihe. Der eigentliche Hindernislauf beginnt mit der alltäglichen Kommunikation des Paares während Karls sechswöchigen Sommerferien in Dolores’ Schloss (1). Es folgt ein Versuch in der Porträtkunst (2)
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nicht unter sich. 2. Das Paar verliert trotz konstanter räumlicher Nähe an Intimität, weil mindestens eine dritte Person anwesend ist. Diese Kommunikationssituation bestimmt die überwiegende Zeit des Zusammenlebens. Gleich nach der Verlobung stößt Klelia zu dem Paar. Nach Karls Rückkehr zu Dolores sind die beiden von der städtischen Gesellschaft umgeben (150f.), und nach ihrer Hochzeit empfängt das Paar am laufenden Band Gäste oder gibt Tischgesellschaften. Den Alltag bestimmt dann zwar immer noch eine intime Atmosphäre (ohne beispielsweise elterliche Kontrolle), aber das Paar ist nicht mehr unter sich, es ist durch die Anwesenheit Dritter unmittelbar gesellschaftlichen Konventionen unterworfen. 3. Die beiden Partner kommunizieren zwar exklusiv miteinander, aber sie sind räumlich voneinander getrennt. Ihre Lebensräume stehen entweder in direktem räumlichem Kontakt oder sie können ihre Distanz mit Hilfe von Kommunikationsmedien überbrücken. Das Paar sendet sich Briefe, Notizen Gedichte, und es sendet Boten – wie den alten Bedienten. Beide Partner ziehen sich also in ihre Welt zurück, sie sind aber in Kontakt. Ihre Kommunikation hat in diese Phasen zwei Ausrichtungen: Sie bezieht sich auf ihre unmittelbare Umgebung und auf den abwesenden Partner. Auch diese Kommunikationsform nimmt in Dolores’ und Karls Zusammenleben einen großen Raum ein. Beispiele sind Karls Aufenthalt an der Universität, die Zeit, während der er sich im Wirtshaus einquartiert, die Phase, als er sich auf seinen Landsitz zurückzieht, und die Sequenz, nachdem er von Dolores’ Ehebruch erfahren hat und sich in sein Zimmer einschließt. 4. Karl und Dolores sind voneinander getrennt. Sie haben keinerlei Kontakt zueinander. Die Kommunikation ist unterbrochen, allerdings vermittelt auch das Schweigen eine Botschaft. Dies gilt beispielsweise während Dolores’ Ehebruch, als Karl sich bei Arnica Montana aufhält. Die Distanz der Partner steigert sich dann zusätzlich dadurch, dass Karl sich zeitweise an einem »dritten Ort« aufhält, den Dolores nicht einmal kennt. Aus Sicht der Figuren stellen die Kommunikationsformen Orientierungs- und Ordnungsmuster dar, die intime Gespräche ermöglichen. Das Paar greift auf diese traditionellen Muster zurück, um mit ihrer Hilfe die gegenseitige »Liebe« zu stabilisieren.
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und darauf eine Phase des Briefverkehres (3). Zudem fließt von Beginn an – und diese Tatsache ist im romantischen Liebesdiskurs als eine Überraschung zu werten – ein reger Geldverkehr zwischen den beiden Partnern (4). Zwei Aspekte sind im Hinblick auf die Medienkritik vorab noch zu beachten. Erstens: Nachdem Arnims Roman die romantische Totalität während der Liebesinitiation seiner Figuren dekonstruiert hat, steht ein Ergebnis des Kommunikationstests von vornherein fest. An dem romantischen Anspruch, eine vollkommene Verständigung zwischen den Liebenden zu ermöglichen, scheitern alle Medien. Den Schwebezustand des Paares heben sie nicht auf. Das Ideal absoluter Verständigung in der Liebe ist unerreichbar. Dolores’ und Karls Beziehung entwickelt sich daher weiter im Zirkulationsmodus, wie er an dem Beispiel der Verlobung und der Ringübergabe dargestellt wurde. Unter dieser Voraussetzung operiert der Roman nach dem immergleichen Schema, welches bereits Christian Begemann anhand von Arnims Erzählung ›Raphael und seine Nachbarinnen‹ herausgearbeitet hat: Von seinem kommunikationstheoretischen Interesse geleitet, nimmt der Roman die verschiedenen Medien nacheinander auf und »arbeitet sie ab, er bedient sich ihrer, überschreibt sie und streicht sie durch.«177 Er streicht die Kommunikationsformen in dem Sinne durch, als er ihnen im Zuge seines Erzählens nachweist, dass sie alle das Defizit teilen, am romantischen Verständigungsideal zu scheitern. Dieses Scheitern bedeutet allerdings nicht, dass sie überhaupt keine Kommunikation zustande bringen. Zweitens tritt im Zuge der Medienkritik ein wesentliches Charakteristikum von Arnims Erzähltext zutage. Die Erzählinstanz bewertet die Ereignisse um Dolores und Karl ziemlich einseitig. Paradigmatisch zeigt dies die oben zitierte Ringszene. Sie setzt Karls »besseres Selbst« (163) gegen Dolores’ vermeintliche Charakterschwäche ab. So heißt es zu Karls Geschenk und Dolores Reaktion: Dann übergab er ihr eine ganze Reihe der zierlichsten Nonnenarbeiten, die er in einem Kloster am Wege mit großer Freude erkauft hatte […]. Auch hierüber mußte sie sich aus Anstand freuen, sie hatte aber etwas viel Angenehmeres, allerlei neuen Putz erwartet, auch wußte sie nichts mit diesen artigen Kleinigkeiten anzufangen, zu denen sie weder Andacht noch Spiellust fühlte; sie konnte sich nicht zufrieden geben mit dem gewaltigen Fleiß, der auf so was Unnützes verwendet, und schon diese Äußerung war ihm unangenehm, der ganz gerecht den Fleiß hoch achtete der so unbedeutende Stoffe zu beleben vermocht. (155f.)
Der Erzählkommentar ist tendenziös. Karl wird gelobt, Dolores wird für alle Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Dieses Argumentationsschema wiederholt
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Christian Begemann bezeichnet dieses Erzählverfahren als eine Bewegung des Textes. Er zeichnet diese im Umgang von Arnims Raphael-Erzählung mit unterschiedlichen Produktionstheoremen nach. Vgl. Zu diesem Verfahren Christian Begemann, Frauen – Bilder. Kunst, Kunstproduktion und Weiblichkeit in Achim von Arnims Raphael und seine Nachbarinnen. In: Gerhard Neumann und Günter Oesterle (Hg), Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 1999, S. 391–410, hier S. 397.
sich während der gesamten Brautzeit, und es bestätigt sich bis zum Romanende immer wieder aufs Neue. Bei jeder Gelegenheit führt die heterodiegetische Erzählinstanz das Scheitern der Kommunikation einseitig auf Dolores’ – unbestreitbare – Charakterschwäche zurück. Im Zuge der alltäglichen Kommunikation fehlt es ihr angeblich an Interesse für Karls tiefsinnige Gedanken (163). Bei der Malerei vereiteln laut Erzählinstanz ihre Ungeduld und ihre Eitelkeit den Erfolg (137).178 Beim Briefverkehr stört ihr »kleinliches Gemüt« (148) samt ihrer »Weltseele« (147) die intersubjektive Kommunikation. Kurz, die Erzählerfigur gibt alleine Dolores die Schuld, dass die Verständigungsversuche des Paares den romantischen Maßstäben nicht genügen und (an diesen gemessen) nacheinander alle scheitern (163). Diese einseitige Schuldzuweisung durch die Erzählinstanz impliziert zugleich, dass Karl seinerseits alles richtig macht. Sie evoziert die Vorstellung, dass Karls Kommunikationserfolge von Dolores nur unterlaufen werden. Dies wiederum würde bedeuten, dass der Mann, repräsentiert durch Karl, grundsätzlich den romantischen Liebesansprüchen genügen könnte, wenn nur Dolores, stellvertretend für die Frau, nicht versagen würde. Folgt man den Erzählkommentaren, wäre romantische Liebe doch möglich, wenn nur die richtigen Individuen miteinander kommunizieren würden, wenn nur Dolores nicht so wäre, wie sie ist. Diese Einschätzung widerspricht allerdings der Radikalkritik an der romantischen Liebe, die während der Initiation entwickelt wird. Diese legt nahe, dass das Kommunikationsversagen sich nicht auf Dolores’ Charakterschwäche zurückführen lässt. Das Erzählte und das Erzählen geraten in Konflikt. Die vorliegende Arbeit wagt an dieser Stelle ein Experiment. Sie trennt die Bewertungen der extradiegetischen Erzählerfigur von den dargestellten Ereignissen ab, welche in der Narratologie als intradiegetischen Erzählebene bezeichnet werden und liest das changent taft gegen den Strich, den die Erzählstimme vorgibt. Methodisch rechtfertigen und begründen kann die Analyse dieses Vorgehen durch die narratologische Erkenntnis, dass die Erzählstimme nur eine von mehreren Schichten des Erzähltextes ist.179 Die Narratologie erlaubt, die Form erzählerischer Vermittlung, zu der auch die Kommentare zu zählen sind, von dem, »Was« erzählt wird, wie die Lackschicht von einem alten Möbelstück abzulösen, um das darunter verborgene »originale« Holz freizulegen. Inwiefern diese Trennung nicht nur theoretisch legitim, sondern
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Die Erzählinstanz behauptet, Karl habe sein Bild nicht beenden können, »da sie ihr Gesicht, um noch schöner, noch lebhafter zu erscheinen, ganz unnütz bewegte und veränderte« (137). Der Kommentar hebt also Dolores’ Eitelkeit hervor. Scheitert sie mit ihrer Malkunst, fehlt es Dolores an Geduld (137). Gerät ihr Bild zur Karikatur (vgl. S. 137), verfällt die Erzählinstanz darauf hin in eine Schmährede über die Verschandelung von Gottes Ebenbild. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 17ff. und 56ff. Vgl. aber auch Vera und Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 143ff.
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ein wesentlicher Bestandteil von Arnims Liebespoetik ist, trage ich im 4. und vor allem im 6. Kapitel nach. Zunächst ergibt sich »schlicht« eine Diskrepanz: Während die Erzählinstanz auf Dolores’ Unmoral und Charakterschwäche beharrt, interessiert den Roman die moralische Frage in keiner Weise. Die von den Erzählkommentaren verdeckte Textstruktur offenbart vielmehr die Probleme der Kommunikation, die ausdrücklich nicht von Dolores’ Charakter oder Geschlecht abhängen. Die Brautzeit zeigt, dass Karls Kommunikation gemessen an der Erwartung individualisierter Liebe, den anderen mit seinen Charaktereigenschaften zu kennen und zu lieben, defizitär ist, und zwar selbst dann, wenn Dolores sie nicht durchkreuzt. In der Spanne zwischen Verlobung und Hochzeit wird Karl nicht als der unerschütterliche Fels in der Liebesbrandung inszeniert, sondern als wankelmütige Figur, die in einen (inneren) Konflikt verstrickt ist. Zudem wendet der Roman in erster Linie anhand von Karls Kommunikationsversuchen, die weitaus mehr Raum einnehmen als die von Dolores’, die Problematik romantischer Liebe ins Grundsätzliche. Er zeigt, woran die einzelnen Kommunikationsformen in Sachen individualisierter Liebe scheitern. Er führt vor, warum sie keine individualisierte Verständigung ermöglichen, und welche Gefahren sich aus dieser Tatsache ergeben. Und er demonstriert, welche Medien unter diesen Prämissen dennoch funktionieren. Offen und damit aussagekräftig sind die Ergebnisse der Medienkritik nämlich darin, inwiefern es den einzelnen Kommunikationsformen gelingt, Individualität und intime Wünsche zwischen den beiden Liebenden zu vermitteln. Die einzelnen Medien arbeiten unterschiedlich effizient; manchen gelingt es besser, Lust-, respektive Liebesgefühl zu erzeugen, manchen schlechter. Der Roman führt vor, wie ihr Zusammenspiel Dolores’ und Karls Liebe letztlich doch auf Dauer stellt. Denn anders zwar, als es das romantische Ideal vorschreibt, nähert sich das Paar oszillierend zwischen Trennung und Versöhnung dennoch seinem gemeinsamen Liebestelos – seiner Hochzeit. 3.3.1 Tägliche, allzu alltägliche Kommunikation Nach ihrer Verlobung verleben Karl und Dolores einen Sommer unter romantischen Idealumständen (136). Zwar verlässt Karl seine Geliebte jeden Abend, aber die Tage verbringt das Paar in intimer Atmosphäre miteinander. Gemessen an den um 1800 herrschenden gesellschaftlichen Konventionen mutet diese Sommeridylle geradezu utopisch an. Im Normalfall müsste entweder Dolores’ Vater ein solches voreheliches Zusammensein verhindern oder ein gesellschaftsfähiger Fürstenhof die alltägliche Nähe unterbinden, indem er seinen gesellschaftlichen Einfluss auf die adligen Verlobten ausübt.180 So aber könnte einzig Klelia die Zweisamkeit der
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Dieser Normalfall ist im Roman ebenfalls bedacht. Als Karl zu seiner Universität zurückkehrt, ärgert er sich darüber, dass der Fürst seine Herrscherrechte bei der Frau des Obergärtners wahrnimmt, und zwar im sexuellen Sinne. Karl, ebenso naiv wie von der
Geliebten stören. Allerdings hat sie das Parkett des Liebesdramas ausdrücklich erst nach der Verlobung betreten. Sie kommt damit – nach romantischen Maßstäben – zu spät, um noch entscheidend in das Geschehen einzugreifen. Zudem umsorgt sie das Paar während des Sommers eher mit mütterlicher Fürsorge, als es aktiv zu stören. Trotz dieser paradiesischen Umstände, »wie wir sie entweder selbst erlebt oder aus dem Berichte glücklicher Seelen, oder aus Büchern kennen gelernt« (136), gelingt es dem Paar keineswegs, den Ansprüchen individualisierter Liebe gerecht zu werden. Und das liegt an Karl, nicht an Dolores. Drei Unzulänglichkeiten – zum Teil sind es schon bekannte Probleme – zeichnen seine intime Kommunikation in dieser Zeit aus. Zunächst greift Karl ausschließlich auf stereotype Denk- und Redemuster zurück. Er hat nichts Besseres zu tun, als seine Liebesbeziehung nach dem um 1800 konventionellen Vorstellungen der Geschlechterrollen zu gestalten. Seine Liebeskommunikation beschränkt sich auf den Austausch zwischen männlichem Erzieher und weiblicher Schülerin. Karl unterrichtet Dolores (164) und das bedeutet für ihn: der Lehrer redet und redet, die Schülerin hört brav zu und lernt. Diese Kommunikationsform verstößt gegen die romantischen Liebesprämissen, weil Karl versucht, jede charakterliche Differenz zwischen sich und Dolores auszulöschen. Wenn Dolores ihm in Sachen Religion beispielsweise nicht folgt, gleicht seine »Betrachtung darüber […] diesen Unterschied bald aus« (137). Im Rahmen des männlichen Erziehungsprojekts spielen – trotz aller angeblichen höchstpersönlicher Relevanz – die Charaktereigenschaften der Frau nur insofern eine Rolle, als diese bereit sein soll, sich den männlichen Vorgaben anzupassen. Wenn Dolores’ Individualität, wenn ihre ureigenen Interessen und Eigenschaften für Karl irrelevant sind, und er sich nur seine eigenen Wünsche erfüllt, dann ist das geliebte Objekt letztlich beliebig gegen ein anderes austauschbar. Die intime Liebeskommunikation scheitert, weil Karls Denken und Handeln grundsätzlich von Stereotypen bestimmt ist, die er zugunsten von Individualität erst überwinden (oder zumindest einmal reflektieren) müsste. Außerdem entpuppt sich seine Erziehungsarbeit als (geschickt getarntes) Projekt narzisstischer Selbstbespiegelung. Denn Karls Kommunikation steht stets im Zeichen seiner Mutter, gleich welches Register intimer Unterhaltung er auch zieht, ob er den beiden Schwestern Gitarren- oder Spanischunterricht gibt (136). Die sorgfältige Erziehung seiner Mutter hatte alle Fertigkeiten und Kenntnisse der gebildetsten Stände in ihm gesammelt; durch das Vergnügen dies Erlernte so schönen Wesen mitzuteilen, erhielt es in ihm selbst eine schönere Gestalt und Anordnung, er lernte seinen Vorrat kennen und brauchen, er gewann vielleicht eben so viel durch seine Liebschaft als andere Studenten durch ihre Liebeleien verlieren. (137)
eigenen Situation verwöhnt, setzt darauf hin »einen ernsten Brief mit seines Namens Unterschrift an den Fürsten« auf. (142)
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Die Rhetorik der Ökonomie (sammeln, Vorrat, gewinnen, verlieren) macht es deutlich: Karl wirtschaftet nicht für Dolores, sondern im Sinne von Gewinnmaximierung in die eigene Tasche. Er bleibt während des gesamten Sommers in seinem narzisstischen Kommunikationsmodus gefangen. Für Dolores ist die sommerliche Unterhaltung also nur Ablenkung von der vorherigen Einsamkeit und Langeweile. Karl aber verhandelt mit dieser heimlich seinen Ödipuskomplex. Nicht zuletzt aber misslingt seine individualisierte Kommunikation mit Dolores, weil er sowohl Dolores als auch Klelia in sein pseudodidaktisches Rollenspiel integriert. Wie schon bei seiner Liebe auf den ersten Blick erweitert er die Liebesdyade zur -triade. Was bei der Initiation noch als Unschärfe durchgehen mag, die dem Fernblick geschuldet ist, entpuppt sich an dieser Stelle als ein fundamentales Problem. Welche Gefahr dieses birgt, führt der Roman noch an Ort und Stelle vor: Steht Karl der Sinn nach Sinnlichkeit, Schönheit, Erotik und Abenteuer, kommuniziert er mit Dolores. Ist er an einem ernsthaften Gespräch interessiert, sucht er den Austausch mit Klelia. Tatsächlich entwickelt sich Klelia zu Karls Musterschülerin: Ihr schickt er seine Gedichte, ihr schreibt er die Lektüre vor, und sie stärkt ihm im Gegenzug dafür und im Gegensatz zu Dolores seine religiöse Glaubenskraft (137). Er tauscht seine Geliebten wie das Wetterhäuschen seine Figuren: Bei Regen die Klelia, bei Sonne die Dolores. Karl braucht, um seiner polykontextualisierten Subjektivität angemessen zu lieben, den Austausch mit beiden Schwestern zugleich. Eine allein kann seinen vielfältigen Vorstellungen nicht gerecht werden. Sie würde ihn nicht ausfüllen. Befriedigen könnte seine Wünsche höchstens das männliche Idealkonstrukt einer Frau – eine Kreuzung aus Dolores und Klelia. Karl muss während der gesamten Brautzeit einen inneren Konflikt austragen. Einerseits kann er die Anwesenheit beider Schwestern lustvoll genießen. Andererseits muss er sich (irgendwann einmal) für Dolores und damit gegen Klelia entscheiden. Hat Karl sich in Gefahr gebracht, so weiß er sich zumindest kurzfristig auch wieder aus dieser zu retten. Er, dem »eine gewisse allegorische Mythologie anhing«[...], »glaubte in ihr [Klelia, C. M.] die Freundschaft zu entdecken, wie er in der Schwester die Liebe gefunden.«181 (136) Mit diesem Erklärungsmuster kann Karl seine doppelte Kommunikation legitimieren. Gelöst aber hat er seinen Konflikt nicht und gerecht
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Der Begriff der »Freundschaft« hat auch eine intertextuelle Relevanz. Spricht Blankenburg in seiner Romantheorie doch seinerseits im Verweis auf Wielands Begriff »ehelicher Freundschaft« nie von der »Ehe«, sondern stets von Freundschaft. Die Freundschaft ist also eine Anspielung, dass Klelia in Blankenburgs Sinne die »richtige Ehefrau« für Karl gewesen wäre. Die ›Gräfin Dolores‹ aber schlägt sowohl dieses Ehe- als auch dieses poetische Konzept bewusst aus. Wenn sich die bisherige Arnimforschung einig ist, dass Klelia besser zu Karl passen würde, übersieht sie, dass Karl und Klelia erhebliche Differenzen trennen. Zudem wären sie denselben Liebesmechanismen ausgesetzt wie Dolores’ und Karl. Auch Klelia könnte der komplexen Struktur von Karls Selbst sowie seines Begehrens nicht vollkommen genügen. Karl würde sich dann nach der sinnlicheren, lebensfroheren Dolores sehnen. Eine Lücke würde bleiben. Klelia und Karl als Traumpaar zu betrachten, widerspricht der Liebeskonzeption des Romans.
geworden ist er den romantischen Idealen in keiner Weise. Mit Dolores’ Charakter (oder mit ihrer Schuld) hat das ebenso wenig zu tun wie mit ihren Wünschen. 3.3.2 Die Porträtkunst als Festhaltestrategie Noch während ihre alltägliche Kommunikation am romantischen Individualitätsanspruch scheitert, erproben Karl und Dolores eine zweite Kommunikationsform. Im Laufe des gemeinsamen Sommers beginnt das Paar, sich gegenseitig zu porträtieren (137). In dieser Gegenseitigkeit zeigt sich eine der wesentlichen Verschiebungen zur alltäglichen Kommunikation. Das Schüler-Lehrerverhältnis löst sich auf. Dolores und Karls sind gleichwertige Partner, beide zeichnen, jeder wird vom anderen porträtiert. Da zuvor Dolores’ Zeichentalent ausgiebig gelobt wurde (vgl. 131), könnte man sogar erwarten, dass Dolores ihrem Verlobten überlegen ist. Erlaubt die Malerei, bei der sich die Liebespartner auf Augenhöhe begegnen, dass sie sich gegenseitig individuell wahrnehmen? Die Hoffnung darauf begründet sich zudem in dem seit Platon erhobenen mimetischen Wahrheitsanspruch der Malerei. An diesem gemessen, scheitert Karls und Dolores’ Versuch kläglich, sich gegenseitig authentisch wiederzugeben. Die Erzählerfigur begründet dieses Versagen zwar einseitig mit Dolores’ Charakterschwäche, doch zugleich zeigt sich, dass das Scheitern grundsätzlicher Natur ist: Karl verwirft seine Versuche, Dolores zu porträtieren, weil er ihr Bild »immer neu anfing, und nie zu seiner vollsten Befriedigung enden konnte« (137). Dieser Problembericht schlägt das für die Malerei gültige Konzept des fruchtbaren Augenblicks aus und spielt stattdessen auf den Topos der »reißenden Zeit« an. Karl steht vor dem Problem, dass er die Zeit nicht still stellen kann. Wenn seine Porträtkunst an das »Augenblickhafte« gebunden bleibt, wenn sie zwar einen spezifischen »Zustand« des Porträtierten festhalten kann, aber nicht die gesamte »Person«, zitiert dieses Szenario Schillers im 11. Brief über ›Die ästhetische Erziehung des Menschen‹ eingeführte anthropologische Differenzierung. Dort verweist die »Person« (die Essenz) auf das »Bleibende« im Menschen »als Idee des absoluten in sich selbst gegründeten Seins, d. i. die Freiheit«, der »Zustand« hingegen bezeichnet »die zeitlich bedingte Existenz des Menschen.«182 Da für diese Existenz das zeitliche Nacheinander sich ausschließender Zustände kennzeichnend ist, vermag der Mensch innerhalb des jeweiligen Zustandes niemals »die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen« zu überblicken. Vor diesem Hintergrund avanciert die Porträt-Kunst zum Reflexionsmedium des philosophischen Identitätsdiskurses.183 Analog zu Schillers anthropologischen
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Friedrich Schiller, Die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd.V, Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 570–669, hier S. 601. Vgl. zu diesen Begriffl ichkeiten Dieter Henrich, »Identität – Begriffe, Probleme, Grenzen«. In: Odo Marquard u. Karlheinz Stierle, Poetik und Hermeneutik VIII (Identität), München 1979, S. 133–186.
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Überlegungen kann der Porträtkünstler Karl, auch wenn er im empfi ndsamen Sinne an die physiognomische Korrespondenz äußerlicher Zeichen mit inneren Werten glaubt, der »Verzeitlichung des Subjekts« nur gewachsen sein, wenn seine Kunst in einen potenziell unendlichen Prozess, des Zeichnens und Überzeichnens übergeht. So spiegelt Karls endloses Unterfangen, Dolores’ Gesicht und mit ihm ihre gesamte Persönlichkeit in ein Bild zu bannen, die Aussichtslosigkeit wider, die jedem romantischen Porträtkünstler angesichts des philosophischen Identitätsdiskurses droht.184 Dolores nimmt die Aufgabe, den Liebhaber zu malen, zwar leichter als Karl. Ihr ergeht es aber nicht anders. Nur wählt sie eine andere Form des »Überzeichnens«. Dolores kommt der romantischen Forderung, »im Geliebten die ganze Welt zu sehen«,185 ihn zu überhöhen, insofern nach, als sie »allmählig alles übertrieben« (137) darstellt. Unfreiwillig gerät ihr Porträt von Karl auf diese Weise zur Karikatur. Ihre Zeichnung beweist schwarz auf weiß, dass die romantische Forderung, den Geliebten zu idealisieren, den Maximen individualisierter Liebe (ebenso wie der Mimesisforderung der Malerei) diametral entgegensteht. Darüber hinaus kommentiert ihr Bild ironisch Karls selbstgerechte Überhöhung seiner Fähigkeiten. Doch wie schon die alltägliche Kommunikation zuvor, wirkt auch das gegenseitige Porträtieren auf die Figuren lustvoll und steigert ihre Liebe. Das Zeichnen vereint das Paar, nur auf ganz andere Weise, als es die romantische Liebe vorgibt. Dolores kann sich – im Gegensatz zu der extradiegetischen Erzählinstanz – für ihre Karikatur von Karl durchaus begeistern (vgl. 137). Und interessanterweise verzweifelt auch der romantische Musterknabe Karl nicht an seinem Fehlschlag, sondern genießt es, Dolores (potenziell) endlos weiter zeichnen zu können. So hält sein Wunsch, ihr Porträt zu beenden, »ihn noch über seine Ferienzeit in der Stadt zurück« und beschert ihm »so schöne Stunden, wo er ihr so oft in die Augen sah.« (137). Mit dem schmachtenden Blick in Dolores’ Augen fällt Karl demonstrativ lustvoll in seine Kommunikationsform der Liebesinitiation zurück. Der Rückschluss an den ersten Liebesblick impliziert, dass er sich selbst und seine Wünsche in ihrem Anblick widerspiegelt. Näher kommen Karl und Dolores sich nicht, aber das Zeichnen sichert doch die Kontinuität ihres Glücks. Obwohl der Malversuch im romantischen Sinne scheitert, verleiht er der Liebesbeziehung dennoch Dauer. 3.3.3 Epistolare Un-Gewissheiten Als Karl am Ende seiner Sommerferien seine Geliebte verlässt, um zur Universität zu reisen, zieht mit dem Studium offiziell die »Prosa des Alltags« in die Liebesbe-
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Späterhin führt Karl zudem ein materialistisches Argument gegen die Abbildkonzeption der Malerei an. Auch Bilder bestehen, so Karls Erkenntnis, nur aus Zeichen, die »Realitätseffekte« erzeugen, die Realität aber unmittelbar abbilden können: »Nun, nun, sagte der Graf, das beste Gemälde ist ja, in all zu großer Nähe betrachtet, nichts als eine Sammlung von bunten Flecken.« (226) Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 178.
ziehung ein. Das Paar überbrückt seine monatelange Trennung mit Hilfe seines gegenseitigen Briefverkehrs. Dessen reziproke (dialogische) Tauschregel überwindet zumindest formal Karls geschlechtertypisches Rollenverständnis. Wie bei der Malerei treten beide Partner gleichwertig als Produzenten und Rezipienten auf.186 Gemessen allerdings an dem »aufklärerisch-empfindsame[n] Glaube[n] an Authentizität, Aufrichtigkeit und unmittelbare Kommunikation der ›Seele‹ des Ich mit dem Anderen«, der um 1800 dem Brief noch aus tiefster Überzeugung geschenkt wurde,187 gerät Karls und Dolores’ Briefverkehr zur Farce. In Arnims Roman sind die »Zweifel an den Möglichkeiten der schriftlichen Mitteilung und des schriftlichen Abdrucks von Gefühlen«, die nach Susanne Scharnowski Einschätzung Brentanos ›Godwi‹ befallen, offensichtlich schon zur Gewissheit geworden.188 Kurz gesagt: »Das Kommunikationsmittel Brief dient bei Arnim nicht mehr der intendierten Verständigung«189 Deshalb spart sich der Roman, die Briefinhalte für den Leser wiederzugeben. Nicht ein Brief der Brautzeit liegt der Erzählung bei.190 Nur einen einzigen Brief bekommt der Rezipient überhaupt noch zu lesen. Aber dies ist ausgerechnet der Brief, den Karl Dolores schickt, als sie ihn gerade mit dem Markese betrügt. Jede intersubjektive Verständigung ist unter den in diesem Moment gegebenen Umständen ausgeschlossen (zu Karls Briefen vgl. Kapitel V. dieser Arbeit). Statt zu zeigen, was Karl und Dolores sich schreiben, demonstriert der Roman, auf welche Weise und unter welchen Umständen sie ihre Briefe produzieren, bzw. in Empfang nehmen. Er konzipiert Schreib- und Leseszenen.191 Und wie schon bei der Malerei führt der Roman erneut voller Ironie die grundlegenden Schwierigkeiten 186 187
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Dolores ist also nicht nur passive Empfängerin wie bei der Ringübergabe. Zum Brief und zum Briefboom um 1800 vgl. Reinhard M. G. Nickisch, Brief, Stuttgart 1991. Zur Authentizitätsgarantie des Briefes: Wilhelm Voßkamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 45 (1971), S. 80–116, hier S. 108. Susanne Scharnowski, »Ein wildes gestaltloses Lied«. Clemens Brentanos Roman »Godwi oder Das Steinerne Bild der Mutter«, Würzburg 1996, S. 39. Axel Dunker u. Annette Lindemann, Achim von Arnim und die Auflösung des Künstler-Subjekts. Alchimistische und ästhetische Zeichensysteme in der Erzählung »Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber«, Netzpublikation im Goethezeitportal, 19.1.2004, S. 14. URL: . Die Ironie dieser strategischen Auslassung zeigt sich, wenn der Erzähler sie dadurch begründet, dass er die Briefe nicht präsentieren könne, weil sie durch einen Zufall zerstört worden seien: »Alle ihre gegenseitigen Briefe sind durch einen Zufall, die wir später erzählen, verbrannt worden« (143). Dabei hatte Karl doch exakt diesen Fall ausschließen wollen: »kam irgendwo ein Feuer aus, so war immer sein erster Gedanke, wo er die geliebten Briefe ganz sicher wissen könne.« (Ebd.) Ironisch ist diese Erläuterung deshalb, weil niemand anderes als Karl selbst die Briefe verbrennt, nachdem er von Dolores’ Ehebruch erfahren hat (vgl. S. 438). Von Zufall kann daher keine Rede sein. (Vgl. S. 278 u. 306 dieser Studie) Zum Begriff und zur literaturwissenschaftlichen Rekonstruktion der »Schreibszene« vgl. Rüdiger Campe, Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Lud-
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vor, warum die individualisierte Verständigung sowohl in Karls als auch in Dolores’ Fall misslingt. In Dolores’ Schreibszenen scheitert die Verständigung mit Karl nicht an der fehlenden »Authentizität des Mediums Schrift«, sondern an der Polykontextualität des Subjekts. Der Brief erfasst nur in Ausschnitten das Leben und Lieben, das Denken und Fühlen der schreibenden Person. Dolores schreibt ausschließlich in den »einsamen Stunden eines allgemeinen Überdrusses […], wo die Sehnsucht nach seinem vertraulichern Umgang ihr wiederkehrte, um ihm so schmachtend, so süßtraurend zu schreiben, wie eine Braut des Himmels« (148). Umgehend bestätigt die Erzählinstanz die Authentizität des Geschriebenen: »Es war das gar keine absichtliche Verstellung, sie hätte aber wahrlich keine andere Zeit dazu finden können und in den Stunden war es ihr ernst.« (148) Auf was die Erzählerfigur zugleich anspielt, ist die Tatsache, dass Dolores ihre Identität erst im Zuge des Schreibens erzeugt. Der romantische Brief, das hat Bohrer in seiner eingehenden Studie zu diesem Thema gezeigt, zelebriert die Geburt des »ästhetischen Subjekts« und wendet auf diese Weise den Individualitätsdiskurs rhetorisch: »Das Ich weiß nichts von sich, redet nicht über sich, erfindet sich erst im Sprechen.«192 Das »schöne Bild«, das Dolores von sich entwirft, ist nur ein sprachlich erzeugtes,193 ein rhetorisches – und das wäre es bei jedem anderen Schreiber auch.194 Diese Tatsache und vor allem dieses Reflexionsniveau kontrastiert mit Karls emphatischer Lektüre, die vollkommen in empfindsamer Tradition verankert bleibt. Schon als er Dolores’ ersten Brief empfängt, drohen sich seine Gefühle zu überschlagen. »Unter Herzpochen«, nimmt er ihn entgegen, »de[n] erste[n], de[n] liebste[n], er konnte bis zum Morgen nicht einschlafen.« (143) Von diesem Moment an zelebriert Karl einen Fetischkult um Dolores’ schriftliche Nachrichten:195
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wig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 759–772. Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main 1989, S. 217. Zur rhetorischen Konstruktion des liebenden Subjekts im empfindsamen Briefroman, vgl. Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 31ff. Dolores erschreibt ihr Subjekt beispielsweise mit Hilfe einer Poetik des Verschweigens: Sie lässt einfach weg, was Karl an ihr stören könnte: »Natürlich schrieb sie ihm nichts von dem allen« (148), resümiert die Erzählinstanz, nachdem Dolores heimlich ausgeritten war und sich tanzend auf Stadtbällen herumgetrieben hat. Der Erzähler wendet diese Einsicht, dass die Briefe das Subjekt rhetorisch konzipieren und zudem nicht die ganze Person repräsentieren, gegen Dolores. Er behauptet, ihre Briefe waren »nur eine abgestreifte Haut, von der sie sich gern zu gewissen Zeiten befreite, um dann um so gelenkiger sich in ihrer eigentlichen Natur zu bewegen.« (148) Die »Haut« gehört aber zu Dolores’ Person. Zumal sie aus dem Schreiben Liebeslust gewinnt. Zum Fetischismus in Arnims Erzählungen vgl. Julika Funk, Fetisch des Fremden: Zum Singulären in Achim von Arnims Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien. In: Marianne Schuller und Elisabeth Strowick (Hg.), Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg 2001, S. 323–343, hier S. 338f.
Sie beschäftigten ihn so ernstlich wie Staatsangelegenheiten und kam irgendwo Feuer aus, so war immer sein erster Gedanke, wo er die geliebten Briefe ganz sicher wissen möchte. Diese viel geküssten Briefe seiner Dolores stellten recht lebendig manche kleine Begebenheit dar, die sich in der Stadt ereigneten[...]. (143)
Wenn Karl die Briefe liebkost, sie wie (s)einen Schatz bewahrt, behandelt er das Geschriebene als authentischen Ausdruck, als integralen Bestandteil von Dolores’ Persönlichkeit. Wenn er küssend liest, tauscht er den materialen Schriftkörper gar gegen die Geliebte (gegen ihren Körper) aus (143).196 Und seine Lektüre ersetzt Dolores durch eine (rhetorisch konstituierte) Kunstfigur, die mit der echten Dolores nichts zu tun hat. Die Substitution der »echten« Geliebten durch ein »ideales« Doloresbild vollendet Karl ausgerechnet dadurch, dass er bei allem Kommunikationsoptimismus in einer spezifischen Weise an der Aussagekraft von Dolores’ Briefen zweifelt:197 »Der Graf fühlte zuweilen, daß [...] lauter Dinge [fehlten, (C. M.)], die ihm dringend notwendig waren um jeden Augenblick ihrer mit Wahrscheinlichkeit bewußt zu werden.« (144) Um die gattungsimmanente Schwäche des Briefes, dass er das Leben des Schreibers nie vollständig wiedergeben kann, zu kompensieren, hält Karl in seiner Erinnerung die Zeit an und widerspricht so dem natürlichen Lauf der Dinge: »und so blieb er immer bei den nächsten Tagen seiner Abreise stehen, wo sie zum Prediger gehen wollten.« (143) Denkt Karl an Dolores, denkt er zugleich also nicht an sie. Lust und Krise überlagern sich in Karls Brieflektüre. Karl korrespondiert übrigens sowohl mit Dolores als auch mit Klelia. Wenn die postalischen Verständigungsversuche des Paares scheitern, ist dies schon deshalb nicht auf Dolores’ Charakter zurückzuführen, weil ausgerechnet Klelias Briefverkehr mit Karl verhängnisvolle Folgen nach sich zieht. Klelia widmet sich, bis in die äußersten Haarspitzen der empfindsamen Tradition verpflichtet, in ihren Briefen dem Studium ihrer Seele. Ihre Geständnisse sind so offenherzig, dass sie in ihrer Korrespondenz »manche quälende Betrachtung über den eignen Seelenzustand« anstellt (143). Klelia kommt zwar dem Authentizitätsgebot akribisch nach, aber »ihre Freundschaft, da sie der Liebe noch ermangelte, nahm, ohne ihr Wissen alle
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Zu dieser Substitution vgl. Uwe C. Steiner, Als Schrift der Liebe Nahrung wurde, S. 89. Diese gattungsimmanente Tendenz zur Selbstreflexion betont zum Beispiel Susanne Scharnowski: »Das Schreiben selbst und damit auch der mittelbare und zunehmend als unzulänglich empfundene Charakter der schriftlichen Kommunikation wird […] selbst zu einem Thema des Briefromans. Die korrespondierenden Figuren räsonieren über die Situation, in der sie schreiben, beklagen sich über ausbleibende Briefe und die unzulänglichen Transportwege und reflektieren zuweilen über das Medium, dessen sie sich bedienen: die Schrift. Insofern ist es in der Gattung in gewissem Grade angelegt, daß irgendwann einmal der Text sich selbst zum Problem wird, da Texte in ihrer Textualität das Zentrum der Gattung bilden. Es ist mithin nicht überraschend, wenn sich Ansätze zu einem Zerfall des Kommunikationsoptimismus und auch zu einem Zweifel an den Möglichkeiten der schriftlichen Mitteilung und des schriftlichen Ausdrucks von Gefühlen ganz besonders deutlich und auch ganz besonders früh in dieser Gattung zeigen.« Susanne Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 39.
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Ausdrücke feuriger Leidenschaft an.« (143) Ihre »treu bewahrte« Freundschaft (147) wird ihr zum Verhängnis. Wer von Herz und Schmerz schreibt, ist offensichtlich auf dasselbe Sprachmaterial angewiesen wie die Rhetorik der Leidenschaft. Prompt sprengt Klelia in Karls Augen den freundschaftlichen Rahmen ihrer Beziehung. Karl widerruft seine vorherige (allegorische) Lektüre. Er legt der Meinung seiner Mutter eingedenk, daß nie bloße Freundschaft zwischen verschiedenen Geschlechtern gefunden werde, jene Äußerung warmer Freundschaft als eine unselige Liebe aus, die sich selbst nicht verstände und die er bekämpfen müsse. (148)
Narzisstisch in seinem Denkhorizont gefangen, bewegt ihn seine Brieflektüre gemeinsam mit seiner (ödipal strukturierten) Erinnerung an seine Mutter dazu, Klelia in ihre Schranken zu verweisen.198 Karl schreibt distanziert und kühl an Klelia zurück. Sein Brief aber wirkt verheerend. Er entzieht Klelia ihre bisherige Position im Kreis der Liebenden, obwohl oder gerade weil sie das Paar mütterlich umhegt und damit einen viel besseren Mutterersatz für » Karl« geben würde als Dolores. Seine »kalten Briefe wirkten vielleicht mehr, als die äußerlichen Vorteile und die Rücksichten auf ihre Gesundheit, sie zur Annahme eines Vorschlags zu bestimmen, der sie ihrer Schwester und dem Grafen auf längere Zeit entriß.« (147) Als Klelia das Angebot erhält, das väterliche Schloss zu verlassen und für längere Zeit nach Italien zu reisen, nimmt sie an. Es ist ausdrücklich Karl, der diese Abreise provoziert. Mit seinen Antwortschreiben an Dolores ergeht es Karl nicht besser. Das liegt zunächst daran, dass Karl seinen Grundfehler wiederholt. Solange Klelia noch nicht nach Italien abgereist ist, schreibt er seine Liebesbriefe immer an beide Schwestern zugleich. Darüber hinaus fehlt Karl jedes Gespür dafür, was Dolores (und Klelia) interessieren könnte: »Er selbst merkte nicht, daß er eben so wenig treffe, was sie von ihm wissen wollten […]« (144), konstatiert die Erzählerfigur lakonisch (144). Zudem fließt Karls emphatische Liebe so unmittelbar in seine Schrift ein, dass sie seine Leserin(en) vor ein unlösbares Problem stellt: »auch waren seine sterndrehenden Phantasien, halb in Versen, meist mit flüchtiger Feder so eng geschrieben, daß oft keine der beiden Schwestern sie heraus buchstabieren konnte.« (144) Voller Ironie führt diese Szene vor, wie ausgerechnet Karls Handschrift, die im Briefkult um 1800 die Individualität des Schreibers garantieren soll,199 die Lektüre jenseits aller Verständnisfragen verhindert. Zwar fungieren die Schriftzeichen materialiter als Chiffre seiner (phantastisch) überschäumenden Liebe, aber dies hinterlässt keinen dauerhaften Eindruck bei Dolores. Sie verliert den Grafen »immer mehr aus ihren herrschenden Gedanken« (145). Schließlich ist ihr sein Bild so weit entschwunden, »dass sie ihre Karikatur aufsuchen musste, um sich seiner zu erinnern.« (146) Der
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Zum Einfluss der Mutter auf die Lektüre des Sohnes, vgl. Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, München 1991, S. 15. Zentral für seine Studie ist »Hegels großer Satz, wonach die Mutter der Genius des Kindes ist«. Reingard M. G. Nickisch, Brief, S. 34.
Rückgriff zur Karikatur schließt den Kreis der versagenden Medien. Da ihn die beiden Schwestern offensichtlich nicht verstehen, erfährt Karl die Einsamkeit, die Isolation des Schreibenden, sein Zurückgeworfensein auf das eigene Ich, das zwar durch den Brief zu kommunizieren sucht, seine Isolation beim Schreiben, in der Reflexion jedoch verstärkt sieht.200
Diese selbst-reflexive Bewegung ist narzisstisch konnotiert. Karl dreht sich lustvoll um sich selbst. Die briefliche Korrespondenz weist zwar eine dialogische Struktur auf, sie verzahnt die beiden Kommunikationen aber nicht ineinander, sondern lässt sie parallel zueinander ablaufen.201 Die beiden Partner lieben bei allem brieflichen Austausch immer noch sich selbst, sonst niemanden. Für Karl tritt die Brüchigkeit seiner Briefkommunikation erst zutage, als er sich exakt ein Jahr nach seiner ersten Reise zu Dolores aus seiner Isolation löst und zu seiner Geliebten zurückkehrt. Karl versucht, seine Rückkehr als dramatische Vereinigung zu inszenieren. Indem er sie identisch zu seiner ersten Ankunft gestaltet, tritt auch er – wie Dolores, wenn sie zu ihrer Karikatur greift – in den Wiederholungszyklus ein: Er holt seine »verschossenen grünen Husarenkleider« (149) aus dem Schrank und wandert wieder über (die ihm jetzt allerdings bekannten) Um- und Abwege zu dem »hohen Ziele seiner Wallfahrt« (149). Bei Dolores’ Schloss angekommen, blickt er erneut von der Anhöhe auf den Garten hinab. Karl versucht, sein zuvor projiziertes Idealbild wieder aufleben zu lassen. Er lässt seine alt bewährte Kommunikationsform, den produktiv-projektiven Blick, auferstehen. Wieder sieht er, als er vom Berg herab kommt, Dolores vor ihrem Schloss, erneut beobachtet er sie aus der Ferne. War Dolores bei seiner ersten Ankunft von der Morgensonne illuminiert, blendet ihn jetzt der »Abendscheine und erweckte vor seinen Augen eine Welt von Blumen wie es kaum die Morgensonne vermag« (149). Als sich der Lichtvorhang hebt, sieht er dort, »wo ihn das Linnen sonst geblendet« (149), lauter »springende Funken.« (149) Karl ersetzt sein erstes durch ein neues Bild. Beide haben mit Dolores’ selbst, geschweige denn mit ihren Eigenschaften nichts zu tun. Tatsächlich eröffnet sich ihm ein Klassiker allegorischer Bildkunst: Schließlich »unterschied er Dolores, wie sie mit verbundenen Augen zwischen einer Zahl junger Herren und Mädchen ein Haschen spielte.« (149) Die Allegorese dieses Bildes fällt Karl – mit seinem Drang zur Allegorie – nicht schwer. Das Gesellschaftsspiel stellt die zufällig treffende, sich immer wieder neu verbindende, gesellige Liebe dar. Dolores selbst figuriert als blinder Amor. Im Zuge dieser Allegorese ist es nur kon-
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Susanne Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 39. Trotz aller Emphase hat Karl zumindest eine Ahnung, dass der Kommunikationsoptimismus gegenüber dem Brief einzuschränken sei: »Der Graf fühlte zuweilen, dass sie ihm beide nicht schrieben, was ihm das Wichtigste, die kleinen Verhältnisse ihres Lebens wohin sie gebeten worden, was sie da gesprochen, lauter Dinge, die ihm notwendig waren, bewusst zu werden, und so blieb er immer bei den nächsten Tagen seiner Abreise stehen, wo sie zum Prediger gehen wollten.« (143f.)
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sequent, wenn Dolores ihren vorherigen Kuss mit dem Dompfaff jetzt durch einen Handkuss substituiert, den ihr ein Jüngling gibt (150). Im Abgleich seiner diversen, gespeicherten Doloresvorstellungen mit dem neuen Bild erkennt Karl »mit einem tiefen Ingrimm« (149): Dolores’ »Briefe waren kein Schattriß von ihr« (149).202 Was Karl an dem sich ihm darbietenden Bild stört, ist allerdings nicht dessen erotische Konnotation – diese durchzieht seine Bilder ja konstant. Karl flucht über den Wechsel von zurückgezogener, exklusiver zu geselliger Liebe. Ihn erbost, dass die Liebe von einem Liebenden zum anderen wandert, dass die Geliebten austauschbar sind. Denn dies degradiert ihn nicht nur zum Tauschobjekt, sondern enttarnt zugleich das Prinzip seiner eigenen Liebe. Wie schnell sich im Zuge des an dieser Stelle erneut einsetzenden Bilderreigens eine Imago durch eine neue austauschen lässt, zeigt sich daran, dass Karls Enttäuschung sich nur bis zum kommenden Morgen hält. Dann substituiert er das schlechte, einfach durch ein ihm angenehmes Bild.203 Und noch am selben Tag kehrt er zu Dolores zurück, um sich mit ihr zu versöhnen. »So leicht weiß sich ein Liebender von dem zu überreden, was er nicht anders wissen will«, mahnt die Erzählerfigur nachträglich. (155) 3.3.4 Gekaufte Liebe: Geld regiert die Liebeswelt Keine der bisher analysierten Kommunikationsformen bewirkt, dass sich das Paar auf seine Hochzeit zubewegt. Dolores und Karl werden stets an den Anfangspunkt ihrer Beziehung zurückgeworfen. Eine nachvollziehbare Entwicklung bewirkt erst das Kommunikationsmedium »Geld«. Tatsächlich verstößt Karl gegen alle Konventionen romantischer Liebe, als er direkt nach seiner Verlobung mit Dolores einen Geldkreislauf in Gang setzt. Obwohl er sich des romantischen Verbots, Liebe niemals gegen Geld zu tauschen,204 bewusst ist, beschließt er »nicht ohne weitläufige Überlegung und Abwägung verschiedener anderer Gelegenheiten die beiden armen schönen Kinder zu unterstützen« (138). Karl agiert mit seiner karitativen Liebesgabe (Agape) als ein tugendhaft Liebender. Als edler Helfer vereint er die
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Selbst wenn sie ein Schattenriss wären, würde dies doch nur zurückweisen auf die zuvor geübte Bildkritik. Als er im Fluss badet, der am Fuße von Dolores’ Schloss vorbeifließt, beobachtet er aus sicherer Distanz seine Geliebte, »die er wohl zwischen den Gesträuchen durch, aber sie nicht ihn erkennen konnte; wie Tantalus spannte er die Arme nach ihr aus, und dachte mit seliger Zuversicht: Du siehst mich nicht, du schönster Apfel der ganzen Flur und meine Hände können dich nicht erreichen und doch bist du mein, bald mein und ich bin bei dir; wohl mir, daß ich nicht bin wie die Erle und wie die wilde Rose neben mir, die auch ihre Ärme zu dir ausstrecken; ich kann wandeln über Berg und Tal, durch Luft und Wasser und bald bin ich bei dir, und du reichst mir die Hand!« (154f.) In diesem Moment überschlägt sich Karls mythologischer Synkretismus, wenn er Dolores als Burgfräulein, als Helena-, Maria- und Evafigur deifiziert und glorifiziert, während er sich selbst nacheinander als Tantalos, als Jesus, als Adam und als Ritter inszeniert. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 46.
ethischen Vorstellungen sowohl der christlichen Tradition als auch der Aufklärung in sich. Auf diese Lesart weist unter anderem sein demütiges Verhalten hin, wenn er sich »angesichts der drückenden Armut« seiner Geliebten »mit niedergeschlagnen Augen an seinen Wirt« wendet (138), um ihm »ohne Nennung seines Namens« und »in unverbrüchlicher Verschwiegenheit zwei Dritteile seines Reisegeldes« auszuhändigen, das dieser an die beiden Schwestern weitergeben soll (138). Die Art und Weise aber, in der Karl seinen Geldtransfer einfädelt, ist nicht bloß altruistisch, sondern lässt zugleich den Verdacht aufkommen, dass seine Handlung auch narzisstisch motiviert sein könnte. Karl tut sich selbst mit diesem Entschluss den größten Gefallen. Er handelt aus Selbstliebe. Dafür spricht, dass seiner Geldgabe – wie seinem Ringgeschenk zuvor – ein patriarchalischer Machtimpetus eingeschrieben ist. Karl selbst hebt diesen hervor, als er die beiden Schwestern als »schöne[…] Kinder« (s.o) anspricht und auf diese Weise intratextuell auf seine Liebesinitiation rekurriert. Auch dort hatte er von erhöhter patriarchalischer Herrscherposition aus auf die »schönen Kinder« zu seinen Füßen herabgeblickt (vgl. S. 127 dieser Studie). Ein zweiter Aspekt ist zu beachten: So wie sein Balboablick (vgl. Kapitel 2.2 dieser Studie) als Ausdruck seiner Eroberungsphantasien beide Schwestern zugleich einschloss, so bindet er bezeichnenderweise auch jetzt sowohl Dolores als auch Klelia in seine monetäre Logik ein. Karl teilt sein Reisegeld zu jeweils einem Drittel unter den drei beteiligten Personen auf. Zwei Drittel gehen an die Schwestern, eins für Dolores, eins für Klelia, ein Drittel behält er für sich. Karls Geldgabe bestätigt erneut: Statt die Liebesdyade mit Dolores zu stabilisieren, investiert der Eroberer Karl in die Dreierbeziehung – schlicht, um sich seine Liebeswünsche selbst zu erfüllen. Der Eindruck, Karl ginge es mehr um seinen Nutzen und um seine Selbstinszenierung als um direkte Hilfe, bestätigt sich auch dadurch, dass er den Wirt in seinen Geldkreislauf einschleust. Wollte er ausschließlich die Armut der Schwestern mindern, könnte er sein Geld auch offen und direkt übergeben. Da er sich aber in erster Linie vor seinen eigenen Augen als »selbstloser Samariter« und männlicher Retter selbst bespiegeln will,205 achtet er mehr darauf, dass der Wirt Stillschweigen bewahrt, als darauf, wem er das Geld gibt, um es an die Schwestern zu vermitteln. Ob der Bote vertrauenswürdig erscheint, ist für ihn nachrangig. Karls Einstieg in den Geldverkehr funktioniert analog zu seiner übrigen, narzisstischen Kommunikation.206 Der Wirt seinerseits hält sich keineswegs an Karls Vorgaben, sondern an die Tradition unzuverlässiger Boten und Medien. Er verrät den beiden Schwestern um-
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Zu diesem Bewussteins des Gebens, nach dem selbst ein Geben, das nicht auf eine Begleichung zielt, sich »im Spiegel mit dem Bild von der eigenen Güte oder Generosität« entschädigt und »sich zirkulär selbst Anerkennung erweist.«, vgl. Jacques Derrida, Falschgeld, S. 36. Mit seiner Geldgabe greift Karl zugleich auf die ödipale Struktur seiner Liebe zurück. Sein Vermögen stammt von seinen Eltern. Auch diese Tatsache passt in das Bild narzisstischer Selbstbespiegelung.
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gehend, woher das Geld stammt und wer ihn beauftragt hat (138). Dolores und Klelia reagieren nun unterschiedlich auf Karls Geldgeschenk. Klelia fühlt sich gedemütigt (139). Sie lehnt Karls Geldgeschenk vehement ab. Zwar spricht sie von Karls »so bedeutende[r] Geldsumme«, sie versteht aber dessen Bedeutung nicht. Ihre Einschätzung, das Geld würde »das gute Verhältnis, in welchem man bisher gestanden, überhaupt verstimme[n].« (138), erweist sich als falsch. Der entgegen gesetzte Fall tritt ein: Ihre Ablehnung verstimmt Karl nachhaltig. Schließlich schlägt Klelia, indem sie Karls Zuwendung von sich weist, sein Kommunikationsangebot aus, und sie stört seine narzisstische Selbstbespiegelung. In Karls Augen ist Klelias Ablehnung ein persönlicher Affront. Als sie am nächsten Tag – im Gegensatz zu Karl streng dem empfindsamen Tugendkanon verpflichtet – dem Verlobten ihrer Schwester »etwas verlegen begegnet« (139), deutet Karl ihr Verhalten als falschen Stolz. Diese Szene führt vor, dass Karl und Klelia, trotz aller empfindsamen Gemeinsamkeiten, nicht das perfekte Liebespaar wären. Was die Verknüpfung von Geldgabe und Liebe angeht, sind sie inkompatibel. Klelias Verweigerungshaltung ist mit Karls Verstehenshorizont unvereinbar. Das macht die Szene deutlich, indem sie eine Interferenz herstellt und Karls ödipale Begehrensstruktur in die Kommunikation einwebt: Karl erinnert sich, dass seine Mutter (!) ihn »oft vor dem Stolze frommer Menschen gewarnt« hat (139). Von da an begegnet er Klelia ablehnend. Der Geldverkehr zeigt, dass die Beziehung zwischen Karl und Klelia schon früh gravierende Risse aufweist. Wenn Karl seine Beziehung zu Klelia im Zuge des Briefverkehr scheitern lässt, obwohl er sie zuvor immer wieder gefördert hat, ist dies (auch) ein Resultat der vorherigen narzisstischen Kränkung. Karl entscheidet sich nicht vorschnell oder falsch gegen Klelia und für Dolores. Der Geldverkehr stabilisiert Dolores’ und Karls Beziehung nicht nur mittelbar, indem er die (heimliche) Konkurrentin Klelia ausschaltet, sondern er stärkt ihre intime Kommunikation zugleich auch direkt. Denn in Dolores’ Augen macht Karl mit seiner Geldgabe alles richtig – schon deshalb, weil sein Geld auf dem Weg vom Wirt zum Schloss den bereits bekannten Wegen des väterlichen Schuldenkreislaufes folgt. So agiert Karl selbst im Namen des Vaters, als er den Wirt bittet, sein Geld auszugeben »als eine heimliche, alte Schuld, die ihr Vater in seinen Büchern einzutragen vergessen« (138). Und auch wenn der Wirt den beiden Schwestern »reinen Wein« (138) einschenkt und die wahre Herkunft des Geldes verrät, steht er in der Tradition des Wein trinkenden Vaters (124). Der Wirt agiert als dessen Stellvertreter. Weil aber erst die Nachricht von Karls Ankunft, dann Karl selbst und jetzt auch noch sein Geld nacheinander den väterlichen Spuren folgen, korreliert allein schon die Form des Geldtransportes exakt mit Dolores’ Liebeswünschen. Sie kann sich sicher sein, in Karl den Richtigen, nämlich den Nachfolger ihres Vaters gefunden zu haben.207
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Der Erzähler bestätigt diese Einschätzung: »Dolores glaubte, dass sie den Grafen liebte,
Damit nicht genug, sorgt das Geld auch dafür, dass die Kommunikation des Paares (in diesem Kontext) wie geschmiert läuft. »Da das Geld schweigt, kommuniziert es ungleich effizienter als die Rede.«208 Dolores darf über das »Beziehungsgeld«209 frei verfügen.210 Dessen »neutraler Wert« erlaubt ihr, die eigenen Wünsche auf das Geld zu projizieren.211 Ihr obliegt »die Zuweisung von Bedeutung an das Geld, seine symbolische Codierung.« Das Geld schafft eine Äquivalenz, eine Gleichwertigkeit zwischen Dolores’ und Karls Liebeswünschen.212 Karl kann sich im Scheine seiner patriarchalischen Geberposition sonnen, Dolores kann gleichzeitig über das Geschenkte selbstständig verfügen. Und weil das Geld »in fast alle Teilsysteme und Lebensbereiche eindringt, also mehr ist also nur das Medium des ökonomischen Codes«,213 ist es wie kein zweites Medium der Polykontextualisierung des liebenden Subjekts gewachsen. Dolores kann Karls Geld daher ganz im Sinne ihrer Liebesvorstellungen ausgeben, sowohl für »die Haushaltung des Schlosses« (138) als auch in Erinnerung an ihre luxuriöse sorglose Kindheit und im Sinne ihrer Schönheit »in allerlei Putz« (139) investieren. Das Geld fungiert in Dolores’ und Karls Liebesbeziehung als Bestandteil einer ›flexiblen Technik‹ des Selbst, die es ermöglicht, als Individuen im Paar ihre jeweiligen Vorstellungen geglückter und innerhalb des Beziehungsrahmens anerkennungsfähiger bzw. anerkennenswerter Subjektivität sowohl zu formen als auch zu artikulieren.214
Dolores’ Konsum wird erst dadurch zum Glücksfall für das Paar, dass sie sich nicht nur ihre Wünsche erfüllt, sondern ihre Investitionen wiederum mit Karls Liebesvorstellungen kompatibel sind. Beide Partner schreiben dem Geld zwar jeweils un-
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alle ihre Hoffnungen waren ja auf ihn gesetzt, auch war es unvermeidlich, daß er nicht bei näherer Bekanntschaft gewonnen hätte.« (136) Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt am Main 1998, S. 211. Zu diesem soziologischen Begriff, vgl. Hirseland, Paare und Geld, S. 110ff. Niklas Luhmann definiert Geld daher als »übertragbare Freiheit zu begrenzter Güterwahl. Es gewährt diese Freiheit durch Abstraktion einer Tauschchance, die (quantitativ begrenzt) offen hält, wann, mit wem, über welchen Gegenstand und unter welchen Bedingungen der Tausch durchgeführt wird.« Niklas Luhmann, Vertrauen, S. 62. Für Luhmann drückt Geld durch die offenen Möglichkeiten, die es generiert, eine bestimmte Unbestimmtheit aus. Es bedeutet Komplexität, wobei die Reduktion dieser Komplexität nach individuellem Belieben verfügbar ist. Vgl. ebd., S. 63. »Wenn sich wie im romantischen Code, Liebe nur gegen Liebe tauschen lässt, bleibt unklar, wer in wessen Schuld steht und wie sich eine Konfusion von Handlungsmotiven, etwa der im Code nicht zulässigen Erwiderung von Liebe durch Dankbarkeit oder gar Geld, vermeiden lässt.« Hirseland, Paare und Geld, S. 112. Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 202. Man könnte diese Funktionalisierung auch an Simmels Theorie des Geldes anbinden, doch Hörischs Studie hat den Vorteil, diese Erkenntnisse bereits in der Romantik verortet zu haben. Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl, S. 211. Michel Foucault, Technologien des Selbst, Frankfurt am Main 1993.
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terschiedliche Bedeutungen zu. Diese schließen sich aber nicht etwa aus, sondern sie sind hochgradig kompatibel. Arnims Roman zeigt, was die soziologische Liebesforschung knapp 200 Jahre später auf folgende Weise beschreibt: Was ›Geld‹ ist, was es bedeutet, was es ermöglicht und bewirkt, resultiert aus komplexen wechselseitigen und die jeweilige Paarbeziehung typischerweise charakterisierenden Zuschreibungen durch die interagierenden Partner – und zwar aufgrund der für sie geltenden Vorstellungen und Deutungen darüber, was ihre Beziehung stiftet, zusammenhält und sie auch in Zukunft auf Dauer stellt (bzw. auf der Dauer stellen soll).215
In Dolores’ und Karls Fall leisten die Investitionen in das Stadtschloss zum einen, sowie die in Dolores’ Schönheit zum anderen, diese Umstellung der Liebe auf Dauer. Beide liegen im gemeinsamen Interesse der beiden Partner. Stattet Dolores ihr Schloss neu aus, erfüllt sie in Karls Augen die traditionell weibliche Rolle der Hausfrau und bedient sein konservatives Verständnis der Geschlechterrollen. Zudem investiert sie in den Ort, den Karl bei ihrer ersten Begegnung metonymisch mit ihrem Körper, mit seinem sinnlichen Begehren, mit seiner Hoffnung auf ein harmonisches Leben, kurz gesagt: mit seiner Liebe verwoben hatte. In diesem Kontext korrespondiert der »Putz«, den sich Dolores kauft, um noch anziehender zu wirken, gezielt mit der Architektur, den Fassaden und Innenwänden des prächtigen Schlossbaus. Geldverkehr, Konsum und Liebe sind somit positiv rückgekoppelt. Dolores konsumiert in einer »romantischen oder emotionalen Aura«,216 in der sie ihrerseits Karls Liebesgefühle erzeugt und organisiert. Das gemeinsame Liebesglück erreicht ungeahnte Höhen, weil Karl seinerseits wieder positiv auf Dolores’ Konsumwünsche reagiert: Als der Graf Karl bemerkte, daß der Putz seiner geliebten Dolores Freude machte, so fand er diese Liebhaberei am Unbedeutenden so artig mädchenhaft, daß er sich allerhand gute Gelegenheiten ersann, ihr Geschenke der Art zu machen. (140)
Der ökonomische Regelkreis organisiert und stabilisiert jetzt nicht länger heimlich, sondern offiziell Dolores’ und Karls Liebe. Die positive Rückkopplung treibt das Liebesglück so weit voran, der Reigen der (Geld-)Geschenke steigert sich so weit, bis Karl nicht einmal mehr genug Geld hat, um Dolores auch nur noch einen »kleinen Ring« zu kaufen (140). Die Konversion von Karls Reichtum in Armut erzwingt seine Rückreise zur Universität:217 »Ohne diese Geldnot wäre er schwerlich aus dem Zauberschlosse gewichen«, (140) heißt es, um – im ökonomischen Bildfeld verhaftet – dennoch eine positive Zwischenbilanz der Liebesgeschäfte zu ziehen: 215 216
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Andreas Hirseland, Paare und Geld, S. 110. Zu dieser Begrifflichkeit und dem positiven Zusammenhang von Konsum und romantischer Liebe vgl. Eva Illouz, Vermarktung der Leidenschaft: Bedeutungswandel der Liebe im Kapitalismus. In: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung (1) 2005, S. 80–95, hier: S. 83. Vgl. Zu den Zusammenhängen von Zirkulation und Überfluss auch Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 225ff.
»Er gewann vielleicht eben so viel durch seine Liebschaft, als andere Studenten durch ihre Liebeleien verlieren.« (142) Als geschickter Kaufmann der Gefühle hält Karl selbstverständlich auch während der folgenden Phase der Trennung den Geldund Emotionskreislauf aufrecht. Er sendet Dolores von der Universität »auf dem bekannten Weg durch den Gastwirt beinahe seinen ganzen Wechsel« (145). Auch Dolores bleibt zunächst den gemeinsamen Vorstellungen treu. Sie lässt für das Geld »ein Paar Zimmer des besten Stockwerks in Ordnung bringen« (145), und sie pflegt ihre Schönheit. Geld avanciert zum Leitmedium (nicht nur) von Dolores’ und Karls Liebe. Vielleicht besteht eine der erstaunlichsten Leistungen des Romans darin, die angebliche Opposition zwischen Konsum und Liebe aufzuheben, stattdessen akribisch genau nachzuzeichnen, wie es zum Zusammenspiel von Liebe und Geldökonomie kommt und warum die Kommunikationsmedien Geld und Liebe positiv rückgekoppelt sind.218 Zwar verteufelt die ›Gräfin Dolores‹ Geld nicht – wie die romantische Liebestheorie – grundsätzlich, sie markiert aber dennoch dessen kommunikative Schwächen. Arnims Roman preist die vereinende Kraft des Geldes nicht blind. Er rückt durchaus dessen Schattenseite ins Licht. Dolores und Karls monetär gestiftete Liebe beruht nämlich ausdrücklich nicht auf dem romantischen Ideal des »Einklangs«, sondern auf der Tatsache, dass beide Partner dem Geld jeweils unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben, Bedeutungen, die zwar eine Schnittmenge aufweisen, mehr aber auch nicht. Dem romantischen Ideal der Verschmelzung wird auch das Medium »Geld« nicht gerecht, aus der endlosen Zirkulation kann es das Paar nicht befreien. Der Text hebt dies hervor, indem er Dolores während der Abwesenheit ihres Verlobten unbemerkt damit beginnen lässt, die Flexibilität des Geldes so zu nutzen, dass ihre Investition schließlich in Widerspruch zu Karls Vorstellungen geraten. Im Gegensatz zu diesen baut sie sich mit seinem Geld heimlich wieder ein luxuriöses, gesellschaftliches Leben auf (145). Dolores besucht wie zu den Lebzeiten ihres Vaters Bälle, sie reitet aus und empfängt Gäste. Mit diesem gesellschaftlichen Treiben kann Karl ebenso wenig anfangen wie Dolores mit seinem religiösen Eifer. Dolores’ heimliche Ausgabe führt vor, dass der Geldgeber nur eine beschränkte Macht über den Wert seiner Zeichen hat. Dolores’ Investition weist präzise auf die Brüchigkeit hin, die der scheinbaren Harmonie des Geldverkehrs eingeschrieben ist. Synchronizität bedeutet keineswegs, dass die Liebesideen identisch sind. Kurzzeitig scheint das Gefahrenpotential der ökonomisch begründeten Liebeskommunikation auf. Mit Dolores’ »Fehlinvestition« tritt das Paar erneut in sein charakteristisches Wechselspiel aus Streit und (vorübergehender) Versöhnung ein. Denn Dolores’ neues Gesellschaftsleben ist verantwortlich für Karls Verärgerung (und
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Arnims Roman nimmt auf diese Weise narrativ eine soziologische Sichtweise vorweg, wie sie beispielsweise Eva Illouz’ Studien über das 20. Jahrhundert bestimmt. Diese untersucht, »wie es zum Zusammenstoß zwischen Liebe und Kapitalismus gekommen ist.« Vgl. Dies., Der Konsum der Romantik, S. 1.
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narzisstische Kränkung), als er von der Universität zu Dolores zurückkehrt (S. 145 und Kapitel 3.3.3 dieser Studie). Trotz dieser Einschränkung sichert der Geldverkehr weiterhin das Glück des Paares. Seine zwischenzeitliche ökonomische Krise kompensiert es nämlich, indem es in das für beide Partner so hochgradig identifikatorische Bauprojekt »Schloss« investiert. Auf Dolores’ Wunsch löst Karl kurz vor ihrer gemeinsamen Hochzeit das väterliche Stadtschloss bei dessen Schuldnern aus (vgl. S. 164). Erst wehrt er sich gegen diese Idee, aber sie [Dolores, C. M.] wußte ihn so rührend an ihr erstes Erkennen zu erinnern, daß er von den Summen, die während der Vormundtschaft gesammelt worden, ihren väterlichen Palast sich zum Eigentum kaufte; er bekam ihn wohlfeil von den Schuldnern, obgleich teurer, als sie ihn jedem anderen würden gelassen haben. (165)
Mit diesem Kaufakt kompensiert Karl in Dolores’ Augen die Schuld ihres Vaters. Karl tritt als neuer Eigentümer und Schlossherr endgültig an dessen Position. Der Schlosskauf bildet den (vorläufigen) Höhepunkt in der Beziehung des Paares, da sowohl Karl als auch Dolores ihre jeweiligen Liebeswünsche gemeinsam im Palast erfüllt finden. Der Schlosskauf tröstet die beiden Liebenden auch über eine Reihe von Enttäuschungen und narzisstischen Kränkungen hinweg, die sie im Zuge ihrer Kommunikation erlitten haben. Dolores verschmerzt, dass Karl sie durch sein patriarchalisches Getue und durch seinen Flirt mit ihrer Schwester gedemütigt hat. Und Karl findet sich mit der »fehlenden Tiefe« von Dolores’ Denken und Fühlen ab. Das gemeinsame Glück kompensiert die vergangenen Leiden. Doch löst die Versöhnung im Zeichen des Immobiliengeschäfts die Vereinzelung der Liebenden nicht auf. Die Synchronizität der Projektionen ersetzt erneut nur ihre symbiotische Verschmelzung.219 Der Liebesbeziehung bleibt ein Bruch eingeschrieben. Diese Brüchigkeit überträgt sich direkt auf die Hochzeit des Paares, und zwar dadurch, dass das Fest selbst auf dem ökonomischen Primat beruht. Entgegen Karls ursprünglichem Plan heiratet das Paar nicht im Stammschloss seiner Eltern (164), sondern in dem gemeinsam erworbenen Stadtschloss. Der ökonomische Akt des Schlosskaufs bedingt die (Umstände der) Hochzeit. Das Hochzeitsfest selbst steht dann auch nicht für sich. Es dient als Taufakt für das Schloss. Die Hochzeit inauguriert das gemeinsame Leben dort: »eine große Hochzeit weihete das herrliche Haus zu beider Glücke ein, wie sie hofften […].« (164). 219
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Noch direkt vor ihrer Hochzeit resümiert der Erzähler, dass beide in ihrer narzisstischstrukturierten Liebe verhaftet bleiben: »Dolores liebte wirklich manches in dem Grafen, aber sie konnte keinen Menschen im Ganzen lieben mit allen Eigentümlichkeiten, sich selbst etwa ausgenommen. Er verehrte und pflegte ihre Besonderkeiten mit solcher Liebe, daß er sich häufig überredete ihre Fehler und Unarten seien auch verkappte, ihr eigentümliche Trefflichkeiten […] kurz es gibt ein Labyrinth von Gedanken, wie er in sich alles an ihr als gut und weislich auszulegen bemüht war.« (163f.) Beide Partner sind durchaus empathisch, beide sind augenscheinlich auch glücklich über ihre Liebesentscheidung.
Aus romantischer Perspektive verliert die Liebeshochzeit somit ihre Unschuld. Sie wird von der Ökonomie befleckt. In Konsequenz des bis hierhin nachgezeichneten Zickzackkurses aber macht erst die Ökonomisierung der Liebe die Hochzeit möglich. Das Kommunikationsmedium »Geld« bringt das Paar an sein Ziel, weil es aufgrund seines neutralen Wertes beiden Liebenden erlaubt, seine Wünsche individuell umzusetzen. Es ermöglicht eine individualisierte Liebeskommunikation. Allerdings um den Preis, dass auch die potentielle Brüchigkeit der Kommunikation den Festakt kontaminiert. Die Einschränkung, dass sich das Paar selbst im Moment seiner Hochzeit seines Glückes nicht gewiss sein kann, sondern sich dieses nur »erhofft«, spiegelt diese Brüchigkeit deutlich wider. 3.4
Zirkulation ohne Ende. Die Ökonomisierung der Ehe
Ist die Hochzeit erst von der monetären Logik des Geldes unterwandert, wäre es geradezu leichtfertig, dem Eheleben vorschnell ein »Unschuldsattest« auszustellen. Die Idylle, die Dolores’ und Karls Rückzug auf das Land vermuten lässt, und der sich in der Arnimforschung keiner so treffend falsch verschrieben hat wie Klaus Peter,220 entspricht sowohl in Arnims als auch in dem oben zitierten Habermasschen Konzept eben nur der halben Wahrheit. Statt in das Klischee rousseauscher Naturidylle abzugleiten, führt die ›Gräfin Dolores‹ überzeugend vor, dass auch das schöne Eheleben mit der »Sphäre der Arbeit und des Warenverkehrs in einem Verhältnis der Abhängigkeit« steht.221 Schließlich folgt das Paar, als es auf das Land umzieht »dem Drang des Grafen zu seiner eigentlichen Tätigkeit« (165). Diese besteht – in Kontinuität seines landwirtschaftlichen Studiums und in der Tradition seines Familienerbes – darin, seine Güter zu verwalten. Sie dient somit zur »tätige[n] Vermehrung seines Vermögens.«222 Der Entwurf des Ehelebens liest sich dabei wie die Vorschule kritischer Theorie. Er zeigt, wie gemeinsam mit der (bürgerlichen) Arbeitswelt auch die ökonomischen Mechanismen in den Alltag des Landadels einziehen. Letztlich dringt die Arbeitswelt bis in den letzten Winkel der Privatsphäre vor. Dies ist deutlich zu erkennen, wenn beispielsweise Karl sich immer wieder in die Privaträumlichkeiten seines Schlosses zurückzieht, um wichtige Geschäfte vorzubereiten oder zu erledigen (234, 271). Auch der Zeitpunkt, an dem das Paar das Landschloss wieder verlässt, markiert, dass der Rhythmus der Ertragsarbeit letztlich den kompletten Verlauf des ländlichen Liebeslebens bestimmt. Dolores und Karl kehren dem Landgut unmittelbar nach dem Erntedankfest den Rücken, also erst, wenn die Erträge erwirtschaftet, in den Scheunen gelagert sind und die Arbeit profitabel erledigt ist. Der beginnende Herbst verweist demnach nicht metaphorisch auf den Niedergang des Eheglücks – der hat in Arnims Roman schon von
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Klaus Peter, Arnims Gräfin Dolores, S. 246. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 63. Vgl. S. 107, 164, 363f., 370f. und 385f.
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der Liebesinitiation an eingesetzt –, sondern hebt hervor, dass die Hochzeitsreise des Paares nichts anderes ist als ein wohl kalkulierter Arbeitsaufenthalt. Aus dieser agrarwirtschaftlichen Perspektive erweist sich ebenfalls die vermeintlich unberührte, idyllische Natur als eine Kulturlandschaft, deren Ertrag erwirtschaftet und gewinnbringend eingesetzt wird.223 Die Natürlichkeit, die nach Rousseau noch die Unschuld der Liebesgemeinschaft garantiert, ist nichts anderes als eine »Diskursformation«, die spezifischen kulturellen Codes (zur Kultivierung von Land, zur Landwirtschaft) folgt.224 Da diese ländliche Kultur ihrerseits aber die soziale Ordnung der Ehe bestimmt, gleicht Dolores’ und Karls Eheleben weniger dem Müllerschen oder Schlegelschen ästhetischen Ideal (vgl. Kapitel 2.1) als vielmehr dem Hegelschen »für sich genommen unschönen, prosaischen Dasein.«225 Die Ökonomisierung der Ehe führt exemplarisch vor, dass für Dolores und Karl zugleich auch alle anderen Liebesmechanismen und mit ihnen die jeweiligen semantischen Felder ihrer Liebeskommunikation über ihre Hochzeit hinweg relevant bleiben. In Sachen Liebe bleibt während des ländlichen Ehelebens alles beim Alten. Das Paar hat sich mit seiner Hochzeit nicht in ein zeitloses Paradies verabschiedet, es hat sich im Umfeld der Hochzeit lediglich konsolidiert und ist auf diese Weise in eine neue Lebensphase eingetreten. Dolores und Karl haben nur ihre Jugendzeit hinter sich gelassen. An Karls Beispiel tritt diese gelungene sozialpsychologische Subjektbildung besonders deutlich zutage: Karl hat sein Studium abgeschlossen, die Volljährigkeit erreicht und verwaltet seine Güter und sein Vermögen selbstständig (164).226 Er hat seine Fähigkeiten schrittweise ausgebildet, und seine Identität – um einen Begriff aus Scharnowkskis Studie aufzugreifen – bis zu einer »stabilen Synthese« entwickelt.227 Aber dennoch bricht weder Karls noch Dolores’ Bildungsweg mit der Hochzeit einfach ab. Ihre »Identität« bleibt nur vermeintlich stabil, ihre education sentimental geht weiter. Und beide haben noch eine Reihe weiterer Reifeprüfungen zu bestehen. 223
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Indem der Roman die Natur als kulturelle Konstruktion enthüllt, wendet er sich zugleich gegen die bis heute stereotyp wiederholte Vorstellung, dass sich die Gesellschaft hemmend, die Natur hingegen fördernd auf das »Spiel der Liebe« auswirken würde. Gerhard Schulz, Romantik: Geschichte und Begriff, München 1996, Zur romantischen Liebe, S. 114–119, hier S. 114. Diese Natur ist schlicht nicht zu haben. Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1990. Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 222: Darzustellen sei in Romanen, so Hegel an anderer Stelle, die »reale Wirklichkeit in ihrer vom Standpunkt des Ideals aus betrachtet prosaischen Objektivität, der Inhalt des gewöhnlichen täglichen Lebens, das nicht in seiner Substanz, in welcher es Sittliches und Göttliches enthält, aufgefaßt wird, sondern in seiner Veränderlichkeit und endlichen Vergänglichkeit.« Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 182. Vgl. hierzu ebenfalls Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 103. Zum Zusammenhang von Ausbildung und Persönlichkeitsbildung, vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 65. Vgl. zu diesen Begriffen, Susanne Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 31ff.
Auch der schwesterliche Konkurrenzkampf setzt sich nach der Hochzeit kontinuierlich fort. Er scheint zwar insofern entschieden, als sich die mènage-à-trois mit Klelias Abreise nach Italien in eine intime Zweisamkeit gewandelt hat. Doch die Wettbewerbssituation zwischen den beiden Schwestern hat sich damit keineswegs in Luft aufgelöst. Sie hat nur eine neue Form angenommen. Sowohl Karl als auch Dolores pflegen nämlich ihre sentimentalen Erinnerungen an Klelia. Und beide führen jeweils einen regen Briefverkehr mit ihr. Der schwesterliche Wettkampf und Karls Konflikt, sich zwischen den beiden Schwestern entscheiden zu müssen, die jeweils einen bestimmten Part seiner Vorlieben abdecken, sind nur suspendiert, aber keineswegs aufgehoben. Ebenso bleibt die ödipale Bindung der beiden Liebenden virulent. Obwohl Dolores und Karl jeweils einen Vater-, respektive Mutterersatz gefunden haben und die Eltern auf der Handlungsoberfläche keine Rolle mehr spielen, ist die Frage, ob der jeweilige Partner die elterliche Lücke wirklich füllen kann, nicht endgültig gelöst. Sie verlagert sich zum einen in die eigene Familiengründung, wenn Dolores und Karl selbst im Laufe ihrer Ehe Mutter und Vater werden. Sowohl Dolores als auch Karl ernennen nämlich die Zeit ihrer Kindheit, das Handeln der eigenen Eltern zum Maßstab für die eigene Familienordnung. Sie handeln und entscheiden unter (psychischem) Einfluss und in Erinnerung an ihre Eltern. Zum anderen aber prägt die ödipale Liebesstruktur auch deshalb das Eheleben des Paares, weil ja fortwährend die Möglichkeit besteht, dass Dolores’ Vater doch noch nach Deutschland zurückkehrt. Die Weitläufigkeit und Komplexität der Zirkulation bleiben vollständig erhalten. Das Eheleben gründet auf der Arnimschen Liebeskonzeption. Deshalb entfaltet sich auch die weitere Romanhandlung auf der Matrix des bis hierhin erarbeiteten, komplexen Kommunikationsmodells. Dass die Mechanismen in die Ehe hineinreichen, ist per se noch keine Katastrophe. Immerhin haben die komplexen Kommunikationstypen das Paar ja so effizient zur Hochzeit geführt, dass die Liebe phänomenologisch dem romantischen Ideal entspricht. Die Kohärenz zwischen Braut- und Ehezeit impliziert zunächst nur, dass auch das Eheleben aus der rhythmischen Wiederholung von Streit und (vorläufiger) Versöhnung besteht. Die Ehe »war kein fest bestehender Zustand, sondern mußte immer neu wiedergewonnen werden […]« (235). Für die Funktion von Karls und Dolores’ Hochzeit im Zuge ihrer Liebe hat diese Konzeption gravierende Folgen. Sie wird zwar als die Synthese des Romans angeboten, aber aufgrund der Dekonstruktion des romantischen Liebeskonzepts ist grundsätzlich klar, dass sich die beiden Liebenden nie in Harmonie vereinen können. Statt einer abschließenden Synthese oder einem Wendepunkt markiert die Hochzeit einen Moment der Transformation, in dem die Mechanismen der Liebe zwar wirksam bleiben, sich die Bedingungen und Umstände der Liebe aber gravierend verändern. Als Wegmarke macht sie (nur) deutlich, dass das Liebespaar im fließenden Übergang von einer bestimmten Liebesphase in die nächste hinüber gleitet. In Konsequenz dieses Konzepts fällt die Hochzeit mit einer Reise zusammen. Durch die zeitliche Koinzidenz von Hochzeit und Reise, betont der Roman 179
die Wirkung, welche die Reise mit sich bringt: Sie symbolisiert die Veränderung (nicht aber die Umkehr oder den Neuanfang) und den Eintritt in eine neue Lebenssphäre. Wie schon bei der Verlobung erweisen sich Kohärenz und Transformation als die bestimmenden Prinzipien der Liebesgeschichte. Diese Konzeption hat zugleich weit reichende poetische Folgen für die Konzeption des Liebesromans. Für das Plotmuster romantischer Liebesromane bedeutet dies, dass sowohl die Versöhnung als auch (und vor allem) die Hochzeit keine Endpunkte mehr sind. Sie garantieren kein Happy-End. Folgerichtig verschiebt sich deshalb der Stellenwert, der Karls und Dolores’ Hochzeit im Rahmen des Plotmusters zukommt. Zwar bleibt die Hochzeit für die beiden Partner ein wichtiges, gemeinsames Ziel. Bezüglich des Plots aber wird das Hochzeitsfest förmlich von der Kontinuität der Geschehnisse überrollt. Hatte Hegel im Hinblick auf das Handlungsmodell der Bildungsromane,228 die Hochzeit noch an das Ende des »Romanhaften« gestellt,229 stellt Arnims Roman das konventionelle Handlungsmuster auf den Kopf. Er inszeniert keinen Eheschluss. Karl und Dolores heiraten gemessen an der Makrostruktur der ›Gräfin Dolores‹ geradezu nebenbei. Die Hochzeit findet mitten im Niemandsland des Romans statt, im dritten Kapitel der zweiten Abteilung, nach knapp 62 Seiten Erzählzeit. Die Marginalisierung des Hochzeitsfestes geht so weit, dass es die Erzählinstanz kaum eines Blickes würdigt. In der Form eines Ereignisberichts handelt sie es in nur zwei kurzen Sätzen ab (164). In der ›Gräfin Dolores‹ setzt die Hochzeit keinen harmonisierenden Schlusspunkt mehr und verliert innerhalb des Romankonzepts erheblich an Bedeutung.
4.
Dolores’ Liebestragödie: Geschlechterkampf als Krieg der Theoreme
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Hochmut oder Demütigung? Das ist hier die Frage
Wenn Dolores’ und Karls Ehe (zwischenzeitlich) zerbricht oder zumindest an den Rand der Zerstörung geführt wird, dann muss das ausgewogene Wechselspiel aus Streit und Versöhnung im Laufe ihrer Liebesgeschichte irgendwie aus den Fugen geraten sein. Was verändert sich also im Zusammenleben des Paares, dass es zur Katastrophe »Ehebruch« kommt? Die Arnimforschung beantwortet diese Frage bislang ebenso eindeutig wie einseitig. Von Klaus Peter bis zu Gerhart von Graevenitz ist man sich einig, dass Dolores die Schuld am Ehebruch trägt. Peter erhebt gleich einmal einen Generalverdacht gegenüber der Protagonistin. Der Roman entwickle
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Das Handlungsmodell lässt sich über Hegel hinaus bis auf Platons ›Symposion‹ zurückführen. Es orientiert sich aristophanischen Mythos der Trennung, des Suchens, Findens und Vereinigens. Haben sich die beiden Hälften erst gefunden, ist die Geschichte auch schon erzählt. Vgl. Platon, Symposion, S. 220f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 220.
»den Ehebruch aus Dolores Charakter«, er zeige auf, »daß sie prinzipiell für die Ehe nicht zu taugen scheint.«230 Für Peter ist die Sache nicht nur denkbar einfach, sondern lässt sich darüber hinaus auch verallgemeinern. So betont er, Dolores stehe als sündige Frau ihrem frommen, guten Mann gegenüber. Von Graevenitz analysiert den Geschlechterkonflikt zwar wesentlich differenzierter, am Ergebnis ändert dies aber nichts. Er liest den Ehebruch vor der Folie von Fichtes naturrechtlicher Geschlechter- und Ehephilosophie und stellt fest, Dolores verstoße »wider die Naturordnung«, da sie sich in ihrem »weibliche[n] Hochmut«, durch »die mit Curiositas gepaarte Ur-Sünde der Superbia« über ihren Mann erhebe.231 Nach dem Hochmut folgt bekanntlich der Fall. Die Superbia mache, so von Graevenitz, Dolores empfänglich für die Verführungskünste des Markese und begründe damit ihren Sündenfall. Für diese eindeutige Schuldzuweisung spricht vor allem, dass sich die zitierten Forschungsbeiträge die Einschätzung sowohl des Grafen Karl als auch der Erzählinstanz zu Eigen machen. Die beiden Autoritäten von Arnims Roman, aus deren Perspektive die Geschichte über weite Passagen hinweg erzählt wird, betreiben nämlich konsequent die Strategie, plakativ Dolores’ Vergehen anzuprangern und auf ihre vermeintliche Superbia zurückzuführen (vgl. z. B. 161, 163). Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus sinnvoll, Arnims Roman als ein didaktisches Lehrstück zu lesen, das den weiblichen Hochmut ausstellt, um seine Leser(innen) vor einem ähnlichen Sündenfall zu warnen und zu bewahren. Ist der Fall wirklich so eindeutig? Zunächst einmal ja. Die Arnimforschung stellt die richtige Diagnose, wenn sie Dolores’ Ehebruch aus einem Gender-Konflikt ableitet. Tatsächlich ist die Geschlechterthematik der dritte große, um 1800 (ebenso wie heute) hochgradig brisante Sachkomplex, welchen der Roman im Zusammenhang mit dem romantischen Liebeskonzept kritisch beleuchtet. Den bisherigen Interpreten unterläuft jedoch ein folgenreicher Kurzschluss, wenn sie sich dem Urteil der beiden männlichen Romanfiguren anschließen. Liest man nämlich das changent taft ein weiteres Mal gegen den Strich, wird deutlich, dass der Roman narrativ exakt das Gegenteil dessen entwickelt, was seine männlichen Zentralfiguren geradezu marktschreierisch proklamieren. Der Geschlechterkampf wird – so meine These – unter umgekehrten Vorzeichen ausgetragen, als es die Arnimforschung bislang behauptet. Obwohl die ›Gräfin Dolores‹ zugegebenermaßen bislang nicht gerade als emanzipatorische Kampfschrift aufgefallen ist, führt sie doch akribisch vor, dass und vor allem auf welche Weise Karl seine Frau seinem patriarchalischen Machtan-
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Klaus Peter, Achim von Arnim: Die ›Gräfin Dolores‹, S. 245. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 114 und 115. Diese Behauptung bildet so etwas wie den common sense der Arnimforschung, vgl. beispielsweise auch Ricklefs: »Die Liebe der Gräfin Dolores in der Gräfin Dolores besteht aus Täuschungen und Selbsttäuschungen […]. Sie haben ihren Grund in der, auch mythologisch chiffrierten, ›Eitelkeit‹ und dem Stolz der Heldin, die andererseits Ursache ihrer Schönheit und ihrer unwiderstehlichen Anziehungskraft sind.« Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe, S. 256.
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spruch unterwirft. Dolores ist demnach nicht hochmütig, sie muss sich von ihrem Mann demütigen lassen. Und der Geschlechterkampf wird nicht etwa mit versteckter Gewalt,232 sondern mit der seit Jahrhunderten etablierten strukturellen Gewalt patriarchalischer Machtsysteme geführt.233 Der Romantext benennt dies nicht nur deutlich, sondern legt darüber hinaus präzise die Techniken der Unterdrückung offen. Einen ersten Anhaltspunkt für diese These bietet die Begriffsgeschichte der im Roman allgegenwärtigen »Superbia«. Noch im klassischen Latein bezeichnet diese nämlich nicht nur den »Hochmut« als Untugend, sondern auch im positiven Sinne das »innere Gefühl, durch das ein Mensch sich selber einen bestimmten Wert zuerkennt.«234 Karl bedroht nichts weniger als dieses existentielle Selbstwertgefühl seiner Frau. Um dieses, so meine These, kämpft die Gräfin Dolores/›Gräfin Dolores‹ im doppelten Sinne des Wortes: als weibliche Protagonistin und als Roman. Allerdings ficht Dolores ihren Geschlechterkampf nicht allein gegen Karl, sondern auch gegen die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz aus. Deren einseitige Schuldzuweisungen und bissige Bemerkungen gegenüber Dolores (161, 163, 369, 380, 384)235 sind aus der Perspektive der Gender Studies Bestandteile eines spezifischen Gendercodes, mit dem die Erzählinstanz sowohl ihre Figur als auch sich selbst charakterisiert. Zu dieser immanenten Selbstbeschreibung gehören über die Distanzierung von ihrer weiblichen Protagonistin hinaus, die Sympathie für die männliche Hauptfigur, mit dem sie eine Allianz schmiedet, ihr voyeuristischer Blick auf Dolores (349) usw. Alle diese Merkmale fungieren als so genannte gender-Markierungen,236 die im vorliegenden Fall auf eine als männlich (sex) inszenierte Erzählinstanz verweisen.237 Im Kontext des Geschlechterkampfes zeigt die massive Kritik an Dolores’ Charakter und Verhalten außerdem, dass der Erzähler nicht einfach nur ein neutraler Beobachter der Ereignisse ist. Der Erzähler bezieht
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Diesen Begriff entwickelt von Graevenitz und kontrastiert ihn mit der »offenen Gewalt«, wie sie »beim niederen Volk« und paradigmatisch hierfür im Eifersuchtsdrama um Otto und Luft dargestellt wird. Vgl. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 114. Vgl. Gerda Lerner, Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt am Main und New York 1995. Anja Pelzer, Die Geschichte des Patriarchats. In: Corinna Schlicht (Hg.), Sexualität und Macht. Kultur-, literatur-, und fi lmwissenschaftliche Betrachtungen, Oberhausen 2004, S. 9–18. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Artikel »superbia« Darmstadt 1980. Beispielsweise konstatiert der Erzähler schon früh: »So entwickelte sich der hochmütige Eigensinn, das törigte Vertrauen zu sich, an welchen sie endlich zu Grunde gehen mußte.« (161) Zu diesen Markierungen kommt die textexterne Identifi kation der Erzählstimme mit dem Autor. Vgl. zu diesen Zusammenhängen, Vera und Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, Kapitel VII, hier S. 148ff. Umgekehrt kann man also behaupten, dass der Roman den Konflikt zwischen seinen Figuren benutzt, um mit seiner Hilfe ein männliches Erzählsubjekt zu konzipieren.
eindeutig Position gegen Dolores und streitet eindeutig auf Seiten des Mannes.238 Seine Stimme und seine Stimmungsmache bilden einen festen Bestandteil des Geschlechterkampfes. Und er entpuppt sich als der heimliche Strippenzieher, als das Master-Mind der männlichen Angriffe im Geschlechterkonflikt. Jedoch stellt allein schon der Gestus der Eindeutigkeit, mit dem er seine Schuldzuweisungen hervorbringt, heraus, dass das geschlechtsspezifische Erklärungsmuster viel zu simpel ist, um der Komplexität des Dargestellten gerecht zu werden. Die gezielt inszenierte Diskrepanz zwischen den erzählten Ereignissen und den Aussagen des Erzählers, die auffällige Unangemessenheit, rücken den männlichen Blick selbst in den Fokus der Kritik (vgl. S. 159 dieser Studie). So zeigt der Roman, dass derjenige es sich schlicht zu einfach macht, der Dolores’ Brautzeit pauschal mit dem Etikett »Reichtum« versieht, der ihre »Schuld« schon im Untertitel festschreibt und von Beginn an nur über ihre »Superbia« klagt.239 Um diesen Blick als unangemessen, ja als verfälschend zu entlarven, stellt der Roman die Einschätzung seines Erzählers an einzelnen Stellen bloß: Als Dolores beispielsweise noch während Karls Aufenthalt an der Universität sein Bild aus ihrem Gedächtnis verliert und zu ihrer Karikatur greifen muss, macht der Erzähler dafür ihre »Weltseele« (146) verantwortlich. Sarkastisch stellt er fest, dass in einer solchen Seele, kein Geliebter auch nur irgendeinen bleibenden Eindruck hinterlassen könne. Dolores ist von Natur aus also nicht zur »erinnernden, sehnsüchtigen« Liebe geschaffen. Ihre Unfähigkeit hebt der Erzähler weiter hervor, indem er sie gegen die »schöne, fromme Seele« (146) abgrenzt. Lakonisch bemerkt er: »Eine schöne fromme Seele ist wie das Tüchlein der heiligen Veronica, auf welchem das Bild des Geliebten ohne Malerkunst in ewiger Treue abgedrückt bleibt […].« Es verwundert nicht, dass der Erzähler diesen Seelentyp umgehend Klelia zuschreibt (ebd.).240 Der Kontrast und Dolores’ »Defekt« sind somit überdeutlich.
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Diese These schließt an Nicola Kaminskis überzeugende Feststellung an, dass sich die Gräfin Dolores als weibliche Protagonistin von ihrem Erzähler emanzipiert. Kaminski erkennt anhand der Heidenmädchen-Allegorie, dass das Kommunikationsverhältnis zwischen Erzählinstanz und Figur Dolores oppositionell erscheint: »Es stehen sich gegenüber: Produzent (Erzähler) und qua seiner Erzählung entstehendes, aber wider ihn aufbegehrendes Produkt (Dolores).« Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 265. Zwei weitere Aspekte sprechen dafür, dass der Erzähler und sein Erzählprodukt wesentlicher Bestandteil dieses Machtgefüges sind. Erstens bedient sich der Erzähler einer männlichen Rhetorik. Beispielsweise, wenn der Erzähler sich darüber mokiert, dass Dolores sich zwar gerne von Geschichten unterhalten lasse (vgl. 189), sie aber von der »Unterhaltung« (189) eines Haushalts keine Ahnung habe. Die rhetorische Finesse des Erzählers, der mit Hilfe seiner Paronomasie über Dolores’ vermeintliches Versagen urteilt, führt performativ die männliche Diskurshoheit vor. Der männliche Erzähler setzt – mit allen rhetorischen Tricks – die Maßstäbe zur Bewertung weiblichen Verhaltens. Dies geschieht zweitens dadurch, dass die Erzählinstanz nicht etwa Dolores Erlebnisse auf dem Land teilt, sondern stets Karl begleitet. Der Blick auf die erzählte Welt ist dadurch als ein männlicher markiert. Warum der Erzähler Klelia favorisiert, ist einfach zu begründen: Klelia entspricht den
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Doch der Text wendet sich unterschwellig gegen seine Erzählinstanz: Dessen Vergleich von Klelias Bildgedächtnis mit dem Tüchlein der heiligen Veronica lässt nämlich die scheinbar deutliche Opposition wie eine Luftblase platzen. Von der behaupteten moralischen Distinktion bleibt nichts übrig: Das Vera icon verspricht zwar in der bildtheologischen Diskussion, im Gegensatz zur sprachlichen Darstellung, die absolute Übereinstimmung zwischen Urbild und Abbild.241 Ausgerechnet das Veronica-Tuch ist aber zugleich eine der umstrittensten Reliquien des katholischen Glaubens überhaupt. Es ist Gegenstand eines seit Jahrhunderten andauernden Echtheits- und Authentizitätsstreits.242 Denn es ist nicht nur völlig unklar, wer dort seine Konturen hinterlassen hat, sondern auch, wem dieses Tuch überhaupt zuzuschreiben ist.243 Seinen Geliebten so im Herzen zu behalten wie das VeronicaTuch Jesu Gesichtszüge ist alles andere als ein Gütesiegel für die Erinnerungsarbeit und verspricht sicherlich nichts Gutes. Der Erzählerkommentar führt sich somit selbst ad absurdum, sein Oppositionsmodell bricht in sich zusammen. Das Einzige, was bleibt, ist der Eindruck, der Erzähler spiele mit gezinkten Karten. Der Erzähler mag die heimliche Machtzentrale sein, die seine Einschätzung des Geschehens gegenüber der Textstruktur zu behaupten versucht. Doch seine Strategie ist zumindest im Zuge des Geschlechterkampfes allzu durchschaubar. Die Komplexität des Erzählten führt den Blick des Erzählers als befangen und verfälschend vor, was zur Folge hat, dass sie die Simplizität des Chefstrategen als einseitig und unangemessen diffamiert. Diese deutliche Diskrepanz zwischen dem Erzählten und dem Erzählerkommentar hebt hervor, dass man der ›Gräfin Dolores‹ mit der einseitigen Bewertung nicht gerecht wird. Erkauft man sich die Simplizität einer vermeintlich eindeutigen Lesart doch damit,244 dass man weder die Komplexität der Doloresfigur noch die des Textes in den Blick bekommt. Für den Leser heißt das: Wer in die Schimpftirade der männlichen Protagonisten einstimmt, übernimmt naiv die einseitige
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Idealsvorstellungen, die Männer um 1800 von Frauen haben, vgl. dazu S. 181. Auch diese Stereotype spielt Arnims Roman ein, um sie kritisch zu hinterfragen. Zur bildtheologischen Diskussion in Arnims poetischem Werk vgl. Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. 209–235. Zur Bildtheologie in der ›Gräfin Dolores‹ vgl. Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit. Zur göttlichen Allwissenheit und vor allem zur vermeintlichen Glaubwürdigkeit des Erzählers vgl. Kapitel 6 dieser Studie. Vgl. jüngst zu dem Streit um das Veronica-Tuch als Acheiropoeíeton: Paul Badde, Das göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu, München 2006. Diskutiert wird auch, ob die Struktur des Tuches überhaupt für die Aufnahme von Gesichtsabdrücken geeignet ist. Teilweise wird das Tuch sogar Maria Magdalena zugesprochen. Im Zusammenhang der apokryphen Gerüchte um Magdalenas und Jesu (angebliches) Liebesverhältnis erscheint der Kommentar des Erzählers plötzlich zwielichtig. Wie schon beim Liebeskonzept wird erneut die Simplizität schematischer Vorstellungen durch die Komplexität »realistischer Liebe« ersetzt, und die Einfachheit der einseitigen Schuldzuweisung dadurch ad absurdum geführt.
Sichtweise des Patriarchen,245 bewertet Dolores nach den männlichen Stereotypen und bemisst ihre »Liebesleistung« nach dessen Kriterien. Der Roman aber fordert deutlich dazu auf, die Erzählstimme nicht einfach nur von dem Erzählten abzulösen, sondern weitaus radikaler, den Text gegen die Sichtweise des Erzählers zu lesen. Die vorliegende Analyse von Dolores’ Ehegeschichte folgt dieser Aufforderung. Sie zeigt zunächst anhand einer exemplarischen Szene aus dem Eheleben, dass für Karl die Liebesbeziehung zu seiner Frau in der Ehe im Gegensatz zu seiner Arbeit und zu seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen enorm an Stellenwert verliert. Karl betreibt die Liebe nur noch wie ein Hobby und misst Dolores nur dann einen Wert zu, wenn sie seinem spezifischen Frauenbild entspricht (4.2). Die Textanalyse führt außerdem vor, wie sich während des Ehelebens die Schnittmenge der Vorstellungen auflöst, die noch in der Brautzeit herrschte, und Karls Auffassungen in Konflikt mit Dolores’ Vorstellungen geraten. Dolores wird von Karl gedemütigt (4.3). Aus dieser Demütigung erklärt und motiviert der Roman Dolores’ Verführbarkeit. Die Verführung durch den Markese manifestiert endgültig die patriarchalische Macht. Noch einmal schenkt Dolores den romantischen Liebesversprechen von Autonomie und Freiheit Glauben, um doch nur erneut gedemütigt zu werden. Sie unterliegt einer Macht, deren strukturelle Gewalt sie nichts entgegen zu setzen hat (4.4). 4.2
Die patriarchalische Gewalt im Kostüm des Alltäglichen
Die erste grundlegende Verschiebung zwischen Braut- und Ehezeit zieht in der harmlos wirkenden Gestalt alltäglicher Arbeit in Dolores’ und Karls Eheleben ein. Hatte Karl auf dem Weg zur Universität noch die Liebe über die Arbeit gehoben, hatte er gearbeitet, um zu lieben, vertieft er sich während seines Landaufenthaltes derart intensiv in seine alltägliche Arbeit, dass er seine Liebe und seine Frau aus den Augen verliert. Stellvertretend führt dies eine kurze Szene vor, in der Dolores ihren Mann am Morgen nach Rosaliens und Lorenz’ Hochzeit aufsucht, um sich über den Verlust ihrer Kammerfrau zu beklagen (271). Dolores wünscht sich dort, dass »alle Dienste so könnten eingerichtet werden, daß die Leute sich dabei verheiraten könnten« (271f.). Ihre Bemerkung zielt zwar auf Rosalie ab, führt aber direkt zum Kernproblem ihrer eigenen Lebenssituation: Liebe und Arbeit sind unvereinbar. Die Umstände von Dolores’ Besuch führen dies performativ vor. Bezeichnenderweise muss Dolores ihren Mann in seiner Arbeitsstube abpassen. Sie trifft ihn dort »bei der Durchsicht einer weitläufigen Baurechnung der neuen Dorfkirche« an (271). Dieses Bauprojekt nimmt Karls Aufmerksamkeit vollkommen gefangen. Das erklärt sich nicht allein aus der Situation heraus, sondern auch dadurch, dass der Kirchbau aus Karls Sicht alle Aspekte seiner Liebesvorstellungen in sich vereint: Re-
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In Anspielung an die Bildtheologie könnte man auch davon sprechen, dass der Erzähler auf die Gutgläubigkeit seiner Leserschaft baut.
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ligion, Ökonomie, Architektur und Ästhetik kulminieren in dem Projekt. Darüber hinaus erfüllt die Kirche auch noch eine pädagogische Funktion, mit der Karl seine (patriarchalische) Stellung als Landesherr gegenüber der Dorfbevölkerung betont. Und nicht zuletzt dient sie dem Andenken an seine verstorbenen Eltern, denn immerhin entsteht sie ja auf dem Landgut, das er von diesen geerbt hat. Zudem ist aus Karls Sicht, nachdem er mit Dolores den »heiligen Bund der Ehe« geschlossen hat, auch seine Frau Teil dieses Bauplans. Kurz gesagt: Karl ist derart in seine (narzisstische) Vorstellungswelt versunken, dass es für ihn irrelevant ist, ob Dolores selbst anwesend ist oder nicht. Wie tief Karl in seine Arbeitswelt versinkt, zeigt sich daran, dass seine Rechnung noch bei Dolores’ Eintritt »alle seine Aufmerksamkeit gefesselt hielt.« (271) Karl sagt selbst dann »immer kein Wort und rechnet[...] fort« (271), als Dolores sich auf seine Schultern lehnt und mit seinem Haar spielt.246 Mag Dolores’ auch in Karls Planspielen eine tragende Rolle spielen, in der Realität jedenfalls ignoriert er seine Frau und setzt sie hinter seine Arbeit zurück. Auch der Charakter seines gegenwärtigen Bauvorhabens verrät überdeutlich, wie es um das Liebespaar steht: Karl hat sich vom gemeinsamen Schlossprojekt der Brautzeit – samt dessen erotischer Konnotation – verabschiedet. Er ist zwar dem Baugewerbe treu geblieben, widmet sich jetzt aber einem Sakralbau. Er preist mit seiner Baukunst nicht mehr seine heidnische sinnliche Baugöttin Dolores (vgl. Kapitel 2.2 dieser Studie), sondern den christlichen, monotheistischen Gott. Diese Christianisierung, die sich in der Abkehr vom säkularen zugunsten des religiösen Bauvorhabens widerspiegelt, spielt deutlich auf das traditionelle Begründungsmuster patriarchalischer Macht an. Karl unterwirft seine Liebe einem übergeordneten Ordnungsmodell: Die analogia entis beruft sich auf eine »Weltachse«, die per Analogieschluss den Ehemann als Familienoberhaupt, den Regenten als Staatsoberhaupt und den »lieben Gott« als Weltregenten gleichsetzt. Diese Achse stabilisiert die religiöse, die politische und familiäre Ordnung zugleich und unterstellt alle drei der patriarchalischen Macht.247 Wenn Karl sich so intensiv seinem Sakralbau zuwendet, verweist dies darauf, dass er sein Eheleben nach der Achse patriarchalischer Gewalt ausrichtet. Auch seine Liebe zu Dolores folgt dem Leitbild, das den Ehemann mit Gott analogisiert. Somit verliert die Liebe für Karl ihre Autonomie und wird in die göttliche Weltordnung eingebunden. In diesem Welt- und Liebessystem spielt Dolores zwar immer noch eine Rolle, aber eben nur noch eine untergeordnete. Dolores’ und Karls kurze, intime Begegnung, auf die ich später noch einmal zurückkomme (vgl. S. 190 dieser Studie), ist symptomatisch für die Liebesbeziehung des Paares auf dem Land. Diese ist im Vergleich zur Brautzeit von zwei einschneidenden Veränderungen geprägt: Karl ersetzt seine Liebe durch seine leidenschaftliche Arbeitswut. Und er löst seine Aktivität von der Welt, die er mit Dolores geteilt und die ihn mit ihr verbunden hat.
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Zum Haarmotiv vgl. die Verlobungsszene zwischen Karl und Dolores. Peter von Matt, Liebesverrat, S. 72.
Charakterisiert die Szene im Arbeitszimmer das Eheleben einerseits treffend, so ist sie andererseits doch alles andere als exemplarisch. Denn Karl gibt sich seinen beruflichen und gesellschaftlichen Interessen von der Erntearbeit bis zur Erziehung der Landjugend so ausschweifend hin, dass er seiner Frau, respektive seiner Liebe, nur noch in den Randzeiten des Tages Platz einräumt (vgl. 166, 169, 171, 234). Das Paar verbringt seine Zeit nicht mehr gemeinsam, sondern sieht und spricht sich nur noch für kurze Augenblicke entweder am frühen Morgen oder am Abend. Momente intimer Zweisamkeit bilden während des Landlebens die absolute Ausnahme. Über die gesamten Sommermonate hinweg sind Dolores und Karl insgesamt nur fünfmal unter sich. Und selbst in diesen Ausnahmesituationen hat Karl – wie gesehen – häufig nichts anderes zu tun, als sich seiner Arbeit zu widmen. Karl liebt nur noch dann, wenn er sich von seinen alltäglichen Verpflichtungen frei fühlt (336). Für den arbeitswütigen Grafen ist seine Frau zur Freizeitbeschäftigung herabgesunken. Die Liebe ist für ihn nur noch die schönste Nebensache der Welt. Sie ist für Karl ein lustvoll betriebenes Hobby, eine Freiheit, die er sich ab und an mal gönnt. Da die Liebe prinzipiell hinter seiner Werktätigkeit ansteht, hat sie für ihn augenscheinlich erheblich an Bedeutung verloren.248 Wie wenig Zeit unter diesen Umständen für die Liebe bleibt, führt Arnims Roman vor, indem er sein Augenmerk auf das Landleben insgesamt auf nur drei Episoden beschränkt, die jeweils nur wenige Tage andauern.249 Alles andere erzählt er nicht. Während dieser Zeit arbeitet Karl zwar nicht so viel arbeitet wie sonst, so heißt es, das Paar aber verbringt dennoch keine Zeit zu zweit. Es befindet sich nämlich unentwegt in Gesellschaft. Ständig ist es von Besuchern umgeben, bewirtet kleinere Gesellschaften und feiert beispielsweise Rosalies und Lorenz’ Hochzeit. Sehen sich Dolores und Karl aber kurz nach dem Aufstehen oder vor dem Einschlafen einmal, kommt es prompt zum Streit. Bereits der erste, detailliert geschilderte Tag des Paares auf dem Landgut liest sich wie ein Stenogramm der Trennungs- und Streitszenen: Karl steht vor seiner Frau auf (171), und als er sie schließlich wecken will, unterhält diese sich aus dem geöffneten Fenster mit dem hässlichen Baron
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Diese Degradierung der Liebe hinter die gesellschaftlichen Pflichten könnte man bereits anhand von Karls Abreise zur Universität festmachen. Allerdings ging dort die Rückreise noch nicht von Karl selbst aus, sondern er war finanziell dazu gezwungen. Nach einer iterativen Frequenz, in der die ersten Wochen seit der Ankunft des Paares auf dem Land zusammengefasst werden, verlangsamt die ›Gräfin Dolores‹ ihr Erzähltempo erstmals, um drei direkt aufeinander folgende Tage zu beschreiben. Diese setzen mit dem Streit zwischen dem hässlichen Baron und Dolores ein und enden mit dem Morgen nach Rosalies und Lorenz Hochzeit (vgl. S. 166–271). Nach einer »Reihe gleicher Tage« (285) wirft der Roman seinen zweiten Spot auf eine ebenfalls dreitägige Sequenz; diese reicht von Wallers Anreise bis zu seinem Auszug in den Krieg (vgl. 285–335). Der Landaufenthalt schließt mit einer stark gerafften Darstellung ab, aus der die Kirchweih, das Erntefest samt Traugotts Tod sowie die Abschiedsbesuche des Paares bei allen zuvor aufgetretenen Landbewohnern herausstechen. Auf diese drei Episoden beschränkt sich die gesamte Darstellung.
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(173). Zwei Stunden später kommt dieser mit seinen beiden Freunden Nudelhuber und Kirre in das Schloss (174). Zum Mittagessen verweist der Graf den Baron zwar des Hofes (188),250 bringt dafür aber selbst den Prediger Frank mit in das Schloss (ebd.). Mit dem Prediger verbringt das Paar den Rest des Tages (233), erst nach dessen Abreise ist es unter sich. Und was passiert? Es kommt zum Streit (234). Dolores und Karl schlafen in getrennten Zimmern. Am nächsten Tag gehen die beiden Partner wieder jeweils ihren eigenen Beschäftigungen nach. Das Eheleben zersplittert auf diese Weise in eine kontingente Folge weit auseinander liegender Einzelmomente. In diesen streitet Karl mit seiner Frau, den Rest seiner Zeit widmet er seinen vielfältigen Geschäften. Die Degradierung der Liebe in den zweiten Rang tritt noch deutlicher hervor, weil Karl eigentlich keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen müsste. Als reicher Erbe hat er längst ausgesorgt und ist – im Prinzip – zu keinem täglichen Broterwerb verpflichtet. Zudem entwertet Karl die Liebe zusätzlich, da er neben dieser ein zweites leidenschaftliches Hobby pflegt. Die Gartenkunst dient ihm als exklusive Ausgleichstätigkeit neben seiner landwirtschaftlichen Arbeit. Während letztere darauf ausgerichtet ist, mit der Ernte auch den Ertrag einzufahren, dient ihm die Anlage seines Landschaftsgartens jenseits allen Profitdenkens zur Repräsentation, zum ästhetischen Genuss (vgl. 369, 391) und – im religiösen Paradigma – zur Wiederherstellung des verlorenen Paradieses. Sie ist ein Luxusobjekt des Grafen (351, 369, 391), für das er das Geld ausgibt, das er woanders verdient. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sie außerhalb jeder ökonomischen Kalkulation steht. Kalkuliert wird hier über die Kosten und Nutzen von Karls fi nanzieller Investition in Bäume, Arbeitskräfte etc. hinaus zugleich auch die Verteilung von Karls Zeit und Aufmerksamkeit. Die Anlage seines Landschaftsparks ist – im Gegensatz zu Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ – kein gemeinsames Projekt der beiden Ehepartner. Garten- und Liebeskunst konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Grafen. Wenn Karl seine Arbeits- von seiner Freizeit separiert und außerdem vor jedem Kunstgenuss entscheiden muss, ob er sich lieber seiner Frau oder seinem Park widmen will, wenn er seine Investitionen jeweils abwägt, bemisst er sein Liebes- bzw. Gartenhobby stets mit einem kommerziellen Vergleichswert. Als Freizeit kommerzialisiert Karl
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Mit den Widersachern Karl und Baron verhandelt Arnims Roman die komplementären Gefühle Liebe vs. Ekel. Während der schöne Karl begehrt wird und anziehend wirkt, fühlen sich die Menschen von dem hässlichen Baron abgestoßen, und zwar von Geburt an: »Von meiner häßlichen Bildung, sagt er, kommt alles; Liebe zu erwecken schien mir von frühester Kindheit unmöglich, weil mich die eigene Mutter mit Abscheu anlachte, mit meinem Grinsen Possen trieb und mich dann im Ekel von sich warf.« (333) Kurz darauf ekelt sich Dolores vor Karl, als dieser verschmutzt von seiner Landarbeit nachhause kommt. Karl darauf: »es ist doch eine Störung im Vertrauen, einem geliebten Wesen auch nur für einen Moment ekelhaft gewesen zu sein.« (336) Zu den komplementären Konzepten »Liebe« und »Ekel« vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 2002 S. 7.
seine Liebe. Er macht sie zur Ware,251 und misst ihr einen spezifischen Wert zu. Was ihm Liebes-, respektive Gartenkunst aber wert sind, was er für sie ausgeben will, ob er sich der einen oder der anderen widmet, hängt allein von seinen Vorstellungen ab. Es unterliegt seiner Entscheidungsmacht. Damit ist die umsorgte Frau der patriarchalischen Herrschaft ebenso unterworfen wie der gehegte Landschaftspark.252 Nach welchen Kriterien Karl den Wert seiner Frau bemisst, was sie in seinen Augen liebenswert macht, welche Gegenleistung er von ihr für seine Zuwendung erwartet, ist von erstaunlicher Klischeehaftigkeit. Karls Vorstellungen folgen exakt der um 1800 ebenso konventionellen wie unumgänglichen Rollendefinition der Geschlechter, nach »der sich die Frau für Haus und Kinder und der Mann mit seinem Beruf für das Auskommen der Familie verantwortlich zeigt.«253 Von Fichte bis Kant, von Knigge bis Schleiermacher sind sich alle Theoretiker über diese Ordnung der Geschlechter einig.254 Auch Hegel lässt keinen Zweifel: Der Mann hat daher sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweiung die selbständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjektive Sittlichkeit er in der Familie hat, in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Bestimmung hat. [Hervorhebung im Original, C. M.]255
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Vgl. zu Adornos Bemerkung und ihrer poetologische Relevanz auch: Ina Hartwig, Sexuelle Poetik. Proust. Musil. Genet. Jelinek, Frankfurt am Main 1998, S. 233. Die Homologie zwischen Garten- und Liebeskunst, erweist sich in ihren fatalen Folgen auch darin, dass Karl seine Vorliebe für Garten- und Liebe ausgerechnet mit dem Markese teilt (369). Und er im darauf folgenden Sommer Dolores und Markese erst zu zweit in der Stadt zurücklässt, während er aufs Land zieht, und dann auch noch den falschen Freund mit auf seine Landgut nimmt, um ihm seinen Landschaftspark zu zeigen. Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 45, außerdem S. 35, 47, 100ff. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt 1992. Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 318f. Vgl. auch Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 100. Oder Wilhelm von Humboldt, Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur. In: Die Horen, 1795, Zweytes Stück, S. 99–132. In diesem Punkt stimmen Fichte, der das Weibliche aus dem Naturrecht als »leidend passiv« bestimmt (Johann Gottlieb Fichte, Grundriß des Familienrechts (als erster Anhang des Naturrechts). Erster Abschnitt. Deduktion der Ehe. In: Johann Gottlieb Fichte, Auswahl in sechs Bänden, hg. u. eingel. von Fritz Medicus, Bd. 2, Schriften v. 1796–1798, Leipzig o. J, S. 308–322) und Kant überein: »Die Natur will, daß das Weib gesucht werde; daher mußte sie selbst nicht so delicat in der Wahl nach Geschmack sein, wie der Mann.« Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798. In: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Anthropologische Charakteristik: B. Vom Charakter des Geschlechts, Darmstadt 1966, S. 653. Selbst Schleiermacher geht nicht gegen das patriarchalische Geschlechterverhältnis an. Vgl. dazu auch Bettina Recker, Ewige Dauer, S. 93ff. Dass diese Diskussion noch weit bis in das 20. Jahrhundert von Brisanz ist, sieht man beispielsweise an Elfriede Jelineks Roman »Lust«. Dazu Ina Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 228–277.
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– Oder noch prägnanter, der Mann verkörpert »nach Außen das Mächtige und Bethätigende«, die Frau »das Passive und Subjektive«.256 Karl steht den (ihrerseits männlichen) Theoretikern in nichts nach. Liebenswert ist Dolores in seinen Augen, solange sie dieser Typisierung entspricht. Konkret bedeutet dies, dass Karl erstens größten Wert darauf legt, dass Dolores die Hauswirtschaft ordentlich führt (189 und 347).257 Zweitens macht es Dolores in seinen Augen liebenswert, wenn sie nach außen sittsam und treu ist (166, 233f.), sie auf Karl aber zugleich sinnlich-schön und erotisch-anziehend wirkt (340). Außerdem soll sie jederzeit bereit sein, ihren Mann zu verführen.258 Drittens ist für Karl im Rahmen der ehelichen Liebesökonomie die obligatorische Familiengründung von entscheidender Bedeutung. Dolores soll ihm Kinder schenken – so die von ihm gewünschte, oder eher schon geforderte Gegengabe. Die »Fortpflanzung« ist für Karl – erneut in Analogie sowohl zur Gartenkunst als auch zur Landwirtschaft – ein langfristiges, zukunftsträchtiges Projekt, dessen Ertrag sich erst über Generationen hinweg auszahlt. Karl erinnert seine Frau in regelmäßigem Abstand an seinen Kinderwunsch und ihre Mutterpflicht (vgl. 286). Kehrt man unter den bis hierhin erarbeiteten Prämissen noch einmal zu Dolores’ und Karls Begegnung im Arbeitszimmer zurück (vgl. S. 186 dieser Studie), so lässt sich die Symptomatik des eingangs bereits betrachteten Kirchbaugesprächs um zwei Aspekte erweitern. Zunächst führt die Szene vor, dass Karl nur noch ein sexuelles Interesse an seiner Frau hegt. Karls unterbricht seine Arbeit an der Kirchenrechnung nämlich erst, als Dolores mit dem Kompliment »ich glaube, du wirst noch ein Baumeister« (vgl. S. 271,131) auf die gemeinsame erotische Baugeschichte anspielt. Die sexuelle Konnotation ihrer Worte verstärkt sie dadurch, dass sie Karl
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Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil: Die Sittlichkeit: Erster Abschnitt: Die Familie. In: G. W. F. Hegel. Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt am Main 1995, S. 309–323, hier: S. 318. Den »Grafen kränkte es tief«, wie Dolores sich über den »würdigen häuslichen Kreis hinaussetzte, dessen ernste Pflichten zu erfüllen sie weder Mut noch Geschick habe, dessen Unterhaltung zu verstehen ihr Kenntnis alles Einzelnen ländlicher Haushaltung abgehe.« (189) Seinen Anspruch wiederholt Karl ein zweites Mal als Waller sich (indirekt) über die Ordnung des Hauses beschwert. »Liebe Dolores, antwortete der Graf, das kann wahr sein, wo die Frau sich um nichts bekümmert, werden Bediente leicht unhöflich, mir ist es wie jedem Manne unerträglich, mich um so etwas zu kümmern.« (347) Ricklefs geht zunächst noch einen Schritt weiter, indem er behauptet: »Auf die Sinnlichkeit der Gräfin ist des Grafen Liebe bezogen als ›zum schönsten Wesen, das je atmend zwei liebreiche, weiße Hügel bewegt, an die je anspielend der Wind, je näher, je schöneren Leib, Hüften und Schenkel gezeichnet.‹« Kurioserweise folgert Ricklefs – vielleicht ist er über die eigene Lektüre erschrocken, weil er Arnim selbst mit Karl identifiziert und damit auch dem Autor dort Sinnlichkeit unterstellt, wo Sittsamkeit zu herrschen hat – dass die »Stelle keineswegs die Lüsternheit der Romanfigur, des Autors oder Lesers« bediene. Vgl. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe, S. 257. Was sie dann aber bedient, lässt Ricklefs vorsichtshalber offen.
als Zeichen ihrer Wertschätzung, nicht etwa mit Lorbeer, sondern mit Küssen umkränzt: »Dabei küßte sie ihm einen Kranz um die Stirn […].« Karls Reaktion spricht für sich: »und dieses Entgegenkommen war bei ihr so selten, daß der Graf die ganze verwickelte Rechnung zur Seite schob, [...], die Gräfin auf seinen Schoß setzte und sie herzlich küßte.« (271) Karl unterbricht seine Arbeit jetzt zwar und bedauert sogar, sich »in so vielerlei Arbeit eingelassen« (272) zu haben, doch seine Zuwendung bleibt eine Attitüde, da sie in den eigenen patriarchalischen, klischeehaften Vorstellungen verhaftet bleibt. Ihn interessiert absolut nicht, welches Problem Dolores auf dem Herzen hat, sondern nur ihre sinnliche Ausstrahlung. Daran wird außerdem sichtbar, dass Karl mit seiner Frau nur im Rückgriff auf die oben entworfene Rollentypologie kommuniziert. Statt sie individuell anzusprechen, reproduziert er Stereotypen. Es verwundert daher nicht, dass Dolores ablehnend reagiert: Die Gräfin aber sprang auf und rief: Ich glaube es ist das einzige Vergnügen, was du mir zu machen weißt, daß du mich küssest; sonst, ehe wir verheiratet waren, brachtest du alle Tage etwas zum Vorlesen; ja das war gute Zeit; jetzt bist du entweder in Geschäften, oder du denkst an Geschäfte, ich glaube, daß ich künftig dein Schreiber werden muß, wenn ich etwas von dir hören und sehen will. (271f.)
Dolores trifft den Nagel auf den Kopf, prägnant beschreibt sie ihre Liebessituation. Doch selbst, wenn Dolores ihren Mann mit der Wahrheit konfrontiert, ändert das sein Verhalten nicht. Auch nachdem Dolores Karls sexuelles Ansinnen abgelehnt hat und ihn auffordert, ihr stattdessen etwas vorzulesen, folgt er zwar scheinbar ihrem Wunsch, aber eigentlich verschaltet er nur das eine patriarchalische Vorstellungs- und Verhaltensmuster mit dem nächsten: Karl hat nämlich nichts anderes zur Hand als ausgerechnet religiöse Erbauungsliteratur (272): Die »Briefe eines wandernden Einsiedlers und einer Mohrin, welche Nonne wurde« (ebd.). Sakraler Baumeister war er, als er mit dem Kirchbau beschäftigt war, ein solcher bleibt er, wenn er Dolores vorliest, um sie didaktisch zu bilden. Das Paar bewegt sich demnach weiter im Machtgefüge patriarchalischer Vorstellungen. Karl reproduziert nur das Klischee des männlichen Erziehers und der weiblichen Schülerin, das den Briefverkehr zwischen der »Mohrin und einem Einsiedler« (s.o) bestimmt. Aus Karls Sicht lässt sich Dolores als seine »himmlische Braut« sehr gut mit der »Mohrin« identifizieren, zumal diese den Einsiedler komplementär als »himmlischen Bräutigam« und als »heiligen Vater« (277) anspricht. In einem weiteren Punkt bleibt Karl seinen stereotypen Vorstellungen treu, obwohl er vermeintlich auf Dolores’ Wünsche eingeht. Geradezu süffisant zitiert Arnims Roman an dieser Stelle den Topos des lesenden Liebespaares. Immerhin löste die wohl berühmteste gemeinsame Lektüre, die in Dantes ›Göttlicher Komödie‹ verewigt wurde, bei dem Liebespaar Francesca und Paolo da Rimini ein derart heftiges Begehren aus, dass sie alle Sittsamkeit über Bord warfen, um sich umgehend zu vereinigen. Ja, tatsächlich enthält auch der Briefverkehr, den Karl seiner Dolores vorliest, eine Reihe sexueller Anspielungen, beispielsweise, wenn die Einsiedlerin wünscht: »Kommt zu mir heiliger Vater, und vereinigt euch mit 191
mir.« (280). Karl legt es also weiterhin auf erotische Konnotationen an – Verführung bleibt sein Ziel. Doch Arnims Roman kodiert den Topos des lesenden Liebespaares in diesem Fall zu einer Trennungsgeschichte um. Der religiöse Text trennt das Liebespaar nicht nur insofern, als es während der Lektüre eben nicht mehr in eigenen Worten miteinander kommuniziert, sondern auch, weil das religiöse Paradigma das Paar in keiner Weise verbindet. Im Gegenteil, von Anfang an stand Karls Religiosität zwischen den beiden Partnern. Prompt scheitert die identifikatorische Lektüre. Denn in Dolores’ Augen verweist das religiöse Paradigma (auch im Synkretismus mit der Liebe) nicht auf sie, sondern stets auf ihre Schwester Klelia. »Dolores meinte am Schlusse dieser Briefe, Klelia hätte auch solche Heilige werden können« (281) Mit diesem Kommentar spricht Dolores aus, was Karl offensichtlich die ganze Zeit über (bewusst oder unbewusst) im Sinn gehabt hat: Der (heilige) Moment gemeinsamer Lektüre impliziert stets die alte, bereits bekannte Dreierkonstellation. Die Szene erzeugt keine intime Zweisamkeit, sondern webt das Paar in ein über dieses hinaus reichendes Beziehungsnetz ein. Anders gesagt, der Roman stellt heraus, dass Karl (heimlich) an Klelia denkt, wenn er im Sinne seines religiösen Idealbildes mit Dolores spricht. Eine Situation, die einem Treuebruch zumindest sehr nahe kommt. Indem der Roman sowohl die fehlende Individualität des Gesprächs als auch die wieder aufschimmernde Konkurrenz der beiden Schwestern weiter zuspitzt, arbeitet er Karls Ignoranz gegenüber seiner Frau als dessen Demütigungsstrategie heraus. Da die Störung der Liebesdyade längst zum narrativen Prinzip geworden ist, trifft just in jenem Augenblick, in dem Dolores ihre Schwester erwähnt, Klelias erster Brief aus Italien bei dem Paar ein: »Wie es sich aber oft so sonderbar mit ersehnten Briefen trifft, so kam der Briefbote während dieser Unterhaltung mit einem dicken Briefe zurück, […] ein Brief von Klelien.« (281)259 Und prompt mündet die zweite gemeinsame Lektüre des Paares ausdrücklich in Karls Wunsch, Klelia nach Deutschland zurückzuholen. Karl will – ungeachtet der vorherigen Probleme – die alte Dreiecksbeziehung wieder aufleben lassen.260 Umgehend erkennt Dolores die
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Wenn das Paar nach dieser Unterbrechung, Klelias Brief gemeinsam liest, wird die Lektüretechnik zur endgültigen Persiflage der topischen Liebeslektüre. Das Paar liest den Brief gemeinsam und getrennt zugleich: Dolores liest leise für sich, der Graf aber »las immer die umgeschlagenen Blätter laut ab […].« (281) Der Leser aber liest (wieder einmal) mit Karls Augen mit, sodass auch er nur bruchstückhaft von Klelias Schicksal erfährt. Die herausgerissenen Texteinheiten, machen überdeutlich, dass nur ein Teil des Ganzen wahrgenommen werden kann. Die Lektüre erzeugt sinnhaften Unsinn. Der zerrissene Text, den der Leser liest, spiegelt die Zerrissenheit des Paares wider. Auffällig ist, dass Klelia Leben sich um die gleichen Ereignisse dreht wie Karls Landleben: Sie stickt Blumen auf ein »herrliches Messgewand« für die heilige Rosalie (!), das mit Blumen verziert ist, während Karl noch am Tag zuvor den Hof für Rosalies Hochzeit mit Blumen geschmückt hatte. Sie schreibt von einer Kapelle (282), die mit Karls Kirchbau korrespondiert, und sie findet eine Steinplatte hinter ihrem Herd, auf welcher die Göttin des Frühlings dargestellt ist (283, 31f.). Während der Herd auf die von Karl
Gefahr, gegen Klelia ausgetauscht zu werden: »Es ist gut, dass sie nicht hier ist, so wie du jetzt gesinnt bist, würdest du sie sicher mir vorziehen; sie störte dich niemals, widerspräche dir nie, was du tätest und sagtest, wäre ihr immer recht; ich bin dir zu aufrichtig, zu freimütig.« (283) (Eine Einschätzung, die sie mit diesem Kommentar performativ beweist.) Karl seinerseits bestätigt, obwohl er das Gegenteil behauptet, postwendend ihre Befürchtung. Noch während er Dolores antwortet,261 beginnt er zugleich, einen Einladungsbrief an Klelia zu schreiben. Schreibend aber verliert er seine Frau vollständig aus den Augen, sodass sie, von ihm nicht einmal mehr bemerkt, kurze Zeit darauf den Raum verlässt. Karl marginalisiert seine Frau, er tauscht sie – außer es geht um Sex – gegen ihre Schwester aus. Auf diesen symbolischen Ehebruch lässt Karl gleich einen zweiten folgen. Immer noch schreibend, drückt Karl ohne aufzusehen die neben ihm ruhende Hand, »und seine Hand wurde zärtlich wieder gedrückt, zugleich fühlte er einen heftigen Kuß, der auf der Oberfläche der Hand haftete.« (284) Karl greift aber nicht Dolores’ Hand, sondern die ihrer zweiten Kammerfrau Ilse. Sowohl die Anmerkung des Erzählers: »Die tolle Ilse war wirklich in den Grafen verliebt, wie gemeiniglich alle Dorfmädchen in ihren Gutsherren« (284) samt seiner folgenden Ausführungen über die Verführungskünste männlicher Adliger (ebd.) als auch die Tatsache, dass Ilse Karl die männlichen, in diesem Kontext deutlich sexuell kodierten Insignien »Stock und Hut« bringt, legen den zweiten Frauentausch nahe.262 Die Szene verweist provokant auf die Promiskuität des Mannes.263 Deutlich führt sie die Gefahren der patriarchalischen Entindividualisierung und Funktionalisierung der Frau vor. Diese führen zur Entgrenzung der Ökonomisierung.264 Frauen sind, wenn ih-
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so geschätzte, weibliche Hausarbeit verweist, korrespondiert die Frühlingsallegorie mit Karls Frühlingsgefühlen. Auch Karls Rede ist vielsagend: »es ist mir gerade das Teuerste an dir, daß du so fest begründet, so sicher in dir lebst, um alle fremde Gesinnung zu verschmähen, um von niemand etwas anzunehmen, um ... doch da war er schon so vertieft in seinen Einladungsbrief an Klelien, daß Dolores, ohne daß er es merkte, das Zimmer verlassen hatte, während er noch immer einzelne Worte zu ihr redete.« (283) Die Vermessung ihres »Wertes« mit dem ökonomischen Superlativ »Teuerste« deutet an, dass hier der kühl kalkulierende Geschäftsmann spricht. Diese Wanderung »männlicher Insignien« erkennt bereits Wingertszahn, der sie allerdings nur als punktuelle »Karnevalisierung« der moralischen Eheinstanz liest. Christoph Wingertszahn, Ambivalenz und Ambiguität, S. 305. So ist es ausdrücklich nicht der Mann, sondern die arme Frau, die »solch ein Band […] oft mit dem Teuersten bezahlt.« (284) Was das bedeutet, spielt der Roman noch einmal analog anhand der Gartenkunst durch: Als Hobbygärtner bzw. -liebhaber verliert Karl nach einem Wassersturz – das zum einen als Einbruch der Naturgewalt in die schön umhegte Kulturlandschaft zum anderen als Sinnbild der zerrinnenden Zeit fungiert – schlagartig alle Lust an der Gartenkunst. Da ihm das Unglück »das ganze Unternehmen verhaßt« (351) gemacht hat, gibt er alle Pflanzungen von einem Tag auf den nächsten auf (vgl. 351) – nur, um im nächsten Sommer
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nen wie von Karl jede Individualität abgesprochen wird, prinzipiell austauschbar,265 und zwar nach Lust und Laune des Patriarchen (384, 392). Wenn der Erzähler nach diesen Äußerungen feststellt: »Solche Reihen gleicher Tage, von außen still, voll abwechselnder innerer Bewegung, überspringen wir, denn das Glück lehrt nicht, es ist ein Geheimnis« (285), kann man dies nur als ironischen Kommentar zu Karls Liebe lesen, welche Dolores’ Demütigung und sein Recht auf Ehebruch grundsätzlich einschließt. 4.3
Die Unterdrückung der (Ehe-)Frau: Dolores chancenlos
Während Karl als Patriarch tun und lassen darf, was er will, spricht er Dolores umgekehrt jede Handlungsfreiheit ab. Seine Vorstellungen haben für Dolores unbedingte Geltung. Karl fehlt nicht nur das Interesse an seiner Frau, er zwingt ihr zugleich seine patriarchalische Weltsicht auf. Er löst die Synchronizität von Dolores’ und seiner Lebenswelt, das Nebeneinander ihrer unterschiedlichen Ansichten auf, welche noch die Brautzeit ausgezeichnet hat, und schwenkt auf einen Konfrontationskurs um. Will Dolores von ihm geliebt werden, muss sie sich seinen Idealen beugen. Karl initiiert einen Machtkampf. Aufgrund dieser zweiten Veränderung, die mit der Tatsache korreliert, dass die Liebe für Karl an Wert verliert, entsteht ein Kontrast zwischen Braut- und Ehezeit. Angesichts dieser Opposition schlage ich im Gegensatz zu Klaus Peters »moralischer Topografie« (vgl. S. 112 dieser Studie), die zwischen verderblichem Stadt und harmonischem Landleben differenziert, vor, den städtischen Palast als einen Ort zu bezeichnen, an dem die patriarchalische Macht suspendiert ist, und der somit Dolores’ weiblich kodiertem Familienkreis zuzuordnen ist. Dort zeichnet sich das (Liebes)Leben dadurch aus, dass die patriarchalische Ordnung schon zur Regierungszeit des Vaters, erst recht aber nach der väterlichen Flucht aufgehoben ist. In ihrem Schloss agiert Dolores von ihrer Kindheit an über ihre Liebesinitiation hinweg bis zu ihrer Brautzeit zwar nicht vollkommen frei von den topologischen weiblichen Stereotpyen, aber sie hat dort doch die Möglichkeit, die althergebrachten Grenzen auszuweiten.266 Sie konnte ihr Leben und Lieben
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mit der Anlage eines neuen Landschaftsparks zu beginnen und seine alte Liebe wieder auferstehen zu lassen. Willkür ist das Gesetz des Herrschers. Karls Frauentausch wiederholt sich späterhin nicht nur mit der Fürstin, sondern auch noch einmal mit Arnica Montana. Während Dolores nämlich mit dem Markese anbandelt, ist Karl mit Arnica zusammen. Erneut konstituiert sich eine Viererkonstellation Markese – Divina, Karl – Arnica, welche die Viererbeziehung von Markese – Dolores, Karl – Klelia wiederholt. Divina hatte mit dem Markese ja schon vor Dolores ein Verhältnis, die Figuren sind also über Karl und den Markese miteinander verbunden. Bereits dies deutet darauf hin, dass die Begegnung mit Arnica Teil einer Liebesgeschichte ist. Arnica Montana, welche nach Karls Eindruck dieselbe Stimme wie Dolores hat, ist zugleich auch ein Akronym des Autornamens »ArniM«, so setzt sich das Spiel der Verweisungen fort. Arnims Roman – so darf man folgern – liebt solche Spielchen. Wenn man beachtet, dass Dolores offenbar nicht erlaubt ist, die Universität zu besu-
individuell gestalten. Den »neuen Kreis« (165) des Paares, Karls Landsitz, ordne ich hingegen seinem patriarchalisch kodierten Familienkreis zu. Auf seinem väterlichen Stammschloss beansprucht Karl als rechtmäßiger Erbe, als Hausherr und als regierender Graf die männliche Autorität. Aus dieser Legitimität leitet Karl seinen Anspruch als Ehemann ab, Dolores’ Handlungsspielraum diktieren zu können. Hat sich Karl zuvor nur selbst an den Vorgaben des Geschlechterkodes orientiert und nur seine Kommunikation nach dessen Stereotypen ausgerichtet, entwickelt er sich in seiner neuen Position und in seinem neuen Umfeld zum Dogmatiker. Karls Selbstverständnis duldet keine Ausnahme und erzwingt damit einen Konflikt mit Dolores’ Liebesvorstellungen. Während des Ehelebens auf dem Land konstituieren sich demnach zwei Konfliktparteien. Zwischen dem Paar entbrennt ein Machtkampf, der von überindividueller Bedeutung ist. Es stehen sich gegenüber: Auf der einen Seite Karl, der sich mit seinem universalen Machtanspruch auf die traditionell naturrechtlich verankerten Geschlechterrollen beruft. Auf der anderen Seite Dolores, die sich den schematischen Vorstellungen ihres Mannes – nicht weniger narzisstisch veranlagt als dieser – widersetzt. Dolores Standpunkt ist alles andere als aus der Luft gegriffen, oder einfach nur ihrem vermeintlichen Hochmut zuzuschreiben. Ihre Position ist im Rahmen der Handlung doppelt legitimiert, sodass sich auch zwei Dimensionen des Geschlechterkampfes ergeben: eine theoretische, diskursive einerseits, eine individualisierte, liebes- und lebensgeschichtliche andererseits. Wenn Dolores sich weigert, sich der patriarchalischen Gewalt ihres Mannes und seinen stereotypen Vorstellungen von den Funktionen einer Frau zu unterwerfen, kann sie sich auf die Theoreme romantischer Liebe berufen. Diese versprechen ihr mit ihrem »Gegenseitigkeitsenthusiasmus«, »der keine geschlechtliche Asymmetrie kennt«, »Egalität und Autonomie.«267 Vor diesem Hintergrund tragen die beiden Ehepartner stellvertretend einen Konflikt zwischen den Gegensätzen aus, welche der romantische Liebescode zu vereinen sucht, deren Spannungsverhältnis aber dauerhaft nicht zu überdecken ist. Der Ehestreit entwickelt sich aus einer der zentralen Paradoxien romantischer Liebe. Denn dieselben Romantiker, die im Rahmen der Liebesinitiation emphatisch die Gleichheit der Geschlechter, die Individualität und Autonomie der Liebesentscheidung fordern, sprechen der Frau innerhalb ihres Ehekonzepts und den von ihnen (zum Teil) naturrechtlich verorteten Geschlechterrollen eben diese wieder ab. Arnim entfacht im Zuge seiner Ehegeschichte gemeinsam mit dem Geschlechterkampf einen Konflikt der Theoreme. Dieser bildet den Kern von Dolo-
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chen, ihr also ein Bildungsweg, der äquivalent zu Karls Ausbildung wäre, versagt bleibt, zeigt sich, wie weit die Überlegungen von Arnims Roman reichen. An dieser Stelle der Liebesgeschichte, welche eben auch schon nach den patriarchalischen Restriktionen der Frau funktioniert, müsste man bei einer Genderstudie von Arnims Roman einsetzen. Bereits bei Dolores’ Ausbildung gerät die Liebesbeziehung ins Ungleichgewicht. Romane, die nach dem Muster der Bildungsromane ablaufen, verbergen dies! Hartmann Tyrell, Romantische Liebe, S. 582.
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res’ Ehegeschichte, der in seiner Tragweite überhaupt nicht zu überschätzen ist. In diesem Sinne bildet Arnims Roman weniger eine gesellschaftliche Realität ab, als er vielmehr ein Bezugssystem von Liebes- respektive Ehetheoremen erstellt, die den Diskurs um 1800 prägen. Ohne die Kenntnisse dieser Theoreme ist das »künstliche« Landleben der Figuren, ist Dolores’ und Karls Handeln und ist letztlich Dolores’ Ehebruch nicht zu verstehen. Über diese diskursive Ebene hinaus kann Dolores sich außerdem auf ihre eigene Liebesgeschichte berufen. Denn ihre Liebesbeziehung mit Karl beruht ja auf ihrem selbstständigen, autonomen Handeln. Dolores und Karl haben sich nur gefunden, weil sie während ihrer Liebesinitiation dem romantischen Egalitätsideal gefolgt sind. Dolores unterscheidet sich aus romantischer Perspektive demnach positiv von Klelia, die in ihrer passiven Rolle ihrerseits überhaupt nicht gut wegkommt. Hätte Dolores sich wie ihre Schwester in eine passive Rolle begeben, sich stumm in ihre Kammer zurückgezogen und Karls Bitte, sie im Schloss besuchen zu dürfen, strikt abgelehnt; hätte sie sich also dem Geschlechterkode unterworfen, dann wäre das Paar erst gar nicht zusammen gekommen. In der Ehe stört sich Karl somit an den Eigenschaften seiner Frau, die das Fundament ihrer Liebe bilden. Auf dieser zweiten Ebene des Machtkampfes geraten also Vergangenheit und Gegenwart der Liebesgeschichte in Konflikt. Gemessen an der eigenen Geschichte ihrer Liebe, gemessen am romantischen Egalitätspostulat, ist Dolores vollkommen im Recht, wenn sie sich in der Ehe auf die Zusagen beruft, die das romantische Liebeskonzept ihr als Frau macht. Anhand der Reflexionsfigur »Dolores« kollidiert das romantische Ehekonzept mit dem Entwurf der individualisierten Liebesentscheidung, es kollidieren die Egalität der Geschlechter und die Unterdrückung der Frau, welche der Ehe um 1800 offensichtlich von der Beschaffung der Verlobungsringe an immanent ist.268 Diesem Konflikt ausgesetzt, führt Dolores daher keinen hochmütigen, sondern einen existentiellen Kampf darum, auch während ihrer Ehe ihre Individualität und Autonomie gegen die sie allseits unterwerfende patriarchalische Gewalt zu bewahren.269 Ihre Enttäuschung über die von der romantischen Liebe (und von Karl beispielsweise per Geldgeschenk) versprochenen Erwartungen treiben Dolores Handlungen an. Diese provozieren ausnahmslos während aller intimen Begegnungen den Streit zwischen den Partnern. Tatsächlich darf Dolores im Gegensatz zu ihrem Mann und im Kontrast zu ihrer Schwester in Italien sowie in Opposition zu ihrer Kindheit, Initiation und
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Auf dieses Konfliktmuster verweist auch Peter von Matt explizit. Vgl. Peter von Matt, Liebesverrat, S. 72. Dolores widersetzt sich nicht der Ökonomisierung der Liebe, sondern der patriarchalischen Regulation der Zirkulationsmechanismen. Sie will also nicht die Romantik pur, dafür ist sie selbst viel zu realistisch und zu reflektiert. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn sie kurz nach der Geburt ihres Kindes, selbst explizit auf das Paradigma des Geldverkehrs verweisend, behauptet, »sie würde um keinen Preis der Welt je wieder in die Wochen kommen.« [meine Hervorhebung, C. M.] (365)
Brautzeit nicht mehr tun, was sie will. Außer, sie riskiert, die soziale Ordnung der Ehe zu gefährden. Aber darauf – so zeigen die folgenden Überlegungen – legt es Dolores zunächst überhaupt nicht an. Vielmehr führt jede einzelne intime Kommunikation des Paares die gewaltsame Unterdrückung von Dolores’ Wünschen und Vorstellungen vor. Die Konfrontation zwischen ihren (Liebes-)vorstellungen und denen ihres Mannes entsteht auf der Handlungsebene auf drei unterschiedliche Arten. Erstens durch Ermahnungen und Kritik, zweitens durch Karls massive Eingriffe in die (ökonomischen) Angelegenheiten der Haushaltsführung, die ihr sogar nach dem patriarchalischen Code zugeschrieben sind, und drittens durch Verbote, die ihr von Karl zugewiesene Welt zu verlassen. Entspricht Dolores nicht den männlichen Stereotypen, erweckt sie umgehend den Missmut ihres Mannes, beziehungsweise den der beiden männlichen Zentralfiguren, denn der Erzähler steht Karl ja in nichts nach. Sie muss sich zurechtweisen lassen oder mit der Verstimmung ihres Mannes auskommen. Beispielsweise »kränkte es [den Grafen (C. M.)]) tief«, so betont der Erzähler, als sich Dolores eines Morgens mit den Geschichten des hässlichen Barons und seiner Freunde unterhalten lässt, statt sich ihrem Haushalt zu widmen. Prompt bezichtigt Karl bezichtigt Dolores des Hochmuts und wirft ihr vor, dass sie sich über den »würdigen häuslichen Kreis hinaussetze, dessen ernste Pflichten zu erfüllen sie weder Mut noch Geschick habe, dessen Unterhaltung zu verstehen ihr Kenntnis alles Einzelnen ländlicher Haushaltung abgehe.« (189) Die Kritik nimmt an Schärfe zu, als Dolores dem Kinderwunsch ihres Mannes nicht schnell genug nachkommt (vgl. 271). Wie nachdrücklich Karl das zuvor fein austarierte Kommunikationsgleichgewicht stört, wird deutlich, wenn er in das – aus seiner Perspektive doch eigentlich Dolores zugeschriebene – häusliche Feld eingreift und den dortigen Konsum reglementiert: Dolores hat die »tolle Ilse« in Karls Abwesenheit als zweite Kammerjungfer angestellt. Für ein vermögendes Paar eine finanzielle Kleinigkeit, zumal seine Frau ihrer weiblichen Rolle treu geblieben ist und mit der Kammerjungfer – wie die metonymische Brücke hervorhebt – ganz vorbildlich in das Paradigma »Haushalt« investiert hat. Doch Karl belehrt Dolores in einer Grundsatzrede über die Ethik des Konsums und die weibliche Erziehung. Ilse hat nämlich erst vor kurzem ihren Bräutigam sitzen lassen, und zwar aus einem einfachen Grund. Sie wollte nicht »kochen und backen und brauen für alle; Sommers auf dem Felde arbeiten, Winters spinnen, mit Schmerzen Kinder gebären und die kleinen schmutzigen Tiere säugen und waschen und wickeln« (171). Sie hat sich also konsequent dem männlichen Bild von Weiblichkeit widersetzt. Karl seinerseits insistiert auf die Verbindlichkeit des patriarchalischen Regelkanons: Liebes Kind, antwortete der Graf, du weißt dein Wille ist der meine; aber gedenk daran, daß es eine schlechte Aufmunterung für brave Mädchen ist, wenn so ein freches verwogenes Weibsbild ihr Glück macht; nirgend muß das Geld mit mehrerer Schonung und Billigkeit wieder verteilt werden, als da, wo es im mühsamen Gewerbe gewonnen wird; manche Verschwendung ist uns in der Stadt erlaubt, wo keiner weiß, mit welcher Anstrengung es zu kleinen Hauszinsen gesammelt worden, und es fällt doch den armen
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Leuten auf, zwei Mädchen bei dir müßig zu sehen, die nur eines bei meiner Mutter gewohnt waren, aber wie viel mehr, so ein nichtsnutziges Mädchen in dem Staate zu sehen, nach welchem die Besten umsonst trachten. (170)
Der Ehemann spricht seiner Frau, die er väterlich herblassend mit »liebes Kind« anredet, die ökonomische Freiheit ab und versagt ihr sowie ihren Vorstellungen, gleichwertig zu seinen eigenen Vorstellungen zu sein. Auch Karls Formel »dein Wille ist der meine« gerät im Zuge dieser Überlegung zumindest ins Zwielicht. Immerhin macht er den Willen der Frau zum Eigentum des Mannes. Im Rückblick zumindest ist Karl also nur (finanziell) großzügig gewesen, als Dolores’ Wille nicht über das patriarchalische Machtgefüge hinausreichte. Offensichtlich war ihm aber fern, ihre (Entscheidungs-)Freiheit, ihre Individualität und Gleichberechtigung anzuerkennen. Statt eigenverantwortlich zu investieren, darf Dolores das Geld nur in Karls angeblich moralischem Sinne ausgeben.270 Der Geldverkehr gehorcht jetzt den Prinzipien patriarchalischer Macht. Das Geld entfaltet in der Ehe seine bürgerliche Individualisierungstendenz: Derjenige, der das Geld erarbeitet und in Karls Fall geerbt hat, darf auch darüber verfügen.271 Auf diese Weise wirkt das Geld beziehungsfeindlich. Es manifestiert die vollkommene Abhängigkeit der weiblichen Geldnehmerin vom (arbeits-)tätigen Geldgeber.272 Dolores scheitert auch dann an den Restriktionen des Patriarchats, wenn sie sich anscheinend über die Wünsche ihres Mannes hinwegsetzt. Noch einmal geht es um Dolores’ Wunsch, die tolle Ilse als Kammerjungfrau anzustellen (171). Tatsächlich gelingt es ihr, Karl nach dessen moralischer Grundsatzrede von dieser Idee zu überzeugen (171). Dolores betreibt eine aggressive Mimikry, wenn sie ihren Mann erst im Gestus der kindlichen Verführerin umschmeichelt und ihn so in seiner Wunschrolle als »väterlichen Erzieher« bestärkt (171). Sie schlüpft mit ihrer
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In welchem Sinne, das führt der Roman vor, indem er noch einmal zeigt, wie Karl sich narzisstisch selbst täuscht: Karl riskiert wieder einen seiner auf Distanz beruhenden, projektiven Fensterblicke. Er sieht Dolores, wie sie Rosalie und Lorenz einen Sack Geld zuwirft, damit diese es zu ihrer Hochzeit verwenden (236). In Karls Augen revidiert Dolores damit das vorherige Bild der oberflächlichen Konsumentin zugunsten der Vorstellung einer Wohltäterin. Als Karl hört, wie Dolores »zu ihnen mit einer schönen Träne« (236) seufzt: »Seid glücklicher als ich!« (236), schließt Karl in narzisstischer Verblendung: »Warum war sie nicht glücklich, sie vermißte ihn, einige Stunden Trennung von ihm machten sie unglücklich.« (236). Karl ist damit versöhnt und eilt zu seiner Frau. In Wahrheit aber leidet Dolores nicht daran, dass sie ihren Mann für ein paar Stunden entbehren musste, sondern daran, dass sie ein Opfer von Karls Repressalien geworden ist. Und dieses Leid wird nicht gestillt, sondern von dem folgenden Hochzeitsfest nur überdeckt. Konsequent spielt der Roman diese Konstellation aus, wenn aus Dolores’ angeblichem Luxus Notwendigkeit wird. Denn nach Rosalies Hochzeit bleibt Dolores ja tatsächlich nur Ilse als Kammerfrau, ihre Planung erweist sich also – ohne dass diese Tatsache weiter erwähnt wird – als vorausschauend und ökonomisch sinnvoll. Vgl. ausführlich zu dieser bis heute relevanten Verschiebung: Andreas Hirseland u. a., Paare und Geld, S. 110f.
Behauptung, den »ganzen Tag am Fenster nach ihm Ausschau gehalten zu haben« (170), vor seinen Augen in das topische Vor-Bild »weiblicher Sehnsucht«, das Karl nach seinem Duell tatsächlich vor Augen schwebte (vgl. 171).273 So perfide Dolores’ Verführungs- und Verstellungskunst wirken mag, so lustvoll sie die Verbote ihres Mannes ausspielt,274 so erfolgreich ihre Finesse auf den ersten Blick auch scheinen mag, sie hebt letztlich nur noch einmal die Tragik ihrer Niederlage hervor. Ihr Sieg ist nur ein Pyrrhus-Sieg, denn ihre Freiheit, die sie sich erschwindelt, beschränkt sich zum einen auf den häuslichen Kreis.275 Sie bestätigt Karls Rollenverteilung also mehr, als sie diese stört. Zum anderen beschränkt sich ihr Sieg nur auf den Ausnahmefall »Ilse«. Dieser gefährdet die männlichen Regeln des Landlebens aber keineswegs; zumal Karls Zugeständnis, »wenn sie dir gefällt, behalt sie« (170), nicht so altruistisch ist, wie es vielleicht scheint. Denn verräterischerweise verbindet er es (schon hier) mit einer sexualsymbolischen Allusion: »Ach ist das die Ilse, sagte der Graf, mit der habe ich oft auch Spaß gehabt.« (170) Offenbar ahnt Karl schon, dass er mit Ilse noch Spaß haben wird, seine Vorsichtsmaßnahme: »mir muß sie aber aus dem Wege gehen, das sage ihr« (172), spricht Bände. Dass die Wirkkraft patriarchalischer Hausgewalt durch Dolores Täuschungsversuch alles andere als aufgehoben ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Paar direkt nach seiner Unterredung gemeinsam zu Bett geht: die Ehepflicht ruft.276 Regiert Karl in die Hausordnung hinein, darf Dolores den Kreis des Hauses umgekehrt in keinem Fall verlassen. Karl grenzt seine Frau grundsätzlich aus dem politisch-öffentlichen Leben außerhalb des Schlosses aus,277 das er als »männlich«
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In Wahrheit hat sie sich mit der »tollen Ilse« getroffen, die ihr »fatale Geschichten aus der Gegend von heimlichen Liebeshändeln und Abenteuern« erzählt hat [meine Hervorhebung C. M.] (171). Dolores erzeugt für Karl also narrativ das schematische Frauenbild, das er sich von ihr wünscht. Der Erfolg stellt sich sofort ein. Dieses Bild als Vorlage verwendend, dichtet Karl am nächsten Tag ein Gedicht und speist das Imago also in den Modus männlicher Autorschaft ein. Der Erzähler fokussiert seine Kritik auf die Tatsache, dass Dolores nicht den ganzen Tag am Fenster gestanden und sich nach ihrem Mann gesehnt hat. Auch wenn der Erzähler Dolores Betrug extrapoliert, strukturell macht er zugleich deutlich, dass Dolores, obwohl sie lügt, in einer ausweglosen Situation gefangen ist. Foucault hat auf den spezifischen Lustgewinn innerhalb dieses Machtgefüges hingewiesen: »Lust und Macht. Lust, eine Macht auszuüben, die ausfragt, überwacht, belauert, erspäht, durchwühlt, belastet, an den Tag bringt; auf der anderen Seite eine Lust, die sich daran entzündet, dieser Macht entrinnen zu müssen, sie zu fliehen, zu täuschen oder lächerlich zu machen.« Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit I, Der Wille zum Wissen, S. 49. Dies gilt auch, wenn Dolores die patriarchalischen Zirkulationsmuster stört (193), wenn sie ihren Mann bei der Arbeit unterbricht, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, wenn sie brüsk seine Reden und Erzählungen stört oder sich seinen Küssen entzieht. Die kleineren Niederlagen kompensiert Karl auf altbewährte Weise. Er projiziert seine Vorstellungen auf Dolores oder verpuppt sich in seiner narzisstischen Verblendung. Diese Separation betrifft eine ganze Reihe von Tätigkeiten: Das Duell mit dem Baron,
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definiert. Als Garant für die patriarchalische Unterdrückung der Frau erweist sich im Rückblick ausgerechnet Dolores’ und Karls Entschluss, sich in ihr intimes Privatleben zurückzuziehen. Die Grenzen, welche das Paar zwischen dem intimen Innenraum und der Öffentlichkeit zieht, erweisen sich zwar im Hinblick auf die Geldwirtschaft als durchlässig. Dafür aber wirken sie in einem ganz anderen als dem ursprünglich intendierten Sinne selektiv: Sie trennen den Alltag der Frau strikt vom Leben des Mannes. Die romantische Tendenz zur Intimisierung entpuppt sich als Werkzeug zum patriarchalischen Machterhalt, indem sie die Frau weiterhin an den Haushalt und das Hausinnere bindet, während die Außen- und Arbeitswelt männlich konnotiert bleiben.278 Besonders drastisch tritt diese Trennung am Gerichtstag hervor, den Karl auf seinem Schloss hält und der einen heftigen Disput zwischen ihm und seiner Frau auslöst. Als Dolores in einer politischen Diskussion zwischen dem Paar Karls »Grundsätze, die sie für anstößig erklärte, widerlegen« will, kommt es »das erste Mal [dazu, C. M.], daß er mit Ernst an die Schranken erinnerte, die einer Frau zugemessen.« (287) In männlicher Hybris geht er davon aus, »sie verstehe ihn nicht ganz« (ebd.) und verweist sie auf ihre häuslichen Aufgaben.279 In das Stammbuch des Hauses, der Verweis auf die männlich kodierte Autorität der Schrift darf nicht fehlen, trägt er ihr neben ein Gedicht auch die oben bereits erwähnte »Hoffnung auf ein Kind« (ebd) ein. Karl verweist Dolores auf ihre häuslichen Aufgaben zurück. Er sperrt sie in das Schloss ein wie in einen goldenen Käfig.280 Zur Gerichts-
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die Begegnung mit Traugott, der Gerichtstag oder später die Reise zu Arnica Montana; sie alle erlebt Karl getrennt von seiner Frau. Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main 1994. Dort besonders: Elisabeth Klaus, Von der heimlichen Öffentlichkeit der Frauen, ebd. S. 72 – 97. Symptomatisch hierfür ist der Kommentar des Erzählers, der als Folge eine kommunikative Störung sieht: »In diesem Gespräch entwickelte sich eine Verschiedenheit politischer Ansicht, die beiden gleich unangenehm war, weil sie ihnen eine Quelle der Unterhaltungen aus den Zeitungen verschloß.« (285) Unter diesen Voraussetzungen erscheint Karls Gedankengang auf der Rückreise vom Land in die Stadt als der Höhepunkt männlicher Vermessenheit und Ignoranz. Als er in Gedanken versunken – und damit in narzisstischer Selbstbespiegelung mit sich selbst beschäftigt – die Früchte seiner Landarbeit mit seinen ursprünglichen Zielen vergleicht, lastet er den mangelnden Ertrag seiner Bemühungen ausgerechnet seiner Frau an. Der Vorwurf lautet tatsächlich, Dolores habe die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt nicht überschritten. Karl bemängelt, »daß die fehlende Mitwürkung seiner Frau ihm einen wirklichen Mangel in aller Ausführung gelassen, den er durch keinen Besoldeten zu ersetzen vermocht; er nahm sich vor, sie ernstlich zur Landwirtschaft zu ermahnen.« (363) Das klingt so, als sei Dolores doch nicht im Schloss gefangen gewesen. Aber erstens öffnet Karl seiner Frau die Tür zur Außenwelt erst nachträglich, während das Paar den Landsitz verlässt. Nach dem Motto zu handeln, sie hätte ja können, wenn sie nur gewollt hätte, ist perfide. Ins Zwielicht gerät die Aussage zweitens deshalb, weil Karl den Wert seiner Frau in Arbeitskraft bemisst. Ihn interessiert nicht, was sie bewegt, sondern wie er seinen Profit steigern kann. Karl gewährt Dolores keine Freiheit, wenn sie seiner
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verhandlung selbst darf Dolores erst gar nicht erscheinen. Karl spricht ihr jedes öffentliche Mitspracherecht ab; ihre Einflussnahme im Vorfeld lehnt er mit Verweis auf die Unabhängigkeit des Gerichts konsequent ab.281 Dolores’ Schwangerschaft sowie die Geburt und Taufe ihres ersten Kindes zeigen, dass sich Karls patriarchalische Lebensordnung samt ihrer Raumaufteilung nach der Rückkehr vom Land auch auf das Stadtleben überträgt.282 Mündet der Aufenthalt auf dem Land in einem Gefühl der »Ödnis« (349), löst die Schwangerschaft bei Dolores eine tiefgreifende Angst aus, die sie einmal sogar gegenüber ihrem Mann artikuliert: »Gewiß sterbe ich im Kindbette und werde hier beigesetzt zu allen deinen Voreltern und du führst eine andre in diese Zimmer ein, als deine Frau!« (357). Dolores’ Angstvorstellung wird zwar nicht zur Realität, aber dafür verstrickt sie die Geburt ihres ersten Kindes noch weiter in den Strukturen
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Meinung nach das Schloss verlassen muss, um ihn bei der landwirtschaftlichen Arbeit zu unterstützen. Karl reguliert den Zugang zur Außenwelt. Wenn man drittens bedenkt, dass Karl sich in individualisierter Liebe für Dolores entschieden haben will, dann ist das Vorhaben, Dolores zu einer Landwirtin umzuerziehen der Gipfel der Entindividualisierung. Karl will ohne Rücksicht auf deren Charakter aus seiner Frau, die er angeblich liebt, einen anderen Menschen machen. Der Arnimsche Randgang anhand der politisch-gesellschaftlichen Theoreme führt auch in diesem Sinne die problematischen Implikationen einzelner Modelle vor. Aus Sicht der adligen Frau bedeutet die Demokratisierung nämlich einen Machtverlust im Gegensatz zum Feudalsystem: Da die Gleichheit nicht für sie gilt, hat sie durch die Demokratisierung ihre angestammte Rolle zur Linken des Herrschers, den man von dort aus durchaus beeinflussen konnte, verloren. Arnims Roman aufgrund dieser Konstruktion als antidemokratisch zu bezeichnen, würde das Erzählte ebenso verfehlen, wie die Behauptung, der Roman sei konservativ. Vielmehr zeigt der Roman, dass die Demokratisierung entscheidende Auswirkungen auf die Charakterisierung der weiblichen Rolle in der Ehe hat. An diesen Konfliktmustern ist der Roman interessiert, ohne eindeutige Lösungen anzubieten. Karl verkörpert auch nicht einfach die »alte Zeit«, er setzt sich ja für die neue Demokratie ein, ist aber in anderen Fragen äußerst konservativ. Die Separation der beiden Partner und ihrer Welten verstärkt sich noch. Als Sinnbild für diesen Ehe- und Liebesbruch, der darauf beruht, dass sowohl die gedemütigte Frau als auch der Mann ihren Kontakt einschlafen lassen, weil sie sonst nur in Streit geraten würden, fungiert paradigmatisch Dolores’ und Karls gemeinsame Rückfahrt vom Land in die Stadt. Dort sitzen die beiden Partner gemeinsam in einer Kutsche und doch für sich, jeder seinen Gedanken nachgehend, schweigend nebeneinander. Jeder ist in seine Welt vertieft, keiner mit dieser Welt zufrieden. Was unter diesen Umständen von der Liebespassion bleibt, ist nur noch routinemäßige, längst zur Leere erstarrte Hülle der Wiederholung: »Nachdem sich beide so wüste und müde in sich gedacht hatten, fielen sie einander in die Arme und küssten sich, um ihr Gähnen zu verstecken; niemand sollte sich einen solchen Kuß der Gewohnheit und Langeweile erlauben […].« An dieser Separation der beiden Partner sowie an der Machtverteilung zwischen Ihnen ändert sich auch nach der Rückkehr in die Stadt nichts. Die Trennung der beiden Lebenswelten prägt nicht nur den Geburtstag des Kindes, sondern steigert sich bis zum darauf folgenden Frühling und Sommer, als Karl ohne seine Frau zurück auf das Landgut seiner Eltern reist.
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patriarchalischer Macht. Karl inszeniert seine Familiengründung im christlichen Bedeutungszusammenhang der heiligen Familie: »mit Geschmack hatte er das Wochenzimmer verziert, ein schönes altes Bild, das Christus Kind auf dem Stroh in der Krippe, das mit beiden Händen lächelnd nach den Engeln greift, die in der Luft schweben.« (365) Auch die Geburt selbst folgt konsequent Karls Vorstellungsmustern. Während Dolores unter der Obhut der Ammen einem Sohn das Leben schenkt, ist »der Graf [...] ein paar Stunden in notwendigen Geschäften abwesend gewesen.« (365) Die Vaterschaft beruft sich dabei auf eine (hochgradig konstruierte) Koinzidenz. Karl behauptet, »einen durchdringenden Schrei in seinen Ohren gehört zu haben, weswegen er mit Besorgnis nach Hause geeilt sei« (365). Die Sorge zerstreut sich aber beim Anblick des »wunderschönen Kindes« (ebd.). Als Mutter ist Dolores lebenslang an die »Häuslichkeit« gebunden. Dass Dolores sich den Mutterpflichten entzieht, und das Kind einer Amme übergibt, um ihre eigene Schönheit zu bewahren, akzeptiert Karl zwar verständnislos und mürrisch. (365). Doch die Behauptung des Erzählers »jetzt konnte er ihr in nichts mehr widerstreiten, nachdem sie seinetwegen so viel Schmerzen ertragen« (ebd.), widerlegt Karl umgehend. Die Geburt ist streng vom Akt der Namensgebung und der Taufe getrennt.283 Die Taufe ist »des Grafen heiligstes Sakrament« (365). Sie ist eindeutig der patriarchalischen Macht zugeordnet. Karl entscheidet gegen den Willen seiner Frau und schlägt den einfachsten, den direkten Abstammungsweg vom Vater zum Sohn vor. Während Dolores »einige Lieblingsnamen aus Wallers Gedichten, die sie besondern achtete, in ihre Familie einführen wollte«, besteht der Graf darauf, »dass man in einer Zeit, die so wenig Bestehendes hervorbringe, das Angeerbte durchaus bewahren müsse […].« (285) Er gibt seinem Sohn und Erbfolger den eigenen Namen: »Der Kleine wurde Karl genannt.« (365) Mit dem Taufakt will Karl der unsicher gewordenen Zeichenrelation ein eindeutiges Verweisungsverhältnis entgegensetzten und sie (aus seiner Sicht endgültig) der patriarchalischen Gewalt unterwerfen. Zudem verteilt er die Aufgaben im Eheleben. Dolores soll sich dem Willen ihres Mannes und der Liebe zu ihm sowie zu ihrem Kind vollständig hingeben. So erschöpft sich – wie Luhmann lakonisch bemerkt – die Funktion der Frau darin, »ihren Mann zu lieben«284 und, so könnte man in Dolores’ Fall hinzufügen, ihren kleinen Karl im Zeichen derselben Liebe zu hegen. Der Ausgang des Geschlechterkampfes ist auf der Handlungsebene eindeutig. Dolores und mit ihr das Autonomieversprechen der romantischen Liebe verlieren auf ganzer Linie. Sie werden vollständig den Regularien des Patriarchats unterworfen. Sollte Dolores während der Brautzeit – wie es der Erzähler einmal behaup-
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Die Taufe ist für Karl von kardinaler, man muss wohl sagen ontologischer Bedeutung. Sie hängt »mit seiner ganzen Ansicht von der Weltentstehung zusammen.« (365). Vgl. dazu Karls Autorschaft, Kapitel 5.5 dieser Studie. Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 172.
tet – tatsächlich einmal die Herrschaft über Karl gehabt haben,285 hat sie diese inzwischen längst verloren. An keiner Stelle gelingt es ihr, die patriarchalischen Machtstrukturen aus den Angeln zu heben. Dolores bleibt – trotz aller Unterbrechungsversuche – der Gewalt ihres Mannes unterworfen.286 Nach einer kurzen Phase des Reichtums lebt sie jetzt wieder in Armut. Diese hat sich, obwohl sie finanziell ausgesorgt hat, insofern gesteigert, als Dolores ihre vorherige Handlungsfreiheit einbüßt.287 Für Dolores hat noch während des Sommers der Winter der Liebe begonnen. Voller Sehnsucht denkt sie an ihren »jungfräulichen Stand […]« zurück und hängt ihrer »goldenen Freiheit« nach. Resigniert, enttäuscht und ängstlich blickt Dolores in ihre Zukunft (vgl. 349f.).288 Sie ist sich ihrer schwierigen Situation bewusst und benennt diese – wie oben bereits zitiert – am Ende ihres Landaufenthaltes (vgl. 357). Wenn sie befürchtet, gegen eine andere Frau ausgetauscht zu werden, durchschaut sie offenbar, dass sie in Karls stereotypem Denken inzwischen keinen individuellen Wert mehr hat, sondern nur noch einen funktionalen, den stets auch eine andere Frau hätte. Ihre Ahnungen sind keine Hirngespinste; das hat der Roman ja bereits vorgeführt. Die Mängelliste ihrer Ehe ist aus ihrer Sicht lang. Sie reicht von den kommunikativen Missverständnissen bis zur Separation von ih-
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Bei einer der Versöhnungsszenen bemerkt der Erzähler enttäuscht: »er [Karl] umfaßte sie und seufzte, und doch ward ihm dabei so wohl, daß er sein Schicksal dem ihren ergab und dieser Tag entschied ihre künftige Herrschaft über sein besseres Selbst.« (163) Dolores’ Schicksal ist in Arnims Roman übrigens kein Einzelfall, sondern betrifft in unterschiedlichem Grad alle weiblichen Figuren. Der patriarchalischen Unterdrückung sind alle Frauenfiguren der Rahmenhandlung unterworfen, unabhängig von ihren Charaktereigenschaften. So leidet bereits Dolores’ Mutter unter der patriarchalischen Herrschaft ihres Mannes (vgl. 109). Als diese untergeht, kann sie sich dem Sog des Machtverlusts in ihrer eigenen Ohnmacht nicht widersetzen. Auch Klelia und die Fürstin entfalten jeweils erst dann ihre gesellschaftliche wie politische Aktivität und treiben ihre Länder zur Blüte, als ihre Männer sich entweder auf langen Reisen befinden oder – endlich, könnte man fast sagen – verstorben sind. Erst, nachdem sie von der patriarchalischen Autorität befreit wurden, kommen ihre Fähigkeiten zum Tragen (vgl. 466f., 525f.). Diese Sachlage deckt sich mit Foucaults später formulierter Repressionshypothese. Vgl. Ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, S. 33ff. Wallers Ehegedicht, das der Erzähler und mit ihm alle bisherigen Doloresinterpreten als gültiges Fazit des Ehelebens heranziehen, erweist sich in diesem Sinne als geradezu infames Zeugnis der patriarchalischen Sichtweise: Es reproduziert nur die männliche Perspektive auf die romantische Liebe, wenn es für die Spannungen in der Ehe die unterschiedlichen Charaktere verantwortlich macht. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich die Frau in ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu fügen hat. Und mit der Differenz von Innen- und Außenwelt (man dürfe die innere Spannung nach außen nicht sehen) reproduziert das Gedicht dann auch noch affirmativ die männliche Verschleierungstaktik. Es ist das absolute Macho-Gedicht. Kein Wunder, dass es Waller, einem alles andere als vertrauenswürdigen Dichter, zugeschrieben ist (vgl. 272). »Leere Sehnsucht« erfüllt den Erzähler beim »Anblick der schönen Gräfin, die mich so oft erquickt« (349), was genau mit dem Gefühl der »Öde« korrespondiert, das Dolores am Ende des Landlebens empfindet.
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rem Mann, von der narzisstischen Kränkung bis zur Demütigung. Kurz gesagt, Karl und Dolores haben mehr als eine Ehekrise, denn für Dolores ist die Situation noch ernster. Die »Öde«, die sie offenbar nicht nur in sich fühlt (350), wenn sie »in Tränen beim Kamine« (ebd.), umgeben von heruntergebrannten Kerzen sitzt, deutet auf eine ernsthafte Identitätskrise hin. Übertragen auf den Konflikt der Theoreme, verliert mit Dolores’ Niederlage auf der Handlungsebene zugleich auch die versprochene Egalität der Geschlechter gegen die Macht des Patriarchats. Wenn die versprochene Gleichheit der Geschlechter von der Braut- zur Ehezeit einfach kassiert wird, wenn sie jäh an der prosaischen, weil patriarchalisch geordneten Realität scheitert, erscheint die romantische Liebe aus der Sicht der Frau als ein scheinheiliges Konzept männlicher Theoretiker, das dort Gleichheit vorgaukelt, wo sie (späterhin) brüsk entzogen wird. Perfide ist dieses Konzept, weil es aus Sicht des Patriarchats überhaupt nicht eingelöst werden soll. Für den Moment der »individuellen Liebesentscheidung« suggeriert die Romantik Gleichheit, auf Dauer aber bleibt die traditionelle Hierarchie zwischen Mann und Frau im romantischen Liebeskonzept bestehen. Indem die ›Gräfin Dolores‹ diese innere Spannung der romantischen Liebestheoreme vorführt, entwickelt sie sich vor den Augen des (imaginären) Lesers zugleich aber zu einem – um 1800 bemerkenswert modernen – emanzipatorischen Projekt. Impliziert der Verlauf von Karls und Dolores’ Liebesgeschichte doch den Vorwurf an die (ausschließlich) männlichen Theoretiker der Romantik, im Dienste der patriarchalischen Macht zu stehen, und mit der individualisierten Liebesentscheidung ein Konzept anzubieten, dass die Frau zwar mit Versprechen ködert, aber nur, um sie damit zugleich doch wieder der Macht des Mannes zu unterwerfen. Die versprochene und für einen Augenblick auch eingelöste Gleichheit bemäntelt die wahre Machtverteilung. Die ›Gräfin Dolores‹ legt den Finger in die Wunde der Theoreme, die offensichtlich bereit sind, einen logischen Widerspruch innerhalb ihrer Konstruktion in Kauf zu nehmen und ihn schweigend zu übergehen. Sie machen sich damit zu Helfern der patriarchalischen Überhebung über die Frau. Die romantische Liebe ist als Konzept patriarchalisch strukturiert. Daraus ergibt sich die Frage, ob sie überhaupt Egalität hervorbringen kann. Um dies zu realisieren, müsste sie die Egalität, die Individualität, Autonomie und Freiheit der Frau garantieren. Dann müsste sie die soziale Institution »Ehe« aufgeben, jedenfalls solange diese patriarchalisch organisiert ist. Zu dieser Eheform hat sie theoretisch (diskursiv) aber bisher keine Alternative angeboten. Soll die traditionelle soziale Ordnung »Ehe« bewahrt werden, darf die Liebe der Frau zuvor nicht eine Individualität versprechen, die sie ihr nachträglich wieder nimmt. Mit dieser Aporie durchkommen zu wollen, weist Arnims Liebeserzählung der romantischen Theorie nach. Arnims Roman fordert keineswegs die konservative Zurücknahme der »Egalität« zugunsten einer patriarchalisch organisierten sozialen Ordnung. Er fällt an keiner Stelle hinter die geforderte Individualität der Liebe zurück. Die traditionelle Vermittlung der Ehe durch die väterliche Planung wäre in Dolores’ Fall überhaupt nicht möglich und angesichts der zwielichtigen Vaterfigur auch wenig ratsam. Der 204
Roman schlägt diese Option nachdrücklich aus. Dolores’ Forderungen erscheinen im Kontext der romantischen Liebeskonzeption als plausibel. Der Roman bezieht im Geschlechterkampf gleich in mehrfacher Hinsicht Position für seine Protagonistin und damit für die Gleichheit und Autonomie der Geschlechter. Auch wenn Dolores ihren Ehestreit vordergründig verliert, gewinnt sie ihn doch. Wenn Hochmut nämlich bedeutet »aus Liebe zu sich mehr von sich zu halten, als recht ist,« kritisiert Arnims Roman weniger Dolores, als vielmehr exakt das, was um 1800 »recht ist«. Er hinterfragt die Werte, an denen das Patriarchat seine moralischen Urteile justiert. Als wesentlichen Bestandteil dieses emanzipatorischen Projekts muss man erstens anrechnen, dass der Roman die Strukturen der Gewalt überhaupt benennt und ihre Funktionsweise akribisch rekonstruiert. Mit dieser Konzeption bildet Arnims ›Gräfin Dolores‹ um 1800 eine Ausnahme. Sie setzt sich auf diese Weise noch einmal energisch von den Bildungsromanen ab, die mit ihrer egalitären Hochzeit als Happy-End elegant den Mantel des Schweigens über den patriarchalischen Herrschaftsanspruch legen, welcher dem romantischen Liebeskonzept eingeschrieben ist. Aus der Perspektive, die Arnims Text entwickelt, entpuppt sich das Konzept der Bildungsromane selbst als Bestandteil einer patriarchalischen Erzähltechnik, welche die Frau mit der individuellen Hochzeitsentscheidung zur Liebeslust verführt, ihr deren Folgen in der Ehe aber wissentlich vorenthält. Der Roman subvertiert die traditionelle Geschlechterordnung zweitens dadurch, dass er ihre naturrechtliche Verankerung in Frage stellt. Karls patriarchalische Macht weist jenseits des Symbolischen keine in der Natur verankerte ontologische Referenz auf. Dolores’ und Karls Ehe beruht als soziale Ordnung auf den Konventionen der landwirtschaftlichen Ertragsarbeit. Sie basiert also nicht etwa auf den Gesetzmäßigkeiten einer Natur-, sondern einer Kulturlandschaft. Deren Künstlichkeit hebt der Roman dadurch zusätzlich hervor, dass Karl als reicher Erbe ja gar nicht »für sein tägliches Brot« arbeiten müsste, er also der Arbeitskultur, nicht der natürlichen Notwendigkeit folgt. Als Diskursformation und damit als kulturelle Setzung, verliert die traditionelle Eheordnung, verlieren die herkömmlichen Geschlechterrollen, ihre natürliche Legitimität. Sind sie somit als »Technology of gender«289 enttarnt, die eigentlich jederzeit verändert werden könnten. Zeigt sich Karls Machtanspruch damit grundsätzlich als soziale Konstruktion, die auf wackligen Beinen steht, distanziert sich der Roman drittens an den entscheidenden Stellen des Geschlechterkampfes von seinem männlichen Protagonisten. Nicht nur, weil er Dolores’ Position entschieden plausibilisiert, sondern darüber hinaus auch, weil er Karls Machtanspruch zeitweise sogar der Lächerlichkeit preisgibt. Wenn Karl beispielsweise am Abend seines Duells mit dem hässlichen Baron zu Dolores in das Landschloss zurückkehrt (vgl. 169), ruft diese Szenerie deutlich die stereotypen romantischen Geschlechterrollen auf. Karl hat sich den Tag über
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Teresa de Lauretis, Technology of Gender. In: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, Fiction, Bloomington 1987.
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– ganz der ritterliche Abenteurer – außerhalb des Schlosses aufgehalten, um die Ehre seiner Frau zu verteidigen, derweil sie den Tag auf dem Landgut verbracht hat. So weit läuft alles nach männlichem Plan. Nur ist Karl sang und klanglos an seinen eigenen Ansprüchen ritterlicher aventure gescheitert. Um das Duell mit dem Baron, der seine Frau tödlich beleidigt hatte, hat er sich ganz unritterlich gedrückt (167). Die schriftliche Entschuldigung des Barons, welche die Ehre seiner Frau statt des vom Tode gezeichneten Körpers garantieren soll, ist nach einer unfreiwilligen Flussdurchquerung, bei der er kurzzeitig die Kontrolle über das Pferd verloren hat, vollkommen durchnässt, – »aber nicht verlöscht und nicht zerrieben«, (169) wie Karl ein wenig zu stolz feststellt. Das malade Resultat seines Kampfes genügt ihm aber, um großspurig zu behaupten, »Dolores Ehre in der Tasche« zu haben (169), und sich so die Rolle des großen Rächers auf den etwas zu schlanken Leib zu schneidern. Karls Ritterlichkeit, über die er seine Männlichkeit definiert, wird deutlich als Verblendung von donquijotischem Ausmaß markiert. Einerseits gibt er sich als ein Mann der Vernunft, der die Ehre mit Hilfe eines juristischen Kontrakts anstatt mit einem Duell sichert, andererseits aber entblödet er sich nicht, sich als heldenmütiger Kämpfer zu inszenieren. Karl ist als ein Narr gekennzeichnet, der die Welt verkehrt, wie es ihm gefällt. Allerdings ist er ein mächtiger Narr, der seine Ansichten mit patriarchalischer Gewalt durchsetzt und – bedrohlicherweise – noch darauf dringt, seiner Frau gegenüber die eigenen, verrückten Maßstäbe als verbindlich vorzugeben. Anders als der gewöhnliche Hofnarr unterhält er nicht den Herrscher, sondern der Narr ist in diesem Fall der Herrscher. Der Roman distanziert sich in diesen Szenen von seinem männlichen Protagonisten. Er exponiert dessen Aussage als eine Rhetorik der Männlichkeit, als Technologien der Unterdrückung. Die ›Gräfin Dolores‹ stellt auf diese Weise die Mechanismen der Gewalt gezielt aus.290 Auf diese Weise verlagert der Roman auch seine Schuldfrage vor von seiner dritten, mit »Schuld« überschriebenen, in seine zweite Abteilung: Hebt der Roman doch Karls Schuld deutlich hervor, die darin besteht, weder seine Position im Geschlechterdiskurs zu überdenken noch den Widerspruch zwischen Liebesinitiation und Ehe zu erkennen. Dolores ist das Opfer, Karl der – falls man seine eigene Gefangenschaft im kulturellen Code anerkennt – unschuldig Schuldige: Weil er sich auf die Regeln
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Ironisch führt der Roman diese Kurzsichtigkeit auch nach Karls Nachmittag mit dem Prediger Frank vor. Als Karl »eine wunderliche Eifersucht gegen diesen geistigen Verführer« fühlt, wirft er seiner Frau vor: »es ist merkwürdig, wie ein Paar bunte Farben, ein Paar Tressen, alle Weiber bestechen, derselbe Mann in Uniform ist ihnen nicht mehr derselbe.« (234) Dadurch, dass am Nachmittag aber kein einziger Herr in Uniform anwesend war, zielt Karls eifersüchtiger Vorwurf ins Leere. Die Szene wendet sich auf diese Weise gegen Karl selbst. Was er (gemeinsam mit dem Erzähler) den Frauen vorwirft, trifft auf ihn selbst zu. Seine verallgemeinernde Aussage führt performativ vor, wie pauschal Karl »die Frauen« beurteilt. Er nimmt Dolores’ Individualität nicht wahr, weil er stets die Uniformität männlicher Regeln und der patriarchalischen Rollenverteilungen wahrt.
der Tradition beruft, weil er sich narzisstisch seine Wünsche erfüllt, und zugleich seine romantischen Liebesversprechen in keiner Weise einlöst. Viertens gibt es sogar ein Indiz dafür, dass selbst der Erzähler zumindest punktuell mit seiner einseitigen Stimmungsmache ins Schwanken gerät. In Erinnerung an den Gerichtstag beispielsweise beklagt sich der Erzähler über Karls »Härte, sie [Dolores, C. M.] darin als ein Weib von aller Verhandlung auszuschließen.« (375) Er bezeichnet dies als »ein Unrecht in einer Zeit, die alle Ausbildung beider Geschlechter so nahe gebracht hat, daß sicher kein Gedanke in dem wechselseitigen Verkehre durch die Verschiedenheit mehr herabgewürdigt wird [...]« (375). Die innere Spannung des romantischen Liebesdiskurses überträgt sich an dieser Stelle auf den Erzähler, dem seinerseits droht, zwischen die Fronten zu geraten: Soll er die Individualität und Freiheit der Frau fordern, um sie zugleich an die traditionellen ehelichen Pflichten zu binden? Die Diskrepanz der eigenen Aussagen kennzeichnet seine marktschreierischen Schuldzuweisungen an anderen Stellen des Romans als Rhetorik der Männlichkeit. Sie ist Ausdruck einer Männlichkeit, die um ihre traditionellen Privilegien fürchtet, die zugleich aber romantisch Lieben möchte. Die einseitigen Schuldzuweisungen werden als Teil einer Strategie markiert, um die Prinzipien romantischer Liebe doch noch zu retten. Dafür verharmlost er deren grundsätzliche Probleme und schiebt das Scheitern stattdessen der von ihm behaupteten Unzulänglichkeit der Frau in die Schuhe. Diese einseitigen Schuldzuweisungen an Dolores dienen in der Tradition der romantischen Verschleierungsstrategien dazu, von den fundamentalen Schwierigkeiten abzulenken. Der Erzähler weiß um die Aporien des romantischen Liebeskonzepts. Sie aufzulösen aber würde bedeuten, das Bild der eigenen Männlichkeit zu gefährden. Im Sinne dieser inneren Zerrissenheit ist der Erzähler des Romans ein romantischer Prototyp. Auf diese innere Spannung kommt es Arnims Roman an. Mit dieser Konstruktion aber bestärkt er ebenfalls die Position der Frau. Arnims ›Gräfin Dolores‹, die alles andere als zufällig nicht nur eine weibliche Titelfigur hat, sondern darüber hinaus schon im Untertitel betont, dass sie »arme junge Fräulein« belehren will, ist ein Ruf nach einer geistigen Revolution. 4.4
Von der Krise zum Ehebruch – Verführte Demut
Wie ernst zu nehmen Dolores’ Egalitätsanspruch und wie tiefgreifend ihre Lebenskrise ist, zeigt sich daran, dass diesen eine entscheidende Funktion im Handlungsverlauf zukommt. Sie bilden das Scharnier zwischen ihrem Eheleben und ihrem Ehebruch. Aus Dolores’ Demütigung motiviert die ›Gräfin Dolores‹ den folgenden Ehebruch. Dolores steht vor einer einfachen Entscheidung: Will sie ihre Ehe weiter führen, muss sie sich demütigen lassen. Will sie ihre Individualität und Gleichheit wahren, bleibt ihr nur der Ausbruch aus der ehelichen Gewaltspirale. Dolores wurde von der Liebe (und von Karl) versprochen, was nicht gehalten wurde. Sie leidet an der Liebe. Um aus diesem Liebesleid zu entkommen, lässt sich Dolores’ auf das Liebesdrama mit dem Markese ein. Es entspinnt sich ein Liebes207
drama mit dem tragischen Höhepunkt der Verführung und der anschließenden Entdeckung des markesischen Betrugs. Wenn Dolores’ Verführer, der Markese D…, auf das Paar trifft, steckt dieses schon tief in seiner Ehekrise. Der Markese muss nur noch die Lücke füllen, die während des Ehelebens entstanden ist. Seine Verführung markiert daher auch keinen Umschlagspunkt vom Glück ins Unglück (Peripetie). Unglücklich ist zumindest Dolores bereits vor seiner Ankunft. Als der Markese sich im Frühling nach der Geburt von Dolores erstem Kind erstmals bei Dolores anmelden lässt, ist der Boden für seine Verführungskünste längst bestellt. Der »intellektgesteuerte Verführer«291 muss nur noch aufpassen, dass die Saat des Ehezwists auch wirklich aufgeht, und vor allem, dass er es ist, der die Früchte später erntet. Perfekt stimmt der Markese seine Verführungsstrategie auf Dolores’ Subjekt- und Ehekrise ab.292 Zunächst webt er sich gekonnt in das weit verzweigte Netzwerk von Dolores’ Liebeskommunikation ein. Laufen Dolores’ Wünsche bei Karl ins Leere oder führten sie höchstens zu Konfrontation und Streit, schenkt der Markese ihnen ostentativ Aufmerksamkeit. Mit beeindruckender Empathie und mit feiner Sensibilität nimmt er ihre Anschauungen nicht nur wahr, sondern vor allem auch ernst. Der Erzähler hebt diese Art, auf die Individualität seines Gegenübers eingehen zu können, als wesentliches Kennzeichen seiner Verführungskunst hervor: Ohne lange Beratung mit sich, fast unbewußt traf er stets, ob er sich einem Manne von Bedeutung oder einer schönen Frau mehr durch Lob oder Tadel nähere, mehr durch allgemeine praktische Gesinnung oder durch Sonderbarkeit, ob er besser imponierte oder sich belehren lassen müsse, ob Bewunderung oder Mitleid ihm wesentlicher diene; gewiß war er besonders Frauen, bald so nahe bekannt, als irgend ein anderer, und gemeinhin viel vertrauter; sie sagten ihm, was sie guten Bekannten lange verschwiegen, hatten sie gefehlt, so zeigte er sich noch fehlerhafter […]. Von einem Don Juan war er schon dadurch unterschieden, daß er keineswegs nur sinnlich war mit all und jedem Weibe: nur mit den sinnlichen war er sinnlich; noch eifriger konnte er mit strengmoralischen sein Leben durchgehen und bessern, mit einer Religiösen beten. (374)
Nach diesem individualistischen Prinzip verfährt der Markese auch nach seiner Ankunft bei Dolores. Ohne sich auch nur einen Fehlgriff zu leisten, nimmt er alle Fäden auf, die Dolores in das Gewebe ihrer Liebesvorstellungen eingesponnen hat. Er kommt Dolores’ Lust auf Gesellschaft und Tanz nach (377), und er verspricht ihr wie zuvor schon ihr Vater politischen Einfluss. Er versteht es, die ödipale Struk-
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Dieser Begriff stammt von Daniela Placido, »Besser schmeckt mir kein Vergnügen, als ein junges Weib betrügen.« Don Juan und Casanova oder: die Macht des männlichen Verführers. In: Corinna Schlicht (Hg.), Sexualität und Macht. Kultur-, literatur-, und fi lmwissenschaftliche Betrachtungen, Oberhausen 2004, S. 115–129, hier S. 121. Kierkegaard erkennt in dem Markese später den Typus des »reflektierten Verführers«, der als Gegenbild zu Don Juan und seiner sinnlichen Genialität fungiere. Vgl. dazu Walter Rehm, Kierkegaard und der Verführer, München 1949, S. 95. Als scharfsinniger Analyst ist der Markese in erster Linie eine Leserfigur.
tur ihrer Liebe zu bedienen und ihm gelingt es sogar, ihren schwesterlichen Konkurrenzkampf (368) in seine Kommunikation einzubeziehen. Da er gekonnt auf jede einzelne von Dolores’ Interessen reagiert und ihr Anerkennung zollt, bringt er einen perfekt funktionierenden Kommunikationskreislauf in Gang, in dessen Zirkulation keines von Dolores’ Zeichen unbeachtet bleibt oder verloren geht. Kurz gesagt: er reaktiviert den narzisstischen Mechanismus von Dolores’ Liebe und hält ihn mit unbarmherziger Ausdauer in Gang. Solange »bis die letzte Luft aus der Pfeife ausgeblasen, nicht eher ließ er nach.« (374) Der Verführer stabilisiert auf diese Weise Dolores’ zuvor noch krisengeschüttelte Individualität. Er erzeugt in seinem Gegenüber das Gefühl, individuell geliebt zu werden. Und dafür wird er – das Tauschgesetz der Liebesökonomie geschickt nutzend – seinerseits geliebt. Seine kommunikative Verführungsstrategie beruht also exakt auf den zuvor vom Roman detailliert dargestellten Liebesmechanismen. Der Markese hat das Prinzip individualisierter Liebe durchschaut. Er ist der perfekte romantische Verführer. Die Tatsache allerdings, dass der Markese auf die Mechanismen zurückgreift, die auch bei Dolores und Karl wirksam waren, zeigt zugleich auch, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen seiner und Dolores’ Liebe und der von Dolores und Karl gibt. Auch wenn der Erzähler behauptet, dass die Intensität ihrer Liebe eine andere sei, strukturell unterscheidet sich die Liebesbeziehung nicht von der vorherigen, denn sie weist jene grundsätzliche narzisstische Struktur auf. Dadurch bleibt auch sie letztlich an den Tausch von Zeichen gebunden, ohne – wie schon bei Karl und Dolores zuvor – die persönlichen Merkmale des Liebesobjekts einzubeziehen. Wer der Markese tatsächlich ist, interessiert sie nicht, solange sie ihre Wünsche in seinen Körper einschreiben kann. Der Markese fungiert als »Wunderspiegel, in dem sich jeder und in dem jeder sein Begehren wiederfindet.«293 Auch für Dolores dient er als Projektionsfläche ihrer Wünsche. Er reflektiert für sie nur ihr Spiegelbild, in dem sich Dolores narzisstisch lieben kann. Wie das märchenhafte Spieglein an der Wand rühmt er Dolores, wann immer sie ihn befragt, als die Schönste im ganzen Land. Was immer Dolores anspricht, der Markese antwortet in ihrem Sinne. Während er mit Hilfe dieser positiven Rückkopplung Dolores’ Individualität stärkt, bleibt er identitätslos. Er setzt Dolores keine eigenen Anschauungen entgegen. Statt Reibungs- bietet er die perfekte Projektionsfläche. Da der Markese sogar »sinnreich auch das Unbedeutende geltend machen konnte, das Geld nie sparte, das Ausländische erhob, ohne das Inländische herabzusetzen etc.« (369, 6f.), setzt sich so eine Kommunikationsspirale in Gang, die von Mal zu Mal eine höhere Verbindlichkeit und Intensität erreicht. Im Zuge ihrer narzisstischen Spiegelreflexion potenzieren sich Dolores’ Vorstellungen und Eindrücke unendlich: »Inzwischen nahm die Gräfin ihre Gedanken, oder vielmehr sie fand sie mehr und mehr, als sie sie sonst hatte, zusammen, sobald der Markese hereintrat.« (373) Weil Dolores – ohne es zu merken – einen in sich geschlossen
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Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 116.
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Kreislauf errichtet, entsteht für sie der Eindruck der Totalverschmelzung. Sie gewinnt die Überzeugung, unabhängig und frei über die Mechanismen der Liebe zu verfügen, stabilisiert so ihr Selbstbild und festigt ihre Identität. Sich selbst zur Spiegelfläche zu machen, Dolores die Möglichkeit zu geben, sich in ihrem eigenen Glanz zu sonnen, bildet zwar einen wichtigen Bestandteil, nicht aber den Kern der Verführungsstrategie. So erkennt der Markese bereits kurz nach seiner Ankunft, »daß Glanz, Artigkeit und Schönheit sie nicht bezwinge; sie war zu stolz, sie mußte gedemütigt werden, das war aber bei ihr nicht leicht.« (375) Noch unmittelbar vor der eigentlichen Verführungsnacht nimmt sich der Markese vor: »er mußte sie ganz demütigen« (377). Seine Verführung ist also in Kontinuität zum Geschlechterkampf zuvor ein Spiel der Macht, der Unterwerfung. Die Besonderheit seiner Strategie besteht aber in der Reihenfolge, Dolores erst demütigen zu wollen, um sie dann verführen zu können. Die bisherige Arnimforschung kann mit dieser Aussage wenig anfangen. Sie kehrt deshalb die markesische Reihenfolge einfach um und bezieht die Demütigung auf den Moment, in dem Dolores erkennt (Anagnorisis), dass sie von ihrem Verehrer nicht geliebt und damit nur betrogen wurde. In der Tat bleibt Dolores diese Demütigung, die sozusagen zum Kerngeschäft jedes »guten« Verführers gehört, nicht erspart. Und der Markese nimmt sie fraglos leichtfertig in Kauf.294 Sie ist aber keineswegs die Herabsetzung, auf welcher seine Verführungsstrategie beruht.295 Denn in ihrem Fall folgt die Herabsetzung ja entgegen der Ankündigung erst nach der Verführung. Seine eigentliche Verführungstechnik erschließt sich erst, wenn man Dolores vorherige Krisensituation in Rechnung stellt – und die passt weder in das Bild des »Eheglücks« noch in das einer hochmütigen Dolores, das die Arnimforschung von der Brautzeit und vom Landleben entwirft. Tatsächlich aber demütigt der Markese Dolores von Beginn an, weil er ihr mit jeder geglückten Kommunikation vor Augen führt, dass sie während ihrer Ehe alle Liebesideale weiblicher Egalität und Autonomie vollkommen aufgeben musste. Wie das tägliche »Karthago muss erobert werden«, erinnert der Markese sie fortwährend daran, wie sehr sie sich in ihrer Ehe von Karl hat demütigen lassen. Der Wunderspiegel, welcher Dolores vom Markese vorgehalten wird, reflektiert nicht
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Tatsächlich betreibt der Markese mit auffälliger Leichtfertigkeit das Liebesspiel. Für ihn ist die Liebe einfach ein Genuss. Aus dieser Auffassung heraus kann er weder dem Reiz widerstehen, Karl die Geschichte des Ehebruchs »mit geringen Veränderungen vorzutragen« (385f.), noch dem, Klelia davon zu berichten, dass er ihre Schwester kennen gelernt habe (vgl. 437). Moerings Schluss, den Markese deshalb als einen Vertreter der Liebesauffassung anzusehen, »die damals in den romanischen Ländern« herrschte, und die Arnims Roman mit der »in Deutschland herrschenden kontrastierte, folge ich hingegen nicht. Vgl. dazu Kapitel 5 dieser Studie u. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 98. Vgl. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus, S. 29. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 118f. Klaus Peter, Achim von Arnim: ›Gräfin Dolores‹, S. 244.
nur ihr gegenwärtiges, schönes Gesicht. Im Spiegel zeigt sich ihr zugleich immer auch ihr (hässliches, entstelltes) Zerrbild, zudem sie sich während ihres Ehelebens deformiert hat. Stets schimmert die eheliche Grimasse durch das gegenwärtige Antlitz hindurch. Auf die Spiegelfrage, wer die Schönste im ganzen Land sei, antwortet der Markese Dolores zwar immer: »Du bist es«. Aber er fügt stets hinzu, dass sie es in ihrem alltäglichen Leben, als sie sich den Vorgaben ihres Mannes bis zur Selbstaufgabe unterwerfen musste, eben überhaupt nicht war. Da war sie gegen den eigenen Willen »nur« Mutter und Hausfrau, die den Ansprüchen ihres Mannes nicht genügte und doch – wie ihre eigene Mutter – vollständig von ihrem Mann abhängig war. Indem der Markese stets auf Dolores’ Demütigungen durch ihren Mann verweist, demütigt er sie stets von neuem. Ohne die vorherige Unterdrückung von Dolores’ Wünschen wäre der Markese nicht erfolgreich. Erst die vorherige Krise verursacht Dolores’ Verführbarkeit. Dass erst die Doppelstrategie von Demütigung einerseits und Lob zum gewünschten Erfolg führt, zeigt paradigmatisch die erste Begegnung zwischen den beiden Partnern sowie die Art, wie der Markese Dolores’ politische Ambitionen bedient: Der Verführer braucht noch nicht einmal ein einziges, persönliches Gespräch, um sich in Dolores’ Gewebe von Liebesvorstellungen einzuspinnen. Ihm genügt dazu bereits, sich als »ein Vetter des Herzogs von A…« (366f.) anmelden zu lassen. Mit diesem Attribut, das ihn als nahen Verwandten von Klelias Ehemann ausweist, verknüpft er seine Ankunft sofort mit Dolores’ Schwester und dem von Beginn an schwelenden Konkurrenzkampf der beiden. Zumal er Dolores zugleich verspricht, ihr »neue Nachrichten von ihrer Schwester zu bringen« (369), und ihr umgekehrt anbietet, »alle Briefe, die sie ihr [also Dolores ihrer Schwester, C. M.] übermachen wolle, durch eine Adresse, die in Italien ihm eröffnet, viel schneller als bisher dahin zu fördern.« (369) Die Kommunikation trägt sofort Früchte. Denn Dolores »nahm das Anerbieten mit großem Vergnügen an.« (369) Als neues Kommunikationsmedium, das Beschleunigung verspricht, schaltet sich der Markese in den kommunikativen Regelkreislauf der Schwestern ein. Der Roman (und mit ihm der Markese) braucht nur diese wenigen Zeilen, um die alten, seit ihrer Kindheit virulenten Liebesvorstellungen wieder zu erwecken und mit neuem Leben zu erfüllen. Dolores ihrerseits hatte kurz nach ihrer Rückkehr vom Land- auf das Stadtschloss per Brief von Klelias glücklicher Hochzeit mit dem Herzog erfahren (366). Klelias Bericht von ihrem italienischen Liebesglück kontrastiert zum Zeitpunkt von Dolores’ Lektüre, vierzehn Tage nach der Taufe ihres Sohnes, mit deren Lebenssituation. Noch während Dolores liest, wünscht sie sich seufzend an die Stelle ihrer Schwester: »Wäre ich meinem Wunsch mitzureisen gefolgt, er hätte mich vorgezogen, die weite große Welt stände mir dann offen.« (367) Dolores sehnt sich nach Klelias Glück, um das sie sich betrogen fühlt. Den engen Zusammenhang zwischen Dolores’ schneller Zuneigung für den Neuankömmling und ihrer Konkurrenz zu Klelia stellt nicht nur der Markese her, wenn er sich sozusagen als personifizierte Alternative zu Klelias italienischem Glück feilbietet. Dieselbe Verklammerung hebt 211
auch die zeitliche Konstruktion des Romantextes hervor. Obwohl auf der Ebene der histoire (erzählte Zeit) mehrere Monate zwischen der Ankunft von Klelias Brief und der des Markese liegen, trennen die beiden Ereignisse auf der Ebene des discours (Erzählzeit) nur wenige Zeilen (368–369). Der Effekt dieses elliptischen Erzählens besteht darin, Dolores’ Lektüreeindrücke äußerste Präsenz und damit Wirkmacht zuzuschreiben. Dolores’ Gedanke, dass es vor ihrer Hochzeit mit Karl für sie möglich gewesen wäre, selbst nach Italien zu reisen (366, 147), zeigt, dass der Markese über den schwesterlichen Konkurrenzkampf hinaus zugleich auch an den von Dolores empfundenen Gegensatz von glücklicher, selbst bestimmter Jugend einerseits und der Demütigung während ihres unglücklichen Eheleben andererseits anknüpft. Er positioniert sich auf eine Art im familiären Beziehungsgewebe, dass Dolores in ihm die Möglichkeit erkennen muss, das verpasste Glück – den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und den zwischen ihr und Klelia – durch eine Liason mit ihm kompensieren zu können. Der Roman hebt hervor, dass nicht etwa ein (fremder) Dritter auf das Paar trifft, sondern dass sich die vorherige Mènage-àtrois, in der Karl zwischen den beiden Schwestern wählen konnte,296 für Dolores zu einer attraktiven Viererkonstellation erweitert. Sie kann das Wissen, ihre Freiheit eingebüßt zu haben und ihren Mann immer mit ihrer Schwester teilen zu müssen, kompensieren. Dolores erhält aus ihrer Sicht mit dieser Wahlmöglichkeit sowohl gegenüber Karl als auch im Vergleich zu Klelia ein Stück ihrer (zuvor eingebüßten) Selbstständigkeit, ihrer Freiheit und Autonomie zurück. Der Markese positioniert sich nicht allein im familiären Netzwerk. Wesentlicher Bestandteil seiner Verführungsstrategie ist auch, dass er Dolores politischen Einfluss einräumen will und ihr suggeriert, die Gleichberechtigung der Geschlechter sei für ihn eine Selbstverständlichkeit. Der Markese webt auf diese Weise zugleich die Erziehungsprinzipien von Dolores’ Vater (375),297 die zeitgenössische gesellschaftliche Neubewertung des Geschlechterverhältnisses (ebd.) und nicht zuletzt Karls vorherigen Verstoß gegen die Gleichstellung in seine Liebeskommunikation ein. Hat Karl Dolores’ Vorstellungen zuvor mit Füßen getreten, hegt der Markese sie geradezu liebevoll. Er distanziert sich von dem traditionellen Frauenbild, das in der Mutterrolle aufgeht, da »alle die guten Mütter, wozu in Deutschland das weibliche Geschlecht einzig bestimmt wird, von ihren eignen Kindern
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Dass Karl und Klelia ihre »heimliche Liebe« stets präsent halten, zeigt sich beispielsweise daran, dass Karl darauf besteht, Klelia trotz ihrer Abwesenheit zur Taufpatin des ersten Kindes zu machen (365). Zudem betont der Erzähler, dass Klelia alle ihre Briefe an Karl nicht an Dolores adressiert (437). Die Mènage-à-trois besteht also weiterhin, zumal Klelia in einem ihrer Briefe extra betont, dass sie mit ihrem Leben dem Vorbild ihres Schwagers folgt (367). Dolores ist aus ihrer Kindheit gewohnt, dass Frauen an politischen Entscheidungen beteiligt werden: »Im elterlichen Haus war Dolores das Gegenteil gewöhnt worden; Frauen wurden zu mancher geheimen Verhandlung gebraucht, öfter als Schiedsrichter über streitige Fälle [...].« (375)
schon vergessen werden« (376), und versichert Dolores sofort darauf: »darum glauben sie wegen jener Äußerung nicht, daß ich mütterliche Tugenden verachte, die sie Gräfin so schön und liebreich ausüben; aber es gibt freilich Höheres!« (376). Das Höhere besteht in der Politik. Er lässt ihr »politische Schriften« (375) zukommen, und zwar »deren bald viele, sehr verbotene, schwer zu erlangende, mit unter so gar Manuskripte, die er auf seinen Reise eingehandelt hatte« (375). Er weiht sie in politische Geheimnisse ein, stärkt ihre Mitspracherechte und schwärmt von einflussreichen Frauen am französischen Hof, die ihre Rechte und ihre Macht erst durch die Französische Revolution schlagartig wieder eingebüßt hätten (375). Der Markese hat Erfolg: »Der Gräfin Zimmer schmückte sich jetzt mit französischer Gelehrsamkeit; sie lebte sich ganz hinein in den Charakter der politischen Frauen in Frankreich […]« (376). Nach dem topischen Muster des Verführers, schreibt der Markese Dolores zwar ihre Lektüre vor, aber Dolores verkörpert dennoch nicht den Frauentypus der »begehrten Unschuld«. Der Verführer richtet sich vielmehr nach den Vorstellungen einer selbst- und machtbewussten, aktiven und ihrerseits verführerischen Frau, deren Schwierigkeit allerdings darin besteht, sich nicht aus der patriarchalischen Gewalt lösen zu können, keinen Platz innerhalb der gesellschaftlichen Struktur zu finden.298 Der Markese verspricht Dolores exakt die Egalität, Autonomie und Relevanz ihrer Vorstellungen, welche die romantische Liebe der Frau verspricht, die Karl ihr aber im Sinne einer unzeitgemäßen Geschlechtereinteilung verwehrt. Auch auf dem politischen Feld kombiniert er die Kompensation vorheriger Demütigung mit Dolores’ narzisstischer Wunscherfüllung. Der Erzähler resümiert, dass »nie ein Mann ihr ganzes Gemüt so in seiner Gewalt gehabt, weil sie nie eigentlich geliebt hatte, sie fühlte etwas Neues zwischen sich und dem Markese entstehen, das sie nach allen Beschreibungen der Bücher für wahre Liebe halten musste.« (380) Der Markese verkehrt also Dolores Lebenssituation von seiner Ankunft an in ihr komplettes Gegenteil, sorgt auf diese Weise in Dolores Augen aber stets für die ebenso bittere wie wahre Erkenntnis (Anagnorisis), dass Karl ihr diese Möglichkeiten verwehrt. Diese doppelte Strategie zeitigt den gewünschten Effekt. Erstens löst die erinnerte Demütigung eine gehörige Portion Wut auf Karl aus: »Ihr Mann war ihr […] ganz verhasst, sie glaubte in ihm die Ursach[e] ihrer Beschämung« (380), resümiert der Erzähler am Abend vor der Verführung.299 Aus Dolores’ Sicht schwingt
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Mit dieser Konzeption schlägt der Roman bewusst das Erzählmodell der begehrten Unschuld aus, mit welcher der Leser zu zittern hat, die er zugleich verführt wissen möchte (Topos der Verführung). Vgl. hierzu Anna Marx, Das Begehren der Unschuld. Zum Topos der Verführung im bürgerlichen Trauerspiel und (Brief-)Roman des späten 18. Jahrhunderts, Freiburg 1999. Der Erzähler deutet diesen Hass aus seiner patriarchalischen Perspektive als »eine häufige Mißdeutung des Gefühls.« (380) Und er setzt in einer seiner typischen Vereinfachungen fort: Dolores glaubte »in ihm die Ursach ihrer Beschämung; bald kam es ihr vor, als habe er sie boshaft dem Markese ganz überlassen wollen; sie fand es plötzlich ein
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in jedem Wunsch, den der Markese ihr von den Augen abliest, der Vorwurf mit, Karl habe ihr denselben verweigert. Der Markese inszeniert Karl als einen Gegner der weiblichen Egalität als einen Verräter romantischer Liebesversprechen. Der Kontrast zwischen ihrer gegenwärtigen und ihrer vergangenen Lebenssituation, zwischen Liebhaber und Ehemann führt dazu, dass Dolores von Karl und seinen ursprünglichen Liebesversprechen grundlegend (und ja durchaus zu Recht) enttäuscht ist und sich von ihm distanziert. Zweitens steigert der Markese mit jeder (demütigenden) Erinnerung an ihre vorherige Demütigung die Intensität von Dolores’ Wunsch, sich von Karl und ihrem vorherige Leben abzusetzen und als selbst bestimmte Frau aufzutreten, die ihre von Kindheit an gewachsenen Idealen realisiert. Zu dieser Kompensation gehört es, Karl durch den Markese zu ersetzen. Dolores positioniert den Markese dadurch an Karls Stelle, dass sie ihm den Schlüssel zu einem geheimen Gang zukommen lässt, der ihre Zimmer mit Karls Arbeitsstube verbindet. Sie kodiert also das Verhältnis von Arbeit und Liebe eigenmächtig um: Kam Karl immer zu ihr, wenn er seine Arbeit hinter sich lassen wollte, kommt der Markese auf demselben Weg zu ihr, um mit ihr in politischen Fragen zusammen zu arbeiten.300 Der Wunsch nach Kompensation spornt sie von da an ununterbrochen an, noch schöner, noch eigenständiger, noch einflussreicher zu werden: »Die Gräfin drängte sich ungeduldig, dieses Höhere kennen zu lernen« (376). Drittens stimuliert der Markese seinerseits einen Machtkampf zwischen Mann und Frau. Dolores findet »in ihm den gewandesten, liebenswürdigsten Mann, sie konnte ihn mit niemand vergleichen, alles an ihm schien eigentümlich.« (368) Da Dolores ausgerechnet die »Eigentümlichkeit« des Markese betont, verrät sie sich: Sie will den Markese zu ihrem Eigentum machen und ihn besitzen. Und weil mit dem Markese nicht irgendein beliebiger, sondern der glanzvollste und mächtigste Mann ihre Fähigkeiten schätzt und sogar fürchtet, weckt er in Dolores die Hoffnung, ihre vorherige Demütigung kompensieren zu können, indem sie ihn verführt und damit unterwirft. Dolores handelt nach dem Motto: Erobere ich diesen einen Mann, dann unterwerfe ich sie alle. Der Markese spielt dies gekonnt mit, indem er sich als potentielles Opfer inszeniert. »Heute wird sich der Markese doch vor mir demütigen müssen; heute will ich ihn warten lassen, ehe ich ihm die Hand biete« (378), verspricht Dolores sich am Abend vor ihrer Verführung (378). Der Markese erscheint ihr insofern als das personifizierte Glück, als er den Weg zum von Dolores angestrebten »Höheren« ebnen soll. Macht ausüben, (be)herrschen zu wollen, erfordert aber von Dolores eine ständige Lektüreleistung. Um den Markese
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himmelschreiendes Unrecht von ihm, eine junge Frau so allein ohne Genuß zurückzulassen. – Mißverständnisse sind die Blüten des Bösen, nur die Guten verstehen sich mit Guten zum Guten ganz und immer.« (380) Die Substitution wird zuvor schon dadurch deutlich, dass Karl auf seinen Landsitz reist, und der Markese mit Dolores im Stadtschloss bleibt. Als Mann an Dolores Seite nimmt er in gewisser Weise schon Karls Position ein (369). Zum geheimen Gang vgl. Kapitel 5.6.2 dieser Studie.
zu unterwerfen, muss Dolores ihn durchschauen, sich in sein Inneres hineinversetzen und seine Gedanken lesen. Dasselbe gilt für das versprochene »Höhere«, das sich Dolores ebenfalls per Lektüre aneigenen muss (vgl. 377). Der Markese ist auch deshalb so attraktiv, weil er ebenso wie das von ihm mit der Metapher des »Höheren« angepriesene stets geheimnisvoll, unergründlich und letztlich opak bleibt. Alles teilt er Dolores im Ton »priesterlicher Beschwörung« (380) unter dem »Siegel der Verschwiegenheit« (376) oder im Namen »einer höheren Weltregierung« (376) mit. Er spinnt sie ein in eine Rhetorik von Alchemie, Mystik, Religion und Naturwissenschaft und fungiert somit als geheimnisvolle Oberfläche, welche die Begierde nach Tiefe, Sinn und Zusammenhang entfacht. Daher hat in Dolores Augen »manches Zeichen, das er willkürlich machte, einen tieferen Sinn« (381). Dolores agiert als Hermeneutin einer (sinnfreien) Oberfläche von Signifikanten, deren Bedeutung sie zu verstehen versucht. Dolores’ Liebesverhältnis zum Markese ist ein Leseabenteuer, das ihr Macht und Herrschaft verspricht. Diesen Vorgaben entsprechend, besteht die Verführung aus drei Akten. Zuerst vereint sie das narzisstische Prinzip mit der Demütigung und beginnt – wie könnte es anders sein – in einem Spiegelsaal, in dem Dolores sich für einen Ball schminkt und in ein narzisstisches Selbstgespräch vertieft (378). Es folgt die Demütigung: Der Markese belauscht Dolores’ Monolog nicht nur, er unterbricht ihn. Er zerstört das Spiegelbild, in dessen Anblick Dolores’ sich selbst gefällt, indem er sie an ihren Ehealltag erinnert. Dolores muss es sich gefallen lassen, dass der Markese ihr ein moralisches Gedicht vorträgt, mit dem Karl ihr bei einer anderen Gelegenheit alle »Schminktricks« austreiben wollte (378). Auf Dolores wirkt dieser Vortrag gleich mehrfach demütigend – sowohl, weil der Markese ihre Liebeskunst als solche enttarnt und ihr mit Karls Gedicht dessen platonischen Vorwurf macht, sie verstelle mit ihrer Artifizialität die Wahrheit, sie Liebe in Wahrheit nicht, als auch, weil sie an ihre Vergangenheit erinnert wird, und nicht zuletzt, weil sie ihre Unfähigkeit erkennen muss, den Markese zu unterwerfen: »Die Folge davon war, daß sie von ihm lernen wollte.« (381). In solch pädagogischem Sog, im Bildungsrausch, gibt sich Dolores im zweiten Akt des Verführungsdramas der markesischen Sprachmacht hin. Der Markese verführt sie bei künstlichem Widerschein von Kerzenlicht (381), das auf die Artifizialität, die geradezu lichtdramaturgische Inszenierung, verweist sowie mit der Opazität sprachlicher Zweideutigkeit korrespondiert, welche nicht mehr als den An-schein des »Höheren«, des Unbegreiflichen erzeugt. Der Markese beschwört sie mit »allerlei geheimnisvollen Wissenschaften, höherer Philosophie, Astrologie und Geisterbeschwörung.« (381) Diesem Schein gibt sich Dolores hin, indem sie sich während der »chymische Hochzeit« (382), die der Markese vor ihren Augen samt Marienvision, Ohnmacht und anschließender Erweckung inszeniert, in den Abgrund des Verstehens stürzt. Der Markese erscheint ihr dabei als Opfer und Retter zugleich: »Die Gräfin war so freudig über sein Erwachen, sie hätte sich dem Himmel aus Dankbarkeit geopfert.« (383). Erst am Abend danach folgt der dritte Akt der Verführung. Der Markese erlangt »den Sieg über ihre Treue und ihr Glück« und zehrt die »jetzigen und künftigen Früchte an einem Abende auf« (384). 215
Doch Dolores kommt nicht dazu, Licht in das Dunkel zu bringen. Ihre Lektüre dringt nicht durch das Dickicht der Zeichen und Körper. Vielmehr erlebt sie im mehrfachen Sinne ein Desaster. Unmittelbar nach ihrer Liebesnacht stellt sich für sie heraus, dass sie vom Markese nur ein weiteres Mal von der patriarchalischen Macht gedemütigt wurde. Der Markese bricht, kaum dass er das Verführungsspiel für sich entschieden hat, sofort den Kontakt zu Dolores ab. Er wendet sich von ihr ab und reist gemeinsam mit Karl auf dessen Landsitz, der aus Dolores’ Perspektive die patriarchalische Gewalt symbolisiert. Nach seiner Rückkehr in die Stadt kommt es zum Eklat. Gewaltsam zerbricht der Markese den kommunikativen Kreislauf von Dolores’ narzisstischer Selbstbespiegelung. »Noch immer scherzend« trägt Dolores ihrem Liebhaber ein Duett vor, »das damals als sie dies zum erstenmal ihrem Mann erzählt, von ihm darauf gedichtet worden sei« (426). Als fleißige Schülerin verfährt sie also nach demselben Verfahren wie ihr Lehrmeister zuvor. Mit diesem Duett, in dem eine besorgte Mutter ihre schöne Tochter vor der verführerischen Wirkung ihrer Blicke warnt, will Dolores den moralischen Impetus ihres Mannes verlachen. Der Markese aber verbietet ihr, sich über ihren Mann und seine patriarchalische Rolle zu erheben: »Und darüber können sie lachen? fragte der Markese, jeder andere dürfte dabei lachen, nur sie nicht, die von dem Manne so zärtlich gewarnt worden, den sie nicht verdienen.« (426) Statt die Gesellschaftsordnung mit Dolores lachend aus den Angeln zu heben, verweist er sie in den Verhaltenskodex ihrer Ehe zurück. Dieser Akt markiert aus Dolores’ Sicht den Rückfall in die patriarchalische Ordnung. In diesem Moment muss sie – nach dem Vorbild der dramatischen Anagnorisis – erkennen, dass der Markese sie betrogen hat. Die Entdeckung hat weitreichendere Folgen als nur die schmerzliche Erkenntnis, dass ihre (individualisierte) Liebe nicht erwidert wird. Auch Dolores’ Selbstbild, das sie über ihre Spiegelung im Markese stabilisiert hat, bricht im selben Augenblick zusammen. Sie durchlebt eine tiefe Identitätskrise (429). Zudem muss sie ein zweites Mal – wie schon beim Umzug auf Karls Landsitz – erkennen, dass sich Egalität und Autonomie, welche ihr die romantische Liebe verspricht, für sie nicht einlöst. Wieder hat sie sich von den Versprechen der romantischen Liebe, die mit ihren Vorstellungen korrelieren, blenden lassen. Erneut hält die Liebe nicht, was sie verspricht.301 Dolores findet sich also in derselben ausweglosen Situation wie zuvor. Der Markese bestätigt noch einmal die patriarchalische Herrschaft über die Frau, er unterwirft Dolores ein zweites Mal. Der Markese ist demnach nichts mehr als ein Wiedergänger von Karl. Aufgrund der Wiederholung zerschlagen sich Dolores’ Hoffnungen endgültig. Ihre Probleme erweisen sich als unlösbar: Sie kann aus dem Teufelskreis von Liebe und patriarchalischer Gewalt nicht ausbrechen. In diesem Wissen besteht ihre endgültige Demütigung, an der sich tatsächlich bis zum Romanschluss nichts ändern wird. Dolores kann innerhalb der romantischen Liebe nur verlieren. Sie ist auch dann chancenlos, wenn sie mit Hilfe einer anderen Liebe
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Daniela Placido, »Besser schmeckt mir kein Vergnügen«, S. 115.
versucht, aus der ehelichen Ordnung auszubrechen. Solange sie auf die romantische Liebe vertraut, ist ihre Individualität nicht erwünscht. Für ihren Charakter, für die Versprechen der Liebesinitiation, gibt es in der gesellschaftlichen Ordnung schlicht keinen Platz. Dass ihre Verführung ausgerechnet am 14. Juli, dem Tag der Französischen Revolution, stattfindet, ist in diesem Kontext als ironischer Kommentar zu Dolores’ Schicksal zu lesen:302 Die Revolution bleibt aus ihrer Sicht aus. Es ist der Tag, an dem ihre Bemühungen um Gleichheit und Freiheit ausgerechnet an der Brüderlichkeit, an der patriarchalischen Allianz zwischen Karl, Markese und Erzähler scheitern. Die Französische Revolution, darauf verweist die Brüderlichkeit, hat zum Erhalt der männlichen Vormacht gedient, und der Frau sogar noch vorrevolutionäre Privilegien genommen. Aus Sicht der Frau ist die Revolution ein Rückschritt. Demonstrativ besiegelt der Erzähler noch einmal Dolores’ Niederlage, indem er von seinem punktuellen Zweifel absieht und die Ereignisse streng aus der Sicht des Patriarchen schildert: Als hätte er sie zuvor stets überhöht bedauert er nun ihren Fall im Stil einer Apotheose: »O du angebetete Schönheit, wie bist du gefallen von deiner Höhe, wie bist du gemein geworden und ich trage keine heilige Scheu mir vor dir.« (384). Das Bild des gefallenen Engels, in das der Erzähler seine weibliche Protagonistin zwingt, sagt weniger über das Geschehen aus als über den zwanghaften Blick des Mannes, der ihre Ehezeit zu einer himmlischen Zeit verklärt. Dolores’ Schicksal ist endgültig der männlichen Deutungsmacht unterworfen. Performativ führt der Roman nun die eingeschränkte, patriarchalische Sichtweise und Ignoranz dadurch vor, dass der Erzähler seine Titelheldin mit ihrem Leid alleine lässt. Schon während ihres Ehelebens hatte er sie ja zunehmend sich selbst überlassen, und war lieber Karl in seine Außenwelt gefolgt. Nach der Abreise des Markese aber lässt er Dolores erneut schnöde im Stich und straft sie mit Missachtung. Von ihrem Unglück, von ihren Gefühlen, von ihrer Innenwelt erfährt der Leser so gut wie nichts. Die Erzählung von ihrem Schicksal wird zugunsten von den Ereignissen um Karl unterdrückt. Nicht seiner weiblichen Titelheldin, sondern seinem männlichen Protagonisten folgt der Blick des Erzählers. Über fast vierzig Seiten Erzählzeit hinweg beschreibt er, wie Karl zunächst gemeinsam mit dem Markese auf sein Landgut reist, und wie er von dort zu seiner Reise zu Arnica Montana aufbricht. Der Erzäh-
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Ein Teil der bisherigen Forschung erkennt in diesem symbolträchtigen Datum Arnims Wunsch, die Französische Revolution wieder rückgängig zu machen, um den vermeintlichen Zerfall der Werte im napoleonischen Zeitalter aufzuhalten. Klaus Peter, Achim von Arnim. Die ›Gräfin Dolores‹, S. 244f. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 116ff. Aus der Textlektüre erschließt sich diese Lesart zumindest nicht zwingend. Zumal die Identifi kationsfigur »Karl« ja freiheitliche, postrevolutionäre Ideale vertritt. Knaak und Moering argumentieren in diese Richtung, entwickeln aber keine Lesart der politischen Allegorie. Vgl. Jürgen Knaack, Achim von Arnim – Nicht nur Poet, S. 30ff. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 85ff.
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ler selbst setzt also das Muster patriarchalischer Ignoranz narrativ um: Wo keine Krise sein darf, muss auch nicht erzählt werden – so die männliche Vorgabe.
5.
Karls Liebestragödie: Autorschaft und Liebe
5.1
Karl als liebender Poet
Die vorliegende Untersuchung beugt sich an dieser Stelle zumindest vorübergehend der (patriarchalisch konnotierten) Textkonstruktion und wendet sich Karls Liebe zu. Selbstverständlich bildet Karls Liebes- und Ehegeschichte so etwas wie die Kehrseite von Dolores’ Demütigungsschicksal. Als Bräutigam bzw. Ehemann erlebt zwar auch er keine Zeit absoluter Harmonie, aber im Gegensatz zu seiner Frau kann er die Freiheiten nutzen, die ihm seine patriarchalische Machtposition zusichert. Karl genießt das Liebesglück eines Patriarchen. Er erfüllt sich seine individuellen Liebesvorstellungen, setzt seine Korrespondenz mit Klelia fort, geht in seiner täglichen Arbeit auf, verwirklicht sich selbst mit seinem Kirchbau, seiner landwirtschaftlichen Arbeit, seiner pädagogischen Schulung der Landbevölkerung (und seiner Frau). Weil Karl sich zudem im Geschlechterkampf auf die um 1800 konventionellen Rollenstereotype berufen kann, plagt ihn gegenüber seiner Frau auch kein Unrechtsbewusstsein. Über lange Zeit hinweg bemerkt er nicht einmal, dass er Dolores demütigt. Begehrt seine Frau auf, tut er dies als Launenhaftigkeit ab (vgl. 286). Schnell lernt er, die Konflikte mit seiner Frau auszusitzen.303 Für Karl ist die eheliche Ordnung zwar ab und an gefährdet, die immer wieder aufkeimenden Streitigkeiten mit Dolores bilden aus seiner Sicht aber nur die Ausnahme von der Regel eines ansonsten geordneten Ehelebens. Aus Karls Perspektive verläuft seine Ehe in gleichmäßigen, seinen Vorstellungen gemäßen Bahnen. Im Prinzip durchlebt Karl also jene Zeit des Glücks und des »Reichtum[s]«, die der Untertitel des Romans eigentlich Dolores verspricht. Der Roman entwickelt ein Oppositionsschema: Karl im Glück steht Dolores im Unglück gegenüber, sein Reichtum opponiert mit ihrer Armut, er agiert als patriarchalischer Herrscher, sie als unterdrückte Frau. So perfekt sich die Vor- und Rückseite der Liebesehemedaille ergänzen, dennoch entgeht demjenigen, der Karls und Dolores’ Ehegeschichte ausschließlich auf den Geschlechterkampf reduziert, eine wesentliche Dimension des im Roman verhandelten Liebesdiskurses. Anhand ihrer männlichen Reflexionsfigur »Karl« beleuchtet die ›Gräfin Dolores‹ über den Egalitätsverlust in der romantischen Liebe hinaus zugleich noch einen ganz anderen Zusammenhang, und zwar den in seiner Bedeutung für die Romantik wohl überhaupt nicht hoch genug einzuschätzenden
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Die Konflikte glättet er entweder dadurch, dass er sich vornimmt, seine Frau zu erziehen und von seinen eigenen Prinzipien zu überzeugen (363), oder dadurch, dass er – wie oben bereits beschrieben – einfach seine Vorstellungen auf Dolores projiziert (236).
zwischen Liebes-, Autorschafts- und Subjektdiskurs. Dieses Dispositiv beherrscht Karls Liebesgeschichte. Möglich ist dies aus narratologischer Perspektive, weil der Roman sich der Technik der Parallel-Montage bedient, die inzwischen vor allem im modernen Film eingesetzt wird.304 Unter dieser »versteht man die Parallelführung zweier Handlungsstränge, von denen keiner dem anderen (wie im Sprechtheater seit alters üblich) im Sinne einer Nebenhandlung untergeordnet ist.«305 Aus Dolores’ und Karls gemeinsamer Liebesgeschichte entwickeln sich durch die räumliche Trennung der beiden Partner einerseits, durch die wechselnde interne Fokalisierung andererseits, zwei parallel geführte und simultan verlaufende Handlungsstränge. Karls Liebesgeschichte summiert sich aus all jenen Sequenzen, in denen er getrennt von Dolores auf der Bühne des Romans agiert. Zu diesen Erzähleinheiten gehört seine erste Ankunft vor Dolores’ Schloss (124, 129), zu ihnen zählen seine einsamen Nächte während der ersten beiden Sommer (134f., 152ff.). Zu diesen muss man auch die Einblendungen während seiner Reise zu und seines Aufenthalts in seiner Universitätsstadt rechnen (141–144), ebenso die Erzählungen von seinen Erlebnissen außerhalb des Landschlosses, sein Duell mit dem hässlichen Baron (167f.), seine Begegnungen mit Traugott (308, 319–322, 336f. u. 347), seinen zweiten sommerlichen Aufenthalt auf seinem Landsitz (370–373) sowie seine Reise mit dem Markese dorthin (385–392), seine Flucht zu Arnica Montana (392–425), die einsame, krisengeschüttelte Zeit, die Karl in seinem Zimmer verbringt (436–438 u. 449ff.), und nicht zuletzt seine Wallfahrt (450–459). Karls Liebesleben entwickelt sich innerhalb der Rahmenhandlung zu einer Art Paralleluniversum, das sich schrittweise von den Geschehnissen um Dolores abnabelt.306 Von der Liebesinitiation an durchlebt Karl eine weithin von Dolores separierte Liebesgeschichte, ohne dass die Beziehung zu seiner Frau sich je komplett auflöst. Wie zwei Planeten, von der Gravitation gegenseitig angezogen, aber doch auf Distanz, umkreisen sich die beiden Ehepartner. Ab und an überkreuzen sich ihre Umlaufbahnen, doch anschließend entfernen sich die beiden Liebenden wieder voneinander. Die beiden parallel verlaufenden Welten entsprechen sich insofern (spiegelbildlich), als sie nach demselben Bauprinzip konstruiert sind. Wie schon bei Dolores bildet auch bei Karl seine Liebesinitiation den Dreh- und Angelpunkt der gesamten
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Grundlegend zur Parallel-Montage vgl. Hanno Möbius, Montage und Collage, München 2000, S. 237f. Zur Verwendung dieser Technik beispielsweise in der Oper um 1800 vgl. zuletzt: Jan Assman, Die Zauberflöte, Oper und Mysterium, München 2005, S. 272–300. Jan Assmann, Die Zauberflöte, S. 273. Hanno Möbius, Montage, S. 374. Die Arnimforschung hat zu Recht festgehalten, dass sich der Roman seinem männlichen Protagonisten so ausführlich widmet, dass Karl zum eigentlichen Helden avanciert. Im Roman wird Dolores’ Schicksal so weit in den Hintergrund gedrängt, dass die Behauptung nahe liegt, die ›Gräfin Dolores‹ firmiere mit ihrem Titel letztlich unter einem falschen Namen.
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Erzählkomposition. Während sich seine Liebe auf den ersten Blick entzündet, entspinnen sich alle wichtigen Fäden, aus denen Karls Liebessgeschichte gewoben ist. Keine anfangs gelegte Spur verliert sich, auch wenn einige erst vierhundert Seiten später wieder aufgenommen werden. Aber von diesem Ausgangspunkt an, den die beiden Liebenden ja schon nacheinander und getrennt erleben (vgl. Kapitel 2.2), durchläuft jede der beiden Liebesgeschichten ihre eigenen Höhen und Tiefen und folgt einem jeweils eigenen Spannungsbogen. Die direkten Kollisionen der beiden Partner bilden nicht ungedingt die Höhepunkte der Handlungsstränge. So fällt der Höhepunkt von Dolores’ plot keineswegs mit dem von Karls Handlungsstrang zusammen. Dolores’ Ehebruch vom 14. Juli (384) verschränkt sich erst »über vier Wochen« (430) nach ihrer Trennung vom Markese mit Karls Liebesdrama. Ganze 51 Seiten Erzählzeit liegen zwischen Dolores’ Verführungsnacht und dem Zeitpunkt, an dem Karl von ihrer Untreue erfährt. Während dieser Zeit erlebt Karl aus seiner Sicht sogar noch eine Phase ehelicher Harmonie. Erst dann – stark zeitverzögert, und von den Ereignissen um Dolores entkoppelt – schlägt sein Eheglück in Unglück um (metabasis), worauf Karl beginnt, seinen Selbstmord zu planen (430f.). In Folge dieser Konstruktion läuft Karls Liebesgeschichte von seiner Initiation aus, über die Entdeckung von Dolores’ Untreue direkt auf seinen Suizidversuch hinaus, der den dramatischen Höhe- bzw. persönlichen Tiefpunkt seines Handlungsverlaufs bildet. Karls Ehekrise mündet unmittelbar in einer existentiellen Bedrohung des Subjekts. Weil diesem Handlungsstrang dasselbe Gewicht zukommt wie Dolores’ Ehebruch, endet konsequenterweise die dritte Abteilung des Romans »Schuld« erst in dem Moment, in dem Karl seinen Selbstmordversuch in die Tat umsetzt (440). Erst als Karl getroffen von einer Pistolenkugel zu Boden sinkt, die Ehekrise das liebende Subjekt augenscheinlich in den Abgrund gerissen und damit Liebes- und Subjektdiskurs ineinander verschmolzen hat, schließt sich der Kreis seines (und damit des gesamten) Liebesdramas. Diese Konstruktion stellt heraus, dass Karls Liebesgeschichte unbedingt im Zusammenhang mit dem Subjektdiskurs zu lesen ist. Ein zweiter Erzählstrang sticht in Karls Liebesgeschichte von Beginn an hervor. War zum einen die Initiationsszene deutlich als eine Station in Karls Bildungsweg eingeordnet, stand zum anderen Karls Kreativität im Vordergrund seiner »Liebe auf den ersten Blick« (vgl. Kapitel 2.2). Wie alle kanonischen Bildungsromane von Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, über Schegels ›Lucinde‹, Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ oder Tiecks ›Franz Sternbalds Wanderungen‹ bis zu Kellers ›Der grüne Heinrich‹ kürt auch die ›Gräfin Dolores‹ eine Künstlerfigur zu ihrem männlichen Helden.307 Karls Künstlervita setzt mit seiner »generativen Lektüre«308 wäh-
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Siehe hierzu auch Herbert Marcuse, Der deutsche Künstlerroman. In: Herbert Marcuse, Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1978. Zu dem Begriff »generativer Lektüre« vgl. Andreas Kilcher. Dieser wendet Mantheys »projektiven Blick«, ohne auf diesen einzugehen, texttheoretisch, um ihn an Arnims Erzähltext »Niederländische Liebhabereien« zu operationalisieren. Andreas B. Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz. Literarische Textverarbeitung bei Achim von Ar-
rend seines ersten Blicks auf Dolores ein und endet nach dem Tod seiner Frau mit seinem spektakulären Bau des Doloresdenkmals.309 In diesem Zeitraum entpuppt Karl sich als ein kreatives Multitalent. Er beherrscht die ganze Bandbreite schöner Künste – von der lyrischen Dichtung, bis zur Musik, von der Malerei über die Bildhauerkunst bis hin zur Architektur. Und ihm gelingt es, sein künstlerisches Schaffen in seinen Alltag zu integrieren und mit seiner (geradezu) bürgerlichen Existenz zu versöhnen.310 Zu seinem Oeuvre gehören deshalb auch eine Reihe schöpferischer Tätigkeiten, die nicht unmittelbar dem Gebiet der Kunst zuzuordnen sind: seine landwirtschaftliche Arbeit, die Anlage seiner Gärten, die Renovierung von Dolores’ Palast sowie sein eigener Kirchbau. Auch die Zeugung seiner insgesamt zwölf Kinder muss man gemeinsam mit ihrer Namensgebung zu seinen kreativen Schöpfungen rechnen. Und nicht zuletzt ist auch die Planung seines Selbstmords, den er als ein infernales Welttheater inszeniert, nichts anderes als ein Kunstwerk.311 Allerdings charakterisiert ihn seine Vielseitigkeit, durch die er sich von professionellen Künstlern wie dem Dichter Waller unterscheidet, gemeinsam mit der Tatsache, dass er zu keiner Zeit künstlerisch tätig ist, um seinen Broterwerb zu sichern, unausweichlich als Dilettanten.312 Als solcher aber führt Karl eine durch und durch künstlerische Existenz. Seine Liebesgeschichte kann man getrost dem »romantischen Typus der Künstlergeschichte« zuordnen.313 Sie erzählt Karls Bildungsweg vom »Musensohn« (127) zum (erwachsenen) Künstler. Ihrem Charakter, vor allem anderen ein Liebesroman zu sein, bleibt sich Arnims ›Gräfin Dolores‹ insofern treu, als sie den Typus »Künstlerroman« in ihrem Sinne spezifiziert: Statt irgendeine Künstlergeschichte zu erzählen, entwirft sie nachdrücklich die eines liebenden Künstlers.314 Karls kreative Schöpfungskraft ist
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nim. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften (8) 2004, S. 46–68, hier S. 47ff. Wie der Autor, gekoppelt an das Konzept passionierter Liebe, im 18. Jahrhundert zum Romanhelden stilisiert wird, zeigt Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 142– 174. Karl unterscheidet sich auf diese Weise von Figuren wie Brentanos Godwi, Schlegels Julius oder früher noch Moritz’ Anton Reiser und grenzt sich von einer Philosophie des Genusses ab, wie sie Eichendorffs Taugenichts oder F. Schlegels ›Idylle über den Müßiggang‹ entwerfen. Vgl. zur Autorschaft und zum Künstlertum in Arnims Erzählerwerk: Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, auf: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/arnim/hoffmann_zeugung.pdf, eingestellt am: 28.1.2004. Zum Dilettantismus vgl. Gurvi Ellen Bastard u. Marie Theres Federhofer (Hg.), Dilettant, Dandy und Décadent, Hannover-Laatzen 2004. Andreas B. Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 48f. Vgl. zu diesem Zusammenhang grundsätzlich: Christian Begemann, Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus. In: Michael Titzmann (Hg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifi k in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 79–112.
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für Arnims Roman augenscheinlich nur dann relevant, wenn sie im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Liebe steht. Tatsächlich fallen nicht nur Karls Künstlerund Liebesinitiation zusammen, sondern sein kreatives Schaffen bleibt von da an bis zur letzten Seite des Romans mit seiner Liebe verschmolzen. Dies gilt sogar noch über Dolores’ Tod hinaus. Karls Bau »eines Denkmales auf die geliebte Dolores« [meine Hervorhebung, C. M.] (674) steht ausdrücklich im Zeichen seiner Liebe. Wie eine Klammer umfasst die Synthese aus Liebe und Kunst den Ausschnitt seines Lebens, welchen der Roman darstellt.315 Karl agiert immer als Künstler und Liebender zugleich. Für ihn gilt in diesem Zwischenraum die romantische Gleichung: Leben ist Lieben ist Kunst. Er gestaltet sein Dasein als Liebeskunstwerk.316 Was die ›Gräfin Dolores‹ also anhand ihrer Karlsfigur darstellt, ist der Zusammenhang von künstlerischer Produktion und Liebe als conditio humana. Allerdings ist Karl zwar ein Liebeslebenskünstler, aber kein -theoretiker. Zum Zusammenhang von Autorschaft und Liebe äußert er sich nur an zwei Stellen: Zunächst beklagt er sich über Waller, der unaufhörlich seine Umgebung manipuliert, um Stoff für seine poetische Massenproduktion zu generieren. Karl wendet sich ausdrücklich gegen diese »widrige Gefühlsfabrik« (302) und schmäht Wallers Gedichte als »falsche Münze« (292), weil sie in keiner Weise mit den wahren Gefühlen der »realen« Personen korreliere. Daraufhin erhebt Karl denselben Manipulationsvorwurf gegenüber seiner Frau – nicht etwa, weil sie Gedichte schreibt, sondern weil sie sich aus Anlass eines Balles schminkt (378). Karl verbietet Dolores, ihr natürliches Aussehen per Schminke zu manipulieren, und ist sich seither sicher, dass die Gräfin sich »gar nicht mehr schminke, weil sie es ihm damals heilig versprochen.« (378) Dolores und Waller – letzterer in überzeichneter Form – vertreten Ovids »Culta placent«, nach dem die Kultur die Schönheit erst generiert: »Alles, was künstlich ist, ist schön«,317 gibt Ovid in seiner Liebeskunst als Devise aus. Dolores versteht die Liebe als eine schöne Kunst. Um diese zu beherrschen, muss sich der Liebende diffiziler kultureller Techniken bedienen. Dass Dolores sich auf die Liebeskunst versteht, zeigt sich bereits, als sie sich vor dem ersten Treffen mit Karl in ihre Kammer zurückzieht, um sich dort umzukleiden, sich zu schminken und ihre Rolle beim ersten Auftritt vor Karl einzustudieren.318
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Ausgelassen werden Karls Kindheit und Jugend und sein Leben, das er nach Dolores’ Tod führt. Dazu gehört auch, dass er sich mit einer Reihe von weiteren Künstlerfiguren umgibt: Dolores gehört zu diesen ebenso wie der Prediger Frank, Waller, Traugott, Arnica Montana, der wundersame Doktor, der Markese, die Fürstin und nicht zuletzt der Prinz von Palagonien. Sie alle schreiben, erzählen und erfinden Gedichte und Geschichten. P. Ovidius Naso: Ars amatoria. Liebeskunst. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1992, S. 7. Zu diesen Zusammenhängen vgl. auch: Gerhard Neumann, Lektüren der Liebe, S. 50ff. Neumann spricht dem dritten Lehrgedicht aus Ovids Ars amatoria, nämlich dem über die Schminke, erhebliche Bedeutung zu. Während Dolores auf Karl wartet, heißt es: »zwischendurch sah sie sich im Spiegel und sann auf guten Ausdruck des Gesichts und der Rede [...].« (126) Auch ihr Verführungs-
Wenn Karl sich gegen diese Liebekunst verwahrt, ist er als Vertreter der Gegenseite zu identifizieren. Er ist ein Anhänger der platonischen Schönheits- und Liebesschule, wie sie Sokrates im ›Symposion‹ postuliert hat. Als Adept der platonischen Liebestheorie betrachtet er die durch Eros entdeckte Schönheit als Weg zur Wahrheit. Jede Künstlichkeit verstellt seiner Ansicht nach diesen Weg. Deshalb verbietet Karl seiner Frau rigoros, ihre natürliche Schönheit mit Schminke zu überdecken, daher missfällt ihm Wallers Poesie. Damit beschreibt Karl zwar seine grundsätzliche ästhetische Position, über diese Kritik hinaus aber äußert er sich in keinem Gespräch.319 Auch ein produktionsästhetisches Programm verfasst er nicht. Die Bedingungen seiner Kunstproduktion zeigen sich performativ im Prozess seines Schaffens. Wieweit er sich dieser Grundlagen bewusst ist, bleibt hingegen offen. Vor den Augen des Lesers erscheint Karl als naives Genie, dem die Reflexion über Kunstregeln und -wirkungen abgeht.320 Wenn die ›Gräfin Dolores‹ wie jede Künstlergeschichte »im autoreflexiven Akt der Bespiegelung und Potenzierung die Bedingungen der Literatur thematisiert,«321 vollbringt nicht Karl die wesentliche Reflexions- und Darstellungsleistung, sondern der Romantext als solcher. Die Autoreflexion über Autorschaft und Liebe findet zwar im Zuge von Karls Künstlergeschichte, aber jenseits seines Wahrnehmungsund Erkenntnishorizontes, jenseits seiner intendierten Kommunikationsakte sowie seiner ihm bewussten Gedanken- und Gefühlswelt und somit auch außerhalb der histoire statt. Sie vollzieht sich in der Art, wie Karls Autorschaft und Liebe dargestellt werden. So zeigt sich erst auf der Ebene des discours, dass nicht jedes von Karls Kunstwerken dasselbe Gewicht erhält.322 Karl wird einseitig als literarischer
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wettstreit mit dem Markese ist im Prinzip nichts andere als ein Duell der Liebeskünstler. Seinen Höhepunkt findet es im Atelier der Liebeskünstlerin, während Dolores sich vor einem Spiegel sitzend für einen abendlichen Ball schminkt, und der Markese sie dabei heimlich beobachtet (378 und vgl. zudem Kapitel 4.4 dieser Studie). Die Position, die Karl im »Gespräch über die Liebe« vertritt, kann man ihm nicht persönlich zuschreiben. Zum einen, weil dieses Gespräch ein Amalgam unterschiedlicher Gesprächspartner ist, das keine Rückschlüsse mehr zulässt, wer was gesagt hat. Zum anderen, weil das Gespräch ein Amalgam aus Arnims Vorwort von ›Hollins Liebesleben‹ ist (vgl. 191ff.). Damit verliert das Gespräch seinen vermeintlich programmatischen Charakter. Vgl. zu dieser Auffassung Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 250. Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V., Erzählungen, Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München S. 2004, S. 694–780, hier S. 704: »Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines.« Andreas B. Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 48f. Hoffmann hat vorgeschlagen in Arnims Erzähltexten zwischen einer »diskursiven« und einer »symbolischen« Behandlung des Themas Kunst und Künstlertum zu unterscheiden. Die ›Gräfin Dolores‹ verhandelt das Thema sowohl diskursiv als auch symbolisch verschlüsselt. Es zeigt sich, dass die Prinzipien der einen künstlerischen Zeugung auch auf die andere Art der Zeugung zu übertragen sind. Vgl. Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung, S. 2–3.
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Autor inszeniert, indem der Roman ausschließlich diese eine Facette seines Schaffens mit einer Reihe von Originalwerken belegt. Einzig seine literarischen Texte sind in die Rahmenhandlung eingefügt.323 Kein architektonischer Grundriss, keine Skizze eines Bildes, nicht einmal ein Abbild des Doloresdenkmals findet sich im Romantext unmittelbar wieder. Hingegen stammen immerhin fünfundzwanzig der angeblich unzählbaren Texteinlagen in Arnims Roman aus Karls Feder, zwei Texte liest er zudem im Zuge der Rahmenhandlung vor.324 Gezielt profiliert der discours seinen Helden als Poeten. Angesichts dieser Darstellungsweise lässt sich das Reflexionsinteresse des Romans spezifizieren: Die ›Gräfin Dolores‹ mag sich für die Synthese von Kunst(produktion) und Liebe allgemein interessieren, aber ausführlich beleuchtet sie anhand ihrer Figur »Karl« gezielt den speziellen Zusammenhang von literarischer Produktion und Liebe. Sie entwickelt eine dezidiert poetologische Fragestellung.325 Der akribische Nachweis von Karls Originalwerken trägt auf der Textoberfläche zu dem Effekt bei, dass Arnims Roman Friedrich Schlegels frühromantischer Poetik folgt, wie er sie im 60. ›Lyceums Fragment‹ formuliert.326 Die ›Gräfin Dolores‹ vereint »als romantisches Buch, als progressive Universalpoesie, […]alle getrennten Gattungen der Poesie wieder.«327 Doch so universalpoetisch, wie der Roman
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Diese Setzung eines Schwerpunkts zeigt sich auf der histoire höchstens dadurch, dass seiner literarischen Produktion quantitativ am meisten Platz eingeräumt wird. Immerhin schreibt Karl mit enormem Fleiß sein Tagebuch, verfasst Briefe, Erzählungen und Gedichte. Als Roman mit angeblich »unzählbar vielen Einlagen«, macht es einem Arnims ›Gräfin Dolores‹ mit solchen Angaben nicht leicht. Meiner Zählung nach hat Arnims Roman exakt 97 Einlagen. Diese Zahlenangabe stimmt allerdings nicht mit Steinigs Zählung überein, die von 76 Einlagen spricht. In Sachen Karl aber kommen Steinig und ich zu demselben Ergebnis. Zu Karls 25 Texten, die in den Roman eingelegt sind, kommen zwei Szenen, in denen er fremde Texte vorliest, die als Gelesene in die Rahmenhandlung eingesetzt werden. Insgesamt sind Karl also 27 Einlagen zuzuschreiben. Martina Steinig: »Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder…« Lied- und Gedichteinlagen im Roman der Romantik. Eine exemplarische Analyse von Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ und Joseph von Eichendorffs ›Ahnung und Gegenwart‹. Mit Anmerkungen zu Achim von Arnims ›Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores‹, Berlin 2006, S. 450ff. und S. 541. Kilcher greift mit seiner Bemerkung, der Künstlerroman thematisiere »im autoreflexiven Akt der Bespiegelung und Potenzierung die Bedingungen der Literatur« voreilig und pauschal voraus. Es zeigt sich nämlich, dass ein Roman wie die ›Gräfin Dolores‹ äußerst exakt unterscheidet, ob ein Künstlerroman die Bedingungen von Kunst im Allgemeinen reflektiert oder ob ein Dichterroman eine spezifisch poetologische Selbstreflexion vollzieht. Arnims Roman konzentriert sich in Karls Fall mit Hilfe seiner Texteinlagen präzise auf die poetologische Reflexion. Andreas B. Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 48f. Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 38. Die ›Gräfin Dolores‹ gilt der Arnimforschung gemeinhin als konsequente Umsetzung
auf den ersten Blick scheinen mag, ist er im Fall von Karls poetischer Autorschaft nicht.328 Denn aus Karls poetischem Lebenswerk liegt dem Leser wiederum nur eine exklusive Auswahl vor. Von den insgesamt fünfundzwanzig Kostproben Karlscher Dichtkunst sind zweiundzwanzig in Versform verfasst.329 Der Roman profiliert seine Hauptfigur, die sich selbst als universaler Künstler generiert, hinter deren Rücken als Lyriker. Die Anthologie Karlscher Gedichte macht deutlich: Für die ›Gräfin Dolores‹ ist offenbar in erster Linie der Zusammenhang von Poesie und Liebe relevant, den will sie darstellen und reflektieren. 5.2
Simulation einer Herzenssprache
Welche Funktion diese narrativ aufwendige und zugleich so präzise Profilierung des liebenden Lyrikers hat, ist leicht zu beantworten. Die Gedichteinlagen dienen dazu, dem Helden eine Ebene unmittelbarer Emotionalität zuzuschreiben, die dem Erzähler sonst nur von Außen mittels seines eigenen Erzählaktes zugänglich wäre. Karls Gedichte sollen – wie es die Erzählerfigur eingesteht – »seinen Zustand deutlicher darstellen, als wir es in unserer Art zu tun vermögen« (393). Der Erzähler
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frühromantischer Poetik. Strittig ist nur, ob dies negativ oder positiv zu bewerten ist. Auf einer positiven Einschätzung beruht erstmals Renate Moerings Studie über die offene Romanform. Vgl. Dies., Die offene Romanform, S. 15. Ihrer Einschätzung schließen sich die neueren Beiträge von Wingertszahn und Kaminski an. Diese präzise Vorgehensweise des Romantexts zeigt, dass er es auch bezüglich seiner Einlagen in die Romanhandlung gerade nicht zur totalen Verwilderung kommen lässt, wie es die Arnimforschung so gerne behauptet. Vgl. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 301. Gerhart von Graevenitz, Romanform und Geschlechterkampf, S. 108. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 237ff. Steinig geht von insgesamt 76 Binnentexten aus, von denen 60 Lieder und Gedichte seien. Sie hat sogar die Prozente bis auf zwei Stellen hinter dem Komma angegeben: »32,89 % Lieder und 46,05 % Gedichte«. Ein Drittel dieser Lieder und Gedichte, so die merkwürdig ungenaue Angabe, schreibt sie Karl zu: »Elf (55%) seiner Lieder und Gedichte folgen den ›echten‹ volksliedhaften Strophenformen, drei Einlagen (15%) modifizieren diese Schemata, sechs (30%) weichen davon ab.« Diese Angaben stimmen – wenn auch nicht bis auf zwei Stellen hinter dem Komma – mit meiner Zählung überein. Martina Steinig: »Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder…«, S. 450ff. und S. 541. Karls Tagebucheintrag wäre der 23. lyrische Text, den man Karl zuschreiben könnte. Er ist als Prosatext gesetzt, seine Sprache ist aber stark rhythmisiert und verfügt über »Binnenreime«. Es handelt sich um ein lyrisch-prosaisches Zwitterwesen. Bleiben nach meiner Zählung nur noch zwei Prosatexte: Karl erzählt Dolores von einem »wunderlichen Fall«, der vor Gericht kommt (vgl. 288). Und er erzählt der Fürstin, allerdings nur in indirekter Rede wiedergegeben, von Petrarcas Aufstieg auf den Ätna (vgl. 559). Außerdem hat Karl noch zwei Auftritte als Vorleser. Erstens von Hollins Liebesleben (vgl. 194–213), deren »Herausgeber« er auch insofern ist, als er dessen Papiere zuvor sammelt und ordnet, und zweitens von dem Briefwechsel zwischen der Mohrin und dem Abt, den er von einer Stiftsdame vermacht bekommt (vgl. 252, bzw. 272–281). Mit diesen beiden Szenen, in denen Karl ja auch nachlesbaren Text schafft, kommt man auf die insgesamt 27 Einlagen, die auf Karl zurückzuführen sind.
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rekurriert darauf, dass die Lyrik in der Romantik als »emotionalste Gattung« gilt, und vor allem das »naive Lied« zum »neuen Formideal der emotionalen Dichtkunst« avanciert.330 Im Kontext dieses, um 1800 konventionalisierten Wissens, simuliert jeder Wechsel von der im Erzählakt entstehenden Prosa in die Poesie, dass der Text von der allgemeinen Beschreibung des außen stehenden Erzählers in Karls subjektive Gefühls- und Sprachwelt umschaltet. Die Gedichte dienen als eine Art Einstiegsluke in das Innenleben der liebenden Künstlerfigur. Sie machen Karls Gefühlswelt zugänglich.331 Wenn der Erzähler ankündigt, Karls Zustand konturieren zu wollen, und er damit gezielt auf Schillers Nomenklatur zurückgreift (vgl. auch Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit), weist dies darauf hin, dass der Roman Karls Innenwelt nur schlaglichtartig und in unregelmäßigen Abständen beleuchtet. Nur in den Zeiten, in denen Karl außergewöhnlichen emotionsgeladenen Situationen ausgesetzt ist, greift der Erzähler auf Karls Originaltexte zurück. Die Verteilung der Gedichteinlagen ist also streng kalkuliert. So greift der Erzähler erstmals während Karls Liebesinitiation auf dessen Gedichte zurück. Die ersten beiden Einlagen sind nur durch wenige Zeilen Prosa voneinander getrennt (134f.), und während der sich anschließenden, emotionalen Hochphase folgen insgesamt vier Texte aufeinander. Kein Text eines anderen Autors unterbricht (auf intradiegetischer Ebene) den Strom von Karls Poesie. Der Roman konzentriert sich hier mit seinen Einlagen vollständig auf die Darstellung von Karls Gefühlswelt. Anschließend jedoch nimmt die Anzahl von Karls Texten in dem Maße ab, in dem die Routine des prosaischen Liebesalltags zunimmt – keine überschwänglichen Gefühle, keine poetische Einlagen in der Rahmenhandlung. Karls Gedichte finden während der Ehezeit nur noch Einlass in den Romantext, wenn sie in emotionalen Ausnahmesituationen entstanden sind. Zwei seiner Gesänge finden sich im Rahmen von Rosalies und Lorenz’ Hochzeit wieder (238), die ihn auch deshalb bewegt, weil sie in ihm offensichtlich Erinnerungen an seine eigene Vermählung wachruft. Ein Gedicht beschreibt seine Gefühle gegenüber der tollen Ilse und eines gibt Karls Gedanken anlässlich von Traugotts Tod wieder, welcher Karl äußerst nahe geht (347). Gedichte an Dolores finden sich nur im Original wieder, wenn sie aus einer Streitsituation heraus entstanden sind (157, 286) oder Karl noch unter dem Eindruck steht, den das Duell mit dem hässlichem Baron erzeugt hat (171). Eine Konjunktur von Karls Poesieein-
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Zur Emotionalität in der Lyrik des 19. Jahrhunderts resümiert zuletzt Simone Winko: »Für die Theoretiker und Lyriker steht es außer Frage, daß Gefühle ein gattungskonstitutives Merkmal sind. Die Annahme ›Gefühle seien in Gedichten auszudrücken‹, wird nicht in Frage gestellt.« Dies., Emotionskodes und Lyrikgeschichte, S. 129. Zu Lied- und Gedichteinlagen im Roman der Romantik vgl. Martina Steinig: »Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder…«, S. 145ff. Vgl. hierzu auch Hartwig Schultz, »Dieses bewußtlose Fortrollen in mancherlei Gedanken«. Zur Bedeutung von Arnims rudimentären Versen im Roman-Kontext. In: Aurora 46 (1986), S. 99–111. Vgl. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 129ff. Martina Steinig, Wo man singt, S. 15ff.
lagen ist erst wieder zu verzeichnen, als Karl von Dolores’ Untreue geträumt hat und ihn die Flucht vor der Realität schließlich zu Arnica Montana führt. In diese emotional bewegte Phase fallen sieben Gedichte (371, 388, 392, 393, 396, 425, 432). Da Dolores bzw. der Markese parallel auch noch zwei Gedichte Karls zitieren (378, 427), weist die dritte Romanabteilung insgesamt neun poetische Texte von Karl auf und verfügt damit über die größte Dichte Karlscher Gedichtkunst. Während Karls anschließender Pilgerfahrt folgen zwei weitere Gedichte (»Ein Trinklied beim Sternenklang« (452) und »Hippolita« (455)). Weder während der Versöhnung noch während des Aufenthalts in Italien taucht auch nur ein Gedicht von Karl in der Rahmenerzählung auf. Erst als sich die Fürstin, nach ihrer Ankunft auf Sizilien, in ihn verliebt und der Liebesreigen wieder einsetzt, findet sich noch einmal ein Gedicht von Karl in der Erzählung wieder (656). Dieses Verfahren, Karls Affekthaushalt nur schlaglichtartig zu beleuchten, korreliert mit der Technik, immer nur kleine Ausschnitte aus Karls Leben zu erzählen, die nach kurzer Zeit wieder abbrechen und zu anderen, simultan verlaufenden Ereignissen umschalten. Auf diese Weise erzeugt die Erzählung nicht einfach nur Diskontinuität, sondern vielmehr den Effekt einer emotionalen Zuspitzung. Sie generiert Augenblicke höchst intensiver Emotionalität und entwirft Karl als eine Figur, die unmittelbar von ihren jeweiligen Stimmungen geprägt ist und sich, wann immer von ihr erzählt wird, in extremen Gefühlssituationen befindet.332 Diese Konstruktion belegt ein weiteres Mal, dass Arnims Roman sich (auch hinsichtlich seiner Einlagen) nicht etwa in Chaos verliert, sondern seine Untersuchungsvorhaben präzise konzipiert und die Gegenstände seiner Analysen exakt herausarbeitet. An Karls Liebesgeschichte interessiert den Roman nicht irgend ein beliebiger Zusammenhang zwischen Liebe und Autorschaft, sondern ganz gezielt, wie es um das Wechselspiel von Autor(subjekt), Liebesgefühl und Lyrik bestellt ist. Diesen Zusammenhang reflektiert der Roman anhand von Karls Liebesgeschichte. Den Eindruck, die Erzählung stelle mit Hilfe von Karls Lyrik seine Innenwelt unmittelbar und authentisch dar, kann die ›Gräfin Dolores‹ allerdings nur erzeugen, wenn sie zugleich deutlich macht, dass Karls Emotionen und Gedanken spontan und direkt in seine Poesie einfließen. Um dies zu plausibilisieren, bedient sich der Romantext einer Reihe produktionsästhetischer Vorstellungsmuster und Techniken, die um 1800 den Zusammenhang von romantischer Autorschaft und Liebe organisieren. So korreliert er über die Verteilung der Gedichteinlagen Karls Gefühlshaushalt mit seiner poetischen Schaffenskraft, indem er ihn bevorzugt in den extrem emotionalen, bewegten Situationen dichten lässt. Je mehr Gefühl im Spiel ist, desto höher steigert sich Karls lyrische Produktivität. Emotionalitätsgrad
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Dies hatte bereits Rudolph Gerhard konstatiert und zugleich als ein Defizit von Arnims Dichtkunst festgeschrieben: »Es scheint als sei Arnim nicht fähig, ganze Menschen zu gestalten.« Rudolph Gerhard, Studien zur dichterischen Welt Achim von Arnims, Berlin 1958, S. 82 u. 84.
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und Produktionskraft verhalten sich proportional zueinander. Die Verteilung der Lyrikeinlagen in der Rahmenerzählung suggeriert, Karl dichte nur in den Zeiten, in denen sich seine emotionale Situation zuspitzt, während der Liebesinitiation, während der Krisenzeit in seiner Liebe und am Ende des Romans noch einmal, als er in Sizilien die Fürstin kennen lernt (s. o.). Um dem Leser zu suggerieren, Karls Gedichte würden seine Emotionen ungefiltert ausdrücken, reicht es alleine nicht aus, seine poetische Kreativität mit seinem Gefühlshaushalt zu korrelieren. Deshalb inszeniert der Roman darüber hinaus Karls Spontaneität, indem er einen direkten Zusammenhang zwischen Erlebnis und Dichtung konstruiert.333 Die Rahmenhandlung konzipiert für jedes einzelne von Karls Gedichten eine zugehörige Entstehungs- bzw. Schreibszene. Jede dieser Produktionsszenen überschneidet sich so weit mit der fi ktiven Situation, die Karls Gedicht entwirft, um beide miteinander zu identifizieren. Auf diese Weise werden die fiktiven Szenarien in den Gedichten an Karls (im Rahmen der fiktiven Welt) authentische Erfahrung gebunden.334 Es entsteht der Eindruck, Karl schreibe Erlebnislyrik. Auf diesen Effekt zielen bereits Karls ersten beiden Gedichtproduktionen ab. Seine ersten Verse dichtet er unmittelbar nach seinem ersten Treffen mit Dolores, als er sich auf den Weg in das Wirtshaus macht, um dort zu übernachten. »In schweren Reiseschuhen / Tanz ich so törigt nun!« 134), lautet der letzte Doppelvers des eingelegten Gedichts, den der Erzähler mit der Formel referenzialisiert: »Wirklich hatte er sich jubelnd eine glatte Buche umfaßt und tanzte um sie her.« (Ebd.)335 Bei Karls zweiter Gedichteinlage verfährt der Erzähler nach demselben Schema: Inzwischen sitzt Karl in der Nacht nach seiner ersten Begegnung mit Dolores vor seinem Tagebuch, [...] aber er wußte nicht auszudrücken, was ihm begegnet, schlafen konnte er auch nicht, ob er sich gleich endlich niederlegte und so sang er der Nachtigall zu und dem rauschenden Strome, die mit einander wetteiferten. (134)
Karls Schlaflosigkeit wiederholt sich in den ersten Zeilen seines Gedichts: »Mir ist zu licht zum Schlafen … ich bin so froh verwacht« (135). Erst das (mit Hilfe des
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Vgl. hierzu grundlegend: Eva Horn, Subjektivität in der Lyrik: ›Erlebnis und Dichtung‹, ›lyrisches Ich‹. In: Miltos Pechlivanos (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 299–310. Die fi ktionale Welt erhält in Abgrenzung zu Karls Gedicht- und Gefühlswelt den Status einer »realen, authentischen Welt«. Diese Redewendung »wirklich hatte er ...« verwendet der Erzähler im Folgenden als Standardformel, um die Welt im Gedicht mit der erzählten Welt in Einklang zu bringen. Dieser Effekt wird auch dadurch erzielt, dass die Gedichtenden auffällig häufig mit dem Kapitelschluss zusammenfallen. Sie also wie eine Subscriptio des Erzählten fungieren und den Kapiteln gemeinsam mit der Überschrift einen emblematischen Charakter verleihen (135, 400). Zum Zusammenhang von Bildlichkeit und Wirklichkeit in Arnims Lyrik vgl. Thomas Sternberg, Die Lyrik Achim von Arnims. Bilder der Wirklichkeit – Wirklichkeit der Bilder, Bonn 1983.
Wiederholungsprinzips) »harmonisch eingefügte«336 Gedicht bildet die Grundlage für die Suggestion, Karls Erlebnisse würden ihren spontanen und authentischen Ausdruck in seiner Lyrik finden.337 Anhand der Art und Weise, wie das oben bereits zitierte, zweite Gedicht mit seiner Entstehungssituation zusammenspielt, zeigen sich drei weitere romantische Erzählstrategien, mit deren Hilfe Karls Lyrik zum authentischen Medium seines Gefühls stilisiert wird. Der Übergang von der Rahmenerzählung zum Gedicht führt einen gleich dreifachen Registerwechsel vor. Zunächst leidet der frisch verliebte Autor darunter, keine Worte zu finden, mit denen er die Liebeserlebnisse in seinem Tagebuch festhalten kann (vgl. 134). Seine Schreibhemmung überwindet er aber sofort, als er sich von der für jede Berichterstattung üblichen Prosaform verabschiedet und in das Medium »Poesie« wechselt. Mit Hilfe der Versform findet er augenscheinlich problemlos eine Sprache für seine Gefühle, die er anders nicht ausdrücken kann.338 Die Entstehungsszene seines Gedichts wiederholt also im Kleinen, was der Erzähler im Großen postuliert: Liebesgefühle können, das gilt sowohl für den Romanschreiber als auch für Karl, ausschließlich im Medium »Poesie« ihren Ausdruck finden. Dichtet Karl unter dem Einfluss intensiver Gefühle, produziert er natürlicherweise Lyrik – oder er kann überhaupt nicht schreiben. Mit diesem ersten Medienwechsel ist gleichzeitig ein zweiter verschaltet. Denn Karl lässt mit der Prosa zugleich das Medium »Schrift« hinter sich und wechselt in das der Stimme: Er singt seine Verse (»und so sang er« (134)). Der Gesang dient als Chiffre für Spontaneität, Natürlichkeit und Individualität. Er garantiert, dass sich Karls Gefühle unmittelbar ausdrücken. Die Simulation von Karls Gesang entsteht auch durch die Form des lyrischen Textes. Der einfache Bau des fünfstrophigen Gedichts, mit seiner schlichten Reimstruktur (ABBA) und den parataktisch gereihten Hauptsätzen (vor allem der ersten Strophe) entspricht der Form eines Volksliedes. Auf der Grundlage einer solch eingängigen wie konventionellen Matrix lässt sich freilich gut improvisieren. Diese Form steigert den Eindruck, Karl verdichte seine Gefühle – ohne weiter über Formen nachzudenken – spontan in seinen poetischen Versen. Die Erzählung verschränkt also die Strategie der Poetisierung mit der einer Reoralisierung. Sie inszeniert und fingiert das Mündliche im Medium der Schrift.339 Auf diese Weise erzeugt sie die Vorstellung, Karls Stimme erklinge in Moment der Gedichtlektüre und überblende die Erzählstimme. Dieser Kunstgriff,
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Hartwig Schultz, Dieses bewusstlose Fortrollen, S. 162. Auch in diesen Punkten entspricht die Konzeption der Karlfigur der von Schillers »naivem Genie«. Vgl. dazu Arnims Volksliedkonzept. Als programmatischer Text gilt zum einen Arnims Aufsatz ›Von Volksliedern‹ sowie sein Vorwort zu ›Des Knaben Wunderhorn‹. Vgl. hierzu auch Hartwig Schultz, Dieses bewußtlose Fortrollen, S. 107. Uwe Japp, Achim von Arnim und der Surrealismus. In: Steffen Martus, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern 2005, S. 405–418, hier S. 413ff. Gerhard Neumann, Romantisches Erzählen, S. 11.
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den der Roman auch verwendet, wenn Karl vorliest, oder wenn andere Figuren ihre Geschichte erzählen, erhöht noch einmal die Unmittelbarkeit des Wiedergegebenen. Er suggeriert, die einzelnen Figuren würden leibhaftig, mit ihrer eigenen Stimme und damit ebenso subjektiv wie authentisch sprechen.340 Und damit der Leser nichts von der Emotionalität verpasst, welche Karl durch seinen Gesang und seine Stimme ausdrückt, führt der Roman in seinem Anhang die Partituren zu immerhin drei von Karls Liedern an (vgl. S. 677–684). Bleibt noch ein letzter Wechsel, den der oben zitierte Übergang von der Schreibszene zum lyrischen Text inszeniert: Während sich die prosaische Berichterstattung – trotz der Ellipse – noch auf die Frage kapriziert, »was ihm begegnet« (134) war, bezieht sich seine Poesie eindeutig auf seine unmittelbare Schreibgegenwart. Karl lässt die Vergangenheit hinter sich und wendet sich seinem Hier und Jetzt zu. Gegenwärtiges Erleben und poetische Produktion fallen in Eins. Karl singt davon, wie er mit Hilfe des Gesangs seine Schreibhemmung überwindet und seinem Gefühl eine Stimme verleiht. Eine wesentliche Strategie der Plausibilisierung besteht zudem darin, dass Karls Schöpfungsakt beim ersten Gedicht vollständig innerhalb der Natur und beim zweiten Gedicht im direkten Kontakt mit der natürlichen Umwelt stattfindet. Seine ersten Verse dichtet Karl, während er durch den gräflichen Schlossgarten und das sich anschließende Tal in Richtung Stadt wandert. Er befindet sich also in einem als natürlich konnotierten Zwischenraum, umgrenzt von Dolores’ Schloss zur einen, der Stadt zur anderen Seite. Sein zweites Gedicht entsteht, als er am offenen Fenster seines Zimmers steht, in die Nacht hinaus blickt und schließlich mit den Klängen der Nacht, die ihn umgeben, mit der singenden Nachtigall einerseits, dem rauschenden Fluss andererseits, wetteifert. Indem er Karl als naturverbundenen Poeten einführt, schließt Arnims Roman an die sprachtheoretischen wie -theologischen Konzepte romantischer Naturpoesie an.341 Wenn Karl seine Gedichte in Naturräumen verfasst,342 die um 1800 als Gegenmodell zu der (angeblich) verlogenen, amoralischen städtischen Gesellschaft fungieren, dann greift diese Inszenierung augenscheinlich auch auf die Tradition der liber naturae zurück. Nach dieser garantiert die natürliche Umgebung, dass auch die Gefühlswelt in ihrem
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Vgl. zu dieser romantischen Theorie, Steinig, Wo man singt, S. 151ff. Differenzierter und besonders auf die von August Schlegel stark gemachte Funktion des Rhythmus eingehend, welche den lyrischen Text selbst schon in die Nähe des Gesangs rückt: Barbara Naumann, »Musikalisches Ideen-Instrument«. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990, besonders S. 89ff. Wenn Karl die Stimme der Nachtigall und das Rauschen des Flusses in sein Gedicht aufnimmt, reagiert er auf die Schöpfungskraft der Natur selbst. Auf diese Weise schließt Arnims Roman an das Konzept der natura naturans an. Diese Korrelation von Natur und Autorschaft setzt sich weiter fort. Karl dichtet entweder auf seinem Landsitz, auf seiner Wanderung zu Arnica Montana, die ihrerseits in einem Gartenhaus lebt, oder während seiner Wallfahrt. Wenn er in einem Innenraum dichtet, so steht er noch unter dem unmittelbaren Einfluss einer Reise oder eines außergewöhnlichen Ereignisses.
unverstellten, ungekünstelten Naturzustand verbleib oder – falls sie diesen zuvor verlassen hat – in ihn zurückversetzt wird.343 Im liebenden Subjekt erklingen unter diesen Umständen nicht nur die, schon von Wieland so genannten »Naturlaute der Empfindungen,«344 sondern der liebende Dichter kann sogar ein Sensorium für sie entwickeln und sie (bewusst) wahrnehmen. Arnims Roman schreibt diesen Naturlauten im Inneren des Dichters ein Eigenleben zu, sodass sie sich aktiv beim feinfühligen Künstler Gehör verschaffen. So tritt Karl, als er seine ersten Verse verfasst, mit einer ihm fremden und zugleich eigenen, inneren Stimme in einen Dialog. »Es rief in ihm,« heißt es programmatisch bei seinem ersten Gedicht, »bis er es auswendig wusste.« (134) Der Dichter kann die Stimme offensichtlich nicht kontrollieren, sondern ausschließlich rezipieren. Was im Inneren des liebenden Dichters passiert, in welcher Weise sich der Dialog mit der innersten Natur des Subjekts entspinnt, arbeitet der Roman am prägnantesten heraus, als Karl nach seiner wochenlangen Landreise, die ihm unter anderem zum wunderlichen Doktor und zu Arnica Montana geführt hat, wieder zu Dolores zurückkehrt. Der Graf ist direkt nach seiner Ankunft noch vollständig in den Eindrücken seiner Reiseerlebnisse gefangen, als er sich in sein Zimmer zurückzieht und dort seine Erlebnisse in Versen verdichtet (vgl. 432): Nachlässig ging er im Zimmer auf und nieder, dachte wie er in die Welt so verloren hineingeirrt, und sie war doch sein, ganz sein; seine ganze Seele schwebte in den Worten ›so warst du nicht verloren, so warst du dennoch mein‹ die von tausenden vielleicht ausgesprochen doch nie so wie in ihm zu Musik wurden, und diesen wiederkehrenden Tönen gab er immerzu neue Worte, so erfand er ein Lied, das er den ganzen Tag halblaut sich vorsingen mußte. So bist du nicht verloren / So warst du dennoch mein! (432)
Akribisch füllt dieser Bewusstseinsbericht die letzten Stellen aus, die in der Ursprungsgeschichte von Karls Poesie bislang offen geblieben sind. In sich versunken formuliert Karl zuerst zwei Gedanken, welche der Erzähler in indirekter Gedankenrede wiedergibt. Karl »dachte wie er in die Welt so verloren hineingeirrt, und sie
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Dieses Konzept beruht in der romantischen Lyriktheorie weiterhin auf Herders Ausführung in ›Von der Ode‹ (1765). Dort grenzt Herder die Natur- oder Originaloden, die naiv, rührend echte Gefühle ausdrücken, nicht nur von den Kunstoden ab, sondern er fügt dieses Oppositionsmodell darüber hinaus auch in ein Geschichtsmodell ein. Die Naturorden gehören nach diesem einer längst vergangenen und für die Zukunft erhofften »goldenen Zeit« an. An dieses Konzept schließt auch Arnims Volksliedkonzept an. Das Volkslied erkennt Arnim als ursprünglich, natürlich, aufrichtig, nicht-artifiziell und nahe an der Ursprache. In seinem Vorwort zu ›Des Knaben Wunderhorn‹ schreibt er dazu: »bei den natürlichen Menschen, die keinen gesellschaftlich regelmäßigen Mißbrauch mit der Sprache getrieben, entwickelt sich der Vers unmittelbar.« Zitiert nach dem Katalog des Freien Deutschen Hochstifts: Dichter der deutschen Romantik, Frankfurt 1976, S. 74. Vgl. hierzu auch Hartwig Schultz, Dieses bewußtlose Fortrollen, S. 107. Uwe Japp, Achim von Arnim und der Surrealismus, S. 413ff. Steinig, Wo man singt, S. 145f.
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war doch sein, ganz sein«. Die lyrische Produktion nimmt ihren Ausgang in einem sprachlich verfassten Gedanken. Allein die Wiederholung am Satzende verleiht der Gedankenrede bereits einen rhythmischen, liedartigen Charakter. Die Worte – und mit dieser Wortwahl markiert der Erzählerbericht erneut die sprachliche Struktur der Gedanken –, in denen Karls Seele im zweiten Schritt schwebt, sind interessanterweise nicht identisch mit seinen vorherigen Gedanken. Im Übergang zu ihnen hat sowohl eine formale als auch eine semantische Rochade stattgefunden. Um diese Verschiebung festzuhalten, zitiert der Erzähler die Worte jetzt in direkter Rede: »so warst du nicht verloren, so warst du dennoch mein«. Erstens weist Karls Gedankenrede nun eindeutig Versform auf. Sie verfügt über ein alternierendes Metrum (dreihebiger Jambus, 6 bzw. 7 Silben, alternierende weibliche und männliche Kadenz), und die beiden antithetischen Sätze sind parallelistisch strukturiert. War es zweitens zuvor eindeutig Karl, der verloren in die Welt hineingeirrt ist, kann das »du« der Verse sowohl Karl als auch Dolores (und letztlich sogar auch einen beliebigen anderen Gesprächspartner) bezeichnen.345 Ob der Wanderer selbst oder die Geliebte des Wanderers verloren waren, beide Varianten sind denkbar. Die Verse werden (gesteigert durch ihr Zusammenspiel mit der ursprünglichen Gedankenrede) ambiguisiert. Sie geraten in einen semantischen Schwebezustand, der alles andere als zufällig mit Karls schwebender Seele korrespondiert. Je mehr der Inhalt im Zwielicht der Bedeutung verschwimmt, desto klarer treten im Kontrast zu diesen der eindeutige Rhythmus und Takt der Verssentenz in den Vordergrund. Tieck hat solche Sentenzen als »Empfindungsreihen« bezeichnet, die mit ihrer Marginalisierung der Semantik und dem starken Akzent auf den Rhythmus ihrerseits das phylogenetische wie ontologische Konzept einer Ursprache zitieren.346 Die formalen Wiederholungsstrukturen stellen nonverbal Emotion dar. Diese rhythmisch geordnete Struktur (auch die Sinnebene löst sich nicht vollständig auf, sondern verschwimmt nur im obskuren Zwielicht der Ambivalenz)347 steht in Opposition zu einem angeblichen Chaos der Gefühle, weil sie durch Wiederholung und Variation schon die menschliche Seele selbst als strukturiert vorgibt.348 Die rhythmische Wiederholung
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Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart 1997. Besonders das Kapitel »Die zweite Person: Wer wird angesprochen?«, S. 201–210. Zur Ursprache bei Arnim vgl. Hartwig Schultz, Das bewußtlose Fortrollen, S. 104f. Und jüngst (vom selben Arnimzitat ausgehend), Uwe Japp, Achim von Arnim und der Surrealismus, S. 413. Japp bezieht sich auf Arnims Freundschaftsbrief an Brentano, indem Arnim »eine metrische Ursprache«, ein »spontanes Sprechen in Versen« entwirft. Arnim führt diese Einsicht auf die Tatsache zurück, dass er »früh reimen konnte, ohne etwas von Silbenmaß zu wissen.« Zur Obscuritas der Ambivalenz, vgl. Wolfram Groddek, Reden über Rhetorik, S. 104. Vgl. zu diesen Zusammenhängen Barbara Naumann, »Musikalisches Ideen-Instrument«, S. 92. Naumann entwickelt ihre Überlegungen anhand von Tiecks ›Franz Sternbalds Wanderungen‹ und greift dazu immer wieder auf Manfred Franks, ›Das Problem der ›Zeit‹ in der deutschen Romantik‹ zurück. Vgl. zu dem hier verhandelten Zusammenhang bei Frank besonders S. 383.
(der Verse) verwandelt sich in Karl im dritten Schritt zu »wiederkehrenden Tönen«. In Karl ertönt »Musik«. Die stellt sowohl das individualistischste (»Worte, die noch nie so wie in ihm zu Musik wurden«) als auch das natürlichste Element des sich äußernden Bewusstseins dar. Das Ich als Natur heißt in Karls Fall demnach (innere) Musik, genauer: (innere) Melodie. Und weil Karl dieser »Urmelodie« zuhört, sich von ihr affizieren lässt349 und ihr zudem – im vierten Schritt – intuitiv und betont absichtslos immer neue Worte zuteilt,350 wächst sein Gedicht Wort für Wort, und Vers für Vers heran. Im letzten und fünften Produktionsschritt vollendet Karl sein poetisches Kunstwerk, indem er die Liedverse in Gesang umsetzt und die Verse vom Präteritum in das Präsens überträgt. Das Zusammenspiel freier Gedankenstimme und innerer Melodie fügt sich zur einfachen, volksliedartigen Lyrik, die ihrerseits einfordert, gesungen (und nicht rezitiert) zu werden. Im (gesungenen) Lied schließlich drücken sich keinerlei künstliche Affekte, sondern ausschließlich die natürlichsten Empfindungen aus. Die detailgenaue Rückführung von Karls Lyrik auf seine innere Musik erzeugt den Eindruck, man könne seinen Gefühlen regelrecht dabei zusehen, wie sie sich authentisch und spontan in die einzelnen Verse seiner Gedichte ergießen. Arnims Roman inszeniert in Person seiner männlichen Hauptfigur also jene Form poetischer Herzensergießung,351 die Hegel später als Charakteristikum romantischer Lyrik bezeichnet. Für Karl dient das Gedicht als »Gefäß«, in das er seine sonst »zersplittert und zerstreut« vorhandenen »Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen« zusammenträgt. Im Gedicht erfährt »das empfindende Herz das Innerste und Eigenste der Subjektivität«.352 Karl vertritt prototypisch jenen Typus des romantischen Dichtergenies, dem Dilthey – seinerseits schon in Hegels Nachfolge – zubilligt, dass seine Gedichte ein »Ausdruck einer individuellen, selbstreflexiven und erlebenden Seele« seien. Der Graf ist ein emphatischer, naiver Autor, der sich der Schrift im Vertrauen auf ihre unmittelbare Vermittlungsfähigkeit anvertraut
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So geht die Rezeptionsästhetik davon aus, dass die Musik zur appelativen Gemütserregung im Leser führt. Als paradigmatische Lektüre vgl. hierzu: Paul Mog, Aspekte der »Gemütserregungskunst« Joseph von Eichendorffs. Zur Appelstruktur und Appelsubstanz affektiver Texte. In: Gunter Grimm (Hg.), Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, Stuttgart 1975, S. 196–208, hier S. 201. Zur poetischen Schöpfung aus der Überschneidung von Musik und Poesie vgl. Arnims Ausspruch: »Dichtkunst und Musik sind die beiden allgemeinsten, genau auf einander gepfropften Reiser des poetischen Baumes; er trägt hier in der Dichtkunst rothe Rosen mir vielen Rosenkönigen, in der Musik weiße Rosen. Unsere Arbeit sei, diese Rosen zu erziehen [...].« Dieser Erziehungsarbeit verschreibt sich ein Dichter wie Karl automatisch. Zitiert nach Steig (Hg.), Achim von Arnim, Werke, Bd. I, S. 38f. Martina Steinig, Wo man singt, S. 149. Karl-Heinz Bohrer spricht parallel zu dieser Konzeption Brentanos Herzmetapher noch die wilden, nicht zu zähmenden Emotionen zu: »Wenn Brentano vom »Herz« spricht, dann meint er den Körperteil, der in Emphatik explodieren könnte.« Karl-Heinz Bohrer, Der romantische Brief, S. 74. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 447.
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und seine Gefühle im Medium der Poesie offenbart. Auf dem Fundament dieser lyrischen Produktion bilden poetische Sprache, Subjekt und Natur eine harmonische Einheit. Die Poesie wird als ein referenzialisiertes »Abbild« der natürlichen Umgebung einerseits, der inneren Natur des liebenden Subjekts andererseits inszeniert.353 Diese detaillierte Darstellung des Karlschen Schöpfungsakts impliziert die Forderung ihr einen exemplarischen Charakter zuzuschreiben und exakt denselben Produktionsverlauf auf Karls sämtliche poetische Werke zu übertragen. Selbst wenn die Entstehung dort nicht explizit genannt wird, hat der Leser davon auszugehen – so die Diktion der ausführlichen Beschreibung –, dass alle Lieder auf diese Weise entstanden sind. Die Textstrategie, Karls Lyrik als authentischen, spontanen und natürlichen Ausdruck seiner Gefühle zu inszenieren, gelingt also. Der Roman etabliert Karls Lieder als Zeugnisse seiner Emotionen: Wer Karls Lyrik rezipiert, liest in seiner Innenwelt. Für den Leser entpuppt sich »als der Mittelpunkt und eigentliche Inhalt der lyrischen Poesie [...] das poetische, konkrete Subjekt, der Dichter«.354 Die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit, mit welcher sich der Gefühlsfluss in die Liedform überträgt, unterscheidet das gesungene Lied von allen anderen Medien, die traditionell zum Ausdruck von Gefühlen verwendet wurden. Was sich in einem Gedicht ausdrückt, kann nicht einfach in einen Brief oder in irgendeinen anderen Prosatext übersetzt werden. Mit jedem Medienwechsel ginge die spezifisch-poetische Qualität verloren. Arnims Roman bestätigt mit seiner Produktionsästhetik die Lyrik als romantisches Leitmedium für den subjektiven Ausdruck von Gefühl. Mit dieser einseitigen Konzentration auf die Poesie – alle anderen poetischen Formen werden ja ausgestrichen oder in Karls Fall nicht in die Rahmenhandlung eingelegt – bestätigt die ›Gräfin Dolores‹ einen entscheidenden, medialen Paradigmenwechsel, der sich im gattungshistorischen Übergang vom empfindsamen zum romantischen Roman vollzogen hat. Wahrscheinlich muss man von einem epochalen Wechsel innerhalb der Schreibkultur sprechen, der sich von der Empfindsamkeit bis zur Romantik innerhalb von knapp 40 Jahren vollzieht. In den empfindsamen Romanen wie Gellerts ›Das Leben der schwedischen Gräfin von G***‹, La Roches ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ und natürlich Goethes ›Werther‹ traute man noch dem Liebesbrief wie keinem anderem Medium zu, Gefühle authentisch wiedergeben zu können. Damals adaptierte man das zuvor literaturfremde Medium Brief für den Roman, um mit ihm auch die Unmittelbarkeit der Herzenssprache in den Roman zu transferieren. Diese Tendenz läuft mit Brentanos ›Godwi‹ aus, der nur noch zur Hälfte in Briefform verfasst ist, diese aber in seiner zweiten Hälfte hinter sich lässt und in dem man somit den feierlichen Abschied vom alten Leitme-
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Ulfert Ricklefs bezeichnet diesen »Zwischenzustand« des Vorsichhinsprechens als charakteristisch für Arnims Lyrik und führt ihn auf eine »zwischen Herz und Hirn gespannte, intellektuelle Sinnlichkeit des Abstrakten« zurück. Ulfert Ricklefs, Arnims lyrisches Werk. Register der Handschriften und Drucke, Tübingen 1980, S. VIIIf. Eva Horn, Subjektivität in der Lyrik, S. 439.
dium Brief erkennen kann.355 Arnims ›Gräfin Dolores‹ setzt keinen Heller mehr auf den Brief als (Liebes-)Gefühlsmedium.356 Karl einziger Briefe, den man in Arnims Roman unmittelbar nachlesen kann, ist bezeichnenderweise auch schon in Gedichtform verfasst (371). Mit seiner Entscheidung gegen den Brief grenzt Arnims Roman sich nachdrücklich gegen die empfindsame Briefpoetik ab, um sie durch seine eigene zu substituieren. Im Anschluss an die romantischen Romane vertraut er auf die Poesie mit ihrem Ursprung in der Musik. Er manifestiert auf diese Weise einen fundamentalen Gegensatz zwischen der empfindsamen »Textverarbeitung und Nachrichtenübertragung« von Liebesgefühlen einerseits und der romantischen andererseits.357 5.3
Autorschaft und Liebeserlebnis: Wer zu spät kommt, den...
Zurück zu Karls Liebesgeschichte: Angesichts der Tatsache, dass die ›Gräfin Dolores‹ Karl als romantischen Künstler und Liebhaber charakterisiert und in Anbetracht der geradezu fürsorglichen Zuwendung zu seinem Gefühlsleben, die sich im Zuge seiner Liebesgeschichte offenbart, hat Renate Moering fast schon erleichtert gefolgert, dass Arnims Roman eben doch nicht nur negative Seiten der Liebe vorführe, sondern auch »mit zarter Poesie das Glück der Liebe aus dem Blickwinkel der Liebenden gestaltet, am schönsten in der Figur des Grafen Karl« (136). Allerdings würde diese Feststellung dem grundsätzlichen Anspruch von Arnims Roman, die romantische Liebe und ihre Schreibweise nicht nur darzustellen, sondern sie zugleich auch kritisch zu hinterfragen, wohl kaum gerecht werden. Tatsächlich dienen die Gedichteinlagen über die Tatsache hinaus, dass sie Karl als liebenden Poeten charakterisieren, auch dazu, grundlegend den Zusammenhang zwischen dem subjektiven Gefühlsausdruck und der Möglichkeit ihrer literarischen Darstellung zu reflektieren. Ein erster Indikator dafür, dass man Moerings emphatischer Lektüre nur bedingt folgen sollte, bietet sich bereits an, wenn man sich noch einmal die Auswahl von Karls Kunstwerken betrachtet, die in die Erzählung eingelegt sind. Die einseitige Lyrikauswahl steht Karls künstlerischer Vielseitigkeit diametral entgegen. Sie unterläuft seinen Anspruch, ein künstlerisches Multitalent zu sein. So ist Karl selbst durchaus ein fleißiger Briefschreiber, der zumindest zu Beginn seiner Liebesgeschichte noch die empfindsame Auffassung teilt, dass seine Briefe sein Fühlen transparent machen und vermitteln können. Der Roman distanziert sich, indem er sich über Karls poetische Vorstellungen hinwegsetzt, von seinem
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Susanne Scharnowski, Ein wildes, gestaltloses Lied, S. 39ff. Vgl. zu dieser Problematik auf der Ebene der histoire, in der Kommunikation zwischen den einzelnen Figuren, die ihrerseits noch in das Medium »Brief« vertrauen Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit. Zu diesen medientheoretischen Begriffen, vgl. Friedrich A. Kittler, »Über romantische Datenverarbeitung«. In: Ernst Behler und Jochen Hörisch (Hg.), Die Aktualität der Frühromantik, München 1987, S. 127–140.
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liebenden Künstler, den er im selben Zuge als einen aus romantischer Perspektive altmodischen Autor und Liebenden diskreditiert. Da der Roman außerdem die Produktionsbedingungen von Karls naiver Dichtkunst so akribisch analysiert, verschränkt sich auf der Ebene des discours das Sentimentalische, welches die Kunstregeln reflektiert, dialektisch mit dem Naiven.358 Zu einer emphatischen oder gar euphorischen Lektüre à la Moering lädt Karls Liebesgeschichte also keineswegs ein. Eher doch zu einer kritisch-analytischen, dem reflektorischen Modus der Darstellung angemessenen Lesehaltung. Das von Moering herbeigesehnte Liebesglück offenbart sich auch deshalb als (Selbst-)Täuschung, weil Karl ausnahmslos in Situationen dichtet, in denen er entweder zeitlich oder zumindest räumlich von Dolores getrennt ist. Diese grundlegende Struktur von Karls Autorschaft studiert der Roman bereits anhand der ersten beiden Schreibszenen programmatisch ein: Karls erste Gedichte entstehen ostentativ, nachdem er sich von seiner zukünftigen Frau verabschiedet hat (134, 135). Er dichtet in Momenten der Einsam-, nicht der Zweisamkeit. An dieser Tatsache ändert sich bis zum Ende des Romans nichts (152, 157, 171, 371). Karls Schreibszenen sind wie durch eine unüberwindbare Mauer von den Liebesszenen getrennt.359 Karl dichtet, wann immer es ihm an Liebe mangelt, nicht wenn er von ihrem Glück erfüllt ist. Er ist ein Dichter, der – wie Novalis’ Heinrich von Ofterdingen – erst durch den Verlust der Geliebten zum Poeten wird.360 Bei Karls Poesie handelt es sich im eigentlichen Sinne nicht um eine Sprache der Liebe, seine Lyrik ist vielmehr der Ausdruck von gegenwärtiger Einsamkeit. Es sind Klagetöne, die der Dichter äußert, und deren Ausspruch seine Einsamkeit nur noch einmal sprachlich multipliziert und verstärkt. Trägt sein solitäres Schreiben lustvollen Charakter, dann in erster Linie dadurch, dass es autoerotische Züge aufweist.361 Die poetische Produktion dient in diesem Sinne zur geistigen Selbstbefriedigung. Als künstliche Zeugung steht sie in Opposition zur natürlichen, prokreativen Reproduktion und damit zur symbiotischen Paarbeziehung.362 Karl gehört zu dem Typus »Autor«, den Hoffmann – auf die meist männlichen Vertreter dieser Spezies sowie auf die mechanisch
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Vgl. zu dieser Verschränkung auch Peter Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: Euphorion 66 (1972), S. 174–206. Als Sinnbild hierfür fungiert die Mauer, die das Paar bei Karls Liebe auf den ersten Blick trennt und Dolores in einen Kreis einschließt (107). Im Folgenden zieht der Roman immer wieder neue Kreise um einen der beiden Partner, welche Karl und Dolores – bei aller räumlichen Nähe – zugleich voneinander trennen. Zur Isotopie des Kreises, die den Text in seiner Gesamtheit strukturiert, vgl. S. 145ff. dieser Studie. Zugespitzt kann man Karl daher als einen frühen Vertreter der Décadence-Kunst bezeichnen, als einen Poet des Zerfalls, in dessen Fall Autorschaft und emotionale Krise aneinander gekoppelt sind. Vgl. zu dieser Typologie, nicht aber zu Karls Autorschaft: Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, S. 4ff. Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung, S. 5.
verlaufende, hochgradig effektive Produktion anspielend – als Junggesellenmaschine bezeichnet.363 Wenn Karl unter diesen Produktionsbedingungen Erlebnislyrik dichtet, dann verweist diese nicht auf ein Erlebnis, sondern auf zwei voneinander getrennte Erlebnisse: auf den solitären Schreibmoment einerseits, und auf das vorherige gemeinsame Liebeserlebnis andererseits. Diese formale Struktur des »sich in sich selbst [V] erdoppeln[s]«,364 welche das Zusammenspiel von Erlebnis und dessen Poetisierung entwirft, ruft die sowohl philosophische wie poetische Frage auf, wie Reflexion, Selbstbewusstsein und schließlich auch ein »Absolutes« möglich und darstellbar sind. Kurz gesagt, die Konstruktion von Karls Autorschaft schließt offensichtlich an Novalis’ und Friedrich Schlegels frühromantische Reflexions- und Kunsttheorie an. Karl ist als Poet mit einem der frühromantischen Denkfiguren schlechthin konfrontiert. Denn die Konstruktion der Produktionsszenen hebt gezielt die grundsätzliche »Ereignishaftigkeit« der Liebe hervor (vgl. die Systematik dieser Arbeit). Und diese wird Karls Dichtkunst zum Problem. Wie unmittelbar Karl auch zu dichten beginnt, das Liebesereignis ist in diesem Moment immer schon vergangen; es ist nicht mehr. Für das Liebesereignis gilt, was Jacques Derrida – seinerseits in der Nachfolge frühromantischer Theorie365 – späterhin über die Wahrnehmbarkeit des Augenblicks sagt. Derrida erklärt Husserls Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung als hinfällig und trennt seinerseits »zwischen zwei Modifikationen der Nicht-Wahrnehmung«.366 Übertragen auf Karls Gedichtproduktion bedeutet dies, dass das Liebesereignis jenseits von Karls Wahrnehmung
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Das Extrembeispiel für diese Art des Autors ist Waller, der keine Gelegenheit mehr auslässt, um ein Gedicht zu schreiben. Waller ist alles andere als zufällig ein Namensvetter des »Dichter Waller« aus August Schlegels ›Die Gemählde‹. Jener Waller begründet in Schlegels fi ktiven Gespräch ein neues ästhetisches Modell, indem er es auf eine ökonomische Metapher reduziert: »[…] es ist mit den geistigen Reichthümern wie mit dem Gelde. Was hilft es, viel zu haben und in den Kasten zu verschließen? Für die wahre Wohlhabenheit kommt alles darauf an, daß es vielfach und rasch circulirt.« Auch Arnims Waller ist ein homo oeconomicus, der den Idyllendichtern »durch ein genaues Anschließen an die höchste Ökonomie ein neues Interesse geben« will. (303) In diesen Kontext gehört auch, dass Karl Wallers Gedichte für »falsche Münze« hält (292). Arnims Waller wird durch seine manische Zirkulationswut letztlich zum asozialen Wesen, das mit niemandem mehr kommunizieren kann und schließlich einsam in den Krieg zieht. Vgl. »Die Gemählde, Ein Gespräch von W«. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Berlin 1799, Nachdruck Darmstadt 1960, Bd. 2.1, S. 49. Ein weiterer Namensvetter ist »Waller« aus Tiecks ›William Lovell‹. Vgl. Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 25f. Winfried Menninghaus hebt hervor, dass die frühromantische Theorie wichtige Grundlagen von Derridas Dekonstruktion vorwegnimmt. Vgl. Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopllung, S. 27 u. 115ff. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979, S. 121.
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liegt, es dieser immer schon entzogen ist. Daher folgt seine Dichtkunst auch einer der beiden Vermittlungsformen, die Derrida beschreibt: Man wird dann sehr bald feststellen können, daß die Präsenz des Präsens nur insofern erscheinen kann, als sie sich kontinuierlich mit einer Nicht-Präsenz und einer NichtWahrnehmung und also mit der primären Erinnerung und Erwartung […] (Retention und Protention) zusammenschließt.367
Da das ursprüngliche Ereignis sich als solches nicht erfassen lässt, bleibt nur die Möglichkeit einer indirekten Bezugnahme.368 Macht Karl sich seine unfassbare Liebe bewusst, ist dies immer schon ein Akt der Vergegenwärtigung und damit Teil einer primären Erinnerung (Retention). Denn »die gemeinsame Wurzel, von der Geschichte des Lebens und des Bewusstwerdens des Lebens, ist die Möglichkeit der Wieder-holung in ihrer allgemeinsten Form, die Spur im universalsten Sinne.«369 Karls Gedanken kommen stets zu spät, sie (re-)konstruieren nachträglich ein Ereignis, das es nicht mehr gibt und das sie daher nur noch nostalgisch umkreisen können.370 Sie folgen demnach unausweichlich der Bewegung der von Derrida so genannten différance. Der Roman führt anhand seiner Reflexionsfigur Karl vor, dass Liebe(n) nur als sekundäres Phänomen vorzustellen ist, das damit stets an einen spezifischen Code gebunden ist. Lieben ist immer schon Erinnerung an Liebe. Deshalb singt Karl keine Liebeslieder im eigentlichen Sinne, sondern seine Gedichte handeln von der nicht zu stillenden Sehnsucht nach der Geliebten und nach der symbiotischen Vereinigung mit ihr. Diese Wehmut betont der Erzähler bereits, als Karl seine allerersten Zeilen dichtet. Karl eilt »auf und davon über Hecken und Mauern ins Gebürge [...], seines frohen Herzens selbst bewusst zu werden, das ihn so mächtig anregte. Aber statt ganz fröhlich zu werden, wurde er immer wehmütiger.« (134). Wehmut treibt Karls poetische Autorschaft an. Sehnsucht nach dem zurückliegenden Liebesglück einerseits und Lust, das unwiederbringlich vergangene Glück dennoch zu wiederholen andererseits, sind die Gefühle, die sich in seinen Gedichten ausdrücken. Diese nostalgische Reflexionsbewegung zurück zum un-
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Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 119. In der neueren Übersetzung von Gondek lautet die Passage: »Man wird dann sehr schnell gewahr, daß die Gegenwärtigkeit der wahrgenommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie sie kontinuierlich mit einer Nicht-Gegenwärtigkeit und einer Nicht-Wahrnehmung nämlich der primären Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention) Verbindungen eingeht.« Derrida 2003, S. 88. Derrida konzentriert sich im Rahmen seiner Studie auf die prominentere Retention, von der er zwei unterschiedliche Variationen aufzeigt: die materiale Wiederholung, durch Sprechen, und die memoriale Wiederholung (durch Erinnerung). Die Ereignishaftigkeit »dissiumliert die Präsenz [ihr]er ursprünglichen Impression nicht […]. Aber sie zerstört auch radikal jede Möglichkeit der schlichten Selbstidentität.« Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 121. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 92. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 119.
erreichbar verlorenen Liebesmoment versinnbildlicht die Nachtigall, der Karl in der Nacht seiner Liebesinitiation zusingt (»so sang er der Nachtigall zu und dem rauschenden Strome« (134)). Der liebende Dichter tritt mit ihr in einen Dialog, und versucht, sie anzusprechen. Das Nachtigallmotiv spielt auf den Philomele-Mythos an und verkörpert die sich der männlichen Sehnsucht und vor allem auch Gewalt entziehende Weiblichkeit.371 Dabei verweist ihre schöne, nur nachts erklingende Stimme, immer schon auf den Moment, in dem sie verklingt. Ist doch die Stimme das Medium, das im Nu ihres Auftretens schon wieder erlischt.372 Deren vergänglicher Schönheit sucht Karl mit seinem Gesang nachzukommen. Was für das Liebesereignis gilt, ist zugleich für das Subjekt konstitutiv. Auch dieses vervielfältigt sich im Moment poetischer Produktion. Sinnt Karl seinen Liebeserlebnissen nach, spaltet er sich unvermeidlich in ein erinnerndes und ein erinnertes, in ein einsames, der Liebe (nur noch) nachsinnendes und ein liebendes Subjekt auf. Friedrich Schlegels berühmtes 116. Athenäums Fragment beschreibt diese Aufspaltung so: »Was immer sich reflektiert, muß notwendigerweiße aus sich herausgehen, um in sich zurückkehren zu können.«373 Der narzisstische Aspekt von Karls Autorschaft unterliegt denselben Bedingungen wie die Rekonstruktion seiner Liebeserlebnisse.374 Karls Erfahrung entspricht der von Narzissus in Ovids ›Metamorphosen‹.375 Um sich (und seine Schönheit) zu erkennen, braucht Narziss nämlich zunächst sein Spiegelbild. Ohne diese Ansicht des Eigenen im anderen käme es zu keiner Selbsterkenntnis. In dem Augenblick aber, in dem Narziss die Wasseroberfläche berührt, in der sich sein Antlitz spiegelt, verschwimmt sein Selbstbild und löst sich auf. Dasselbe Schicksal der Desintegration erleidet auch der narzisstische Künstler Karl. Hinzu kommt, dass Karls poetische Autorschaft den
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Der Philomele-Mythos zeigt immer zugleich auch schon, dass die Annäherung des Mannes an die Frau nur noch mit den Mitteln der Gewalt möglich ist. Schließlich singt Philomele ja erst als Nachtigall, nachdem ihr die Zunge abgeschnitten wurde und sie von ihrem Schwager vergewaltigt wurde. Vgl. dazu Dieter Mersch, Jenseits von Schrift. Die Performativität der Stimme. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2000), S. 88. Ders., Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. Wilhlem von Humboldt, Über Denken und Sprechen. In: Ders., Schriften zur Sprache, hg. von Michael Böhler, Stuttgart 1995, S. 4: »Die schneidendsten unter allen Veränderungen in der Zeit sind diejenigen, welche die Stimme hervorbringt. Sie sind zugleich die kürzesten, und aus dem Menschen selbst mit dem Hauche, der ihn belebt, hervorgehend, und augenblicklich verhallend […].« Systematisch dazu Steffen Wallach, Die Stimme der Schrift – Zur Poetik sekundärer Oralität in den Texten von Ernst Jandl, (unveröffentlichtes Manuskript), S. 47. Vgl. hierzu auch Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 52ff. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 51f.: »Lange bevor Freud im Dichter die Produktivkraft eines ungebrochenen frühkindlichen Narzissmus – namentlich des Glaubens an die magische Allmacht der eigenen Worte und Wünsche – [...] sah[...], wurde in Hölderlins Zeit der Mythos von Narcissus zentral für die Selbstbeschreibung des Dichter und der Dichtung.« Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, III, V. 341ff.
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selbstreflexiven Akt verzeitlicht. Jedes einzelne von Karls Gedichten führt zugleich – wie zuvor schon die Porträtkunst (vgl. Kapitel 3.3.2 dieser Studie) – die zeitliche Existenz des Subjekts vor. Nach der ist »der Mensch in dem Einzelnen nicht ganz, sondern nur stückweise da. Der Mensch kann nie da sein.«376 Er ist stets zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerrissen. Unausweichlich gilt analog zur Wahrnehmung des Augenblicks auch für den Akt der Selbstwahrnehmung, dass das wahrgenommene »Ich« sich verflüchtigt. Eine diakritische Differenz verhindert die Konstruktion von Identität und hebt hervor, dass auch die Selbstwahrnehmung immer schon Teil der »Nicht-Wahrnehmung« ist. Sich seiner selbst bewusst werden, ist stets auch schon Teil einer primären Erinnerung und entpuppt sich damit als Re-konstruktion. Auch für diese Struktur entwirft die Entstehungsszene von Karls zweitem Gedicht ein Bild, das durchaus programmatischen Charakter trägt. Die entworfene Szenerie ruft nicht nur den Narziss-Mythos auf, sondern setzt zugleich die Verzeitlichung des narzisstischen Projekts metaphorisch um. Ruft die Anspielung auf den Narzissmythos unweigerlich den locus amoenus – die makellose Quelle – und somit den Topos der ruhenden und deshalb spiegelglatten Wasseroberfl äche auf, behält Karls Szene das Semem »Wasser« bei, verschiebt es aber metonymisch zum Rauschen des Baches. Dem rauschenden Bach singt Karl ebenso wie der Nachtigall zu (134). Der Text ersetzt das Bild des zeitlosen Stillstands durch ein Bild der Bewegung, wobei die Strömung das potentielle Spiegelbild förmlich mit sich reißt und den Moment, in dem Narziss sich im Spiegelblick erkennt, von vornherein verhindert. Weil sich aber das Subjekt im Modus selbstreflexiver Wahrnehmung stets entzieht, kann es folgerichtig nur (sprachlich) re-inszeniert werden.377 Karls narzisstischer Blick ist als Reproduktion eines unwiederbringlich vergangenen Augenblicks gekennzeichnet.378 Insofern folgt seine Selbst-wahrnehmung einer Bewegung der différance. Seine poetische Autorschaft ist damit Ausdruck eines fragmentarisierten, eines destabilisiert liebenden Subjekts, dem mit Hilfe der Erinnerung erst Kontinuität und somit nachträglich Stabilität zugeschrieben werden soll. Auf diese Weise entfaltet sich eine Poetik sekundärer Subjektivität.379 Karls Gedichte rufen zum einen also strukturell den Liebesaugenblick wieder auf. Sie feiern das Ideal symbiotischer Liebe und des liebenden Subjekts, indem sie diese in Erinnerung rufen. Zum anderen aber wissen sie zugleich, dass der Liebesaugenblick vergänglich ist und sich die Identität des liebenden Subjekts verflüchtigt.
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Manfred Frank, Das Problem der »Zeit« in der deutschen Romantik, S. 84. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 129ff. Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 20. Zur »Flüchtigkeit des Ichs«, der »Frage nach dem Kern« und der »Identität«, die aufgrund von Arnims Sprachauffassung für diesen nicht mehr zugänglich sei, vgl. Ulfert Ricklefs, »Was war ich? Was bin ich? Was werde ich?« Identität als Progression: Romantische Identitätskonzepte bei Arnim. In: Sheila Dickson (Hg.), Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim Gesellschaft, Tübingen 2003, S. 117–137, hier S. 122.
Diese doppelte Idealisierung und zweifache Verlusterfahrung ist das bestimmende strukturelle Merkmal von Karls poetischer Autorschaft. Der Mangel, der Verlust und der Tod werden damit nicht einseitig pejorativ bestimmt. Vielmehr etabliert der Roman sie als die eine von zwei konstituierenden »Extremen, die nothwendig zu vereinen und nothwendig zu trennen sind.«380 Da Karls Gedichte von diesen Extremen handeln, inszenieren sie ein »Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn«,381 das Novalis als den »Begriff von Leben«382 bestimmt hat. Mit seiner Lyrik reflektiert Karl das Leben, er betreibt »lebendige Reflexion«:383 Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Schweben zwischen Extremen [...]. Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Object und Subject sind durch ihn, nicht er durch sie [...] das Schweben – bestimmt, produciert die Extreme, das wozwischen geschwebt wird – Diese ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes [...] denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.384
Karls Gedichte folgen, indem sie dieses Schweben strukturell und thematisch konstituieren, dem genuin romantischen Entwurf eines sentimentalischen Bewusstseins für den unversöhnlichen Konflikt von »Idealität« und »Realität«, den sie zugleich schmerzlich und lustvoll anerkennen.385 Diesem Konzept der Schwebe ist selbstverständlich auch eine ästhetische Dimension zu eigen. Der realen Zerbrechlichkeit des idealen Liebesaugenblicks wird per se eine eigene Schönheit zugesprochen. Die Schönheit ist nicht einfach nur vergänglich, ihre Vergänglichkeit gilt als (schmerzvoll und) schön. Die Schönheit besteht nicht mehr in der Erfüllung des Ideals, sie wird von diesem unerreichbaren Endpunkt aus in den konfliktreichen Schwebezustand zwischen Leben und Tod vorverlegt. Diesen Schwebezustand zwischen Idealität und Realität, zwischen Liebesgenuss und schmerzvollem Verlust inszenieren Karls Gedichte. Diese Bedingung, es zwischen den Extremen aushalten zu müssen, setzt zudem Karls poetische Produktion in Gang. Karls Autorschaft motiviert sich
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Novalis Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1968, S. 266. So Winfried Menninghaus in seiner Studie über die frühromantische Kunsttheorie. Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 133. »Sollte es eine höhere Sfäre geben, so wäre es die zwischen Seyn und Nichtseyn – das Schweben zwischen beyden – Ein Unaussprechliches, und hier haben wird den Begriff von Leben. [Hervorhebung im Original, C. M.] « Novalis, Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, S. 106. Zu diesem Begriff vgl. Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 139. Novalis, Schriften, Bd. 2. Das philosophische Werk I, S. 266. Als Chiffre dieser Verlusterfahrung, der eine ästhetische Schönheit innewohnt, fungiert im Identitäts- wie im Liebesdiskurs Narziss’ Klageschrei. Diesen poetischen Urschrei stößt er in dem Moment aus, in dem er, mit seinem Gegenüber in symbiotischer Liebe verschmelzend, zugleich erkennt, dass er sein Spiegelbild liebt. Berührung und Verfehlen, höchste Lust und tiefster Schmerz kulminieren in seinem Wehklagen, das als Klagelaut seinerseits den Charakter vergänglicher Schönheit trägt.
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zugleich aus der Sehnsucht danach, die Differenz zwischen Idealität und Realität zu überwinden, und aus der Notwendigkeit, diese Zäsur zwischen ihnen anzuerkennen. Poetische Autorschaft – wie sie Arnims ›Gräfin Dolores‹ entwirft –entsteht erst aus dem produzierenden Schweben, aus diesem entfaltet sie ihre oszillierende Bewegung. 5.4
Karls Poesie der Schwebe
Sowohl für den Entwurf von Karls Charakter als auch für die Inszenierung seiner Liebesgeschichte ist entscheidend, dass Karl ein feines Sensorium für diesen Schwebezustand hat und diesen bewusst erlebt. Um dies darzustellen, nutzt der Romantext seine Gedichteinlagen. Er legt es darauf an, dass man die Inhalte von Karls Lyrik eins zu eins auf Karls Bewusstseins- und Gefühlswelt zurückrechnet. Deshalb ist Karls Gedichten das Moment der Schwebe nicht nur konzeptuell eingeschrieben, sondern ein wesentlicher Teil seiner Lyrik thematisiert dieses auch direkt (134, 135, 347, 393, 396, 425). Liest man diese Gedichte – wie es der Roman ja mit großem Aufwand nahe legt – als Zeugnisse von Karls Gefühlsleben, entpuppt der sich als ein Liebeskünstler, der vom ersten Augenblick an zwischen den Extremen von erfüllter und hoffnungslos verlorener Liebe und letztlich sogar zwischen Leben und Tod hin- und her gerissen ist.386 So betonen schon Karls ersten beiden Gedichte, dass die Liebe vergänglich ist. Und das, obwohl Karl so frisch verliebt ist, dass man ihn eigentlich im absoluten Liebesglück erwarten würde. Immerhin heißt es ja, die Liebe entfalte zu Beginn eine solche Kraft, dass sie blind gegenüber allen Schwierigkeiten und Schwächen mache. Karls Lyrik aber schreibt dem Liebesglück von Beginn an eine Todesgefahr zu: »Ach hätt sie mich getötet / Im ersten ersten Kuß« (134), wünscht sich die (autodiegetische) Aussageinstanz des ersten Liedes. Und im zweiten bestätigt sich, dass Liebe und Tod untrennbar miteinander verwoben sind: »Ich hauchte meine Seele / Im ersten Kusse aus« (135), heißt es dort in einem Doppelvers, auf den Karl noch einmal rekurriert, als er vom Ehebruch seiner Frau erfährt (435). Für den Leser, dem die Gratwanderung zwischen Liebe und Tod in den Gedichten entgangen ist, hält die Erzählinstanz mit gespielter Naivität direkt im Anschluss an Karls zweites Lied noch einmal fest, »sonderbar, sonderbar, wie der Gedanken von Tod sich in ihm, dem frischen blühenden Jüngling [Karl, C. M.] so oft den Liebesgedanken beimischte […]« (141). Der Kommentar verfälscht allerdings die wahre Sachlage. Denn angesichts der konzise entworfenen Liebespoetik erscheint es alles andere als sonderbar, dass sich Liebes- und Todesgedanken vermischen. Prompt relativiert die Erzählinstanz ihre Einschätzung, indem sie im 386
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Um es noch einmal zu betonen: Wenn Karls Gedichte diese Gefühlsschwankungen ausdrücken, ist das etwas entschieden anderes als der Ausdruck reinen Liebesglücks. Meine Analyse widerspricht in diesem Punkt Moerings Einschätzungen, obwohl ich ihr zustimme, dass es die ›Gräfin Dolores‹ darauf anlegt, Karls Poesie auf seine Liebesgefühle zu verrechnen (s. o.).
anschließenden Nebensatz bemerkt, »aber der Gedanke liegt sehr nahe bei dem höchsten Glücke, das wir zu erschwingen vermögen.« (141). Aus der Leserperspektive oszillieren Karls Gedanken und Gefühle zwischen Leben und Tod, wie ein Seiltänzer balanciert er auf dem schmalen Grad zwischen beiden Extremen. Hat die Erzählinstanz Karl erst einmal als Poeten der Schwebe eingeführt, bestätigt sie diesen Eindruck immer wieder aufs Neue. Sie verleiht dem Ausnahmezustand Dauer, indem sie hauptsächlich von Episoden berichtet, in denen Karl vermeintlich zwischen den emotionalen Extremen hin- und hergerissen ist. Konzentriert man sich ausschließlich auf den Karl betreffenden Handlungsstrang, so beginnt dieser mit der unsicheren Phase vor der Hochzeit, geht über in eine Folge von kleineren Streitszenen während des Ehelebens, in denen Karls Liebesgefühle in Frage gestellt werden, und mündet von dort direkt in seine Reise zum wunderbaren Doktor, die mit einer grundsätzlichen Lebens- und Liebeskrise einhergeht. Obwohl diese Lebensabschnitte zeitlich weit auseinander liegen, folgen sie in der Erzählung unmittelbar aufeinander. Der Eindruck, Karl gerate unablässig von einem Schwebezustand in den nächsten, verfestigt sich zudem durch die geschickte Verteilung und Auswahl der Gedichteinlagen: In jedem der genannten Erzählabschnitte findet sich zumindest ein Gedicht von Karl wieder, das den frühromantischen Schwebezustand thematisiert. Hinzu kommt, dass Karl sich auch über seine poetische Autorschaft hinaus zu Figuren hingezogen fühlt, die am Rande der Gesellschaft stehen, sonderbare Grenzgänger, die zwischen Idealität und Realität gefangen und in ebenso intensive wie hoffnungslos unglückliche Liebesbeziehungen verstrickt sind. Seine Affinität zu solchen geradezu poetischen Existenzen blitzt das erste Mal auf, da er Hollins Lebenszeugnisse »noch wie ein Heiligtum« bewahrt und hütet (189 u. 196ff.). Hollin verzweifelt über seine vermeintlich unerwiderte Liebe, täuscht sich aber in diesem Punkt, denn er wird sehr wohl geliebt. Er sucht und findet auf der Theaterbühne seinen Liebestod, den er als Teil einer ›Maria Stuart‹-Aufführung inszeniert. Kein Wunder also, wenn Karl Hollins Schriften sammelt, da doch im Zentrum von Hollins Liebesleben derart prominent der Schwebezustand zwischen Idealität und Realität steht. Karls Interesse an solchen Charakteren reißt bis zum Romanende nicht ab. Bis zuletzt sucht er die Nähe zu Figuren wie dem Prinzen von Palagonien und der Fürstin, deren Leben einer Gratwanderung zum Tod gleichkommt. Die Fürstin weist sich schon deshalb als eine solche Figur aus, weil sie erst »in unheilbare Schwermut« versinkt und »sich ewig bemüh[t], in dem unendlichen Strudel der Zeit den Grund zu sehen« (530, vgl. auch 526, 548), bevor sie sich prompt in Karl verliebt. Außerdem nimmt während der Phase bis Karl von Dolores’ Ehebruch erfährt, seine tiefe Zuneigung einerseits für Wallers Sohn Traugott, andererseits für Arnica Montana eine gewichtige Rolle ein. Beide personifizieren auf jeweils eigene Weise die vergängliche Schönheit, beide sind geradezu prototypisch romantische Helden. Wenn Karl ihre Nähe sucht und an ihrem Schicksal Anteil nimmt, lässt er sich auf eine Konstellation ein, die in ihm zugleich lustvolle wie auch schmerzliche Empfin243
dungen weckt. Die beiden Episoden bestimmen Karls Liebesgeschichte derart, dass ein kurzer Seitenblick auf sie unausweichlich ist. Traugott erreicht gemeinsam mit dem Dichter Waller mitten im Sommer Karls Landgut (291). Der Junge erweist sich schnell als ein kränkliches Wunderkind. Er ist – nach dem Vorbild Mignons – eine jener kindlichen Dichterfiguren, die vollkommen in ihren blühenden Träumen, in ihrem Schreiben und in ihren Phantasiespielen aufgeht, wie sich vor allem an der heimlichen Liebe zu Karl zeigt, von der letzterer nichts weiß.387 Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft auf Karls Landsitz stirbt er (347). Sein Tod fällt mit dem Erntefest und dem Wechsel vom Sommer zum Herbst zusammen (347). Traugotts letzte Lebensphase stellt durch die Anpassung an den jahreszeitlichen Rhythmus eine Allegorie des Blühens und Vergehens, der vergänglichen Schönheit und Liebe dar. Als formosissimi ephebi folgt er den antiken Jugendschönheiten wie Adonis, Narcissus, Hyacinthus und Endymion nach und verkörpert so die flüchtige, niemals zu männlicher Kraft sich entfaltende Schönheit des Lebens und der Liebe.388 Traugott stirbt in einer Weise, die seinen Schwebezustand zwischen Leben und Tod noch einmal manifestiert: Karl fand den kleinen Traugott auf dem Grabe der Mutter fröhlich lächelnd eingeschlafen, – er fand ihn tot. Die fröhliche Ernte schloß mit der Todessichel, welche die schönste Blüte niedergemäht hatte. (347)
Die Blütenmetapher spielt noch einmal auf Traugotts Vorgänger an, die von Narcissus bis Adonis alle in Blumen verwandelt wurden. Und sie macht noch einmal die Zartheit von Traugotts Leben deutlich, das offensichtlich von Beginn an dem Tod zugeneigt war.389 Sein Tod steht im Zeichen der Suche nach dem mütterlichen Ursprung. Das Ideal, sich wieder mit der Mutter vereinen und den Schwebezustand
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Vgl. Michael Wetzel, Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999, S. 351ff. Dort beschreibt Wetzel, dass die romantischen Dichter sich in Mignon und ihren Postfiguranten spiegeln und diese zum narzisstischen Liebesideal verklären. Das trifft im besonderen zu, wenn sich ein Dichter wie Karl zu einer androgynen Figur wie Traugott hingezogen fühlt: »Das wiederentdeckte platonische Motiv der Androgynität stellt sich für die Romantik als Geschwisterliebe dar, und zwar nicht als sexuelle Übertretung des Inzestes, sondern als weitere Stufe einer Infantilisierung der Liebe im Sinne der narzißtischen Entdifferenzierung des geschlechtlichen Gegensatzes durch geschwisterliche Gleichheit: Das Verwandtschaftsmodell quasinatürlicher Paarbildung durch die Liebe des Selbst im anderen ersetzt das Triebmodell des Begehrens des anderen.« Ebd., S. 359. Zu diesem Schönheitsideal, das erstmals über die Figuration romantischer Helden in die deutsche Literatur einzieht, vgl. Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt am Main 2003, S. 18ff. Selbstverständlich spielt diese Figuration auf die Allegorie romantischer Poetik schlechthin an: die blaue Blume. Traugott verkörpert als verblühende Jugendschönheit auch das Romantische an sich. Ohne Ironie geht diese Postfiguration bei Arnim nicht ab. So pflückt Traugott im Roman keine blaue, sondern eine »gelbe Blume«, eine giftige »Belladonna« (vgl. S. 337.)
auflösen zu wollen, hat in der Realität den Preis, dafür sterben zu müssen. So vereint der Tod, der beim fröhlich lächelnden Traugott auf den ersten Blick nicht vom friedlichen Schlaf zu unterscheiden ist, schmerzliche und lustvolle Empfindungen. Das gilt zumal, weil Traugott schon namentlich zusätzlich zur Mutterliebe auch das Vertrauen in den allmächtigen Gottvater eingeschrieben ist. Karl ist von Traugott nicht nur »wunderlich ergriffen« (322), er setzt gegen Dolores’ Willen durch, dass Wallers Sohn über den Sommer bei ihm bleiben darf (323), und er durchlebt nach Traugotts Tod eine Zeit der Wehmut, die sich nur in einem einzigen Medium Raum schaffen kann – der Poesie: »mancher Gedanke zu einem recht bedeutsamen Denkmale ging vor ihm über, aber seine Wehmut erstickte sie alle und diese ist das schönste Denkmal der tatenlos verschwundenen Jugend.« (357) Statt ein Denkmal zu bauen, schreibt Karl ein Klagelied, »das ihm bei dem letzten Anblicke Traugotts eingefallen.« (347) Das Gedicht dient zugleich als Chiffre für Karls wunderliche Beziehung zu Traugott und es avanciert, schon aufgrund seiner fiktiven Entstehungsgeschichte, zum Paradebeispiel jener schönen Poesie, die zwischen Leben und Tod, zwischen Lieben und Leiden schmerzlich und lustvoll oszilliert. Der Roman markiert, dass Karl in diesem Schwebezustand gebannt bleibt, indem er seinen Protagonisten bei seiner Begegnung mit Arnica Montana dasselbe erleben lässt wie zuvor mit Traugott. »Das unsichtbare Mädchen« (405), Arnica Montana, tritt Karl als körperlose Person und damit nur stimmlich gegenüber (405f.): Als Stimme, die – wie oben bereits erwähnt – im Moment des Erklingens verhallt, ist ihr die Vergänglichkeit der Schönheit a priori eingeschrieben.390 Zudem konfrontiert Arnica Karl mit ihrer ebenso intensiven wie hoffnungslos unglücklichen Liebesbeziehung. Die kluge, aber hässliche Arnica leiht – in Anlehnung an den Cyrano de Bergerac – ihre Stimme und ihren »Geist« ihrer schönen, aber »ochsendumm[en]« (410) Schwester Divina.391 Florio wird zum Opfer dieses sphinxartigen Mischwesens, da er sich in die vermeintliche Einheit von Stimme und Körper, somit aber in zwei unterschiedliche Frauen verliebt. Er liebt sowohl
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Arnica löst sich – als wäre ihre Schwindsucht Programm – vor den Augen des Lesers tatsächlich bis auf die Inszenierung ihrer Stimme auf: Als botanische Bezeichnung eines Heilkrautes, das aufgrund seiner Bitterkeit allerdings nicht zum Genuss einlädt, als Anagramm des Autornamens (ARNI-M) verschwimmen ihre Konturen hinter einer Reihe von Verweisen. Vollständig löst sie sich auf, als Karl entdeckt, »was ihn bei der Arnica Montana so verweilt hatte; es war eine Ähnlichkeit in der Stimme mit seiner Dolores, die ihn liebenswüdiger als je in der Nacht umschwebte.« (408) Auch Arnicas Stimme ist nicht einzigartig, sondern für Karl nur das Echo einer anderen. In Edmond de Rostands Komödie ›Cyrano de Bergerac‹ leiht der geistreiche, aber von seiner großen Nase entstellte Titelheld dem verliebten, aber um Worte stets verlegenen Schönling Christian seine Sprache. In Christians Namen schreibt und spricht, respektive flüstert er der angebeteten Roxane Liebe ein und erobert diese prompt. Allerdings liebt Cyrano tragischerweise Roxane ebenfalls. Sein Freundschaftsdienst verhindert daher, dass er sich seine eigenen Liebeswünsche erfüllen kann. Erst auf dem Sterbebett enthüllt Cyrano seine vergebliche Liebe.
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Arnica als auch Divina, nur liebt er keine ganz: »GRAF Liebt er dich wieder. – SIE Ach nein, er liebt mich nicht, seit ich verlangte, er sollte mich ganz lieben.« (406) Weil er nicht ganz liebt, liebt er nach Arnicas romantischem Maßstab überhaupt nicht. Und doch ist er unlösbar mit Arnica verbunden. Während Divina sich aus der Dreiecksbeziehung löst, bleiben Arnica und Florio in unglücklicher Liebe vereint. Karl fühlt sich offensichtlich sowohl von Arnica Montanas Stimme als auch von ihrem Liebesschicksal angezogen.392 Da Karl Arnicas Nähe sucht und unter dem Titel »Herzenserleichterung« (425) »ein Paar Zeilen an seine neue Freundin« (425) richtet, hebt der Roman noch einmal nachdrücklich hervor, wie fasziniert sein männlicher Protagonist davon ist, wenn Schönheit und Liebe in einen Zustand der Schwebe versetzt werden. Dieser Schwebe gibt Karl sich zugleich lustvoll und schmerzlich hin. 5.5
Poesie als Kompensation: Der liebende Autor auf Sicherheitssuche
Karl als einen Poeten und Liebhaber zu beschreiben, der sich dem unsicheren Schwebezustand hingibt, trifft zwar eine seiner wesentlichen Eigenschaften, aber weder sein Charakter noch seine Autorschaft und schon gar nicht seine Liebesgeschichte gehen in dieser Konzeption vollständig auf. Karl ist bei aller jugendlichen Verausgabung seiner Kräfte und bei aller enthusiastischen Liebe kein typisch romantischer Held, der sich in seiner Poesie und Liebe verliert. Er fühlt sich zwar von Extremsituationen und Randfiguren angezogen, er selbst aber strebt an, stets auf sicherem Grund zu stehen. Für ihn stellt sein Leben ein umfassendes Ordnungs- und Sicherheitsprojekt dar. Deshalb erklärt er den Schwebezustand zur Ausnahmesituation, welche die Normalität zwar für kurze Zeit suspendieren, aber niemals vollständig außer Kraft setzen kann. Wie geschickt Karl die Momente der Unsicherheit in Ordnung ummünzt, zeigt sich, wenn er seiner Liebe die Funktion zuschreibt, seine unsicheren Lebensumstände zu ordnen und ihm selbst Stabilität zu verleihen. So lässt Karl zwar seinen anfänglichen Gefühlsüberschwang zu, lenkt sein Leben über das Vehikel »Liebe« aber umgehend in geordnete Bahnen. Kaum sind die beiden Partner in Liebe vereint und haben ihre Gemeinschaft gegründet, stabilisiert ihre Verlobung diese Symbiose institutionell, bevor der Ehebund sie als endgültige Lebensordnung besiegelt. Karl vertraut, sowohl was die Ordnung seiner
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Karls Welt wird von dem Schwebezustand der beiden Schwestern auch deshalb kontaminiert, weil Arnica und Divina mit einer ganzen Reihe anderer Figuren in Verbindung stehen. Nicht nur, dass Arnica und ihre Schwester zuvor mit dem Markese gemeinsam gereist waren. Divina war in der Zwischenzeit mit Leonardo verheiratet, einer weiteren melancholischen Figur: »Wir erinnern uns seiner aus Hollins Geschichte, dessen Untergang er ohne Absicht veranlasset, oder der ihn vielmehr in scherzendem Leichtsinne fand.« (409) Divina schenkt Leonardo, Maries Bruder und damit Hollins Schwager, ein Kind. Das Kind stammt aber vom Markese (413). Divina selbst ist eine Doppelgängerin von Dolores, die ebenfalls ein Kind von ihm erwartet.
Lebenswelt als auch was den eigenen Bildungsweg angeht, auf die synthetisierende Kraft der Liebe. Diese bildet das Fundament seines Lebens und verspricht ihm Stabilität und Ordnung.393 Karl nutzt die Liebe, um jede Unsicherheit und Unentschiedenheit hinter sich zu lassen und die widerstreitenden Kräfte des Schwebezustands zu überwinden. Stabilisiert Karl seine Lebensumstände, indem er auf die Liebe zurückgreift, so bedient er sich – wie in einem Stufenmodell – in den Fällen seiner Poesie, in denen die Liebe ihr Stabilitätsversprechen nicht hält und die Stabilität des Subjekts akut gefährdet. Wann immer die Liebe (oder das Leben) in Karl gegensätzliche Gefühle auslöst oder ihn in einem Gefühlsüberschwang zu ertränken droht, nutzt er seine Lyrik, um in sich hineinzuhören. Wie eng für ihn sein Selbstbewusstsein und seine Poesie zusammenhängen, wird allein schon dadurch deutlich, dass er eine beträchtliche Zahl seiner Gedichte nur für sich entwirft. Er trägt sie entweder in sein Tagebuch ein (135, 152, 371) oder singt bzw. spricht sie allein vor sich hin (134, 346, 393, 432). Karl behält einen Großteil seiner Verse für sich und speist sie nicht in eine intersubjektive Kommunikation ein. Offensichtlich dient diese Poesie in erster Linie dazu, sich mit sich selbst zu verständigen. Bei der Schreibszene von »Sie zu Hause« heißt es beispielsweise: »da saß er still lächelnd und redete vor sich« (171). Karl ist ein sich selbst zugewandter Poet. Er ist Autor und Rezipient seiner Poesie zugleich. Bei der narzisstischen Anlage seines Autorschaftsprojekts geht es ihm aber keineswegs darum, den Schwebezustand weiter zu potenzieren. Vielmehr will Karl sich im Medium der Poesie seiner selbst vergewissern und seine gefährdete Identität stabilisieren. Er dichtet gegen jede Unsicherheit an, indem er die Poesie immer auch gegen den Schwebezustand ins Feld führt. Poetische Dichtung ist Medium der Krisenerlebnisse, wie sie ihm zu deren Kompensation dient. Dichten ist seine Therapie. Karl ist davon überzeugt, dass er sich im Medium »Poesie« seiner Identität versichern kann. Seine Gewissheit beruht auf dem produktionsästhetischen Modell, das der Roman anhand von Karls Lyrikeinlagen so aufwendig vor den Augen seiner Leser etabliert. Der liebende Autor geht davon aus, dass seine innere (Ur-)Stimme in ihm spricht, deren Verlautbarungen er nicht beeinflussen, die er aber wahrnehmen kann. Karl erhebt diese innere Stimme zur Wahrheitsinstanz und vertraut ihr uneingeschränkt. Er identifiziert ihre Rede als Ausdruck des absoluten Ich. Damit lässt sich seine Auffassung in den philosophischen Subjektdiskurs um 1800 ein-
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Anhand seiner Karlsfigur schwört der Roman mit der inzwischen gewohnten Präzision einen Konflikt herauf, der dadurch entsteht, dass sich zwei unterschiedliche Facetten (früh-)romantischer Theorie gegenseitig ausschließen: Das frühromantische Lebensund Kunstideal der Schwebe, das eine zugleich schmerzliche und lustvolle Anerkennung fordert, kollidiert mit dem romantischen Liebesideal, das die symbiotische Verschmelzung anstrebt und erst dieser Schönheit zuspricht. Als Poet der Schwebe arbeitet Karl, ohne dass es ihm bewusst ist, gegen den Liebhaber Karl an. Strebt er als Liebender die absolute Synthese an, spricht seine poetische Autorschaft die Möglichkeit ihrer Existenz grundlegend ab.
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ordnen. Den Fluchtpunkt von Karls Dichtkunst bildet somit das zuletzt doch als Einheit zu denkende »absolute Ich« der idealistischen Philosophie, und mit diesem folgt seine Poesie folgt den Subjektkonstruktionen eines Kant, Fichte und Schelling.394 So formuliert beispielsweise letzterer in seiner Schrift ›Vom Ich als Prinzip der Philosophie‹: »ein empirisches Ich würde niemals streben, seine Identität zu retten, wenn nicht das absolute ursprünglich durch sich selbst aus absoluter Macht als reine Identität gesetzt wäre.«395 Und an anderer Stelle schließt Schelling: »das höchste Gesetz für das endliche Wesen ist demnach dieses: Sey absolut identisch mit dir selbst.«396 Dieses absolute Ich, das der frühromantischen Reflexionsbewegung einen Endpunkt setzen soll, artikuliert sich Karls Meinung nach ungefiltert in seiner inneren, ursprünglichen Stimme. Und diese drückt sich ihrerseits, darauf vertraut Karl ebenfalls, unmittelbar und authentisch in seiner Poesie aus.397 Für Karl ist die poetische Sprache mithin ontologisch verankert. Als Verfechter dieses Modells trägt er den Charakter eines Essentialisten.398 Hört man auf diese wahre innere Stimme, wendet man sich im Medium der Poesie sich selbst zu, dann – so Karls Folgerung – konstituiert und stabilisiert sich eine dauerhafte Identität, während sich die Unsicherheiten als äußerliche Faktoren erweisen.399 Für ihn gefährdet der Schwebezustand mit seiner Tendenz, die festen Strukturen aufzulösen, weder das absolute Ich noch das Fundament sprachlicher Ordnung. Aus dieser Überzeugung heraus schreibt Karl der Poesie dieselbe heilen-
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Für Fichte ist die »Identität des einigen Bewußtseins« unabdingbare Voraussetzung für das Ich. Johann Gottlob Fichte, Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), Hamburg 1979, S. 28. Kant hält der Spaltung in beobachtendes und beobachtetes Ich im Zuge der Selbstreflexion entgegen, dass das Ich in diesem Fall »zwar der Form (der Vorstellungsart nach), nicht aber der Materie (dem Inhalte nach) zwiefach« sei. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1800). In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Darmstadt 1964, S. 417 (Fußnote). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie. In: Manfred Schröter (Hg.), Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung. Erster Hauptband, Jugendschriften 1793–1798, München o. J. (1927/28), S. 105. Friedrich Wilhelm Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie, S. 123. Ulfert Ricklefs, »Was war ich? Was bin ich?, S. 117ff. Karls essentialistisches Sprachverständnis zeigt sich auch, wenn er seinen ersten Sohn »Karl« tauft, und dieser Akt für ihn »mit seiner ganzen Ansicht von der Weltentstehung zusammen[hängt].« (365) vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit. In diesem Zusammenhang ist auch die Selbsttaufe des Markese zu verstehen vgl. Kapitel 5.6.2. dieser Studie. Diese Stabilität im Zuge einer ästhetischen Selbstschöpfung erlangen zu können, verspricht auch Hegel, da er das Gedicht als »Gefäß« bezeichnet, in dem das Subjekt seine sonst »zersplittert und zerstreut« vorhandenen »Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen« zusammentrage. Telos dieses Produktionsprozesses ist eine Totalität, in der »das empfindende Herz das Innerste und Eigenste der Subjektivität« erfährt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 14, Stuttgart 1928, S. 439 u. 447. Vgl. dazu auch Eva Horn, Subjektivität in der Lyrik, S. 300.
de Wirkung auch bezüglich des Liebesereignisses zu. Er geht davon aus, die nostalgische Liebessehnsucht stillen zu können, indem seine Poesie die Lücke zwischen vergangenem Liebesglück und dem gegenwärtig erlebten Liebesmangel schließt. Karl weiß um die Differenz zwischen Erlebnis und Dichtung, aber er will nichts davon wissen, dass sie unüberwindbar sei. Er geht, im Widerspruch zur Textkonzeption, davon aus, dass er den symbiotischen Liebesaugenblick mit seiner Lyrik identisch wiederholen und damit verewigen kann.400 Seine Erinnerung bildet dabei die Basis, auf der Karl sich seiner selbst in seiner Gegenwart versichern kann. Mit seinem unablässigen Fleiß, nachgerade einer Manie, dichtet er ein Gedicht nach dem anderen, um sich eine kontinuierliche Geschichte seiner Selbst zu erstellen. Dass Karl vom Erfolg seiner poetischen Selbsttherapie überzeugt ist und davon ausgeht, er habe die Krisenhaftigkeit des Lebens im Zuge seiner Liebesgeschichte dauerhaft überwunden, belegt die Selbstverständlichkeit, mit der er im Laufe seiner Beziehung und Ehe mit Dolores die Poesie der Schwebe hinter sich lässt, um insgesamt vier didaktische Gedichte zu schreiben (vgl. S. 157, 286, 378, 426). Karl ist sich seiner Identität in diesen Schreibmomenten offenbar sicher. Diese Selbstsicherheit spiegelt sich darin wider, dass Karl vom Gesang zur schriftlichen Fixierung wechselt, sie zeigt sich darin, dass vom Schwebezustand keine Rede mehr ist, und sie erklärt, warum Karl sich in seinen Gedichten nicht mehr sich selbst, sondern seiner Frau zuwendet. Der Duktus des Erziehers setzt voraus, dass sich der Verfasser des Gedichts seiner selbst gewiss ist und aus diesem Selbstverständnis seinerseits den Anspruch erhebt, den anderen nach den eigenen Richtlinien zu erziehen. Karl leitet von der ästhetischen Konstruktion seines Selbst moralische Grundsätze ab. Die Poesie verkommt so zum didaktischen Instrumentarium. Karls didaktische Gedichte haben zum Ziel, Dolores zu erziehen, und folgen damit einer aufklärerischen Poetik. Sie lösen mit dieser Funktion die (beispielsweise von Kleist geschriebenen) Erziehungsbriefe ab. In diesem Sinne wird Karl zuletzt ein Autor und Liebender der Aufklärung, der versucht, die romantische Autonomie der Kunst restaurativ zurückzunehmen. Der Leser, der in Karls Gedichten die unmittelbare Äußerung des liebenden Subjekts erkennt, der damit der Harmonie den Vorrang vor der Differenz gibt, übernimmt – ohne den Romantext komplett gegen seinen Strich zu lesen – Karls emphatische Sichtweise auf den Autorschafts-, Liebes- und Subjektdiskurs. 5.6
Roman vs. Protagonist: Das Drama poetischer Autorschaft
Allerdings driften die Ansichten des Romantextes einerseits und Karls Auffassung von seinem Autorschafts-, Liebes- und Identitätskonzept andererseits an dieser ent-
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Zu einer analogen Struktur der Erinnerung in Brentanos »religiöser Dichtung«, vgl. Gabriele Brandstetter, Erotik und Religiosität. Eine Studie zur Lyrik Clemens Brentanos, München 1986 hier besonders zu »Eines Weibes Träumen ...«, S. 227f.
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scheidenden Stelle auseinander. Mehr noch, sie geraten unübersehbar in Konflikt. Karls essentialistische Sichtweise widerspricht zunächst der Konstruktion eines polykontextualisierten Subjekts, wie sie der Roman während der Liebesinitiation entwirft (vgl. Kapitel 2.2). Hofft Karl auf die Einheit des Subjekts, hat der Roman längst gezeigt, dass nicht einmal die Bedingungen dieser Möglichkeit gegeben sind. Außerdem hat der Roman auch Karls Auffassung, die romantische Liebe könne Stabilität garantieren, bereits unterminiert, indem er das romantische Liebeskonzept selbst in Frage gestellt hat (vgl. Kapitel 2.2). Der Roman beharrt im Gegensatz zu seinem Protagonisten auf dem Schwebezustand und etabliert dieses Sowohl-alsauch vor den Augen seiner Leser als das unhintergehbare Prinzip. Dieses bildet nicht die Ausnahme von der Regel, es ist die Regel, die im Hinblick auf Karls Autorschaft verbindlich ist. Von Karls ersten, selbstverfassten Versen an, unterläuft der Romantext programmatisch die emphatische Selbst-Inszenierung seines Protagonisten. Während Karl davon überzeugt ist, die potentiell endlose Reflexionsbewegung im Medium »Poesie« überwinden zu können, spricht der Romantext der Lyrik grundsätzlich ab, diese Versöhnung leisten zu können. Der Text besteht vehement darauf, dass der Lyrik die oben beschriebene Bewegung der différance unhintergehbar eingeschrieben ist. Demnach ist Harmonie eine Illusion, der Schwebezustand stellt die Realität dar. Indem der Roman dieses Gegenkonzept zu Karls Auffassung stark macht, fordert er eindringlich eine zweite Lesart heraus. Wieder streicht er das »changent taft« gegen den Strich, sodass das Bild, das Karl von seiner Autorschaft entwirft, sich zugunsten eines zweiten auflöst. Wie schon während der Liebesinitiation erzeugt der Roman auf diese Weise ein Informationsgefälle zwischen seinem imaginären Leser einerseits und seinem Protagonisten andererseits. 401 Die zweite Lesart richtet sich nämlich gezielt an den (imaginären) Leser. Den hindert der Roman daran, sich Karls Ansicht anzuschließen. Diese Gegenposition zu seinem Protagonisten spielt der Roman auf zwei unterschiedliche Arten sowie auf zwei verschiedenen Textebenen effektvoll aus: Erstens, indem er, auch wenn Karl längst keine Poesie der Schwebe mehr verfasst, dem Leser vor Augen führt, dass Karls Korrelation von Erlebnis und Dichtung fulminant scheitert. Der Roman enttarnt Karls Eindrücke hinter dessen Rücken als pure Projektion und zeigt ironisch, wie sein Konzept einer inneren Ursprache versagt (5.6.1). Zweitens setzt der Roman seine poetische Position narrativ um, indem er mit dem Markese die Personifikation des melancholischen Autorschaftskonzepts auftreten lässt und Karl mit dieser auf der Handlungsebene konfrontiert (5.6.2).
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Manfred Pfister, Das Drama, S. 79.
5.6.1
Erdichtung und Enteignung
5.6.1.1 (Subjektives) Erlebnis statt (objektiver Wiederholung des) Ereignis’ Wie der Roman das Modell der Schwebe gegen den Willen seines Protagonisten ausspielt, zeigt sich, wenn Karl seiner Ansicht nach den Schwebezustand längst hinter sich gelassen hat und sich als Teil einer stabilen Ordnung empfindet. An diesen Stellen unterminiert der Roman zunächst Karls Vorstellung, seine Poesie könne ein Abbild der vorherigen Liebesereignisse sein, könne diese im Zuge identischer Wiederholung festhalten. Das lässt sich exemplarisch anhand einer einzelnen Szene verdeutlichen. So versucht Karl am Morgen nach seinem Duell mit dem hässlichen Baron seine Rückkehr zu Dolores am Tag zuvor und damit das Liebesereignis möglichst authentisch in Gedichtform festzuhalten (vgl. 171). Dazu versetzt er sich in die Gefühlswelt seiner Frau hinein: »Voll von den Gefühlen des vorigen Tages, dachte er sich ganz in die Stimmung seiner Frau.« (171) Karls Vorhaben ist mehr als ein leichtfertiges Gedankenspiel, es hat einen seriösen Anspruch. Es ist nämlich nicht nur »so süß sich etwas Liebes und Freundliches aus der Seele eines andern zu denken, dem wir ergeben« (171), sondern es geht darüber hinaus darum, die Gefühls- und Gedankenwelt des Geliebten vollständig in das eigene Liebesgefühl einbeziehen zu müssen: »wir versichern uns seiner in uns, und so dachte er wie sie [...]«. (171) Karls Lyrik soll ihm den Einstieg in Dolores Bewusstsein ermöglichen. Karl scheitert indes an seinem Authentizitätsanspruch, weil sich seine Erinnerungsarbeit trotz aller Akribie, die er aufwendet, um die Ereignisse zu rekonstruieren, trotz seines Einfühlungsvermögens, das er aufbringt, um die Gefühle seiner Frau nachzuvollziehen, mit seiner phantastisch-produktiven Wahrnehmung verschränkt (vgl. zur Anlage dieser Problematik Kapitel 2.2.2). Er will nämlich ausgerechnet ein Ereignis in Gedichtform festhalten, das es so in der Realität (der fiktiven Welt) überhaupt nicht, sondern nur in seiner Einbildung gegeben hat. Karl will nachdichten, »wie sie [Dolores, C. M.] gestern in seiner Abwesenheit wohl hätte träumen können« (171). Diese Grundidee, Dolores habe sich den Tag über in Träumen verloren, entspringt aus zwei Erlebnissen des Vortages. Zunächst entspricht sie Karls subjektiver Sichtweise seiner Rückkehr zur Ehefrau: Als [...] das Tüchlein seiner Frau ihm winkte, da ging es in vollem Laufe in den Torweg und im Schwunge vom Pferde mit klirrendem Sporne die Treppe hinauf zu Dolores. – Du lebst und er ist tot, rief sie ihm entgegen, sehnlich habe ich dich erwartet. (169)
Die interne Fokalisierung dieser Passage hebt hervor, dass Karls Wahrnehmung einem vorgegebenen Schema folgt. Karl reproduziert einen Liebestopos, der aus dem Archiv mittelalterlicher Minne stammt. Der Schablone »ritterliche Liebe« passt er seine Beobachtungen an, alles andere kommt ihm nicht in den Blick. Karl sieht, was er wahrnehmen will. Offenbar kann er sich überhaupt nichts anderes vorstellen, als dass seine Frau den ganzen Tag zu Hause sehnsuchtsvoll auf seine Rückkehr 251
geharrt hat. Nicht genug mit dieser Schematisierung, bestätigt Dolores anschließend Karls eingeschränkte Beobachtung noch einmal: Wie du nun bist, sagte sie, da habe ich den ganzen Tag allein gesessen, du läßt mich ganz allein, und ich habe in Angst geschauet aus dem Fenster, ob du kämest, habe dazwischen vor dem Spiegel mit mir getanzt, bis es dunkel wurde. (170)
Dolores belügt ihren Mann, indem sie ihn gekonnt mit seinen stereotypen Vorstellung bedient. In Wahrheit war alles ganz anders, und Dolores hat sich den Tag über köstlich mit Ilse amüsiert (vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit). Die Differenz zwischen Karls Erlebnis und den wahren Ereignissen zeigt, dass seine Erinnerung grundsätzlich von seiner Einbildungskraft durchdrungen ist. Wie im Stufenmodell klassischer Rhetorik überlagern sich seine memoria und inventio. Diese Tatsache alleine schon, schränkt seinen Anspruch ein, Authentisches zu erinnern. Doch Karls inventio ist damit noch nicht abgeschlossen. Im nächsten Schritt projiziert er seine Vorstellungsmuster auf die fiktive Doloresfigur. Er haucht ihr – sein Vorbild Pygmalion übertreffend – zugleich mit seinem Atem auch seine Gedanken ein: »und so dachte er wie sie in allen schönen Nachgedanken über Augenblicke, die ihm wert, nach seiner Art in träumender Unterhaltung sich befunden« (171). Das Ergebnis dieses Schöpfungsaktes ist das zweiteilige Rollengedicht »Sie zu Hause« und »Er nach Hause« (171f.). Die Verse des ersten Teiles rekurrieren über die Stichworte »ledig allein«, »Abend«, »Spiegel« sowie über den inszenierten Fensterblick direkt auf Dolores’ Lügengeschichte. Im zweiten Gedichtteil korrespondieren die Verse »Das Tüchlein winkt, / Das Waldhorn schallt / Die Sonne sinkt, / Mein Herz hoch wallt; / Das Tor weit auf / Durchhallt im Lauf« (173) über die Stichworte »Tüchlein winkt«, »Waldhorn«, »Sonne sinkt«, »Tor« und »Lauf« sowie durch das aufgerufene Handlungsmodell »Held kehrt unter dramatischen Umständen zur Geliebten zurück« sowohl mit Karls vorheriger Wahrnehmung als auch mit Dolores’ Erzählung. Das Gedicht bildet insgesamt aber nur eine, nämlich Karls Realität ab, die sich mit der objektiven Wirklichkeit nur partiell und mit Dolores’ Erlebnissen bis auf die äußeren Umstände überhaupt nicht deckt. Welche Folgen diese Konstruktion hat, bemerkt Karl selbst, als er sich über Wallers Poesie äußert: Der Graf versicherte umsonst, daß wenn man sich so einer Betrachtung über die Wahrheit überlasse, immer notwendig ein Stück fehlen müsse nämlich das betrachtende; es würde dann immer nur zur Wahrheit einer dritten Person die uns nichts angeht, nimmer unsre eigne. (303)
Was Karl Waller zum Vorwurf macht, trifft auf seine Poesie ebenfalls zu. Nur dort bemerkt Karl dies nicht. Doch der Roman zeigt anhand seines Protagonisten, dass bereits der Umstand, »Liebe zu erleben«, darin besteht, sie (sich) im Zuge subjektiver Wahrnehmung zurechtzuschneidern und sie damit zu erfinden. Karls Erlebnislyrik potenziert dieses phantasmatische Moment, indem sie das erfundene Ereignis noch einmal neu erschafft. Demnach bestätigt Karls Poesie unfreiwillig das »poetische Konzept des Romantisierens«, wie es das berühmte Fragment aus Novalis’ 252
Blüthenstaub Sammlung von 1798 bezeichnet: »Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung.«402 Aus Karls Sicht ist die Welt bereits romantisiert, bevor er beginnt, im eigentlichen Sinne zu dichten. Auf der Basis dieser poetisierten Welt schafft er anschließend, dem frühromantischen Programm gemäß, mit seinem Gedicht Poesie der Poesie, der Poesie, der Poesie […]. 403 Allerdings ist somit Karls Vorhaben, sich im Medium »Lyrik« seiner Frau zu vergewissern und sich mit ihr zu verständigen, unausweichlich zum Scheitern verurteilt. Karls Liebeslyrik kann weder einen Anspruch darauf erheben, auf ein Liebesereignis zu referieren, noch darauf, Dolores’ Erlebnis wiederzugeben. Das symbiotische Liebesereignis, das er in seiner Lyrik eigentlich festhalten will, verliert sich hinter seinen Überschreibungen.404 Was sich hingegen im Gedicht »Sie zu Hause« über Nacht vermehrt, ist die Diskrepanz zwischen den beiden Partnern. Ohne dass Karl es bemerkt, vertieft seine Dichtung mit jeder neuen Schleife, welche seine Einbildungskraft kunstvoll zieht, die Kluft zwischen ihm und seiner Frau und erhöht dafür den Grad seiner Selbsttäuschung. Mit der Quantität (referenzloser) Zeichen potenziert sich der phantasmatische Gehalt seiner Poesie, wenn auch nicht ins Unendliche, so doch ins Unerhörte. Vor den Augen des Lesers ist Karl also ein ganz anderer Autorentyp, als er eigentlich sein will. Seine Poesie bleibt auch dann noch der Schwebe zwischen Idealität und Realität verschrieben, wenn er glaubt, diese hinter sich gelassen zu haben.
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Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München 1978, Bd. II, S. 334 (Nr. 105). Sicherlich ist Karls Erinnerung an Traugott das eindrücklichste Beispiel für diese nostalgische Bewegung, zumal sie offen auf die Mnemotechnik anspielt. Als Karl am Abend vor der Abreise vom Landschloss »an den Schrank des kleinen Traugotts gerät« (356), ihn öffnet und Devotionalie für Devotionalie betrachtet, bis er schließlich im Schrank noch einmal »einen kleinen Schrank von Nussbaumholz mit Schlössern und vielen Kästchen, die der Graf in seiner Jugend sehr wert gehalten,« (357) findet, fungiert diese Beschreibung offensichtlich als poetologische Anspielung auf die räumlichen Ordnungsmodelle und (topischen) Metaphern der Mnemotechnik. Besonders sticht hervor, dass die Erinnerungsstücke an Traugott ihrerseits schon für das Kind Erinnerungsstücke an Begegnungen mit Karl waren. Die Mittelbarkeit eröffnet statt des Authentischen den Raum der Imagination, zumal Traugott die einzelnen, an sich marginalen Fundstücke mit poetischen »Inschriften« versehen hat. Als symbolisch aufgeladene Gegenstände verweisen sie auf das Zusammenspiel von Imagination, Mythos und Memoria. Was der Roman mit dieser Erinnerung konstituiert, ist die Bewegung der différance, die immer wieder den Ursprung umkreist, ohne ihn eindeutig rekonstruieren zu können. Ein weiteres Beispiel für die Ausweglosigkeit von Karls Sehnsuchtsprojekt ist seine Rückkehr zu Dolores nach seiner Studienzeit, die er als komplette Wiederholung der Initiation zu inszenieren sucht. Die vom Erzähltext akribisch nachgezeichnete Differenz zwischen erster und zweiter Ankunft demonstriert, dass das Vergangene sich nicht identisch wieder-holen lässt. Es liegt immer eine Differenz zwischen A und Aeins. Zu diesem Phänomen der Wiederholung, Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 31ff.
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Indem der Roman die realen Bedingungen von Karls Autorschaft gegen dessen eingeschränktes Bewusstsein ausspielt, inszeniert er seinen Protagonisten als naiven Illusionär. Vor den Augen des Lesers stellt der Text Karl bloß und enttarnt seine Poesie als selbstverliebte Nabelschau, in der sich alles immer nur um ihn selbst dreht. Karl ist ein poetischer Autor, der sich über die wahren Produktionsbedingungen seiner Dichtkunst hinwegtäuscht, der auf diesem falschen Fundament aber seine Liebesaufassung aufbaut und festigt. Karls Liebesgeschichte ist nicht zuletzt ein Drama poetischer Autorschaft. Dessen tragikkomischer Held ist kein geringerer als Karl selbst. Dieses Drama spielt der Roman im Zuge von Karls Liebesgeschichte gekonnt aus. So spitzt er die vorliegende Szenerie so weit zu, dass es unter normalen Umständen unausweichlich zur Desillusionierung des Helden kommen muss: »Der Graf musizierte die Lieder, und als er sie ganz in der Kehle und Hand hatte, ging er nach dem Schlafzimmer, seine Frau damit zu wecken.« (173) Karl will Dolores seine Verse vortragen und seine Poesie damit in die partnerschaftliche Zeichenzirkulation einspeisen. Käme es zu diesem Vortrag, würde Karl gegen seine Intention und wider seine eigenen Ansprüche handeln. Der Wahrheit verpflichtet, würde er unfreiwillig zum Falschspieler, der das gemeinsame Liebesereignis nach seiner Façon manipuliert. Der Roman legt es mit seiner Konstruktion geradezu genüsslich darauf an, dass der Leser sich bereits Karls Vortrag vorstellt und Dolores’ Reaktion vorwegnimmt. Er stellt Karls Desillusionierung (oder die Erweiterung des Lügengebäudes) in Aussicht. Doch als Karl Dolores’ Zimmer betritt, steht bereits der hässliche Baron vor ihrem Schlafzimmerfenster. Die Anwesenheit eines Dritten durchkreuzt Karls Pläne und verhindert, dass Karl sein Gedicht vorträgt (vgl. 174). 405 Die Unterbrechung versetzt die Handlung in suspense und lässt den Konflikt zwischen Karls Auffassung von seiner Autorschaft und dem Wissen um dessen wahren Produktionsbedingungen ungelöst. Der Roman spielt das Gefahrenpotential an dieser Stelle absichtlich nicht aus. Karl bleibt in seiner Illusion gefangen und kann sich seinen falschen Überzeugungen weiter hingeben. Ihm bleibt sowohl die Problematik seiner Liebespoesie als auch das gesamte Autorschaftsdrama weiterhin verborgen. Für den Leser aber ist der Boden für die Katastrophe längst schon bereitet, für ihn stellt sich nur noch die Frage, wann der liebende Autor Karl desillusioniert wird. 5.6.1.2 Zur Enteignung des Subjekts – Polyphone vs. Geniale Autorschaft In einem zweiten Punkt täuscht Karl sich über die wahren Produktionsbedingungen seiner Autorschaft hinweg. Was für den Versuch gilt, das Liebeserlebnis mit Hilfe der Erinnerung zu wiederholen, ist auch für Karls lyrische Texte verbindlich, die sich von Beginn an nur mit sich und seinen Gefühlen auseinandersetzen.
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Ein weiteres Beispiel für diesen Fall ist Karls emphatischer Liebesbrief an Dolores, als er alleine auf dem Landgut arbeitet und sie ihn gerade mit dem Markese betrügt (vgl. 371).
Während Karl davon ausgeht, seine Gefühle in seiner Poesie unmittelbar ausdrücken und sich auf diese Weise sicher als liebendes Subjekt konstituieren zu können, erzählt der Roman die Geschichte von Karls poetischer Selbstvergewisserung mit einem ganz anderen Gestus. Schreibt Karl im Vertrauen auf das natürliche Ausdrucksvermögen und die Sprachmacht seiner Poesie einfach drauflos, grübelt der Text über den Zeichen, die seine fiktionale Autorfigur produziert. Was dem emphatischen und durchaus schwermütigen Poeten Karl zum Melancholiker fehlt, das ist dem Roman ostentativ zu Eigen (vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit). Erneut bleibt der Roman seiner Poetik des Changierens treu. Er bietet zwar – wie oben gezeigt – eine Lektüre an, bei der man Karls Lyrik als Ausdruck seiner Gefühle identifizieren kann, aber er unterbreitet dieses Angebot nur, um das Schema aus Erlebnis und Dichtung sowie die Ausdrucksfähigkeit poetischer Sprache vor den Augen seiner Leser zu problematisieren. Wird die Repräsentationsleistung der Poesie in Zweifel gezogen, gerät damit zugleich die poetische Konstitution des Subjekts in die Kritik. Diesem wird die Basis seiner Identifikation entzogen. Diese zweite, auf die Brüchigkeit respektive Gefährdung des Subjekts abzielende Lesart entwickelt Arnims Roman, indem er für seine Leser bei jeder einzelnen Lyrikeinlage die Bruchstelle zwischen der fiktiven Dichterfigur (Karl) einerseits und der Aussageinstanz des Gedichts andererseits herausstreicht. 406 Im Romantext ist diese trennende Kluft allein schon grafisch hervorgehoben. Sie wird anhand der Leerzeilen sichtbar, welche die jeweilige Schreibszene von den ersten Gedichtversen trennt. Zudem zieht entweder ein nachträglich eingesetzter Gedichttitel oder eine Nummerierung der einzelnen Gedichtabschnitte diese Trennlinie noch einmal nach. Außerdem macht der grammatikalische Wechsel von der dritten Person in die erste Person Singular die Differenz zwischen Autor- und Aussageinstanz überdeutlich. Keiner kann wohl garantieren, dass die beiden unterschiedlichen grammatikalischen Personen tatsächlich auf dasselbe Subjekt zu beziehen sind – auch wenn dies mancher Leser für plausibel hält. Die behauptete Spontaneität von Karls poetischem Gefühlsausbruch erscheint angesichts dieser betonten Diskrepanz nur als Effekt eines streng kalkulierten, polyphonen Erzählarrangements, bei dem sich Karls Autorschaft und Stimme mit denen des Erzählers überlagern.407 Anstatt die Gedichte auf die Erlebnisse einer Dichterfigur zu verrechnen, verweist die ›Gräfin Dolores‹ genau auf die Bruchstelle, welche die Lyrikforschung erst nach dem linguistic turn der 1970er ihrerseits postuliert: »ein geschriebener Text impliziert immer schon die Abwesenheit seiner Schreiberin, bzw. seines Schreibers, anders als das gesprochene Wort. Durch den Akt der Schrift also trennt sich die die oder der der
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Jörg Schönert hat zuletzt darauf hingewiesen, dass sich erzähltheoretische Termini auch für die Lyrikanalyse fruchtbar machen lassen. Jörg Schönert, Empirischer Autor, Impliziter Autor, Lyrisches Ich, S. 290. Wie bei jeder Figurenrede, spricht im Hintergrund von Karls angeblich unmittelbarem Gefühlsausdruck stets die Stimme des Erzählers mit.
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real Schreibende ein für alle Mal und kategorial von dem Gesagten, das sie oder ihn – in der Schrift – überdauert: die Person des Autors wird irrelevant für das, was der geschriebene Text sagt.« 408 Die Aussageinstanz des Gedichts – selbst wenn sie in der ersten Person Singular aufgeführt ist – ist nicht mit dem (realen) Autor »Karl« zu identifizieren. 409 Auf diese Diskrepanz weist der Text seine Leser selbst in den Fällen hin, in denen Karl seine Gedichte angeblich singt (vgl. S. 134, 135, 152, 393, 396). Den Primat der Schriftlichkeit stellt der Roman auch dort nicht in Frage. Die angebliche Oralität nimmt »nur« den Status einer sekundären, im Medium der Schrift inszenierten Mündlichkeit ein. Von den lyrischen Einlagen wird daher also ein spezifischer Lektüremodus gefordert: Sie sind als schriftliche Entwürfe einer Lautierung zu begreifen. Die einzelnen Gedichte sind als im Schriftbild stillgestelltes Arrangement der Buchstaben und Wörter im Hinblick auf die codierten Laute transzendiert. Arnims Roman fängt nicht etwa Karls Originalton ein, sondern er inszeniert die Oralität. Mit dem Wechsel zwischen geschriebenem Gedichttext und akustischem Medium stellt er zum einen die Inszenierungstechniken von Oralität in Prosadichtung aus. Zum anderen dient die Spannung zwischen Literalität und Oralität dazu, um eine dreistellige Analogie zu entwerfen: Was für den durch die Stimme hervorgerufenen hörbaren Laut gilt, der noch im Augenblick seines Vollzugs verklingt und als das, was er im Moment seiner Artikulation war, nicht mehr in Erscheinung tritt, ist auch für das Liebesereignis und nicht zuletzt für die Selbstwahrnehmung des Subjekts verbindlich. Diese Desintegration zwischen »geschriebenem Ich« und schreibenden Subjekt öffnet eine Lücke, in welche die sprachlichen Zeichen eindringen. Der Roman führt vor, wie Karl sich als Poet, in dem Augenblick, in dem er sich seiner selbst bewusst werden will, dem Medium Schrift ausliefert. 410 Da die allgemeinen Strukturen der Sprache aber unhintergehbar sind, entpuppt sich sein Selbst schlicht als
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Eva Horn, Subjektivität in der Lyrik, S. 304. Ulfert Ricklefs Behauptung »so kann man bei Arnim eine individualisierte, das ist eine autobiographisch und perspektivisch relationierte progressive Universalpoesie erkennen, die den romantischen Roman als Lebenstext vermittelt [...]«, setzt voraus, dass der sprachliche Ausdruck transparent für die Gefühle des Subjekts sei. Dieses Verständnis des »medialen Ichs« (Ricklefs, S. 124) klammert die allgemeinen, überindividuellen Eigenschaften des Mediums »Schrift« aus. Es bleibt – im Gegensatz zu Arnims Programmatik – immer einseitig. Ulfert Ricklefs, »Was war ich, was bin ich? was werde ich?«, S. 124ff. besonders S. 128. Die Folgen lassen sich erneut an Ovids Narzissmythos demonstrieren. Exakt in dem Moment nämlich, in dem Narziss die Wasseroberfläche, in der er sich sieht, voller Begierde berührt, zerspringt die glatte Spiegelfläche und das geliebte Objekt entpuppt sich als Bild, das sich nicht fassen lässt. In diesem Augenblick der Desintegration wird Narziss bewusst, dass er sich nach seinem Bild nur verzehren, es aber nie erreichen kann, weil sein Begehren seiner selbst immer an die Bildhaftigkeit gebunden ist. Seine Liebe muss daher unerwidert bleiben.
ein »Effekt von Signifikanten«. 411 Dadurch ist Karls ästhetisch konstruierte »IchIdentität« in Wahrheit äußerst fragil. So verweist der Roman im Rahmen von Karls Selbstdarstellung vehement darauf, dass dessen Gedichte nicht aus eigenen Worten, sondern nur aus fremden Zeichen bestehen. Er verortet Karls Autorschaft – quasi hinter dessen Rücken – im Paradigma der »Abschrift«. 412 Dies wird besonders an den Stellen deutlich, an denen Karl vermeintlich wie nirgends sonst als poetisches Genie gefeiert wird und seine Gefühle direkt in seine Sprache einfließen. Die prominentesten Fälle dieser Art sind Karls Tagebucheinträge, die er nach seiner Flucht von seinem Landsitz verfasst (vgl. 396). Noch einmal schwört der Erzähler seinen Leser an dieser Stelle auf das Lektüreschema »Erlebnislyrik« ein: Wir unterdrücken gern das Meiste was uns aus jener Zeit von ihm übrig geblieben; nur einige Stationen seiner Reise heben wir aus, um seinen Ideengang zur Verbindung der Geschichte uns zu versinnbildlichen; sie rühren uns bei aller Nachlässigkeit ungemein, denn es ist die Sprache eines tief gekränkten Herzens. 1. Über Stock, über Stein, drein, drein, ohne Bewusstsein; knackts, brichts, wirts um, ich sitze stumm; meiner Blicke einzige Sprache ist ewiges Wachen […]. (396)
Der Erzähler korreliert nicht nur die Erlebnisse seiner Hauptfigur mit dem Inhalt des Gedichts, er betont mit der Metapher »Sprache des Herzens«, dass die poetische Sprache transparent für (Karls) Gefühle sei. 413 Doch der gesamte Tagebuchtext stammt aus Arnims poetischer Konserve. Arnim veröffentlichte ihn schon zwei Jahre vor dem Erscheinen der ›Gräfin Dolores‹ unter dem Titel: »Der an der Liebe Verzweifelte auf verschiednen Poststazionen« in der ›Zeitschrift für Einsiedler‹ (1808). Das Wissen um diese vorherige Publikation zerstört die Illusion innerhalb
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Jochen Hörisch erkennt in dieser Problematik eines der zentralen Themen des Bildungsromans. Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 49. Jörg Löffler, Das Handwerk der Schrift. Autorschaft und Abschrift bei Hoffmann und Arnim. In: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 11 (2003), S. 19–33, hier S. 25ff. Für Hartwig Schultz sind die rudimentären Verse (109), die er als »Vers-Prosa-Mischformen« bezeichnet, Ausdruck eines »Zwischenzustands«, »einer zwischen Herz und Hirn gespannten intellektuellen Sinnlichkeit«, der sich im »Vorsichhinsprechen« im »bewusstlosen Fortrollen der Gedanken« unmittelbar niederschlagen würde. Hartwig Schultz, »Dieses bewusstlose Fortrollen«, S. 109f. Vgl. auch Steinig, für welche die »inszenierte, rhythmisierte Sprache und Reimstruktur« »natürlicher« als Wallers »hexametrische Schottland-Elegie ist« (575), aber künstlicher als Klelias prosaische Tagebucheinträge, Steinig, »Wo man singt«, S. 541. Ricklefs erkennt in der zitierten »Tagebucheinlage« sogar den Beweis für die Gültigkeit von Arnims Behauptung aus seinem Volksliedaufsatz: »Bei den natürlichen Menschen, die keinen gesellschaftlichen regelmäßigen Mißbrauch mit der Sprache getrieben, entwickelt sich der Vers unmittelbar aus den Empfindungen.« Ulfert Ricklefs, Arnims Lyrisches Werk, S. 791. Zu dieser Textstelle vgl. auch Hartwig Schultz, Dieses bewußtlose Fortrollen, S. 107. Fuhrmann bezeichnet diesen Eintrag als »Scheinprosa« vgl. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 132f.
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der fiktionalen Welt, Karl habe diese Zeilen spontan als authentischer Ausdruck seiner Gefühle verfasst. Karls Aufzeichnungen bestehen aus Zitaten, aus einzelnen Strophen und Versfolgen, die aus längst schon publizierten Gedichten herausgeschnitten und anschließend neu montiert wurden. Der Eindruck vermeintlicher Spontaneität wird noch weiter unterminiert, da sich auch das Sprachmaterial seiner Lyrik synkretistisch aus längst anderweitig verwendeten, über Karls individuelle Lebenssituation hinausweisenden Stereotypen und Topoi zusammensetzt. Dies lässt sich erneut anhand von Karls Tagebucheinträgen nachweisen. Im 3. Abschnitt von Karls Aufzeichnungen ist das vermeintliche Selbstbild des schmerzlichen Empfindens aus Bestandteilen des Narziss- und des Prometheusmythos zusammenmontiert und korrespondiert zudem ikonografisch mit der Darstellung Jesu als Schmerzensmann: Ich seh mich im Spiegel des Meeres an, ein jeder über sich selbst wohl lachen kann; ich meinte, das Glück lächle zurück. Wie Stoßvögel drüber die Sorgen viel trüber, sie dringen hernieder und weichen nicht wieder. Die Narben und Falten sich zeigen und halten, selbst von den Toten nicht scheiden; doch spurlos sind Freuden, ein gleitender Strahl hin übers zerrissene Felsental. (396)
Die zitierte Passage kompiliert das Bild des an den Felsen geketteten Prometheus, der stellvertretend die Leiden der Menschen erträgt und damit als ein typologischer Vorgänger Jesu Christi fungiert, mit der Narzissfigur (s. o.), die sich selbstverliebt bespiegelt. Karls lyrische Selbstdarstellung ist keineswegs der inneren, respektive der ihn umgebenden Natur abgelauscht. Sie ist kein Seismograph individuellen Gefühls, sondern bedient sich gleichsam mit vollen Händen aus dem Materiallager der Mythologie. Karl greift in das Archiv der Literatur und verarbeitet – ohne dies selbst zu reflektieren – ausschließlich fremdes Bildmaterial. Auf Karl trifft zu, was Arnim in einem seiner Freundschaftsbriefe an Brentano bekennt: »ich denke in andern, wie andre auch in mir denken […]«. 414 Seine Autorschaft ist immer schon eine sekundäre, die sich auf ein Vorausgegangenes bezieht, und daher ist seine Poesie abhängig von vorheriger Rede, von den Reden anderer, die er jeweils mitspricht. 415 Innerhalb dieser Abfolge von Rede verändert sich automatisch auch die Bedingung von Karls Autorschaft. Seine Poesie entsteht nicht aus einem Akt ingeniöser Neuschöpfung, sondern im Zuge kultureller Tradierung. Karl besetzt die Position des Epigonen, der immer nur nachdichtet, was seine Vorgänger bereits erfunden haben. So wie Karl zuvor schon seinen finanziellen Reichtum nur durch sein Erbe erlangt hat, so erbt er auch den sprachlichen Reichtum
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Hartwig Schultz (Hg.), Arnim und Brentano, Freundschaftsbriefe, Frankfurt am Main 1998, Bd. 1, S. 184f. Dass Arnims Roman mit Bachtins Theorie von der Dialogizität der Sprache kurzzuschließen ist, zeigt bereits Christof Wingertszahn. Ders., Ambiguität und Ambivalenz, S. 261–268.
seiner Poesie. 416 Karls »epigonale Schreibsituation« determiniert seine Autorschaft zur Sammelleidenschaft. 417 Das tradierte Material wird nur neu gesichtet und im Sinne einer ars combinatori neu zusammengesetzt. Seine Lyrik ist damit ihrerseits nur ein Kettenglied eines überindividuellen, weit über ihn hinwegreichenden, von ihm nie in seiner Gesamtheit überschaubaren oder gar beherrschbaren Prozesses kultureller Überlieferung. Sein Schreiben bleibt immer in ein ganzes Netzwerk von Beziehungen und Bezügen eingewoben. Das Konzept romantischer Autorschaft, wie es in Karls Poesiefiktion entsteht, lässt erkennen, dass poetische Autorschaft als ein potentiell unendlicher Akt des Fortschreibens zu verstehen ist. Sie findet stets im Universum der Texte und Diskurse statt. Mit diesem Entwurf erteilt der Roman der Anforderung, die traditionell an eine Gefühlssprache gestellt wird, eine deutliche Absage. Er durchkreuzt den Anspruch auf Authentizität und Referenzialität sprachlicher Zeichen. Was die jüngeren Beiträge zur Arnimforschung von Löffler und Kilcher offenbar unabhängig voneinander an Arnims später Erzählung ›Holländische Liebhabereien‹ als Charakteristikum von Arnims »romantischer Autorschaft« herausgearbeitet haben, 418 was Uwe Japp als »Force, was seine [Arnims, C. M.] Lyrik angeht«419 bezeichnet, bringt bereits die produktionsästhetische Reflexion von Autorschaft und Liebe in der ›Gräfin Dolores‹ hervor. Diese inszeniert »ein das Paradigma der Erlebnislyrik verabschiedendes ganz der Materialität der Wort-Kunst vertrauendes Dichten und Fortdichten.«420 Im Gegensatz zu Arnims späteren Erzählungen aber hat die ›Gräfin Dolores‹ das alte Paradigma der Erlebnislyrik noch nicht endgültig hinter sich gelassen. Die ›Gräfin Dolores‹ markiert als Text exakt den Übergang zwischen den beiden Konzepten. Da der Roman das Denkschema noch einmal stark macht, um es dann zu unterminieren, kann man diesem förmlich dabei zuschauen, wie er die Genieästhetik verabschiedet, um sie durch eine intertextuelle Poetik der Schrift zu ersetzen. Diese Substitution verläuft pikanterweise über den Kopf seines eigenen Protagonisten hinweg. Diese polyphone Autorschaft schließt zugleich einen Akt der Enteignung ein. Karl verfügt nicht über seine Sprache. Sie ist nicht sein Eigentum und deshalb bleibt ihm jedes auf Eindeutigkeit zielende Machtwort versagt. Diese Enteignung exponiert den aporetischen Charakter von Karls Vorhaben, sich seiner selbst im
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Auf diesen Zusammenhang von Ökonomie und Autorschaft weist beispielsweise auch Caroline Pross in ihrer einschlägigen Studie zu Jean Pauls ›Siebenkäs‹ hin. Vgl. Caroline Pross, Falschnamenmünzer. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität im Bildfeld der Ökonomie bei Jean Paul, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 69f. Sowohl Löffler als auch Kilcher heben die für Arnims Erzählungen charakteristische »epigonale Schreibsituation« hervor, Löffler, Das Handwerk der Schrift, S. 28. Andreas Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 66. Jörg Löffler, Das Handwerk der Schrift, S. 19. Andreas Kilcher, Philologie in unendlicher Potenz, S. 66f. Uwe Japp, Arnim und der Surrealismus, S. 409. Uwe Japp, Arnim und der Surrealismus, S. 409.
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Medium der Poesie zu vergewissern. Karl kann sich im Zuge seiner Selbstreflexion nicht selbst begreifen. Die sprachliche Vermitteltheit der Selbstwahrnehmung versperrt den Zugang zu seinem Inneren. Wann immer er versucht, nach sich zu greifen, verliert er sich im Universum der Zeichen und vervielfältigt nur seine Abbilder. 421 Die einzelnen Lyrikeinlagen ergeben kein eindeutiges Bild eines spezifischen Charakters, sondern zerfallen in eine Reihe divergierender und sich ausschließender Bildtypen. Und dies gilt ausnahmslos für alle Gedichte, auch für Karls didaktische Poesie. Diese exzentrische Dynamik potenziert sich in der Reihe der einzelnen Gedichte noch einmal. Über seine insgesamt fünfundzwanzig Gedichte hinweg vervielfältigt sich das »flüchtige Subjekt« ins Unendliche. Die polyphone Autorschaft führt den Verlust des Originären vor und fragmentiert die vermeintliche Identität des Subjekts. Daher scheitert Karl, wie vor ihm schon eine Reihe kanonischer Helden, dichtend an der Verschränkung von Selbsterkennen und Selbstverkennen. 422 Er muss sich als liebendes Subjekt in einer potentiell unendlichen Dynamik immer wieder neu konstituieren, um sich zugleich wieder aufzulösen. Die ›Gräfin Dolores‹ wirft anhand ihrer Reflexionsfigur »Karl« die Frage auf, wer dieses »Ich« überhaupt ist, das da im romantischen Liebescode so vollmundig von sich behauptet: »Ich liebe dich«. Der Roman stellt die Legitimität dieser Aussage grundsätzlich in Zweifel, indem er das Subjekt dem Schwebezustand unterstellt, aus dem ihm weder seine poetische Autorschaft noch seine Liebe lösen können.
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Diesen Zusammenhang hat Renate Moering überzeugend anhand der, in den Romantext eingelegten, Strophe »Liebend um geliebt zu werden/Reis’ ich um die grüne Erde« vorgeführt. Ich habe ein alternatives Beispiel gewählt, weil diese Strophe innerhalb der fi ktiven Welt ausdrücklich nicht Karl selbst zugeschrieben wird. Deren »wunderbare Melodie« (144) pfeift vielmehr der Dompfaff, den Karl als Fetisch von Dolores’ Schloss zur Universität mitgenommen hat. Die Melodie findet sich tatsächlich in der »Musikbeilage«, vertont von Radzwill als »Frühlungslied« (678). Der dortige Text aber unterscheidet sich von der im Roman selbst abgedruckten ersten Strophe: »Frühlingslied: Lieben und geliebt zu werden,/ist das Einzige auf Erden,/was ich könnte, was ich möchte,/ was ich dächte,/daß es mir nur könnte werden,/lieben und geliebt zu werden« (678). Die Strophe in der ›Gräfin Dolores‹ ist zudem nur die neunte eines vierzehnstrophigen Gedichts, das Arnim Bettine Brentano gewidmet hat. Bei der Herauslösung aus dem Originalgedicht erfährt die Strophe eine Aufwertung, sie wird zugleich aber auch desintegriert und aus ihrem Kontext herausgebrochen. Außerdem verändert sich die Situation der Aussageinstanz: Im Originalzusammenhang ein weibliches Ich (5. Strophe: »Liebe, die ich lieben werde, Ich die glücklichste der Erde [...].«). Im Roman aber sind die Worte Karl zugeordnet, der sie sich denkt, während der Dompfaff sie pfeift. Moering folgert: »Was Arnim hier schafft, ist nicht ein abgeschlossenes Gebilde, sondern eher ein Irrgarten, in dem man sich verliert. Zum Verständnis dieses dichterischen Reichtums muß der Leser mehr tun als einfach den Roman lesen. Er sollte die Strophe im Kontext schätzen, er sollte aber auch das Lied singen oder anhören, und sicher nicht nur die hier abgedruckten Strophen, sondern alle Strophen der ›Trösteinsamkeit‹ [...]. Dieses Vorgehen hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ›Romantisieren‹ eines Novalis als einer Forderung für den Dichter.« Renate Moering, Die offene Romanform, S. 160. Vgl. Jochen Hörisch, Gott Geld und Glück, S. 35.
Karls Vorstellungen entpuppen sich als Illusion, die hinter dem Reflexionsniveau des Romans zurückbleiben. Erst vor dem Hintergrund dieser Diskrepanz zwischen Karls eigener Reflexionsleistung und der des Textes, kann man die Tragik von Karls Liebesgeschichte bis zu seinem Selbstmordversuch nachvollziehen. 5.6.2 Die Erfindung des Subjekts und die polyphone Autorschaft des Markese Der Roman setzt seine Fundamentalkritik an Karls Autorschafts-, Liebes- und Identitätskonzept zugleich in Handlung um, und zwar, indem er mit dem Markese einen Prototyp seiner intertextuellen Poetik der Schrift auftreten lässt. Die gesamte Erzählung von Dolores’ Verführung ist aus der Perspektive des Markese betrachtet nichts anderes als eine Autorschaftsgeschichte. Anders als Karl lebt und liebt der Markese bewusst in einem Universum der Zeichen. Das bestätigt exemplarisch der Erzähler, als er kurze Zeit nach Dolores’ Ehebruch nachträgt, wie der Markese überhaupt auf die Idee kommen konnte, Klelias Schwester zu verführen. Nach Auskunft des Erzählers hat sich der Markese tatsächlich in Dolores verliebt, allerdings bevor er ihr begegnet. Seine Liebesinitiation findet vermittelt durch Briefe statt, die er bei seiner Frau Klelia liest: »die heiteren Briefe ihrer [Klelias, C. M.] Schwester Dolores, die er bei ihr las, hatten ihn damals schon zu ihr hingezogen.« (448) Aus Sicht des Markese ist Dolores zunächst nur ein virtuelles Bild, das er aus ihren Schreiben zusammensetzt. Was ihn an Dolores »heiteren Briefen« fasziniert, ist offensichtlich weniger das Geheimnis einer verführerisch-schönen, rätselhaften Frau, als vielmehr die Rätselhaftigkeit der Schrift. 423 Der Markese ist ein leidenschaftlicher Leser. Das via Schrift erzeugte Bild von Dolores löst sein Begehren aus, wobei die Medialität dem Markese nicht nur bewusst ist, sondern erst den Reiz ausmacht. Das Medium Schrift weckt die Verführungslust des Markese, die Zeichenhaftigkeit der Welt bildet das Fundament seiner Verführungskunst. Diese beruht auf nur einer, allerdings entscheidenden Einsicht: Der Markese hat die Quasi-Natürlichkeit einer auf vorgegebener Konventionalität basierenden Zeichenordnung erkannt und macht sich dies zunutze. Er verkörpert die ordnungsgefährdende Kontingenz dieser Welt. Die antiessentialistische Metapher für diese Kontingenz ist sein Namenstausch, der zugleich seine (poetische) Autorschaft begründet. Der Autor erdichtet gleich einmal nichts Geringeres als seine neue Identität. Der »Herzog von A...«, wie er als Klelias Mann heißt, verleiht sich vor seiner Ankunft in Deutschland den falschen Titel des »Markese von A …«. Und er tauft sich auf den Vornamen Johannes. Dieser Name beschreibt metaphorisch die Vollzugsform der Taufe selbst. Der Markese bedient sich dreist aus dem religiösen Code, um diesen in seinem Sinne umzudeuten. Er tauft sich in der Nachfolge von Johannes dem Täufer und beruft sich dabei zugleich auf Johannes den Evangelisten sowie dessen ontotheologische Formel: »Im Anfang war das Wort«. Im Wider- oder sollte man
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Vgl. zu diesen Zusammenhängen Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 65ff.
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besser sagen Heiligenschein seiner zwei Namensapostel schwingt er sich gleichzeitig selbst zum gottgleichen Schöpfer einer eigenen Zeichenordnung auf. Er schafft und er herrscht über seine eigene Welt der Zeichen. Der Schöpfungsakt dient seinerseits wieder nur zu einem einzigen Ziel, zur Verführung. Und dies verbindet den Markese mit seinem dritten prominenten (Vor-)Namensvetter: Don Juan, der namentlich – wie der ebenfalls aus Spanien stammende Markese (373) – ja nichts anderes ist als ein »spanischer Johannes«. Mit seinem Taufakt verwebt der Markese also zielstrebig Autorschafts-, Liebes- und Identitätsdiskurs. Damit agiert er in demselben Diskursdreieck wie Karl. Zudem erweitert er das Diskursfeld gezielt um das Paradigma »Religion«. Zwar ist auch Karls Liebe fest mit seinen religiösen Vorstellungen verbunden (Kapitel 3.1), aber im Kontext seiner poetischen Autorschaft spielte das Religiöse (bislang) eine untergeordnete Rolle. Vermittelt über den Auftritt des Markese macht der Roman gezielt einen neuen Aspekt (poetischer) Autorschaft stark. Die Interferenz der Diskurse ist von entscheidender Bedeutung. Sie bestimmt nicht nur die unmittelbar folgende Verführung, sondern sie wirkt sich vor allem langfristig auf den Romanverlauf aus. Erst vor ihrem Hintergrund wird deutlich, dass der Markese gezielt das essentialistische Verständnis von Eigennamen durchkreuzt, bei dem die strenge Notwendigkeit der Referenz (und damit die Identität des Individuums) durch kausalen Rekurs auf den archimedischen Punkt einer »original ›baptism‹« erreicht wird. 424 Er agiert in seiner Welt der Zeichen vom ersten Augenblick an in der Gewissheit, sich fremde Signifikanten aneignen, sie sich für eine bestimmte Zeit ausleihen und sie in neuen Zeichenordnungen integrieren zu können. Er weiß um die grundsätzliche Arbitrarität der Zeichen. Nach der Markeseschen Selbsttaufe konkurriert der Primat des eigenen, kontingenten Wortes ausdrücklich mit dem Gotteswort, das doch die natürliche Weltordnung garantieren soll. Damit fordert der markesische Taufakt offen den Konflikt mit Karls Autorschafts- und Lebensmodell heraus. Vor den Augen des Lesers entspinnt sich ein Wettkampf zweier antagonistischer Autorschaftskonzepte, bei dem der Markese triumphiert, während Karl eindeutig den Kürzeren zieht. 425 So steht die Selbsttaufe des Markese in deutlicher Opposition
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Artikel »names«. In: Ted Honderich (Hg.), The Oxford companion to philosophy, Oxford u. New York 1995, S. 602f., hier S. 602. Der Namenstausch des Markese ist insofern mit der Geldmetaphorik verbunden, als die das Geld kennzeichnende Arbitrarität die Voraussetzung dafür ist, dass der Markese überhaupt zum »Falschnamenmünzer« werden kann. (Die ontologische Bodenlosigkeit, die mit dieser Arbitrarität einhergeht, wird zunächst nicht in Szene gesetzt.) Der zweite Prototyp dieser intertextuellen Poetik der Schrift, die zweite Gegenfigur zu Karl, ist der »wunderbare Doktor« (401–424). Nicht zufällig treten der Markese und der Doktor in synchron verlaufenden Handlungen auf. Die beiden verbindet sowohl ihre Lust an dem unsichtbaren Mädchen und dem Flötenspieler, die der Doktor dem Markese abkauft, als auch ihre Form intertextueller Autorschaft, die jeweils mit ihrer Liebesbeziehung interferiert. Der Doktor ist insofern ein Vertreter polyphoner Autor-
zu der zuvor geschilderten Taufe von Karls erstem Sohn, mit welcher der Vater die Abstammung und die Identität des Kindes eindeutig festlegen will. Der Verführer hingegen entledigt sich seiner eigenen Abstammungs- und Lebensgeschichte vollständig. Selbst der demonstrative Versuch des Erzählers, »er wolle das Betragen des Markese durch einige frühere Beobachtungen über ihn deutlich zu machen suchen; bald möchte er sonst gar zu befremdend erscheinen« (373), deckt zwar einige Stationen seines vergangenen Lebens auf, die wahre Identität des Verführers bleibt aber dennoch verborgen. Der Markese ist eine opake Figur. Als kontingentes Zeichen flukturiert er durch den (Text-)Raum. 426 Da er alles Eigene bewusst hinter sich gelassen hat, kann er sich wie ein Chamäleon seiner jeweiligen Umgebung anpassen. Als Mann ohne Eigenschaften schreibt er sich je nach Bedarf unterschiedliche Merkmale zu. Seine Verführungstechnik beruht zunächst auf seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe. Der Markese liest die Zeichen seiner Zeit. Für deren aktuelle Moden hat er ein feines Gespür. So hat er sich »alle Geheimnisse der Rosenkreuzrer angeeignet, um sie, vermischt mit dem Mesmerschen Magnetismus als eine furchtbare Geisterhand in das Innerste der Gemüter auszustrecken.« (379) Anerkennend stellt der Erzähler fest, wie zielgenau der Markese mit dieser Wahl den gegenwärtigen, offensichtlich nicht zuletzt von Goethes Die Wahlverwandtschaften geprägten Zeitgeist trifft: Jede Zeit hat ihre eigene Art Geister, ihre Art sie zu denken und zu zitieren; einstmals rasselten alle wie Festungsgefangene mit Ketten, sprachen vom Fegefeuer, und forderten Gebete von den Ihren, späterhin wurden sie wissenschaftlicher, und forderten zu ihrer Beschwörung große Kenntnisse, Anschaffung seltener chemischer Bereitungen und in diesem Sinne wirken noch immer die Rosenkreuzer. (379)
Diese Beobachtungsgabe bringt der Markese auch gegenüber seinen Kommunikationspartnern auf. Aus deren Äußerungen schließt er umgehend, welche Vorlieben seine Verführungsopfer haben:
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schaft, als er die Liebe zu seinem Diamanten in einem Akt der Widerspiegelung beenden möchte. Er will sich mit Hilfe eines »Brennspiegel[s] […], der fremde Strahlen auf einen Punkt in der Luft hinzuwerfen bemüht ist«, selbst entzünden. Der Doktor bedient sich also gezielt fremder Energie. Löffler erkennt in dem analogen Vorhaben, das in Arnims ›Holländischen Liebhabereien‹ noch einmal entworfen wird, eine Allegorie polyphoner Autorschaft. Nur will der Doktor die fremde Energie nicht, wie es in Arnims ›Holländischen Liebhabereien‹ heißt, bündeln, »ohne selbst zu glühen« (Löffler, 28), sondern, um zu verglühen: »und wir verbrennen beide zusammen, beide zugleich, und mischen uns verbunden mit der großen Gedankenwelt.« (424) Jörg Löffler, Das Handwerk der Schrift, S. 28f. Aus dieser Konstruktion erschließt sich auch Brentanos frühe Kritik an der Konzeption des Markese und des Ehebruchs, die ihm »papieren erscheinen«. ›Brief von Brentano an Jacob und Wilhelm Grimm 2.11.1810‹ Paul Michael Lützeler, Hollins Liebesleben, Gräfin Dolores, S. 750. Eine Figur, die sich nur aus Zitaten konstituiert, muss papieren bleiben. Arnims Konzeption ist aus dieser Sicht konsequent. Für den Roman ist das kein Nachteil, nur für den emphatisch mitfühlenden Leser.
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Ohne lange Beratung mit sich, fast unbewußt traf er stets, ob er sich einem Manne von Bedeutung, oder einen schönen Frau mehr durch Lob oder Tadel näherte, mehr durch allgemeine praktische Gesinnung oder durch Sonderbarkeit, ob er besser imponierte oder sich belehren lassen müsse […]. (374)
Aus seiner Lektüre leitet der Markese ab, auf welche Weise er seinerseits zu kommunizieren hat. Seine Verführungstechnik besteht aus seiner Kommunikationskunst. Gewandt stellt er sich auf seinen jeweiligen Gesprächspartner ein, indem er seine eigene Kommunikation individuell anpasst. Diese Anpassungsfähigkeit an das Kommunikationssystem »Liebe« macht ihn zum »Wunderspiegel, in dem sich jeder und in dem jeder sein Begehren spiegelt.« 427 Aufgrund dieses Spiegeleffekts entfalten seine Kommunikationsakte in jeder intimen Situation eine angemessene, gut kalkulierte Wirkung auf seine Gesprächspartner. 428 Der Markese macht seine Opfer süchtig nach seinen Worten. Perfekt beherrscht er die aggressive Mimikry an jeden ihm auch noch so fremden Code. 429 Der Markese hat die Mechanismen individualisierter Liebeskommunikation durchschaut und nutzt sie zu seinen Gunsten. 430 Sein durch und durch intellektuelles Verführungsspiel unterscheidet ihn nachdrücklich von seinem Vorgänger Don Juan. Dieser ist sich als sinnlicher Genießer immer selbst treu und im Gegensatz zum Markese keine sich ständig verwandelnde Proteusfigur: Von einem Don Juan war er schon dadurch unterschieden, daß er keineswegs bloß sinnlich war mit all und jedem Weibe: nur mit den sinnlichen war er sinnlich; noch eifriger konnte er mit strengmoralischem sein Leben durchgehen und bessern, mit einer Religiösen beten. Hätte Don Juan seine Vielseitigkeit gehabt, er hätte sich durch des Teufels Großmutter vom Teufel los geschwatzt. (374)
Indem er seine Vielgestaltigkeit ausspielt, gewinnt der Markese, wenn schon nicht die teuflischen Familienmitglieder, so doch nacheinander Klelias, Divinas, Dolores’ und nicht zuletzt auch Karls Gunst, dem er sich »durch ein gefälliges Anschmiegen an seine Ideen eben so wert zu machen wusste« (369). Der Markese erwirbt mit der gleichen Technik, mit der er Dolores verführt, auch Karls Vertrauen und Freundschaft. Nur kommuniziert er mit diesem in einem anderen Code und Ton. Mit Karl
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Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 161. Diese Tatsache hat schon Offermann festgehalten. Der Markese als Verführer ist genötigt: »Berechnung, Reflexion und die Macht des bewußten Wortes einzusetzen. [...] Das Mittelbare, Nicht-Ursprüngliche und Reflexive seiner Verführungskünste rückt zugleich – auch für ihn selbst – das Wie, das Methodische in den Vordergrund.« ErnstLudwig Offermanns, Der universale romantische Gegenwartsroman, S. 99. Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 67. Als Metapher hierfür steht der Weg, den der Markese stets zu Dolores nimmt (vgl. 375 in der ›Gräfin Dolores‹ und Kapitel 4.4 dieser Arbeit). Der Weg über Karls Arbeitszimmer beinhaltet nicht nur, dass der Markese die vorherige Position des Ehemanns einnimmt, er verweist darüber hinaus darauf, dass der Verführer stets eine Dreiecksbeziehung pflegt, wenn er von Karls Arbeitszimmer zu Dolores kommt.
führt er Gespräche über Gartenkunst und unterhält ihn mit Liebesgeschichten (vgl. 385ff.): Den Graf unterhielt der Markese sehr angenehm mit Abenteuern, die er im von Frauen aller Art erzählte; selbst die Geschichte seiner eigenen Frau trug er ihm mit geringen Veränderungen so ruhig vor, als hätte er sie unfern den Säulen des Herkules erzählen hören. (386)
Der Markese unterbricht die Kommunikation zwischen Dolores und Karl, separiert die beiden Partner, speist seine eigenen, individuell auf sein Gegenüber abgestimmten Liebeszeichen in die Kommunikationskanäle ein und bringt so zwei eigenständige, in sich geschlossene Kreisläufe in Gang. Dass er sich die Zuneigung seiner Gegenüber nur erschleicht, erkennt man, da er sich mit keinem seiner Gesprächsinhalte identifiziert, da ihn offensichtlich nichts von dem Gesagten wirklich interessiert, geschweige denn affektiert. Tatsächlich verzichtet der Markese bewusst auf eine eigene, originäre Sprache und leiht sich sein Zeichenrepertoire gezielt von anderen aus. Von überall her adaptiert er fremde Rede, sodass seine Rede fast ausschließlich aus Zitaten besteht. Er betreibt ein aufwendiges Textrecycling und speist unablässige fremde Bücher und Schriften in seine Kommunikation ein. Wissen eignet er sich an, um es gezielt in den Kommunikationszyklus einzubringen. Da er selbst ja seine Identität aufgegeben hat und sein Interesse einzig dem Verführungsakt gilt, interessiert ihn zugleich nichts und – hält man sich die Reihe seiner Verführungsopfer vor Augen – letztlich auch alles. Und weil der Markese sich (potentiell) aus dem gesamten, unendlichen Universum der Texte bedienen kann, verfügt er über einen unerschöpflichen Reichtum an Zeichen. Seine Verführungsmacht beruht rhetorisch auf der copia verborum, der schieren Wortmenge, der Wortfülle, den »gestapelten Zeichen«, 431 die nur durch die Präferenzen des Gegenübers spezifiziert wird. In Dolores’ Fall tun es schlicht und einfach »Erzählungen von französischen Frauen« (376) und ein »Haufen der merkwürdigen Memoiren« (376), die der Markese nicht etwa schreiben, sondern nur besorgen und an sie ausleihen muss.432 Auch den Mesmerismus und die Lehre der Rosenkreuzer zitiert er ausdrücklich nur, ohne deren Vorstellungen zu teilen. 433 Der Markese ist das Gegenteil eines Originalgenies. Er personifiziert die polyphone Autorschaft und verkörpert damit das Prinzip, das Karls poetische Autorschaft prägt. Man kann den polyphon dichtenden Markese daher als einen intratextuellen 431 432
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Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 67. Und schon liest »die Gräfin Nacht und Tag ganz heimlich in diesen Büchern« (376). Verbieten in der Literatur um 1800 für gewöhnlich Vaterfiguren ihren Töchtern aus moralischen Gründen, die Lektüre von gefährlichen Büchern, kehrt der Verführer dieses Prinzip einfach um: Der Markese versorgt seine wissbegierige Schülerin mit Lesestoff (376f.). Vgl. zu diesem Aspekt Manfred Schneider, Liebe als Betrug, S. 307f. Als Zitator ist der Markese ein Kind seiner Zeit. Heißt es doch ausdrücklich: »Jede Zeit hat ihre eigene Art Geister, ihre Art sie zu denken und zu zitieren. [meine Hervorhebung, C. M.]« (379).
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Kommentar zur intertextuellen Faktur von Karls Gedichten und nicht zuletzt auch zu Arnims Roman insgesamt lesen. Das gilt vor allem deshalb, weil der Markese sich als ein Meister polyphoner Autorschaft erweist. Mit äußerstem Geschick wählt er einzelne, teilweise sich widersprechende Versatzstücke aus und kombiniert sie mit erstaunlicher Kreativität neu. Ein erstes Zeugnis seiner Meisterschaft ist bereits die Art, wie er die Lehre der Rosenkreuzer mit dem Magnetischen Mesmerismus »vermischt« (379). Seine Könnerschaft zeigt sich zudem darin, wie er die Tatsache, dass die höfische Kultur einigen wenigen Frauen Sonderrechte eingeräumt hat, gegen die Unterdrückung der Frau in der romantischen Ehe ausspielt (vgl. Kapitel 4.4). Höfische Lebensmodelle überhaupt mit dem Egalitätsversprechen romantischer Liebe zu verknüpfen, ist eine kombinatorische Höchstleistung, denn individualisierte Liebe gab es am Hofe ja gerade nicht. Wie fintenreich der Markese sich der intertextuellen Autorschaft bedient, zeigt sich auch als er Dolores beim Schminken beobachtet (vgl. S. 378f.). Um Dolores zu verführen, greift er dort ausgerechnet auf ein moralisches Gedicht seines Konkurrenten Karl zurück. Wie selbstverständlich kennt der Markese Karls Lyrik auswendig und erspart Dolores keinen einzigen Vers von »Siehst du in den hohen Spiegel« (378). Mit seinem Zitat nutzt er gekonnt das kreative Potential, das in der Relationalisierung der Rede auf das zuvor Gesprochene liegt. Die Grundsätze dieser Poetik hat Bettine Menke exemplarisch anhand von Ovids Mythos von Narziss’ und Echo entwickelt.434 Ausgehend von Narziss’ und Echos Dialog hat sie herausgearbeitet, dass Echo immer nur Versatzstücke des zuvor Gesprochenen zurückgibt. Echo verstümmelt die Ausrufe ihres Geliebten. Sie bricht die syntaktische Konstruktion von Narziss’ Sätzen, macht durch minimale Veränderungen das Originalwort zu einem anderen, verschiebt Bedeutungen und durchkreuzt so den von Narziss intendierten Sinn seiner Rede. Echo, so folgert Bettine Menke, personifiziert eben nicht das auf Identität zielende Prinzip wörtlicher Wiederholung, sondern vielmehr die Abweichung, die Differenz zum zuvor Gesagten. Menkes Überlegungen gipfeln in dem schönen Satz: »Wie man in den Wald ruft, so tönt es gerade nicht zurück«. 435 Als Widerhall, als Wi(e)derholung tradiert das Echo im Zeichen von Desintegration und Bruch. In diesem Sinne wird dem Echo nicht nur eine reproduktive, sondern auch eine produktive Kraft zugeschrieben. Echo vollzieht im Zuge der Tradierung einen kreativen, schöpferischen Akt. Dessen Spielraum besteht in der Wi(e)der-Gabe (copia) der Buchstaben, mit neuer, teilweise
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Bettine Menke, Rhetorik der Echo, Echo-Trope, Figur des Nachlebens. In: Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, Freiburg 2003, S. 135–159. Bettine Menke, Rhetorik der Echo, S, 136. Alle Stimmen des Romans sind als EchoStimmen figuriert: Arnica Montana ist eben nicht nur die »reine Stimme«. Ihr Gesang ist der Widerhall einer längst vergangenen Liebe und ertönt zudem auch noch im Gleichklang mit Dolores’ Stimme.
sogar umgekehrter Bedeutung (136). Aus Sicht der Rhetorik kann man diese Kreativität auf die Formel bringen: Innovation durch Paronomasie. Menkes Überlegungen zur Kreativität der Echo charakterisieren treffend die Markesische Autorschaft (und auch Karls Poesie). Der Markese schneidet das didaktische Gedicht aus Karls Redefluss heraus und wi(e)derholt es in einem neuen Kontext. Im Zusammenspiel des Gedichttextes mit der ihn umgebenden Rahmenhandlung verändert sich nur ein Element. Der Markese installiert sich als neue Aussageinstanz des Gedichts. Wenn er sich damit an Karls Position setzt, bringen dieselben Worte nicht mehr die zärtliche Warnung zum Ausdruck, sondern den Spott des Ehemannes und des Verführers über die eheliche Unterdrückung der Frau. Der Markese kodiert, indem er die Bruchstelle zwischen Autor und »Aussageinstanz« nutzt, Karls Gedicht einfach um. Karls didaktische Intention wird in dem neuen Kontext subvertiert. 436 Den Höhepunkt der markesischen Künstlergeschichte bildet Dolores’ Verführungsnacht, die alle charakteristischen Elemente des polyphonen Autorschaftskonzepts in sich vereint. So inszeniert sich der Markese vor Dolores als genialer Autor, bleibt in Wahrheit aber seiner Zitattechnik treu: Eines Abends las er ihr [der Markese der Dolores (C. M.)] aus einem geschriebenen Buche von der chymischen Hochzeit1 vor, das er sich selbst zuschrieb und von dessen Wunderbarkeit wir einen kleinen Vorgeschmack geben wollen. (382)
Obwohl der Markese sich als Verfasser aufspielt, führt er erneut nur fremde Worte im Mund. 437 Er spielt nur das Theater genialer Autorschaft, bei dem er eigentlich aber nur gut ausgewählte Textausschnitte rezipiert und kombiniert. Auffälligerweise liest der Verführer seinem Opfer aber keine Liebesgeschichte vor, um sie zu einem Liebesabenteuer hinzureißen. Vielmehr findet die »chymische Hochzeit«, die in der Wendung »heut, heut, heut / Ist des Königs Hochzeit« gipfelt zwischen einem männlichen Initianten und einem göttlichen Weisen statt (vgl. 282). Der Markese verschiebt die verführerische Liebesgeschichte in das szientistisch-religiöse Paradigma. 438 Er inszeniert die ingeniöse Vereinigung zwischen Künstlergenie und
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Die feindliche Übernahme des Gedichtes verfehlt – wie zuvor schon gezeigt – ihre Wirkung nicht (vgl. Kapitel 4.4). 1 Chymische Hochzeit Christiani Rosenkranz Straßburg 1616. [Fußnote im Original, C. M.] Auch die Komposition der Szene folgt dem markesischen Produktionsmodus und entpuppt sich als intra- wie intertextuelles Zitat: Gezielt ruft die Szene ein weiteres Mal den Topos des lesenden Liebespaares auf. Wie zuvor schon Karls und Dolores’ gemeinsame Lektüre von Klelias Brief, so rekurriert auch die jetzige gemeinsame Lektüre des »geschriebenen Buches« (382) auf Dantes »Göttliche Komödie«, in der sich das liebende Leserpaar Francesca und Paolo von seiner gemeinsamen Lancelotlektüre zum Ehebruch hinreißen lässt. Auf diese Weise initiiert der Roman einen diskursiven Randgang an dem (von ihm erstellten) Dispositiv von Autorschaft, Lektüre und Liebe. Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 143. Nach Danny Praet erkannten die Rosenkreuzer in ihrer Lehre »the true synthesis of all
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übernatürlicher Welt. Den Kern dieses Konzepts bildet die Vorstellung, dass das Genie eine direkte Verbindung zu Gott pflege und deshalb über ein exklusives Geheimwissen verfüge. Der auserwählte Autor bekomme seine Einsicht quasi direkt vom heiligen Geist eingehaucht. Mit den Techniken polyphoner Autorschaft inszeniert der Markese das Gegenmodell zu demjenigen genialer Autorschaft. Er steigert diese Inszenierung noch dadurch, dass er das Gelesene unmittelbar im Anschluss selbst noch einmal wiederholt, indem er es in eine Performance umsetzt: »Er sagte, daß er die Muter Gottes sehe, die sie an ihn drücke und einen Kranz von Rosen mit den Worten über sie halte: Folge mir nach!« (383) Der Markese täuscht eine Marienerscheinung vor unter deren Wucht er anscheinend zusammenbricht: »Bei diesen Worten rief er: Und ich bin ihr Sohn! Und stürzte in einem krampfhaften Zucken über die Gräfin hin.« (383) Sein Zusammenbruch führt aus Dolores’ Perspektive die Gewalt des Geistes vor, welche das Dichtergenie zu (er-)tragen habe und unter welcher es (körperlich) zusammenzubrechen drohe. Das Genie, das mit dem Übermenschlichen interagiert, avanciert so zum tragischen Helden des Schauspiels. In diesem Moment hat der Markese vor Dolores’ Augen seine eigene Religion etabliert. Die nach Sinn strebende Leserin, muss sich an das Genie als Stellvertreter Gottes halten. Dolores soll in ihm als Autor das göttliche Wesen erkennen, die Erfüllung des höheren Sinnes. Und tatsächlich verehrt sie den Markese als gottgleiches Wesen. Sie erkennt in ihm den Helden von Gottes Gnaden, von dessen Wissen sie sich abhängig macht. Folgerichtig fühlt sie sich unablässig zum Markese wie zu einem höheren Wesen hingezogen. Als Liebhaber und Gottessohn in Personalunion ist der Markese für Dolores der Sinngarant. Dolores definiert sich und ihre Rolle nur noch in Bezug auf den Markese. Ihre Individualität und Sexualität sind Effekte einer positiven Rückkopplung über die Funktion Autorschaft.439 Die eigentliche Pointe dieser Inszenierung besteht allerdings darin, dass der Markese im Zuge seiner Verführung zu keiner Zeit ein ernsthaftes, alchimistisches Anliegen verfolgt. Ihn interessieren weder Religion oder Mystik noch Chemie oder Alchemie. Ihm geht es einzig und allein darum, Dolores zu verführen. Er ist daher alles andere als ein Rosenkreuzer. Vielmehr weist schon die Originalfußnote,
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scientific and religious traditions.« Danny Praet, Kabbala Ioculariter Denudata. E. T. A. Hoffmann’s ironical use of Rosicrucianism, alchemy and esoteric philosophy as narrative substructures in Die Irrungen and Die Geheimnisse. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (79) 2005, 253–285, hier S. 264. Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 161. Dieser geschlossene Kreislauf löst sich ausgerechnet dadurch auf, dass der Markese eine Fledermaus im Zimmer bemerkt. Der Markese springt auf, um den Eindringling zu erschlagen. Die Fledermaus ist nicht nur ein traditionelles Teufelssymbol, sondern sie zeichnet sich zudem dadurch aus, dass sie sich angeblich in den Blutkreislauf und damit in die Körperströme und den Schriftverkehr einbeißt und ihn zu ihren Gunsten anzapft. Die Fledermaus gefährdet das in sich geschlossene Kreislaufsystem zwischen Markese und Dolores und sie symbolisiert zugleich die parasitäre Technik des Markese. Zum Parasiten vgl. Michel Serres, Der Parasit, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1987.
welche die Schrift eines Christian Rosenkranz statt eines Christian Rosenkreuzer zitiert, 440 offen darauf hin, dass der Markese (und mit ihm der Roman) kalkuliert gegen das alchimistische Verfahren verstößt. Der Rosenkranz, den er flicht, fungiert als Metapher für sein synkretistisches Dichtungsverfahren einerseits sowie für die sich vereinigenden »Liebenden« andererseits:441 Aus alchemistischer Sicht hingegen ist der Markese ein Falschmünzer, der das dort erprobte Zeichenmaterial verwendet, ohne dass es ihm auf dessen göttliche Referenz ankommen würde. Er fährt ein bloß pseudoreligiöses Szenario auf, um durch die obscuritas der geheimnisvollen, rätselhaft, hermetischen Sprache den Schein von Bedeutsamkeit zu erzeugen. Verführung ist aus der Sicht des Markese nichts als großes Theater. Der Roman führt anhand des Markese vor, dass die geniale Autorschaft gemeinsam mit dem alchimistisch-religiösen Zeichensystem nur quasi-natürlich ist. Da beide ausschließlich auf einer konventionellen Zeichenordnung beruhen, kann man sie jederzeit aufrufen und künstlich inszenieren. Der ironische Pointe der Verführungsszene besteht darin, dass der Roman mit der Religion auch die letzte Glaubensbastion zu Fall bringt. Nüchtern wird sie als eine symbolische Ordnung präsentiert, die ontologisch genauso grund- und substanzlos ist wie die Geldwirtschaft. Wie bei der Prägung von Geldmünzen beruht die Bedeutung religiöser Zeichen nur auf einer arbiträren Setzungen und Konventionen. Der Markese tauscht religiösen Zeichen wie Münzen, denen er als Autorität einen spezifischen Wert, eine Prägung verleiht. Letztlich ist demnach auch die »Religion nur ein ästhetisches Phänomen.« 442 Der Markese deontologisiert die Sprache der Religion und den mit ihr verbundenen Code genialer Autorschaft, um Dolores im wahrsten Sinne des Wortes einen Geniestreich zu spielen. Es ist aber nicht die Kraft des Genies, die Dolores verführt, sondern nur das mit polyphoner Technik erzeugte Scheinbild eines genialen Dichters. Diese nüchterne Dekonstruktion der Religion – Dekonstruktion im Sinne ihrer Doppelbewegung von Konstruktion und Destruktion – wirft ihre Schatten über Karls Selbstmordversuch hinaus bis hin zu dessen Versöhnung mit Dolores. Sie lässt bereits vorab alle Alarmglocken schrillen, wenn sich das Paar ausgerechnet in einer Kapelle und damit im Zeichen der Religion wiedervereinigt (vgl. Kapitel 7 dieser Studie). 5.7
Eine Herzensangelegenheit: Karls Selbstmord als moralisches Theater
Da der Roman die Gegenposition zu seinem Protagonisten so konsequent ausspielt, stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch wann es zum offen ausge-
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Lützeler behauptet in seinem Kommentar, dass Arnim an dieser Stelle ein Fehler unterlaufe (790). Sollte es sich um einen Fehler handeln, dann um einen mit System. Damit fügt sich auch die Beziehung zwischen Markese und Dolores in die Chronologie der Ring- und Kranzszenen, welche den gesamten Romantext strukturiert. Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus, S. 48.
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tragenen Showdown zwischen den beiden, sich gegenseitig ausschließenden Autorschaftskonzepten kommt.443 Vor diesem Hintergrund folgt Karls Liebesgeschichte dem Muster eines Enthüllungsdramas. Karl agiert auf der Bühne des Romans als Held in einem analytischen Drama. Seine Erkenntnis über die wahren Gegebenheiten (Anagnorisis) kommt grundsätzlich zu spät. Die Katastrophe ist längst schon eingetreten. Er hat keine Chance, sie abzuwenden. Und alle Zuschauer sind sich im Gegensatz zum Protagonisten darüber bewusst.444 Ausschließlich dieser kann die Situation aufgrund seiner eingeschränkten Perspektive erst nach und nach überblicken. Karl erkennt die »wahren« Verhältnisse in zwei separaten Schritten. Zuerst erfährt er von Dolores’ Untreue. Seine Frau gesteht ihm ihren Ehebruch unbewusst, als sie im Schlaf redet (436).445 Karl stört sich nicht an der eigenartigen Form, in der ihm die Wahrheit vermittelt wird. Was er zuvor geahnt hat, wird ihm zur Gewissheit. Seine Frau hat in seinen Augen ihre Unschuld verloren, nicht aber das sprachliche Zeichen. Dieses bewahrt seine Funktion ebenso wie das Modell einer (vermeintlich) unbestechlichen inneren Stimme. Auch wenn sich die Liebeskommunikation während der Zeit des Glücks, die Karl nach seiner Rückkehr von Arnica Montana erlebt hat, rückblickend als Lügengebäude erweist. Die Beziehung zwischen Sprache und Gefühl ist für Karl nur in einer Krise, nicht aber grundsätzlich brüchig. Die Anagnorisis manifestiert zunächst ausschließlich Karls Einsicht,
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Konkret handelt es sich um einen ganzen Fragenkatalog: Wann und auf welche Weise erkennt Karl, der seine Identität grundsätzlich als gesichert ansieht, in eine ontologische Seinsordnung ebenso wie in eine Verankerung der Sprache in der Natur vertraut, der sich auf eine dauerhaft stabile Weltordnung verlässt, dass seine Überzeugungen nur Selbsttäuschungen sind? Wann spielt der Roman die Ebene der Dekonstruktion gegen seine idealistische Hauptfigur aus? Wann wird die Suspense aufgehoben, wann reißt die endlose Serie der konstruktiven/destruktiven Teilvorgänge ab und führt zur finalen Katastrophe? Zur Serie der Teilvorgänge vgl. Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung, S. 5. Zur Verführung des Leser, die an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht, vgl. Kapitel 6.3.3. dieser Studie. Im Zuge von Dolores’ Traum kollidieren erneut die beiden Autorschaftskonzepte. Karl hört sich selbst in ihrem Traum sprechen. Er erfährt daher die Wahrheit aus seinem eigenen und zugleich aus Dolores’ Munde. Diese Konstruktion könnte man als die symbiotische Vereinigung der Partner lesen. Ironischerweise bestätigt die Form des Geständnisses, bei der Dolores ihre innere Stimme nicht kontrollieren kann, Karls Konzept einer inneren Stimme. Tatsächlich »hört er aus ihrem Munde, wie der Tod so schön sicher vor ihm stehe, es war ihm als lebte er wirklich ganz in ihr, wie er in seinen ersten Worten von ihr, in erster Liebe von ihr gesagt hatte: Ich hauchte meine Seele / im ersten Kusse aus« (435 vgl. zudem Kapitel 5.3 dieser Studie). Dolores’ Traumsprache verwischt, wer dort überhaupt spricht, zumal sie im selben Atemzug noch ein Lied zitiert, »das damals viel gesungen wurde.« (435) Spätestens dieser Gesang markiert, dass auch die innere Stimme wiederum nur Zitatcharakter aufweist und sich aus dem Archiv der Texte bedient. Gemeinsam mit der Analepse auf Karls zweites Gedicht eröffnet sich selbst im Moment von Karls Erkenntnis erneut das wilde Spiel der intratextuellen Bezüge. Die vermeintliche Eindeutigkeit der Szenerie ist dadurch hinfällig. Das Schuldgeständnis bestätigt das Prinzip potentiell unendlicher Verweisungen und verweigert jede Eindeutigkeit.
dass seine Liebesehe keineswegs auf einer unumstößlichen Ordnung beruht, dass er sich in Dolores – trotz seines Glaubens in die individualisierte Liebe – getäuscht hat, dass die artikulierten Liebeszeichen nicht mit dem wahren Gefühl korrespondieren und dass sein didaktisches Projekt gescheitert ist. Der nach seinem Erachten stabile Grund seines Lebens löst sich in Folge dieser Erkenntnis auf: [...] er fühlte sich in einem Gewebe von Ahndungen, die alle wahr geworden, daß ihm sein Leben und die Welt zu einem Chaos verschwamm; Geister gingen bei ihm aus und ein, sein Hirn war wie der Blocksberg in der Mainacht. (436)
Nur wenige Stunden später, beim Frühstück am Morgen (437), erfährt Karl aus einem Brief, den Klelia aus Italien an ihn gesendet hat, von der wahren Identität des Markese. Klelia schreibt, wie »der ihr Mann der Herzog unter dem Namen eines Markese D. ihrer beider Beifall gehabt [habe]« (437) und dass er, »wie er erzählt habe, auch viele Verbindlichkeiten für die genossene Gastfreundschaft ihnen in seinem Herzen bewahre.« (437) In diesem Moment wird Karl bewusst, dass mit ihm auch Dolores und ihre empfindsame Schwester zu Opfern des Betruges geworden sind – Dolores, weil sie nicht von der Identität des Markese weiß, Klelia, weil ihr Mann sie betrogen hat. Die Erschütterung von Karls Welt reicht nach dieser Erkenntnis bis hin zu seinem Verhältnis zu Klelia, deren empfindsame Liebe ebenso wie seine eigene fulminant gescheitert ist, und die noch jetzt – wie er zuvor – in einer Welt des Scheins und der Selbst-Täuschung lebt. Auch Klelia, die in Karls Augen die verständige Liebe personifiziert, ist nicht vor Torheit geschützt. Die zweite Anagnorisis desillusioniert Karl umfassend.446 Karl muss erkennen, dass nicht nur Dolores ihn betrogen hat, sondern dass er in einer Welt des Betrugs lebt. Seine gesamte bisherige Lebenswelt entpuppt sich als Illusion, und bricht in sich zusammen. Die Desillusionierung betrifft nicht nur Karls zentrale Wertsysteme »Liebe« und »Autorschaft«, sondern sie unterminiert auch direkt Karls Identitätskonstruktion. Sie löst zugleich eine Autorschafts-, eine Liebes-, eine Freundschafts- und eine Subjektkrise aus. Was bleibt Karl angesichts dieser ausweglosen Situation noch übrig? Solipsistisch hält er an seinem eigenen Autorschafts- und Liebeskonzept fest. Er weigert sich deren Schwächen anzuerkennen und entwirft einen Plan, um sich mit ihrer Hilfe aus der katastrophalen Situation zu lösen. Demonstrativ agiert er noch einmal als liebender Autor. Roland Barthes hat dieses Künstlertum, das sich angesichts des erlittenen Liebesleids entwickelt, in seinen ›Fragmente[n] einer Sprache der Liebe‹ treffend beschrieben:
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Mit der Präzision eines Uhrwerkes verschaltet auch der Roman im Zuge von Karls Anagnorisis alle wesentlichen Aspekte seiner Liebesgeschichte – vom Liebes- über den Freundschafts-, bis zum Identitätsdiskurs, von der Sprachkritik bis zum Autorschaftsdiskurs. Zudem vereint der Roman an dieser Stelle die unterschiedlichen Handlungsebenen miteinander.
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Die Lösungsidee ist immer eine pathetische Szene, die ich mir ausmale und die mich bewegt; kurz, ein Theater. […] Indem ich mir eine extreme (das heißt definitive, das heißt überdies definierte) Lösung ausmale, bringe ich eine Fiktion hervor, werde ich zum Künstler […]. 447
Karl reagiert auf die Desillusionierung, indem er sein Leben mit einem von ihm perfekt inszenierten Kunstwerk zu beenden versucht. Sein Solipsismus weckt in ihm die Vorstellung, sich zum Herrn über den semiotischen Prozess aufschwingen und ihn beliebig dirigieren zu können. Auf diese Weise will er im Tod über alle Bedrohungen triumphieren und die Autorschaft, Identität, Liebe und Freundschaft retten. 448 Aus dieser Überzeugung heraus entwirft er das Drehbuch für (s)ein finales Welttheater, mit dem er den ganz großen Untergang der Liebe im Tod zelebrieren will. Karl macht das Leben zur Bühne und agiert auf dieser als Drehbuchautor, Regisseur und als tragischer Hauptdarsteller in Personalunion. Er inszeniert sich als theatralisches Multitalent. Sein Selbstmordversuch liest sich in Konsequenz seiner Liebesgeschichte als Höhe- und Endpunkt in seinem Drama der Autorschaft. Karls Plan sieht vor, dass seine Frau überleben soll, er sich sein Leben aber nehmen möchte (436 u. 438). Der Selbstmordgedanke weist – wie jede vergleichbare Lösungsidee – darauf hin, dass Karl sich als (ein noch immer) Liebender von Dolores trennt. Als deutliches Zeichen dafür legt Karl, bevor er zur Tat schreitet, sein »grünes Husarenkleid« an (438 und vgl. Kapitel 3.3.2 dieser Studie), »in welchem er seine Frau zuerst erblickt, und das er trotz seiner verschossenen Farbe noch immer sorgsam bewahren ließ« (438). 449 Das Kleid ist für Karl ein Fetisch, es ist ein Ding und ein performatives Zeichen zugleich. 450 Es verweist auf seinen Wunsch, die Verzückung seiner Liebesinitiation im Moment des Todes erneut aufzurufen. So verkleidet er sich mit der Jacke als jener, der er während seiner Liebe auf den ersten Blick war. Liebesinitiation und -ende sollen miteinander korrespondieren und auf diese Weise den Kreis der Liebe schließen. 451 Um sein Autorschafts- und Liebeskonzept zu retten, folgt er dem seit der Empfindsamkeit etablierten Handlungsmodell »betrogener Liebe« und geht im wahrsten Sinne des Wortes über seine eigene Leiche. Karls Inszenierung trägt demnach reaktionären Charakter. Das Ziel, die ontologisch gesicherte Lebensordnung zu restituieren, den offenbar
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Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 47, Eintrag »Auswege«. Dieses Vorhaben teilt Karl mit Eduard aus Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹. Vgl. dazu: Hartmut Böhme, »Kein wahrer Prophet«, S. 109. Das Husarenkleid begleitet das Paar vom ersten Augenblick an über die einzelnen Stationen ihrer Ehe (vgl. S. 126, 149, 150, 438). Arnims Kenntnis über die Fetischrituale schlägt sich auch in seiner Erzählung Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien nieder. Dort schlägt Melück ihren Geliebten in Bann, indem sie seine Jacke als Fetisch bei sich behält. Renate Moering (Hg.), Achim von Arnim. Sämtliche Erzählungen 1802–1817, Frankfurt am Main 1990, S. 745–777, hier S. 752ff. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 157, Artikel: »Blauer Frack und gelbe Weste«.
gewordenen Riss zwischen Zeichenwelt und Realität zu kitten, beherrscht seinen Plan. Karl ergreift gleich die erste sich ihm bietende Gelegenheit beim Schopf, um sein Vorhaben zu realisieren. Und tatsächlich geht seine große Selbstmordinszenierung auf der Bühne des Lebenstheaters (aus seiner Sicht) sogar perfekt auf. 452 Karl fügt seinen vermeintlichen Selbstmord gekonnt in den Rahmen des zeitgleich stattfindenden Volksfestes ein, dessen Höhepunkt des traditionelle Königsschießen darstellt: »Als Karl noch so nachsinnend auf und nieder das Zimmer mit heftigen Schritten durchmaß, […] verkündigten draußen drei Kanonenschüsse den Anfang des großen Königsschießen.« (438) Seine Strategie beruht zunächst darauf, dass er das Wettschießen gewinnt. Und wirklich trägt er als letzter Schütze den Sieg davon: »der Graf wurde gekrönt und für den Augenblick war er wirklich der anerkannteste König der ganzen Welt.« (440) Dieser Triumph hat in erster Linie eine gesellschaftliche und politische Aussagekraft. Während die gesellschaftliche Ordnung im »bunten Treiben« (439) karnevalistischer Feste üblicherweise für einen streng begrenzten Zeitraum aufgehoben ist und das feiernde Volk kurzzeitig in Person des Schützenkönigs die Herrschaft übernimmt, 453 nutzt Karl das Wettschießen, um seine eigene Position als Regent (noch einmal) zu manifestieren. Mit seinem Siegtreffer kürt er sich zum Schützen- und zum politisch-legitimen König zugleich. Sein Königsschuss bestätigt die politisch-gesellschaftliche Stabilität öffentlich vor den Augen seines gesamten Volkes. Karl zielt mit seinem ersten Schuss auf Eindeutigkeit ab – und er trifft. Beide Ansprüche, sowohl den auf seine unangefochtene Herrschaft als auch den auf Eindeutigkeit, überträgt Karl gemäß der analogia entis auf sein Intimleben. Er bemächtigt sich gleich dreifach eines »Herzens«. Unmittelbar vor dem Königsschießen verbrennt er mit Dolores’ »Briefen seiner ersten Liebeszeit« (438) symbolisch ihre Herzenssprache, die er mittlerweile als Täuschung erkannt hat. Während des Schützenfestes schießt er »nach einer Scheibe [...], deren Mitte ein brennendes Herz bezeichnete.« (439) Da »witzige Köpfe [...] bemerkt haben [wollen], daß der alte Schütze Amor bei solchen Königsschießen häufiger und sicherer treffe, als die jungen Schützen« (439), trifft Karl als Personifikation des pfeilschießenden Amor selbstverständlich mitten ins Herz und verbindet das Schützenfest zugleich metonymisch und gewaltsam mit seinem Herzensleid. Der Herzschuss verweist metaphorisch zum einen auf Dolores Herz, dass Karl ja gleich erobert hatte, zum anderen aber korrespondiert es mit seinem eigenen, gegenwärtig ja schon gebrochenen Herzen. Außenwelt und Innenwelt, das zerschossene und das metaphorisch gebrochene
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Zu Kalkül und Leidenschaft vgl. erneut Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main 1990, S. 32ff. Auch Christof Wingertszahn stellt fest, dass der »Karneval als Moment, in dem Leben in Freiheit und Gleichheit aufscheint« das Pathos des Wechsels und der Veränderung weckt.« Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 267.
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Herz korrespondieren harmonisch miteinander. Karl kittet so den Riss zwischen den Zeichen und dem, auf was sie referieren. Hat Karl auf diese Weise schon eine Beziehung zwischen den beiden symbolischen Gewalttaten Briefverbrennung und Königsschuss geschaffen, referenzialisiert er mit seinem folgenden Schuss die Zeichen. Karl übersetzt das Bild, auf das er eben geschossen hat, in die Realität. Jetzt wird auf ein echtes Herz geschossen, es geht um seinen realen Liebestod. Obwohl Dolores bei diesem zweiten Königsschießen zur Hauptfigur avanciert, führt doch weiterhin Karl Regie. Dolores agiert streng nach seinem Plan. Karl inszeniert seinen Tod als Folge des Geschlechterkampfes. Er bindet sein Lebensende an den Beginn allen Unheils zurück. Diesen Kreisschluss will er sich nicht verkneifen. Als Großmeister der Liebe und der Autorschaft entpuppt sich Karl, indem er es schafft, in seiner Kommunikation mit Dolores das perfekt zu realisieren, was die Systemtheorie als reziproke Komplettberücksichtigung (vgl. Kapitel 2.3) bezeichnet und grundsätzlich als unmöglich erklärt (vgl. Kapitel 2.3). Doch für Karl ist offensichtlich Dolores’ Denken und Fühlen in diesem Augenblick vollkommen transparent. Er ahnt alle ihre Sprechakte, jede Regung ihres Bewusstseins richtig voraus und hat sie zudem vorab in seinen Plan integriert. So sieht er voraus, dass Dolores ihm seine Vormachtstellung innerhalb der Ehe und innerhalb der Gesellschaft abspricht: »Hätte ich mitschießen dürfen, du wärst sich nicht König geworden, aber so laßt ihr Herren uns nicht dazu« (440), wirft sie ihm vor, statt seinen Triumph zu feiern. Da Karl dieses Verhalten voraussieht und in seinen Plan einkalkuliert, bleibt seine patriarchalische Herrschaft ungebrochen, auch wenn Dolores vor den Augen der Öffentlichkeit anscheinend sowohl das Heft in der Ehe als auch die Pistole in die Hand nimmt. Als sie abdrückt, lacht Dolores, weil sie eben nur spielerisch die traditionelle Geschlechterordnung subvertiert. Und Karl lacht, weil er im selben Moment dieselbe Ordnung wieder hergestellt und bestätigt sieht: »Lachend hielt er die Büchse, lachend drückte sie ab; krachend blitzte der Schuß auf, daß ihr das Gewehr zur Erde entsank, der Graf stürzte zu Boden.« (440) Blitzartig schlug einst die Liebe auf den ersten Blick ein, krachend blitzt jetzt mit derselben Plötzlichkeit und Wucht der Schuss auf. Der Herzschuss schließt harmonisch und zugleich tödlich den Kreis der Liebe. Damit ist der Höheund zugleich Endpunkt von Karls moralischem Bühnenstück erreicht: Innen- und Außenwelt korrelieren miteinander, metaphorische und wörtliche Bedeutung fallen in Eins. Die Referenzialisierung kittet den Bruch in der Zeichenordnung, das Spiel der Verweisungen wird durch den Körper und gleichzeitig im Auslöschen des Körpers gestoppt. Karl hat die semiotische Ordnung mit dem geglückten Herzschuss restauriert. Von seiner untreuen Ehefrau erschossen, gibt er sein Leben in Liebe hin. Mit seinem letzten Schöpfungsakt rettet und zelebriert er die emphatische Liebe und geniale Autorschaft. Allerdings hat der Protagonist seine Rechnung ohne den Roman gemacht. Die ganze Selbstmordszenerie markiert Karls Plan als idée fixe. Eindrucksvoll zeigt sie, wie Karl zum Opfer seiner eigenen Manipulationen wird. Denn alles bleibt in der Schwebe. Das liegt zunächst daran, dass Karl sich mit seinem finalen Schöpfungs274
akt in eine paradoxe Situation manövriert. Er stützt mit seinem Selbstmord, der die Reinheit der Liebe ebenso wie die Unschuld der Zeichen garantieren soll, gleich im doppelten Sinne die Welt des Betrugs. Erstens, weil er seinen Selbstmord als ein Spiel der Täuschungen anlegen muss. Was Kalkül ist, muss wie ein Unfall aussehen. 454 Damit Dolores nicht bemerkt, dass er weiß, muss der Selbstmord so aussehen, als habe sie ihn zufällig erschossen. Karl vergeht sich an seiner Frau, wenn er seinen Tod vor den Augen aller auf ihren Leichtsinn zurückführt, während er ihn in Wahrheit präzise kalkuliert hat. Auf diese Weise verstößt Karl zweitens zugleich gegen das Authentizitätsgebot seines Autorschaftsmodells, aus dem das Kalkül ja grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte. Seine Tat widerspricht also seinen Produktionsidealen und damit seiner Intention. Zudem durchkreuzt die Selbstmordszene ihre mögliche moralische Diktion. Müßig zu beurteilen, wer von den beiden Ehepartnern sich mehr, und wer sich weniger schuldig macht, ob Dolores mit ihrem Ehebruch und ihrer leichtsinnigen Art, mit der sie seine Pistole in die Hand nimmt und abdrückt. Oder ob Karl, der seiner Frau eine zuvor geladene Pistole in die Hand gibt, um von ihrer Hand zu sterben, und der zugleich noch die Verantwortung für seinen Selbstmord auf sie (oder den Zufall) schiebt. Wer der Richter, wer der Henker und wer der Schuldige in dieser theatralischen Inszenierung des Todes ist, bleibt gezielt in der Schwebe. Wie weit Karl sich der Welt des Betrugs verschreibt, zeigt sich zudem bereits an seiner Handlungsmotivation. Diese hebt der Roman hervor, indem er mit besonderer Aufmerksamkeit festhält, dass Karl im Übergang von Dolores’ Geständnis zu Klelias Brief zwei distinkte Pläne entwirft, die sich je nach seinem Wissensstand unterscheiden. Zuerst plant Karl, Dolores zu schonen (436), 455 sich am Markese zu rächen und sich anschließend selbst das Leben zu nehmen. Doch unter dem Eindruck von Klelias Brief verwirft er dieses Vorhaben: [...] aber wunderbarer wirkte noch dieses Schreiben durch das heitre Glück, das aus jedem Ausdrucke der hochverehrten alten Freundin, aus besseren Tagen über ihn den Verzweifelten selbst noch ausstrahlte, und sich so warm mit der Kälte mischte, in der er erstarrt war, daß ihm beide Pistolen aus der Hand fielen, die eine, die er gegen seinen Beleidiger, die andre, die er nachher zu seiner eigenen Beruhigung geladen hatte. Es schrie in ihm laut auf, um dieser einen Frommen sei aller Welt verziehen; wer vermag ihr den Mann zu rauben, am dem ihr bescheidnes Glück wie ihre Seele am Glauben Christi hängt. (438f.)
Dolores zu schonen, sich selbst umzubringen und die verloren gegangene Ordnung wieder herzustellen, bilden die Konstanten seiner beiden Planvarianten. Allerdings dient in seinem ersten Plan die Rache am Markese zur Restitution der alten Ord454
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So konstatiert der Erzähler: »Wir wissen alles und können als Vertraute seinen Entschluß in Wahrheit berichten; den meisten schien Zufall, was Absicht in ihm gewesen.« (438) Damit verschränken sich erneut naive und sentimentale Autorschaft dialektisch. Karl weiß um die Produktionsbedingungen seiner Todeskunst. Das Leben »der Unglücklichen wollte er schonen« (436).
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nung. Mit dieser will Karl die Ehre, die Dolores verspielt hat, wieder zurückgewinnen. Sein erster Entwurf dient dazu, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sie in Form des Rachemordes ins grelle Licht zu stellen und den unwiederbringlichen Verlust der Harmonie durch den eigenen Tod unmissverständlich herauszuheben. Außenwelt und Innenwelt sollen als unwiederbringlich zerstörte miteinander korrelieren. Die augenscheinlichste Änderung im Vergleich der beiden Drehbücher besteht darin, dass Karl im Zuge seines zweiten Plans auf die Rache am Markese verzichtet. 456 Und zwar, weil sich die Handlungsmotivation im Übergang von der ersten zur zweiten Mordstrategie entscheidend verschiebt. Steht in der ersten Variante die eigene Ehre im Zentrum seiner Bemühung, motiviert Karl seinen zweiten Plan dadurch, dass er Klelia das Festhalten an ihrer Liebe ermöglichen will. Besonders fällt in diesem Kontext der Verweis auf die religiöse Stilisierung ihrer Liebe auf (s. o.): »um dieser einen Frommen sei aller Welt verziehen; wer vermag ihr den Mann zu rauben, am dem ihr bescheidnes Glück wie ihre Seele am Glauben Christi hängt.« (438f.)). Karl inszeniert sein großes Schützenfest als Unfall, um Klelia den Schein ihrer heiligen Liebe und somit ihr religiös fundiertes Weltbild zu bewahren. Karl rettet, selbst desillusioniert, Klelias Illusion. Der zweite Plan dient dazu, die Wahrheit zu überdecken. Dafür stirbt Karl, dafür nimmt er stellvertretend für Dolores und den Markese die Schuld auf sich. Demnach stigmatisiert Karls aufopferungsvolle Rettungsaktion auch Klelias religiöses Liebesverständnis als einen Glauben an eine Scheinwelt, als eine pure Vorstellung, die mit der Realität nichts gemein hat. Weil Karl mit seinem inszenierten Selbstmord die Scheinwelt stabilisieren will, welche der Markese für Klelia entworfen hat, agiert er als Helfershelfer des betrügerischen Markese, der während des Verführungsspiels zuvor ja auch schon die Religion als ein (sprachliches) Konstrukt markiert hat. Hinzu kommt, dass der Markese letztlich ja auch der Nutznießer von Klelias anhaltender Illusionierung ist. An ihm hängt Klelias Seele, ihn verehrt und liebt sie als Stellvertreter Gottes. Karl stellt sich wissentlich in den Dienst eines falschen Gottes und entpuppt sich als Götzendiener. Diese Tatsache entzieht seiner Kunstaktion den von ihm vehement behaupteten moralischen Charakter und zeigt, dass letztere nachhaltig das Feld der Religion kontaminiert. Karl verstrickt sich aber auch insofern in eine moralisch hochgradig brisante Situation, als er nun offensichtlich nicht mehr auf seine Liebe zu Dolores, sondern auf seine Freundschaft zu Klelia vertraut. Er schmiedet eine Allianz der (in seinen Augen) unschuldigen Opfer. Doch diese gerät innerhalb der Erzählkonstruktion ins Zwielicht: Denn die Tatsache, dass Karl für Klelia sorgt, ruft intratextuell erneut die alte Dreiecksbeziehung zwischen ihm und den beiden Schwestern auf (vgl. Kapitel 3.3). Karls und Klelias immer unausgesprochenes Liebesverhältnis wird an
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Karls erster Plan folgt dem empfindsamen Handlungsmodell der »betrogenen Liebe«. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass auf die Entdeckung des Betrugs, (tödliche) Rache und Selbstmord aufeinander folgen.
dieser Stelle also intratextuell eingespielt. Karl bestätigt mit seiner guten Tat seine heimliche Liebe zu Dolores’ Schwester. Das bestätigt sich auch dadurch, dass er Klelia als seiner »hochverehrten alten Freundin« (438) huldigt. Diese Bezeichnung hat sowohl eine inter- als auch eine intratextuelle Signalwirkung (vgl. Kapitel 3.2). 457 Die Freundschaft verweist auf den unausgesprochenen Wunsch, Klelia zur Ehefrau zu nehmen. Damit entpuppt sich das Beziehungsgefüge als eine Viererkonstellation, als ein wahlverwandtschaftliches Quartett. Klelia und Karl gehören nun zusammen wie der Herzog/Markese und Dolores. Die »Freundschaft« aber, auf die Karl sich beruft, ist äußerst brüchig und garantiert alles andere als Stabilität. Sie zeigt daher nur, dass Karl in den Fäden des Beziehungsgewebes gefangen bleibt. Nicht zuletzt kommt für Karl schließlich auch aus produktionsästhetischer Sicht alles noch schlimmer, als er es sich mit seinem Opfertod ausgemalt hat. Ironisch markiert der Roman, dass Karl, um seinen Selbstmord zu inszenieren, gegen sein eigenes Originalitätsgebot verstößt und auf lauter altes Material zurückgreifen muss. Nicht einmal sein letztes Kunstwerk, bei dem er sein eigenes, einzigartiges Lebens aufs Spiel setzt, ist ein originärer Schöpfungsakt, sondern ein Pastiche polyphoner Autorschaft, das sich lauter abgegriffener Versatzstücke bedient. Sinnbildlich hierfür steht das grüne Husarenkleid, das er als eine Liebesuniform anlegt. Karls Fetisch ist ein umgefärbter Nachfolger von Werthers blau gelber Uniform, den er nur nachahmt. Dem Kleidungsstück ist die Differenz zwischen Original und Plagiat nicht nur intertextuell, sondern darüber hinaus auch ins eigene Material eingeschrieben. Es entspricht nämlich ausdrücklich nicht mehr seinem ursprünglichen Zustand. Karl hat es schon vor seiner Rückkehr zu Dolores erstmals umnähen und es inzwischen in ein Schützenkleid umschneidern lassen (vgl. 438). Das Kleidungsstück materialisiert stofflich das Nicht-Identische der Wiederholung. Als schlechte Maskerade verweist es zudem auf die Differenz zwischen Außen und Innen. Nicht in jedem grünen Rock, steckt auch ein emphatisch Liebender. Das überarbeitet Kleidungsstück verweist auf die Vergänglichkeit der Liebe. Die Beziehung zwischen Sprache und Gefühl bleibt also ebenso brüchig wie die Relation zwischen Signifikant und Signifikat. 458 So bleibt Karl eigentlich schon bei seiner Planung des Selbstmords in den Fängen der diffèrance verstrickt. Allein schon die Tatsache, dass
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Sie verweist auf die philosophischen Ehekonzepte um 1800, welche die Beziehung der Eheleute als »eheliche Freundschaft« definiert. Vgl. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise, S. 32f. Und sie bezieht sich darauf, dass Karl in ihr zunächst die Allegorie der Freundschaft erkannt hatte, um sich seine Zuneigung zu Klelia zu erklären (vgl. Kapitel 3.3.1 dieser Studie). Karls Motivierung bezieht zudem mit ein, wie Karl im Angedenken an seine Mutter die Freundschaft zu Klelia später kategorisch ausschloss, und er so Klelia erst zu ihrer Abreise veranlasste. Er hat ihre Flucht nach Italien und damit das Verhältnis zum Markese erst initiiert (vgl. S. 168 dieser Studie). Intratextuell ist auch die Tatsache ironisch markiert, dass Karl »die Briefe seiner ersten Liebeszeit, die er sorgfältig bewahrt hatte, verbrannte« (438). Heißt es doch zuvor noch: »Alle ihre gegenseitigen Briefe sind durch einen Zufall, den wir später erzählen, verbrannt worden« (143). Der vermeintliche Zufall tritt offensichtlich in Karls Person
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Karl seinen ersten Plan zugunsten eines zweiten korrigiert, lässt erneut die Macht der Wi(e)derholung wirksam werden. Ist die zweite Variante doch immer nur das schlechte Plagiat des Originals. Letztlich ist sogar die gesamte Selbstmordszene insgesamt nichts anderes als eine intertextuelle Montage aus unterschiedlichen Texten. Denn Karls Selbstinszenierung ruft nicht nur Werthers Liebestod auf den Plan, der sich ja auch in seiner Liebesuniform erschießt, sondern das gesamte Arrangement ist ein Zitat von Jean Pauls ›Siebenkäs‹. 459 Siebenkäs’ Königsschießen, bei dem er den Hauptpreis gewinnt, und dessen nur inszenierter Selbstmord, der ihn in die Freiheit eines neuen Lebens und einer neuen Liebe entlässt, schwingen in Karls Inszenierung von Beginn an mit. Zudem ruft Karls Umgang mit seinem Husarenrock Eduards Selbstmordpläne und dessen Tod in ›Die Wahlverwandtschaften‹ auf. Wie Karl sich seinem Husarenrock verschreibt, so pflegt Eduard den Fetisch eines Glases. Das Glas, auf dem der Anfangsbuchstabe seines und Ottiliens Namen ineinander verschlungen sind, ist einst bei der Grundsteinlegung des Gartenhauses nicht zersprungen und dient ihm lange nach der Trennung von Ottilie als Zeichen ihrer unzerbrechlichen Liebe. Eduard äußert nach der Trennung von Ottilie gegenüber dem Major: »mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung [Ottilies und Eduards, C. M.] möglich sei oder nicht.«460 Eduard will das Glas als Zeichen der Liebe durch seinen eigenen Körper ersetzen. Doch Eduard stirbt erst, nachdem er eines Tages bemerkt, dass ihm sein Diener statt des Originals ein falsches Glas untergeschoben hat. 461 Karl und Eduard haben gemeinsam, dass sie einem falschen Götzen dienen. Die intertextuelle Faktur der Selbstmordszene legt endgültig fest: Das Spiel der Wi(e)derholungen geht gegen Karls Willen munter weiter. Während Karl also alle Probleme mit einem Schlag lösen, einen eindeutigen Sinn erzeugen und die grundlegende Brüchigkeit der Zeichenrelation zur nur vorübergehenden Krise erklären will, arbeitet er selbst gemeinsam mit dem Roman gleichzeitig seiner Intention entgegen. Karl bleibt im System der Beziehungen verstrickt und erzeugt immer nur neue Ambivalenzen. Der Roman markiert, dass die Gegenwehr seines Protagonisten von vornherein aussichtslos ist, da dieser keines der bestehenden Probleme lösen kann. Karl sitzt in der Falle, weil sein Problem und seine Lösung identisch sind. So wird er zur tragischen Figur, die auf ganzer Linie scheitert, selbst wenn er aufs Ganze geht und bereit ist, sein Leben hinzugeben. Es liegt außerhalb seines Einflusses, das System zu ändern, und er kann es auch nicht durch ein anderes ersetzen. 462 Sein letztes großes Kunstwerk ist wider seinen
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auf, der seine Erinnerungsstücke gezielt zerstört. Der Erzähler spielt hinter dem Rücken seines Protagonisten ironisch mit dessen Zerstörungstat (vgl. S. 165 dieser Studie). Jean Paul, Siebenkäs, S. 167f. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 203. Hartmut Böhme, »Kein wahrer Prophet«, S. 118. Vgl. zu diesem Problem jedes Liebenden Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 48.
Willen ein Abgesang auf die eigene emphatische Liebe und Kunstproduktion. Es huldigt stattdessen der komplexen Arnimschen Liebeskonstruktion und dem Prinzip polyphoner Autorschaft.
6.
Die ›Gräfin Dolores‹ als melancholischer Liebesroman
6.1
Der Erzähler als melancholisch Liebender
6.1.1 Plädoyer für ein gesundes Misstrauen Gemessen an den Zielen des Lebens- und Liebeskünstlers Karl ist nicht nur die Anlage seines Selbstmordversuchs grundverkehrt, sondern dieser endet zudem auch noch in der absoluten Katastrophe. Weil Dolores’ die Pistole, die sie auf Karls Herz gerichtet hat, im entscheidenden Moment aus den Händen rutscht, entgleitet analog dazu Karl das Selbstmordszenario, das er so akribisch geplant hat. Dolores verschießt, der Graf sinkt, zwar getroffen, aber nicht tödlich verletzt zu Boden (443). Das kann kein Happy-End sein, wie es einem vermeintlich genialen Künstler angemessen wäre, wenn der eigene ultimative Schöpfungsakt durchkreuzt wird. Für Karl ist es nichts Geringeres als eine Katastrophe, dass sein ausgefeiltes Drehbuch letztlich nicht realisiert wird – auch wenn dies bedeutet, dass er seinen Suizidversuch überlebt. So liegt perfider- und paradoxerweise die eigentliche Tragik von Arnims Romanheld darin, dass er überlebt, dass ihm der ersehnte Tod verweigert wird und er in den Verstrickungen seines Lebens gefangen bleibt. Diese überraschende Wendung, dieser Bruch in der Handlungslogik provoziert zugleich eine schlichte Frage: Wer hat diesen massiven Eingriff in Karls Lebensund Sterbensplan zu verantworten? Zwei Erklärungsmuster bieten sich bislang an: Dolores’ »weibliche Furchtsamkeit« habe die Pistole von ihrem geraden Lauf auf Karls Herz abgelenkt, 463 heißt es im Roman mit einem Seitenhieb auf den Geschlechterkampf. Und die Arnimforschung schreibt den Handlungsbruch traditionell einer numinosen Schicksalsmacht zu. 464 Dass Karls Plan aber weder von der weiblichen Furchtsamkeit noch von einem glücklichen Zufall oder einer göttlichen Fügung durchkreuzt wird, darauf weist niemand geringeres als der Erzähler selbst hin. Der »blutige Körper des Grafen« wird gerade in ein »nahes, verschlossenes Zimmer« gebracht, Dolores wird ohnmächtig, oder wie es anspielungsreich heißt »sinnlos nach Hause getragen« (440), als der Erzähler die histoire unvermittelt unterbricht. Er beendet abrupt die dritte Abteilung »Schuld« seines Romans, hebt auf
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Der Erzähler konstatiert wörtlich: »die weibliche Furchtsamkeit der Gräfin hatte wahrscheinlich vor dem Losdrücken den Lauf der geraden Richtung gegen das Herz des Grafen abgewendet.« (442) Diese Einschätzung geht bereits auf Gerhard Rudolph zurück. Vgl. Gerhard Rudolph, Studien zur dichterischen Welt Achim von Arnims, Berlin 1958, S. 87ff.
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diese Weise die Bruchstelle in seiner Erzählung nachdrücklich hervor und meldet sich mit Beginn der 4. Abteilung »Buße« erst einmal eilig selbst zu Wort (vgl. 441). Die Erzähltheorie spricht in solchen Fällen, in denen die histoire still zu stehen scheint, von einer Pause. Und so ist es legitim, davon zu sprechen, dass der Erzähler seinen Lesern (und seinen Figuren) eine solche gönnt. Er verlagert den Fokus seines Erzählens weg von den erzählten Ereignissen und wendet sich dafür dem discours zu, der Art und Weise, wie er seine Liebesgeschichte präsentiert: Wenn ein heiterer Erzähler zur Unterhaltung seiner Zuhörer schauerliche Geschichten leichtsinnig noch schauerlicher auszubilden sucht, indem er alle dem Tode opfert, mit deren Fortleben er nichts anzufangen weiß, so übt er zwar darin das Recht der Zeit, die ihre Welt, welche sie geboren, zu höherer Umwandlung wieder vernichtet, aber nicht ihre mütterliche Liebe, und nie erreicht er ihren hohen Sinn, mit welchem die wahren Begebenheiten die meisten Dichtungen überragen. (441)
Dieser poetologische Kommentar macht vor allem eines klar: Nicht Gott, sondern der Erzähler selbst hat Karls Leben gerettet. Der Erzähler ernennt sich zum Gott des Romans. Seinem Willen unterliegt das Schicksal seiner Figuren. Und wenn Karls Tod in der Konstruktion des Romans nicht vorgesehen ist, dann stirbt er eben auch nicht. An der entscheidenden Scharnierstelle des Romans verweist das Erzählsubjekt also explizit darauf, dass ihm selbst innerhalb seines narrativen Arrangements eine herausragende Bedeutung zukommt. Als allmächtiger Gestalter seiner poetischen Welt (Diegesis) avanciert er zum eigentlichen Protagonisten des Romans. Der vom Erzähler selbst herausgeforderte Blickwechsel auf den discours provoziert daher unmittelbar eine nächste Frage, nämlich, wer diese Erzählerfigur ist, welche als Architekt die Bauweise des Romans verantwortet. Nach welchen poetischen Kriterien plant und handelt sie? Aus narratologischer Perspektive rückt die ›Gräfin Dolores‹ also die Aspekte der »Stimme« in das Zentrum ihres Erzählens, das heißt neben der Frage nach dem Zeitpunkt, auch die nach Ort, Stellung und Subjekt bzw. Adressat des Erzählens sowie nach der Fokalisierung. 465 Der Roman fordert explizit einen skeptischen Blick auf den Erzähler ein. Misstrauen ist zunächst gegenüber dem ambivalenten Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren angesagt. Immerhin hat der Erzähler gerade erst die Intention seiner männlichen Hauptfigur schonungslos durchkreuzt und Karl förmlich den Boden unter den Füßen entzogen. Was ist das also für eine eigenartige Erzählinstanz, die ihre Reflexionsfigur Karl einerseits so hoch lobt, die andererseits aber alle seine Vorhaben, sein Leben, sein Lieben und seine emphatische Autorschaft so grundsätzlich wie gnadenlos scheitern lässt? Und was ist das für ein seltsamer Erzähler, der zum einen vor (der Schönheit) seiner weiblichen Protagonistin beinahe hinzuschmelzen scheint, sie zum anderen des Hochmuts bezichtigt, sie an den Pranger stellt, für schuldig erklärt, diskreditiert und sie über weite Strecken seiner Erzählung einfach
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Vgl. Abschnitt 2, Kapitel 2.2 der vorliegenden Studie sowie Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 65.
links liegen lässt? Durch was motiviert sich das seltsame Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren? Skepsis aber ist auch angesagt, was die Beziehung des Erzählers zu seiner Erzählung angeht. Die Frage stellt sich, warum diese Erzählerfigur ein ständiges Hin- und Her inszeniert und ihren Text als ein changent taft strukturiert? Zweierlei lässt sich bezüglich der Fragen, wie der Erzähler charakterisiert und wie seine Handlungen motiviert sind, anhand der zitierten Textstelle festhalten: Erstens gehört es offensichtlich zum poetischen Konzept des Erzählers, die im vorherigen Abschnitt aufgeworfenen Fragen zu beantworten. So ist es alles andere als Zufall, dass der Erzähler noch im selben Atemzug, in dem er sich zum »Textgott« ernennt, gegen das Grundprinzip göttlichen Handelns verstößt. Seine Entscheidung soll für den Menschen offensichtlich nicht unergründbar bleiben. Der Erzähler will Auskunft geben, deshalb rechtfertigt er seinen Eingriff in den Handlungsverlauf gegenüber seinem (imaginären) Leser. Er beruft sich auf »die mütterliche Liebe der Zeit« und gibt an, mit seiner Dichtung jenen »hohen Sinn« erreichen zu wollen, mit »welchem die wahren Begebenheiten die meisten Dichtungen überragen.« Der Erzähler führt also eine bestimme Art der Liebe gemeinsam mit einem neuen Romankonzept ins Feld, um zu begründen, warum er Karls Liebestod unterläuft und damit zugleich die tödliche Erzählkonvention empfindsamer Liebesromane ausschlägt. Doch zweitens macht diese Passage zugleich die Art klar, in welcher der Roman bereit ist, Antwort zu geben. Denn die Schlagworte »mütterliche Liebe« und »hoher Sinn wahrer Begebenheiten« geben zwar Leitlinien vor, aber sie erklären letztlich nichts. Die Aussage bleibt rätselhaft. Der Text verweigert eine klare, direkte Antwort. Statt eindeutig zu (er)klären, setzt die Aussage eine ganz andere Dynamik in Gang. Das Stichwort »mütterliche Liebe« fungiert als ein grell leuchtender Indikator, der die Schaltstelle des Romans mit einer Reihe anderer Textstellen kurzschließt. Mit jenen nämlich, bei denen Karl blind auf das Urteil seiner Mutter vertraut und damit just im Namen mütterlicher Liebe die falschen Grundlagen seines Liebesverhältnisses zu Dolores einrichtet (vgl. Kapitel 3 dieser Studie, S. 147). Die intratextuellen Bezüge zeigen, dass es zwar gut klingt, wenn man im Namen mütterlicher Liebe handelt, dass sich der gute Klang aber nicht unbedingt einlöst. Auch gegenüber der mütterlichen Liebe ist Skepsis angebracht. Tatsächlich warnt der Erzähler an einer für den Handlungsverlauf entscheidenden Stelle, »die Jugend ernstlich« vor der mütterlichen Liebe. Und fordert die Jugend auf, »statt sich jede Lebensaussicht durch gefärbte Gläser zu entstellen« (139), überall erst selbst zu beobachten und jeden zu fürchten, der sich so zum Mittelpunkte der ganzen Welt macht, daß er zu sagen wagt, so sind die Weiber, so sind die Männer in Tugenden, in Lastern, weil der kleine Kreis seines sie ihm öfter so dargestellt hat; die Beobachtung […] sieht durch die Fügung seiner Kristallinse [...] (S. 139).
Die Warnung, »traue der mütterlichen Liebe und ihrer eingeschränkten Perspektive auf die Welt nicht«, wirkt auf das Erzählprojekt insgesamt zurück. Sie gibt den Impuls, die Warnung des vermeintlich allwissenden Erzählers gegen ihn selbst 281
zu wenden. Die Erzählinstanz warnt letztlich vor sich selbst. Demnach zielt die intratextuelle Korrespondenz nicht darauf ab, die Handlungsmotive des Erzählers zu erhellen, sondern sie dient dazu, die Gefahrenzone auszuweiten. Das Misstrauen gegen die Erzählerfigur betrifft jetzt auch die Frage nach seiner Perspektive, nach seiner Sichtweise. Damit überträgt sich die Kantsche Erkenntnisproblematik, welche der Roman zuvor anhand seiner Figuren aufgeworfen hatte, nun auf die Erzähl(er)perspektive selbst. Inwiefern kann man dem Blick des Erzählers durch seine gefärbten Gläser trauen?466 Die Reflexion des Erzählers wirft also eine weitere Frage auf, eine eindeutige Antwort hingegen, was man sich unter mütterlicher Liebe eines vorzustellen hat, erhält der Leser nicht. Stattdessen hebt der Text das Verfahren hervor, wie er Antworten gibt: nämlich immer nur im intratextuellen Zusammenspiel unterschiedlicher Textstellen. Um das Bündel aufgeworfener Fragen zu beantworten, bleibt daher nur übrig, ausgehend von der entscheidenden Schaltstelle des Romans einen Umweg einzuschlagen, um im (erneuten) Durchgang durch den Roman selbst die Antworten zu finden, die der Erzähler dem Leser hier verweigert. Einschlägige Auskunft über die Beziehung des Erzählers zu seinen Figuren gibt bereits die Eingangsszene des Romans. Das Schicksal der Erzählerfigur fällt danach nicht einfach unter den Tisch, es wird – durchaus prominent – an den Scharnierstellen der Erzählung, welche ihre einzelnen Abteilungen verbinden, weiter ausbuchstabiert. Dadurch erhält es eine tragende Funktion innerhalb der Romankonstruktion. So tritt der Erzähler am Übergang vom ersten zum zweiten Band des Romans ein weiteres Mal als Hauptfigur seines eigenen – dann autodiegetischen – Erzählens auf (361). Seine volle Wirkung entfaltet die Charakterisierung des Erzählers aber erst dadurch, dass sie letztlich (und damit tatsächlich am Ende des Romans) das gesamte Erzählarrangement und damit die Makrostruktur der ›Gräfin Dolores‹ prägt. Die folgende Analyse konzentriert sich auf diese Szenen und auf deren intratextuelles Zusammenspiel. 6.1.2 Der melancholische Erzähler Als der Erzähler zwischen der zweiten und dritten Abteilung als Hauptfigur seines eigenen Erzählens auftritt (361), ist er gerade tief in ein Selbstgespräch versunken. Mit seiner selbstreflexiven Betrachtung rückt kurzzeitig, und nur für diese knapp eineinhalbseitige Szene, sein eigenes Inneres, sein Denken und Empfinden, in das Zentrum seines Erzählens. Im Zuge dieser Selbstbeschreibung gewinnt mit der äußeren Gestalt des Erzählers auch sein Gefühlsleben deutliche Konturen: Als ich einmal an einem grauen Tage einsam und gleichgültig meinen Weg wanderte, um mein verhageltes Feld zu besehen, und von einem Hügel zum anderen blickte, und so bedachte, wie bald ich auf dem andern, und dann auf dem dritten, und dann – und dann vor Dir stehen könnte, Du treue Seele, zu der ich am liebsten spreche unter allen
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Vgl. Kapitel 2.1 und Kapitel 5.4 dieser Studie.
in der ganzen Welt, und der ich am wenigsten zu sagen habe, weil Du mich gleich verstehst und alle meine Worte mehrest und deutest, da wurde mir allmählig so freudig, daß ich rings umher alles mit anderen Augen ansah, als lernte ich gerade jetzt erst sehen und müßte jetzt erst nachgenießen, was ich den Tag über in Gleichgültigkeit, Ärger und ferner Träumerei versäumt und übersehen hatte. (361)
Mit dieser Selbstbeschreibung legt es der Erzähler offensichtlich darauf an, sich als Melancholiker zu inszenieren. Als müsste er irgendwelche Zweifel ausräumen oder den engen, ihm verbleibenden Raum möglichst optimal nutzen, stattet er sich gleich mit einem ganzen Konglomerat melancholischer Attribute aus. 467 Zum topischen Repertoire des Melancholikers gehört das Bild des in sich versunkenen »Wanderers« ebenso wie die Beschreibung herbstlich »grauer Tage« und »verhagelter Felder«. 468 Obligatorisch ist auch, dass der Melancholiker den »Tag über in Gleichgültigkeit, Ärger und ferner Träumerei versäumt« hat, dass er im Verlauf seiner Selbstreflexion zu einem »Stein am Wegesrand«469 greift und nicht zuletzt, dass er direkt im Anschluss an die zitierte Passage eine »Klage über verlorne Zeit« anstimmt (362). Geradezu unabkömmlich ist zudem, dass sich der Melancholiker nicht nur in sein Seelenleben verliert, sondern dass dieser Innenblick sich abwechselt mit dem sehnsüchtigen Blick, der sich »von einem Hügel zum anderen« schweifend in unendlicher Ferne verliert. Dieser sehnsuchtsvolle Blick in die Ferne zeichnet den melancholischen Erzähler der ›Gräfin Dolores‹ in ganz besonderer Weise aus. Seine Sehnsucht ist nämlich explizit auf ein Liebesobjekt gerichtet. Mit vertraulichem »Du« spricht er seine(n) ferne(n) Geliebte(n) an, wünscht sich zu ihr/ihm und versucht, die reale Entfernung gedanklich zu überbrücken, sie durch geistige Nähe zu kompensieren.470 Der Erzähler ist also nicht einfach nur ein Melancholiker, er ist – in feiner, dafür aber umso wirkungsmächtigerer Variation – ausdrücklich ein melancholisch Liebender.
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Zur Ikonographie des Melancholikers vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panowsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt v. Renate Buschendorf, Frankfurt am Main 1994. Zur Melancholie im literarischen Diskurs vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart und Weimar 1997. Aus dem Kontext der Selbstbeschreibung geht hervor, dass diese Szene im Herbst spielt. Herrschte bis hierin stets Frühling und Sommer, tritt der Erzähler also gezielt in der Jahreszeit der Vergänglichkeit auf (vgl. 359–362). Zum Stein als Symbol der Melancholie vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1996, bes. S. 119–137, hier S. 133: »Es ist der Stein. Sein Platz im Inventar der Sinnbilder ist ihm gewiß.« Fuhrmann weist ebenfalls darauf hin, dass der Erzähler an dieser Stelle als ein Liebender spricht: »Am Ende reiht der Erzähler sich gar selbst in die Reihe der Liebenden ein, indem er den zweiten Band des Romans damit eröffnet, daß er ein geliebtes Du zärtlich anredet.« Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 109. Renate Moering bezieht diese Anrede auf den realen Autor und erkennt in ihr Achim von Arnims »Anrede an Bettine«. Vgl. Dies., Die offene Romanform, S. 45ff.
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Arnims Roman ordnet mit dieser Figuration seines Erzählers gezielt den Melancholie- dem Liebesdiskurs unter. Er profiliert die melancholische Liebe als eine Unterart der Liebe. Wenn der Erzähler sich selbst als melancholisch Liebender inszeniert, gerät die Tatsache, dass er zuvor ausgerechnet die mütterliche Liebe beschwört, um zu erklären, warum er Karl vor seinem Selbstmord gerettet hat, in ein neues Licht. Man darf nur die mütterliche Liebe nicht so verstehen, dass der Erzähler sich wie eine Mutter um seine Figuren sorgt, sondern, dass er sich im Sinne der Melancholie nach dem mütterlich konnotierten Ursprung sehnt. Der Erzähler begründet seine Rettungsaktion dann nicht etwa mit seiner mütterlichen Fürsorge, sondern er agiert so, weil er seiner melancholischen Sehnsucht nach dem mütterlichen Ursprung verpflichtet ist. 6.1.3 Mitten drin, statt nur dabei: Am Anfang war – die verpasste Liebeschance Tatsächlich lohnt es sich, der melancholischen Sehnsucht nach dem Ursprung zu folgen und von der Selbstbeschreibung des Erzählers aus noch einmal einen Blick zurück an den Romananfang zu werfen. Denn bereits die Eingangsszene der ›Gräfin Dolores‹ gibt einschlägig Auskunft über die Beziehung des Erzählers zu seinen Figuren. Aus der Perspektive eines Reisenden entwirft der Roman dort die Topographie seines ersten Handlungsortes: Vor einer kleinen Residenzstadt des südlichen Deutschlands erscheinen dem Reisenden, der die große Heerstraße vom Gebürge herabfährt, zwei große hervorragende Gebäude von ganz verschiedener Bauart und Umgebung. (106)
Die Pointe dieser Landschaftsbeschreibung besteht darin, dass der Erzähler kurze Zeit später selbst in die von ihm entworfene Szenerie eintritt. Mitten im Satz unterbricht er seine Rede, um – nur durch einen Gedankenstrich getrennt – von der zuvor neutralen Erzählhaltung in die erste Person Singular und vom Präsens der Ekphrasis in das epische Präteritum zu wechseln: »– und darum wendete ich mich schmerzlich von einem Kreis lumpiger Barbarenkinder fort.« (105) Dieser plötzliche Eintritt in die eigene erzählte Welt hat zwei Effekte. Erstens kommt der Erzähler als Figur unter Figuren seinen Protagonisten per se schon einmal sehr nahe. Das legt die Vermutung nahe, dass er selbst in den Liebesreigen seiner Figuren verstrickt ist. Zweitens gibt sich der Erzähler – pars pro toto – als einer jener Reisenden aus, die er zuvor beschrieben hat. Wenn man ihn aber mit »dem Reisenden« identifiziert, entpuppt er sich zugleich als Äquivalenzfigur zu seinem männlichen Protagonisten. Auch Karl war als Wanderer aufgetreten (103, 124), auch er war vom Berg hinab gestiegen. Und so hatte Karl – wie der Erzähler – ebenfalls einen Überblick von der Höhe hinunter, auch ihm hatte sich das Panoramabild über das gräfliche und fürstliche Schloss hinweg eröffnet. Wem die Ähnlichkeit zwischen den beiden Figuren vielleicht noch nicht frappant genug ist – es kommen noch zwei gemeinsame Eigenschaften hin284
zu: Offensichtlich sind beide von Beruf »Landwirt« (129, 362) und nicht zuletzt sind sie beide Dichterfiguren. Kurzum, Karl ist das alter ego des Erzählers. Kein Wunder, so lässt sich angesichts der bisherigen Überlegungen im Einklang mit der Arnimforschung argumentieren, dass den »als männliches Ich konstruierten Erzähler« und den »als Perspektivfigur favorisierten Grafen Karl«, 471 wenn auch keine mütterliche Liebe, so doch immerhin eine Bruderliebe verbindet. Eine Liebe nach dem mythologischen Modell von Castor und Pollux, das an dieser Stelle offenkundig zitiert wird. So einvernehmlich wie zwischen Castor und Pollux könnte es zwischen den Zwillingen Karl und Erzähler auch zugehen. Doch trotz aller Bruderliebe gerät das Zwillingspaar umgehend in Konflikt. Und woran sollte sich dieser in einem Liebesroman entfachen, wenn nicht am Wettstreit um die Gunst einer Frau? Tatsächlich ist der Erzähler in den Liebesreigen seiner Figuren integriert. Er und Karl wetteifern – so meine These – ausgerechnet um Dolores’ Liebe. Ihr Konkurrenzkampf tritt dadurch zutage, dass ihre jeweilige Ankunft bei Dolores’ Schloss zeitlich koinzidiert (vgl. 103 und 127). Beide erreichen den gräflichen Palast zu der Zeit, als die beiden Schwestern sich ca. 3 ½ Jahre nach dem Verschwinden ihres Vater in die Dachkammer ihres verfallen(d)en Schlosses zurückgezogen haben.472 Der Erzähler kommt sogar kurz vor Karl bei Dolores’ Schloss an. Die Reise des Erzählers nimmt Karls spätere Ankunft bei den Gräfinnen also vorweg. Karl selbst fungiert daher nur als Wiederholungsfigur, als das Double des Erzählers.473 Wenn beide aber äußerlich Doppelgänger sind, wenn sie beide zur gleichen Zeit das gräfliche Schloss erreichen, dann erzeugt diese parallelistische Konstruktion von Eingangsbild und Initiationsszene mit aller Macht den Eindruck, die beiden Zwillinge seien sich so ähnlich, dass sie im Prinzip gegeneinander austauschbar sind. Der eine hätte die beiden Schwestern ebenso erobern können wie der andere. 474 Der Erzähler – so die Ausgangssituation des Romans – ist insofern in den 471
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Kaminski spricht zwar nicht von »Liebe«, aber sie re-konstruiert eine Achse männlicher Macht, die aus Aufschreibeinstanz, Erzähler und Karl besteht. Sie erkennt Dolores als eine Einzelkämpferin, der diese männlichen Allianz gegenüber stehe. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 241. Zwar sind beide Ankunftsszenen auf der Ebene des discours durch knapp 24 Seiten Text voneinander getrennt, aber in der Chronologie der Ereignisse schließen direkt aneinander an. Indem die analeptische Beschreibung von Dolores’ und Klelias Kindheit genau bis zu dem Zeitpunkt dauert, in dem der Erzähler die Gräfinnen verpasst, markiert der Text, dass alles, was er zwischen seiner Einleitung und Karls 1. Auftritt erzählt, den beiden Ankunftsszenen vorausgeht. Er führt so die beiden Szenen eng. Es gibt auch eine Differenz zwischen Karl und dem Erzähler. Während Karl über einen Nebenweg vom Gebirge aus auf das Schloss trifft, geht der des Erzählers von der großen Heerstraße aus. Diese (feine) Differenz wird in Arnims Roman später erst wirkmächtig. Vgl. Kapitel 7 dieser Studie; »Die Rückkehr des Vaters«. Dieses Argument gewinnt noch an Durchschlagskraft, wenn man bedenkt, wie wenig es bei der Liebesinitiation zwischen Karl und Dolores auf persönliche Eigenschaften der beiden ankam. Leicht hätte also der Zwillingsbruder an Karls Stelle stehen können. Der
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Liebesreigen seiner Figuren verwoben, als er als Nebenbuhler mit seinem eigenen Protagonisten und alter ego konkurriert. 475 Die ›Gräfin Dolores‹ erzählt demnach von Beginn an – noch bevor Karl bei den beiden Schwestern eintrifft, und lange bevor der Verführer »Markese« die Bühne des Romans betritt – von einer »menage à trois«. Angesichts dieser Konkurrenz hebt die spiegelbildliche Konstruktion der beiden Ankunftsszenen letztlich vor allem den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden potentiellen Liebhabern hervor. Obwohl der Erzähler durch seinen zeitlichen Vorsprung eigentlich die Favoritenrolle im Liebeswettstreit inne hat, unterliegt er jämmerlich. Karl gewinnt die Gunst der Schwester. Im Gegensatz zu ihm bleibt dem Erzähler das Schloss der Gräfinnen verschlossen: Vergebens war mein Pochen an allen Türen, ob denn keine einzige Seele in dem großen Hause [...]. Mir war so schwül zu mute und ich dachte nicht, daß in den oberen Zimmer zwei junge Gräfinnen versteckt währen, bei denen mir alles üble Wetter so leicht übergegangen wäre, ich stieg wieder in meinen Wagen, und dachte [...] (106)
Mit dem Schicksal der verschlossenen Tür im Bunde sticht Karl – ohne davon auch nur etwas zu ahnen – seinen Konkurrenten aus. Der Erzähler verfehlt seinerseits die beiden Schwestern. Dieser Moment des Verpassens, in dem der Erzähler sich vom Palast abkehrt, seine Kutsche besteigt und den Schauplatz seines Romans verlässt, fungiert aus Sicht des Erzählers (und des Lesers) sowohl im Wort- als auch im übertragenen Sinne als der Wendepunkt innerhalb der Romanhandlung. Roland Barthes würde das vergebliche Pochen an der Tür und das darauf folgende Abwenden vom gräflichen Palast, mit dem das (allgemeine) Liebesansinnen des Erzählers scheitert, als den ersten »Kern« in der ›Gräfin Dolores‹ bezeichnen. 476 Die
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Unterschied zwischen Erzähler und Karl besteht also zunächst nur darin, dass Dolores und Klelia sich während der Eröffnungsszene in ihren Palast zurückgezogen haben, und der Erzähler deshalb vor verschlossenen Türen steht, sie sich aber bei Karls Ankunft im Garten aufhalten. Diese These widerspricht Kaminskis Auffassung, die in Dolores die weibliche Gegenfigur zu den patriarchalischen wie moralischen Vorstellungen des Erzählers und Karl nur als positive Reflexionsfigur erkennt Dass Dolores zugleich das begehrte Liebesobjekt des Erzählers und Karl dessen Konkurrent ist, entgeht Kaminski. Roland Barthes unterscheidet zwei Arten von Funktionen: Als erste Art von Funktionen benennt er die Scharniere von Erzählungen als Kardinalfunktionen oder Kerne. Da die Handlung, auf die sie sich beziehen, eine für den Fortgang der Geschichte folgentragende Alternative eröffnet (aufrechterhält oder beschließt), kurz, da sie eine Ungewissheit begründen oder beseitigen. Sie sind die Risikomomente der Erzählung, sie sind Dispatcher, Alternativpunkte (Bsp.: Telefon klingelt, man kann abheben oder nicht, also zwei völlig unterschiedliche Geschichten könnten erzählt werden). Zwei Kerne sind sowohl chronologisch als auch logisch miteinander verknüpft, sie sind konsekutive und konsequentielle Einheiten. Vgl. Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 102–144, hier S. 113.
gesamte Eingangsszene evoziert die hypothetische Vorstellung, dass die Geschichte der ›Gräfin Dolores‹ ganz anders verlaufen wäre, wenn nur der Erzähler vor Karl die Schwestern kennen und lieben (?) gelernt hätte. Bis zu dem Moment, in dem der Erzähler in seine Kutsche steigt, hätte die ›Gräfin Dolores‹ eine Liebesgeschichte zwischen Erzähler und Dolores werden können.477 Karl wäre zu spät gekommen, seine Position wäre schon besetzt gewesen. Nun aber – nach dem Wendepunkt – handelt sie von Karls und Dolores gemeinsamem Liebes(un)glück, unter dem unterschwellig immer die verpasste Liebesgelegenheit des Erzählers mitschwingt. 6.1.4 Vom Schicksal geschlagen. Melancholisch Lieben Das Liebesschicksal des Erzählers fällt nach seiner Niederlage im Liebeswettstreit nicht einfach unter den Tisch. Über weite Strecken wird diese zweite, von vornherein gescheiterte Liebesgeschichte in der ›Gräfin Dolores‹ zwar nur unterhalb der narrativen Oberfläche, quasi heimlich miterzählt. An den Scharnierstellen des Romans aber tritt sie plötzlich aus dem Hintergrund und nimmt mit jedem Auftritt des Erzählers im wahrsten Sinne des Wortes Gestalt an. So beispielsweise, wenn der Erzähler sich im Zuge seiner Selbstbeschreibung selbst deutliche Konturen verleiht. Diese Szene fügt sich mit dem Eingangsbild des Romans zu einer Handlungssequenz zusammen, die en miniature die Geschichte einer gescheiterten Liebe erzählt. Die Selbstbeschreibung des Erzählers führt vor, dass er seine verpasste Liebesgelegenheit nicht einfach hinter sich lässt, sondern ihr – und damit zugleich Dolores wie auch Karl, in dessen Haut er gerne stecken würde – als melancholisch Liebender gedanklich wie emotional verbunden bleibt. Die am Romananfang verschenkte Liebesmöglichkeit wird (kausallogisch) zum Auslöser für die melancholische Liebe des Erzählers (weil der Erzähler sein Liebesabenteuer verpasst, liebt er melancholisch). Damit liegt es nahe, dass mit dem »Du« des inneren Dialogs, je nachdem für welche Lesart man sich entscheidet, jeweils eine seiner beiden Hauptfiguren angesprochen ist. Die melancholische Liebe des Erzählers umkreist ausgerechnet seine Protagonisten. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass Dolores und Karl, die heimlich Geliebte und der Konkurrent, noch einmal in den Erlebnishorizont des Erzählers eintreten, als dieser gerade in sich zu versinken droht: In diesen Gedanken sah ich umher, und es fuhren mehrere Wagen an mir vorüber; aus dem einen lachten und winkten mir neckend viel fröhlige Mädchen, und trieben den Kutscher, daß er schnell fahre; im anderen, der sehr bestäubt war, saß ein ernsthaftes Paar: ein junger Mann und eine wunderschöne Frau; ohne Bedrübnis schienen sie doch beide ganz in sich versunken, und sprachen nicht mit einander, und dankten auch nicht meinem Gruße. (361)
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In der Konsequenz dieses »Stellvertreterwunsches« liegt auch, dass die Geschichte der Gräfin Dolores’/›Gräfin Dolores‹ dann einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, möglicherweise auch nicht tödlich hätte enden müssen.
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Wie zwei Saturnmonde um ihren Planeten kreisen die beiden auf ihrer Umlaufbahn um den Erzähler. In direkten Kontakt treten der melancholisch Liebende und seine Figuren nicht. Nachdem Karl und Dolores sich kurz bis auf Sichtweite angenähert haben, entfernen sie sich umgehend wieder vom Erzähler. Demonstrativ sticht Karl diesen somit ein zweites Mal aus, und ebenso verpasst der Erzähler ein zweites Mal seine geliebte Dolores, der er nur noch melancholisch nachsinnen kann. Obwohl sich in diesem Moment das Schicksal des Erzählers wiederholt, hat sich doch etwas Entscheidendes verändert. Die beiden Schlaglichter, mit denen der Erzähler sich in die Haupthandlung einblendet, zeigen pointiert, inwiefern sich das Liebesverhältnis zwischen dem Erzähler und seinen Figuren von der Eingangsszene aus bis zum Beginn des zweiten Band verschoben hat: Wendete der Erzähler sich in der Eingangsszene noch aktiv selbst von dem Schloss ab und suggerierte auf diese Weise, dass er hypothetisch in den Verlauf der Geschichte hätte eingreifen können, steht er jetzt – und dieses »Stehen« ist wörtlich als Standpunkt des Erzählers zu verstehen – als Konkurrent durch die Hochzeit des Paares längst ausgestochen, passiv und abseits der Liebesgeschichte am Straßenrand und muss Dolores und Karl in einiger Entfernung an sich vorbeiziehen lassen. Die gewachsene Distanz zwischen ihm und seinen Figuren spiegelt sich auch darin wider, dass man Dolores und Karl überhaupt nur per Analogieschluss als die Insassen der vorbeifahrenden Kutsche identifizieren kann.478 Und noch ein Aspekt kommt hinzu: Ist die Aufmerksamkeit des Erzählers in der Eingangspassage noch detailgenau und akribisch auf die Lebensumstände seiner Protagonisten gerichtet (107), fokussiert sie sich jetzt auf die eigene Person und markiert damit die deutlich gewachsene Distanz zum Schicksal seiner Figuren (361). Die zweite Erzählsequenz, in welcher der Erzähler im Mittelpunkt des Geschehens steht, besiegelt erstens die Niederlage des Erzählers im Liebeswettkampf mit Karl. Zweitens buchstabiert sie die Erzählung des liebenden Erzählers weiter aus. Sie erzählt die Geschichte einer Metamorphose: vom potentiellen, zum gescheiterten und schließlich zum melancholischen Liebhaber der Gräfin Dolores. 479
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So heißt es wenige Zeilen, nachdem die Kutsche am Erzähler vorbeigefahren ist: »Den Graf und die Gräfin verließen wir auf ihrer Rückreise nach der Stadt; das gleichmäßige Stoßen des Wagens erweckte in der bekannten Gegend, in dem erregten Zustande, wie sich beide neben einander fanden, sehr verschiedene Nachgedanken und schläferte ihre Unterredung mit einander ein.« (363) Indizien, um Karl und Dolores mit den vorbeifahrenden Paar zu identifizieren sind: die zeitliche Koinzidenz der am Erzähler vorbei fahrenden Kutsche und Karls und Dolores Rückreise vom Lande, die Beschreibung eines »jungen Mannes« und einer wunderschönen Frau, die auf Karl und Dolores zu trifft, die Ernsthaftigkeit der jeweiligen Insassen, die in sich versunken sind und weder nach außen hin grüßen noch miteinander sprechen. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 204.
Diese figurenpsychologische Konstitution eines melancholisch liebenden Erzählers erklärt dessen ambivalentes Verhalten gegenüber seinen beiden Hauptfiguren. Seine Stimmungsschwankungen sind ein fester Bestandteil melancholischer Liebe. Denn zur Melancholie gehört grundlegend, dass »ein Gegensatz von Lieben und Hassen in die Beziehung eingetragen oder eine vorhandene Ambivalenz verstärkt werden kann.«480 Auf diese Weise erklärt sich, warum sich der Erzähler von seiner weiblichen Protagonistin angezogen fühlt und zugleich von ihr abgestoßen ist. Als melancholisch Liebender denkt er voller Lust und Schmerz, voller Zu- und Abneigung, voller Mitleid und Hass, voller Einfühlungsvermögen und Gefühlskälte an Dolores. Sie ist in seinen Augen einerseits das begehrte Liebesobjekt, dessen Schönheit er offen bewundert und dessen Reizen er immer wieder verfällt. Zu ihr fühlt er sich hingezogen, ihre Liebe begehrt er.481 Andererseits verkörpert sie aber die gescheiterte Liebeswerbung des Erzählers. In dem Wissen, dass er seine große Liebeschance verpasst hat, dass er Dolores nicht mehr erobern wird, folgt der melancholische Erzähler der »Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen«. Und dies ist – da nimmt der Erzähler Freuds späteren Überlegungen zur Melancholie voraus – ein »schmerzvoller Prozess«. 482 In diesem Sinne ist Dolores’ Name Programm.483 Aus der Perspektive des Erzählers figuriert sie als Allegorie des Schmerzes. Sie versinnbildlicht den nicht enden wollenden Schmerz einer Liebesgeschichte, die schon zum Scheitern verurteilt ist, bevor sie überhaupt zustande kommt.484 Damit verkörpert Dolores in den Augen des Erzählers den Prototyp »Frau«, welcher für den Mann unerreichbar bleibt. Er idealisiert
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Sigmund Freud, Trauer und Melancholie [1917]. In: Ders., Sigmund Freud, Studienausgabe, Psychologie des Unbewußten, Bd. 3, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt am Main 1975, S. 194–212, hier S. 205. Arnims Text formuliert an dieser Stelle figurenpsychologisch aus, was die Forschung im Anschluss an Lacan als heteronormatives Begehren (desire) bezeichnet. vgl. Andreas Kraß, Queer Studies – eine Einführung, S. 22. Darüber, dass ich diese Begriffe trotz des dadurch provozierten Anachronismus verwende, um diese Textphänomene zu beschreiben siehe Systematik dieser Studie. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, S. 198. Im Erzählen läuft stets die Schicksalsfrage jedes verhinderten Liebhabers und ausgestochenen Konkurrenten mit: Und was wäre geworden, wenn sie sich für mich entschieden hätte? Die zornigen, mitunter hasserfüllten Kommentare des Erzählers gegenüber Dolores wechseln sich mit emphatischen Überhöhungen ab: 160f., S. 384, S. 426 etc. Die Stimmungsschwankungen äußern sich in den einseitigen Schuldzuweisungen und in den Schmähungen nach ihrem Ehebruch ebenso wie in der Verzweiflung des Erzählers über ihren Sturz. Die Verzweiflung schließt Zu- und Abneigung zugleich ein. Als Zeichen der Zuneigung ließe sich das gesamte Erzählen der vierten Abteilung »Buße« lesen, die ja immerhin zur Wiederherstellung von Dolores’ Moral und ihrer Reputation dient. Für diese lässt sich das ungewöhnliche Erzählprojekt sogar auf die eher langweilige, weil ereignislose Geschichte der Buße ein. Ein Opfer des Erzählers, das auf seine tiefe Zuneigung gegenüber Dolores schließen lässt (vgl. S. 349).
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Dolores und er verachtet sie zugleich dafür, wie sie ihr Glück aufs Spiel setzt, wie sie für ihre eigenen Vorstellungen eintritt und die ihres Mannes, an dessen Stelle der Erzähler sich selbst sieht, durchkreuzt. Als melancholisch Geliebte löst Dolores bei ihrem heimlichen, längst gescheiterten Verehrer extreme Stimmungsschwankungen aus. Lassen aber kann er weder von ihr noch von dem Ursprungsmoment ihrer Liebesbeziehung – beide umkreist er im Modus melancholischer Liebe. Aus derselben psychologischen Konstellation lässt sich erklären, warum der Erzähler auch Karl gegenüber zwischen den Extremen von Sympathie und Antipathie schwankt. Der melancholisch Liebende ist Karl als seinem alter ego, als seinem »Bruder im Geiste«, zugetan. Er fördert und lobt ihn, wann immer er nur kann. Als Konkurrent aber, der im Liebeswettkampf eine bittere Niederlage eingesteckt hat, schlagen seine Gefühle in Abneigung und Missachtung, in (versteckte) Häme und Schadenfreude um. Zur Frage steht durchweg: Warum er und nicht ich? In diesem Sinne verachtet der Erzähler seinen männlichen Protagonisten. Statt Fürsorge bestimmen Eifersucht und Rache die Beziehung des Verlierers zu Karl. Aus der Perspektive der Queer Studies eröffnet sich zudem noch eine weiter reichende Lesart der affektiven Beziehung, die der Erzähler zu Karl entwickelt: Die Szenerie erlaubt, auf ein (unterdrücktes) sexuelles Begehren zu schließen. Es gibt zumindest nichts, was dieser These widerspricht. Die trianguläre Konstellation, welche der Roman zwischen den Konkurrenten Karl und Erzähler und der von beiden begehrten Dolores entwirft, entspricht einem Muster, das die Queer Theory als einen Topos homosozialen Begehrens in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts identifiziert hat. 485 Arnims Roman stilisiert Dolores »zum Schauplatz des homosozialen Begehrens rivalisierender Männer«, 486 die stellvertretend für ihr gegenseitiges Begehren um die Gunst der Frau wetteifern. Die eigentliche Liebesgeschichte spielt sich dann zwischen dem Erzähler, Karl und dem Markese ab. Wie dem auch sei, in jedem Fall erklärt das ambivalente, hochgradig affektive Verhältnis zwischen Erzähler und Karl, warum der erstere sein (geliebtes) alter ego nicht sterben lassen, er seinem Widersacher aber auch nicht einfach so Recht geben kann. Damit ist klar, warum Karl seinen Selbstmordversuch auf die oben dargestellte Art überlebt. 6.1.5 Vom Gefühl zum Programm: Erzählen im Zeichen melancholischer Liebe Das Entscheidende an dieser melancholischen Liebesbeziehung zwischen dem Erzähler und seinen Figuren ist, dass diese mit seiner poetischen Produktion kurzgeschlossen ist. Dieses produktionsästhetische Muster wird zunächst innerhalb der histoire eingeübt. Gleich in der Eingangsszene beginnt der Erzähler just in dem Augenblick, in dem er sich von der verschlossenen Palasttür abwendet, in seine
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Vgl. dazu Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1992. Vgl. Andreas Kraß, Queer Studies – eine Einführung, S. 23.
Kutsche einsteigt und den Schauplatz seines Romans verlässt, die vorherigen Ereignisse zu reflektieren. Den Einsatzpunkt seines Nach-Denkens kommentiert der (in diesem Fall erneut autodiegetische) Erzähler lakonisch: »Ich stieg wieder in meinen Wagen, und dachte […].« (107). Die Kopfarbeit wird ausgelöst, in dem Moment, in dem er Dolores verpasst und sich – gleich, ob freiwillig oder nicht – von seiner potentiellen Geliebten distanziert. Auch während des zweiten Auftritts des Erzählers schlägt seine melancholische Sehnsucht in eine geistige und in diesem Fall ausdrücklich in eine poetische Produktion um. Als der Erzähler Karl und Dolores ein zweites Mal passieren lassen muss, schlägt sein Nachsehen, das er zuvor hatte, in ein Nachsinnen um. Der Erzähler erzeugt zum einen, melancholisch in sich gekehrt, sein Selbstgespräch. Und zum anderen erweckt sein sehnsuchtsvoller Blick in sein Seelenleben in ihm den Poeten: »[...] und in mir schlug das Herz als ein Zeuge der Liebe, die ich untergegangen wähnte. O wie selten wird uns die Gegenwart! Mitten in meiner Freude tönte meine Klage über verlorene Zeit.« (361) Im Romantext folgt das Gedicht, das als eines der wenigen direkt dem Erzähler zugeschrieben wird: »Für die Liebe zu zart, /Für die Gedanken zu schnelle, Eilest du Gegenwart, / Nahende fliehende Welle; [...].« Den Stein des Melancholikers noch in der Hand, verschränkt sich seine melancholische Liebe mit seiner ebensolchen Autorschaft. Die Szene weist den poetischen Produktionsakt als spezifisch melancholischen aus. Das Gedicht des Erzählers gibt darüber hinaus schon den Ton vor, der sein poetische Produktion insgesamt bestimmt: Zum einen rufen die Verse als Klage über den verlorenen Liebesaugenblick, der sich nicht festhalten lässt, explizit Kronos’ an, zum anderen weisen sie damit auf den Augenblick zurück, an dem der Erzähler Dolores verpasst hat. Das Gedicht trägt auch thematisch eindeutig den Charakter melancholischer Liebe. Wer nicht liebt, sinnt der Liebe melancholisch nach und wird so zum Poeten – das suggeriert diese Szene. Ihre volle Wirkung entfaltet die melancholische Liebespoetik aber erst, da sie, nachdem sie an den exponierten Stellen des Romans eingespielt wurde, letztlich das gesamte Erzählarrangement und damit die Makrostruktur der ›Gräfin Dolores‹ prägt. 487 Das Bild des am Straßenrand stehenden, melancholisch liebenden Erzählers, der seinen beiden Hauptfiguren sehnsüchtig nachsieht, fungiert als Metapher, welche die Erzählkonstruktion des gesamten Romans verbildlicht. Bis zum Ende der erzählten Geschichte kommt der Erzähler mit seiner geliebten Dolores nicht in Kontakt. Bis zum Schluss aber sinnt er ihr nach. Als melancholischen Liebhaber muss man sich daher auch den heterodiegetischen Erzähler vorstellen. Erzählt wird der Roman aus der Retrospektive. Der Erzähler entfaltet die Biografie der Gräfin Dolores aus der zeitlichen Position späteren Erzählens. 488 Das
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Zur Repräsentation des Schönen im Darstellungsmodus der Trauer vgl. auch Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 110f. Dass der Erzähler den gesamten Roman von Anfang an überblickt, das Schicksal der
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Geschehen liegt zum Zeitpunkt des Erzählens bereits als Ganzes abgeschlossen in der Vergangenheit. 489 Als entscheidende Zäsur innerhalb dieses Erzählarrangements fungiert Dolores’ Tod am Ende des Romans. Der trennt den Zeitpunkt des Erzählens von dem des Erzählten (vgl. S. 671). 490 Die Zäsur schließt das Erleben grundsätzlich aus. Sie rückt die begehrte Schönheit in unerreichbare Ferne. Mit Dolores’ Tod erhält der Erzähler die endgültige Gewissheit, »daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht.«491 Zugleich markiert die Zäsur den Einsatzpunkt des Erinnerns. Das Erzählen selbst entspricht einem Erinnerungsakt.492 Aus der Sicht der Rhetorik bedeutet dies, dass die inventio nach den Regeln und Verfahren der memoria verläuft. 493 Da das Konzept von Autorschaft und Erinnerung in Eins fallen, weist die ›Gräfin Dolores‹ als Liebesroman die Form eines Erinnerungstextes auf. 494 Einer Trauerrede gleich folgt die Erzählung den Lebensstationen der Gräfin, was am Ende darauf hinausläuft, dass Erzählen nichts anderes bedeutet als, »Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Umsturz aus Leben in Tod.«495 Was bleibt dem Erzähler, der durch eine unüberbrückbare Distanz vom Liebesleben seiner Dolores getrennt ist, anderes übrig, als seiner verpassten Liebe erzählend nachzutrauern.
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einzelnen Figuren also von Beginn an festgesetzt ist, lässt weniger auf einen ontologischen »Prädestinationszusammenhang« schließen (vgl. Horst Meixner, Figuralismus, S. 20), sondern ist Bestandteil der narrativen Konstruktion. Die Übersicht der Erzählstimme zeigt sich an Anmerkungen wie: »Wir, die wir den Ausgang kennen, wünschen [...]« (148). Genette nennt diese Beziehung des Textes zu seiner Gattung architextuell. Vgl. Gerard Genette, Palimpseste. Die Literatur zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993, S. 13f. So stehen die wenigen auf Dolores Tod noch folgenden erzählten Ereignisse um den Grafen Karl – seine Suche nach dem verlorenen Ehering, sein Bau des Doloresdenkmals und seine Rückkehr nach Deutschland – selbst nur noch im Zeichen der Erinnerung. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, S. 198. In den letzten Jahren hat sich die Literaturwissenschaft verstärkt diesem Thema zugewandt: Die vorliegende Analyse orientiert sich systematisch vor allem an den Arbeiten von Renate Lachmann, Frauke Berndt und Martina Wagner-Egelhaff. Richtungsweisend für die literaturtheoretische Auseinandersetzung mit der Memoria seit Aristoteles »Erinnerung und Gedächtnis« sind die Arbeiten von Francis A. Yates, Gedächtnis und Erinnerung. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1992 sowie Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 104. Dieser Begriff geht auf eine Studie von Frauke Berndt zurück: Sie bezeichnet »alle fi ktionalen Texte, in denen die (auto-)biographische Erzählsituation organisatorisches Zentrum ist, weniger in klassifi katorischer als vielmehr in deskriptiver Hinsicht als Erinnerungstexte.« Vgl. Frau Berndt, Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999, S. 5. Vgl. zum Mythos des Simonides ausführlich: Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main, 1990, S. 24.
Offensichtlich ist sich der Erzähler über diese Produktionsbedingungen, die sein Erzählprojekt determinieren, grundsätzlich im Klaren. Dies zeigt sich darin, dass er seinen Erinnerungsakt gezielt in die Tradition der »Urszene des Gedächtnisses« stellt, wie sie schon Cicero und Quintilian entworfen haben.496 Der Erzähler inszeniert sich als ein Nachfolger des Dichters Simonides, des Protoypen der Mnemotechniker. Dieser hatte – so berichtet die Legende – als einziges Mitglied einer Festgesellschaft den Einsturz eines Palastes überlebt. Während er anschließend aus seiner Erinnerung die Sitzordnung der Gäste rekonstruieren und darüber die Toten identifizieren konnte, soll ihm das Verfahren der Mnemotechnik deutlich geworden sein. 497 Tatsächlich hält sich Arnims Erzähler streng an die Vorgabe des Mythos. Er trägt die Maske des Simonides. Wie dieser schaut er vom Zeitpunkt seines Erzählens auf die »Trümmer der Vergangenheit« (vgl. S. 513) zurück. Wie sein mythologisches Vorbild will er die ursprüngliche Ordnung der Ereignisse rekonstruieren. Und wenn der Erzähler am Beginn des Romans ausgerechnet das Bild eines Schlosses auferstehen lässt, von dem er später behauptet, dass es zu Dolores’ Lebzeiten zu einer Ruine zerfallen ist (511f.), dann ist diese Auferstehung des gräflichen Palastes eine deutliche Reminiszenz an den Palast des Adligen im Ursprungsmythos einerseits und an die »Hausmetapher« der Erinnerungskunst andererseits.498 Als wolle der Erzähler seinen Lehrmeister Simonides überbieten, rekonstruiert er mit Hilfe seiner Erinnerungskünste gleich zwei nebeneinander stehende Schlösser. Der Erzähler beweist sich mit seinem Anfangsbild als ein Mnemotechniker, der mit allen Wassern der Erinnerungskunst gewaschen ist. Immerhin versteht er es, ein bis in das letzte Detail ausgefeiltes (Ab-)bild der Schlösser zu (re-)konstruieren und sie nachhaltig in Erinnerung zu rufen. 499 Weil dem Erzähler sein simonidesches Kunststück glückt und er das Zerstörte heilt,500 fungiert die ›Gräfin Dolores‹ für den imaginären Leser – analog zu Karls Doloresdenkmal am Romanende – als ein poetisches Denkmal, das seinerseits an das Leben und Lieben der Gräfin Dolores erinnert.501 Die Gesamtkonzeption des Romans ist damit vollständig den Gesetzen
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Marcus Tilius Cicero, De oratore! Über den Redner, lat./dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1997, S. 431–433. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 24f. Zur Hausmetapher der memoria bei Cicero und Quintilian vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 111f. Gerhard Schmidt-Henkel, Anfang und Wiederkehr. Romananfänge und Romanschlüsse der deutschen Romantik. In: Norbert Miller (Hg.), Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965, S. 112–118, hier S. 114. Dazu Renate Lachmann: »Erinnerung ist Wiederherstellen der Ordnung mit Hilfe der Mnemotechnik, Technik des Erinnerns, Heilen des Zerstörten.« Dies., Gedächtnis und Literatur, S. 22. Ein veritabler Erfolgsindikator ist wohl, dass das imago agens »des allervortrefflichsten Anfang[s]« schon Heine zutiefst beeindruckt und ihn in ›Die romantische Schule‹ zu einem hymnischen Lob hingerissen hat. Mit Hilfe des Heinelobs geht der Anfang der ›Gräfin Dolores‹ letztlich in den literarischen Kanon und in das kulturelle Gedächtnis
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der Erinnerung und des Gedächtnis’ unterworfen. Dies gilt auch für alle in die Rahmenhandlung eingelassenen Erzählungen, Gedichte und Dramen, die nur Teil der erinnerten Lebens- und Liebesgeschichte sind. Nur weil der Erzähler sich erinnert, steht sein Erzählprojekt noch längst nicht im Zeichen melancholischer Liebe. Die ›Gräfin Dolores‹ aber inszeniert sich nicht als das Produkt irgendeiner, nicht weiter spezifizierten Erinnerung. Vielmehr arbeitet der Roman präzise heraus, dass die Erinnerung seines Erzählers die Züge melancholischer Liebe trägt.502 Den spezifischen Charakter seines Erzählprojekts betont er dadurch, dass er Eros als dessen treibende Kraft benennt. Gleich bei seiner ersten Aktion auf der Bühne seines Romans befi ndet sich der Erzähler in einem »schönen Lustgarten« (105), um sich dort ausgerechnet von einer Amorfigur abzuwenden: – und darum wendete ich mich schmerzlich von einem Kreise lumpiger Barbarenkinder fort, die dort im Lustgarten des gräflichen Palastes an einem schönen Amor, der schlafend unter einer Rosenlaube ruhte, die schändliche Art von Geißelung wiederholten, die ihnen in roher Erziehung zu einer scherzhaften Strafe geworden. (105f.)
Der schlafende Amor verweist im Rahmen dieses imago agens zum einen auf die Liebeslust, die an diesem Ort offensichtlich einmal geherrscht hat, bevor sie entschlafen ist und jetzt gegeißelt wird. Als Schlafender repräsentiert Amor den demütigenden Moment, in dem der Erzähler seine Liebe verpasst. Kein tatendurstiger Amor, keine Liebe – so einfach ist das. Zum anderen versinnbildlicht der Schlaf die Tatsache, dass Amor irgendwann mal wieder aufwachen wird. In der Tat findet Karl kurze Zeit später an gleicher Stelle (nämlich im Lustgarten) seine Liebe.503 Zudem wacht auch für den Erzähler der schlafende Amor wieder auf. Allerdings tritt er in seinem Fall in Gestalt des schmerzvollen Mangels auf, der das
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ein. Selbstverständlich aber ist die Paraphrase von Simonides’ Ursprungslegende nicht frei von Ironie. Denn als Meisterwerk der Erinnerungskunst schafft der Erzähler nicht einfach nur zwei Schlösser, sondern zwei Paläste, die – bei aller Aufbauarbeit – ihrerseits stark vom Zerfall bedroht sind. Heine lobt entsprechend: »Welch ein Meister ist Arnim auch hier in der Darstellung der Zerstörnis!« Heinrich Heine, Die Romantische Schule, S. 460. »Im Schloßgarten ist alles verödet: die geschnittenen Taxusalleen sind struppig verwildert […]« Der Aufbau durch die Erinnerung und die Darstellung des Zerfall werden, obwohl sie gegenläufige Prinzipien sind, ineinander verwoben. Heinrich Heine, Über Deutschland. Die Romantische Schule. In: Ders., Sämtliche Schriften in 12 Bänden, Bd. 5, Sämtliche Schriften 1831–1837, hg. von Klaus Briegleb, München 1976, S. 459: »Die ›Gräfin Dolores‹ hat ebenfalls den allervortrefflichsten Anfang.« Während aus der Romankonzeption deutlich hervorgeht, wie klar sich der Erzähler darüber ist, dass er sich einem Erinnerungsprojekt verschreibt, bleibt unklar, ob er sich über seine melancholische Liebe tatsächlich bewusst ist. Deshalb spreche ich an dieser Stelle vom Roman, der dieses Spiel der Verweise initiiert. Das Amormotiv wiederholt sich noch einmal: Wenn Karl von der Universität zurück zu Dolores kehrt und sie mit verbundenen Augen, also als Figuration des blinden Amors (terresto), fangen spielt (vgl. 150). Diese Szene macht klar, dass Amor zwar erwacht ist, aber ein anderes Leben führt, als Karl und der Erzählers es sich gedacht hatten.
von melancholischer Liebe geprägte Erzählprojekt bestimmt. Dieser grundlegende Mangel besteht darin, dass der Erzähler nur nachträglich erzählen darf, was Karl an seiner Stelle erlebt hat. Der Kontrast zwischen den beiden Konkurrenten im Liebeswettstreit, der zunächst nur durch die binäre Ordnung von Lieben versus Nichtlieben bestimmt war, lässt sich somit spezifizieren, und zwar mit der Opposition von Liebe erleben versus von Liebe erzählen. Von der Liebe zu erzählen, nach der man sich sehnsüchtig verzehrt, steht damit in deutlichem wie schmerzvollem Kontrast zum Liebeserlebnis. Dem einen bleibt nur das Amor-Denkmal (eine hintersinnige Allusion an das Erinnerungsprojekt selbst), der andere genießt das amouröse Liebesabenteuer. Das Erzählen ist das Supplement zur missglückten Liebe des Erzählers. Es motiviert sich aus der unerfüllten Liebe und ungestillten Sexualität des Erzählers. Weil der Erzähler zunächst sein Liebeserlebnis verpasst, muss er nachträglich seine Erzählung anhängen. Dann aber mangelt es dem Erzähler daran, dass sein Erzählen grundsätzlich im Modus der Nachträglichkeit verhaftet bleibt. Dabei fordert Dolores’ Tod den Erzähler nicht nur zu dem schon von Freud als schmerzlich bezeichneten Prozess auf, seine Liebe von ihr abzuziehen,504 sondern die Zäsur initiiert zugleich seine nostalgische Sehnsucht. Denn dem Erzähler, der durch eine unüberbrückbare Distanz vom Liebesleben getrennt ist, der dennoch emotional mit seinem Liebesobjekt verknüpft bleibt, hat keine andere Wahl, als seiner verpassten Liebe erzählend nachzutrauern und sie im Geiste wieder und wieder vor den eigenen Augen vorüberziehen zu lassen. Er begehrt und beschreibt, was spätestens mit Dolores’ Tod unwiederbringlich verloren ist. Erreicht er Dolores’ Schloss zu früh, so leidet er als Erzählinstanz daran, immer zu spät zu sein. Die Rückkehr zum Ursprung bleibt versperrt. Von Eros zwar angetrieben, kann das Erzählen aber dennoch den Moment des Verpassens nicht mehr rückgängig machen. Es kann das potentielle Liebeserlebnis nur nostalgisch umkreisen. Sein Erzählen ist getrieben vom unstillbaren Begehren. Der gegeißelte Amor personifiziert in diesem Zusammenhang jenen »libidinöse[n] Impuls«, der den schmerzvollen Akt des Begehrens antreibt. Das Mangelhafte der erotischen Autorschaft mündet auf diese Weise in die Reflexionsbewegung der Melancholie ein, welche sich dem Ursprung nur noch annähern, ihn aber nicht erreichen kann. An diesem Punkt verschränken sich erotische und melancholische Liebe ineinander. Das erotische Erzählprojekt erweist sich als eines, das im Zeichen melancholischer Liebe steht. Und weil der Grund, weil der Ursprungsmoment der narrativen Trauerarbeit letztlich vage bleibt, weil es unklar ist, ob sich Dolores überhaupt für den Erzähler entschieden hätte, weil dieser aber offensichtlich nicht aufhören kann, die Momente, in denen Dolores sich für Karl oder später für den Markese hingibt, stets
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Sigmund Freud, Trauer und Melancholie [1917]. In: Ders., Studienausgabe, Psychologie des Unbewußten, Bd. 3, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt am Main 1975, S. 194–212, hier S. 198.
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aufs neue zu umkreisen, und weil er zudem seine persönliche Verlusterfahrung ins Allgemeine erhebt, folgt die Makrostruktur des Romans letztlich jener »unspezifischen, unpersönlichen, grundlosen Trauer«, die Freud als Charakteristikum der Melancholie festschreibt.505 Für den Erzähler gilt, was Freud knapp einhundert Jahre später formuliert: »Die Anlässe der Melancholie gehen meist über den klaren Fall des Verlustes durch den Tod hinaus und umfassen alle die Situationen von Kränkung, Zurücksetzung und Enttäuschung.«506 Allerdings leidet Arnims Erzähler nicht einfach nur an Liebesmangel. Der Mangel charakterisiert vielmehr nur die eine Seite seines in melancholischer Liebe aufgehenden Erzählprojekts. Zugleich schließen die Melancholie und das ihr eingeschriebene erotische Begehren auch die Kehrseite des Mangels ein: den Reichtum. Eros vereint obligatorisch – man könnte auch sagen »von Geburt an« – die widerstreitenden Aspekte von Mangel und Reichtum in sich.507 Diese dialektische Einheit erst charakterisiert ihn als eine melancholisch liebende Denk-Figur. Die lustvoll-erotische Komponente melancholisch liebenden Erzählens zeigt sich in der Figur der Sublimation. Auch in diesem Kontext motiviert sich das Erzählen aus der unerfüllten Sexualität des Erzählers. Diese Fundierung von Autorschaft nimmt Freuds berühmtes Diktum aus ›Der Dichter und das Phantasieren‹ vorweg. Dort hat Freud die literarische Produktion an das für ihn allgegenwärtige Lustprinzip gekoppelt. Freud behauptet, die literarische Phantasie der Autoren werde aus dem Mangel geboren: »Man darf sagen, der Glückliche phantasiere nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasie.«508 Die Erzähllust aber überdeckt den Schmerz des Verlustes. Für Arnims Erzähler stellt sein Erzählprojekt eine Ersatzhandlung dar, mit der er seine längst verpasste Liebesmöglichkeit wie seinen unerfüllten Liebestrieb in eine künstlerische Leistung überträgt. Schließlich zeugt der Erzähler im Zuge eines Erzähl-Aktes, der durchaus als Sexualakt zu lesen ist, mit seiner Erzählung einen Ersatz für seine unerfüllte Liebe. Seine geistige Fruchtbarkeit ersetzt die sexuelle. Die melancholische Autorschaft trägt die Züge von Auto(r)erotik, die Kittler zu Recht als »Selbstbefriedigung durch Selbstrednerschaft« bezeichnet hat.509 Mit Hilfe des Erzählens und des Erzählten gelingt
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Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, S. 198. Der vage Grund ist Kennzeichen der Melancholie, durch diesen unterscheidet sich die Melancholie von Trauer. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, S. 205. Diese Einheit aus Mangel und Reichtum leitet sich aus der Genealogie des Eros ab. Der wurde von der Mutter Penia (Armut, Schuld) geboren, von Poros aber, dem Reichtum, gezeugt. Im Zeichen des Eros bilden Schönheit und Untergang eine (paradoxe) Einheit. Platon II, Symposion, 199eff. Vgl. auch Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten, S. 14. Vgl. zu dieser Denkfigur im Zuge von Hölderlins Ästhetik Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 43f. Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 10, Bildende Kunst und Literatur, hg. von Alexaner Mitscherlich u. a., Frankfurt am Main 1969, S. 169–179, hier S. 173. Friedrich A. Kittler, Autorschaft und Liebe, S. 149.
es dem melancholisch Liebenden zumindest phasenweise, seinen Liebesverlust mit Hilfe seiner schönen Poesie aufzuwiegen. Sich dem Erzählprojekt melancholischer Liebe hinzugeben, bedeutet nicht, in Trauer zu vergehen. Die Trauerarbeit des Erzählers verläuft durchaus lustvoll. Der Erzähler pflegt ein sentimentalistisches Bewusstsein des unversöhnlichen Konflikts von »Idealität« (Liebe erleben) und »Realität« (Allein sein) und erkennt diese Situation zugleich schmerzlich wie auch lustvoll an.510 Im Modus melancholischer Liebe zu erzählen, bedeutet demnach, ständig hin- und hergerissen zu sein zwischen Ideal und Realität und extremen Lust- und Frustrationsgefühlen. Dieses Wechselbad der Gefühle ist Ausdruck melancholischer Liebe. Der Roman setzt diese Stimmungsschwankungen, die zwischen Euphorie und Selbstaufgabe oszillieren, gezielt in Szene. Beispielsweise in jener berühmt gewordenen Aussage des Erzählers, mit der er begründet, warum er Karls Besuch beim wunderbaren Doktor so ausführlich schildert (401–425): »Wir verweilen mit Absicht bei dem Bilde des Doktors, denn es ist uns so tiefbedeutend als Sinnbild des meisten Lebens« (422), heißt es dort zunächst. Dem Erzähler ist mit diesem Satz offensichtlich daran gelegen, das Erzählte aufzuwerten. Im folgenden Satz allerdings überkommen den Erzähler grundlegende Selbstzweifel und er versucht seine Leser sogar davon zu überzeugen, die Lektüre seines Buches umgehend zu beenden: greife jeder in seine Erinnerung hinein, wie viel Tage er auf gleiche Art versäumt habe, ob nicht das Lesen dieses Buches selbst, so gut es gemeint ist, für viele, welche ernste Tat ruft, ein müßiges unvergnügliches Spiel sei; darum seid gewarnt, ihr Leser, die Tage vergehen schneller als die Nächte, endlich kommt eine Nacht, die keinen andern Tag kennt, als die Erinnerungen [...]. (422)
Diese emotionale Schwankung zwischen einem himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübten Erzähler zeichnet das Erzählprojekt als eines melancholischer Liebe aus. Diese Oszillation zwischen Ideal und Realität, zwischen Lust und Frust sowie schmerzlich-schöner Anerkennung ihrer Unvereinbarkeit, prägt bereits die Anfangsszene des Romans. Dort nämlich steht die harte Realität, dass der Erzähler seine Liebe zum Zeitpunkt des Erzählens längst verpasst hat, in einem scharfen Kontrast zu der enthusiastischen und geradezu liebevollen Art, mit der er das Idealbild der beiden Schlösser beschreibt: Einem altertümlich getürmten und geschwärzten, von Wassergräben umzogenen Schlosse gegenüber, schimmert ein freier, leichter, heiterer, flachgedeckter italienischer Palast im schönsten Grün eins weiten Gartens [...]. (103)
Der Erzähler bietet einen beeindruckenden rhetorischen Reichtum auf, um die Schönheit der an sich doch zerfallenden Schlösser darzustellen. Offenbar ist das imago agens zwar mit Liebesschmerz aufgeladen, wird aber mit Lust und Zuneigung
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Menninghaus bezeichnet diese Verbindung als genuin romantisch. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 43f.
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erzählt.511 Aus der Perspektive des sich erinnernden Erzählers liegt das Lustmoment zudem darin geborgen, sich erzählend noch einmal dem kurzen Augenblick hinzugeben, in dem die Liebesentscheidung noch nicht gefallen war. Das Entwerfen des Schlossbildes erlaubt ihm, ein Glück in suspense zu genießen. Er erzählt, um die Entscheidung aufzuschieben. Deshalb widmet er sich voller Liebe zum Detail der Aufgabe, ein vollkommenes Bild der Schlösser zu malen. Um den Genuss vollständig auszukosten, stellt er darüber hinaus die Zeit still. Dazu bedient er sich der Technik des gleichzeitigen Erzählens. Das Präsens der ersten Passage beschwört die Gegenwärtigkeit des Dargestellten herauf und suggeriert, es sei noch im Moment des Erzählens möglich, die beiden Schlösser in der beschriebenen Weise vorzufinden. Mit seiner Beschreibung hüllt sich der Erzähler in die Illusion, er könne zum Zeitpunkt des Erzählens noch alles so erleben wie damals, als er vor Dolores’ Palast stand. Dieses Standbild bricht zusammen, als sich das Erzählte verzeitlicht, und die Romanhandlung einsetzt. Der Übergang vom exordium zur narratio wird durch den Wechsel von Präsens zum epischen Präteritum markiert. Das jetzt auch in diesem Sinne schmerzvolle »darum wendete ich mich schmerzlich [...] fort« (105) [meine Hervorhebung, C. M.] löst die suspense auf. Der Reichtum – rhetorisch erzeugt und imaginär genossen – schlägt in die Armut der verpassten Liebe um. Der bis dato überdeckte Schmerz tritt offen zutage und verdrängt den Genuss: umgehend erinnert sich der Erzähler an das Amor-Denkmal (ebd.). Vom Idealbild bleibt nur ein Bruchstück. Die vier wichtigsten Charakteristika von Arnims Roman lassen sich jetzt als Bestandteile des Erzählmodells melancholischer Liebe identifizieren. Erstens lässt sich die ungeheure poetische Verschwendungssucht von Arnims Erzähler im Rahmen des Erzählmodells melancholischer Liebe erklären. Diesen Zusammenhang zwischen Wortreichtum und Liebe stellt er während seines inneren Dialogs mit seiner »treue[n] Seele« her:512 Er »spreche am liebsten unter allen in der ganzen Welt« zu ihr, »weil du mich gleich verstehst und alle meine Worte in Liebe mehrest und deutest.« (361) Die Liebe funktioniert als Katalysator zur Sprachvermehrung.513 Was nicht unausweichlich bedeutet, dass die Geliebte selbst anwesend sein muss, sie kann offenbar auch fern und nur im Geiste des melancholisch Liebenden präsent sein. Sich selbst und gleichzeitig der abwesenden Geliebten zugewandt, vermehrt der Erzähler seine Worte selbst. Der Erzähler wird als eine jener Junggesellenmaschinen charakterisiert, die als solitär ihre Aktivitäten statt auf
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Vgl. Gerhard Schmidt-Henkel, Anfang und Wiederkehr, S. 114. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, S. 198. Der Erzähler nimmt auf diese Weise Musils berühmtes Diktum vorweg: »Man muss sich also selbst den Reim darauf bilden, dass Gespräche in der Liebe fast eine größere Rolle spielen als alles andere. Sie ist das Gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit.« Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1984, S. 651.
die »natürliche Fortpflanzung«, auf die poetische Produktion hin ausrichten.514 Die Produktionsmaschinerie läuft im Modus melancholischer Liebe geradezu auf Hochtouren. Der melancholisch Liebende wird von den Bildern überflutet, das Gedächtnis, respektive die Einbildungskraft übernimmt die Macht über ihn.515 Nicht zufällig ist es die Geliebte, welche die Worte des Erzählers mehrt. Das Manische des melancholisch Liebenden findet ihren Ausdruck in seiner Geschwätzigkeit.516 Tatsächlich verfügt Arnims Erzählerfigur offenbar über einen schier unersättlichen poetischen Reichtum. Der Erzähler feiert ein ausschweifendes Fest des Erzählens, um auf diese Weise seinen realen Schmerz vergessen zu machen. Er verprasst seinen geistigen Schatz und verschwendet ungeheure Mengen des ihm zur Verfügung stehenden Erzählmaterials.517 Die Verschwendungssucht zeigt sich im Umfang seines immerhin sechshundertseitigen Romans, sie spiegelt sich in dem vielköpfigen Personal des Romans, das mehr als 70 Figuren umfasst, sie manifestiert sich an den ab- und ausschweifenden Reflexionen des Erzählers und nicht zuletzt in der – nach Meinung der Arnimforschung – »unübersehbaren Anzahl von Einlagen«, von Gedichten, Dramen und Binnenerzählungen, welche in die Rahmenhandlung eingelegt sind. Alle diese Liebestexte sind Teil der Bilderflut, mit welcher der melancholisch Liebende Erzähler überschwemmt wird und die er seinerseits in seinem manischen Mitteilungsbedürfnis an seine Leser weiter erzählt. Als melancholischer Liebesroman ist der »verwildertste Roman der Romantik« mit seinen knapp einhundert Einlagen und seiner revolutionären Form518 in ein kohärentes wie konsistentes Erzählmodell eingebunden. Von einer »Enthierarchisierung der Erzählstimmen« kann im Rahmen des melancholischen Erzählens daher nur bedingt die Rede sein, da der Erzähler mit seiner Verschwendungssucht durchaus kalkuliert seinen Liebesschmerz mit einer Wort- und Geschichtenflut – im Wortsinne – überredet.519 Zweitens lässt sich im Zuge des Erzählmodells melancholischer Liebe – wie zuvor schon getan – das ambivalente Verhältnis des Erzählers gegenüber seinen beiden Protagonisten erklären. Sein Verhältnis geht allerdings über Liebe, Sorge, Eifersucht, Rache, Begehren usw. hinaus. Sowohl Karl als auch Dolores idealisiert er, konfrontiert sie (und sich) dann wieder mit ihrer Realität und erzeugt so das schrecklich-schöne Gefühl, das aus der Unvereinbarkeit von Idealität und Reali-
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Volker Hoffmann, Künstliche Zeugung, S. 5. Martina Wagner-Egelhaaf, Melancholie der Literatur, S. 204. Martina Wagner-Egelhaaf, Melancholie der Literatur, S. 206. George Bataille, Der Begriff der Verausgabung. In: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie, hg. von Gerd Bergfleth, Frankfurt am Main 1985, S. 7–31. Michael Lützeler, Kommentar zur ›Gräfin Dolores‹, S. 730. Mit dem Sprachduktus eines melancholisch Liebenden lassen sich auch Textphänomene wie das repetitive Erzählen erklären. Wenn beispielsweise Karls Ankunft bei Dolores insgesamt in vier Bruchstücke zerlegt und an vier unterschiedlichen Stellen erzählt wird, erinnert diese Wiederholung abgehackter Fragmente an das Stottern des Melancholikers.
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tät entsteht. Aus der melancholischen Liebe erklärt sich damit auch, warum der Roman nicht einfach enden darf: Was für die Figuren eine Katastrophe darstellt, ist im Sinne der Sublimation für den melancholisch liebenden Erzähler ein reines Lebenselixier: Sein Liebesglück besteht darin, weiter zu erzählen. Drittens erklärt sich aus der Poetik melancholischer Liebe die Struktur des changent taft, diese Inszenierung ständiger Oszillation, das Zelebrieren des Sowohlals-auch, die Beharrlichkeit, mit welcher der Roman darauf insistiert, dass man die Inszenierungen des romantischen Liebeskonzept, der Mediologie, des Geschlechterkampfes und nicht zuletzt von Karls Autorschaft so oder so sehen kann. Das changent taft, das den Wechsel zwischen Idealisierung und Realität zum Prinzip erklärt, ist ein Kennzeichen des melancholischen Liebesblicks. Funktionalisieren lässt sich somit vor allem auch der abwechselnd befangene, idealisierende und distanziert-analytische Blick, den der Erzähler auf das romantische Liebeskonzept wirft.520 Durch eine Zäsur vom Erleben abgetrennt, gehört zum Stil des Erzählers die Möglichkeit, alle Ereignisse in Ruhe zu überblicken und sie zu reflektieren. Zwar idealisiert und feiert er ab und an die romantische Liebe, aber vielmehr als das entpuppt sich der melancholisch liebende Erzähler als ein Grübler. Seine Leidenschaft besteht darin, die Liebe schonungslos zu analysieren und ihre bisher verborgenen Mechanismen aufzudecken. Die Skepsis gegenüber der romantischen Liebe, die in Arnims Roman allgegenwärtig ist, ist ein integraler Bestandteil der melancholisch liebenden Erzählhaltung. Damit erklärt sich viertens auch, warum die ›Gräfin Dolores‹ nur noch aus Bruchstücken von Idealbildern besteht. Sie liest die Scherben zerbrochener Ideale zusammen und amalgamiert die disparaten Einzelteile neu. Ihre melancholische Liebesstruktur erweist sie dadurch, dass sie ihre Risse und Bruchstellen offen präsentiert, anstatt sie zu kaschieren. An dieser Stelle zeigt sich ein entscheidender Gegensatz zwischen dem Erzähler und seiner Hauptfigur Karl. Ist Karl die melancholische Struktur seiner Poesie zu keiner Zeit bewusst, weiß der Erzähler nicht nur um die Struktur seiner Dichtung, sondern auch um die Funktionsweise romantischer Liebe. Karl mag der Gewinner im Liebeswettkampf sein, der Erzähler aber ist der reflektiertere Autor, der sich sowohl über die Grundlagen seines Erzählens als auch über die Mechanismen romantischer Liebe im Klaren ist. Damit aber personifiziert der Erzähler, wenn er voller melancholischer Liebe auf das romantische Liebesideal zurückblickt, und zwischen Idealisierungsversuchen und schonungsloser Aufklärung schwankt, eine spätromantische Geistes-
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In diesem Punkt unterscheidet sich Arnims Erzählkonzept von der Poetik empfindsamer Briefromane. Die Erzähler in den polyperspektivischen Liebes- bzw. Briefromanen der Empfindsamkeit mischen selbst unmittelbar und ausgelassen im Liebesreigen mit, der auf der Handlungsebene dargestellt wird. Dort gilt die Devise, die Liebenden selbst noch im größten Überschwang möglichst unmittelbar von ihren Gefühlen schreiben zu lassen. Hingegen berichtet der Erzähler der ›Gräfin Dolores‹ nur in Ausnahmemomenten offen von der eigenen Liebe. In der Hauptsache widmet er sich der Liebe eines anderen.
haltung. Einerseits den romantischen Liebesidealen noch verpflichtet, kann er sie andererseits aber nicht mehr enthusiastisch feiern, da er um die Schwächen und unlösbaren Paradoxien des romantischen Liebeskonzepts weiß. Mit dem Entwurf ihrer melancholisch liebenden Erzählerfigur beantwortet die ›Gräfin Dolores‹ die vielleicht dringlichste Frage, welche sie aufwirft: Was bleibt von der romantischen Liebe angesichts der Probleme, die ihr eingeschrieben sind? Die Antwort des Romans lautet: Es bleibt nur der melancholische Blick zurück! Ein Blick, der um die Schwächen und Grenzen des romantischen Liebesmodells weiß, der das Konzept mangels Alternativen aber nicht verwirft, sondern ihre Paradoxien in eine Romanhandlung umsetzt. Das Erzählmodell melancholischer Liebe etabliert sich so als die angemessene Darstellungsform romantischer Liebe. Und noch eines lässt sich an dieser Stelle festhalten: Betrachtet man die ›Gräfin Dolores‹ als literarische Enzyklopädie, konstituiert sie mit dem Erzählmodell melancholischer Liebe zugleich die typisch (spät)romantische lokale Repräsentationsform des enzyklopädischen Rhizoms (vgl. Kapitel 2.3 der Systematik). 6.2
Noch eine Liebesbeziehung: Der (implizite) Autor und die verpasste Liebesgeschichte
6.2.1 Wahrheitsliebe Der Erzähler unterhält noch eine ganz andere melancholische Liebesbeziehung als die zu seinen beiden Hauptfiguren.521 Sie wird ersichtlich, wenn man die Autorschaft des Erzählers genauer in den Blick nimmt und fragt, wie man sich seine poetische Produktion im Zeichen melancholischer Liebe vorzustellen hat. Eine Antwort entwickelt sich zunächst aus der Tatsache, dass die Trauerrede des Erzählers den Eindruck evoziert, dem Erzählakt sei eine wahre Geschichte vorausgegangen. Der Untertitel des Romans untermauert diese Vorstellung, da er eine »wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein« ankündigt (101). In der ›Gräfin Dolores‹ konstituiert sich somit eine binäre Erzählordnung: Auf der einen Seite steht der Erzähler, ihm gegenüber liegt auf der anderen Seite Dolores’ wahre Lebensgeschichte, die vermeintlich vollkommen unabhängig von der Erzählinstanz verlaufen ist. Das Erzählsubjekt und sein Erzählobjekt sind allein über seine nachträgliche Erinnerung verbunden, welche die Brücke in die Vergangenheit schlägt. Wenn die inventio aus einem Erinnerungsakt besteht, inszeniert sich das Erzählen (narration) als ein Akt der Repräsentation, der als solcher die Authentizität des Erzählten (der histoire) verspricht.522 Das Erzählte seinerseits ist folglich als Ab521 522
Diese Liebesform hat die Literaturwissenschaft meines Wissens weder systematisch noch im Zuge einer Textanalyse ausbuchstabiert. Damit schließt Arnim an das um 1800 weithin diskutierte Problem ästhetischer Repräsentation an. Vgl. Eckhard Lobsien, Darstellung und Wiederholung: Zur Phänomenologie poetischer Repräsentation (Paradise Lost). In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.),
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bild, als schriftliche repraesentatio 523 eines fiktiven Urbildes zu lesen. Der Roman propagiert ein Erzählmodell, das die Illusion einer exakten Rekonstruktion pflegt und im Sinne der perfectio die Idee einer vollständigen Wiedergabe einschließt. Das Wahrheits- und Authentizitätspostulat verbindet Arnims Poetik mit der des empfindsamen Liebesromans:524 Der melancholisch liebende Erzähler wendet sich von der romantischen »Poesie des Herzens« eines Novalis’ oder Brentano ab, die sich von jedwedem Modell der Wirklichkeit abgekoppelt hatte, und greift zurück auf die »Prosa der Wirklichkeit«, die seit Karl Philipp Moritz und Goethe der Gegenstand des Romans war. Das Erzählarrangement des Romans schließt erneut an die Tradition der Aufklärung an.525 Zugleich erweist sich dieses Schreibkonzept des Erzählers als identisch mit dem seines Protagonisten. Der Roman verfolgt somit zunächst dasselbe hehre Ziel, dem sich auch der Erlebnislyriker Karl verschrieben hat: Beide eifern dem Authentizitätspostulat nach (vgl. Kapitel 5 dieser Studie). Was diese Repräsentationsästhetik mit der Liebe zu tun hat, zeigt treffsicher ein Apercu David E. Wellberys, der in seinem Aufsatz ›Das Gesetz der Schönheit‹ Lessings Ästhetik der Repräsentation nachgeht. Wellbery definiert, dass die »gute Repräsentation eine Jagd [ist], die mit dem einfachen Zeichen des Bogens ihre Beute – die Wahrheit – (vor-)stellt und trifft«.526 In Korrelation mit Arnims Erzählarrangement verweist Wellberys Bogenmetapher alles andere als zufällig darauf, dass derjenige, der dem Tatsachenanspruch der Geschichtsschreibung folgt und sich auf die Suche nach der wahren Geschichte begibt, immer ein Nachfolger des Amor ist. Wie Eros zielt daher auch der Erzähler der ›Gräfin Dolores‹ mit Pfeil und Bogen auf sein Jagdopfer: die wahre Geschichte. Die Autorfigur verhält sich in Bezug auf diese wie der Liebende gegenüber seiner Geliebten. Wendet sich der Erzähler der wahren Geschichte zu, gleicht diese Zuwendung einem Liebesakt.527 Das Erzählen
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Was heißt »Darstellen«?, S. 119–138, hier S. 119. Zur Wiederholung als fundamentales poetisches Prinzip vgl. auch Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 7f. sowie Wolfram Groddeck, Wiederholen. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 177–192. David Wellbery, Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation. In: Christiaan L. Hart Nibbrig, »Was heißt Darstellen?«, S. 175–204, hier S. 176. Das authentische Erzählen rekurriert auf eine lange Poetiktradition, die bis zu Platons und Aristoteles Diskurs über die »Wahrheit« und Wahrhaftigkeit der Poesie zurückreicht. Vgl. hierzu paradigmatisch Hannelore Schlaffer, Mutterbilder, Marmorbilder. Die Mythisierung der Liebe in der Romantik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 36 (1986), S. 304–319, hier S. 311. David Wellbery, Das Gesetz der Schönheit, S. 184. Selbst das Stufenmodell der klassischen Rhetorik bietet insgesamt drei Momente an, an denen sich der Redner einem Objekt zuwendet. Im Rahmen der inventio wendet er sich erstmals seinem Stoff zu, bevor er diesen Akt zum zweiten Mal im Rahmen der memoria wiederholt. Als Zuwendung anderer Art ist die actio zu verstehen, wenn sich der Redner seinen Zuhörern widmet. Der Redeakt korrespondiert mit dem Erzählakt
verläuft in Analogie zum Lieben. Wahrheitsliebe verbindet den Erzähler mit seinem Erzählstoff.528 Die »wahre Geschichte der Gräfin Dolores« zu erzählen, ist das erklärte Ziel des Romans, und zunächst tut dieser auch alles dafür, den Erzähler als erfolgreichen Wahrheitsjäger zu figurieren – als Amor, welcher der Wahrheit mitten ins Herz trifft. Wie gekonnt die künstlerischen Mittel des Textes darauf abzielen, seine Künstlichkeit zu verschleiern, wie geschickt sich der Text illusionsfördernder Mittel (also der Referenzillusion) bedient, um seiner Geschichte das Echtheitszertifikat zu verleihen, beweist einmal mehr das Eingangsbild des Romans. Wie ein Live-Berichterstatter hält der Erzähler den Blick auf »das fürstliche Schloß und de(n) Palast des Grafen P ...« fest, »zwei große hervorragende Gebäude von ganz verschiedener Bauart und Umgebung« (101). Ihr Bild entspricht exakt der Art wie sie »dem Reisenden« vor »einer kleinen Residenzstadt des südlichen Deutschlands erscheinen.« (101) Als akribischem Beobachter »alles Einzelnen« (103) entgeht dem Erzähler nicht das kleinste Detail des Urbildes, das den Wahrheitsgehalt schmälern könnte. Dieser Eindruck entsteht zunächst mit der Hilfe einer geschickt eingesetzten Zoomtechnik, mit der die Beschreibung imitiert, wie sich ein Reisender den beiden Schlössern Schritt für Schritt nähert. Der erste Eindruck – »erscheinen dem Reisenden [...] zwei große hervorragende Gebäude« – hält zunächst grob die topografische Lage fest. Es folgt – so der erste Schritt des Zooms – der genauere äußerliche Vergleich der beiden Schlösser (Z. 3–23), welcher zugleich festhält in welcher Beziehung die beiden Gebäude zu einander stehen: sie sind »Nebenbuhler« (Z. 14). Anschließend beschreibt die Formel »sobald sich die Reisenden beiden Gebäuden hinlänglich genähert haben« (Z. 23) den zweiten Schritt des Zooms. Mit der Nähe verengt sich der Fokus: Statt beide Schlösser gemeinsam zu überblicken, betrachtet der Reisende jetzt ein Schloss nach dem anderen im Detail. Beide gemeinsam bekommt er aufgrund der Nähe nicht mehr in den Blick: »Auch scheint bei näherer Besichtigung alles an diesem Palaste den zerstörenden Elementen überlassen« (104, Z. 14).
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des Romans. Diese Analogie zwischen Erinnerungs-, Erzähl- und Liebesdiskurs bildet das Gerüst der poetologischen Reflexion. Zur Wahrheitsliebe in der Aufklärung vgl. Stefan Matuschek, Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse, Tübingen 1991, S. 159 f: Matuschek zitiert unter anderem Christian Wolff: »Freude und Vernügen über uns noch nicht erkandte Wahrheiten zeigen einen grossen Eiffer für die Aufnahme der Wissenschafften an. Denn man siehet daraus eine grosse Liebe zur Wahrheit: der Eiffer aber entstehet aus der Liebe. Wer die Wahrheit liebet, trachtet darnach, wie er viele erkennen kann, gleich wie ein Liebhaber des Geldes sich eiffrig bezeiget Geld zu erwerben.« Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beforderung ihrer Glückseeligkeit. Die vierte Auflage hin und wieder vermehret, Frankfurt am Main und Leipzig 1733 (Neudruck mit einer Einleitung von H. W. Arndt, Hildesheim u. New York 1976), Christian Wolff, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 4, Seite 229, Paragraph 349.
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Darüber hinaus vollzieht die Erzählung eine Art Kameraschwenk, wenn sie sich erst dem »schwarzen Schloss«, dann dessen »Gärtchen in den Turmecken« und anschließend dem »leichten italienischen Palast« zuwendet, bevor er abschließend über dessen »Lustgarten« schweift. Auf diese Weise entsteht – ut pictura poeisis – das Bild der beiden Schlösser. Die Ekphrasis des Romananfangs imitiert den Gestus eines Reiseführers. Er könnte einem Kunstführer »Süddeutsche Schlösserlandschaft« oder einem einschlägigen Reisetagebuch entnommen sein.529 Diese Rhetorik des Reiseführers führt den imaginären Leser nicht nur sorgfältig wie behutsam in die erzählte Welt ein, sie vermittelt ihm darüber hinaus den Eindruck, er könne noch im Moment des Lesens spontan zu einer Reise nach Süddeutschland aufbrechen, dort die beiden Schlösser besichtigen und sich der Referenz der Beschreibung vergewissern. Der Erzähler fördert die Illusion, der Leser könne das Beschriebene selbst erleben und nicht nur lesen, was ein allwissender Erzähler beschreibt. Diese Perfektionierung des Bildentwurfes macht den Zeichencharakter der Beschreibung vergessen, sie zielt auf eine Denotation der Zeichen ab. Um die Authentizität des Geschilderten weiter zu untermauern, greift die ›Gräfin Dolores‹ zudem erneut auf die Ursprungslegende der Mnemotechnik zurück. Bereits Simonides’ Geschick gibt einschlägige Auskunft über das Verhältnis eines Erzählers (oder Dichters) zu den von ihm zu erinnernden Ereignissen. In der Legende garantiert die Augenzeugenschaft des Dichters, dass Urbild und Abbild übereinstimmen. Simonides kann die Toten unter den Trümmern des eingestürzten Hauses nur identifizieren, weil er als einziger Überlebender des vorausgegangen Unglücks mit eigenen Augen die ursprüngliche Sitzordnung der Festgäste gesehen hat.530 Folgerichtig heißt für Simonides und für alle seine potentiellen Nachfolger »Erinnern« ausdrücklich: »Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Umsturz aus Leben in Tod. [meine Hervorhebung, C. M.]«531 Arnims Erzähler handelt im Namen der simonideschen Gedächtniskunst,532 wenn er prompt in seiner erzählten Welt 529 530
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Thomas E. Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans. Literarische Reaktionen auf die Erfahrung eines kulturellen Wandels, Tübingen 1989, S. 72. So heißt es in der Ursprungslegende des Simonides: »Als die Verwandten sie bestatten wollten und die Opfer in keiner Weise voneinander unterscheiden konnten, soll Simonides aufgrund der Tatsache, daß er sich daran erinnern konnte, an welcher Stelle der betreffende jeweils gelegen hatte, Hinweise für die Bestattung jedes einzelnen gegeben haben. Durch diesen Vorfall aufmerksam geworden, soll er damals herausgefunden haben, daß es vor allem die Anordnung sei, die zur Erhellung der Erinnerung beitrage.«. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 24. Dass im Zuge des mnemotischen Prozesses das Gewesene durch Bilder ersetzt wird, gilt nicht erst seit dem Ursprungsmythos der Mnemotechnik, sondern schon seit Aristoteles – als Primat der Erinnerungsforschung: »Das Gewesene wird zum Zeichen/zum Bild, das in die Wachstafel der Erinnerung/die Plätze eingetragen wird. Damit ist die Gedächtnishandlung als reine Bildhandlung Vertretungshandlung, Verdopplung.« Dem Dichter stehen dafür die Tropen, die Allegorien und Metaphern zur Verfügung. Die semiotische wie die semantische Eigenschaft der loci entspricht der des sprachlichen Zeichens.
auftritt und – simonidesgleich – mit eigenen Augen sieht, was er berichtet. Als Augenzeuge beglaubigt er, dass seine spätere Schilderung der Wahrheit entspricht (vgl. S. 105f. und S. 361). Der Wendepunkt von einer heterodiegetischen zu einer autodiegetischen Erzählung suggeriert zugleich, der Erzähler sei von Beginn seiner erzählten Geschichte an vor Ort gewesen. Als einziger könne er diese Geschichte »ab ovo« erzählen,533 und somit die gesamte Wahrheit von allem Anfang an überblicken.534 Damit sich dieser Eindruck einer perfekten Repräsentation im Laufe des Erzählens nicht verflüchtigt, versichert der Erzähler in unregelmäßigen Abständen, die »wahre Geschichte der Gräfin Dolores« so wiederzugeben »wie ich sie empfangen habe, einzig besorgt, sie nicht zu entstellen.«535 (338) So weit führt der Erzähler ein erfülltes Wahrheitsliebe-Leben. Amors Pfeil trifft der Wahrheit mitten ins Herz. 6.2.2 Die Verwischung des Ursprungs: grundlos glücklich Doch das Konzept der repraesentatio, die vermeintliche Treffsicherheit des Amors, bildet nur die eine Seite der Produktionsästhetik, die in Arnims Roman dargestellt wird. Der Roman ruft den simonideschen Topos der Augenzeugenschaft auf, um ihn im gleichen Atemzug zu durchkreuzen. Bereits mit seiner ersten Handlung lässt der Erzähler sein Wahrheitspostulat hinter sich. Wenn er sich brüsk von seiner erzählten Welt und seinen Figuren abwendet (»wendete ich mich [...] fort« (105)), verstößt er grundsätzlich gegen das Prinzip der Augenzeugenschaft. Wer wegschaut, kann sich später auch nicht erinnern. Beachtet man außerdem, dass Dolores’ verschlossener Palast deutlich auf die Villa des Adligen anspielt, die in der Simonideslegende einstürzt, und dass das Haus seinerseits als topische Metapher der memoria gilt, wird deutlich, auf was die Eingangsszene hinausläuft: auf den entscheidenden Unterschied zwischen Arnims Erzähler und seinem legendären Vorbild Simonides. Letzterer tritt zuerst als Festredner im Palast auf, weil er sich dann von der Festge-
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Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 101f. Der allwissende Erzähler ist in der ›Gräfin Dolores‹ für die auktoriale Objektivation zuständig. Er hat den vollständigen Überblick über die vergangenen Ereignisse, kommentiert sie, ordnet sie und beglaubigt ihre Authentizität. Dieser Eindruck verstärkt die Kohärenz und Konsistenz ihrer erzählten Geschichte. Daran ändern auch die in die Rahmenerzählung eingelassenen Erzählungen, Gedichte und Dramen nichts. Sie alle sind unverzichtbarer Bestandteil einer vollständigen Wiedergabe. Soll das Abbild perfekt sein, darf keine einzige in Karls und Dolores’ Leben erzählte Geschichte fehlen. Während sie erzählt werden, bleibt im Hintergrund stets die Stimme des extradiegetischen Erzählers präsent, der die Stimmen der jeweils intradiegetischen Erzähler nur imitiert, der ihre Erzählungen zitiert, zusammenfasst, ordnet, sie einfügt und so nie die Fäden des Erzählens aus seinen Händen gibt. Der Roman inszeniert die traditionell auktorial verbürgte Sinngarantie und erzählt im Modus der objektiven Erkenntnis. So kündigt der Erzähler eine eingeschobene Erzählung mit den Worten an: »die wir der Vollständigkeit wegen hier beifügen.« (424).
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sellschaft abwendet und sie einen Augenblick vor der Katastrophe verlässt, überlebt er diese als einziger. Anschließend identifiziert er mit Hilfe seiner mnemotechnischen Erinnerungsgabe die Toten unter den Trümmern. Arnims Erzähler hingegen kehrt sich ab, bevor er überhaupt etwas erlebt. Er wird erst gar nicht zum Feiern in den Palast eingelassen. Ihm bleibt der Eintritt in seinen eigenen Erinnerungsraum versperrt. Der intertextuelle Dialog mit der Ursprungslegende der Mnemotechnik hebt hervor, dass der Erzähler nicht nur die Gräfin Dolores (als Figur), sondern darüber hinaus auch die »wahre Geschichte der Gräfin Dolores« verpasst.536 Dem Erinnerungskünstler entgeht die gesamte Liebesgeschichte der Gräfin. Seine Augenzeugenschaft beschränkt sich nur auf die extrem kurzen Szenen, in denen er selbst auftritt. Diese sind aber für Dolores und Karl absolut irrelevant, da sie deren Geschichte nicht berühren. Entgegen seinen Beteuerungen kann der Erzähler kein eigenes, unmittelbares Zeugnis der Ereignisse ablegen und damit selbst für die Authentizität des Erzählten bürgen. Diese Tatsache unterminiert zwar nicht die Wahrheitsliebe des Erzählers, stellt aber den Wahrheitsgehalt seiner Erzählung gezielt in Frage. Der Roman führt vor, dass ihm die Beglaubigungsstrategien realistischen Erzählens zwar bekannt sind und er sie sogar beherrscht, aber dennoch gezielt ausschlägt. Offensichtlich legt er Wert darauf, dass sein Erzähler nur einen mittelbaren Zugang zu seinem Erzählstoff hat. Indem der Roman auf die Beglaubigungsfunktion der Augenzeugenschaft verzichtet, fordert er vehement die Frage heraus, wie der Erzähler überhaupt von der Geschichte der Gräfin Dolores erfährt. Und tatsächlich bleibt der Erzähler die Antwort auf diese, für seine Glaubwürdigkeit so entscheidende Frage nicht schuldig. Gewissenhaft vollzieht er am Ende seines Erzählprojekts nach, wie ihn die Informationen über die »wahre Geschichte« erreicht haben und rekonstruiert eine Art Genealogie seines Erzählmaterials. In auffälliger, weil fast wörtlicher Wiederholung, betont der Erzähler zweimal kurz hintereinander: dem Prinz von Palagonien »verdanken wir die meisten Nachrichten von dieser Geschichte.«537 (667 und 668). Erstens kennt der Erzähler seine »wahre Geschichte« also selbst nur vom Hörensagen, und zweitens bezieht er sein Wissen aus einer – um es vorsichtig zu formulieren – zumindest eigenwilligen Quelle.538 Anstatt die zahlreichen Authentizitäts-
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Nicola Kaminski weist in einem anderen Kontext auf den homonymen Gebrauch der »Gräfin Dolores« hin. Vgl. Dies., Kreuz-Gänge, S. 267ff.: Sie schlägt vor, die Doloresfigur auf drei Ebenen (267), deren Interaktion den Text zum changieren bringt, zu entziffern: a) Als Figur auf der Ebene der histoire, b) als diskursives Produkt des Erzählers, c) Dolores erscheint auch als »Konstituens der Rezeptionsebene des Romans, und zwar gleich doppelt, in der Position des Buches und in der der Leserin« (269), als Zuhörerin im Roman, en-abyme als exemplarisches »armes Fräulein« (Titel) (269). Vgl. zum Prinz von Palagonien auch Nikola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 294f. Im Zuge dieser Quellenkunde ist es erneut von Bedeutung, dass alle Briefe von Karl und Dolores verbrannt sind. Es gibt keine schriftlichen Dokumente, welche eine Überlieferung des Gefühlslebens möglich machen könnten. Erschwert wird die authentische Repräsentation auch noch durch den enormen zeitlichen Abstand, der beispielsweise
schwüre des Erzählers zu stärken, führt der Quellennachweis diesen Anspruch ad absurdum. Die Glaubwürdigkeit des Prinzen von Palagonien gerät bereits dadurch ins Wanken, dass er ebenfalls kein Augenzeuge der erzählten Ereignisse ist. Erst an Dolores’ Todestag tritt er in direkten Kontakt mit den Mitgliedern der gräflichen Familie (vgl. 661). Dolores’ eigentliche Lebens- und Liebesgeschichte hat sich da schon längst ereignet. Der Erzähler untergräbt die Glaubwürdigkeit des Prinzen weiter, indem er ihn als eigenwilligen Charakter beschreibt. Immerhin hat der Prinz ein Schloss erbaut, das »gegen den Geschmack, gegen die Bequemlichkeit, gegen jede Art Kunstsinn verstößt.« (566) Zwar weiß man, dass er aus dem Geschlecht Stauffenberg stammt, aber seine Herkunft ist mütterlicherseits (!) unergründlich, darüber erzählt man sich Sagen (568f.). Sonst weiß man aber nichts von ihm, außer dass der Sonderling allen anderen Figuren »Rätsel aufgibt« (568), im »Ruf des Wahnsinns« steht (572), im »Gerede [ist], daß er einen nächtlichen Umgang mit einem Meerweib habe« (572) oder »in geheimer Verbindung stehe mit der berufenen Tuneser Seeräuberkönigin Onanide« (ebd). Arnims Roman löst das Wunderbare dieser sagenhaften Figur nicht auf. Er enttarnt das Unerklärliche nicht als eine Illusion, die mit Hilfe der Vernunft zu klären wäre. Der Leser bleibt wie die Figuren im Ungewissen. So korrespondiert die »unergründliche« Abstammungsgeschichte des Prinzen von Palagonien gezielt mit der Genealogie der Doloresgeschichte, deren Herkunft ebenfalls unklar bleibt, wenn ausgerechnet der Prinz Informant des Erzähler ist. Die eigenartige Zwitterstellung des Prinz von Palagonien manifestiert sich noch einmal, weil er samt seines Schlossbaus zeitgenössischen Lesern aus Goethes ›Italienischer Reise‹ bekannt war.539 Da der Prinz in Goethes Reisebericht auftritt, führt er in Arnims Roman ein Doppelleben als reale Person und als literarische Figur. Er personifiziert den Grenzgang zwischen faktualem und fiktionalem Diskurs. Den Prinzen von Palagonien als Informationsquelle anzugeben, bedeutet, die Authentizität der erzählten Geschichte zu behaupten, und diese Behauptung zugleich durchzustreichen. Wer immer der Prinz auch ist, Arnims Konstruktion impliziert, dass die Informationsquelle des Erzählers ihre »Nachrichten« über Dolores’ Liebesleben von jemand anderem erhalten haben muss. Als seine Quellen bleiben nur Karl und/oder Klelia. Klelia aber verfügt nicht gerade über Insiderinformationen, was die Liebesgeschichte ihrer Schwester angeht. Zum Zeitpunkt von Dolores’ Tod lebt sie schon seit 15 Jahren in Italien, über Jahre hinweg hat sie nur einen unregelmäßigen Briefverkehr mit ihrer Schwester geführt. Was sich während ihrer Abwesenheit zwischen
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zwischen der Liebesinitiation des Paares und dem Zeitpunkt des Erzählens liegt. Mindestens 17 ½ Jahre trennen die beiden – eine zeitliche Differenz, die, wenn auch nicht grundsätzlich gegen, so doch zumindest nicht für eine authentische Wiedergabe spricht. Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. In: Erich Trunz (Hg.), Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 11, Autobiographische Schriften III. Textkritisch durchgesehen v. Erich Trunz. Kommentiert v. Herbert von Einen, München 1998, S. 242ff., 247f. u. 250f.
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Dolores und Karl in Deutschland abgespielt hat, kann sie nur aus nachträglichen Erzählungen anderer wissen. Bleibt noch Karl. Und tatsächlich betont der Erzähler, dass der Prinz und Karl sich miteinander anfreunden und sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten anvertrauen: Es war das erste Unternehmen des unentschlossenen Prinzen, als er ihm seine Freundschaft so offen, so gutmütig antrug, daß der Graf sich ihm ganz erschlossen fühlte. Die beiden unglücklichen Freunde erheiterten einander mit der Erzählung ihrer Schicksale […]. (672)
Allerdings gewähren auch Karls Erinnerungen keinen vollständigen Überblick über alle Ereignisse, die im Roman geschildert werden. Karl weiß, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen, wie die beiden Gräfinnen vor seiner Ankunft bei ihrem Schloss gelebt haben. Aufgrund seiner zahlreichen Reisen, seines von Dolores separierten Lebens, vor allem aber aufgrund seiner eingeschränkten und einseitigen Wahrnehmung können seine Informationen nur lückenhaft sein. Die Einzelheiten von Dolores’ Ehebruch – immerhin das zentrale Thema des Romans – kennt er überhaupt nicht. Nur Dolores kann ihm davon erzählt haben. Gebeichtet hat sie ihre Geschichte allerdings ausdrücklich (nur) dem alten Bedienten (446). Dieses, alles andere als glaubwürdige Kommunikationsmedium müsste sein Wissen dann seinerseits an Karl weiter gegeben haben. Mindestens (!) drei Mal muss die Geschichte des Ehebruchs also erzählt werden, so der Umkehrschluss aus dieser fiktiven Konstruktion, bevor sie der Erzähler im Zuge seiner »imaginären Kommunikation« dem Leser mitteilt.540 Die kaskadenhafte Struktur der Filiation streicht den auktorial behaupteten Tatsachenanspruch des Erzählers endgültig aus. Die Multiplikation der Erzählinstanzen entzieht der erzählten Geschichte ihren Ursprung und lässt eine exakte Überlieferung des Erzählten unmöglich erscheinen. Oder wie Renate Lachmann pointiert zusammenfasst: Texte die im Motiv der Dopplung von Personen und Namen grundlegende Repräsentations- und Informationsprämissen problematisieren, rufen immer auch die Frage nach der semiotischen Doublierung ihrer textuellen Strukturen auf den Plan.541
Nach diesem Prinzip verfährt die ›Gräfin Dolores‹. Sie versetzt ihre Repräsentations- und Informationsprämissen gezielt ins Zwielicht und verwischt die Herkunft ihres Erzählstoffes. Die Filiation destruiert nicht nur die eine Vorstellung, wie eine
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Auf den Gipfel wird dieses Prinzip der Filiation bei der Erzählung von Karls Ankunft getrieben. Nimmt man die Konstruktion des Romans ernst, muss diese mindestens sechs Instanzen durchlaufen, um den Erzähler zu erreichen: Karl erzählt dem Wirt, der dem alten Bedienten, der seinerseits Dolores und Klelia, die erzählen Karl oder dem Prinzen von Palagonien davon, wie sie die Nachricht erfahren haben, der übermittelt die Nachricht seinerseits der Erzählerfigur. Renate Lachmann, Literatur und Gedächtnis, S. 27.
Liebesgeschichte entsteht,542 sie konstruiert zugleich eine andere: Abstrakt gesagt, verortet sie die Genese von Literatur im kulturellen Tradierungsprozess. Sie beschwört das Bild kultureller Produktion herauf.543 Indem sie vorführt, dass ihre Liebesgeschichte entstanden ist, während sie von Mund zu Mund übertragen wurde, erschließt sie eine Quelle der Poesie. Die Konstruktion einer opaken, betont vagen Tradierungskaskade impliziert die Vorstellung, dass sich die Geschichte der ›Gräfin Dolores‹, während sie von Erzähler zu Erzähler weitergegeben wurde, stetig verändert und auf diese Weise konstituiert hat. Wenn Dolores ihr Schicksal ihrem alten Bedienten beichtet, der es ihrem Mann erzählt, Karl es wiederum dem Prinzen und dieser dem Erzähler schildert, verläuft diese Weitergabe analog zum Kinderspiel »Stille Post«. Der Roman ruft die Vorstellung auf, die Geschichte sei von Station zu Station variiert, neu ausgeschmückt, gekürzt, um Pointen bereichert, unterschiedlich akzentuiert, etc. worden. Er evoziert den Eindruck, die Struktur der ›Gräfin Dolores‹ habe sich auf ihrem Weg durch den paradigmatisch gegliederten Raum mündlicher Tradierung schrittweise verändert. Mit der mündlichen Übertragung der Geschichte(n) von Figur zu Figur entwirft Arnims Roman das Modell eines »kulturellen Gedächtnisses«,544 durch dessen Kommunikationskanäle Geschichten geschleust werden. Im Fluss mündlicher Tradierung verortet der Roman zugleich aber auch einen Akt der Autorschaft.545 Die schrittweise Transformation im Volksmund, die sich gegen die schriftliche Überlieferung abgrenzt, ist ein kreativer Prozess; dort ist der Gestaltungswille einzelner Erzähler wirksam, noch bevor jemand die Geschichte auf- und festschreibt. Im Gedächtnis bleibt, was die Gemeinschaft der Zuhörer und Erzähler für wichtig erachtet, es findet also eine Selektion statt. Außerdem können die einzelnen Elemente jeweils unterschiedlich kombiniert werden, und jeder Erzähler wird wohl mit Hilfe seiner Einbildungskraft noch so dieses und jenes ergänzen. Schon der Erzähler kann nicht mehr rekonstruieren, wer, was, wann gesagt hat. Die Geschichte
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Nämlich durch eigene Erlebnisse oder genaue Beobachtung oder zumindest auf der Grundlage von gut gesicherten Informationen eines direkt Beteiligten. Vgl. zu diesen Prozessen Stephen Greenblatt, Resonanz und Staunen, S. 7f. Aleida und Jan Assmann, Nachwort. Schrift und Gedächtnis. In: Dies. und Christof Hardmeier (Hg), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1998, S. 265–284. Dieses Prinzip poetischer Produktion zu inszenieren, erscheint in Arnims späteren Erzähltexten geradezu als eine Obsession des Autors. Arnim verwendet sie in einer Großzahl seiner Erzählungen. In der 1812 erschienenen Novellensammlung prägt es beispielsweise die ›Isabella von Ägypten‹ und ›Melück Maria Blainville‹. Diese Poetik des Volksmundes, der Geschichten tradiert, indem er sie weiterschreibt und der zugleich erlaubt, sie im Schreibakt noch einmal zu verändern, hebt auch Arnims Vorwort zu ›Des Knaben Wunderhorn‹ hervor. Von Graevenitz hat zudem gezeigt, dass diese Produktionsästhetik auch das Zusammenspiel von Arnims journalistischen und literarischen Arbeiten prägt. Vgl. Gerhart von Graevenitz, Mythos, dort: Die »romantische« Überlieferung: Deutsche Mythologie im europäischen Zusammenhang, S. 209–235.
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der Gräfin Dolores muss nur irgendwie und irgendwann erzählt worden sein, damit sie den Erzähler erreichen kann. Als sie aber beim Erzähler ankommt, weist sie bereits den Status und die Struktur eines Mythos’ auf.546 Sie ist ein »sekundäres semiologisches System«, das vollkommen in einer Ordnung von Zeichen aufgeht. Die Geschichte der Gräfin Dolores ist eine mythische Rede, die den Eindruck von Tiefe produziert. Ihre Symbolbedeutung wird nie bis zum Grund gewusst. Als Geschichte, die keinen Ursprung hat, auch wenn in ihr ein historischer Kern steckt, ist sie dem Ursprung entronnen. Deshalb hält man sie zwar für zweifelhaft, aber dennoch für überlieferungswert.547 Wenn die Geschichte der Gräfin Dolores eine Wahrheit in sich trägt, dann ist es die eines Mythos. Auf diese Wahrheitsform kommt es dem Roman offensichtlich an. Doch Arnims Roman konzipiert an dieser Stelle nicht nur eine bestimmte Form kultureller Autorschaft und einen mythologischen Wahrheitsbegriff, sondern er erschließt darüber hinaus auch ein weiteres Lustprinzip. Die gesamte Erzählkonstruktion schließt nämlich an eine spezifische Tradition an, wie man von Liebe erzählt. Sie verweist intertextuell auf Platons ›Symposion‹. Apollodor erzählt dort von einem Symposion, bei dem er selbst nicht zugegen war, sondern das er nur vom Hörensagen kennt. Das Gastmahl habe viele Jahre zuvor stattgefunden, da sei er nur ein Kind gewesen. Er selbst habe nicht einmal von Sokrates selbst von dem Gastmahl, sondern von Aristodemes davon erfahren, der damals ein glühender Verehrer von Sokrates gewesen sei (usw). Gerhard Neumann zeigt sich von dieser Struktur »höchster Unverbürgtheit« so beeindruckt, dass er folgert: »Es wird wohl in der Weltliteratur keine Geschichte geben, die dem, was sie zu berichten hat, so viele mögliche Filter vorschiebt.«548 Doch, es gibt so einen Roman. Arnims ›Gräfin Dolores‹ zitiert und überbietet die platonische Form unverbürgten Erzählens. Inwiefern Arnims Roman damit zugleich eine spezifische Art adaptiert, Liebe zu erzählen, zeigt Neumanns Lektüre von Platons Text: »Sollte man nicht fast denken, bei dem Lob dieses Gottes Eros, von dem da gesprochen wird, gehe es um die eine Art Geheimlehre – von der öffentlich gar nicht gesprochen werden kann? Und die
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Manfred Frank: Die Dichtung als »Neue Mythologie«. In: Karl Heinz-Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt am Main 1983, S. 15–40. Zum Mythos als »sekundäres semiologisches System. Vgl. Roland Barthes, Elemente der Semiologie, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1983, S. 75–78. Zur Rückbindekraft des Mythos’ zum Ursprung und zu seinem Entronnensein vom Ursprung vgl. Klaus Heinrich, Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte, darin insb.: Zur Funktion der Genealogie im Mythos [1963], Basel, Frankfurt am Main 1992, S. 11– 26. Der Mythos hat sich in die »sekundäre Ordnung der Zeichen« aufgelöst, er besteht nur noch aus (mehr oder weniger tradierten) Zeichen, verspricht aber eine höhere Wahrheit. Roland Barthes, Mythen des Alltags. Übersetzt aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 1985, S. 92f. So besteht auch die wahre Geschichte der ›Gräfin Dolores‹ nur aus einer Flut von Bildern. Vgl. Gerhard Neumann, Lektüren der Liebe, S. 31.
in dem Erzählen des Erzählens verborgen bleibt?« Das sollte man, und zwar sowohl bei Platons ›Symposion‹ als auch in Arnims Roman. Auch die ›Gräfin Dolores‹ umkreist und hütet ja zugleich ihre erotischen Geheimnisse. Deshalb trifft auch Neumanns Folgerung auf beide Texte zu: Das Sprechen über das Erzählen von Liebe, so könnte man demgemäß annehmen, ist eigentlich nichts anderes als Eros selbst: Im Strömen der Rede, die sich seiner zu bemächtigen sucht, ist er, als Abwesender immer schon Gegenwart, und nur in ihr. Es ist das Hören-Sagen, in dem er lebt, es ist der Leseakt der Überlieferung, auf den es beim Verstehen der Liebe ankommt.549
Im Zuge mündlicher Übertragung verschränken sich Autorschaft und Liebe ineinander. Auf diese Erotik im Erzählen legt es Arnims Liebesroman an. Er inszeniert die ›Gräfin Dolores‹ als ein erotisches Geheimnis, deren Lehre, deren Liebeswahrheit, im Sprechen über das Erzählen von Liebe verborgen liegt. 6.2.3 Autorschaft: Mit Pfeil und Bogen im Labyrinth der Texte Obwohl das Konzept der Augenzeugenschaft, das mit seiner »vernünftigen Beobachtung«, seiner authentischen Wiedergabe im Dienst des Logos steht, gegen seinen Vorgänger, den Mythos, ausgespielt wird, entschließt sich der Erzähler, die Geschichte der Gräfin Dolores seinerseits zu tradieren, indem er sie wieder und weiter erzählt.550 Um sich den Verlauf seiner poetischen Produktion vor Augen zu rufen, muss man sich den Erzähler als Amors Nachfolger vorstellen, der sich aus Wahrheitsliebe mit seinem Bogen auf die Jagd begibt, um die »wahre Geschichte der ›Gräfin Dolores‹« zu rekonstruieren. Deren Fährte führt ihn aber mitten durch das undurchdringliche Gestrüpp der vor ihm erzählten Doloresgeschichten. Um seine Begierde nach der Originalgeschichte zu stillen, muss er sich durch das erotische Gewirr der Stimmen, muss er sich durch das Material seiner erzählenden Vorgänger arbeiten. Seinem Produktionsakt geht die Lektüre der zuvor tradierten Doloresgeschichten voraus. Die poetische Produktion speist sich aus der Lektüre, aus dem Zuhören, mit dem sich der Erzähler in den Informationsfluss einschleust. Sein kreativer Prozess, seine inventio, setzt mit einer Lektüre ein. Diesen Produktionsakt und seine Folgen stellt einmal mehr die selbstreflexive Anfangsszene des Romans in einer treffenden Metapher dar. Dort steht der Erzähler vor einem Schnörkel eines Buxbaums, der auf dem großen Platze hinter dem Palaste, wie eine von der Hand des Schicksals halbausgewischten bedeutende Schrift, den Reisenden lang rätseln lässt. (105)
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Gerhard Neumann, Lektüren der Liebe, S. 31f. Zum Mythos als Vorgänger des Logos wie zur Frage nach dem Ursprung vgl. Emil Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München 2007, S. 24.
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Dem Wunsch, das Buchsbaumrätsel zu lösen, entspricht die Begierde des lesenden Erzählers, die authentische, wahre »Ursprungsgeschichte« aufzufinden. Tatsächlich gelingt es ihm, die halbausgewischte, im Laufe der Zeit verwachsene Schrift mit der Hilfe einiger anwesender Kinder zu entziffern. Der Erzähler erfährt, dass sich hinter der Rätselschrift die Anfangsbuchstaben von Dolores’ und Klelias Eltern verbergen. Des Rätsels Lösung verweist also über den Rahmen der eigentlichen Liebesgeschichte hinaus auf den genealogischen Ursprung der Gräfin Dolores/›Gräfin Dolores‹ (in ihrer Doppelrolle als Figur und Erzählung). Dieser Blickrichtung zur arché folgt der Erzähler unmittelbar nach seiner Einleitung, indem er das Schicksal von Dolores’ Eltern nachträgt (106–114). Der Vater, Hektor, weilt seit seiner Flucht aus seinem Schloss in Indien (109). Die Mutter mit dem sprechenden Namen »Sophie« ist im Gram über die väterliche Flucht verstorben (110). Das metaphorische, respektive metaphysische Augenzwinkern ist überdeutlich: Dem Erzähler bleibt bei aller Philo-Sophie und bei aller Lektürekunst doch versagt, den mütterlichen Grund, und das bedeutet der Weisheit letzten Schluss, zu finden. Statt Wahrheit zu erfahren, statt auf den Grund der Tatsachen zu stoßen, hört der Erzähler nur (Kinder-)Geschichten, und zwar die der um ihn stehenden Kinder wie auch die Geschichte der Kinder Dolores und Klelia. Der Mythos gibt den Ursprung nicht preis, auch wenn er über das Ursprüngliche spricht. Selbst wenn der Erzähler im wild wuchernden Buchsbaum die ursprünglichen Buchstaben entziffert, erlauben diese zwar eine Lektüre, referieren als Denkmale ihrerseits aber nur auf ein »totes«, entleertes Sinnzentrum und verweisen letztlich doch wieder nur auf sich und ihren eigenen Zeichencharakter. Das Begehren nach dem Objekt bleibt ungestillt, der Ursprung ist unerreichbar. Insofern ist die poetische Produktion – nun auch auf dieser metaphorischen Ebene – grundsätzlich vom erotischen Mangel bestimmt. Die Wahrheitsliebe des Erzählers ist vergeblich. In diesem Mangel sind sich die Autorschaft des Erzählers und seines männlichen Protagonisten Karl gleich. Das Begehren nach dem Ursprung aber leitet den Erzähler mitten in ein Labyrinth der Texte und Diskurse, aus dem es kein Entkommen für ihn gibt. Die Suche nach der arché, ist eine Suche ohne Ende. In diesem Sinne befindet sich der Erzähler in einer ausweglosen Situation. Statt zum mütterlichen Ursprung, führt es den Erzähler nur von Bild zu Bild, von Zeichen zu Zeichen.551 Dies wirkt sich auf die Faktur des Romans aus. Er ist an ein spezifisches Erzählmaterial gebunden: Was für den Mnemotechniker die Bilder, das sind für den Dichter die Vorstellungsmuster, die Topoi und damit nicht zuletzt die Tropen. Erzählen bedeutet demnach, sich des tradierten Materials zu bedienen. Der Erzähler erfindet nicht neu. Er schreibt weiter, dichtet im Angesicht der Tradition und tradiert seinerseits die bereits vorausgegangen Dolores- respektive Liebesgeschichten. Diese Autorschaft im Zeichen der Ab-Schrift verkörpert die grundlegende Dialogizität der Sprache.552 Sie schöpft
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Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 159ff. u. 528ff. Bachtin bestimmt die grundsätzliche Dialogizität der Sprache im sozialen Kontext, in
ihr kreatives Potential aus dem Wissen darum, dass jede Rede immer schon von einer ihr vorausgegangenen Rede abhängig ist553 und in Relation zu vorheriger oder zu antizipierter Rede zu betrachten ist. Sie definiert sich immer in Beziehung zu einer anderen. Übertragen auf das Gedächtnismodell bedeutet dies: Wenn der Mnemotechniker sich an das ihm Erzählte erinnert, bleibt seine Erinnerung unumgänglich an das Erzählmaterial gebunden, das ihm das kulturelle Gedächtnis zu Verfügung stellt. Die memoria bedient sich ausschließlich der imagines agentes, die diesem Archiv entstammen. Diese Bedingung bestimmt seine Dichtkunst. Da sich das vergebliche Begehren des Ursprungs,554 da sich die Wahrheitsliebe aber offensichtlich nicht einfach abstellen lässt,555 da das Liebessubjekt sein Liebesobjekt hartnäckig umkreist, verläuft die Rekonstruktionsarbeit des Erzählers letztlich in der Form der nostalgischen Reflexionsbewegung, die für die melancholische Liebe charakteristisch ist. Der Erzähler verhält sich gegenüber seinem Erzählobjekt wie der Melancholiker der arché gegenüber. Ist Erinnerung das »Wiederherstellen der Ordnung mit Hilfe der Mnemotechnik und dient dazu, das Zerstörte zu heilen,556 so ist Arnims Poetik melancholischer Liebe das Wissen inhärent, die Ordnung letztlich nicht mehr restaurieren zu können. Die melancholische Liebe weiß um die Differenz zwischen Abbild und Urbild, sie weiß, dass die Erinnerung nur ein Simulakrum, ein Bild der Täuschung erzeugt und kündigt lautstark an: »Es
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dem sie stets auf eine vorausgegangene Rede verweist, und eine nachfolgende antizipiert. Die Kommunikation findet also nicht nur mit dem Instrument der Sprache statt, sie wird in die Sprache hinein verlagert. Ihr Strukturmerkmal besteht darin, dass sie immer intertextuell kommuniziert. Michail Bachtin, Die Probleme der Poetik Dostojewskis, Frankfurt am Main 1971. Vgl. zudem die an ihn systematisch anschließende Lesart der Gräfin Dolores von Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 261ff. Mit Lacans Terminologie wäre dieses Begehren als »demand« zu bezeichnen. Der Mythos schreibt sich fort, weil er erinnert werden soll. Dabei verliert der Mythos seine Rückbindekraft an den Ursprung nie vollständig. Er muss diesen zwar nicht erreichen, bleibt aber immer in seinem Bannkreis. Die Rede des Mythos’ folgt damit einer melancholischen Bewegung. Diese macht schon für Karl Philipp Moritz das Faszinosum klassischer Mythologie aus: »Dadurch nun, daß in den mythologischen Dichtungen zugleich eine geheime Spur zu der ältesten verlorengegangenen Geschichte verborgen liegt, werden sie ehrwürdiger, weil sie kein leeres Traumbild oder bloßes Spiel des Witzes sind, das in die Luft zerflattert, sondern durch ihre innige Verwebung mit den ältesten ein Gewicht erhalten, wodurch ihre Auflösung in bloße Allegorie verhindert wird.« Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. Zusammengestellt von K. Ph. M. [1795]. Mit fünfundsechzig in Kupfer gestochenen Abb., nach antiken geschnittenen Steinen und andern Denkmälern des Altertums, Berlin, München u. Wien 1967, S. 7. Arnims Roman adaptiert für seine Liebespoetik sowohl die melancholische Sehnsucht mythologischer Rede zum Ursprung hin als (gleichzeitig) auch ihre exzentrische, sich vom Kern entfernende Bewegung. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 22. Durch dieses Wissen, so Lachmann, unterscheidet sich die Melancholie von der Trauerarbeit.
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kann keine Repräsentation geben, denn jede ist falsch.«557 Die Wahrheit, auf welche Arnims Untertitel rekurriert, ist nicht die Wahrheit der erzählten Geschichte, sondern die Wahrheit, dass keine wahre Geschichte erzählt werden kann – das ist die Lehre der ›Gräfin Dolores‹. Die Liebesbeziehung zwischen Erzähler und seinem Erzählobjekt geht allerdings nicht vollständig im erotischen Mangel auf. Erneut schlägt das rastlose Begehren in eine lustvolle und zugleich hochgradig produktive Dynamik um. Auch in dieser Hinsicht macht die Beziehung zwischen Erzählsubjekt und -objekt keine Ausnahme. Die Leidenschaft des Erzählers gilt – anders, als er es vorgibt – nicht ausschließlich der Wahrheit. Er verliert sich nicht in Trauer darüber, den Ursprung verloren zu haben. Lustvoll flaniert der Erzähler vielmehr durch das Labyrinth der Vorgeschichten. Seine knapp einhundert Einlagen in die Rahmenhandlung belegen seine überschwängliche Zitatlust, in deren Zuge er offenbar von Geschichte zu Geschichte, von Gedicht zu Gedicht und von Drama zu Drama streift.558 Voller Genuss kompiliert er Bilder und Topoi aus dem Archiv des kulturellen Gedächtnisses, setzt sie in neue Kontexte, schmückt sie aus, schreibt sie um oder konfrontiert sie mit anderen. Der Erzähler mag arm an Liebeserlebnissen sein, dafür genießt er es, aus dem Schatz von Erzählmaterial zu schöpfen. Mit beiden Händen bedient er sich des Bildmaterials, das ihm das kulturelle Gedächtnis bereitstellt. Der Erzähler ist ein Philologe, im besten Sinne des Wortes. Ihn treibt die Liebe zum (schon einmal gesprochenen) Wort, er verkörpert den Prototyp des Textbegehrens.559 Das geht so weit, dass er phasenweise offensichtlich nur noch der Lust der Verschwendung und der Ausschweifung frönt. Beispielsweise an den Tagen, die Dolores und Karl auf dem Land verbringen und an denen sich eine Liebeserzählung aus dem Archiv an die nächste reiht (175–233). Der Erzähler verliert in der Flut der Erzählungen und Bilder sein Telos, »die wahre Geschichte« zu rekonstruieren, komplett aus den Augen. Müsste man den Erzählgestus in diesen Momenten einer poststrukturalistischen Theorie zuordnen, könnte man den Erzähler in seinem Verlangen nach Vergeudung als einen Schüler Batailles identifizieren.560 In diesen Phasen
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Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 32. In den Roman fl ießen beispielsweise Gedichte aus ›Des Knaben Wunderhorn‹, Arnims Debütroman ›Hollins Liebesleben‹ und ›Die Päpstin Johanna‹ ein. Die intertextuellen Anspielungen auf den ›Siebenkäs‹, die ›Lucinde‹ und ›Die Wahlverwandtschaften‹ sind allgegenwärtig. Gerhart von Graevenitz weißt in seinem Aufsatz nach, dass dieses Prinzip grundsätzlich sowohl die Presse- als auch die poetische Arbeit beherrscht und bezeichnet dieses Verfahren als Poesie des anorganischen Fragments. Ders., Die »romantische« Überlieferung: Deutsche Mythologie im europäischen Zusammenhang, S. 209– 235. Vgl. Helga Gallas, Das Textbegehren des »Michael Kohlhaas«. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Frankfurt am Main, 1981. Georges Bataille, Der verfemte Teil, übersetzt von Traugott König. In: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 33–234. George Bataille, Der Begriff der Verausgabung, übersetzt von Traugott König. In: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie,
seiner Erzählung geht er in seiner Rolle auf, der Bote, der sich transformierenden Geschichte(n) zu sein und stellt sich in den Dienst des Literarisierungsprozesses. Er ist ein Medium jener Literatur, welche der Volksmund generiert. Um noch einmal die Hausmetapher der memoria aufzugreifen: Statt in Dolores’ Schloss einzudringen, baut er voller Vergnügen aus den ihm zur Verfügung stehenden Bild- und Textmaterialen selbst sein Dolores-Schloss, mit einem eigenen Labyrinth in seiner dazugehörigen Gartenanlage. Weil der Erzähler um seine polyphone Autorschaft weiß, weil er lustvoll durch das (deontologisierte) Feld intertextueller Bezüge flaniert, weil die mündliche Überlieferung der Doloresgeschichte ausdrücklich im akustischen Medium stattfindet,561 und die Rede des Erzählers somit explizit als Echo vorheriger Stimmen markiert ist,562 weil der melancholisch liebende Erzähler zudem als Kopist arbeitet, sich mit Hilfe der Zitation der Macht/Fülle (copia) anderer Reden bedient und die Rhetorik der Paronomasie – der Wi(e)dergabe vorheriger Reden – perfektioniert, offenbart er sein zweites Gesicht: Als melancholisch Liebender trägt die Erzählerfigur nicht nur Karls Züge, sondern sie ist – wie schon zuvor als Karls Nebenbuhler – gleichzeitig ein Wider- und Doppelgänger des Markese. Der Erzähler hat zwei Gesichter. Sein Porträt trägt die Struktur eines changent taft. Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet, offenbart es entweder Karls Antlitz oder das des Markese. Das janusköpfige Antlitz erst ist das des melancholisch Liebenden Autors. Der janusköpfige Erzähler verkörpert zudem das dialektische Prinzip seiner Autorschaft. Diese zeichnet sich sowohl durch Karls emphatischen Ursprungswillen als auch durch die polyphone, markesische Lust aus. In dieser Dialektik folgt auch sie den Regeln melancholischer Liebe. Der Erzähler liebt und produziert auf dieselbe Weise. Sein Roman verkörpert daher strukturell die melancholische Liebe: da
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München 1985, S. 7–31. Zu diesen Theorien zuletzt: Kathrin Busch, Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, Bonn 2004, S. 45ff. Zwar kann der Erzähler aus dieser (potentiell unendlichen) Fülle des Gedächtnismaterials seine subjektive Auswahl treffen, doch sie bleibt immer subjektiv bestimmt und ohne eindeutige Referenz auf den (ursprünglichen) Gegenstand, die wahre Geschichte. Sie ist ihr gegenüber – trotz aller sekundär behaupteten, auktorial verbürgten Sinngarantie – stets unangemessen. Für die Autorschaft des Erzählers bedeutet diese Rede als Zitation, dass er kein uneingeschränkter Herr über seine Rede ist. Die Rede unterliegt der Macht/ Fülle (= copia) anderer Reden. Dass diese Rhetorik des Echo ein wesentliches Element in der impliziten Poetik des Romans bildet – einer Poetik, der es gerade auf die stufenweise Transformation des Erzähl- und Sprachmaterials ankommt, zeigt sich daran, dass die mündliche, nicht autorisierte Rede des Medium »Stimme« gegenüber dem Medium »Schrift« präferiert wird. Während die Schriftstücke ausdrücklich alle verloren gegangen sind, garantiert das Mündliche die Tradierung der Geschichte. Ausgerechnet die flüchtige Stimme verleiht ihren Gegenstand (poetischen) Bestand und generiert als »Fama« als guter wie schlechter »Ruf« ein spezifisches Gedächtnis des »Volksmundes« (»Vox manet«). Die Stimme trägt die Geschichte der Gräfin Dolores über Zeit und Raum, und zwar im Modus der Wiederholung.
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dieser zugleich von der Dynamik zur arché hin und von einer zügellosen Exzentrik in Richtung »unendliche Ferne« gezogen wird, oszilliert er zwischen diesen beiden Polen. Arnims Erzähler versetzt seinen Liebesroman in einen Schwebezustand, in dem zwei entgegen gesetzte Kräfte gleichermaßen auf ihn einwirken. Sein Text vollbringt einen Balanceakt, er vollführt einen Seiltanz.563 Und dieser Tanz auf dem Seil verweist seinerseits metaphorisch auf den Balanceakt einer nicht stillzustellenden, nicht fass- aber doch greifbaren Liebe. Die melancholische Liebe avanciert mit ihrer Ambivalenz zu dem Darstellungsmodus des romantischen Liebesromans schlechthin.564 Diese Dialektik impliziert zugleich eine Antwort auf die metaphysische Frage, die der Text anhand seiner Erzählerfigur stellt: Es gibt keinen Ursprung, den man erreichen könnte, aber es bleibt die Suche danach. Dem Philosoph mag sie freudlos erscheinen, der Philologe aber erkennt den Weg durch das Labyrinth der Vorgänger als das Ziel selbst und genießt diesen. Zur Autorschaft im Zeichen melancholischer Liebe gehört zuletzt aber auch, dass der Erzähler seine intertextuelle Autorschaft gezielt nutzt, um die »wahre Geschichte der Gräfin Dolores« neu zu erfinden. Er verleiht ihr seine persönliche Note. Die Individualität seiner Schöpfung lässt sich zunächst aus den Verfahren der Mnemotechnik selbst ableiten: Von den so genannten imagines agentes bleiben nämlich ausschließlich die in Erinnerung, die mit Affekten aufgeladen sind. (Daher empfiehlt die Mnemotechnik den Rednern, Bilder emotional aufzuladen.) Der Erzähler kann demnach nur das Archivmaterial abrufen, das für ihn eine emotionale Bedeutung trägt. Die Kopplung der Emotionen an die Bilder färbt die Erinnerung unausweichlich mit seiner subjektiven Sichtweise ein. Erzählt wird nur, was der melancholisch liebende Erzähler selektiert, sprich: was ihn schmerzhaft oder lustvoll berührt. Aus dieser Perspektive erklärt sich, warum ausgerechnet die Momente, in denen der Erzähler Dolores verfehlt, die Schaltstellen des Romanprojekts bilden. Zur künstlerischen Freiheit der Erzählerfigur gehört darüber hinaus die Art, wie er sein Material verwendet, es neu montiert und gewichtet (s. o.). Charakteristisch ist zudem, dass der Erzähler weit über das Korpus seiner Vorgänger hinausgreift. Das Übergewicht der Einlagen gegenüber der Rahmenerzählung avanciert zur persönlichen Note seines Erzählstils. Das zeigt zugleich, dass er seine Diskursmacht
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Zur Ästhetik des Seiltanzes vgl. Arnims poetologische Erzählung ›Angelika, die Genueserin, und Cosmos, der Seiltänzer‹. Zu diesem Spannungsverhältnis ästhetischer Seiltänze vgl. David E. Wellbery, Seiltänzer des Paradoxen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, München 2006. Das ambivalente Prinzip der melancholischen Liebe lässt sich wissenschaftshistorisch in eine Reihe von Erklärungsmodellen einordnen, welche eine charakteristische Struktur des »Sowohl als Auch« aufweisen. Diese Reihe reicht bis hin zu Freuds psychoanalytischem Erklärungsprinzip, welches einerseits zwar aller menschlichen Kultur das Lustprinzip voraussetzt, andererseits aber die Entstehung von Kultur daraus erklärt, dass der Mensch diese »Ur-Lust« überwindet. Die Sublimation erklärt ihrerseits, warum die Menschen ihre kulturelle Ordnung zwar benötigen, sie zugleich aber auch an ihr leiden.
nutzt, um alle vorherigen Versionen zu überschreiben. Seine vorerst letzte und endgültige Version der Geschichte ergänzt nicht nur alle ihre mündlichen Vorläufer, sondern sie ersetzt diese auch.565 Der Erzähler zieht als das vorerst letzte Glied der Überlieferungskette einen Schlussstrich unter die Tradierungsgeschichte. Indem er die Geschichte auf- und damit festschreibt, verleiht er der ›Gräfin Dolores‹ ihre endgültige, nämlich seine eigene Gestalt. 6.3
Leserverführung: Wer die ›Gräfin Dolores‹ liest, der liebt
6.3.1 Der Erzähler und die Reiselust Ein wesentlicher Aspekt der melancholischen Liebespoetik ist noch zu berücksichtigen. Diese schließt in der ›Gräfin Dolores‹ auch eine rezeptionsästhetische Dimension ein. Ein fester Bestandteil des Liebescodes, der in Arnims Roman konstituiert wird, ist der »Sprechakt« des Erzählers als solcher. Nicola Kaminski hat im Hinblick auf alle romantischen Romane, aber vor allem auch im Bezug auf Arnims Romanexperiment darauf hingewiesen, dass diese Texte von ihren Rezipienten fordern, ihr Augenmerk »auf die Medialität romantischen Erzählens zu richten.«566 Diese »pragmatische Dimension« weist jeder Erzähltext auf. Es ist also zunächst nichts Ungewöhnliches, dass eine imaginäre Leserfigur den Fluchtpunkt der melancholischen Liebespoetik bildet. Folgt man Kaminskis »transzendentaler Wende«, betrachtet man aus semiologischer Perspektive, wie der Roman organisiert ist und bezieht man in seine Überlegungen ein, mit Hilfe welcher Mechanismen der Text seine Rezeption steuert, rückt in den Vordergrund, dass die ›Gräfin Dolores‹ nicht irgendein beliebiges Text-Leser-Verhältnis entfaltet. Sie gestaltet eine Liebesbeziehung zwischen dem imaginären Leser einerseits und dem von dem Erzähler vermittelten Romantext andererseits. Der Lektüreakt entspricht einem Liebesakt (vgl. Systematik). Um diesen Aspekt der Liebespoetik in den Blick zu bekommen, stellt sich als Ausgangsfrage, welchen Lesertypus die ›Gräfin Dolores‹ entwirft und woran es diesem mangelt. Oder anders herum: Welche Wünsche weckt der Roman in seinen Lesern? Das Begehren, das der Erzähler von dem Eingangsbild des Romans an in seinen Lesern entfacht, ist die Reiselust. Von der Wanderung zu Dolores’ Schloss an (103) nimmt er seine Leser mit auf seine »Reise durch die Geschichte« (611). Er bricht gemeinsam mit ihnen auf in die Vergangenheit, in das Reich der Toten, um letztere im Zuge seines Erzählens wieder zu Leben zu erwecken, um ihre Geschichte zu vergegenwärtigen.567 Die Imitation der typischen Reiseführerprosa, wie sie der Roman 565 566 567
Gerard Genette, Palimpseste, S. 18f. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, Einleitung, S. 20. Zur Reise durch den Text gehört, dass der Erzähler sich selbst als »Wanderer« (361) und »Reisender« (106) bezeichnet, der seine Geschichte gemeinsam mit dem Leser »durchreist« (vgl. 645).
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in seiner Anfangsszene erprobt, fungiert als Einstieg in diese Allegorisierung der Lektüre. Die Reise von der ersten bis zur letzten Textseite (100–685) führt zugleich vom südlichen Deutschland aus über die Alpen bis zum südlichsten Zipfel Italiens. Sie endet auf Klelias sizilianischem Landgut. Karl folgt von dort zwar »dem Rufe seines bedrängten Vaterlandes« (675) und kehrt mit seinen Söhnen wieder nach Deutschland, doch der Leser begleitet ihn nicht mehr dorthin zurück. Die Reiseroute verrät, dass die Romanlektüre zu dem (deutschen) Sehnsuchtsort des 18. Jahrhunderts schlechthin führt, und dass sie somit einer »sentimental journey« entspricht. Nicht zufällig heißt es, »Mignons herrlicher Gesang wäre vielleicht das Wirksamste« (530), um zuletzt auch die Fürstin zu einer Reise nach Italien zu veranlassen. Die lesende Reisegesellschaft bewegt sich in Arnims Roman gezielt auf Sternes Spuren und reinszeniert noch einmal Goethes ›Lehrjahre‹ oder auch seine ›Italienische Reise‹. Wie es sich gehört, ist so eine Italien- immer auch eine Bildungsreise. Diesen Eindruck evoziert bereits der Untertitel des Romans. Die »wahre Geschichte« wurde »zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein aufgeschrieben von Ludwig Achim von Arnim« (101). Der Roman steht in der Tradition des Horaz’schen prodesse et delectare. Zwei Aspekte hebt dieser Titel darüber hinaus hervor: Erstens bestätigt die Anspielung auf die Jugend der Leserinnen, die durch das Wort »Fräulein« evoziert wird, dass die Lesereise dem um 1800 gängigen Konzept der »grand-tour« folgt. Sie ist eine Initiationsreise, die dazu dient, die Adoleszenz abzuschließen und in die Erwachsenenwelt überzuführen. Zweitens hebt die Ansprache einer weiblichen Leserschaft hervor, dass diese Lesereise einen kompensatorischen Charakter trägt. Während die jungen, adligen Männer realiter nach Italien reisen, und damit auf eine Romanlektüre nicht angewiesen sind, unternimmt der Erzähler mit seinen Leserinnen eine nur lesbare grand tour. Die jungen Fräulein bleiben zuhause, holen ihre Bildungsreise dafür aber unter der sachkundigen Führung des männlichen Erzählers per Lektüre nach. Den fiktiven Leserinnen mangelt es an Reise-, Lebensund Liebeserfahrung. Genau diese bietet ihnen der Roman bietet. Um die Lernziele erreichen zu können, die dieser Initiationsritus einschließt, muss sich der Erzähler um einen engen Kontakt zu und um die Verständigung mit seinen Schülerinnen bemühen. Diese intime Gemeinschaft gründet er in seiner Eingangsszene. In seine Ekphrasis der beiden Schlösser flicht die Erzählstimme eine Reihe emphatischer Reflexionen und Kommentare ein, die durchgehend in der ersten Person Plural gehalten sind. Verschwörerisch zitiert er »eine Frühzeit, die auch uns erweckt hat« (104), oder gründet gleich eine Gefühlsgemeinschaft, wenn er festhält: »uns beängstigen schon fürstliche Schlösser [...]« (105). Das »Wir« gründet eine vertrauliche Gesprächssituation zwischen Erzählsubjekt und dem von ihm direkt angesprochenen, imaginären Leser. Der Leser erhält die Position eines (Mit-) Reisenden, der wohl behütet von seinem Reisebegleiter sowohl in das Erzählen als auch in die erzählte Welt eingeführt wird.568 Diese vertrauliche Nähe bestimmt
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Thomas E. Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans, S. 72.
auch über die Anfangsszene hinaus das fiktionale Gespräch des Erzählers mit den ihm anvertrauten Leserinnen. Kurz vor Ende des Romans wendet er sich ihnen noch einmal in einer Apostrophe zu: Meinen Lesern, mit denen ich mich auf der gemeinschaftlichen Reise durch diese Geschichte allmählig auch verständigt habe, wird es nicht entgangen sein, wie das Dichten, insbesondre aber das dramatische in das Leben der einzelnen Menschen eingreife. (644f.)
Die gegenseitige Verständigung ist das erklärte Kommunikationsziel. Der Erzähler möchte eine geistige, eine verstandesmäßige Gemeinschaft mit seinen Zuhörern gründen. Seine Kommunikation ist damit der Affektstufe des ethos verpflichtet, sie zielt auf die ratio ab. Wie der Roman sich sein Verhältnis zu seinen Lesern vorstellt, wird auch dadurch deutlich, wenn man sich fragt, wie man um 1800 von Deutschland nach Italien reist. Wenn nicht per Lektüre, so wohl auch nicht wie Seume »zu Fuß über die Alpen«, sondern mit einer Kutsche; also so, wie es Dolores’ Vater, der Minister mit seinen Begleitern tut (588–648). Es ist das einzige mal, dass der Roman seine Figuren auf einer Italienreise auch begleitet (und nicht nur von der Abreise und Ankunft berichtet), daher fungiert diese Reise als der Prototyp aller anderen Italienfahrten. Was macht der Minister mit seinen Begleitern, um sich die Zeit zu vertreiben? Sie erzählen sich während der gesamten Kutschfahrt gegenseitig Geschichten. So muss man sich auch die Erzähler-Leser-Reise vorstellen. Die Metaphorik der gemeinsamen Kutschfahrt folgt einem Muster, das seit Boccaccios ›Decamerone‹ vor allem für die Rahmenhandlungen von Novellenzyklen genuin ist. Gemeinsam sitze man – wie in der vierten Abteilung auch der Minister samt seinen Begleitern – an einem von der Außenwelt abgeschiedenen Ort, von dem Alltag getrennt aus dem üblichen Lebensrhythmus herausgerissen. An einem solchen heterotopen Ort, in einer nicht nur vertraulichen, sondern auch engen Atmosphäre will sich der Erzähler seinen Leserinnen widmen. Er inszeniert sich als ein Schicksalsgenosse seiner Zuhörerinnen, der auf Reisen selbstverständlich mündlich und damit authentisch unverstellt vorträgt und der seine Begleiterinnen eben nicht nur unterhält, sondern während der Fahrt auch vor allen Gefahren beschützt. Anders als im ›Decamerone‹ und bei der Kutschfahrt des Ministers verläuft die Kommunikation in der ›Gräfin Dolores‹ allerdings einseitig. Nur der Erzähler kommt zu Wort, seine Begleiter sind auf die Zuhörerrolle reduziert. Deshalb kann der Reiseleiter festlegen, auf was es ihm bei seiner Unterhaltung ankommt. Statt demokratischer Gleichheit bestimmt ein deutliches Machtgefälle die Kommunikationssituation. Zwar steht nicht jeder auf Verständigung zielende Erzähler per se unter Verdacht, mit seinen Zuhörerinnen anbandeln zu wollen. Aber wenn sich dieser Erzähler mit jungen Frauen auf eine lange Reise in eine Kutsche wünscht, um ihnen dort eine Liebesgeschichte nach der anderen zu erzählen, kann man einen Liebesverdacht wohl nicht vollständig von der Hand weisen. Auffällig ist sein Wunsch in jedem Fall, zumal die Rollenverteilung zwischen männlichem Lehrer und verstän319
diger Schülerin dem romantischen Rollenverständnis von Liebespaaren entspricht (s. o.). Nach diesem Muster hätte Karl gerne auch sein Verhältnis zu Dolores eingerichtet. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass er seine Zuhörerinnen ausnahmslos mit Liebesgeschichten unterhält und diese – wie jede Liebesgeschichte – immer auch dazu dienen, die erzählten Affekte auf die Zuhörer zu übertragen. Der Erzähler sucht eine Gesprächssituation, die den Regeln des ethos folgt und dennoch einer Liebeskommunikation entspricht. Er knüpft eine in der Tradition der Aufklärung stehende Liebesbeziehung zu seinen Zuhörerinnen an, bei der er sich sittsam einem moralischen Kodex gegenüber verpflichtet fühlt und sie mit seinen Geschichten zugleich liebevoll unterhält wie didaktisch schult. Sein Reisemodell impliziert mithin eine spezifische Lektüretechnik. Ziel des didaktischen Programms ist, dass die Schülerinnen lustvoll verstehen lernen. Diese Lektüre folgt damit konsequent den Vorgaben hermeneutisch-strukturalistischer Lust und Liebe (vgl. Kapitel 2.1 der Systematik). 6.3.2 Der (imaginäre) Leser und die Lust des Verstehens Wenn man die Technik rekonstruieren will, mit welcher der Erzähler seinen Zuhörern die Lust des Verstehens vermitteln will, wie er sie zur angemessenen und damit angeregten Lektüre motiviert, muss man zunächst nur Arnims Erzählkonstruktion mit der Textordnung vergleichen, welche die Metaphorik der Kutschfahrt aufruft. Zwischen dem Kutschen- und dem Textmodell liegt ein wesentlicher Unterschied. Dolores’ Lebensgeschichte zieht eben nicht sukzessive am Auge des Lesers vorbei, wie die Landschaft an den Fenstern einer fahrenden Kutsche. Man kann sie nicht einfach unbeteiligt durchreisen und dabei die schöne Aussicht aus den (imaginären) Fenstern der Kutsche genießen. Bereits ein Blick auf die Erzählordnung der ersten Abteilung zeigt,569 dass diese nicht wie eine Reise chronologisch von Station zu Station verläuft, sondern mit Hilfe von Analepsen eine Anachronie nach der anderen erzeugt. So folgt auf das Eingangsbild (1. Kapitel) über zwei Kapitel hinweg ein Rückblick auf das Leben von Dolores’ und Klelias Eltern (2. u. 3. Kapitel), der schließlich zurück in das gegenwärtige Leben der beiden Schwestern mündet. Das 4. Kapitel besteht beinahe komplett aus der Geschichte Hugh Schaplers, welche Klelia ihrer Schwester erzählt. Erst an dessen Ende kehrt der Roman wieder zu den Schwestern zurück (123). Mit Karls Ankunft (Kapitel 5) erreicht die Erzählung wieder ihren zeitlichen Ausgangsort von Kapitel 1. Der Kreis schließt sich. Allerdings erzählt der alte Bediente seinerseits wieder nur im Rückblick von Karl (124). Auch danach unterbricht der Erzähler die Chronologie der Ereignisse und trägt (in Kapitel 6) Karls Erlebnisse nach (126ff.), bis er das Schloss erreicht hatte. Erst das 7., 8. und 9. Kapitel erzählen chronologisch die Ereignisse vom ersten Besuch, über die
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Zu dem Begriff der »Ordnung« vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 77ff.
Verlobung, bis zu Karls Rückkehr zur Universität (130–144). Bricht die Erzählung auf diese Weise mit der konventionellen Reiseordnung, fordert sie ihre Leserinnen demonstrativ zu einer aktiven Lektüre auf. Dieses Erzählprinzip verschärft sich dadurch, dass der Erzähler seine erzählte Welt von der Flucht des Vaters an bis zu seiner Rückkehr nach Italien (109–667) mit Hilfe der Montagetechnik in mindestens vier (und zeitweise noch mehr) parallel verlaufende Handlungsstränge aufteilt.570 Die parallel geführten Handlungen bilden ein markantes Erzählprinzip des Romantextes: So spielt sich die gesamte, bis hierhin besprochene Liebesgeschichte zwischen Dolores und Karl ab, während Dolores Vater geflohen ist (130–667). Während Klelia in Italien lebt (148–667), reist unter anderem der Markese zu dem Paar nach Deutschland (367–437), und während Karl auf seinen Landsitz reist (370–384), lässt sich Dolores vom Markese verführen.571 Mit dieser Technik erzeugt der Roman Simultanität statt Linearität.572 Aus der Sicht des imaginären Lesers funktioniert der Roman wie eine Drehbühne, die von einem Ort zum anderen wechselt und simultan mehrere Handlungsorte beleuchtet.573 Das bedeutet aber zugleich, dass der Roman mit jedem Wechsel von einer Ebene zur anderen den Verlauf seiner Handlung unterbricht, um ihn an einer anderen Stelle wieder einsetzen zu lassen. Die einzelnen Handlungssequenzen werden von den Anachronien sowie von den Wechseln zwischen den Handlungs-
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Zur Parallel-Montage vgl. Kapitel 5 dieser Studie, S. 219. Auf diese Weise geht es bis zum Ende weiter: Während Karl auf Arnica Montana und den Doktor trifft, trennt sich der Markese von Dolores, während Karl seinen Selbstmord plant, stirbt der Markese. Denselben Montagetrick wiederholt der Roman noch einmal an seinem Ende. Während Dolores, Karl und ihre Kinder mit Klelia in Italien leben, kehrt der Vater mit seiner zweiten Frau und seinen Kindern nach Deutschland zurück. Während die Fürstin Karl in Italien verführt, reist der Minister ihr nach. Während der Vater in Palermo und schließlich auf dem italienischen Landgut eintrifft, spitzt sich die Tragödie zwischen der Fürstin und der Gräfin bis zu Dolores’ Tod zu. Auch der Romananfang stand – wie gezeigt – im Zeichen der Montagetechnik: Während Karl sich beim Wirt einmietet, erfahren Dolores und Klelia vom alten Bedienten von seiner Ankunft. Während Karl auf der Universität ist, gibt sich Dolores den städtischen Abwechslungen hin. Die Parallelführung der Haupthandlungen wird immer durch eine Reihe gleichzeitig ablaufender Nebenhandlungen ergänzt: Während das Paar in Italien lebt, überblendet der Roman die dortigen Ereignisse mit Berichten von Waller, Frank und Arnica Montana (vgl. 471ff.). Die Handlungskonstruktion folgt einem Muster, das im 18. Jahrhundert vor allem Dramentexte eingelöst haben. Diese haben – nach Shakespeares Vorbild – die aristotelische Einheit des Ortes hinter sich gelassen und haben wie beispielsweise Lessings ›Miss Sara Sampson‹ ihre Handlung in mehrere parallel verlaufende Handlungsstränge unterteilt. Bernhard Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse, S. 67. Manfred Pfister, Das Drama, S. 89ff. Diese Inszenierungstechnik des Dramas markiert die Frage des Erzählers, ob seine Leserinnen im Laufe ihrer Lesereise die Wirkung dramatischer Dichtung erkannt haben, als selbstreflexiv. Performativ versetzt der Erzähltext seine Leser als Zuschauer in das Theater und wirkt mit seiner Dramentechnik auf sie.
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strängen durchschnitten so wie darüber hinaus durch die Vielzahl der Gedichtund Erzähleinlagen unterbrochen. Diese Poetik der Unterbrechung beherrscht die gesamte Handlungskonstruktion. Selbst einzelne Erzählsequenzen bestehen aus einer schnellen Folge von Schnitten, in denen mit Hilfe wechselnder Fokalisierung Einblicke in die Gefühlswelten der einen oder der anderen Figur gewährt werden.574 Die »Geschichte der Gräfin Dolores‹ wird ausschließlich in Ausschnitten präsentiert. Der Roman reiht einzelne Erzählschnipsel aneinander, die jeweils einen bestimmten Zustand wiedergeben.575 Additiv – wie die Perlen einer Kette – sind die Erzähleinheiten auf einen Faden gefädelt. Die ›Gräfin Dolores‹ besteht – in Radikalisierung des Schlegelschen Fragments – komplett aus Bruchstücken.576 Sie ist auch in diesem Sinne als eine Ehebruchgeschichte zu lesen. Das Doppelspiel aus Zerstücklungswut und ausgetüftelter Syntheseleistung entwickelt im Laufe der Handlung eine eigene Dynamik. Es dient als Technik, um die Spannung und Dramatik der Liebesgeschichte auf die Spitze zu treiben.577 Sind die einzelnen Bruchstücke zu Beginn des Romans noch relativ übersichtlich angeordnet, nehmen ihre Vielzahl, ihre Vielfalt und das Tempo ihrer Folge zu Dolores’ Ehebruch und Karls Selbstmord hin rasant zu. Vom Eingangsbild aus steigert sich die Fragmentierung der Handlung bis zu ihrem Höhepunkt zu einem Schwindel erregendem Accelerando (am Romanenende wiederholt sich dieses Prinzip noch einmal). Ihren Höhepunkt erreicht sie, als Karl just zu der Zeit, als Dolores und der Markese gemeinsam in der Stadt Ehebruch begehen, parallel auf Leonardo und auf Arnica Montana trifft. In diesem Augenblick werden Fragmentierung und Synthese ineinander verschränkt. Mit Leonardo »aus Hollins Geschichte, dessen Untergang er ohne Absicht veranlasset [...]« (409) verbinden sich alle Figuren aus ›Hollins Liebesleben‹, Arnims Debütroman, den Karl seiner Frau und dem Prediger Frank auszugsweise während des Landlebens vorträgt (190–220), mit dem Personal der ›Gräfin Dolores‹. Arnica Montana, die Karl von Divinas Liebe zum Markese erzählt (vgl. 413), verlinkt ihrerseits einen ganzen Figurenkreis unmittelbar mit den Hauptfiguren des Romans. In diesem Augenblick verbinden sich alle Figuren – von Hollin, dem Prediger Frank und Limone bis zum wundersamen Doktor, Florio etc. – zu einem umfassenden Beziehungsnetzwerk, in dem jede
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Karls Ankunft wird erst aus der Perspektive des alten Bedienten, darauf aus der von Klelia und Dolores, dann aus der des Erzählers und schließlich noch aus Karls Sicht beschrieben. In den dazwischen liegenden Sequenzen fungiert Dolores als Perspektivfigur. Die Konstruktion unterschiedlicher »Zustände« ist ausgeprägt in Arnims Roman. Sie reichen vom »Seelenzustand« (143, 363, 364, 387, 429, 448, 450), dem »verzweifelten Seelenzustand« (458), dem »Zustand des Herzens« (460.) über den »geistigen Zustand«, bis zum Zustand der Ehe, denn »auch sie war kein fester Zustand« (235). Zu dieser Poetik gehört ebenfalls, dass die ›Gräfin Dolores‹ ausschließlich Bruchstücke von Liebeidealen aufruft (vgl. S. 300 dieser Studie). Jan Assmann identifiziert dieselbe Technik in Mozarts ›Die Zauberflöte‹. Ein Befund, der noch einmal bestätigt, dass sich Arnims Roman also tatsächlich dramatischen Techniken bedient, vgl. Jan Assmann, Die Zauberflöte, S. 273.
Figur mit jeder anderen verbunden ist. Es entsteht das Sozialsystem des Romans, der komplexe Kosmos seiner erzählten Welt. Der Montageroman fordert seinen Leser, indem er ihn mit einer hyperkomplexen Ordnung und damit einem Ordnungsdefizit konfrontiert. Die Montagetechnik verlangt dem Rezipienten, so hält beispielsweise Möbius in seiner Studie fest,578 eine enorme Beteiligungs- und Verknüpfungsarbeit ab. Der Erzählung zu folgen, bedeutet für den imaginären Leser zwischen den einzelnen Handlungsorten und -ebenen hin und her zu wechseln. Er muss die einzelnen Erzählstränge und -sequenzen ordnen und verschalten. Der Text aktiviert seinen Rezipienten zu einer hermeneutischen Lektüre. Letzterer soll die verstreuten Einheiten synthetisieren, aus ihnen ein in sich stimmiges Ganzes machen und somit im gleichen Zuge Sinn erzeugen. Auf diese aktive Beteiligung seines Lesers zielt das dissoziative Erzählverfahren des Romans ab. Diese synthetisierende Funktion der Lektüre verhält sich komplementär zu der Textstrategie ständiger Unterbrechung. Der Roman verschreibt sich auf rezeptionsästhetischer Ebene dem Doppelspiel aus Dissoziation und Synthese. Mit Hilfe der Montagetechnik tritt somit das strukturalistisch-hermeneutische Lustprinzip in die Beziehung zwischen dem Erzähler und seinen fiktiven Leserinnen ein (vgl. Systematik). Den Zuhörerinnen mangelt es schlicht an Ordnung. Der Erzähler kitzelt das »Sinn- und Strukturbedürfnis«579 [meine Hervorhebung, C. M.], das »Sinnbegehren«580 aus seinen Leserinnen heraus. Er produziert Unbestimmtheit, um diese erotische Lust wachzurufen.581 Überflüssig zu sagen, wie hochgradig affektiv dieses Ordnungsbegehren aufgeladen ist.582 Die Poetik der Unterbrechung liest sich als ein performativer Appell: Entfalte Lust auf Ordnung, puzzle die einzelnen Stücke zusammen, lese aktiv und kombiniere die einzelnen Handlungssequenzen. »Der Rezipient entwickelt das Verlangen, Ordnungen und Einheiten wiederherzustellen.«583 Textlinguistisch lässt sich dieses »Sinnbegehren« als eines nach »Disambiguierung« beschreiben. Hat der Roman die hermeneutisch-strukturalistischen Lust des Leser erst entfacht, hält er diese wach und steigert sie sogar noch, indem er dem Verlangen nach Ordnung, zumindest »einige Zeit lang entgegenarbeitet, ihm Hindernisse in den Weg legt.«584
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Hanno Möbius, Montage, S. 29f. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, Einleitung, S. 17. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, Einleitung, S. 20. Tatsächlich entspricht diese »Lust« exakt Roland Barthes’ Definition eines Lustbegriffs in ›Die Lust am Text‹ (vgl. die Systematik dieser Studie). Jochen Hörisch bewertet dieses Bedürfnis, um sich im postrukturalistischen vs. hermeneutischen Grabenkampf zu positionieren, pejorativ als »Wut des Verstehens«. Das Affektive bleibt aber auch bei seiner Bezeichnung grundlegend erhalten. Vgl. Ders, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, S. 10. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 156. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 156.
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Solange die Leserin nach Harmonie und Ordnung strebt, avanciert sie zur (heimlichen) Heldin des verführerischen Montagespiels. Folgt sie ihrem Trieb nach Ordnung und Harmonie, gibt sie sich der zugleich immer noch rationalen, hermeneutischen Erotik hin, vereint sie sich in Co-Kreativität, die sie affektiv wie kognitiv fordert, (scheinbar) gleichrangig mit dem Erzähler. Sie teilen sich die Konstruktion des Romans. Der Erzähler und seine Leserinnen verschmelzen somit im Gleichklang ihrer Ordnungstätigkeit. Dass dieses Begehren dem männlichen Erzähler (einmal mehr diskriminierend) vor allem als weibliches Grundbedürfnis erscheint, macht der Roman an einer Stelle unmissverständlich klar. Als Dolores wegen ihrer nachlässigen Haushaltsführung kritisiert wird, ruft sie aus: »Ich will schon Ordnung stiften« (346). Um die Ordnung des Romanhaushalts, um die Ordnung der erzählten Welt, geht es analog dazu auch dem Erzähler. Aus seiner Sicht bedient er sich also dem »natürlichen« Bedürfnis der Frau, Ordnung zu stiften, um ihre Lust zur hermeneutischen Lektüre zu wecken. Doch selbst auf ihrem Höhepunkt suggeriert Arnims Handlungskonstruktion ihren Lesern, dass sie zwar eine komplexe Aufgabe zu bewältigen haben, sich am Ende aber wie bei einem Puzzle alle einzelnen Teile zu einem vollkommenen Bild zusammenfügen lassen. Letztlich soll, so suggeriert der Roman, im Sinne strukturalistischer Texttheorie kein einziges Puzzleteil übrig bleiben. Er schwört seine Leser auf die Maxime ein, erkenne (mit mir, dem Erzähler,) den poetischen Text [...] als ein Gebilde, in dem kein Zeichen zufällig oder überflüssig ist, sondern vielmehr in oft vielfältige Beziehungen zu anderen Zeichen und zur Gesamtstruktur des Textes tritt, die entschlüsselt werden wollen, dann erscheint uns alles am Text bedeutungsvoll. Jedes Zeichen will im Hinblick auf die vorangehenden und noch folgenden verstanden sein.585
Der Erzähler suggeriert seinen Leserinnen, dass sie bei ihm in guten Händen sind. Deshalb darf der Leser beispielsweise während der ersten Abteilung den Überblick über alle Ebenen des Geschehens mit dem Erzähler teilen. Und er kann aufgrund seines Mehrwissens gegenüber den Figuren zusammenfügen, was diese nicht überschauen können. Bestandteil dieser Beruhigungsstrategie, die ein vertrauensvolles Schüler-Lehrer-Verhältnis konstituiert, ist auch der viergliedrige Untertitel »Armut, Reichtum, Schuld und Buße«, der die gesamte Handlung antizipiert, und durch den die Leserinnen immer schon wissen, was passiert. Arnims Roman nutzt die Postulate hermeneutischen Verstehens also, um eine Liebesbeziehung zwischen Erzähler und imaginärem Leser zu etablieren.586 Er verspricht, dass kein Rest übrig
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Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 161. Dass diese Harmonielust nicht nur »arme Fräulein« befällt, sondern eine ganze Rezeptionsgeschichte prägt, zeigt der in der Arnimforschung weit verbreitete Vorwurf an den Roman, er sei verwildert bis chaotisch. Was aber bisher erst drei Interpretationen davon abgehalten hat, doch nach Ordnungsmustern zu suchen, nach denen sich alle Einlagen integrieren lassen. Genau aus dieser Lektürestrategie erklären sich die vielen Angebote
bleibt, der nicht verstanden werden kann und stellt ihm somit ein moraldidaktisches Telos und einen eindeutigen Sinn in Aussicht.587 Er suggeriert seinen Lesern, alles unter Kontrolle zu haben. Und das betrifft in gleichem Maße das Wechselspiel der Figuren, die Ordnung des Erzähldiskurses sowie die diskursive Verhandlung der Liebesthematik. Selbst die Struktur des changent taft lässt sich noch in diese didaktische Situation eingliedern, denn immerhin gibt der Roman seinen Erzählern ja alle Informationen in die Hand, um die Doppelstruktur des Romantextes zu durchschauen. Das gilt auch für die einseitige Bewertung der Ereignisse durch den Erzähler, die als »männlicher Blick« enttarnt werden und dazu aufrufen, die Wahrnehmung des Erzählers kritisch zu hinterfragen. Auch diese Konstruktion gefährdet das Textverständnis aber letztlich nicht, selbst wenn sie das Misstrauen gegenüber dem Erzähler weckt. Auf diese Weise ruft der Roman die klassische Situation der Didaktik auf. Nach dieser machen die im Wahrnehmungshorizont beschränkten Romanfiguren vor den Augen der Leserinnen die Fehler, die eigentlich die Rezipientinnen selbst begehen würden. Die Figuren – in erster Linie Dolores – lieben an ihrer Stelle. So aber verfolgen und beurteilen sie die fatalen Folgen der Fehler aus sicherer Distanz. Gleichzeitig aber sind sie nah genug, um zum tiefen Mitleid und -gefühl angeregt zu werden. Das gilbt vor allem in Karls Fall, weil der Leser dessen Liebeleid bis in den letzten Winkel seines Bewusstseins miterleben kann. Das Pathos von Karls Liebespassion überträgt sich dabei nicht vollständig auf die (imaginären) Rezipientinnen, letztere bleiben immer in sicherer Distanz, aus der sie das Verhalten der Figur beurteilen. Auf diese Weise konstituiert der Roman ein intime Liebeskommunikation, bei der sich der weibliche Leser in ein männliches Gegenüber einfühlt und denkt, und die somit heteronormativ verläuft. 6.3.3 Die Verführung des Lesers und die Lektüre der Wollust Die Frage stellt sich fast von selbst: Kann der Erzähler ein Wiedergänger des Markese und zugleich dennoch nur ein sittsamer fürsorglicher Liebhaber sein? Ist er nicht vielmehr ein betrügerischer, durchtriebener Verführer? Und wenn er Dolores schon verfehlt, wen verführt er dann? Die Antwort ist klar. Der Erzähler ist ein Verführer, und er verführt niemand anderen als seine prototypisch weibliche Leserschaft.588 Die alles andere als harmlose Kehrseite des Leser-Erzähler-Verhältnisses
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der Arnimforschung, sogar die knapp einhundert Einlagen kategorisieren und in eine Typologie ordnen zu können. Nach dem Motto, »man muss nur bis zum großen Sinnversprechen aushalten«, das spätestens mit dem Romanende eingelöst wird. Dass diese moralteleologischen Versprechen leer sind und es auch gezielt bleiben, haben sowohl Kaminski als auch Wingertszahn überzeugend erarbeitet. Nicola Kaminski entwickelt an dieser Stelle eine geschlechtsspezifisch regulierte Dichotomie: Der weiblichen »hermeneutischen Kapitulation«, die den Text als ein veränderliches, je neu sich konstituierendes »Vexierbild« begreife, stehe die männliche, einseitighierarchisch funktionalisierende Lektüre gegenüber, die den Text als fertiges Produkt
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deutet sich bereits dadurch an, dass der Erzähler unter anderem auch berichtet, wie seine Liebe gescheitert ist. Da er seine melancholische Liebe gesteht, erhält seine Erzählung den Charakter einer intimen Beichte. Sein Monolog versinnbildlicht in diesem Kontext, jenen unablässigen Wortschwall eines Liebenden, der seinen Herzschmerz über Jahre hinweg verborgen hat, um sich mit einem Schlag von der gesamten Erinnerung zu befreien. Sein Liebesgeständnis ist gesättigt von Emotionen, es steckt voller pathos, welches die ratio der vermeintlichen Lehrer-SchülerBeziehung durchkreuzt. Erkennt man die Erzählerrede als Lebensbeichte, führt dieser mit seinen Lesern eine »Kommunikation mit höchstpersönlicher Relevanz,« die wie jedes persönliche Geständnis hochgradig affektiv aufgeladen ist und sich nicht in einem didaktischen Telos erschöpft. Eine weitere Koinzidenz schürt den Verdacht, dass der Erzähler sich seinen Leserinnen offenbart, um mit diesem Gespräch seinen Liebesmangel zu sublimieren. Als der Erzähler nämlich vergeblich an Dolores verschlossener Schlosstür klopft, bezeichnet er sie und ihre Schwester als junge Gräfinnen: »und ich dachte nicht, dass in den oberen Zimmern zwei junge Gräfinnen versteckt wären« (106). Während der Erzähler vor der Tür steht, verbringen die Gräfi nnen ihre Zeit, ausgerechnet damit, dass sie lesen (115f.). Dolores und Klelia sind also die Prototypen der Zuhörerinnen, an die sich der Erzähler mit seiner Geschichte wendet. Die Vermutung liegt daher nahe, der Erzähler will seine Liebeskünste – wenn er sie schon nicht an Dolores erproben konnte – erzählend an seinen Leserinnen erproben. Tatsächlich begibt sich derjenige, der Arnims Roman liest, in die Hände eines Erzählers, der seinen Lesern gegenüber auf dieselbe Weise agiert, wie sein vermeintlicher Bösewicht, der Markese, gegenüber seinem Verführungsopfer, der Gräfin Dolores. Der Erzähler bedient sich der Verführungstechnik des Markese. Um ihren Kommunikationspartner zu verführen, bedienen sich beide der Wissenslust ihrer Leser. Treibt Dolores diese Lust zur Lektüre weiblicher Biographien an, so geht es den Lesern der ›Gräfin Dolores‹ nicht anders. Sowohl der Markese als auch der Erzähler setzen die Lektürelust als Machtinstrument ein. Wie der Markese festlegt, was Dolores lesen darf und was nicht, bestimmt auch der monologisierende Erzähler den Lektüreinhalt und das -pensum seiner Leserinnen. Beide verordnen ihren Kommunikationspartnern Lektüre nach Vorschrift. Wie der Markese erweist sich auch der Erzähler als ein Händler von Informationen. Hingegen sind die Rezipienten abhängig von dem Lektürestoff, den sie zur Verfügung bestellt bekommen. Analog zueinander vertrauen sowohl der Markese als auch der Erzähler auf die Wirkungsmacht der Literatur. Die Verführungskunst des Markese beruht darauf, dass die Lektüre Dolores den Glauben an eine eigene politische Macht und eigener Stärke vermitteln
ansehe. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 238f. Ich kann dieser geschlechtsspezifischen Dichotomie wenig abgewinnen, weil sowohl Dolores – beispielsweise im Verführungsspiel mit dem Markese – »männliche Lektüren« vollzieht als auch Karl im »weiblichen« Modus liest.
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könne und auf diese Weise in ihr Leben eingreife. Und der Erzähler erhebt dieses Machtpotential auch für seinen Text, denn die dramatischen Techniken, derer sich der Roman bedient, erlauben es, den folgenden Erzählerkommentar als selbstreferenziell zu erkennen: Meinen Lesern, mit denen ich mich auf der gemeinschaftlichen Reise durch diese Geschichte allmählig auch verständigt habe, wird es nicht entgangen sein, wie das Dichten, insbesondre aber das dramatische in das Leben der einzelnen Menschen eingreife. (644f.)
Der Erzähler spricht nicht nur davon, wie das Dichten allgemein auf die Figuren in seinem Text wirkt, sondern auch davon, wie seine eigene Dichtkunst auf seine Leser übergreift. Telos seines Erzählens ist, andere Leben zu beeinflussen, sie nach den eigenen Vorstellungen zu lenken. In diesem geschlossenen Kreislauf aus Sucht und Droge erheben die beiden Verführer nicht nur einen eigenen Machtanspruch, sie spielen auch mit der Machtlust ihrer jeweiligen Rezipienten. So gewährt der Markese Dolores Einblick in seine vermeintlichen Regierungsgeheimnisse und verspricht ihr Einfluss und Macht. Er illusioniert Dolores (und auch Karl) und verliert dennoch niemals seine Kontrolle über seine Verführungsopfer, denn er lenkt ja die Art und Weise, wie diese ihre »fiktive Welt« gestalten. (vgl. S. 212 dieser Studie) Will Dolores an seiner Macht teilhaben, muss sie sich abhängig von ihm machen, indem sie mehr von ihm liest. Nach diesem Vorbild und Muster der Illusionierung verfährt der Erzähler auf der pragmatischen Romanebene gegenüber seinem Leser. Er weckt Leselust, bestimmt die Lektüre, diese gewährt Einblicke unter anderem in die Geheimnisse der Figuren und ihrer Liebe, der Leser wiegt sich daher in der Illusion, er verfüge über eine Machtstellung gegenüber den handelnden Figuren. Er bleibt aber stets ein Machthaber von Erzählers Gnaden. Der Rezipient ist ebenso abhängig von seinem Erzähler wie Dolores von ihrem Verführer. Diese Abhängigkeit fiele nicht weiter ins Gewicht, wäre der Erzähler tatsächlich so integer und sittsam, wie er zunächst auf der Handlungsebene tut. Jedoch spielt er im Laufe seiner Erzählung eiskalt seine Informationsmacht gegenüber seinem Verführungsopfer aus. Er verführt seine Zuhörer mit Hilfe seiner Nachrichtenpolitik, um sie anschließend genüsslich zu desillusionieren. Wie Dolores und Karl kann sich auch der Leser nicht gegen diese Strategie zur Wehr setzen. Es entsteht ein Wechselspiel aus hermeneutischem Liebesglück und ebensolcher -lust einerseits, fundamentaler Krise andererseits. Letztere wirft den Leser jeweils auf die Materialität der Zeichen und damit auf die Bruchstücke des Textkörpers zurück und initiiert so Lektüren der Wollust und Begehrens. Erst dieses Wechselspiel, das unterschiedliche Ebenen des Romans bestimmt, initiiert eine moderne Liebeskommunikation zwischen Text und Leser, die um die Paradoxien der Liebe ebenso wie um die der Lektüre weiß und die Krise in ihr Reden einbezieht, anstatt es zu verschweigen. Diese verführerische Kommunikation, das auf ihren Erkenntnissen über die Funktionsweise romantischer Liebe beruht baut die ›Gräfin Dolores› mit erheblichem Aufwand aus, um mit ihrer Inszenierung des discours ihre Erkenntnisse über die romantische Liebe performa327
tiv umzusetzen. Die folgenden Überlegungen führen die Bestandteile dieser Kommunikation nacheinander auf vier Ebenen vor. Sie zeigen, wie der Roman seine Inszenierung bis in das Extrem treibt. Das erste Element des Liebesgesprächs ist das Spiel mit der Spannung, welches der Roman anhand seiner Handlungskonstruktion betreibt. Als zweites kommt das Zusammenspiel zwischen Rahmenhandlung und ihren beinahe einhundert Einlagen hinzu. Als essentieller Bestandteil der Liebeskommunikation erweist sich drittens der Entwurf des Schlossbildes am Beginn des Romans und viertens schließlich die tropische Figuration der Erzählinstanz. Spannung und Überraschung Auf der Handlungsebene ist die Verführung eine Frage der Spannung.589 Diese erzeugt Emotion und Aufmerksamkeit gleichermaßen und weist daher eine direkte Verbindung zum Gefühlshaushalt des Rezipienten auf. Denn »als spannend wird ein Text empfunden« [meine Hervorhebung, C. M.].590 Die Spannungslenkung zielt auf die emotionale Erregung von Lust und Unlust des Lesers ab. Sie hält diese aufrecht und intensiviert je nach Gelegenheit.591 Ein konstitutives Merkmal von Spannung in literarischen Texten ist »ein Mangel an Information, verbunden mit dem Wunsch ihn aufzuheben.«592 Und in diese Situation, in der man jeweils »nicht genau weiß, aber geradezu begierig wissen will, wie es darin in der Zukunft weitergeht, oder wie sich ein vergangenes Geschehen wirklich abgespielt hat,«593 manövriert der Erzähler seine Leser. Den Moment höchster Anspannung konstruiert der Text zielgenau in der dritten Abteilung des Romans, in der Dolores vom Markese verführt wird. Ausgerechnet wenn es um Dolores’ Ehebruch geht, ist Arnims Roman so spannend und emotionsgeladen wie eine Schauer- oder eine Kriminalgeschichte. Der Höhepunkt der Handlung korreliert, verstärkt durch das gesteigerte Tempo der Schnitte, mit dem der Spannung. Letztere entsteht dort auf zwei Handlungsebenen zugleich. Welcher Art sie ist, hängt von den Informationen ab, über welche der Leser verfügt. Auf der Ebene der Doloreshandlung zielt die plot-suspense, die durch die Handlung hervorgerufene Spannung, nicht etwa auf die Frage ab, ob der Markese Dolores verführt. Dessen kann sich der Leser im Prinzip schon vom Untertitel der Ehebruchgeschichte (»Schuld«) und der gleichlautenden, zukunftsgewissen Abteilungsüberschrift an, spätestens aber durch eine Reihe
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Vgl. die Systematik dieser Studie, Kapitel 2.2, S. 84f. Vgl. zudem Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 150–172. Sowie Thomas Anz, Spannung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 3 (2007), S. 464–467. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 157. Aufgrund dieser Kontinuität unterscheidet sie sich von der Überraschung, welche immer nur punktuell und kurzfristig wirkt. Thomas Anz, Spannung, S. 464. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 163. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 157.
von proleptischen Erzählkommentaren (vgl. 148) sicher sein. Die Markese-Dolores Handlung ist frei von Spannung auf den Ausgang. Die Leselust entsteht in diesem Fall aus einer klassischen suspense, dem Aufschieben des lange Erwarteten.594 Das Publikum weiß, es wird etwas geschehen, die Frage ist nur, wann und wie. Offen ist zudem die Frage, ob, und wenn ja, wie und wann Karl den Ehebruch seiner Frau entdeckt und vor allem wie er auf diese Entdeckung reagiert. Die Spannung betrifft auf der Karl-Dolores Handlungsebene sowohl die Frage nach dem »Was« als auf die nach dem »Wie« der Handlung. Der Leser ist demnach auch einer Zukunfts- oder Ausgangspannung ausgesetzt.595 Muss er doch darauf im Wissen darum, dass Arnims Roman bei jeder Gelegenheit mit allen Erwartungen und Konventionen des Erzählens bricht, auf die Folgen des Ehebruchs warten. Der Leser weiß hinsichtlich des Ausgangs und des »Wie« zwar weniger als Erzähler, aber die Zukunftsspannung ist noch in das moralische Gefüge von docere und delectare einzugliedern. Sie steht immer noch im Dienst einer Lust am Text. Diese Konstruktion schließt ein, dass der Rezipient über einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren verfügt, welchen er dem Erzähler verdankt. Letzterer verfügt während Dolores’ Verführung als einziger über alle Informationen und ist neben dem Markese der einzige, der alle relevanten Handlungsorte (Stadt und Land) überblickt – was noch einmal die Gemeinschaft zwischen Erzählerfigur und Betrüger hervorhebt. Der Leser hingegen partizipiert am Wissen des Erzählers, welcher großzügig die Trennung zwischen Stadt und Land für seinen Rezipienten aufhebt, indem er mehrfach zwischen Karls und Dolores’ Welt hin- und herschaltet. Der Erzähler begleitet Karl auf sein Landgut, und er informiert vollständig und detailgenau über die Ereignisse in Dolores’ Schloss. Wie es der imaginäre Leser von der 1. Abteilung an gewohnt ist, verknüpft der Erzähler nacheinander alle in Deutschland liegenden Handlungsorte. Zudem informiert er ihn detailliert über die Vergangenheit des Markese (vgl. 373ff.). Im Gegensatz zu Dolores weiß der Leser, dass der Markese ein betrügerischer Verführer ist. Und während Karl seinerseits nichts von Dolores’ Ehebruch weiß, war der Leser ein unmittelbarer Zeuge der Verführungsnacht. Zwischen den Figuren und dem Leser besteht eine – in der Dramentheorie so genannte – »diskrepante Informiertheit«.596 Das Mehrwissen gewährt dem Leser einen Überblick und verleiht ihm sowohl Dolores als auch Karl gegenüber eine Übermacht. Wissend sieht er Dolores zu, wie sie in die Falle des Markese tappt. Gut informiert, betrachtet er Karl, wie er vom Treuebruch seiner Frau erfährt. Aus dieser Position der Stärke beobachtet er aus sicherer Distanz und fiebert doch zugleich in Furcht und Sympathie mit den Figuren mit. Bis sich die Handlungsstränge Dolores/Markese, Karl/Markese und Dolores/Karl im Moment der Anagnorisis überschneiden, beobachtet der Leser die beiden Protagonisten wie
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Francois Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 1973. Thomas Anz, Spannung, S. 465. Zur Informationsvergabe vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 79ff.
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tragische Helden eines analytischen Dramas, das sich im teatro mundis zu seinen Füßen abspielt. Vor den Augen des Lesers spielt sich somit während der Verführungssequenz ein anthropologisches Experiment ab, über dessen Komponenten der Zuschauer vom Versuchsleiter bestens informiert wurde. In diesem Moment der Anspannung, in dem die Spannungsführung die Aufmerksamkeit und Emotionalität des Lesers gezielt auf das »Wie« der Ereignisse und den Fortgang des Geschehens fokussiert, und der zugleich suggeriert, dass sich der Leser mit der seit dem Romanbeginn eingeübten Routine darauf verlassen kann, den privilegierten, auktorialen Überblick über alle wesentlichen Faktoren zu teilen, entfaltet der Erzähler zielgenau seine Verführungsstrategie. Die betrügerische Verführung des Lesers durch den Erzähler fällt mit Dolores’ Verführung durch den Markese zusammen. Denn – unter dem Deckmantel des Spannungsbogens – kippt plötzlich das – nach Barthes – kontrollierbare Lustprinzip in die gefahrvolle Wollust, die per definitionem außer Kontrolle gerät.597 Die Spannung entpuppt sich als Grenzphänomen zwischen Lust und Wollust. Der Verführungstrick des Erzählers besteht darin, den Leser in Sicherheit zu wiegen, ihm aber entscheidende Informationen vorzuenthalten wurden. Ohne jede Vorwarnung verliert der Leser im Laufe der 3. Abteilung seine Position der Übersicht und teilt im Hinblick auf einen wesentlichen Aspekt die eingeschränkte Perspektive der Figuren. Der Erzähler gewährt seinem Leser nur noch eine Mitsicht und wechselt von einem Augenblick auf den nächsten (auch auf dieser Textebene) zu »unzuverlässigem Erzählen«. Der Verführungsakt beruht in diesem konkreten Fall darauf, dass der Erzähler seine Erzählperspektive künstlich beschränkt. Er verfügt weiterhin über alle Informationen, schildert aber ausschließlich die Ereignisse in Deutschland, die italienischen Ereignisse um Kelia spart er aber konsequent aus. Wie der Markese setzt auch der Erzähler darauf, dass sein Verführungsopfer seine eigene Macht falsch einschätzt. Da der Leser aus Gewohnheit und Vertrauen davon ausgeht, dass er uneingeschränkt an der Informationsmacht des Erzählers partizipiert, über dessen Überblick verfügt und höchstens den tendenziösen, männlichen Blick auf die Ereignisse in Rechnung stelle muss, täuscht dieser sich über die wahren Machtverhältnisse. Der Leser verliert seine Abhängigkeit von der Macht des Erzählers aus dem Blick und täuscht sich somit über seine eigene Position. Diese Hybris gegenüber den anderen Figuren, die er wie in einem Welttheater zu seinen Füßen von oben herab beobachtet und beurteilen zu können glaubt, wird ihm – analog zu Dolores – zum Verhängnis. Auf diese Unachtsamkeit spekulierend, entwickelt der Erzähler für seinen Leser das Überraschungsmoment des Romans.598 Während der imaginäre Leser Karls erste Anagnorisis, bei der er Dolores’ Ehebruch enttarnt, voraussieht und aus seiner gewohnt überlegenen Position mitverfolgt, überrascht ihn die Tatsache, dass der
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Vgl. die Systematik der vorliegenden Studie, Kapitel 2.1.2, S. 44. Zur Abgrenzung des Begriffs »Überraschung« von der »Suspence« vgl. Thomas Anz, Literatur und Lust, S. 162.
Markese Klelias Ehemann ist, ebenso wie den männlichen Protagonist selbst. Von dieser Verbindung nach Italien weiß der Leser solange nichts, bis auch Karl durch die Ankunft von Klelias Brief davon erfährt.599 Im Hinblick auf die Frage, wer der Markese ist, wird die diskrepante Informiertheit also zugunsten, oder vielleicht besser: zu ungunsten einer kongruenten Uninformiertheit aufgehoben.600 Wie Karl, Dolores und Klelia ist auch der Leser partiell uninformiert.601 Alle vier unterscheiden sich damit von dem Markese und dem Erzähler, die von Beginn an über die wahren Verhältnisse informiert sind. Der Leser teilt bis zu dieser Stelle Karls eingeschränkte Perspektive, er sieht mit den Augen des Betrogenen und ist somit fest in das Spiel der Täuschungen intergriert.602 Demonstrativ führt ihm der Erzähler vor, dass auch er – wie die Figuren des Romans – unter einer eingeschränkten Wahrnehmung leidet. Und noch eine Homologie konstituiert der Roman zwischen seinen Figuren und seinem imaginären Leser: Das markesische Verführungsspiel, das auf Klelias, Dolores’ und Karls Täuschung und Selbsttäuschung setzt, wiederholt sich auf der pragmatischen Ebene des Romans. Auch der Leser wird getäuscht und verführt. Vom Bild des fürsorglich fordernden Lehrers bleibt angesichts dieser Umstände nichts mehr, der Erzähler erweist sich als Bundesgenosse des Markese, beide sind durchtriebene Verführer. Der Überraschungscoup zeitigt einen nachhaltigen Effekt. Die Desillusionierung zieht dem Leser mit einem Schlag den Boden unter den Füßen weg. Der Leser verliert die Kontrolle über das bislang Gelesene. Die Anagnorisis entzieht ihm allen Sinn, den er bis hierhin konstituiert hat. In dem Moment der Anagnorisis erkennt der Leser seinen partiellen Mangel an Information. Er muss einsehen, dass sein Vertrauen nicht nur in die Kommunikation mit dem Erzähler, sondern auch in das bisherige Korrektiv, mit dessen Hilfe er die Erzählerfigur bislang durchschauen konnte, betrogen wurde. Zudem muss er seine gesamte bisherige Lesart der Geschichte verwerfen. Sei bis hierin konzipiertes Denkgebäude stürzt ein und bedarf ein neuen Konstruktion. Die spannende Frage, die der Romantext an dieser Stelle stellt, lautet somit nicht mehr, wie reagiert Karl, sondern, was macht der Leser? Was tun die prototypischen armen Fräuleins? Selbstreferenziell gibt der Roman Karls Verhalten als Vorbild aus. Dessen Reaktion auf Klelias Brief fungiert als wirkungsästhetisches Modell:
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Zur Ankunft von Klelias Brief vgl. Kapitel 5.7 dieser Studie, S. 271. Klelia schreibt Karl, dass der Markese und der Herzog die identische Person sind. Sie weiß ihrerseits aber nichts davon, dass ihr Mann während seiner Deutschlandreise ihre Schwester Dolores verführt hat. Auch Klelia ist in einer Illusion gefangen. Manfred Pfister, Das Drama, S. 87. Manfred Pfister, Das Drama, S. 79. Der Erzähler muss vorab gewusst haben, wer der Markese ist. Warum sollte er auch nicht gemeinsam mit dem Markese sowohl den deutschen als auch den italienischen Schauplatz seiner Handlung überblicken können? Der Erzähler hat seinem Leser dieses Wissen gezielt vorenthalten.
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Kaum hörte er das noch, und schon stürzte er hinauf auf sein Zimmer, legte die Stirn gegen die Mauer drückte die Augen ein; er fühlte sich in einem Gewebe von Ahndungen, die alle wahr geworden, daß ihm sein Leben und die Welt zu einem Chaos verschwamm; Geister gingen bei ihm aus und ein, sein Hirn war wie der Blocksberg in der Mainacht. [...] Bald setzte er sich und saß im Finstern sinnend die ganze Nacht. (436)
Das Chaos der Welt löst einen Hexentanz der Gefühle und Gedanken aus. Diese zugleich begehrenswerte, übermütig lust-, wie beängstigende leidvolle innere Walpurgisnacht beruht auf der fundamentalen Skepsis gegenüber der eigenen (bisherigen) Wahrnehmung. Die Welt der Zeichen so gelesen und gedeutet zu haben, wie sie nicht ist, führt Karl dazu, sich in das Dunkle seines Zimmers zurückzuziehen und so möglichst jede Wahrnehmung von Welt auszuschließen. Auf die Erfahrung des inneren Chaos folgt nun das Nachsinnen, das Umschalten in den melancholischen Modus der das Gewebe der Verflechtungen noch einmal neu knüpft. Der Leser – so schreibt dieses Verhaltensmodell vor – verfällt in diesem Moment plötzlicher Unterbrechung, in dem der Sinn suspendiert, nicht aber vollständig verweigert wird, in dieselbe Situation wie Karl. Auf das Chaos der Gedanken und Gefühle, und der kurzzeitigen Paralyse, entwickelt sich analog zu Karl aus der Erfahrung des Sinnentzugs umgehend das Bedürfnis, den Mangel zu beheben. Während Karl nachsinnt und schließlich seinen Selbstmord plant, konstruiert der Leser eine neue, unter den veränderten Umständen schlüssige Lesart und plant im Sinne seiner emphatischen Einfühlung in den Protagonisten das Kommende voraus. Dieses Wechselspiel aus Mangelerfahrung und (Sinn-)Begehren treibt die erotische Lektüre weiter voran. Doch dazu bleibt den prototypischen Leserinnen nichts anderes übrig, als sich erneut in die Hände ihres Verführers zu begeben. Weiter zu lesen bedeutet ja, sich dem Erzähler erneut anzuvertrauen. Tatsächlich kommt dieser dem von ihm ausgelösten Begehren noch im Moment der Überraschung nach, indem er an die Entdeckung der wahren Begebenheiten ein neues Lektüreangebot anschließt. Indem der Erzähler den Leser in das Geheimnis des Markese einweiht (und ihn über die weiterhin unwissenden Dolores und Klelia erhebt, suggeriert er ihm, dass er wieder alle Erzählstränge in der Hand habe und jetzt – ebenso wie Karl – wieder das gesamte Tableau der Erzählung vollständig überblicke. In Wahrheit aber läutet der Erzähler damit nur die nächste Runde seines Verführungsspiels ein. Ein Hinweis darauf ist, dass er auf die – in diesem Augenblick zentrale – Frage nach der Identität des Markese nur scheinbar eine befriedigende Antwort gibt. Die Lösung, dass er Klelias Ehemann ist, erlaubt es zwar die mènage à trois zu einer Viererkonstellation zu erweitern. Doch die Identität des Markese bleibt ausschließlich relational (zu seiner Frau und den anderen Figuren bestimmt). Essentiell bleibt sie ungeklärt. Trotz aller Erklärungen bleibt der Verführer eine opake Figur, seine Identität bleibt ein Rätsel. So ist es nur konsequent, dass er nach seiner Rückkehr zu Klelia, bis hin zu seinem geheimnisvollen Tod (467) nur neue Rätsel aufgibt: »er schwindelte in die Frömigkeit hinein, die seiner Frau eigen; es war ihm ein neuer Reiz, den er aber immer neu steigern mußte; die Religion ward ihm eine neue Art Opium.« (449) Der Markese spiegelt sich erneut nur in den 332
Wünschen seines Gegenübers wider. Sein Verführungsspiel setzt sich also ohne Unterbrechung fort. Eine Identität aber die über das Etikett »Verführer« hinausgehen würde, erhält der Markese nicht. Und so schlägt auch der Erzähler die Möglichkeit aus, sein Verhältnis zu seinem Leser zu klären. Statt aufzuklären, nutzt er die Markesefigur nur dazu um elegant zu dem Zusammenhang zwischen Religion und Liebe überzuleiten, den er im Folgenden Verlauf seiner Erzählung genauer verhandelt. Auch der Leser wird also nicht gerettet, er wird weiter in Welt geheimnisvoller Beziehungen und des unstillbaren Begehrens eingewoben. Die Korrelation von Spannung und Überraschung zeigt, dass der Erzähler das hermeneutische »Sinnund Strukturbedürfnis«603 seiner Leser im Sinne seiner narrativen Verführung instrumentalisiert. Diese besteht darin, Sinnstrukturen anzubieten und die Lust der Lektüre zu wecken, um sie in einem gezielten Akt der Kontingenz Einstürzen zu lassen. Der Leser muss in Folge dieser Erfahrung, jedes Bruchstück des Erzählmaterials akribisch untersuchen. Der Text fordert als Kehrseite des Begehrens eine Lektüre der Wollust ein.604 Diese Faktur des Romans fordert seine Leser, sich in die potentiell unendliche semiotische Bewegung von Trennung und Synthese, in das Wechselspiel von Sinn(de-)konstruktion zu fügen. Verführerische Masse Zu dieser Liebeskommunikation, zu diesem verführerischen Grenzgang zwischen Liebe, Lust, Wollust und Begehren gehört auch das Zusammenspiel zwischen der Rahmenhandlung des Romans und den eingelegten Gedichten, Dramen und Erzählungen. Die Prominenz der Einlagen verführt die Rezipienten offenbar dazu, diese zu kategorisieren. Die Arnimforschung repräsentiert weithin diese Ordnungslust. Die Versuche setzen mit Fuhrmanns Lektüre ein, der »im Romanganzen lediglich ein Variationswerk über das Thema Liebe« sieht, eine »Art Liebesspiegel für die zeitgenössische Gesellschaft.«605 Fuhrmann typologisiert die Einlagen in die vier Gruppen: Liebe, Ehe, freie Liebe, Ehebruch. Offermann hingegen stellt beinahe trotzig fest, die Menge der aneinander gereihten Einlagen sei »nicht erklär-
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Nicola Kaminski, Kreuz-Weise lesen, S. 17. Der Text riegelt sich nicht – wie Kaminski behauptet – hermetisch gegen jedwedes Verständnis ab (247). Er lädt immer wieder zur hermeneutischen Lektüre ein und durchkreuzt nur gezielt die Vorstellung, dass er eine, »höhere« Wahrheit, ein »transzendentales Signifi kat« repräsentiere. Dies., Einleitung, S. 20. So Offermanns über Fuhrmann. Helmuth Offermanns, Der universale romantische Gegenwartsroman, S. 1. Bei Fuhrmann selbst heißt es: »Der gesuchte Hauptschlüssel, dessen wir uns bedienen müssen, um die verwirrende Fülle des Werkes unter einem einheitlichen Gesichtspunkt aufzuschließen, ist das Thema der Liebe. Auf diesen Generalnenner läßt sich die Menge der Episoden und Einlagen des Romans, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenso zurückführen wie die Handlung, in deren Zentrum als eine bestimmte Form der Liebe die Ehe steht.« (106) Zum speculum amoris vgl. Kapitel 1. dieser Studie.
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bar«, entwickelt im Anschluss daran aber gleich ein eigenes Ordnungssystem.606 Und Moering schließlich adaptiert Schlegels »Band der Ideen«, das die Einheit der Komposition garantiere.607 Das Band ist in Arnims Roman selbstverständlich das Thema Liebe. Allerdings stellt der »speculum amoris«, in dem sich alles Liebesarten in den anderen widerspiegeln, eine gezielte hermeneutische Provokation dar. Da die Einlagen sorgsam in die Handlung eingebettet sind, fordern sie zwar das hermeneutische Ordnungsbegehren heraus, aber nur um die Aufnahmefähigkeit des Lesers bereits zahlenmäßig zu übersteigen. Sie erzeugen eine unüberschaubare Komplexität der gegenseitigen Verweise und Beziehungen. Ihre Quantität durchkreuzt jedes Vorhaben, aus ihnen »eine Einheit« zu formen. Erst Knapp, Wingertszahn und schließlich Kaminski entsagen daher jeder Ordnungslust. Sie geben klugerweise alle drei mit dem Hinweis auf Bachtins polyphones Romankonzept jeden Versuch auf, die Einlagen zu typologisieren. Damit beschreiben Sie den Phänotyp des Romans treffend, dafür entgeht ihnen aber das Verführungsspiel, das die ›Gräfin Dolores‹ mit Hilfe ihrer Einlagen provoziert. Die palagonische Inszenierung des entfesselten Chaos stürzt den Leser gezielt in eine Lektüre der Wollust und fordert von ihm, jedes einzelne Bruchstück als ein eigenes, ganzes Kunstwerk zu erkennen und seine Desintegration anzuerkennen. Das heißt nicht, dass die einzelnen Elemente der jeweiligen Einlage das Spiel nicht noch einmal wiederholen würden. Der Roman fordert die Ordnungslust gezielt heraus, um mit dem Zuviel an Information die Grenze des Verstehens auszuloten. Die ›Gräfin Dolores‹ fordert als Text eine Lektüre, wie sie Stephen Greenblatt für den New Historicism entwickelt hat: »Nicht mehr alles zu erklären zu wollen, sondern nur die Struktur, die den Vorgang bestimmt, zu identifizieren.«608 Der Roman legt es darauf an, das Verschwendungsprinzip strukturell zu verorten: Als integraler Bestandteil eines narratologisch/semiologischen Verführungsspiels, das zwischen Lust, Wollust und Begehren oszilliert.609
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Helmuth Offermann, Der universale romantische Gegenwartsroman, S. 49ff. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 20. Stephen Greenblatt, Resonanz und Staunen, S. 7 und S. 10ff. In diese Position begibt sich tatsächlich auch Nicola Kaminski selbst. Kaminski gerät an der zentralen Stelle ihrer Arbeit – wohl inszeniert – ins Grübeln. Sie fragt sich, wie sich das Zuviel der Einlagen, der Informationsüberschuss, auf das Zusammenspiel zwischen Einlagen und Rahmenhandlung und auf die Interpretation des Romans auswirkt. Die Schwierigkeit, vor welche die ›Gräfin Dolores‹ Kaminski stellt, kristallisiert sich in deren Lektüre der »Heidemädchen-Einlage«. Kaminski stellt sich die Frage, ob man »aus einer einzigen Einlage, so weitreichende Schlüsse ziehen [darf, C. M.],« wie sie dies im Zuge ihrer Lektüre tut. Müsste man nicht erst das Zusammenspiel zwischen jeder einzelnen Einlage und dem Rahmentext untersuchen? Kaminskis Problembewusstsein schließt ein, dass man genau genommen eben nicht machen dürfte, was sie tut, weil auf diese Weise eine zufällige Stichprobe zur Grundlage der gesamten Lektüre wird. Dennoch beantwortet sie ihre rhetorische Frage, schnell selbst mit »Ja« und erteilt sich somit eigenmächtig die Absolution. Kaminski vollzieht damit eine prototypische Lektüre des Sinnbegehrens.
Bildersturm Dieses Verführungsspiel radikalisiert Arnims Roman insofern, als er den Grenzgang zwischen Lust, Wollust und Begehren, nicht nur punktuell und in Bezug auf die erzählte Liebesgeschichte inszeniert, sondern ihn auch im Hinblick auf die Liebeserzählung selbst, der Materialität des Textes, ausweitet. Der Romantext reißt die Säulen ein, die seine Erzählung und seine erzählte Welt (Diegesis) tragen. Die Schaltstellen der angeblich domestizierten Rahmenerzählung weisen erhebliche Risse auf.610 Das prominenteste Beispiel hierfür stellt das Anfangsbild des Romans dar. Wenn dort der Erzähler mit Hilfe des gleichzeitigen Erzählens den Eindruck weckt, noch zum Zeitpunkt des Erzählens sei es möglich, das fürstliche neben dem gräflichen Schloss zu sehen, existieren die beiden Schlösser nach der Logik des Erzählarrangements auch noch nach Dolores’ Tod, also nach Abschluss der erzählten Liebesgeschichte. Auf diesen Realitätseffekt, der das Schlossbild auf Dauer stellt, baut die Glaubwürdigkeit der gesamten erzählten Ereignisse auf. Mit ihm korreliert gezielt die Tatsache, dass Karl und Dolores, als sie nach Italien aufbrechen, ihr Schloss wie ein Denkmal einrichten: »Das Schloß in der Stadt sollte unverändert, aber unbewohnt bleiben, nur die Zeit sonst niemand sollte daran ein Recht ausüben.« (463) Nach der zwischenzeitlichen Renovierung nähert sich das Schloss damit wieder jenem Zustand, den man – so die Konstruktion – noch in der Zeit nach Dolores’ Tod besichtigen kann. Doch die Dauer des Schlossbildes reicht nur bis genau 11 Jahre nach Dolores’ Treuebruch. Exakt am 11. Jahrestag von Dolores Ehebruch, in der Nacht des 14. Juli kehrt Dolores’ Vater, der Graf P*, 17 ½ Jahre nachdem er mit seiner Flucht Dolores’ Kindheit zerstört hat, zu dem einst von ihm erbauten Palast zurück (vgl. 511). Just in dieser Nacht brennt der Palast bis auf seine Grundmauern ab (vgl. 513): Mehrere Mauern waren halb eingestürzt, sie waren nicht dauerhaft gebaut […], des Grafen luftiges Gebäude […] lag da wie eine untergehende leichtsinnige Zeit reuig abbittend vor einer alten dauerhaften wiederkehrenden bescheideneren. (515)
Der Graf P* nimmt den Verlust seines Schlosses gelassen und entscheidet sich ausdrücklich dagegen, den Palast wieder aufzubauen: Die Trümmer seines alten Schlosses ließ er zu seiner Erinnerung unverändert stehen, Reisende versichern, daß das Lebendige Frische in dem Zerstörten: Marmorsäulen, die halb zu Kalk verbrannt, bunte Wandmalerei, halb geschwärzt, einen eigentümlichen Eindruck von Vergänglichkeit gewähre, der manchem schwermütigen, der Gegenwart überdrüssigen Gemüte so willkommen sei. (519)
Für den Leser bedeutet diese Schilderung des verheerenden Brandes, dass es unmöglich ist, sich dem Reisenden des Anfangsbilds anzuschließen, um im Moment
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Die Opposition zwischen konservativ erzählter Rahmenhandlung und Verwilderung durch die Einlagen lässt sich demnach nicht weiter aufrechterhalten.
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des (nachträglichen) Erzählens die beiden Schlösser zu genießen. Der Roman entzieht dem Leser die Vorstellung, das Anfangsbild habe eine außersprachliche Referenz. Die behauptete Denotation der Zeichen entpuppt sich als eine sprachlich erzeugte Illusion, das Bild ist ein rein geistiges, ein phantasmatisches Produkt. Nach über 400 Seiten Erzählzeit zerstört der Roman die Schlossszenerie des Romananfangs, der Bildinhalt und die (fiktive) Realität sind dann nicht mehr deckungsgleich und die Vorstellung, das Beschriebene sei noch in der Erzählgegenwart zu erleben, entpuppt sich als Illusion. Dieser Zerstörungsakt auf der Ebene des discours geht mit einem Gewaltakt auf der Ebene der histoire einher, der wiederum mit allen vorherigen Katastrophen des Romans korreliert wird. Wer zu Dolores’ Schloss aufbrechen wollte, würde auf eine Ruine stoßen. Darüber hinaus zerstört der Roman aber auch seine eigene fiktionale Welt. Der Roman zerreißt gezielt das Bild, das er zunächst entworfen hat, und widerspricht sich offen selbst.611 Die Vergänglichkeit des Schlosses auf der Ebene der histoire korrespondiert mit der Vergänglichkeit des narrativ erzeugten Schlossbildes auf der Ebene des discours. Der Romantext markiert damit nicht allein den Bildcharakter seines Erzählanfangs, sondern darüber hinaus auch die Vorläufigkeit und begrenzte Dauer seines Bildes, die beide wie Seifenblasen zerplatzen. Der Erzähltext entzieht sich seinen eigenen Boden. Die Erzählung weist in ihrer phänomenologischen Selbstreflexion darauf hin, dass sie sich ausschließlich im Zuge eines Sprechaktes konstituiert. Über diesen Augenblick der Rede hinaus, der mit der Textlektüre aufgerufen wird, ist sie nicht präsent. Damit trägt sie den Charakter einer Spur, die bereits jenseits der Ereignisse zu denken ist. Als solche – so lässt sich mit Derrida behaupten – ist die Erzählung nicht, sie wird gegeben und kann immer nur im Zuge einer Lektüre materialer Zeichen aufgerufen werden.612 In diesem Sinne durchkreuzt die Szene nicht einfach nur die fiktionale Welt, sie fungiert zugleich als Sinnbild des eigenen Erzählprogramms. Denn die Schlossruine, welche den Gefallen schwermütiger Gemüter finde, verweist metaphorisch auf nichts anderes als das in seine Einzelstücke
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Dass diese logischen Bruchstellen wohl kalkuliert sind, ist daran zu bemerken, dass sich an derselben Schaltstelle des Romans zwei weitere Widersprüche finden: Erstens das kurze, befremdliche Gespräch des Grafen P* mit seiner vor knapp 17 Jahren verstorbenen Frau, das nicht weiter aufgelöst wird. Es bleibt tatsächlich nur die Erklärung, die Frau sei eine Gespenst, eine Erscheinung des Grafen P., mit dem seine Phantasie durchgehe. Das Spiel der Illusionen setzt sich also auf der Ebene der histoire fort. Das gilt auch deshalb, weil die Stadtbevölkerung ihrerseits vermutet, der Geist des Grafen, der in seiner Heimat ja als tot gilt, gehe seit Jahren in dem Palast um (vgl. S. 512f.). Zweitens widerspricht die Rückkehr des Fürsten (511f.) der Behauptung des Erzählers, dass der Krieg »den fürstlichen Hof für immer aus dem Schlosse seiner Vorfahren entfernte.« (111) Derrida bezeichnet die Gabe der Erzählung als eine »Gabe ohne Gegenwart«, vgl. Jacques Derrida, Falschgeld, Zeit geben I, S. 49. Vgl. auch Kathrina Busch, Geschicktes Geben, S. 98. Diese Bewegung konstatiert nicht nur der Dekonstruktivismus, sondern auch die Phänomenologie. Vgl. zu diesem phänomenologischen »Bedingungsverhältnis von Präsenz und Entzug«, Eckhard Lobsien, Darstellung und Wiederholung, S. 119f.
zerfallende, ruinöse Erzählprojekt selbst. Der Leser befindet sich nicht nur erneut in ein Wechselspiel aus Illusion und Desillusion eingebunden, sondern er ist Teil eines Lektüreprozesses, der gezielt jenseits eines transzendentalen Signifikats stattfindet. Jenseits jedes Ursprungs aber ist die Romanfaktur stets in Bewegung: Was sich – wie das Anfangsbild – konstituiert, löst sich anschließend wieder auf. Dem Leser entzieht sich aufgrund dieser Zeichenkonstitution, was er lesend synthetisiert hat. Wie Tantalos entzieht sich diesem ihm stets das Textmaterial, nach dem er greift. Auf diese Weise wird der Rezipient in eine potentiell unendliche Bewegung von Synthese und Dissoziation hineingezogen. Was dem Textreisenden bleibt, ist nicht das schöne Bild, dieses vergeht. Ihm bleibt nur die genuin romantische Schönheit, die in der Vergänglichkeit des Schönen liegt.613 Die De-Figuration des Erzählers Dieses verführerische Doppelspiel aus Sinnversprechen und -entzug macht zuletzt nicht einmal vor der Erzählerfigur halt. Der selbsternannte Textgott, die Autorität des Romans und nicht zuletzt der personifizierte Kommunikationspartner für den Leser, erfährt die Doppelbewegung aus Synthese und Dissoziation am eigenen Leib.614 Den Blick auf das Erzählsubjekt bestimmt von vornherein eine Differenzierung, die der Untertitel vornimmt. Indem dieser behauptet, die ›Gräfin Dolores‹ sei »aufgeschrieben von Achim von Arnim« [meine Hervorhebung, C. M.], führt er eine Schreibinstanz ein, welche die »wahre Geschichte« zu Papier gebracht hat. Der exponierte Hinweis auf das Medium Schrift legt nahe, im Folgenden exakt zwischen dem (Auf-)Schreiber einerseits, und den an das Medium Stimme – oder besser die Illusion einer Stimme – gebundenen Erzähler zu unterscheiden.615 Der Untertitel differenziert nämlich nicht nur die beiden Instanzen, er hierarchisiert sie auch, indem er die Erzähl- der Schreibinstanz nach- und damit unterordnet. Demnach entwirft der Schreiber im Zuge seiner Textproduktion die männlich kodierte Erzählstimme. Das Verhältnis zwischen Erzähltext und Subjekt kehrt sich
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Zur Schönheit der Ruine, zur Schönheit des Vergänglichen und inwiefern sich die Romantik mit dieser Ästhetik auf barocke Vorstellungen stützt vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 156f. Man kann diese De-Figuration auch an jeder anderen Romanfigur beobachten. Die vorliegende Studie konzentriert sich aber auf die Synthese und Autolyse des Erzählers, weil diese sich grundlegend auf das gesamte Erzählarrangement auswirkt. Zur typologischen und allegorischen Gestaltung der Figuren in Arnims Roman vgl. vor allem Horst Meixner Studie zum Figuralismus. Eine hermeneutische Lektüre würde wohl Aufschreiber und Erzähler miteinander identifizieren und in beiden den realen Autor Achim von Arnim erkennen. Diese Lesart provoziert der Roman einerseits auch. Nur würde eine solche Lektüre andererseits die Differenz kaschieren, die der Text an so prominenter Stelle einführt und stark macht. Erneut gilt es, die Spannung zwischen den beiden Polen auszuhalten, anstatt sie zu verwischen.
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in Folge dieser Konstruktion um:616 Nicht der Text ist – wie es die Fiktion eines Erinnerungstextes nahe legt – der Ausdruck eines sich erinnernden Subjekts, sondern das Subjekt wird gemeinsam mit seiner Geschichte erst durch den Text konstituiert. In dem Augenblick, in dem der discours der ›Gräfin Dolores‹ mit ihrem ersten Signifikanten einsetzt, inszeniert sie einen Zeugungsakt: Es folgt die Geburt einer Erzählerfigur aus dem schriftlich fi xierten Text.617 Ausdrücklich entwirft der Roman also ein Bild einer sich erinnernden Erzählinstanz. Diese ist von vornherein als Textfigur zu betrachten, als ein sprachliches Konstrukt. Das Erzählen in der ›Gräfin Dolores‹ beruht auf der – im Strukturalismus nur noch einmal wiederholten Einsicht –, dass »die Stimme aus der Schrift ohnehin nur übertragen erklingt, also gar nicht, sondern nur als Metapher von Subjektivität lesbar ist.«618 Die Erzählinstanz konstituiert sich also, wie jede andere Figur auch, aus einer Folge von Metaphern, aus einer metaphora continua. Die Figuration des Erzählers (durch den Text) verläuft nach einem allegorischen Verfahren. Unter dieser Voraussetzung dient die ›Gräfin Dolores‹ ihrer Erzählerfigur als eine öffentliche Plattform, »auf der sich das Subjekt zum Objekt verhält«. Sie fungiert als »Bühne für die Inszenierung des Subjekts, als eines, das über den ästhetischen Gegenstand verfügt und dadurch sich hervorbringt.«619 Zunächst bekräftigt Arnims ›Gräfin Dolores‹ Wellberys aus der Repräsentationstheorie abgeleitetes Diktum, dass jede Inszenierung des Vorstellungs- bzw. des Erinnerungsvermögens grundsätzlich die Subjektposition stärkt. Da die »Re-Konstruktion« der vergangenen Ereignisse einzig von dem Erinnerungs- bzw. Vorstellungsvermögen des Erzählsubjekts abhängt, avanciert es sogar zum eigentlichen Protagonisten des Romans. In diesem Sinne zeugt der Text einen allwissenden Erzähler, der sich seinerseits als gottgleicher Schöpfer seiner Geschichte inszeniert, über die er als allgegenwärtiger und allwissender Herrscher verfügt. Im Zuge dieser Lesart kann man die Autobiographie, welche der Erzähler in den oben bereits nachgezeichneten Etappen
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Damit verhandelt Arnims Roman jenen Widerstreit zwischen mündlicher Rede und Schrift wie er zum einen bereits Platons ›Symposion‹ eingeschrieben ist und er zum anderen den romantischen Erzähldiskurs bestimmt. So sieht Gerhard Neumann in der Inszenierung von Oralität eines der entscheidenden Charakteristika romantischen Erzählens. Gerhard Neumann, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Romantisches Erzählen, S. 11f. Mit Platons ›Symposion‹ könnte man fragen: Wer eröffnet Eros, dem Wahrheitsbegehren, den Schritt in die Kultur, Sokrates »Hauch der Rede« oder Platon, der diese Rede schriftlich entwirft. Vgl. Jacques Derrida, Le carte postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980. Die Geburt des Erzählers ist als Reflexion über die ontologische Kontingenz zu lesen. Der Text inszeniert diese als Ereignis und beantwortet damit die Frage, was die arché, der Ursprung des Erzählens ist. Die Antwort fällt eindeutig aus: Es ist der Text, die Materialität der Signifi kanten. Christiaan L. Hart-Nibbrig, »Was heißt Darstellen?«, S. 433. David Wellbery, Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation, S. 176.
(vgl. Kapitel 6.2 dieser Studie) von sich selbst erzählt, in der Tradition des Bildungsromans verorten. Schließlich lassen sich sowohl seine einzelnen Auftritte in seiner erzählten Welt als auch seine Kommentare und Reflexionen aus dem Off als eine zusammenhängende Geschichte lesen, die von den Erlebnissen und dem Bewusstsein (dem Seelenleben) eines melancholisch liebenden Erzählsubjekts erzählt. Den Höhe- und entscheidenden Kristallisationspunkt dieser Subjektsynthese bildet die Stelle, an der sich der Erzähler zu Beginn des zweiten Romanbandes als melancholisch Liebender beschreibt (vgl. 361). Es handelt sich bei diesem autobiographischen Moment um eine narzisstische (Selbst-)Reflexion, das heißt, eigentlich handelt es sich um zwei narzisstische Bespiegelungen zugleich: Der Erzähler erinnert sich erstens an sich selbst, wie er auf der Ebene der histoire zweitens in ein Selbstgespräch vertieft ist und dabei seine »treue Seele« anspricht. Auch die für den Narziss-Mythos zentrale Quelle fehlt nicht, denn – wie bereits gezeigt – verhandelt der Erzähler an dieser Stelle den »Ursprung« seiner Autorschaft, die Quelle, aus der die ›Gräfin Dolores‹ entspringt, um sich im Zuge seines Erzählflusses auszubreiten. Ich zitiere die betreffende Textstelle noch einmal – nur zur Erinnerung: Als ich einmal an einem grauen Tage einsam und gleichgültig meinen Weg wanderte, um mein verhageltes Feld zu besehen, und von einem Hügel zum anderen blickte, und so bedachte, wie bald ich auf dem andern, und dann auf dem dritten, und dann – und dann vor Dir stehen könnte, Du treue Seele, zu der ich am liebsten spreche unter allen in der ganzen Welt, und der ich am wenigsten zu sagen habe, weil Du mich gleich verstehst und alle meine Worte mehrest und deutest, da wurde mir allmählig so freudig, daß ich rings umher alles mit anderen Augen ansah, als lernte ich gerade jetzt erst sehen und müßte jetzt erst nachgenießen, was ich den Tag über in Gleichgültigkeit, Ärger und ferner Träumerei versäumt und übersehen hatte. (361).
Die Selbstbeschreibung des Erzählers führt prägnant vor, wie sich die beiden Ebenen der Erzählerfiguration in Arnims Roman ineinander verschränken. Der Erzähler thematisiert selbstreflexiv seine (allegorische) Geburt aus dem (materialiter vorliegender) Text, wenn er sich in seiner Erinnerung selbst zuwendet, sich damit noch einmal selbst erzeugt und sich, um seinen Charakter zu figurieren, seinerseits eines allegorischen Verfahrens bedient. Man kann daher ebenso paradox wie scheinbar tautologisch formulieren: Als melancholisch liebender Erzähler schreibt sich das sich erinnernde Erzählsubjekt mit Hilfe der »metaphora continua« die Eigenschaften des melancholisch Liebenden zu.620 Das passt zugleich zum Inhalt der
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Die Allegorie ist die textproduktive Operation, um die Figuren im Modus der Erinnerung zu konstituieren. Das gilt auch für die Figuration seines übrigen Personals. So wird Karl gleich bei seinem ersten Auftritt hintereinander als Pygmalion, als Aktaion, als Eroberer Balboa, wenig später als Adam (mit Apfel) und Tantalos sowie über weite Strecken der ersten Romanhälfte als Jesusfigur figuriert. Dolores geht es nicht anders, sie ist mit den Attributen der Venus (Spiegel), der paradiesischen Eva ausgestattet, wird aber auch als Marienfigur inszeniert und wandelt sich – auf der Bildoberfläche – im Laufe des Roman von der schmerzensreichen zur »büßenden Maria Magdalena«. (458f.)
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Beschreibung, denn die Allegorie ist bekanntermaßen der bevorzugte Darstellungsmodus des Melancholikers.621 Die rhetorische Ausstattung des gesamten Romans (elocutio) ist damit in das Modell des melancholischen Liebesprojekts integriert. Als Erinnerungstext schreibt Arnims ›Gräfin Dolores‹ ihrem Erzähler selbst die Verantwortung für die textproduktive Ausstattung des Erzählten mit dem »ornatus« der Tropen zu. So weit reicht die Synthesekraft des Erzählers, so weit befriedigt der Roman das hermeneutische Sinnbedürfnis seines Lesers. Bis hierhin führt der Leser seine Liebeskommunikation mit einem personalisierten Gesprächspartner. Allerdings zeichnet sich die Selbstbeschreibung des Erzählers dadurch aus, dass sie einerseits zwar eine »auktorial gefestigte« Subjektposition entwirft, man andererseits aber an ihr ablesen kann, wie dem Erzähler die eigene Identität quasi durch die Finger rinnt. Ausgerechnet seine narzisstische Selbstreflexion macht deutlich, dass er seine Identität nicht etwa wahrt, sondern dass diese sich gleich in mehrfacher Weise verflüchtigt. Die Selbstbeschreibung des Erzählers bildet den Umschlagspunkt von der Subjektsynthese zu dessen Dissoziation. Indem die Erzählerfigur sich auf der Ebene der histoire monologisch an seine »treue Seele« wendet,622 spaltet sich das erzählte Subjekt unvermeidlich in ein sprechendes Ich und in ein mit »Du« angesprochenes Objekt auf. Das erzählte Ich folgt der »Natur der Reflexion: Was immer sich reflektiert muss notwendigerweise aus sich herausgehen, um zu sich zurückzukehren.«623 Der Text potenziert diese Brüchigkeit: Da sich der Erzähler im Zuge seines nachträglichen Erzählens zudem noch an sich erinnert, spaltet sich das Erzählsubjekt auf der Ebene des discours zusätzlich in ein erzählendes und ein erzähltes Ich auf. Im Zusammenspiel von histoire und discours ist das Erzählsubjekt in dieser Szene demnach viergeteilt. Es erscheint in Folge dieser Dekonstruktion nicht etwa als stabiles, sondern als in sich zerrissenes Ich. Der Erzähler teilt, so lässt sich aus dieser narrativen Konstruktion ablesen, mit Karl die Grunderfahrung von Ovids Narziss: Wann immer Narziss nach seinem schönen Spiegelbild im Wasser fasst, zerspringt es. Der Erzähler kann sich nicht greifen. Er verfehlt
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Ihre zwölffache Mutterschaft hingegen zeichnet sie als Demeter aus. Dasselbe Prinzip der Figuration, so haben beispielsweise Kaminski, Meixner und Wingertszahn gezeigt, gilt auch für Klelia und das gesamte Personal von Arnims Roman. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 281ff. Beinahe routinemäßig – um 1800 – ist diese Entscheidung für das allegorische Verfahren im Kontext zu Goethes Symboltheorie zu verstehen. Darüber, dass die ›Gräfin Dolores‹ ein allegorischer Roman ist, ist sich die Arnimforschung von Meixner bis zu Kaminski einig. Es gibt nur einige seltene Versuche, beispielsweise den beiden Schlössern oder dem Landleben, symbolische Bedeutung zukommen zu lassen. So, behauptet Walter Benjamin, »wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch.« Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 161. Für Benjamin ist die Allegorie die Lust des Melancholikers: »Ist doch Allegorie das einzige und gewaltige Divertissement, das da dem Melancholiker sich bietet.« Ebd., S. 163. So schließt Arnims ›Gräfin Dolores‹ den Erinnerungsdiskurs auf figurenpsychologischer Ebene an den zeitgenössischen Seelen-Diskurs an. Vgl. Frauke Berndt, Anamnesis, S. 5. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 53.
seinen Beschreibungsgegenstand und gerät in eine nicht abschließbare Bewegung der (Selbst-)Reflexion. Der narzisstische Erzähler ist eben nicht nur ein sich selbst Liebender, sondern spezifischer ein sich melancholisch Liebender.624 Diese Unfassbarkeit des eigenen Selbst, die mit einer Auflösung der Identität einher geht, bestätigt sich auf textueller, semiologischer Ebene noch einmal dadurch, dass der Erzähler auf ein allegorisches Verfahren zurückgreifen muss, um sich an sich selbst zu erinnern. Der Text inszeniert mit der Wahl des allegorischen Modus’ ein Prinzip, das die Forschung heute mit dem Begriff der medialen Melancholie bezeichnet. Wagner-Egelhaaf konstatiert: »Der semiotische Ort der Melancholie ist […] die Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat.«625 Indem die Melancholie sich den »Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem« zu Eigen macht, und an dem Punkt des von Foucault so genannten ternären Zeichensystems einsetzt, an dem die Ähnlichkeit nicht mehr zwischen Zeichen und Bezeichnetem vermittelt, entfaltet sie ihre metonymischmetaphorische Dynamik: In der variierenden Wiederholung des Immergleichen, nämlich seines ursprünglichen Bedeutungsverlustes, setzt sich das melancholische Zeichen im Syntagma, als lineare Raumfigur fort; kommt es aber zur paradigmatischen Bedeutungsfrage, mündet das Grübeln über den Zeichen in die Differenz der Allegorie.626
Der allegorische Modus der Selbstbeschreibung setzt dieses semiotische Wissen in ein Identitäts- und Gedächtnismodell um. Er führt vor, dass ein unmittelbarer Zugriff auf die eigene Vergangenheit unmöglich ist. Offensichtlich muss jede Erinnerung – auch die an sich selbst – den Katalog des kulturellen Gedächtnisses durchlaufen und ist damit an die dort archivierten Bildtypen und Vorstellungsmuster gebunden. Deshalb erinnert sich der Erzähler an sich selbst, indem er auf ein
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Auch Ovids Narzissmythos erzählt von diesem Begehren, sich selbst zu ergründen und zeigt zugleich die damit einhergehende Verlusterfahrung auf. Gezielt wird im Mythos der potentiell unendlich andauernde Augenblick der Widerspiegelung überschritten, als Narziss sein gegenüber (und damit sich selbst) zu ergründen sucht. Als er die Wasseroberfläche berührt, zerspringt sein Spiegelbild und entzieht sich dem Betrachter. Im Rückblick lässt sich daher Narziss’ Weg zur Quelle sowie sein Beugen über die Wasseroberfläche als Metapher für seine nicht zu stillende Begierde nach dem Ursprung lesen. Narziss ist in diesem Sinne nicht nur ein sich selbst Liebender, sondern auch ein melancholisch Liebender. Zugleich koppelt der Mythos das Ursprungsbegehren an ein Muster poetischer Produktion. Die erste Art von Narziss’ melancholischer Autorschaft ist im akustischen Medium verortet. Sein Klageschrei, den er ausstößt, als sein Spiegelbild zerbirst, wird von der Nymphe Echo, die dem Knaben in vergeblicher, verzehrender Liebe verbunden ist, aufgenommen und multipliziert. Die zweite Art melancholischer Autorschaft, die mit dem Augenblick der Desintegration zusammenfällt, besteht darin, dass Narziss, wenn er die Wasseroberfläche berührt, sein Spiegelbild in eine exzentrische Wellenbewegung auflöst und somit in den »Splittern des Bildes« vervielfältigt. Martina Wagner-Egelhaaf, Melancholie der Literatur, S. 205. Martina Wagner-Egelhaaf, Melancholie der Literatur, S. 205f.
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ganzes Arsenal melancholischer Topoi zurückgreift und ein wahres Kompendium melancholischer Liebe erstellt. Seine Erinnerung verdankt sich der Passage durch fremdes Material. In Folge dessen aber ist seinem Selbstporträt statt Individualität stereotype Allgemeinheit zu eigen. Das bedeutet, dass der Erinnerung ein Akt der Enteignung eingeschrieben ist.627 Demnach beruht die Selbstbetrachtung des Erzählers auch keineswegs auf Unmittelbarkeit und Authentizität. Vielmehr präsentiert die Allegorie demonstrativ keine Wahrheit. Sie macht deutlich, dass jenseits der Sprache kein Referenzpunkt zu erreichen ist. Vielmehr behauptet sie als – sozusagen als sprachphilosophische Variante der Metaphysik – die grundsätzliche Zeichenhaftigkeit der Welt. Jenseits jeder Ursprünglichkeit vermisst sie »nur« den Raum der Bedeutungssynthesis. Der Erzähler umkreist mit dem allegorischen Modus seiner Erinnerung sein Selbst, aber er erreicht es nicht. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die (vermeintliche) Identität des Subjekts als eine Illusion, die sich immer schon in ihrer Konstitution zugleich wieder auflöst. Die metaphora continua trägt letztlich nur insofern individuelle Züge, als der Erzähler Bilder aufruft, die für ihn affektiv aufgeladen sind. Der Erinnerungsakt des Erzählers folgt denselben Prämissen wie Karls memorative Poesie, mit der dieser seine Liebeserlebnisse festhalten will (vgl. Kapitel 5.3ff. dieser Studie). Fügen sich die einzelnen Bildtypen im Zuge der allegorischen Selbstbeschreibungsszene noch zu der klar konturierten Figur eines melancholischen Liebhabers zusammen, so erweist sich im Zusammenspiel der einzelnen autobiografischen Erzählsequenzen an den Schaltstellen des Romans die durchgängige Janusköpfigkeit der Allegorie. Dieser ist ja aus hermeneutischer Sicht strukturell der Widerstreit von Synthese und Differenz und damit der Konflikt zwischen Sinnstiftung und -auflösung eingeschrieben. Aus poststrukturalistischer Perspektive kann man auch von der Dialektik einer dekonstruktiven Strategie besprechen (vgl. Systematik dieser Studie, S. 87). Konstituiert jede einzelne allegorische Selbstbeschreibung des Erzählers für sich noch ein einheitliches Bild, so spielt der Roman in der metonymischen Textbewegung von einer Selbstcharakterisierung zur nächsten, die seit Augustinus bekannte dissoziative Dynamik der Allegorie aus.628 Das Zusammenspiel der einzelnen Erzähleinheiten inszeniert die Autobiografie des Erzählers als ein Maskenspiel, bei dem sich das Bild des Erzählsubjekts kaleidoskopartig verschiebt.629 Tritt der Erzähler in der Eingansszene des Romans noch als Reisender auf, erscheint er von dort an nacheinander – und zugleich – als Nachfolger des Dichters Simonides, als Apollodor, als Karls alter Ego, als ein der Zwillings-
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Frauke Berndt, Anamnesis, S. 10. Erneut sind also Ökonomie und Liebeslust miteinander verknüpft. An dieser Stelle könnte man – hätte die Arbeit einen rein ökonomischen Schwerpunkt – weitere Überlegungen zur Gabe im Sinne Batailles und Derridas anschließen. Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders. Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke. Aus dem Amerikanischen v. Jürgen Blasius, Frankfurt am Main 1993, S. 131–147.
brüder Castor und Pollux, als Karls eifersüchtiger Konkurrent, als melancholisch Liebender, als Autor, als alter Ego und Verbündeter sowie als Gegner des Markese, als sittsamer Lehrer und als abgebrühter Verführer. Dieses Konvolut von Bildtypen wird im Zuge der gerade beschriebenen Selbstbetrachtung noch erweitert. Dort figuriert der Erzähler nicht nur als Narziss, sondern inszeniert sich zugleich als Echofigur, weil er durchgehend nur die Bruchstücke fremden Materials wiedergibt. Wie die Nymphe aus Ovids ›Metamorphosen‹ wiederholt er, was andere bereits zuvor gesagt haben. Der Erzähler geht im Laufe des Erzählens in der Akkumulation der Gedächtnisbilder auf – beziehungsweise, geht er eigentlich in der Bilderflut unter.630 Erzeugt diese doch, indem sie bedeutsame Versatzstücke auftürmt – strukturell begründet – ein Zuviel an Information. Die klaren Konturen der Erzählerfigur werden sprachlich überwuchert. Sie entpuppt sich als ein ikonografisches Erzählmonster, als ein schillerndes Vexierbild mit tausend Gesichtern.631 Ihr zunächst eindeutiges Bild wird – wie bei Proteus – von den changierenden Oberflächen verwischt.632 Der Erzähler wird im Laufe der bildlichen Aufladung zu einer Rätselfigur. Hinzu kommt, dass die Erzählerfigur sich synkretistisch aus unterschiedlichen und sich zum Teil offen widersprechenden Bildtypen zusammensetzt.633 Die Zeichen, die seine Person repräsentieren, verweisen auf so unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge, dass sich aus ihnen keine Identität rekonstruieren lässt. Die einzelnen Bruchstücke fügen sich zu keiner Einheit zusammen, die Erzählerfigur löst sich auf. Angesichts dieser Autolyse des Erzählers hat Walter Benjamin Recht, wenn er festhält, »Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge sind.«634 Arnims Erzählerfigur garantiert mit seiner Autorität zwar die gesamte Erzählung, letztlich aber ist sie eine ruinierte Instanz. Das Erzählsubjekt
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Der Melancholiker »wird von Bildern überflutet, das Gedächtnis/die Einbildungskraft übernimmt die Macht […].« Zum Vorschein kommt »das Manische der Melancholie: schematische Bilder überfluten das Subjekt«. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 203ff. Dies ist ein Verfahren, das alle Erzählungen Arnims prägt. Vgl. Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, aber z. B. auch Ralf Simon, Text und Bild. Zu Achim von Arnims Isabella von Ägypten, S. 174. Bereits Wingertszahn stellt fest, dass die vom Erzähler eingeführte »allegorische Entzifferungspraxis« ein Wechselspiel aus Trennung und Vereinigung in Gang hält. »Immer wieder wird ein neues Deutungsmuster angeboten, um es anschließend zu relativieren.« Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 287f. Auch Kaminski kommt zu dem Schluss, Arnims Roman als eine grundsätzliche Kritik an der »allegorischen Methode« zu lesen. Was Kaminski aber als kritischen Einwand gegen die allegorische Methode auslegt, ist ein essentieller Bestandteil von Arnims Liebespoetik. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 246ff. Diese »mythologische Erotik« hat erstmals Anton Herbert für eine Textarbeit operationalisiert: Anton Herbert, Mythologische Erotik in Kellers »Sieben Legenden« und im »Sinngedicht«, Stuttgart 1970. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 157.
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wird im Wechselspiel der Subjekt(de-)konstruktion jeweils neu geboren, um umgehend wieder zu sterben.635 Auch diese allegorische Kontingenz ist aber erneut wieder in Relation zu einer weiteren Ordnung zu denken: Im Zusammenhang mit der zuletzt genannten Echo-Figuration entpuppt sich der vermeintliche Bildungsweg des Erzählers in Wahrheit als ein stufenweiser Auflösungsprozess.636 In drei Etappen verliert der Erzähler jede (Illusion seiner) Körperlichkeit. Zunächst konstituiert der Roman eine eindeutig männliche Erzählerfigur. Während der Erzähler sich in der Mitte seines Romans sowohl narzisstisch selbst reflektiert als auch über seinen polyphonen Sprachakt als Echo figuriert, wird er zugleich zu einem androgynen Wesen. Denn die Nachfolge der Nymphe »Echo« anzutreten, konnotiert eindeutig auf ein weibliches Geschlecht. Die Erzählinstanz trägt ein männliches und ein weibliches Geschlecht zugleich. In diesem Kontext erhält die »mütterliche Liebe« der Erzählinstanz noch einmal eine neue Konnotation. Im dritten Schritt löst sich sein Körper endgültig auf. Nach Echos Vorbild – so legt der Roman nahe – verzehrt die Figur sich in ihrer melancholischen Liebe (zur homonymen Gräfin Dolores/›Gräfin Dolores‹), sodass am Romanende nur noch eine Erzählstimme übrig bleibt. Zum Zeitpunkt des (nachträglichen) Erzählens ist dies der Fall, denn dieser bleibt vollkommen unbestimmt, auf eine Erzähl- oder Schreibszene verzichtet der Romantext: Es bleibt die Stimme. Diese fügt sich wie Echo nur aus Sprachfetzen anderer zusammen.637 Die Erzählstimme verknüpft das heterogene, vielstimmige Sprachmaterial ihrer Vorgänger und verteilt dieses ihrerseits wieder auf die unterschiedlichsten intradiegetischen Erzählinstanzen des polyphonen Romans.638 Die Liebeskommunikation aber geht in der sprachlichen Oberfläche auf; es gibt kein dahinter. Was für einen Leser konzipiert ein Text, welcher die Dialektik aus Sinnkonstitution und seines -entzugs bis zum Garanten seiner gesamten Konstruktion, der Erzählerfigur, konsequent durchexerziert? Er entwirft modellhaft einen Rezipienten, der entweder dem Rat des Erzählers folgt und den Roman unmittelbar zur Seite legt und seine Lektüre abbricht oder der sich den semiologischen Liebesprinzipien verschreibt und sich dem Wechselspiel aus strukturalistischer Ordnungslust und -liebe sowie der Wollust und des Begehrens hingibt. Dieser Rezipient liefert sich
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Der Roman nutzt programmatisch, dass die »Allegorie keineswegs wie ein Fixierband für sprachlichen Sinn« funktioniert, »vielmehr kennzeichnet die allegorische Struktur die in ihr vollzogene semantische Synthesis als ein prekäres, weil niemals zum Stillstand kommendes Unterfangen.« Heinz Drügh, Anders-Rede, S. 8. Vgl. zur »relationalen Kontingenz« Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, S. 12ff. In diesem Sinne ist der melancholische Prinz von Palagonien mit seinem Schlossbau, der synkretistisch alle Stile in sich vereint, tatsächlich die poetologische Metapher des Romans. Die These von Wingertszahn, Kaminski und Offermann, die Erzählinstanz löse sich in der Polyphonie der Stimmen auf, ist nur ein Bestandteil, ein letzter Effekt dieser umfassenden Autolyse (s. u.).
wissentlich dem Rausch(en) der Signifikanten und dem Sog des Begehrens aus, ohne sein vernunftgesteuertes Sinnbedürfnis endgültig aufzugeben. Das zeigt sich nicht zuletzt anhand der allegorischen Figuration des Erzählers, die als eine Allegorie des Lesens zu entziffern ist. Denn die textproduktive Operation »Allegorie« fordert als textrezeptive Entsprechung die hermeneutisch elaborierte Allegorese ein, die zum Grübeln über den Zeichen geradezu verpflichtet. Dieses führt unausweichlich in eine potentiell endlose Dynamik von Synthese und Dissoziation.639 Damit ist der Leser demselben Wechselspiel ausgesetzt wie Karl und Dolores in ihrer »realen Welt«, die ein ums andere Mal von Streit, Trennung und Wiedervereinigung bestimmt ist, ohne zur Ruhe kommen, ohne einen Endpunkt setzen zu können. Dieses Wechselspiel einer niemals vollständigen Synthese und einer ebenso wenig endgültigen Trennung charakterisiert das romantische Liebeskonzept, es charakterisiert das Lesen über romantische Liebe und es bestimmt den Akt der Lektüre selbst.
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Dieses fein austarierte Erzählarrangement legitimiert es, noch einen Schritt weiter zu gehen. Arnim – so lässt sich schlussfolgern – macht sogar das polyphone Autorschaftskonzept für seine Liebespoetik fruchtbar. Die rezeptiv-produktive Echorede, die auf der Relationalisierung der Texte beruht, lässt sich – wenn auch etwas gewagt – als strukturelle Allegorie der Liebe lesen. Als Liebesbeziehung des eigenen Textes zu vorherigen, die aufgrund ihrer Relationalität die Identität beider Texte verändert, sie in dieser (intertextuellen) Liebe neu definiert. Als ein Prinzip der Vereinigung, das die einzelnen Sequenzen und Textsplitter zu einem großen Ganzen synthetisiert. Die Tradierung der Geschichte aus dem Volksmund wird dann in einem finalen Schreibakt abgeschlossen, der die letzte, die endgültige Version der Dolores-Geschichte darstellt. Sie wird – so die Suggestion – zu einer Geschichte, mit einem großen, übergreifenden Sinn. In dieser Vereinigung des Disparaten lässt sich die symbiotische Struktur der Liebe erkennen. Der romantische Wille zu absoluten Verschmelzung. Wie sich Karl und Dolores zu einem Paar vereinigen, so wird auch das Geflecht der vorausgegangen Stimme zu einem großen Ganzen verschmolzen. Doch jenseits des Ursprungs ist alles nur noch eine Synthese auf Zeit. Die Verbindung bleibt nicht bestehen, sondern löst sich wieder auf. Zu Recht ist Arnims Roman ja als ein polyphoner Roman bezeichnet worden, der dem Synkretismus, der für die intertextuelle »Mischung heterogenen Textmaterials« sorgt, aber auf die Diversität und das Eigenleben der einzelnen Elemente direkt verweist. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 9. Außerdem betont der Roman die Multivociziät seines Erzählarrangements, wo er nur kann. Wenn der Erzähler spricht, schwingt demnach immer auch noch die Stimme des Prinzen mit, dessen Zuhörer der Erzähler ja zuvor gewesen sein muss. In der Rede des Prinzen ihrerseits ist eine ganze Reihe anderer Reden anonymer Sprecher eingewoben, die der Erzähler alle wieder zu Wort kommen lässt. Anstatt die Figuren wie im homophonen Roman fest der auktorialen Regie des Erzähler zu unterwerfen, erzeugt Arnims Roman eine Vielfalt von Erzählungen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen und von unabhängigen und vollwertigen Stimmen erzählt werden. Vgl. Christoph Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 261. Der Erzähler verweist also immer wieder auf die Eigenständigkeit des Materials, das stets neue Konstellation eingehen und neu kombiniert werden kann. Die Leistung von Arnims Roman besteht nicht darin, die intertextuelle Autorschaft seines Erzählers auszustellen, sondern diese strukturell in seine Liebespoetik zu integrieren.
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Die Konturen der vom Text entworfenen Rezeptionsfigur gewinnen anhand der verführerischen Erzählsequenzen noch einmal weiter an Klarheit. Diese zeichnen sich nämlich durch ihre thematische Einheit aus. Alle Erzählsequenzen, die es auf die Verführung des Lesers abgesehen haben, konfrontieren diesen – angefangen mit Karls Gefahr, nach seiner Anagnor in Chaos und Grübelei zu verfallen, über die Schlossruine, bis zur Selbstdarstellung des melancholisch Liebenden Erzählers – mit Szenarien und Bildern melancholischer Liebe. Diesen Bildern verblühender Liebe, zerfallender Schönheit und brüchiger Identität hat man sich einen Leser gegenüber vorzustellen, der nicht das vermeintlich Schöne, sondern die Vergänglichkeit der Schönheit liebt und schätzt und diesen in Gedanken nachsinnt.640 Mit ihrem Thema aber geben diese Szenen selbstreflexiv vor, wie der Leser ihnen im Zuge seiner Lektüre zu begegnen, auf welche Art er sie zu lesen hat. Die Faktur von Arnims Romans fordert eine Lektüre ein, die analog zum melancholischen Lieben verläuft. Damit ist zugleich auch der emphatische Literaturbegriff der Systemtheorie in Frage gestellt (vgl. Kapitel 2.3 der Systematik). Arnims romantischer Liebesroman arbeitet nicht einseitig für die »Stabilität des Ichs«, sondern setzt auch das lesende Subjekt einer Destabilisierung und Verunsicherung aus. Als melancholisch Liebender wird der Leser zu einer Spielfigur des Romans.
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Letzte Runde: Die tödliche Zirkulation
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Am Nullpunkt der Liebe: Heilige Liebe hin
Da Dolores’ und Karls Liebesgeschichte der Poetik melancholischer Liebe folgt, ist es nur konsequent, die Erzählung nicht mit der üblichen Katastrophe abbrechen zu lassen, in die Eheromane normalerweise münden. So einfach entkommen weder die Figuren noch die Leser der nostalgischen Reflexionsbewegung. Vielmehr durchlaufen beide noch eine weitere Zirkulationsschleife. Die Frage ist nur, wozu sie diese letzte Runde drehen müssen? Fokussiert man seinen Blick auf die Figurenebene, setzt sich die Erzählung augenscheinlich fort, um Dolores und Karl ein neues Liebesangebot zu unterbreiten. Die vierte Romanabteilung vermittelt den Eindruck, ein umfassendes Versöhnungsszenario zu entwerfen. Dieses Harmonieversprechen
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Die rhetorische Faktur der ›Gräfin Dolores‹ legt es – so könnte man mit de Man folgern – darauf an, in ihren Lesern eine »Gefühlsreaktion auf die Unmöglichkeit zu wissen« herauszufordern. Und weil die »Gefahr«, welche die ›Gräfin Dolores‹ ausstrahlt, genauso zum Topos geworden ist wie die Lesesucht, die sie erzeugt, kann man die Komponenten dieses Wechselspiels mit de Mans Oszillation zwischen Angst und Wonne kurzschließen. Vgl. Systematik dieser Studie und Paul de Man, Semiologie und Rhetorik, S. 50: Das aus dem semiologischen Liebesdrama »resultierende Pathos ist Angst (oder Wonne, je nach der momentanen Stimmung oder dem individuellen Temperament) vor Unwissenheit.« Angst und Wonne lassen sich in diesem Fall als Ingredienz melancholischer Liebe beschreiben.
zeigt sich am deutlichsten, wenn man die Situation am Ende der dritten Abteilung »Schuld« mit der im fünften Kapitel der folgenden Abteilung »Buße« vergleicht: Hier liegt Karl, noch von einem Pistolenschuss getroffen, neben der ohnmächtigen Dolores; beide sind im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört (440). Dort aber hat das Paar sich wieder versöhnt, Dolores hat einen zweiten Sohn zur Welt gebracht, und die vierköpfige Familie lebt jetzt gemeinsam mit Klelia auf deren Landgütern in Italien. Als liege die Katastrophe Jahre zurück, verkündet der Erzähler leichthin: »Wir sehen Dolores, deren Frevel alle zu vernichten drohete, mit dem Grafen und Klelien ausgesöhnt, alle dreie in einem angemessenen, tätigen Leben [...]« (470).641 Dieses Bild einer dauerhaften Versöhnung vermittelt den Eindruck, dass Dolores und Karl ein vollkommener Neuanfang gelingt (vgl. Kapitel 2.1 dieser Studie).642 Nach dieser Lesart – welcher sich die Arnimforschung bislang mehrheitlich anschließt – setzt der Erzähler seine Ehegeschichte fort, um Dolores und Karl nach überstandenen Rites du passage das wohlverdiente Liebesglück genießen zu lassen.643 Demnach bricht die ›Gräfin Dolores‹ mit der um 1800 gültigen Erzählkonvention und setzt ihre Liebesgeschichte über den üblichen »Untergang aller« (470) hinaus fort, um eine Apotheose der Ehe zu inszenieren (vgl. u. a. von Graevenitz’ Einschätzung, Kapitel 2.1 dieser Studie).644 Diese Darstellung eines Neubeginns hat, nimmt man sie ernst, weit reichende Konsequenzen. Denn sie stellt nicht zuletzt auch die Poetik melancholischer Liebe in Frage. Gäbe es den Neuanfang und
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Offensichtlich tritt die Harmonie schon einige Seiten früher ein, nur fehlt es ihr dort noch an Stabilität. Zumindest will der Erzähler »Dolores, die uns so viel Schmerzen und Klelien, die uns so viel Freude gemacht, in der Dauer ihrer Verhältnisse prüfen.« (464) An der oben zitierten Stelle haben die Schwestern die Prüfung hinter sich. Diese Harmonisierung der Welt wird durch die Rückkehr von Dolores’ und Klelias Vater zunächst nach Deutschland und dann zu seinen Töchtern nach Italien gekrönt. Diese Wiedervereinigung verspricht, auch den letzten Mangel aus der Welt zu schaffen, der ja Dolores’ Liebesvorstellungen entscheidend geprägt hat (vgl. Kapitel 2.1ff. dieser Studie). Sie verstärkt den Eindruck der Zäsur, weil sie Dolores’ Liebesgeschichte in zwei Phasen unterteilt. Während der ersten ist der Vater auf der Flucht, während der zweiten ist er – wenn auch nicht in Italien anwesend – so doch als Lebender wieder präsent. Dass Arnims Erzähltexte von diesem Schema bevorzugt Gebrauch machen, dafür bürgt bereits der Titel von Andermatts Arnimmonografie: Michael Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Arnimforschung folgt mehrheitlich dieser Lesart der Ereignisse. Diese Auffassung geht bereits auf Kluckhohn zurück: »Trotz dieses Treuebruchs erfolgt keine Trennung, sondern nach Buße Versöhnung [...]. Die Überzeugung von der Unauflöslichkeit und Verpflichtung der Ehe soll ihr von der Tiefe ihres Inhalts nichts nehmen [...].« Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe, S. 618. Dieselbe These vertritt auch Gottfried Knapp, Groteske, Phantastik, Humor, S. 19. Helmut Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 117. Klaus Peter, Achim von Arnim: ›Gräfin Dolores‹, S. 249. Selbst Moering spricht Dolores und Karl zu, dass sie »eine Einstellung errungen« (ebd., S. 124) sowie eine »neue Stufe ihrer Erkenntnis erreicht haben« und sich aufgrund dieser positiven Entwicklung versöhnen und für ein »tätige[s] Leben in der Gemeinschaft« entscheiden. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 126.
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die vollkommene Harmonie, müsste sich zwangsläufig auch die innere Logik der Liebe verändert haben, und die Liebesmechanismen, die bislang wirksam waren, müssten durch andere ersetzt worden sein. Die bislang durchgeführte Liebeskritik wäre damit hinfällig. Vielmehr bestünde dann die Botschaft des Romans darin, dass der zuvor herrschende melancholische Schwebezustand entgegen aller Widerstände überwunden wird. Im selben Zuge würden sich demnach sowohl der melancholische Blick auf die Liebe als auch die potentiell endlose Reflexionsbewegung erschöpfen. Beide würden während der letzten Reflexionsrunde zurückgenommen und gegen ein Loblied der Liebe ersetzt werden. Dient die letzte Zirkulation tatsächlich zu diesem Zweck? Beachtet man, wie der Roman den Neubeginn seiner Figuren motiviert, so stellt sich heraus, dass er ausschließlich auf religiöse Begründungsmuster zurückgreift.645 So betont der Erzähler ausdrücklich, dass er seine Figuren im »christlichen Sinne« (470) vor dem Untergang gerettet habe, weil man »den Menschen um seiner Schuld willen noch nicht aufgibt, [und ihn] nicht sterben läßt in der Sünde.« (470) Als Dolores ihren verletzten Mann nach dessen Selbstmordversuch pflegt (442), etikettiert der Erzähler ihre Fürsorge als Buße und stellt diese in den Zusammenhang christlicher caritas. Dafür sorgt sein Kommentar im Vorfeld der Episode: Gewiß die reuige Buße kann viel, sie ist die wirksamste Kraft in den großen Begebenheiten wie in den kleineren des häußlichen Kreises; ihre Wiedererzeugung, bald unbewußt, hat seit dem Gedenken der Welt alle Krankheiten der Zeitalter geheilt, so verschieden sie immer sein mochten. (441)
Offensichtlich nutzt der Erzähler die Extremsituation seiner Figuren, um in seiner letzten Romanabteilung die Frage nach der Religion in den Vordergrund zu rücken. Tatsächlich übernimmt auch Karl in der Nachfolge der Erzählerreflexion deren christliches Vokabular. Beispielsweise wendet er sich seiner Frau zu, indem er das ›Vater unser‹ adaptiert: »Der Herr vergibt mir meine Schuld, wie ich vergebe meinen Schuldner, tue des gleichen.« (445)646 Mit den christlichen Kategorien schleust der Ehemann auch die religiösen Denkmuster in seine Beziehung ein. Die religiöse Fundierung der Liebe verstärkt sich im Folgenden dadurch, dass Karl nicht nur eine existentielle Subjekt- sondern ausdrücklich auch eine Glaubenskrise durchlebt. Sie gipfelt in dem verzweifelten Ausruf:
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Zuletzt hat Dagmar Ottmann die religiöse Zäsur, welche die erste von der zweiten Hälfte der Ehe trenne, noch einmal bestätigt und in ihrer einschlägigen Untersuchung für ihre Argumentation operationalisiert. Dagmar Ottmann, Prinzip Clarissa. Religiöser Kontext des Schuld- und Sühnemotivs in Arnims ›Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores‹. In: Alexander Bormann (Hg.), Romantische Religiosität, Würzburg 2005, S. 149–162. Im ›Vater unser‹ heißt es: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«.
wo ich mich suche, da finde ich mich nicht, wo ich dich suche Herr, da fühle ich nichts, mein Dasein ist mir ein Gram und ich kann mich nicht vergessen; mein Leben ist mir eine Krankheit und doch sind die Krankheiten mir ein Schrecken. (449)647
Die hiobsartige Verzweiflung seines Protagonisten kommentiert anschließend seinerseits der Erzähler. Wir werden es häufig bemerken in unsrer Zeit, daß Menschen der gebildeten Stände, die sich lange sehr religiös glauben, doch eigentlich die Religion nur als ein Gedachtes, als ein Nachdenken über die Welt bewahren, nicht als ein Notwendiges, Eingebornes, Anerzognes, nicht als einen Glauben; es gab für die Meisten eine Zeit, wo sie viel dachten und der Religion vergaßen; ihr Spekulieren über Religion hält selten gegen die Not und gegen das Glück aus; beide geben ihnen meist erst ihre feste Richtung, ihren eigentlichen Zweifel. (450)
Da Karl sich zweifelsohne in einer Notsituation befindet, suggeriert diese Bemerkung, dass dieser von jetzt an in seinem Glauben vertrauen finden und schnurgerade in die angekündigte »feste Richtung« eilen wird. Diese Überlegung zieht zugleich auch Dolores mit ein. Sie war ja die religiöse Skeptikerin von den beiden Ehepartnern, an ihrer jetzigen Krise ist nicht zu zweifeln und tatsächlich erfährt der Leser kurze Zeit später, dass sie ebenso wie ihr Mann einen Pfarrer zur Beichte aufgesucht hat. Nachdem beide sich einem Beichtvater anvertraut haben (456), brechen sie jeweils einzeln – und ohne dass der andere davon weiß – zu einer Wallfahrt auf. Das Paar findet und versöhnt sich abseits seines bisherigen Wohnorts, in einer Kapelle wieder. Sie vereinen sich als Bekehrte, als gläubige Christen an einem heterotopen, religiös konnotierten Ort: Der Graf aber ging aus einer Kapelle in die andere, jede schien ihm so wohnlich für den jetzigen Zustand seines Herzens. Es wurde dunkler und die bunten Glasfenster brannten nur noch in wenigen Strahlen, die auf ein Bild der heiligen Maria Magdalena fielen, wie sie die Perlenschnüre zerreißt, und ihre Tränen immer neue Perlen um sie säen. Er trat hinzu und berührte mit seinem Fuße einen Menschen, den er nicht bemerkt hatte, er bat sanft um Entschuldigung. Es war eine Frau, die ausgestreckt vor dem Bilde lag; aber da sie unbeweglich liegen blieb, auch kein Atemzug zu hören war, die ungewöhnliche Lage ihn auch etwas besorgt machte, so beschaute er sie näher, sie schien tot oder ohnmächtig; er hob sie mit Mühe empor in einen Betstuhl, und derselbe Strahl, der ihm vorher die büßende Magdalena beschienen, zeigte ihm jetzt die geliebte Dolores tot oder ohnmächtig. – Bleibt der Atem lange, ewig aus? – Ihre Schuld war ihm bei diesem schmerzlichen Zweifel so ganz verschwunden, verschwunden die traurige Zeit; so still lag sie in seinen Armen, wie in seinem ersten Glücke. (459)
Die Szene transferiert die Ingredienzen der romantischen Liebesinitiation in das religiöse Register. Das reicht vom Zufall ihrer Begegnung, über die Betonung der Perzeption, auf der die »Liebe auf den ersten Blick« namentlich beruht. Das geht über in Karls zunächst allgemeinmenschliche caritas und Sorge um das Leben des 647
Welche Art der Krise Dolores durchleidet, erfährt der Leser nicht. Ihre Handlungen werden nicht erzählt.
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Gegenübers, mit der er sich der unbekannten Frau zu seinen Füßen zuwendet, und reicht bis zur Umwandlung des Blitzstrahls, mit dem die Liebe einschlägt, in eine besänftigte, sakrale Form. So dringt nur gedämpftes Licht durch die bunten Glasfenster der Kapelle und illuminiert den Innenraum. Wobei ein Lichtstrahl, der zuvor auf der Erotik und Religiosität vereinenden Imago schlechthin ruht, der heiligen Sünderin Maria Magdalena, jetzt direkt auf Dolores fällt und damit die Auserwählte wie ein Pfeil markiert. Als sie vom Lichtstrahl getroffen wird, sieht Karl, dass er nicht irgendeine, sondern seine Frau in seinen Armen hält, und er erkennt – ebenfalls durch den Strahl vom Vorher zum Nachher geleitet – in seiner Frau die Postfigurantin Maria Magdalenas: Taumelnd in Überraschung und Verzweiflung, trug er sie nach dem Weihkessel, und besprengte sie mit dem geheiligten Wasser, und wie die ersten Tropfen ihre Schläfe benetzten, da regte sich ihr Haupt, sie schlug die Augen auf, aber sie erkannte ihn nicht. Wiederum fielen ihr die Augen zu, aber ein neuer segnender Regen erschloß sie wieder, sie blickte um sich, und erkannte den Grafen, der sie jetzt mit Küssen bedeckte – die ersten seit jener furchtbaren Nacht. (459)
In einem Erweckungs- und Taufakt besprengt Karl seine Frau mit Weihwasser.648 Dolores und Karl versöhnen sich im Zeichen von Religion und Liebe. Der Text ruft die romantische Verbindung zwischen menschlicher Liebe und der Liebe Gottes auf649 und suggeriert, ein religiöses Fundament trage von da an (und anders als zuvor) die Beziehung des Paares.650 Was zuvor Karl allein verfochten hat, vereint
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Dieser Taufakt hat beispielsweise Klaus Peter zu der emphatischen Aussage hingerissen, nur das heilige, geweihte Wasser könne Dolores’ Neugeburt und ihre Charakterwandlung begründen, die Szene aber beschwöre damit die Kraft des christlichen Glaubens. Er behauptet: »Das neue Leben ist eine Wiedergeburt, die nur Gott bewirken kann.« Ders., Achim von Arnims: ›Gräfin Dolores‹, S. 249. Im Roman wird die Vorstellung, eine göttliche Schicksalsmacht prädestiniere das menschliche Leben, wie alle anderen Themen bereits in der Liebesinitiation eingespielt. Dort behauptet der alte Bediente knapp: »der Mensch denke, Gott lenke« (125). Auf dem Landgut streiten dann Karl und der Prediger Frank über den mittelbaren Einfluss von Gottes Liebe auf die menschliche Liebe (143). Während der Krisenzeit des Paares belehrt der alte Bediente Dolores mit einer Erzählung, die er »aus unserem alten Hans Sachs gelernt hatte« (447) und die er mit der Sentenz beschließt: »also schließt Gott ungleiche Ehen, auf daß eines helfe des andern Bürde tragen, und also sie beide bleiben in Ehren.« (447) Ricklefs besiegelt die Verbindlichkeit des hier eingespielten Gottvertrauens, indem er Arnim folgenden »Lieblingssatz« aus der Bibel zuschreibt: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott.« Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe, S. 290. Auch Horst Meixner erkennt in Arnims Roman diesen »Prädestinationszusammenhang« und hält fest: »Dem universalgeschichtlichen Blick des Romantikers wird die Welt schließlich zu einem eigengesetzlichen Organismus, zu einem undurchschaubaren Geschehnisablauf.« Horst Meixner, Romantischer Figuralismus, S. 20. Die Arnimforschung folgt mehrheitlich dieser Lesart und korreliert diese mit dem von ihr prognostizieren Neuanfang. Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe, S. 618. Dieselbe These vertritt auch Gottfried Knapp, Groteske, Phantastik, Humor, S. 19. Helmut
das Paar jetzt. »Traulich« (460), sowohl im Sinne von vertraut als auch von getraut, kehren Dolores und Karl, von Gottes Gnaden in heiliger Liebe vereint, gemeinsam zu ihrem Stadtschloss zurück. Dolores’ und Karls Liebe ist von da an ohne ihr religiöses Fundament nicht mehr zu denken. Hat das Paar sich erst einmal im Zeichen göttlicher Liebe vereint, so zeugt die Geburt von Dolores’ und Karls zweitem Kind (460) davon, wie erfolgreich das Paar jetzt seine Vergangenheit hinter sich lässt. Dafür spricht, dass Dolores’ Niederkunft 12 Monate nach ihrer (sexuellen) Verführung stattfindet. Ihre Schwangerschaft korreliert somit nicht länger mit dem Datum ihrer Verführung, sondern mit Karls Rückkehr von seiner damaligen Reise, die ihn unter anderem zu Arnica Montana geführt hatte (vgl. 460). Damals, so umschrieb die Erzählinstanz die sexuelle Annäherung von Dolores und Karl, war Dolores »so zärtlich gegen ihn, um ihm reichlich zu vergüten, was sie ihm von dieser Zärtlichkeit entwendet, und der Graf ergab sich ihr so von ganzem Herzen.« (431) Zum Beweis von Karls Vaterschaft trägt Johannes »des Grafen Züge und ein dunkles Mal auf seinem Herzen [...], das der Familie des Grafen eigen« (460), und das »von allen als das sichere Zeichen einer reinen Geburt angesehen wurde.« (460) Das Muttermal versichert Karl, blutsverwandt mit dem Kind zu sein.651 Die Blutsverwandtschaft garantiert ihrerseits, dass das Kind Teil der Kernfamilie ist. Sie stabilisiert Karls Verhältnis zu dem Kind und zu Dolores und bildet den Referenzpunkt für die Kommunikation zwischen Vater und Sohn. Da Dolores’ Ehebruch somit keine sichtbaren Spuren hinterlässt, versöhnt der zweite Sohn Karl mit seiner Frau: Jetzt war ihr verziehen vom Grafen, innig und vollkommen, seit dies sein Kind, das entweihte Heiligtum keuscher Liebe wieder geweiht hatte. – Kaum waren die bedenklichen Zeiten des Wochenbettes vorüber, so gestand ihr der Graf, daß seine Liebe durch dieses Kind ihr von neuem auf ewig zugeeignet. (461)
Da Karl und der Erzähler durch das personale Erzählen an dieser Stelle zugleich zu Wort kommen, kann man schließen, dass beide im Bunde mit ihrer Rede vom Heiligtum keuscher Liebe das religiöse Fundament der Liebe auf das Familienleben ausweiten. Auf der discours-Ebene bedeutet das, der Text verwebt die einzelnen Fäden seiner Erzählung, indem Karl und Dolores von diesem Moment an nicht irgendeiner, sondern einer »heiligen Familie« vorstehen. Die Interferenz der Diskurse sichert den Neuanfang noch einmal ab. Unter diesen Vorzeichen steht nicht zuletzt der Entschluss des Paares, kurz nach Johannes’ Geburt das Stadtschloss und
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Fuhrmann, Achim von Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 117. Selbst Moering betont zunächst zwar Arnims Skeptizismus, plädiert dann aber doch für eine religiöse Vereinigung des Paares. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 126. Die Blutsverwandtschaft fungiert als der symbiotische Mechanismus im Intimsystem »Familie«. Sie ersetzt in der Familie somit die Sexualität aus der Partnerschaft. Auf Blutsverwandtschaft muss – gerade in Krisenzeiten – in der familiären Kommunikation rekurriert werden können. Vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, 68ff.
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Deutschland zu verlassen, um auf diese Weise – wie es ausdrücklich heißt – ihre Vergangenheit zu fliehen: nur dies Schloß und sein Landgut, wo er mit ihr die ersten Zeiten reiner Zärtlichkeit gefeiert, und ihre Schuld betrauert, würde ihrer beider Gefühlen ein ewiger Vorwurf bleiben [...], diese Steine, die sie in seligen Augenblicken mit mancher sinnvollen Inschrift bezeichnet, sie waren schon drohend gegen das neue Glück gerichtet, das sich endlich nach treu überstandner Prüfung in wiedergewonnener Reinheit entwickeln müsse. (461)
Das Paar lässt seinen Palast als ein »verschlossenes Denkmal seiner früheren Zeit, seines Glücks und Unglücks unbewohnt zurück« (511), sorgt zwar noch für dessen Erhalt (511), befreit sich aber selbst von dessen Andenken. Es nimmt so Luhmanns Maxime vorweg: »Jeder Versuch, Wissen und Erinnerung heranzuziehen, lähmt das Erleben.«652 Dolores und Karl fliehen die »empörendsten Erinnerungen« (505) und wenden sich dem gegenwärtigen Erleben zu. Die Vergangenheitsflucht verbinden sie zugleich damit, sich mit Dolores’ Schwester zu vereinigen. Das Paar reist zu Klelia nach Sizilien. Den Auslöser für den Umzug gibt nicht zuletzt der Tod des Markese, welcher die Verführungsepisode aus Karls und Dolores’ Sicht endgültig abschließt (461). Einem Neuanfang scheint nun nichts mehr im Wege zu stehen. Das Sehnsuchtsland Italien steht in diesem Zusammenhang als Chiffre für einen kompletten Neubeginn. Sizilien war zudem um 1800 der einzige Ort, an dem man griechische Kulturstätten sehen konnte. Sonst galt die griechische Kultur (im Gegensatz zur römischen) als untergegangen. Daher wurde schon im Klassizismus der Rückbezug auf die Kultur Griechenlands mit der Sehnsucht nach einem geistigen Ideal gleichgesetzt, das sich (erneut im Unterschied zur römischen Antike) nicht mehr greifen lässt. Die Ankunft in Sizilien kündigt somit zugleich an, dass Dolores und Karl in ein goldenes Zeitalter eintreten. Für Dolores’ und Karls Liebesglück spricht in Italien außerdem noch die Kopplung des Faktors »Zeit« an die stetige Vergrößerung der Familie. Denn wie schon nach seiner Liebesinitiation muss das Paar seine Beziehung auch jetzt von dem einen Versöhnungsmoment auf Dauer umstellen (vgl. Kapitel 3 dieser Studie). Das gelingt im gleichmäßigen Rhythmus von Dolores’ zehn weiteren Geburten. Nach Johannes Geburt vergrößert sich die Zahl der Kinder über die kommende Dekade hinweg: »Jeder Kreis des heiligen Jahres mehrte ihre Zahl« (465), »bis zu der heiligen Zahl zwölfe, ohne ein bedeutendes Mißgeschick« (471). Die Zäsur zum vorherigen Kinderglück markiert der Erzähler durch sein christliches Vokabular. Er spricht von heiligen Jahren und von einer ebensolchen Kinderzahl, vom »reichen Segen« der Kinder (471) und, wenn er Dolores’ Verhältnis zu ihren Kindern beschreibt, legiert er Religion und Liebe endgültig: »Es war eine schöne Buße diese Mutterliebe.« (471) Im Zuge des Familienlebens propagiert der Erzähler, dass Dolores’ Einsicht, sich in ihre natürliche Mutterrolle zu fügen, die Grundlage des dauerhaften Liebesglücks darstelle. Auf die Mahnung
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 176.
ihrer Schwester sieht Dolores ein, »dass eine Frau nie etwas Größeres tun könne, als wenn sie mit liebevoller geduldiger Sorge die ersten hülflosen Zeiten ihrer Kinder bewache, wenigstens nichts Erfreulicheres, Segenvolleres.« (465) In ihrem neuen Leben garantiert der Kindersegen Dolores’ und Karls Liebesglück. Das Liebesziel, so beschreibt Luhmann, wäre die »Verschmelzung des Glücks zweier Liebender, die darin liegt, daß das Glück für beide in genau den gleichen Handlungen liegt. Dies ist nur möglich, wenn die Zeit ausgeschaltet, wenn jeder dem folgt, was der Moment ihm gibt.«653 Tatsächlich scheint das Paar, im gemeinsamen Familienwunsch geeint, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen.654 Waren Dolores und Karl während ihres Lebens in Deutschland dem Wechselspiel der Jahreszeiten ausgesetzt, herrscht in Sizilien ein ewiger Sommer, der zeitlos denselben Lebensrhythmus vorgibt. Auf diese Weise entwirft der Roman das konsistente Bild einer religiösen Wende des Liebesdiskurses, eines in dieser Umkehr verwurzelten, radikalen Neuanfangs und eines dauerhaft harmonischen Ehelebens. 7.2
Im Kontinuum: Realistische Liebe her
Die folgenden Überlegungen stellen sowohl in Frage, dass es in der vierten Abteilung zu einem kompletten Neuanfang der Liebe kommt, als auch, dass die Liebesgeschichte nach dem Ehebruch in vollkommene Harmonie mündet. Ich behaupte, dass die ›Gräfin Dolores‹ weiterhin eine Doppelstrategie verfolgt. Es stimmt durchaus: der Text erzeugt den Anschein eines religiös fundierten Liebesglücks. Die harmonisierende Lesart ist keineswegs aus der Luft gegriffen, sie soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Auf der Handlungsebene vollzieht sich in den ersten Kapiteln der vierten Abteilung eine Wende, und das Liebespaar feiert wirklich eine Stunde Null der Liebe. Doch zugleich markiert der Text, dass dies nur die eine Seite eines Vexierbildes ist. Er beharrt auf seinem Status als changent taft und fordert vehement dazu heraus, die Textur im Rahmen einer doppelten Lektüre auch in die entgegengesetzte Richtung zu streichen. Mehr noch: er legt fest, dass man erst dann der Liebesinszenierung gerecht wird.655 Die Auferstehung der Liebe im Zeichen der Religion ist nur die eine Seite des schillernden Bildes. Nimmt man die disocurs-Ebene mit in den Blick, weist der Roman anhand der einzelnen Episoden – von Karls und Dolores’ Beichte, über ihre Wallfahrt und ihre Versöhnung, bis hin zur Geburt ihres zweiten Sohnes und ihres Umzugs nach Italien – akribisch nach,
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Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 176. So spricht der Erzähler von »ruhigen, dauernden Verhältnissen« (470). Für eine solche Doppellektüre plädiert in der bisherigen Forschung allein Nicola Kaminski. Ihre Studie widmet sich intensiv der letzten Abteilung der ›Gräfin Dolores‹ und zeigt in ihrer intertextuell angelegten Lektüre, dass Klelia, Johannes, das topografische Muster »Deutschland – Italien« und nicht zuletzt auch das Denkmal am Romanschluss als changent taft zu lesen sind. Die folgenden Überlegungen schließen demnach an Kaminskis Arbeit an. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 270ff.
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dass der Neuanfang eben nur vermeintlich ein solcher ist. So erleben Dolores und Karl aus ihrer Perspektive zwar eine glückliche Zeit, aber ihre angeblich vollkommene Versöhnung erweist sich als Illusion. Über die Köpfe seiner Figuren hinweg – zum Teil auch über den Kopf seiner Erzählerfigur – unterminiert der Roman das harmonische Bild. Arnims Roman behält seinen analytischen Blick auf die Liebe bei.656 Dabei inszeniert er die gelungene Vereinigung der Liebenden, um sich – wie schon in den Kapiteln zuvor – einen klaren Gegner für die eigenen Überlegungen zu schaffen. Das verändert auch die Antwort auf die Frage, warum der Roman seine Liebesgeschichte über die Katastrophe hinaus verlängert. Die ›Gräfin Dolores‹ verstößt mutwillig gegen die um 1800 verbindliche Erzählkonvention, um ihr Gedankenexperiment fortzusetzen. Die Zuspitzung der erzählten Ereignisse dient ihr dazu, ihre Liebesuntersuchung narrativ bis auf existentielle Fragen auszudehnen. Anders gesagt, die literarische Enzyklopädie erweitert noch einmal ihren Umfang um eine Reihe einschlägiger Einträge. Im Zuge dieses Vorhabens dient die dekonstruktivistische Doppelbewegung auch in der vierten Abteilung dazu, das Liebeskonzept weiterhin radikal zu hinterfragen und, indem es der Roman gezielt mit dem religiösen Diskurs zur »heiligen Liebe« legiert, die besondere Brisanz seiner paradoxialen Funktionsweise herauszuarbeiten. Auf seine zweite, skeptische und damit weiterhin im Zeichen melancholischer Liebe stehende Lesart weist der Roman bereits mit seinem Beginn der vierten Abteilung eindringlich hin. Dort inszeniert er die erste Zeit nach der Katastrophe nicht etwa als den Neubeginn der Liebe, sondern vielmehr als den Höhepunkt melancholischer Liebe. Das Paar durchlebt im Anschluss an Karls Selbstmordversuch erst einmal eine Zwischenphase (441–460). Beide Partner leben zwar gemeinsam unter einem Dach und treffen sich auch immer wieder, um sich beispielsweise ihre Vergehen zu beichten, sie sind aber dennoch voneinander getrennt, da sie sich jeweils in ihre Privaträumlichkeiten zurückgezogen haben. Beide fühlen sich zwar miteinander verbunden, durchleiden jeder für sich aber eine existentielle Lebensund Liebeskrise. Alle Entscheidungen über ihre gemeinsame oder getrennte Zukunft sind in diesem bis zu Dolores’ Geburtstermin andauerndem Schwebezustand aufgeschoben. Dolores und Karl sind in dieser Phase zwischen Leben und Tod, Liebe und Hass sowie Nähe und Distanz hin und her gerissen und blicken mit demselben, vollkommen desillusionierten, melancholischen Blick auf ihre Liebe (zurück) wie der Erzähler und wie die vom Text konstituierte Leserfigur. In diesem Moment
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Der Roman bleibt der von Dagmar Ottmann so genannten »Verflechtung einer szientifischen Verfahrensweise mit und im poetischen Diskurs« treu. Dagmar Ottmann, Der tolle Invalide, S. 103. Für ihn gilt daher auch, was Dagmar Ottmann über den ›Tollen Invaliden‹ festhält: »Romantische, aufgeklärte und realistische Schreibweise verquicken sich in diesem menschlichen Selbsterkenntnisprojekt, das um die Aufklärung des Menschen über sich selbst und über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Natur und Vernunft kreist.« Vgl. ebd.
sind alle Ebenen des Romans im melancholischen Liebegefühl vereint. Umfassender und exponierter spielt der Roman sein eigenes Liebesmodell zu keiner Zeit aus. Von diesem Höhepunkt melancholischer Liebe aus wirft der Roman einen kontinuierlich, skeptischen Blick auf die Bemühungen des Paares, ihre Liebe neu zu initiieren, und fordert von seinem Rezipienten eine ebenso kritische Lektüre. Skepsis ist bereits deshalb angesagt, weil Karl, als er sich auf seine Pilgerreise begibt, ausgerechnet eine Wallfahrt unternimmt.657 Das Codewort »Wallfahrt« hebt hervor, dass die gesamte Versöhnungsepisode mit Karls Reisen zu Dolores’ Schloss korrespondiert. So schritt Karl, als er von der Universität zu Dolores zurückkehrte, »einsam wie ein Pilger nach heiligen Orten, [...] eifrig über Berg und Tal, ohne Umsehens, schweigend in sich, dem hohen Ziele seiner Wallfahrt zu.« (149) Der Text markiert, dass bei der jetzigen Reise nichts anderes passiert, als bei Karls Rückkehr zu Dolores; die ihrerseits nur Karls erste Ankunft bei Dolores’ Schloss wiederholt hat (vgl. Kapitel 2.2 dieser Studie). Folgt man dem Wegweiser »Wallfahrt«, entpuppt sich Karls Bußweg unverkennbar als eine Liebes- und Lustfahrt, bei der es weniger darum geht, die eine Geliebte wieder zu finden, als vielmehr darum, sich »sinnlich zu zerstreuen«.658 Den Erwartungen einer solchen Reise entsprechend, lacht sich Karl gleich einmal eine Muse an. Hippolita nimmt jetzt die Rolle ein, welche Dolores bei Karls erster und zweiter Wanderschaft Inne hatte. Das Substitutionsprinzip hebt der Text dadurch hervor, dass Karl seine neue Muse – wie schon seine Frau – über den Kontakt eines Wirtes kennen lernt (129 u. 453). Zudem erkennt Karl in Hippolita das »arme Kind« (454), das Dolores einst für ihn war, und nicht zuletzt zaubert der Text prompt wieder die altbekannte Inselmetapher hervor, um Karls Gefühlsreaktion zu beschreiben. Erschienen ihm Dolores und Kelia wie »zwei glückliche Inseln in dem stillen grünen Meer vor ihm« (129), geht es ihm bei Hippolita nicht viel anders: »eine grüne Insel stieg ihm empor aus dem schwarzen Meere, das ihn umwogte, er glaubte ein ganz vertrautes Herz gefunden zu haben.« (458)659 Umgehend findet Karl auch seine poetische Sprache wieder, die ihm zwi-
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Von Dolores’ Wallfahrt erfährt der Leser erst nachträglich. Der Roman fokussiert sich ausschließlich auf Karls Reise, Dolores’ Weg zur Kapelle lässt er hingegen unter den Tisch fallen. Es setzt sich also auch das Konstruktionsprinzip der Parallel-Montage fort, wobei die Perspektive, die bevorzugt Karls Geschichte in den Blick nimmt, ihrerseits als männlicher Blick markiert wird. Auch der Männerbund zwischen Karl und dem Erzähler bleibt offenbar bestehen. Tatsächlich behauptet auch der Erzähler: »Wallfahren sind die Badereisen der Ärmeren; sie arbeiten halbe Jahre um durch diese wenigen Tage in sinnlichem und übersinnlichem Genusse sich zu erfrischen.« (451) Zwar hebt Karl sich von dem gemeinen Volk ab, aber vor allem eben dadurch, dass er für die Reise nicht erst ein halbes Jahr arbeiten muss und als Graf eine exklusive Form des sinnlichen und übersinnlichen Genusses pflegt. Selbstverständlich spielt in der Episode mit Hippolita auch der Rosenkranz wieder eine entscheidende Rolle. Er führt die »schöne blasse Hippolita« (454) erst mit Karl zusammen: »Nach einem herzlichen Abschiede von Vater und Tochter, eilte er rasch fort durch die kalte Morgenluft, und bemerkte erst nach einer Viertelstunde, daß er den ihm vom
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schenzeitlich verloren gegangen war.660 Er dichtet in Hippolitas Beisein gleich zwei Gedichte aus dem Stegreif. Zunächst entsteht sein »Trinklied bei Sternenklang« (452), dem er kurz darauf ein zweites folgen lässt, das bereits im Titel den Namen der neuen Muse trägt: »Hippolita« (455). Karl dichtet noch immer Erlebnislyrik, die in Wahrheit an diesem Anspruch scheitert.661 In Sachen Autorschaft hat Karl also nichts dazu gelernt. Er ist weiterhin ein in Gefühlen schwelgender, naiver Dichter. Und auch in Sachen Liebe ist er auf seiner Wallfahrt ganz der Alte, der sich gerne einmal wieder im »Warenhaus der Liebe bedient.«662 Eine neue Erkenntnisstufe erreicht er nicht. Ist Karl – trotz aller Passion – keinen Schritt weiter gekommen, so besiegelt seine Begegnung mit Dolores endgültig die Rückkehr des Immergleichen. Der Roman legt höchsten Wert darauf, dass die Ingredienzien der Liebesinitiation auch die Versöhnungsszene bestimmen. Und er führt vor, dass im religiösen Paradigma exakt dieselben Liebesmechanismen wirksam sind, welche Dolores’ und Karls Liebesinitiation geprägt haben. So demaskiert der Roman den vermeintlichen Zufall, der Karl und seine Frau zusammenführt. Den nämlich führt nicht etwa eine göttliche, numismatische Schicksalsmacht herbei, sondern eine allzumenschliche und wenig
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Pater übergebenen Rosenkranz vergessen hatte. Der Rosenkranz war aus Loretto, und der Pater untröstlich; gleich eilte der Graf zurück, sprang ins Haus nach seiner Kammer, und war sehr verwundert darin singen zu hören. Es war die Tochter, er horchte: sie sang ihr Unglück; er trat ein, fand seinen Rosenkranz in ihrer Hand, und beredete sie, mit ihm nach der wundertätigen Mutter Gottes zu wandern, was auch ihrem Vater sehr lieb war.« (454) Einem Wirt – so scheint es – kann es nur Recht sein, wenn seine Tochter mit dem Grafen reist. So möchte Karl unmittelbar nach seinem Selbstmord »ein Buch über Staatskunst schreiben, das er lange entworfen, und wußte nicht, was er schreiben wollte. Als er einmal so in seinem Zimmer umhergeschwankt, sich hundert Federn geschnitten und mit keiner geschrieben, hundert Bücher aufgeschlagen und in keinem gelesen hatte, da fand er sich so verwirrt, so öde, so matt und krank, daß er beten wollte und nicht zusammenhängend sprechen konnte.« (449) Obwohl es in dieser Situation nicht einmal um poetische Dichtung geht, sondern um trockene Staatsprosa, scheitert Karl an seinem Schreibprojekt und verliert zuletzt sogar seine Sprache. Daraufhin stellt er seine Autorschaft ein. Statt zu schreiben, versinkt in melancholischem Grübeln. Die beiden Gedichte sind derart exemplarisch für Karls Dichtkunst, dass Meixner anhand dieser Arnims Prinzip des »Weiterdichtens« festmacht. Meixner setzt dabei einmal mehr schonungslos sowohl den Erzähler als auch den Protagonisten des Romans mit dem Autor gleich. Demnach gehen die Gedichte zunächst von einer realen Begebenheit aus, um die dort auftretenden Gestalten (die Narratologie würde wohl von Personen sprechen), zunächst in Figuren und schließlich in Allegorien umzuwandeln. Vgl. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus, S. 57ff. Ich stimme Renate Moerings Einschätzung zu, Karl entferne sich aufgrund seiner Liebe zu Hippolita während seiner Wallfahrt noch einmal von Dolores. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 123. Tatsächlich übt Karl anhand einer anderen Frau wieder die Grundlagen seines alten Liebesverständnisses ein. Aus meiner Sicht allerdings ist das wenig überraschend, denn für ihn war der Frauentausch ja von Beginn an legitim und Teil seiner Eheauffassung (vgl. Kapitel 4.2 dieser Studie).
vertrauenswürdige Mittlerfigur. Die Rolle, welche sich zuvor der alte Bediente und der Wirt teilten, kommt jetzt »dem einfältigen Pater Martin« (451) zu. Der lenkt das Schicksal der beiden Partner, die beide direkt nacheinander bei ihm beichten,663 und die er – zu seinem eigenen Vorteil – auf dieselbe Wallfahrt schickt.664 Martin ist mit seiner Trinklust und seiner Feier- bzw. Flirtlaune mehr den irdischen Freuden als den himmlischen Versprechen zugetan. Nicht zufällig wird er »Pater« genannt, ist ein »fröhlicher« Weinkonsument und gehört damit in den Dunstkreis von Dolores’ Vater und dessen zwielichtigen Gesellen. Die Versöhnung unterliegt exakt wie die Liebesinitiation der Tätigkeit eines Kupplers und steht im Zeichen der so gar nicht sakralen Chiffre: Wein, Weib und Gesang. Die altbekannte Logik der Liebe bestimmt auch den weiteren Ablauf der Versöhnung. Wenn Karl seine Frau in der Kapelle liegen sieht, ohne sie im ersten Moment zu erkennen, wiederholt dieser Blick herab auf die vor ihm liegende Frau strukturell seinen ersten Blick auf die (damals wie heute) unbekannte Schöne, die er von ihr unbemerkt von einem Hügel herab beobachtete. Die Übereinstimmung der Inszenierungen geht so weit, dass der deutlich abgegrenzte Altarraum den topographischen Charakter des ummauerten hortus conclusus wieder aufnimmt (129). Selbst die Erwähnung der eigenartigen Licht- und Sichtverhältnisse in der Kapelle korreliert mit den Umständen während Karls Liebesinitiation. War Karl dort von Sonnenstrahlen geblendet, welche weiße Laken reflektiert hatten, so ist seine Sicht jetzt durch den Übergang von der hellen Außenwelt in das gedämpfte Licht des Kappelleninneren wiederum eingeschränkt. Die wenigen Strahlen, die durch die Glasfenster dringen, erzeugen ein Dämmerlicht, in dessen zwielichtigem Schein die Versöhnung stattfindet. Wie bei der Liebesinitiation aber verlässt sich der Liebende ausgerechnet auf seine optische Wahrnehmung, um seine individualisierte Liebe zu begründen. Die Szene aber legt ein geradezu naturwissenschaftliches Augenmerk auf Karls Kurzsichtigkeit. Detailliert führt sie vor, dass Karl die Person zu seinen 663
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Karl veranlasst diese Destruktion des Zufalls, indem er Dolores fragt, wie sie in die Kapelle gelangt ist: »Allmählig entlockte ihr der Graf wie sie nach dem Wallfahrtsorte gekommen; auch sie hatte bei dem Pater Martin gebeichtet, auch ihr hatte er zur Buße eine Wallfahrt anbefohlen.« (459) Pater Martin genießt die Wallfahrt wie einen Ausflug oder wie eine Badereise, wie der Erzähler es einmal ausdrückt (vgl. 451). Der Pater ist augenscheinlich in erster Linie dem sinnlichen Genuss zugetan, außer man geht davon aus, dass im Wein die Wahrheit liegt: »Pater Martin willigte fröhlich ein; er sagte, daß er schon lange seinem Bruder, der dort mit wenigen im Kloster zurückgeblieben, einen Wein zu kosten versprochen.« (451) Auch während der Wallfahrt geht es mehr sinnlich als übersinnlich zu: »Bruder Martin mußte zwar aus Höfl ichkeit bei ihm bleiben, aber er bestellte sich doch durchdringend laut durch die offene Haustüre einen Becher Wein. Nicht lange, so erschien mit einem zinnernen Becher, der voll Wein, ein großes schlankes, aber sehr ernstes Mädchen; ob es der Sternenschein war, der ihre Backen bleichte, dem Grafen schien sie ungemein blaß. Bruder Martin mochte auch diese Blässe bemerken und sie schminken wollen; er umfaßte sie und hätte sie in allen Ehren geküsst, wenn ihr nicht sträubend der Becher mit dem Weine entfallen wäre.« (452)
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Füßen zuerst überhaupt nicht wahrnimmt, auf den zweiten Blick erst bemerkt, und einen dritten Blick benötigt, um sie als Frau zu identifizieren. Dann erst betrachtet er »sie näher, sie schien tot oder ohnmächtig« (459). Und erst als der erwähnte Lichtstrahl auf Dolores’ Antlitz fällt, erkennt er seine Frau wieder.665 Die Zwischenzeit des unscharfen Blickes aber nutzt der Text, um über den Aufruf der Magdalenaund Venus dolorosa-Ikonografie (Perlentränen), die auch dadurch ins Spiel kommt, dass die büßende Dolores zu Karls Füßen liegt, wie Maria Magdalena vor Jesus gelegen hat, längst schon zu markieren, dass Karls Vorstellungen und seine Wahrnehmung einmal mehr nur von Stereotypen und topischen Weiblichkeitsmustern geleitet werden. Was er in Dolores’ vermeintlich erkennt, ist reine Projektion. Den Anforderungen einer individualisierten Liebesentscheidung genügt dies nicht. Auch der folgende Erweckungsakt bleibt ambivalent. Der Ablauf des Taufaktes unterminiert dessen christliche Symbolkraft nämlich insofern, als Karl gegen den christlichen Kodex verstößt. Karl und Dolores sind selber Protestanten, ihre gesamte Versöhnung aber spielt sich kurioserweise im katholischen Kontext ab. So legt es schon das Gesamtarrangement der Szene auf einen seltsamen Synkretismus der Religionen an. Im katholischen Rahmen inszeniert der Roman lutheranische Glaubensgrundsätze. Beispielsweise, wenn er Buße und Taufe gleichsetzt und damit auf Luthers Ansichten rekurriert.666 Allerdings spricht sich Luther im ›Großen Katechismus‹ eben auch ausdrücklich gegen die Wiederholung der Taufe aus. Karls doppelter Taufakt verstößt mithin gegen das christliche Sakrament. Die religiöse Wende ist in ihrem Kern gestört. Dieser Eindruck festigt sich, da sich hinter Karls Rücken längst wieder die différance in seine Liebe eingeschlichen hat. Wie dem Paar schon während der Liebesinitiation nie eine einfache, eindeutige Aktion geglückt ist, so muss Karl seine Frau auch an dieser Stelle zweifach mit Weihwasser begießen. Statt sich aus einem eindeutigen Ursprung zu entwickeln, löst sich das vermeintlich neue Leben in eine – gegenüber dem Ursprung immer schon sekundäre – Ereignisfolge auf. Das gilt für Dolores’ Erweckung auch insofern, als sie intratextuell auf die vorherigen Taufakte im Roman verweist. Wobei vor allem der Bezug auf die Selbsttaufe des Markese unabwendbar auch Dolores’ Taufe mit der Unsicherheit der Semiose kontaminiert.
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Nicola Kaminski bemerkt anhand dieser Szene ebenfalls, dass das Sonnenlicht nicht das göttliche Licht der Transparenz repräsentiere. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 267. In Luthers ›Großem Katechismus‹ heißt es: »Und hier siehst du, daß die Taufe, beide mit ihrer Kraft und Deutung, begreift auch das dritte Sacrament, welches man genannt hat die Buße, als die eigentlich nichts anders ist denn die Taufe. Denn was heißt Buße anders, denn den alten Menschen mit Ernst angreifen und in ein neues Leben treten? Darum, wenn du in der Buße lebst, so gehst du in der Taufe, welche solches neues Leben nicht allein deutet, sondern auch wirkt, anhebt und treibt.« Martin Luther, Werke, hg. von Buchwald, Kawerau u. a., Braunschweig 1889, S. 289. Den Zusammenhang zwischen Luthers Katechismus und der Versöhnungsepisode hat Renate Moering erarbeitet. Dies., Die offene Romanform, S. 125f.
Diese Kontamination spielt der Roman zugleich auf discours-Ebene aus. Die Versöhnungsepisode erweist sich als ein Pastiche, das sich aus unzähligen, deutlich erkennbaren Zitaten zusammensetzt. Schon Lützelers Kommentar weist darauf hin, dass sie sich mit den Motiven »Wiedersehen und Versöhnung der Ehegatten in der Kirche« auf Lope de Vegas Drama ›Las paces de los reyes y la Julia de Toledo‹667 bezieht. Die Kirchenszene referiert zugleich aber – wie Kaminski zeigt – auf Wielands Erzählung ›Clelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse‹.668 Zudem ruft sie, indem sie Dolores mit (dem Bild der) Maria Magdalena in Beziehung setzt, die Kapellen-Konstellation aus Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ auf. Dort verewigt der Architekt Ottilies Antlitz im Angesicht der Mutter Maria und stellt somit – wie nach ihr Arnims Kapellenszene – die Ehebrecherin einer Heiligen sowie eine reale Frauenfigur einem Bild gegenüber. Beide Szenen legen es auf die »Vermischung des Heiligen mit und zu dem Sinnlichen«669 an. Nicht zuletzt aber adaptiert das Aufeinandertreffen mit einer (auf den ersten Blick) unbekannten Frau, das an einem heterotopen Ort stattfindet und den Ausbruch aus den bisherigen Ehezwängen verspricht, die erste, zufällige Begegnung zwischen Siebenkäs und Natalie. Dieser Bezug ist unter anderem deshalb von Bedeutung, weil die Liebesbegegnung im ›Siebenkäs‹ ausdrücklich in einer »Götterwelt« stattfindet, und zwar in einem »künstlich-baufälligen Tempel«670, der in seiner maßlosen Artifizialität und mit seiner drohenden Einsturzgefahr exakt der diskursiven Machart von Arnims Kapellenszene entspricht. Die ›Gräfin Dolores‹ stellt die Künstlichkeit und Konstruiertheit ihrer Versöhnungsszene offen aus.671 Augenscheinlich will sie nur einerseits die Verlässlichkeit ihrer Semiosen garantieren, während ihr andererseits der intra- und intertextuelle Tauschverkehr nicht entgrenzt genug sein kann. Sie benutzt das religiöse Zeichenrepertoire wie die intertextuellen Versatzstücke als Spielmarken, über die sie im Rahmen ihrer Inszenierung frei verfügen kann. Die Versöhnung beruht also sowohl auf demselben Erzählstil als auch auf denselben Liebesmechanismen und Kommunikationsformen wie zuvor Dolores’ und Karls Liebesinitiation.672 Der Kreisschluss, den das Paar mit seinem Wiedersehen voll-
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Vgl. Michael Lützeler, Kommentar zu Arnims ›Gräfin Dolores‹, S. 794. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 279. Das intertextuelle Vexierspiel schleust – allein schon durch den Titel von Wielands Erzählung – Klelia in die Kapelle ein. Dolores und Karl sind nicht zu zweit, sondern mindestens zu dritt. Tatsächlich dreht sich Wielands Liebesgeschichte um eine Verwechslungsszene, die nicht nur in einer Kirche spielt, sondern deren Protagonistin zudem »Clelia« heißt. Diese Vermischung erkennt und kritisiert der »Gehülfe« in ›Die Wahlverwandtschaften‹. Vgl. ebd., S. 174. Jean Paul, Siebenkäs, S. 370. Nicola Kaminski weist zudem darauf hin, wie konstruiert die Szene ist, wenn derselbe Lichtstrahl erst auf das Magdalena-Bild und dann auf Dolores trifft. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 267. Dazu gehört auch die Technik der Parallel-Montage und die Tatsache, dass der Roman Karls Schicksal den Vorrang vor Dolores’ Krise gibt (s.o).
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zieht, lässt daher keine Idylle aufleben,673 sondern ruft alle Schwierigkeiten und Probleme der individualisierten Liebe wieder auf (vgl. Kapitel 2.2 dieser Studie).674 Es gab keine symbiotische Verschmelzung und wird im romantischen Sinne auch keine geben. Die strukturelle Übereinstimmung beider Szenen zeigt, dass der aporetische Charakter des Liebeskonzepts keineswegs gegenüber dem religiösen Einheitsversprechen zurückgenommen wird.675 Selbst wenn Dolores und Karl davon ausgehen, Gottes Liebe habe sie gelenkt, haben sie in Wahrheit nur auf die immergleichen Liebesmechanismen zurückgegriffen. Der Roman bewahrt sich seinen Skeptizismus gegenüber dem romantischen Ideal symbiotischer Verschmelzung und kritisiert die romantische Engführung göttlicher und menschlicher Liebe.676 Sein skeptischer Blick beweist sich in einem zweiten Sinne. Sorgfältig arbeitet die Episode heraus, dass die Versöhnung in einem wesentlichen Punkt hinter Dolores’ und Karls Initiation zurückfällt. Die Szene beruht nicht nur auf den Funktionsmechanismen, welche die romantischen Liebesideale als Konstruktionen enttarnen, sondern ihr ist darüber hinaus auch das wesentliche Problem eingeschrieben, an dem die Ehe des Paares gescheitert ist. Erfüllte das Kennenlernen die Egalitätsforderung der romantischen Liebe, so verstößt die Versöhnung deutlich gegen diesen Anspruch. Die Szene unterliegt eindeutig patriarchalischem Herrschaftsanspruch, Machtgetue und männlicher Hybris. Dolores hat sich zwar ebenso eigenständig wie ihr Mann zu ihrer Pilgerreise entschlossen, aber während des Wiedersehens könnte die Rollenverteilung ungleicher nicht sein. Dolores liegt ohnmächtig zu Karls Füßen und muss die Versöhnung willenlos über sich ergehen lassen. Die leb673
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Der Kreisschluss ist ein obligatorischer Bestandteil des Quest-Plot. Dort wird der (meist) männliche Protagonist wieder in seine idyllische Ausgangssituation zurückgeführt. Vgl. zu diesen Zusammenhängen Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 107. Genau in diesem Kreisschluss liegt das Problem des Paares, denn ihre »Liebe auf den ersten Blick« hat ja bereits alle Paradoxien des romantischen Liebescodes aufgeworfen und gezeigt, dass die romantische Liebe auf anderen Aspekten basiert als auf den von ihr konzeptuell entworfenen. Ebenso fragwürdig bleibt auch die Art, wie Karl zuvor seine Glaubenskrise überwindet. Denn Karl rettet sich, indem er sich als Gottes »Ebenbild« erkennt: »Dem Grafen war aber diese Zeit seines Siechtums nicht ohne Wirkung vorüber gegangen; die Pflege seines Körpers machte ihn aufmerksam auf dessen wunderbaren Bau, dessen wunderbares Mitleben mit aller Welt [...]. Es war ihm, als hätte er eine ungeheure Schandtat getan, und frevelnd [...] dieses heilige Werk Gottes, sein Ebenbild zerstört.« (444) Als Abbild Gottes begründet Karl seinen Glauben bildtheologisch. Sein Verhältnis zu Gott bleibt aufgrund dieser Gottesebenbildlichkeit aber stets an die arbiträre Relation zwischen Zeichenträger und Referenz gebunden. Karl ist eben nur ein Abbild Gottes. Zu Arnims Bildtheologie im Anschluss an Johann Georg Harmann und ihre Bedeutung für seine Poetik vgl. Gerhart von Graevenitz, Mythos, S. 222f. Moering erkennt ebenfalls, dass die Darstellung der Versöhnung stets einen ironischen Unterton bewahrt. Ihrer Auffassung nach distanziert sich Arnim ironisch von den romantischen Gedanken einer Verbindung von der Liebe zur Frau und christlicher Liebe. Vgl. Renate Moering, Die offene Romanform, S. 123
lose Dolores wird auf ihren Körper reduziert und stellt, da sie selbst jeder Handlungsmöglichkeit beraubt ist, die perfekte Projektionsfläche für ihren Mann dar. Karl ergreift von ihr und ihrem Körper Besitz. Prompt antizipiert er, was Dolores seiner Meinung nach zu fühlen und zu denken hat, nämlich Reue. Er sieht, einmal mehr, was er sehen will, nicht aber, was seine Frau bedarf: »Sie bedurfte seiner liebevollen Sorgfalt, und er dachte nur an ihre strenge Buße, an ihre schmerzliche Reue; die tiefe Berührung mit einer höheren Welt, die Tausende an sich zieht [...].« (459) Karl inszeniert sich als Postfigurant von Adam, Jesus und Pygmalion zugleich, der seine Frau erweckt, ihr Leben einhaucht und ihr – so der Szenenentwurf – als Gottes Stellvertreter die Absolution erteilt. Der Roman stellt Dolores’ und Karls Versöhnung als eine männlichen Eroberungsakt aus, mit dem sich der Mann seine Frau aneignet. In der Egalitätsfrage schließt die Versöhnung demonstrativ nur an Karls Sichtweise der Liebesinitiation an. Als müsste Karl diesen Rückfall hinter die Vorgaben individualisierter Liebe selbst besiegeln, greift er umgehend wieder seine Lieblingsidee aus alten Ehezeiten auf und schwingt sich noch einmal zu Dolores’ Erzieher auf: »er fühlte ein herrliches Ziel seiner Aufopferung, das geliebte Wesen, das sich ihm jetzt so ganz ergab, zu der Vollendung hinzubilden, wie er in erster Liebe sie sich geträumt hatte.« (460)677 Für Karl schließt sich somit der Kreis seiner Liebe. Das mag ihm ein großes Glück versprechen, der Text aber arbeitet mit diesem Kreisschluss zurück in die Ehezeit heraus, dass Karl seine alten Kommunikationsfehler wiederholt. Dass seine patriarchalischen Machtphantasien erneut aufblühen, verrät sogar seine Sprache. Verfolgt er mit seinem Bildungswunsch doch ausgerechnet ein herrliches Ziel, das sich erreichen lässt, weil Dolores sich »jetzt so ganz ergibt«. Wenn der Erzähler anschließend behauptet »sie lieben wieder wie in ihren glücklichen Tagen« (460), verweist diese Feststellung auf die Ehezeit des Paares zurück. Die Parallele ist tatsächlich frappant, denn auch damals redete der Erzähler ständig von einem Reichtum und Glück, die Dolores aber überhaupt nicht erlebte (vgl. Kapitel 3.1 dieser Studie). Auch in diesem Sinne also hat sich nichts verändert.678 Mit Hilfe der aufgezeigten repetitiven, isotopischen und parallelistischen Strukturen hebt der Roman deutlich hervor, dass die Liebeskommunikation des Paares auf denselben Mechanismen, Funktionsweisen und damit auch Schwie-
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Auch Kluckhohn fällt schon auf, dass diese Behauptung eine Crux in der Romanhandlung auslöst. Doch er sieht nicht, dass mit dieser Bemerkung vor allem Karls Kurzsichtigkeit markiert ist. Da er die Stellen nicht deuten kann, erliegt er der Versuchung, sie glatt zu bügeln und unterstellt Arnim schlicht einen Konstruktionsfehler: »Dadurch [,dass Karl sie zu dem erträumten Wesen umbildet, C. M.] würde seine Ehe zur wirklichen Ehe im frühromantischen Sinne werden. Daß das Wesen der Dolores, wie sie am Anfang des Romans gezeichnet ist, dieses Bemühen als aussichtslos muß erscheinen lassen, ist ein künstlerischer Fehler, der hier unerörtert bleibe. Vgl. Wilhelm Grimms vortreffliche Besprechung in den Heidelberger Jahrbüchern 1810.« Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe, S. 618. Entsprechend nüchtern fällt das Fazit des Erzählers aus: »Nicht jeder Tag konnte so erfreulich enden wie dieser; aber der Zustand beider ward doch erträglich.« (460)
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rigkeiten beruht wie zuvor. Die Beziehung erhält nicht etwa ein neues, religiöses Fundament, sondern sie speist das religiöse Zeichenmaterial nur in ihre etablierten Zirkulationsmechanismen ein. Demnach dient die Kapellenszene dazu, die zuvor bereits mit erheblichem Aufwand betriebene Dekonstruktion der Religion fortzuführen. Wie schon anhand seiner Reflexionsfigur »Markese« und wie schon bei der Inauguration des Erzählers zum »Textgott« enthüllt der Roman die Religion als ein artifizielles Zeichensystem und entreißt sie ihrer metaphysischen Verankerung. So bleibt sich der Text treu, wenn er die versöhnende Kraft des christlichen Glaubens ein weiteres Mal ausschlägt. Damit aber steht das (erste) Skandalon der vierten Abteilung fest: Das Ideal einer heiligen Liebe ist dekonstruiert. Wenn für Karl die Moral aus seiner Selbstmordgeschichte lautet: »Des Himmels Gnade hat die Kugel von meinem Herzen abgeleitet, aber stark angeklopft, daß es sich bessere; der Herr vergibt mir meine Schuld« (445), so weiß der Leser, dass Karl sein Leben keiner göttlichen Schicksalsmacht, sondern in Wahrheit dem Kalkül und der Leidenschaft eines melancholisch liebenden Erzählers verdankt. Karl lebt von Erzählers Gnaden – einer Instanz, die für die Vergebung der Sünden alles andere als zuständig ist. Und auch die Versöhnung verdankt sich allein dem allmächtigen Erzähler. So realisiert der Roman perfider Weise das, was Karl in einem schwachen (oder, je nachdem, hellen) Moment gegenüber dem Prediger Frank behauptet hatte. Als die beiden sich während des Landlebens einmal gestritten hatten, ob die göttliche Liebe zu den Menschen durchdringe oder nicht, argumentierte ausgerechnet Karl zurückhaltend: Nicht gegen die Möglichkeit dieses Durchdringens streite ich, aber nur das eine weiß ich gewiß, daß dieses Göttliche darin selten rein von menschlich irdischer Beimischung ist, die täuschend das himmlische Feuer nachzuahmen weiß, besonders in unserer Zeit. (143)
Karl beschreibt an dieser Stelle treffend, in welcher Situation er sich sowohl vor als auch nach seinem Selbstmordversuch befindet. Mag es auch eine metaphysische Schicksalsmacht geben, in Karls Welt, die letztlich ein Textuniversum ist, bleibt das Göttliche in keinem Fall rein, sondern vermischt sich mit der melancholischen Liebe des Erzählers. Gerettet und mit seiner Frau versöhnt wird Karl eben nicht von einer numinosen Macht, sondern von einem Geschichtenerzähler, der mit seinem Stoff umzugehen weiß. Die melancholische Liebe des Erzählers, der sich von seinen Figuren angezogen und abgestoßen fühlt, sorgt dafür, dass Karl weiter in seinem Beziehungsnetz gefangen und zentrale Figur in dem Gedankenexperiment des Liebesanalysten bleibt. In Anbetracht dieser Romankonstruktion liegt es näher, Karls Überleben und Versöhnung als egoistischen und nicht etwa als karitativen Akt des Erzählers zu lesen. Der Erzählgott verpflichtet seinen Protagonisten, weiter zu leben und zu lieben. In seiner Funktion als Erzähler kann ihm überhaupt nichts Besseres passieren. Nur so kann er die Situation noch einmal zuspitzen und seine Reflexion um das existentielle Thema »Religion und Liebe« erweitern. Zu den konstitutiven Bedingungen dieser Reflexion gehört, dass der melancholische 362
Schwebezustand längst wieder hergestellt ist und die Zeit der Buße und Versöhnung bestimmt. Dolores’ Fehlschuss, der Karls Leben rettet, vollzieht in diesem Kontext nicht nur den göttlichen Willen des Erzählers, sondern verweist erneut auf den Bruch der Zeichenordnung. Da der Herzschuss sein Ziel verfehlt, tritt die différance in Karl Plan ein und reißt eine unüberbrückbare Lücke zwischen seinem zuvor entworfenem Ideal und der Realität. Karl ist der Verlierer im Kampf gegen den Erzähler und muss seine Niederlage jetzt ertragen. Allerdings ist diese Erfahrung für ihn erst einmal wenig schmerzhaft. Denn Karl hängt nach einer kurzen Phase der Klarsicht längst wieder seinen alten Illusionen nach und bildet sich ein, er und Dolores seien vollkommen glücklich. Wer aber um den allmächtigen Erzähler und die Konstruktionsbedingungen heiliger Liebe weiß, für den drückt sich in Karls Überzeugung, Gott hätte ihn vor seinem Selbstmord bewahrt und ihn wieder mit seiner Frau vereint, nur die beschränkte Perspektive, die Naivität und die Hybris aus, mit welcher der Protagonist seine Situation beurteilt. Karls Gottvertrauen wird als ein Rückfall in die Illusion dargestellt, von der Karl während seines Gesprächs mit Frank und während seiner heftigen Glaubenskrise nach seinem Selbstmord kurzzeitig befreit war.679 Ist die vermeintliche religiöse Liebesvereinigung erst einmal von der Wiederholung des Immergleichen infiziert, so steckt sie im Folgenden alle weiteren Etappen von Dolores’ und Karls Einzug in das dann nur noch vermeintliche Paradies an. Wie bei der Versöhnung selbst, legt der Roman an jeder Station seinen narrativen Schwerpunkt darauf, dass das Paar in seinen altbekannten Verhaltens-
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Eine zuvor bereits zitierte Aussage des Erzählers entpuppt sich demnach als ein selbstreflexiver und mithin poetologischer Kommentar: »Wir werden es häufig bemerken in unsrer Zeit, daß Menschen der gebildeten Stände, die sich lange sehr religiös glauben, doch eigentlich die Religion nur als ein Gedachtes, als ein Nachdenken über die Welt bewahren, nicht als ein Notwendiges, Eingebornes, Anerzognes, nicht als einen Glauben; es gab für die Meisten eine Zeit, wo sie viel dachten und der Religion vergaßen; ihr Spekulieren über Religion hält selten gegen die Not und gegen das Glück aus; beide geben ihnen meist erst ihre feste Richtung, ihren eigentlichen Zweifel.« (450) Der Roman erfasst an dieser Stelle präzise seine eigene Position. Einerseits preist er die Religion, andererseits macht er deutlich, dass er die Religion als ein Gedachtes ansieht. Die Ironie dieser Aussage, liegt darin, dass der Roman seinen Lesern wie seinen Figuren die feste Richtung verweigert, welche er an dieser Stelle verspricht, und stets auf ein Sowohl-alsauch verweist. Dass Karl in seiner höchsten Not Zuflucht zum Glauben sucht, ist nicht das Ergebnis der Analyse, sondern ihr Ausgangspunkt. So geht Karl, auf den die Aussage des Erzählers zugeschnitten ist, im selben Moment noch voller Skepsis und Missachtung in die Kirche: »Da läuft sagte er vor sich, das schwachsinnige Volk in die Kirchen in alle Ewigkeit und meint, darin etwas Gutes zu tun, es ist doch alles vergebens und umsonst; auch ich will einmal mitlaufen, will auch einmal beichten, will doch sehen, was mir die Dummheit raten wird, die dort an Gottes Stelle sitzt.« (450) Karl betritt entgegen seiner Einstellung die Kirche – er folgt seiner religiösen Natur, so würde der Erzähler wohl sagen, und beginnt daraufhin seine Wallfahrt, auf der er sein Glück findet. Letztlich aber liefert er sich so niemandem anderen als dem Erzähler, dem »falschen Textgott« aus.
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weisen verhaftet bleibt. So verspricht die Geburt von Karls zweitem Sohn zwar einen Neuanfang,680 aber Karl gibt seinem Kind einen Namen, der jede Hoffnung auf eine Zäsur hinfällig macht. Obwohl der Erzähler die Taufe des Sohnes vorsichtshalber ausspart, um sie nicht in das Netzwerk der kontaminierten Taufakte einzugliedern,681 erfährt der Leser zwanzig Seiten später doch, dass Karl seinen Sohn tatsächlich Johannes genannt hat (469). Diese Namenswahl beweist, dass der glückliche Vater weder im Rahmen des Autorschaftsdiskurses noch in Sachen Vergangenheitsbewältigung aus seinen bisherigen Fehlern gelernt hat.682 Karl ließ sich nämlich, noch bevor er vom Ehebruch seiner Frau wusste, von Dolores die Karten legen, ob sein zweites Kind ein Junge oder ein Mädchen werden würde: »Und sie legte ihm die Karten, es wurde ein Knabe. Nun dachten sie, wie er heißen sollte, der Graf meinte Johannes, dem Markese zu Ehren« (434). Seither steht offenbar der Name des Kindes fest, was auch immer da kommen wolle. Kurioserweise bleibt es auch bei der Entscheidung, als Karl herausfindet, dass der Markese nicht unbedingt ein Freund seiner Familie ist, dem man Ehre erweisen sollte. Und auch das Faktum, dass der Verführer nicht der Vater des Kindes ist, ändert nichts am einmal gefassten Beschluss (vgl. 461). Wäre das Kind in der Verführungsnacht gezeugt worden, hätte die Namensgebung nach Karls essentialistischer Logik wenigstens noch Sinn gemacht. Dann hätte der erste Sohn des Markese ebenso den Namen seines Vaters getragen wie Karls erster Sohn. Unter diesen Umständen aber ist Karls Beharrlichkeit nicht nachvollziehbar oder höchstens als Zeichen seiner eigenwilligen Sturheit zu lesen. Aus welchen Gründen auch immer Karl an dem Namen festhält, die Namensgebung kontaminiert das weitere Leben der gräflichen Familie.683 Johannes mag seine Eltern an Johannes den Evangelisten oder auch an Johannes den Täufer erinnern, zugleich hält sein Name immer auch die Erinnerung an den Markese wach. Und das, obwohl der Verführer nicht sein Vater ist und das Paar seine Ver-
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Da Dolores ihr zweites Kind 12 Monate nach ihrer Verführung zur Welt bringt, fällt Johannes’ Geburtstag in die Zeit ihrer Verführung. Damit ist auch der Geburt selbst die Erinnerung an den Ehebruch eingeschrieben. So geschieht es an seinem 13. Geburtstag: »Dolores wurde in der Erinnerung jener frühen Zeit wieder sehr gerührt« (581). Zu diesem Netzwerk gehören die Taufe von Karls erstem Sohn, die Selbsttaufe des Markese, die Ernennung des Erzählers zum Erzählgott und die Versöhnung. Offensichtlich bleibt der Taufakt auch nach der Versöhnung ein männliches Vorrecht. Karl bestimmt den Namen seines zweiten Sohnes, Dolores hat kein Mitspracherecht. Dass der Roman an dieser Stelle überhaupt nicht daran denkt, auch nur einen Schritt von seinen semiotischen Verwirrspielen und seiner Rhetorik der Ambivalenz zurückzutreten, zeigt sich bereits daran, dass der Erzähler geheimnisvoll so tut, als gebe es vielleicht eine zwölfmonatige Schwangerschaft, obwohl es doch gar kein Geheimnis gibt: »Wunderbar schien es inzwischen der Gräfin, als sie in der heiligen Zeit von neun Monden, die nach den Berechnungen der Mütter die glückliche Lebensverborgenheit des Menschen begrenzen, als sie über diese neun Monate hinaus, seit jenem unseligen Abende, die Last ihrer Sünden tragen mußte.« (469) Statt Gewissheit zu vermitteln, spekuliert der Erzähler über verlängerte Schwangerschaften und Sündlasten. Das ist seine Erzählstrategie.
gangenheit doch hinter sich lassen möchte. Da Karl in seinem patriarchalischen Denken verharrt und nach dem Motto »ein Mann, ein Wort« handelt, ist sein Sohn kein unbeschriebenes Blatt mehr. Ihm ist sowohl der gewollte Neuanfang als auch die Vergangenheit seiner Eltern eingeschrieben.684 Das Kind erscheint als eine vom Vater bestimmte Textur. Da eine solche aber mehrfach codiert ist und die unterschiedlichsten Figuren von Jesus’ Lieblingsjünger, über Don Juan bis zum Markese zugleich aufruft, ist Johannes eine weitere Personifikation des changent taft. Tatsächlich wird Karl die Geister, die er rief, nicht mehr los: Das fremdartigste Kind unter allen war der kleine Johannes, der schon vor seiner Geburt so gewaltsame Verwirrung in seiner Welt gestiftet hatte; er war durch jenes Ereignis beiden Eltern, was sie sich nicht eingestehen wollten, eine unangenehme Erinnerung geworden; sie ließen es ihm nie fühlen, aber Kinder fühlen die innere Gesinnung der Menschen gegen sie sehr leicht, sobald sie nicht absichtlich hintergangen werden. (488)
Die Namensgebung steht Karls und Dolores’ Neuanfang diametral entgegen. Und der Roman nutzt Karls Tauffehler gnadenlos aus. In Zukunft fokussiert er seine Erzählung auf Karls zweiten Sohn und berichtet von ihm ausführlicher als von jedem anderen Kind.685 Und weil der Roman seinen Figuren nichts schenkt, entzieht er zuletzt auch dem italienischen Leben den sicher geglaubten Halt. Die (Wieder-)Vereinigung von Klelia, Dolores und Karl mag für die Figuren selbst harmonisch scheinen, in den Augen des Lesers aber wird damit ausgerechnet die Dreisamkeit des konfliktreichen ersten Sommers wieder hergestellt.686 Das erklärt auch, warum ausgerechnet Karl die Rei-
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Zu dem romantischen Modell, Kinder zunächst als unbeschriebene Blätter als »tabula rasa« zu betrachten vgl. Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800, London 1977, S. 264. Das Verwirrspiel setzt sich in der Johannesgeschichte weiter fort. Das geht so weit, dass Johannes sich bei einer Theateraufführung mit der dort auftretenden »Päpstin Johanna« identifiziert. Diese ist eigentlich ein Mädchen, das mit Hilfe des Teufels zum Mann erzogen und schließlich zum Papst ernannt wird. In dem teuflischen Erzieher sieht Johannes das Ebenbild seines eigenen Erziehers, der tatsächlich plant, den Jungen zu entführen. Johannes flüchtet daraufhin ins Kloster. Diese Aspekte hat Nicola Kaminski ausführlich herausgearbeitet. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge S. 293ff. Diese Einschätzung zeigt eindrücklich, dass mit Johannes’ Taufe kein Neuanfang zu haben ist, im Gegenteil, das Spiel der Verweisungen wird durch sie beschleunigt. Zudem betont der Erzähler, dass sich für Dolores und Karl mit ihrer Italienreise jeweils ein Kreis schließt, allerdings bindet der Zirkelschluss die Reise keineswegs an idyllische Momente und Ereignisse zurück: »Sie sah nun das Land, von dem sie einst von mächtiger Eitelkeit hingetrieben, mit dem reinen Blicke einer größeren Erfahrung, die alle Eitelkeit in ihr vernichtet. Er zog nun in das Land, wohin er als Student mit pochendem Herzen schon getrachtet, aber das er von Liebe zurückgehalten in Freude und Leid ganz vergessen hatte, als ein Student höherer Art, denn das sind alle wahren Reisenden.« (463) Wie unzuverlässig die Einschätzung des Erzählers ist, beide Partner hätten sich weiter entwickelt, zeigt sich beispielsweise daran, dass der Erzähler damals, als Dolores nach
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se zu Klelia so vehement vorantreibt. Hat der erste Sommer der Liebe doch gezeigt, dass Karl – ohne sich dies einzugestehen – beide Schwestern um sich braucht, um vollkommen zu lieben. Jetzt erfüllt sich der gekränkte Ehemann seinen heimlichen (fortwährend gehegten) Wunsch. Karl verwirklicht seine lang ersehnte Dreieckbeziehung, wobei es ihm sicherlich nicht unangenehm ist, dass er mit seinem Umzug nach Italien zugleich das ungeliebte Stadt- gegen das von ihm geschätzte Landleben eintauscht.687 Für ihn erfüllen sich alle seine Liebesvorstellungen. Der Roman aber betont die bedrohliche Situation, die der Graf heraufbeschwört. Auch für den Umzug nach Italien gilt, das Paar mag sich oberflächlich versöhnt haben, ein Neuanfang glückt dennoch nicht.688 Das Landleben in Deutschland war ja bereits für Dolores eine unglückliche Zeit. Jetzt verschärfen sich die Schwierigkeiten noch, da Klelia zuvor die Zweisamkeit des Paares nur aus der Ferne gestört hatte, sie auf ihrem Landgut aber alltäglich gegenwärtig ist. Auf Klelias Landgut fällt Karl zudem in seine alten Lebensgewohnheiten zurück. Tatsächlich stimmt Dolores’ und Karls Alltag strukturell mit dem ihres alten Landlebens überein. Beide gehen wieder getrennte Wege: Alle gewinnen bald einen festen Lebenskreis und Bestimmung; vor allen findet der Graf in der ökonomischen Verwaltung, die der Herzogin bislang am lästigsten gewesen ein schönes Feld, seinen wohltätigen Geist über tausende auszubreiten, der sich bis dahin in der Anordnung weniger Menschen begnügen mußte. (464)
Karl übernimmt von Klelia »einen Großteil ihrer Geschäfte« (466) und arbeitet vor allem außerhalb des Schlosses. Dolores hingegen bleibt an das Haus gebunden und widmet sich ihren Kindern (465). Für sie besiegelt die Geburt des zweiten Kindes genau den Freiheitsverlust, gegen den sie bis zu ihrer endgültigen Demütigung durch ihren Verführer angekämpft hat. Daraus resultiert, dass sich die Lebens-
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Italien reisen wollte, noch geurteilt hatte: »Wir die wir den Ausgang kennen wünschen sie wäre dem Winke ihrer Natur gefolgt, der Natur, die sich in ihrer Sehnsucht und Laune selten ungestraft widersprechen läßt, denn sie allein weiß, was sie will, wir aber wollen, was wir nicht wissen.« (148) Für die Fortsetzung der menage à trois spricht auch die intertextuelle Präfiguration der Versöhnungsszene durch Wielands Clelia-Erzählung. Wenn Dolores dort nämlich nur eine andere Klelia ist und die Kapelle – wie es der intertextuelle Bezug nahe legt – auch auf Lampedusa stehen könnte, dann versöhnt sich Karl (auch) mit Klelia, wenn er sich mit Dolores wiedervereinigt. Für diese zweifache Vereinigung spricht auch der doppelte Taufakt, den Karl vollzieht. Diese Lesart ergänzt sich mit Kaminskis Überlegungen. Diese zeigt, dass »das topographische Muster des Romans brüchig ist«, weil Italien nicht nur als das Land des Heils dargestellt wird, in das Klelia sich zurückzieht, sondern durch den Romananfang und Wielands Prätext erotisch konnotiert ist. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 277 u. 279f. Kaminski zeigt zudem, dass Klelia »keine Heilige, ohne Befleckung« ist und »nicht minder aus widersprechenden Stücken zusammengesetzt denn Dolores.« Ebd., S. 281. Zudem geht Kaminski ausgiebig den Verwirrungen nach, die der kleine Johannes stiftet. Ebd., S. 286ff.
welten der beiden Partner erneut auseinander dividieren. Für Dolores wiegt dieser Rückfall besonders schwer. Zumal ihr niemand anderes als Klelia deutlich macht, »daß eine Frau nie etwas Größeres tun könne, als wenn sie mit liebevoller geduldiger Sorge die ersten hülflosen Zeitern ihrer Kinder bewache, wenigstens nichts Erfreulicheres, Segenvolleres.« (465) Klelias Aussage ist mit Vorsicht zu genießen. Sichert sie sich doch mit dieser Rollenaufteilung einen exponierten Platz an Karls Seite. Denn Klelia darf als Witwe, als Erbin »eines unermeßlichen Vermögens« (461), als Herrin über das Land ihres Mannes, vor allem aber als Karls Freundin im Geiste, die Grenze zur Außenwelt überschreiten (465f.). Sie führt, da sie nicht an die Pflichten der Ehe gebunden ist und keine Kinder hat, das Leben an Karls Seite, das Dolores während des Landlebens führen wollte. Galt Dolores’ Vorstellung aber in den Augen ihres Mannes und des Erzählers als Hybris, weil sie sich über ihre Pflichten als Ehefrau hinwegsetze, so spricht im Fall der ungebundenen Klelia keiner von Hochmut (vgl. Kapitel 4 dieser Studie). Klelia führt mit ihrer freien Lebensweise, die sie sich leisten kann, weil sie nicht geliebt wird, Dolores ständig vor Augen, dass sie ihren existentiellen Gleichberechtigungskampf verloren hat.689 Anhand des Schwesternpaares hebt der Roman somit die beiden schlechten Alternativen hervor, welche eine Frau innerhalb der bestehenden Familienordnung wählen kann: Der Frau bleibt die Alternative zwischen dem Verzicht auf das Muttersein und dem Verzicht auf die freie Selbstbetätigung. Im einen Fall muss sich das als Verneinung der eigenen Weiblichkeit und als Wunsch nach Männlichkeit manifestieren, im anderen in einer menschlich und sexuell passiven Endeinstellung, in einer masochistischen Komponente.690
Wobei Arnims Roman diese Einschätzung noch verschärft. Da für die Frau jede Liebe ohne anschließende Familiengründung und Mutterschaft illegitim ist (oder zumindest als defizitär aufgefasst wird), steht diese vor der Alternative, entweder zu lieben und sich damit in Unfreiheit zu begeben oder auf die Liebe zu verzichten. In jedem Fall muss Dolores hinnehmen, dass Klelia vor ihren Augen die Position ein-
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Kaminski hat herausgearbeitet, dass Klelia zwar als Heilige inszeniert wird, dass der Roman diese Lesart aber zugleich untergräbt. Oberflächlich bekehrt Klelia die italienische Räuberbande und deren Hauptmann Balsamo. Kaminski aber weist darauf hin, dass der Name Balsamo um 1800 eine gegenteilige Lesart provoziert. Der nämlich gilt in dieser als eine historische Person, die nur vorgab, als wünschte sie nichts so sehr, als wieder in den Schoß der Kirche einzutreten, der sich in Wahrheit aber nicht bekehren ließ. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 283. So konstatiert Thomas Anz im Rückgriff auf O. Gross 1913 erschienene Studie zur kulturellen Krise, die dem Szenario zeittypisch zugleich eine psychologische Deutung abgewinnt. Vgl. Thomas Anz, Das Gesetz des Vaters. Autorität und Familie in der Literatur, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. In: Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer (Hg.), Familienmuster – Musterfamilien, S. 185–200, hier S. 190.
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nimmt, die sie sich erträumt hatte, während sie die Rolle erhält, die ihr Karl schon während des Landlebens zugeordnet hat. Wie weit Dolores’ Handlungsspielraum eingeschränkt ist, expliziert der Roman daran, dass ihr selbst bei der Kindererziehung nur ein minimaler Wirkungskreis gestattet wird. Dolores kümmert sich nur um ihre jüngsten Kinder, denn »die älteren Kinder bedurften nach dem Urteile Kleliens und des Grafen einer eignen Aufsicht, eines männlichen ernsten Unterrichts.« (488)691 Dolores hat da offensichtlich nichts zu sagen, und weil Karl »nach allen Seiten beschäftigt« (488) ist, kommt nach dem Tod des alten Bedienten ein Hauslehrer in das Schloss. Dolores hingegen wird auf das Minimum mütterlicher Erziehungsarbeit beschränkt. So verschiebt sich das Leben zwar von Deutschland nach Italien, alle vorherigen Schwierigkeiten bleiben aber bestehen. Die beiden Partner stellen ihre Kommunikation ein, sie leben wieder in getrennten Welten. Und während Karl weiterhin alle Freiheiten genießt, ist Dolores wie während ihres Landlebens auf den engsten Kreis des Hauses beschränkt. Selbst dort gewährt ihr die patriarchalische Familienordnung einen zwar sicheren, aber auf ein Minimum eingeschränkten Platz. Aus der Leserperspektive vereint ihr jetziges Dasein die Nachteile des ersten Sommers (menage à trois) mit denen des zweiten Sommers auf Karls Landgut (häusliche Gefangenschaft, Demütigung). Diese Parallelität markiert, dass das Liebesleben in Italien den immergleichen Mechanismen folgt und in diesem konkreten Fall die strukturelle Gewalt des Patriarchats sogar noch steigert.692 Karl und Dolores versäumen, ihre Liebe tatsächlich auf ein neues Fundament zu stellen. Die Versöhnung in der Kapelle bildet also keine Zäsur, sondern sie ist wie Kindstaufe und Italienreise nach ihr in das Kontinuum des Immergleichen eingegliedert.693
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Zuvor heißt es noch, Klelia habe den Unterricht übernommen, »wenn die Kinder älter wurden« (465). Auch in dem Denkmal, das Salicetti anfertigt, ist Klelia den großen Kindern zugeordnet (vgl. 466). Das verschärft den Eindruck, dass Dolores sich weiter demütigen lassen muss. Für diese Kontinuität spricht auch, dass der alte Bediente weiterhin seine Mittlerfunktion erfüllt. Während des Ehestreits vermittelt er zwischen Dolores und Karl, indem er beispielsweise die Briefe der beiden Liebenden zwischen ihren Privaträumlichkeiten hin und her leitet. Er begleitet das Paar aber auch mit nach Italien (vgl. 464). Dort »blieb er wie immer der Oberaufseher des Hauses« (ebd.) und kümmert sich bis zu seinem Tod, sieben Jahre nach Johannes Geburt, acht Jahre nach Dolores’ Ehebruch, um die Erziehung der Kinder. (488) Indem die ›Gräfin Dolores‹ die spezifische Diskurskonstellation der Zäsur aufruft, inszeniert sie eines der wichtigsten Denkmuster des Zeitalters der Französischen Revolution. Mit der Datierung auf den 14. Juli behauptet der Erzähler, Dolores’ Ehebruch bedrohe in gleicher Weise die Gesellschaftsordnung wie die Französische Revolution. Macht das Paar Dolores’ Ehebruch vom 14. Juli rückgängig, so nimmt es zugleich restaurativ die Folgen der Französischen Revolution zurück. Nimmt man die Gleichsetzung von Ehebruch und 14. Juli ernst, unterläuft der Roman das Denkmuster, die Französische Revolution stelle eine entscheidende Zäsur in der europäischen Geschichte dar. Die Unterdrückten bleiben auch nach dieser Zeit unterdrückt, für sie ändert sich nichts. Dolores’ Ehebruch
Das einzige, das sich tatsächlich im Vergleich zur Anfangszeit der Ehe geändert hat, ist Dolores’ Verhalten. Augenscheinlich verzichtet sie vollständig darauf, ihre Egalität in der Liebesbeziehung einzufordern und findet ihr Glück offenbar in ihrer Mutterrolle. Der Erzähler wird nicht müde, diese Veränderung mit Dolores’ Einsicht in ihre Sünden und mit ihrer »Buße« zu begründen. Allerdings besteht eines der auffälligsten Charakteristika der vierten Abteilung darin, dass Dolores’ Gefühlsleben und Bewusstsein an keiner Stelle ausführlich behandelt werden. Die Erzählung schenkt der Innenwelt ihrer Protagonistin keinerlei Beachtung. Dolores wird meist nur aus der Distanz oder aus der Perspektive anderer Figuren beschrieben. Bereits Wilhelm Brüder Grimm hatte kritisiert, dass Dolores’ Buße nicht ausreichend motiviert sei.694 Ist die behauptete Buße also nur eine Projektion des männlichen Erzählers? Tatsächlich weist der Roman selbst darauf hin, dass weiterhin Skepsis gegenüber dem Blick des Erzählers auf die erzählten Ereignisse angesagt ist. Beispielsweise bezieht der Erzähler alle Ereignisse seiner letzten Abteilung konsequent auf den 14. Juli. Und Dolores stirbt letztlich sogar »an demselben Tag, in derselben Mitternachtsstunde, in welcher sie vor vierzehn Jahren die heilige Treue gegen Gott und ihren Mann gebrochen« (671). Der Roman aber stellt diese Interpretation seines Erzählers als kurzsichtig dar. Denn am 14. Juli um Mitternacht mag Dolores sich über den ohnmächtigen Markese gebeugt haben, verführt im eigentlichen Sinne wurde sie an diesem Tage ausdrücklich nicht (vgl. Kapitel
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stellt keine Zäsur dar. Aber auch die zweite Zäsur, die Arnims Roman herausstellt, erweist sich als unwirksam. Die (vermeintliche) Versöhnung im Zeichen der Religion stellt die soziale Ordnung nicht etwa auf ein neues, sondern auf das alte Fundament. Auch sie bildet keinen Neuanfang. Was von den vermeintlichen Einschnitten bleibt, ist die Rede von der Zäsur. In der Erzählerfigur, die melancholisch liebend auf Dolores’ und Karls Liebesgeschichte zurückblickt, verklammern sich Sprachpolitik und Gedächtniskunst. Der Roman führt anhand seines Erzählaktes vor, wie im Rückgriff auf das Denkmuster »Zäsur« nicht nur Dolores und Karls Liebesgeschichte, sondern darüber hinaus auch Geschichte konstruiert wird. Und weil die Zäsuren, die der Erzähler setzt, nicht halten, was sie versprechen, kann man weiter schließen, dass die ›Gräfin Dolores‹ in Frage stellt, ob es überhaupt eine Zäsur geben kann und die Rede von der Zäsur grundlegend problematisiert. Die sprachliche Setzung der Zäsur strukturiert die Erzählung, aber sie verschleiert dadurch die eigentlichen Zusammenhänge der Geschichte. Vgl., Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 84f. Zum Sprechen im diskursiven Feld der Zäsur vgl. Jesko Bender, »Umschmeichelt von so viel Schrift.« Zum Denkmuster der ›Zäsur‹ im deutschen ›Terrorismus‹-Diskurs nach dem 11. September 2001 – Ulrich Peltzers Bryant Park (2004). In: Inge Stephan und Alexandra Tacke (Hg.), Nachbilder der RAF, Köln und Weimar 2008, S. 268–286. Arnims Roman sieht sich schon seit Wilhelm Grimms Rezension dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ausgerechnet an seiner wichtigsten Gelenkstelle schlecht motiviert, weil er Dolores’ Wandel von der Sünderin zu Büßerin nicht glaubwürdig motiviere. Dieser Vorwurf ist seit Grimms Rezension zu einem Topos der Arnimforschung geworden. Vgl. exemplarisch: Helmuth Schmiedt, Liebe, Ehe, Ehebruch. Ein Spannungsfeld in deutscher Prosa. Gellert, Goethe, Arnims, Opladen 1993, S. 192. Auch Kluckhohn beklagt sich über diesen Konstruktionsfehler. In: Ders. Die Auffassung der Liebe, S. 618.
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4.4 dieser Studie). Das vermeintlich so eindeutige Bezugssystem des Erzählers will so schlüssig nicht aufgehen, wie er es gerne hätte. Der 14. Juli ist – im Rückblick – nicht das Datum, an dem Dolores ihre Ehe gebrochen hat, sondern an dem sie die größte Demütigung erleben musste, an dem ihre Vorstellungen endgültig verraten wurden. Der Roman markiert, dass es der Erzähler in diesem Punkt, der sein Konstrukt aus Sünde und Buße gefährden würde, offenbar nicht so genau nimmt. Er stellt den Blick seines Erzählers auf seine Protagonistin als unangemessen dar. Dieser Eindruck verstärkt sich, weil der Erzähltext im Kleinen doch immer wieder darauf anspielt, dass Dolores’ Mutterrolle nicht einseitig positiv zu bewerten ist. Der Roman figuriert sie entgegen den einseitigen Kommentaren seines Erzählers als eine Frau, die sich hoffnungs- und willenlos in ihr Schicksal ergibt und sich der patriarchalischen Familienordnung unterwirft. So beschwört sie ihren Mann: »Tue mit mir, wie du willst, schluchzte sie, ich habe mich schwer an dir versündigt« (444). Und kurz darauf erklärt sie ihm, »sie habe keinen eignen Willen mehr, sie unterwerfe sich seiner Einsicht ganz, er möge ihr gebieten.« (446) Indem der Roman Dolores an einzelnen Stellen so direkt zu Wort kommen lässt, figuriert er sie als eine Frau, der ihre Ausweglosigkeit bewusst ist. Dolores hat ihre Vorstellungen, sie hat sich selbst aufgegeben. Nur noch indirekt kann man schließen, dass Dolores sich erst schrittweise mit dieser Situation abfindet. So heißt es einmal: »Klelia hatte anfangs Mühe, einzelne störende Rückfälle ihrer Schwester in eine zerknirschende Reue zum Guten zu lenken« (464). Oder ebenso knapp: »Kaum hatte Dolores den ersten Widerwillen überwunden [...].« (465) Bei aller Anstrengung, Dolores’ Mutterschaft als Glücksfall zu verkaufen, das Unruhepotential bleibt diesen Sätzen subtil eingeschrieben. Weniger bußfertig, als vielmehr traumatisiert erscheint Dolores nach ihrer Verführung und nach Karls Geständnis.695 Immerhin hat sie dort auf einen Schlag erfahren, dass Karl ihr auf perfide Weise zuerst die Schuld an seinem
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Arnims Roman zeigt ein feines Gespür für die Folgen eines traumatischen Ereignisses. Es gibt laut Lehrbuch zwei Bedingungen für ein traumatisches Erlebnis: »Die Person erlebt oder beobachtet ein oder mehrere Ereignisse, in der eine potenzielle oder reale Todesbedrohung, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Versehrtheit bei sich oder anderen geschah, in der die Person mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagierte. Symptomgruppe Erinnerungsdruck: Intrusionen, belastende Träume, Albträume, Nachhallerlebnisse, psychologische Reaktion bei Erinnerung. Symptomgruppe Vermeidung/emotionale Taubheit: Gedanken und Gefühlsvermeidung, Aktivitäts- und Situationsvermeidung, Teil-Amnesien, Interessenverminderung, Entfremdungsgefühl, eingeschränkter Affektspielraum, eingeschränkte Zukunft. Charakterstisch ist das ungewollte Erinnern in Form von Bildern, Geräuschen, lebhaftem Eindruck, das sowohl im wachen Bewusstseinszustand als auch im Schlaf geschieht und bis zu einem subjektiv unerträglich erlebten Überflutungszustand führt und von den Patienten als ausgesprochen belastend erlebt wird. [...] Vermeidung führt auch dazu, Orte nicht aufzusuchen, die an das Trauma erinnern. Die Unfähigkeit, Gefühlsausdrücke abzustufen, leichte Erregbarkeit mit Ärger und Zorn sowie selbstzerstörerische Tendenzen.« Hans-Jürgen Möller (Hg.), Therapie psychischer Erkrankungen, Stuttgart, New York 2006, S. 866ff.
Selbstmord zuspielen wollte, sich dann von ihr pflegen ließ und ihr anschließend auch noch »großmütig« verziehen hat. Dolores fügt sich in ihre ausweglose Situation, darin besteht die Tragik ihrer Liebestragödie. Sie ist keine Büßerin, die sich ihrem Hochmut zu stellen hat, sie hat ihren existentiellen Kampf um die Rechte der Ehefrau aufgegeben. In Folge lässt sie sich dauerhaft demütigen und macht sich von ihrem Mann abhängig – als eine hilflos Liebende, die eben nur einen respektablen Platz in den stereotypen Denkmustern romantischer Liebe hat: den als liebende Mutter. Bekommt man diese Konstruktion in den Blick, erübrigt sich die Frage, ob Dolores’ Wandel zur Büßerin im Roman plausibel dargestellt sei. Es gibt keine christliche Metamorphose (vom Saulus zum Paulus), deshalb muss sie auch nicht motiviert werden. Erzählt wird stattdessen die Geschichte einer Kontinuität: Was ihre eigene Rolle angeht, ist Dolores von dem Moment an, in dem sie den Betrug des Markese erkannt hat, desillusioniert. Wenn die Geschehnisse nicht auf Dolores’ Wandel zur Büßerin hinweisen, der Erzähler dies aber stets postuliert, gerät die unzutreffende Einschätzung des Erzählers in die Kritik.696 Als Buße kann der Erzähler Dolores’ Verhalten nur betrachten – so der Eindruck, der vom Roman evoziert wird –, weil er seinen arroganten, männlichen Blick auf Dolores beibehält. Der Erzähler verharmlost gezielt Dolores Schwierigkeiten und ihr Liebesunglück, indem er es gegen die Mutterliebe aufwiegt. Die Rede von der Buße entpuppt sich als männlicher Euphemismus, um die Demütigung der Ehefrau zu verschleiern. Diese Blickweise stellt der Roman an den Pranger. Das führt der Roman auch rhetorisch vor, indem er dem Erzähler beispielsweise die Formel in den Mund legt: »Es war eine schöne Buße diese Mutterliebe« (465). Die Brüchigkeit dieser Behauptung ist dem Satz in seiner grammatischen Fehlerhaftigkeit regelrecht eingeschrieben. Der Satz wirkt ebenso unzureichend wie das Urteil des Erzählers. Ausgerechnet diese Sentenz steht aber nicht nur exponiert als Subscriptio am Ende des vierten Kapitels, sondern ist zudem auch noch durch Kursive typografisch hervorgehoben. Eine wesentliche Folge von Dolores’ Unterdrückung führt der Roman noch vor. In seiner Lust zur Eskalation markiert er, wohin die Einengung der Ehefrau auf die Hausfrauen- und Mutterrolle führt. Auf die totale Demütigung reagiert Dolores nämlich nicht nur, indem sie ihren Willen aufgibt, sondern auch dadurch, dass sie in den religiösen Code wechselt, um so eine neue, mit Karl gemeinsame Sprache der Liebe zu finden. Allerdings zieht dieser Wechsel nicht etwa eine Reihen intimer Kommunikationen nach sich, sondern führt nur dazu, dass Dolores ihren Mann von jetzt an grenzenlos überhöht. Ironisch führt der Roman anhand seiner Doloresfigur vor, wo die Forderung hinführt, das Familienleben nach dem religiösen Ordnungsmuster der analogia entis zu gestalten, um den Ehemann und Familien-
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Auf diese Weise entpuppt sich das vermeintliche Manko der fehlenden Motivierung als wichtige Textstrategie.
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vater mit dem himmlischen Vater zu identifizieren. Dolores macht – totale Demut – mit Karls Forderung ernst und spitzt auf diese Weise das kritische Verhältnis des Romans gegenüber der »heiligen Liebe« noch einmal zu. Dazu benutzt der Roman einen Eintrag, den Klelia in ihrem Tagebuch notiert: Heute vertraute mir meine Schwester Dolores, die wieder, Gott sei gelobt, in gesegneten Lebensumständen sich befindet, ihr lieber Mann, der Graf Karl sei ihr Erlöser und Weltheiland, denn er habe sie von schwerer Schuld befreit, indem er sein Blut für sie vergossen. Gnädiger Gott, das ist wohl noch eine Folge ihrer Sündenschuld, daß sie in solchen sträflichen Wahnsinn verfallen, da sie sonst so vernünftig und gut in allem ist. (470)
Klelia eröffnet mit ihrem Urteil die um 1800 leitende Differenz zwischen Vernunft und Wahnsinn. In diese Opposition sind zugleich die typischen Gegenüberstellungen von Geist und Natur, Rationalität und Sinnlichkeit, Kopf und Körper zwanghafter Ordnung und anarchistischer Unstrukturiertheit eingeschrieben. Normalität und Wahnsinn lassen sich demnach auch mit traditionellen Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Einklang bringen.697 Folgt man Klelias Einschätzung, stehen sie und Karl zusammen auf der vernünftigen, männlichen Seite, ihnen gegenüber verfällt Dolores der weiblichen Hysterie und dem ebensolchen Wahnsinn. Diese binäre Opposition mag auf den ersten Blick überzeugen. aber dann gehört die Religion auf einmal auf die Seite der männlichen Kultur und das widerspricht ausdrücklich Karls Überzeugung, dass diese in einer natürlichen Ordnung verankert sei. Letztlich entzieht sich Klelias vermeintlich vernünftiger Glaube den Boden, auf dem er steht.698 Dolores’ Mystifizierung ihres Mannes jedoch parodiert Karls heimliches Beziehungsideal. Denn sie setzt schlicht in die Tat um, was er die gesamte Zeit gefordert hatte. Karls Inszenierung der analogia entis, die ja auch noch während der Versöhnungsepisode mitschwingt, als Karl seine Frau erst von oben betrachtet und dann wie der gute Hirte das verlorene Schaf in seinen Armen hält, erweist sich als unattraktiv. Als Gott und Erlöser verehrt zu werden, macht den Ehealltag zumindest nicht so interessant für Karl, dass er seine Zeit mit seiner Frau verbringen würde. Einmal mehr spielt der Roman einen inneren Widerspruch des romantischen Liebes- und Ehekonzepts aus. Demnach soll die Ehefrau ihren Mann wie einen Gott verehren, und sie soll es zugleich auch nicht, weil die Anbetung keine alltägliche Liebeskommunikation ermöglicht. Damit zeigt diese Szene zugleich, dass Klelia es sich schlicht zu einfach macht, wenn sie Dolores’ Vorstellung als Wahnsinn bezeichnet und auf deren Ehebruch zurückführt. Dolores’ Projektion ist keine Folge ihrer Sünde, sondern der Tatsache, dass sie jetzt den stereotypen Vorgaben ihres Mannes folgt. Weil dies der romantische Liebescode aber tatsächlich fordert, ist es Klelia zuvor nicht anders gegangen. Auch sie hat
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Vgl. Thomas Anz, Das Gesetz des Vaters, S. 195. Wenn Klelia einen vernunftgeleiteten Glauben vertreten und deshalb gegen die Mystifikation vorgehen würde, müsste sie ihre Schwester von der Festlegung auf die Mutterrolle befreien und die Egalität in der Liebesbeziehung einfordern.
ihren Mann während seiner Lebzeiten wie ein göttliches Wesen verehrt und war gegenüber seinen Fehlern absolut blind; und ihr Mann war niemand geringeres als der Markese (vgl. 438). Der Roman verabschiedet sich von allen romantischen Idealisierungen. In diesen macht er die eigentliche Gefahr für die Liebe aus. Der Text hingegen beharrt auf seiner Einsicht in die interne Logik individualisierter Liebe. Sein Liebeskonzept benennt die Schwächen und Grenzen romantischer Liebe und fordert, diese in die Liebeskommunikation einzurechnen. Tatsächlich entwirft der Roman eine Szene, in der er andeutet, wie Dolores und Karl ihre Liebesbeziehung grundlegend hätten ändern und auf Egalität, gegenseitiger Anerkennung und höchstpersönlicher Kommunikation aufbauen können. Zu Beginn der vierten Abteilung setzt das Paar für einen Moment ein solches Konzept romantischer Liebe in Realität um. Man muss die betreffende Episode und damit diese alternative Lesart allerdings von der Erzählerstimme freilegen, die sie von Beginn an übertönt. Dolores – nicht etwa Karl – ist die Protagonistin dieser Szene. Kaum ist Dolores aus ihrer Ohnmacht erwacht, kaum hat der Arzt diagnostiziert, dass der Schuss Karls Herz verfehlt hat, da steht Dolores schon am Bett ihres Mannes und setzt so die Liebeskommunikation fort: erschöpft wie sie war, ließ sie es doch nicht, zu ihm zu eilen, und ihn mit einer Vorsorge zu pflegen, die nur Liebe gewähren kann. Wirklich schien ihr der ganze Wert des Mannes nur in dem bedrohten nahen Verluste ganz deutlich geworden zu sein. (443)
Dolores’ Kommunikation erlangt in diesem Moment einen basalen Charakter, da sie in der Sorge um Karls Leib und Leben besteht. Diese Sorge mag wie eine Selbstverständlichkeit wirken, sie ist dennoch zugleich ein ungeheurer Liebesbeweis. Denn nur weil sie Karl ganz (anstatt gar nicht) liebt, hat sie von ihrer Warte aus auch Zugriff auf seinen Körper. Zum Intimsystem Liebe gehört, den Körper des anderen in die Kommunikation einzubeziehen.699 Dolores ist aus Liebe bereit, Karl zu pflegen.700 Welche Grenze sie dafür überschreitet wird deutlich, weil ihr Verhalten einer ihrer vorherigen Aussage widerspricht. Als Dolores während des Landlebens immer mehr auf die häusliche Rolle eingeschränkt wird und sich zuletzt um Traugotts Wohl kümmern soll, behauptet sie noch: »Ich kann keinen Kranken pflegen und wär er mein eigener Mann.« (309) Im Moment der Not lässt Dolores diesen alten Grundsatz fallen. Ihre Liebeskommunikation geht jetzt sogar noch weiter:
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Die Sorge um das leibliche Wohl ersetzt in dieser Krisensituation die sexuelle Beziehung des Paares, auf die es in vorherigen Krisen stets referiert. Das schließt keineswegs aus, dass sie trotz dieser Intimität nicht über bestimmte Themen wie ihren Ehebruch schweigt. Im Gegenteil, das Verschweigen ist in diesem Fall ein Bestandteil der Fürsorge.
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Nicht seine dringendsten Bitten konnten sie von seinem Lager entfernen, wenige Viertelstunden Schlaf schienen ihr zu genügen. Sie scheute keinen beschwerlichen Dienst, selbst den Anblick der weit und blutig aufgerissenen Seite lernte sie ertragen. (443)
Dolores überschreitet alle intimen Limits. Ihre extrem personennahe, enthemmte Kommunikation701 kennt keine körperlichen Tabus, selbst den Ekel vor der offenen Wunde legt sie ab. Ihre Liebe erreicht somit eine neue Intimität und Intensität. Arnims Roman wirft an dieser Stelle einen anthropologischen Blick auf die Liebe und betont, dass die Sorge um das Leben des Geliebten für einen kurzen Moment eine Kommunikation jenseits aller (narzisstischen) Illusion möglich macht.702 Dass von dieser Stelle aus ein egalitäres Zusammenleben möglich wäre, zeigt sich dadurch, dass Dolores’ Pflege wieder zurück an den Anfang ihrer Liebe mit Karl führt. Dolores agiert als Liebende und übernimmt für einen Moment wieder jene aktive Rolle, in der sie schon das Kennenlernen mit ihrem Mann gelenkt hat. Doch Karl lässt diesen Neueinsatz nicht als gemeinsamen gelten und entzieht umgehend dessen Legitimation. Zunächst versucht er, Distanz zu wahren. Er muss Dolores’ Pflege aber über sich ergehen lassen, sonst müsste er erklären, warum er sie ablehnt, und er müsste seinen Selbstmordplan beichten. Aber mit seiner fortschreitenden Genesung fordert Karl dann seine alte Machtposition wieder ein. Den Übergang von Dolores’ Aktivität zu ihrer Passivität bildet das gegenseitige Schuldgeständnis.703 Karl lässt seine Frau dort überhaupt nicht zu Wort kommen, nicht
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Zum Begriff der »enthemmten Kommunikation« Vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 67ff. Auch bei Karl arbeitet der Roman diese Sorge für das Leben heraus. Aber anders als bei Dolores richtet sich seine Fürsorge nicht spezifisch an den Geliebten, sondern sie hat den Charakter eines menschlichen Reflexes. Er hilft der Frau, die ohnmächtig vor seinen Füßen liegt, ohne zu wissen, dass es sich um Dolores handelt. Er umsorgt sie so, wie er sich um jede Frau gekümmert hätte. Auf der Oberfläche erfüllt die gegenseitige Beichte noch die Anforderung nach einer Reziprozität der Komplettberücksichtigung. Doch Dolores sitzt zwar noch in ihrer aktiven Rolle als Pflegerin an seinem Bett und entscheidet sich noch eigenständig dazu, »ihm ihre Schuld ganz zu bekennen; sie glaubte ihn jetzt stark genug, diesen Schmerz zu ertragen.« (444) Aber sie kommt während ihres Geständnisses selbst nicht mehr zu Wort. Karl nimmt seiner Frau das Wort aus dem Mund und rügt sie gleich erst einmal schulmeisterlich: »Hör mich jetzt an, bemühe dich, mich zu hören. Auch ich habe dir zu beichten, was du gesündigt, weiß ich, was ich getan, sollst du hören.« (444) In dieser Einschätzung aber täuscht er sich, er kennt eben nicht Dolores’ Version des Ehebruchs, sondern nur seine eigene. Direkt im Anschluss schafft Karl erste Fakten: Er beschließt, das (vermeintlich) uneheliche Kind, das Dolores in sich trägt, in Klelias Obhut zu geben (445). So sagt Karl zu Dolores: »sieh du bekommst ein Kind, das uns zum Fluch geworden wäre, laß es ihr Segen sein; [...] laß dieses Kind, das noch unter deinem Herzen sich regt, zu seinem rechten Vater kehren, deine Schwester wird es schützen.« (446) und schlägt vor: »wir wollen zusammenleben als trennten verschiedne Zeitalter unsre Liebe, oder Verwandtschaft allzunahe des Blutes, in Freundschaft, in gegenseitigen Wohltaten und Diensten – ohne Reue so vergnügt es sein kann.« (446) Karl weist Dolores’ Liebesangebot zurück, er schlägt ihr vor, sich in das häusliche Eheleben zurückzuziehen. Mit
einmal ihre Version der Ereignisse darf sie erzählen. Ausschließlich Karl redet und verzeiht ihr »großmütig« ihre Schuld. Zurückgenommen ist diese Liebesmöglichkeit zudem von vornherein dadurch, dass der Erzähler sie geschickt in den Zusammenhang der christlichen caritas gerückt hat. Sein Kommentar im Vorfeld der Szene etikettiert Dolores’ Fürsorge als christliche Reue und Buße: Gewiß die reuige Buße kann viel, sie ist die wirksamste Kraft in den großen Begebenheiten wie in den kleineren des häußlichen Kreises; ihre Wiedererzeugung, bald unbewußt, hat seit dem Gedenken der Welt alle Krankheiten der Zeitalter geheilt, so verschieden sie immer sein mochte. (441)
Das Bild der umsorgenden Dolores ist damit stets schon durch den verqueren Blick des Mannes verstellt. Zumal die Ostentatio von Karls seitlicher Wunde als Teil einer Jesusfiguration zu lesen ist. Da der Roman zwar einen potentiellen Liebesursprung darstellt, ihn zugleich aber kontaminiert, bleibt sein Blick auf die Liebe ungebrochen ein melancholisch liebender, der das Leben seiner Figuren abwechselnd nüchtern distanziert und emotional betrachtet. Arnims Roman setzt seine Poetik melancholischer Liebe auf allen Ebenen fort. Von einer Zäsur kann daher keine Rede sein. Weil sich das Liebesleben der beiden Partner nicht verändert, da sie ihr Eheleben einfach fortleben, ist bereits das Feld für Dolores’ folgenden Liebestod bestellt. Hatte sich in Deutschland schon unter dem Deckmantel des »Reichtums« das unglückliche Eheleben verborgen, so bleibt das dort entfaltete Gefahrenpotential auch während des italienischen Lebens bestehen. Das Paar lebt in einer ScheinIdylle, es löst kein einziges seiner Probleme, sondern verschleppt diese nur. Weder das deutsche noch das italienische Landleben stellt zwar für sich eine Katastrophe dar. Aber durch die Lebensumstände, in denen das Paar sich einrichtet, ist bereits vorprogrammiert, dass Dolores sich schrittweise ihrem Tod nähert.704 Denn das Paar hat sich nicht genähert, es liebt nicht individueller oder gar egalitärer, ja es tauscht sich nicht einmal häufiger aus als zuvor. Mit dieser Lesart klärt sich ein grundlegendes Problem, welches der Arnimforschung stets im Weg steht: warum Dolores am Ende des Romans sterben muss. Der Tod ist nicht – wie es beispielsweise Meixner vorschlägt – die späte Rache einer numismatischen Macht. Es tritt eben keine Katastrophe ein, welche schlagartig das »Glück« in »Unglück« wendet. Weil sich in der Liebe des Paares nichts geändert hat, führt die Kontinuität des Mangels schleichend aber stetig zur Dolores’ Tod. Der aber begründet sich aus ihrer Liebesgeschichte. Im Folgenden lässt der Roman die Bedrohung schrittweise
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seinem Vorschlag richtet er das eheliche Zusammenleben nach den Regeln einer klösterlichen Gemeinschaft aus. Ein weiteres Indiz für die Kontinuität des unglücklichen Landlebens ist die folgende Koinzidenz: Drehte sich auf dem Land eine zeitlang alles um Rosalies Hochzeit, so erreichen Dolores und Karl Sizilien jetzt an keinem anderen Tag, als am Feiertag der heiligen Rosalie: »Wie ein Feenschloß von Demanten winkte Palermo entgegen, das von dem Feste der heiligen Rosalie jauchzte.« (463)
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anwachen, indem er die Stricke, in denen Dolores gefesselt ist, Stück für Stück fester zieht. 7.3
Expansion und Eskalation: Vom Liebes- zum Familienroman
Wie schon nach der Liebesinitiation nutzt der Roman, nachdem er die drohende Gefahr aufgezeigt hat, die selbst geschaffene Zwischenzeit bis zu Dolores’ Tod dafür, seine Liebesuntersuchung systematisch auf neue Zusammenhänge auszuweiten. Wohl kalkuliert mündet demnach der bisherige Liebes- und Eheroman in eine Familiengeschichte. Die ›Gräfin Dolores‹ nimmt in ihrer letzten Abteilung die Gestalt eines Familienromans an, verliert im Zuge dieser Wandlung aber keineswegs die Liebe aus den Augen. Das Familienleben basiert nämlich – so das romantische Konzept – auf der individualisierten Liebe des Elternpaares. Habermas beschreibt dieses »Ideal«, an dem sich auch Dolores’ und Karls Familienleben messen lassen muss, pointiert, wobei er sich zugleich schon von der Idealisierung distanziert, indem er deren Scheinhaftigkeit betont: Private Autonomie [...] verleiht denn auch der Familie das Bewußtsein ihrer selbst. Sie scheint freiwillig und von freien Einzelnen begründet und ohne Zwang aufrechterhalten zu werden; sie scheint auf der dauerhaften Liebesgemeinschaft der beiden Gatten zu beruhen; sie scheint jene zweckfreie Entfaltung aller Fähigkeiten zu gewähren, die die gebildete Persönlichkeit auszeichnet. Die drei Momente der Freiwilligkeit, der Liebesgemeinschaft und der Bildung schließen sich zu einem Begriff der Humanität zusammen, die der Menschheit als solcher innewohnen soll und wahrhaft ihre absolute Stellung erst ausmacht: die im Worte des rein oder bloß Menschlichen noch anklingende Emanzipation eines nach eigenen Gesetzen sich vollziehenden Inneren von äußerem Zweck jeder Art.705
Arnims Roman nimmt Habermas’ kritischen Standpunkt vorweg. Hat er zunächst die vermeintliche Freiwilligkeit, die Liebesgemeinschaft und die Bildung anhand von Dolores’ und Karls Verhältnis skeptisch hinterfragt, weitet er seine Kritik im Folgenden auf das komplexe Beziehungsgefüge zwischen den Eltern, den Eltern und ihren Kindern sowie den Kindern untereinander aus. In den Fokus der Untersuchung rückt jetzt vor allem die Bildung der Kinder. Dieser Bildungsweg ist zum einen interessant, weil sich die Schwierigkeiten romantischer Liebe offenbar auf die Erziehung der Kinder auswirken. Da Liebe zwischen den Eltern das Fundament des Familienlebens bilden soll, geraten mit dieser auch alle anderen Beziehungen ins Wanken. Die Familie büßt so ihren sicher geglaubten Grund ein. Zum anderen aber ist das Familienleben deshalb von Relevanz, weil sich der Bildungsauftrag der Eltern um 1800 nicht mehr darauf beschränkt, dem Nachwuchs die eigene gesellschaftliche Position per Geburt zu vererben und sie sonst weithin von fremden Personen aufziehen zu lassen. Vielmehr beruft sich das Verhältnis zwischen Eltern und
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Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 64f.
Kindern erstmals auch auf die individualisierte Liebe. Diese wiederum verpflichtet die Eltern zu einer individualisierten Erziehung und Bildung der Kinder: Seit dem 18. Jahrhundert ist die Familie unwiderstehlich besessen von dem Wunsch und von dem Versuch, die intimen Beziehungen der Familienglieder nach den neuen Codes der Liebe und des innigen Gefühls zu regeln, die Kinder durch Verständnis und emotionale Zuwendung für jene Anforderungen des Lebens zu stärken, die man gerade aus den Beziehungen des Familienlebens zu eliminieren sucht.706
Die Familie erweitert das Intimsystem des Paares auf eine (unter Umständen vielgliedrige) Gemeinschaft und fordert, dass sich alle Familienmitglieder gegenseitig durch eine individualisierte Liebe verbunden fühlen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Kindern untereinander beruht auf einem jeweils eigenen Liebescode. Dieser Code aber gestaltet sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mit der berühmt gewordenen »Entdeckung der Kindheit« aus. Offensichtlich beteiligt sich Arnims Liebesroman mit seiner letzten Abteilung an dieser Ausgestaltung und steckt die Grenzen dieses Modells ab. Dazu nämlich agieren Dolores und Karl als Eltern nach dem beschriebenen, individualisierten Familienmuster und gründen eine romantische Musterfamilie.707 Der Leser kann dem Elternpaar Karl während ihres italienischen Landlebens zusehen, wie sie im Rahmen ihres Familienlebens »Liebe« kommunizieren. Findet die Kommunikation zwischen den beiden Liebespartnern kaum noch Erwähnung, verschiebt sich der Fokus der Liebesanalyse auf das Beziehungssystem »Familie«. Im Zuge dieser narrativen Untersuchung greifen nun die einzelnen Themenkomplexe ineinander, die der Text während des Ehebruchs und der vermeintlichen Versöhnung eingespielt hat. So bleibt die Frage nach dem Liebesleben innerhalb der Familie an die nach einer christlich fundierten Werteordnung gekoppelt. Die Arnimforschung hat früh schon herausgearbeitet, dass Arnim in der Kleinfamilie die Keimzelle gesellschaftlichen Zusammenlebens erkenne, und sie hat diesen gesellschaftlichen Aspekt mit Arnims (angeblich konservativen) Liebeskonzept verbunden. So proklamiert beispielsweise Dagmar Ottmann: Durch die Wiederherstellung einer intakten innerfamiliären Struktur, deren oberster christlich orientierter Wert- und Leitbegriff die Liebe als heilende und alles verbindende Kraft darstellt, sollen gleichzeitig der Nationalstaat und seine überzogenen Souveränitätsvorstellungen [...] gesunden.708
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Manfred Schneider, Die kranke schöne Seele der Revolution. Heine, Börne, das »Junge Deutschland«, Marx und Engels, Frankfurt am Main 1980, S. 11. Zur Familie als Intimsystem vgl. auch Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 76ff. Vgl. den gleichnamigen Sammelband: Claudia Brinker-von der Heyde u. Helmut Scheuer (Hg.), Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt am Main 2004. Dagmar Ottmann, Der tolle Invalide S. 98. Zu Arnims politischer Meinung vgl. Jürgen Knaack, Achim von Arnim – Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in
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So richtig Ottmanns These ist, dass sich von der Familie eine Brücke bis zum Nationalstaat schlagen lässt, als falsch erweist sich ihre Hoffnung, dass ein Roman wie die ›Gräfin Dolores‹ einen christlich orientierten Leitbegriff der Liebe etabliere, der nicht nur das Familieleben stabilisiere, sondern zudem auch noch die Risse im sozialen Gefüge kitte. Das Gegenteil ist der Fall: Den Leitbegriff einer christlichen orientierten Liebe hat Arnims Roman ja gerade erst dekonstruiert, bevor er sich Dolores’ und Karls italienischem Familienleben zugewandt hat. Man muss daher davon ausgehen, dass der Roman hinter seine Erkenntnis, welche er über den Ablauf von Liebesbeziehungen erlangt hat, nicht mehr zurückfällt. Das Beziehungsgefüge zwischen den einzelnen Familienmitgliedern ist demnach demselben Doppelspiel ausgesetzt wie alle anderen intimen Kommunikationen auch. Es verheißt Glück, es wird letztlich als alternativlos dargestellt, und doch ist es eben auch hochgradig gefährdet, weil es eben auf der romantischen Liebe beruht. Die ›Gräfin Dolores‹ wirft einen äußerst skeptischen Blick auf die Liebesbeziehungen innerhalb der Familie.709 Ihr Interesse gilt dem Gefahrenpotential, das in diesem Konzept einer Liebesfamilie ruht. Der Roman bleibt eben nicht nur seinem Untersuchungsobjekt, der individualisierten Liebe treu, sondern auch seiner bislang gepflegten Lust, Gefahren aufzuzeigen und sie eskalieren zu lassen. Kalkuliert erschüttert er das Fundament des Familienlebens, zeigt die Bedrohung auf, die stets über der Familie schwebt, solange sie auf einem »falschen« Liebesideal beruht und dessen Paradoxien nicht in ihre Kommunikation einbezieht. Geradezu genüsslich spitzt der Roman im Folgenden die Lage seiner Figuren schrittweise zu. Während des Familienlebens in Italien nimmt die Komplexität der Liebesverhältnisse zu und weiten sich die potentiellen Schwierigkeiten aus. Und genau dieses Gefahrenpotential setzt der Roman narrativ um, anstatt eine Apotheose des Familienlebens zu feiern. Wie zielsicher diese Archäologie der Gefahr verläuft, erkennt man daran, dass Arnims Roman seine Analyse exemplarisch auf einen einzigen Fall beschränkt. Wie bei allen Themenkomplexen zuvor konzentriert sich auch die narrative Analyse familiärer Liebe auf klar umrissene Aspekte sowie eine überschaubare Anzahl von Figuren. Während Dolores und Karl insgesamt 12 Kinder bekommen und damit eine unübersichtliche Großfamilie gründen, beschränkt die Erzählung sich auf eine handvoll Figuren und Episoden des Familienlebens. Der Roman entwirft zwar das Bild einer Großfamilie, konzentriert sich aber minimalistisch auf die Beziehungsmuster einer bürgerlichen Kleinfamilie. Die Dreiecksbeziehung zwischen Vater,
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ihrer Entwicklung. Mit ungedruckten Texten und einem Verzeichnis sämtlicher Briefe, Darmstadt 1976. Auch weil der Roman diese akribischen Analysen immer wieder unterbricht, indem er von der eigentlichen Familiengeschichte abschweift, er neue Familiengeschichten (Frank, seine Frau ihr Kind, oder das Schauspiel der Ring) entwirft und auf diese Weise ein familiäres Konfigurationsmuster erstellt, in dem die einzelnen Geschichten in Beziehung miteinander treten. Das Hin- und Her zwischen Präzision und Abschweifung macht klar, dass der Text einen melancholischen Blick auf die Liebe wirft.
Mutter und Kind entwickelt sich anhand von Karl, Dolores und ihrem zweiten Sohn Johannes. Dass mit dieser Auswahl auch eine inhaltliche Gewichtung einhergeht, zeigt sich besonders deutlich an den Aspekten, welche der Roman unter den Tisch fallen lässt. So räumt die Erzählung beispielsweise der patriarchalischen Genealogie, also der Beziehung zwischen Karl und seinem ersten Sohn »Karl«, überhaupt keinen Platz ein. Und dies, obwohl in diesem Vater-Sohn-Verhältnis über die Erb- und Regierungsfolge doch die entscheidenden Weichen für die familiäre und gesellschaftliche Zukunft gestellt werden. Wenn der kleine Karl einmal aus der Masse der Geschwister herausgehoben wird, dann immer nur gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Johannes (487, 490). Auch von den anderen Geschwistern erfährt man nichts. Erwähnt wird nur einmal nebenbei, dass Magdalena (!) um ein Haar das Treppenhaus des Schlosses heruntergestürzt wäre, wenn Dolores sie nicht gerettet hätte (563). Einzig Hyolda widmet der Roman eine längere Episode, allerdings nur, um dort ihre innige Beziehung zu Johannes zu schildern (508, 581ff.). Von Heiratsplänen der Schwestern, von Streitigkeiten über das Erbe oder anderen prototypischen Familiengeschichten findet sich in Dolores’ und Karls Familienleben keine Spur. Die Erzählung beschränkt sich auf Johannes’ Beziehung mit seinen Eltern sowie auf sein Verhältnis zu seiner Lieblingsschwester. Inzwischen erscheint es wohl als geradezu selbstverständlich, dass auch die Familiengeschichte wie ein changent taft zu lesen ist. Gemessen an den Wertmaßstäben der Romantik entwickelt der Roman anhand seiner Johannesfigur zunächst mustergültige Familienverhältnisse.710 Typisch für den Beginn des 19. Jahrhunderts ist, dass Johannes während seiner ersten Jahre unter dem Einfluss seiner Mutter steht. Der Roman inszeniert eine matriarchalische Kernfamilie, bei der sich Dolores um das Wohl des Kindes sorgt.711 Ihre Motivation gründet in ihrer als naturgegeben gedachten Liebe zu ihrem Kind und in dessen ebenso als angeboren betrachteten Zuneigung zur Mutter.712 Dieses »natürliche« Liebesideal, das Mutter und Kind in erster Linie dyadisch aneinander bindet, schließt dasselbe Totalitätsideal ein, wie es der romantischen Liebe eingeschrieben ist. Nur die Mutter – so die Annahme – versteht ihr Kind vollständig, nur das leibliche Kind gehört ganz
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Zur Familie im 19. Jahrhundert gibt es eine elaborierte Forschung. Vgl. Heinrich Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982. Andrea Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20 Jahrhundert, München 1999. Mustergültig entfaltet diese Verhältnisse Friedrich Schleiermachers 1806 erschienene Erzählung Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Zur mutterzentrierten Familie des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. Friedrich Kittler, Dichter – Mutter – Kind. Ernst Badinter, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1981. Zur stereotypen Geschlechterrolle der Mutter, die mit der Natur verbunden wird, vgl. Thomas Anz, Das Gesetz des Vaters, S. 188.
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zur Mutter, da es doch Teil ihres Körpers war. In Arnims Roman formuliert Klelia dieses Normideal: denn das ist von der Natur eingeboren, nur eigne Kinder verstehen wir ganz, was ihnen fehlt, was sie wollen, und diese Verständnis kann kein guter Wille, keine reichliche Beziehung in der Dienerschaft erzeugen. Darum ist jeder Mensch zu beklagen, den seine Mutter nicht groß gezogen, denn ihm fehlte sehr viel Liebe. (465)
Indem Klelia die exklusive Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind als »natürlich« erklärt, legt sie den Maßstab fest, an dem sich Dolores mit ihren Kindern messen lassen muss. Will Dolores nicht gegen ihre (vermeintliche) Natur ankämpfen, ist sie gezwungen,713 sich so in ihren Sohn hineinzuversetzen, dass sie ihn vollständig durchschaut. Gelingt ihr dies nicht, haben Mutter und Sohn gegenüber ihrer Natur versagt. Die Unerfüllbarkeit dieser Forderung liegt auf der Hand. Da das Ideal das Verständnisbegehren der Mutter gegenüber ihrem Kind bestimmt, macht der Roman an dieser Stelle das erste Gefahrenpotential für die Familienliebe aus. Umgekehrt übrigens, sind die Kinder nicht dazu verpflichtet, ihre Eltern zu verstehen, die Beziehung ist anders als bei der individualisierten Liebe nicht reziprok. Karl ist zwar nach dem romantischen Familienideal in der ersten Phase der Kindheit nicht derart intensiv gefordert wie Dolores, er ist als Vater auch von der Verpflichtung befreit, seine Kinder vollständig zu verstehen, aber er muss sie dennoch lieben. Diese väterliche Liebe besteht anders als bei der Mutter nie auf der endgültigen Gewissheit leiblicher Abstammung, sondern nur auf einem Code von Zeichen. Sie basiert auf äußerlicher Ähnlichkeit, Vertrauen in die Treue der Mutter sowie (vielleicht noch) auf der Rechnung, ob der Zeitraum zwischen Zeugung und Geburt zueinander passen. Die Liebe des Vaters zum Kind ist von einer grundlegenden Unsicherheit bestimmt. Sie birgt damit stets ein Gefahrenpotential in der Familie. Dass Karl damit in Johannes Fall grundsätzlich Schwierigkeiten hat, macht der Roman deutlich, indem er die Unsicherheit seiner Vaterschaft noch einmal ebenso nachdrücklich wie lustvoll exponiert. Zunächst garantiert nur die Dauer von Dolores’ Schwangerschaft für die Blutsverwandtschaft zwischen Karl und Johannes, die ihrerseits nur eine Metapher für die genealogische Abstammung ist. Der Erzähler steigert den Eindruck der Unsicherheit, die diesem Verweisungsverhältnis zwischen Zeichen und Referenz eingeschrieben ist, noch einmal. Er hebt ausgerechnet einen Gedanken von Dolores hervor, der ihrer Schwangerschaft einen enigmatischen Charakter verleiht, welcher dieser rein rechnerisch überhaupt nicht zukommt:
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Das Zwanghafte der Eltern-Kind-Beziehung hebt Manfred Schneider hervor: »Unter dem ethischen und emotionalen Ideal der Liebe verbirgt sich ein doppelt konflikthafter Lebensmodus: Der Zwang zur Verständigung und die stete Arbeit an der Stabilisierung der Grenzen zu den Außenwelten, die getilgt, verleugnet oder verachtet werden.« Manfred Schneider, Die kranke schöne Seele, S. 15.
Wunderbar schien es inzwischen der Gräfin, als sie in der heiligen Zeit von neun Monden, die nach den Berechnungen der Mütter die glückliche Lebensverborgenheit des Menschen begrenzen, als sie über diese neun Monate hinaus, seit jenem unseligen Abende, die Last ihrer Sünden tragen mußte. (469)
Die Rhetorik des »Wunderbaren« belegt, dass die ›Gräfin Dolores‹ an der Unsicherheit des Verwandtschaftsverhältnisses interessiert ist, nicht an dessen Eindeutigkeit. Der Roman nutzt das poetische Potential dieser Unschärfe zu seiner eigenen Erzähl- und Wortakrobatik. Er profiliert sich auf Kosten seines männlichen Protagonisten. Und so geht es gleich weiter, wenn Karls Vaterschaft ausgerechnet durch Johannes’ Muttermal garantiert wird, das dieser in Anspielung an das Königsschießen ausgerechnet auf dem Herzen trägt (469). Denn aus der Perspektive eines (melancholisch liebenden) Erzählers ist Johannes’ und Karls Geschichte genau deshalb interessanter als andere Familienbeziehungen, weil an ihr die Unsicherheit drastisch deutlich wird, die jeder Vater-Sohn-Beziehung latent eingeschrieben ist. Das Erzählprojekt bezieht seinen Reiz, gerade aus der besonderen Herausforderung für Karl, an das Wunder der eigenen Vaterschaft glauben und trotz der grundlegenden Krisenhaftigkeit eine individuelle Liebeskommunikation zu seinem Sohn entwickeln zu müssen. Tatsächlich schöpft der Roman im Folgenden das ostentativ hervorgehobene Gefahrenpotential in vollen Zügen aus. Sowohl Karl als auch Dolores scheitern an den Ansprüchen der elterlichen Liebe. Ihre Beziehung zu Johannes dringt überhaupt nicht zu dem Punkt vor, an dem die individuellen Eigenschaften ihres Sohnes eine Rolle spielen würden. Denn das Verhältnis der beiden Eltern zu ihrem Sohn wird von der Erinnerung an die Vergangenheit überschattet. Zu intensiv konfrontiert Johannes sie mit den Verwirrungen um Dolores’ Ehebruch, als dass sie sich liebevoll ihrem Sohn widmen könnten. Der Roman führt dies exemplarisch an einer kurzen Episode zwischen Johannes und Dolores vor: Das fremdartigste Kind unter allen war der kleine Johannes, der schon vor seiner Geburt so gewaltsame Verwirrung in seiner Welt gestiftet hatte; er war durch jenes Ereignis beiden Eltern, was sie sich nicht eingestehen wollten, eine unangenehme Erinnerung geworden; sie ließen es ihm nie fühlen, aber Kinder fühlen die innere Gesinnung der Menschen gegen sie sehr leicht, sobald sie nicht absichtlich hintergangen werden. Wenn die Gräfi n von allen andern Kindern sich umklettern ließ, und ihnen die Freude machte zu sagen, jetzt tue es ihr hier oder dort weh, und die Kinder eifrig streichelten, gleich endete sie das Spiel, wenn der kleine Johannes es den andern nachmachen wollte. (487f.)
Dolores und Karl spielen Johannes gegenüber nur die Rolle der liebenden Eltern, sie distanzieren sich von ihm, und er bleibt ihnen fremd. Das Elternpaar liebt seinen Sohn nicht so, wie es ihnen das Liebesideal vorgibt. Arnims Roman arbeitet mit dieser Konstellation heraus, dass die Liebe zwischen Eltern und Kind nicht naturgege381
ben ist. Vater und Mutter lieben ihren Nachwuchs nicht mit einer »Affenliebe«,714 sondern nach den Vorgaben eines fein austarierten kulturellen Codes, der sich im Zuge fortlaufender Kommunikation erst konstituieren muss und nach dem sich dann erst die Gefühle der Eltern zu ihren Kindern sowie die kindliche Zuneigung zu Mutter und Vater entwickeln. In Johannes’ Fall schließt die Liebeskommunikation sowohl das Wissen von als auch das Schweigen über Dolores’ Ehebruch und Karls Selbstmord mit ein. Sie bleibt von diesem Geheimnis und damit von Distanz anstatt von Intimität geprägt. Deshalb reagiert, so führt die exemplarische Szene zwischen Mutter und Kind vor, Dolores auf jeden körperlichen Kontakt mit ihrem Sohn idiosynkratisch, weil in jeder (zärtlichen) Berührung ihres Sohnes, die ihres Verführers mitschwingt. Die Mutter-Kind-Dyade ist kein natürlicher Zustand, eine solche kommt in Dolores’ und Johannes Fall gar nicht erst zustande. Dass Karls analoge Schwierigkeiten im Verhältnis zu seinen Sohn nur angedeutet werden, lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass die Erzählung weiterhin vom einseitigen männlichen Blick des Erzählers gesteuert wird. Zum anderen verweist diese Lücke aber auch darauf, dass Karl die Nähe zu seinem Sohn offenbar meidet und sich dabei sogar auf die gesellschaftliche Konvention berufen kann, die Kleinkindern ihren Müttern zuordnet und den Vater aus dieser Beziehung zunächst außen vor hält. Jedoch auch über die erste Phase der Kindheit hinaus, behält der Roman sein feines Gespür für die Störung in der Liebeskommunikation bei. So misslingt den Eltern auch ihre Aufgabe, ihren Sohn aus der Mutter-Kind-Beziehung zu lösen und für das Leben außerhalb der Familie vorzubereiten. Diese Rolle kommt in der Romantik konventionell dem Vater zu.715 Wie schon bei der Darstellung von Dolores’ Mutterschaft hält sich Arnims Roman auch in diesem Punkt zunächst strikt an die musterhafte Rollenverteilung. In Johannes’ Fall entscheiden sich Klelia und Karl – offenbar hat Dolores’ Einschätzung in dieser Frage kein Gewicht (s. o.) – die Grenze zur Außenwelt kontrolliert zu öffnen. Im Alter von sieben Jahren erhält Johannes gemeinsam mit seinem älteren Bruder einen Privatlehrer. Die beiden Söhne »bedurften nach dem Urteile Kleliens und des Grafen einer eignen Aufsicht, eines männlichen ernsten Unterrichts.« (488) Nach romantischer Auffassung braucht es einen männlichen Gegenpart, um das Kind von der »naturbedingten« Mutterliebe zu lösen und ihm den Weg zu Kultur zu eröffnen.716 Arnims Roman führt die Nachteile vor, die
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Nach Albrecht Koschorke verändert sich im Zuge der Aufklärung die Kinderliebe, die aufhört »ein bloß tierischer Instinkt zu sein – in Gestalt jener »Affenliebe«, die die Pädagogen den Eltern austreiben wollen – und sich, zumindest der Idee nach, in eine vernünftige Idee wandelt. Albrecht Koschorke, Die heilige Familie, S. 164. Der Vater steht an der Schnittstelle zwischen Kultur und Natur. Thomas Anz, Das Gesetz des Vaters, S. 197. Damit formuliert Klelia das ödipale Denkmuster, das die Geschlechter- und Liebestheorie noch über Freud hinaus, bis zu den poststrukturalistischen Theorien Lacans bestimmt. Um die Mutter-Kind-Dyade erfolgreich zu zerstören und eine Entwicklung des Kindes zu ermöglichen, habe der Mann in das Leben der Kinder zu treten. Scharf-
dieses stereotype Denken vor allem in Johannes’ Fall mit sich bringt. Karl kann dieser väterlichen Rolle nämlich nicht gerecht werden. Der Graf, so heißt es, »war nach allen Seiten beschäftigt« (488) und findet daher überhaupt keine Zeit, um sich in seinem Alltag auch noch der Bildung seiner Söhne zu widmen. Das romantische Familienmuster schiebt dem Vater demnach eine Funktion zu, welche er im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung nicht erfüllen kann. Letztere gibt den Vater nicht für seine Söhne frei. Daher sucht Karl nach einem Stellvertreter; ein Dritter dringt in das Familienleben ein. Der alte Bediente, der diese Aufgabe zunächst übernehmen soll, stirbt einige Jahre nach der Ankunft in Italien, und so stellt die Familie einen Hofmeister ein (vgl. 488). Die Entscheidung fällt auf den Ritter Brülar, einen Mann von Welt, welcher der Familie von der alten Obristin empfohlen wird (488). Brülar versteht es, nicht nur eine geistige, sondern zugleich auch eine emotionale Beziehung zu Johannes aufzubauen. Er positioniert sich demnach nicht eindeutig auf der Seite der Kultur, er ist eine Zwitterfigur, die zwischen Kultur und Natur changiert. Weil er aber diese beiden vermeintlichen Pole in seiner Person vereinigt, entfaltet er eine besondere Wirkung auf seine Schützlinge. Beide Kinder »überließen sich ihm ganz; insbesondere schwebte aber Johannes an seinem Blicke, auch er [Brülar, C. M.] zeichnete den Kleinen durch Härte und Güte aus.« (490) Brülar ersetzt, indem er sowohl den emotionalen Bedürfnissen als auch dem, um 1800 als natürlich gegeben angesehenen, »Bildungstrieb« nachkommt, vollständig das Intimsystem »Familie« durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis. In Johannes’ Fall kompensiert er auf diese Weise nicht nur die fehlende Zuneigung seiner Eltern. Vielmehr stellt die ›Gräfin Dolores‹ drastisch aus, dass der Lehrer zugleich auch den Eltern erlaubt, ihr Unbehagen und ihre Idiosynkrasie hinter einer Maske angeblicher Normalität und Fürsorge zu verbergen: Es wurde ihm [Brülar, C. M.] zuweilen ein leiser Vorwurf von den Eltern gemacht, daß sich dieses Kind gar nicht mehr um sie bekümmere, aber eigentlich war es beiden lieb, denn sie waren durch diese von ihm ausgehende Entfremdung des Scheins überhoben, als liebten sie ihn den anderen Kindern gleich. (490)
Die Eltern fördern aus Sorge um ihr eigenes Wohlbefinden, dass Johannes sich von ihnen entfernt. Und selbst Klelia lobt »die ausgezeichneten Forschritte des Kindes, das mit liebevoller Anstrengung aller Kräfte beinahe allen Kindern seines Alters und manchen ältern, auch seinem Bruder überlegen war.« (Ebd.) Indem Brülar die emotionale und die intellektuelle Bildung seines Schülers vorantreibt, erfüllt er das romantische Ideal von Vaterschaft. Er erhält damit (wie der Lehrer heute auch noch) eine Rolle, deren hoher Anspruch sowohl für ihn als auch für seinen Schüler und nicht zuletzt die Eltern ein Reihe hoher Risiken birgt. Auch dieses Gefahrenpotential spielt der Roman aus: Brülar erfüllt das Lehrer- und Vaterschaftsideal
sinnige Kritik an diesem Denkmuster übt vor allem Judith Butler. Vgl. Dies., Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt am Main 2001, S. 121.
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nämlich nur, um es zugleich für seine egoistischen Pläne zu nutzen.717 Der Ritter, von dem der Erzähler nur »aus Gerüchten« (489) sprechen kann, und der letztlich eine opake Person bleibt, gilt zwar als ein ausgezeichneter Mensch (490), aber er ist – wie der Markese vor ihm – ein Verführer. Wenn er wohl auch kein (unmittelbar) sexuelles Interesse hegt, so will er seinen gelehrigen Schüler doch geistig in Versuchung führen (vgl. 489). Brülar ist ein Idealist, der seine eigenen Vorstellungen von der Welt verfolgt und umsetzen will. Realisieren sollen diese Ideen späterhin seine Schüler, die er zu Zwecken der Erziehung in ein Kloster entführen lässt (vgl. 489). Das Verhältnis Brülar – Johannes verläuft nach dem Schema, nachdem sich zuvor auch schon Dolores’ Verhältnis zu dem Markese gerichtet hat.718 Nur meint es der Ritter mit seinen Idealen anders als der Markese ernst. Und er tritt nicht etwa mit einem Erwachsenen in einen Wettstreit, sondern verführt in dieser homoerotischen Variante des Beziehungsmusters ein ihm hoffnungslos unterlegenes Kind. In Konkurrenz agiert er nur zu Johannes’ Vater. Brülar gelangt nur in die Position des Verführers, weil Karl ihm zuvor die Stellung des Vaters überlässt. Johannes sagt sich zwar kurz vor der geplanten Entführung von seinem Lehrer los, aber dennoch bleiben die grundlegenden Probleme virulent, welche die Liebeskommunikation mit seinen Eltern bestimmen. Dies zeigt sich bereits darin, dass sein Entschluss im Rahmen eines weiteren Masken-, Verkleidungs- und Substitutionsspiels fällt, das in schwindelerregendem Tempo Geschlechter-, Identitätsund Liebesmuster konstituiert, um sie umgehend wieder zu verwerfen. Johannes erkennt sich und sein Schüler-Lehrer-Verhältnis in dem Drama ›Die Päpstin Johanna‹ wieder.719 Ausgerechnet in einem Kloster folgt er der Aufführung des Stückes, in dessen Zuge der Lehrer Spiegelglanz unwissentlich zum Werkzeug des Teufels wird und das Mädchen Johanna zum Jungen und zum Geistlichen erzieht, bevor es schließlich tatsächlich zum Papst ernannt wird.720 Johannes zeigt sich vom Teufelswerk des gespielten Erziehers so beeindruckt, für ihn spiegelt sich in »Spiegelglanz« 717
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Die soziologische Forschung über die Rolle der Väter erlebte in den vergangenen Jahren eine Hochkonjunktur. Vgl. dazu unter anderem: Neue Väter – Alles beim Alten? Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung (1) 2007. Damit übernimmt Arnims Roman die Ausgangssituation beispielsweise von Rousseaus ›Julie oder die Neue Héloise‹. Zur Päpstin Johanna-Einlage vgl. Ulfert Ricklefs, Magie und Grenze. Arnims »Päpstin Johanna«-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte, Göttingen 1990. Erika Voerster, Märchen und Novellen im klassisch-romantischen Roman, Bonn 1964, S. 209f. Nicola Kaminski erkennt in Johannes’ Lektüre des Dramas den Umschlagspunkt, an dem erstmals Johannes heiliges Antlitz zum Vorschein kommt. Die Lektüre bringt ihrer Meinung nach den sündigen Text zum changieren und lässt ihn in heiligen Farben leuchten. Dabei übersieht sie, dass die Johannesfigur von der Namensgebung an immer schon beide Seiten des changent taft verkörpert und damit immer auch schon beide Facetten darstellt. Vgl. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 289. Einen solchen Umschlagspunkt, an dem das changent taft urplötzlich von einer Seite zur anderen gestrichen wird, gibt es in Arnims Roman nicht.
derart anschaulich sein Lehrer Brülar wider, dass er den Plan, gemeinsamen mit seinem Lehrer zu fliehen, umgehend verwirft. Gekonnt führt Arnims Roman sein Drama des (un-)geliebten Kindes im Folgenden noch einen Schritt weiter. Der Verlust der Identifikationsfigur »Brülar« veranschaulicht, dass aus Johannes’ Sicht jetzt (erneut) Karl in seiner väterlichen Rolle gefragt wäre. Doch anstatt sich seines Sohnes anzunehmen, führt Karl – ein performativer Vorwurf an seine Frau – seinen Sohn zu dessen Mutter und berichtet ihr, »wie sich der arme Kleine von ihnen für ungeliebt gehalten, und empfahl ihn ihrer Liebe, indem er sein kindisches Unternehmen erzählte und verzieh.« (505) Karl lässt sich weder selbst auf eine individualisierte Beziehung zu seinem Sohn ein noch wird er seiner Vaterrolle als Vermittler zur »Kultur« gerecht. Er geht weiter seinen Geschäften nach, ohne seinen Sohn wahr und ernst zu nehmen und ohne seiner Funktion als Erzieher nachzukommen. Welch fatale Folgen das für die Bildung des Kindes hat, führt der Roman ironisch vor, wenn er Johannes’ Verhalten beschreibt, kurz nachdem dieser seinen Erzieher verloren hat: »einsam baute er sich eine Art Festung, in die er niemand einließ, eine Schwester ausgenommen; und von wo aus er allen Vergnügen der Geschwister zusah, zu denen er, wenn es ihm einfiel, mit gewaltigem Eifer eintrat.« (509) Auch Karl nimmt dieses Verhalten wahr, aber sein väterlicher Blick erscheint als vollkommen verquer. Denn was schließt Karl aus diesem Verhalten seines Sohnes? »Der Graf meinte ihn zum Soldaten bestimmt, und ließ ihm diese frühzeitige Beschäftigung mit Befestigungen und militarischen Schriftstellern.« (508) So vieldeutig diese Szene sein mag, dass Johannes’ Ritterspiele den Verlust des Ritters Brülar kompensieren sollen und der Festungsbau sowie der gewaltige Eifer beim Spielen die eigene Unsicherheit kompensiert und dem in sich zerrissenen Subjekt Stabilität verleihen soll, zieht Karl nicht einmal in Betracht. Eine Krise darf es aus Karls Sicht in der Kindheit überhaupt nicht geben. Das Spiel spiegelt für den Vater nur die berufliche Veranlagung seines Sohnes wider und beinhaltet damit ein Zukunftsversprechen. Angesichts dieser Kurzsichtigkeit für die Bedürfnisse, die Psyche und die Gefühle seines Sohnes, wählt Karl letztlich vielleicht sogar die bessere Option, wenn er sich seinem Sohn nicht selbst annimmt, sondern ihn zu seiner Mutter und damit in den »Schoß der Natur« zurückführt. Johannes der Obhut von Dolores zu überlassen, wäre gar keine so verkehrte Idee, wenn er dieser nur die nötigen Freiräume eingeräumt hätte, damit sie die Erziehung ihres Sohnes auch leisten könnte. Weil Karl aber seine Frau radikal auf ihre Mutterrolle reduziert, sie nur mit der frühkindlichen Erziehung betraut und in das häusliche Gefängnis einsperrt, kann sie ihrem Sohn wenig anderes als eine emotionale Beziehung bieten. Wobei Dolores’ Gefühle gegenüber Johannes’ ja verständlicherweise ambivalent sind. Die Schwächen der Elternbeziehung übertragen sich auf diese Weise auf die Kommunikation mit dem Kind. Diese Konstellation birgt eine so augenscheinliche Gefahr, dass sich der Roman nicht entgehen lassen kann, sie weiter auszugestalten: Dolores verbietet sich jede Ambivalenz und entwickelt nun ein Liebesverhältnis zu ihrem verlorenen Sohn. Während sie ihren Mann idealisiert, ihn damit aber sowohl unantastbar als auch unberührbar macht, liebt Dolo385
res ihren Sohn nach den Vorgaben individualisierter Liebe. Die Liebe zu Johannes erleichtert Dolores zwar für eine gewisse Zeit ihr Schicksal, sie gewährt ihr aber keinen Ausweg aus ihrer Situation und letztlich steigert sie das Gefahrenpotential, das in ihren Beziehungen ruht. Denn die Mutter geht in ihrer Liebesbeziehung zu ihrem Sohn auf. Er wird zu ihrem Ansprechpartner in allen persönlichen Belangen. Johannes aber macht unfreiwillig seinem Namenspatron, dem Markese, alle Ehre und entpuppt sich als Verführer seiner Mutter. Über kurz oder lang ist dieses Verhältnis nur eines – bedrohlich. Für Johannes hat diese Konstellation zuerst tiefgreifende Folgen. Da ihm der Vater nicht als Vorbild dienen kann (das kann er nur für den Erstgeborenen, den Erbfolger), da Karl sich außerdem von ihm abwendet,721 da Johannes nach dem Tod seines Erziehers aber offensichtlich auch keinen neuen Hauslehrer erhält, wird seine Bildung eingefroren. Zugleich erhält er jetzt von seiner Mutter emotionale Zuwendung im Übermaß. Die Bildung zur Kultur bricht weg, die Mutterliebe nimmt zu. Die Beziehung zu seiner Mutter bestimmt jetzt sein Leben. Das gilt zumal, weil Dolores’ individualisierte Liebe – wie in der Liebesbeziehung zwischen den Eltern – auch an ihren Sohn den Anspruch auf Reziprozität erhebt. Sie verpflichtet Johannes, sie wieder zu lieben und sie vollständig zu verstehen. Tatsächlich wird er zum engsten Vertrauten seiner Mutter. Allerdings ist der Sohn alles andere als ein egalitärer Partner. Als Kind ist ihm erstens verboten, seine Mutter zu begehren. Zweitens ist er der Anforderung nicht gewachsen, auf Augenhöhe mit ihr zu kommunizieren. In Folge dieser Diskrepanz entwickelt Johannes nicht nur eine extreme Zuneigung zu seiner Mutter, er richtet sein Leben nach Dolores aus: Keinem war er so ganz und unveränderlich ergeben wie der Mutter, er geizte nach ihren Blicken, lauerte auf ihre Wünsche, und verstand ihre Gedanken; tagelang ließ er kleine Geschenke der Mutter nicht aus den Händen, und bedeckte sie mit unzähligen Küssen. (508)
Da er der Individualität und Egalität zu seiner Mutter als Kind nicht gewachsen ist und er sein Begehren nicht stillen darf, da er seine Mutter in diesem Sinne vergeblich liebt, schlägt seine Liebe in Idealisierung um. Johannes überhöht sie zu einer unerreichbaren Göttin, der er huldigt. Tatsächlich bekennt er »sich sträflicher Leidenschaft zu seiner Mutter schuldig, er ehrt sie über Gott.« (509) Lösen kann er sich nicht von ihr. Auf diese Weise bewegt er sich auf der Grenze zwischen Liebe und Verbot. Arnims Roman zeigt anhand seiner Mutter-Sohn-Beziehung, dass die Übertragung der romantischen Liebesideale in die Familie die Gefahr »ödipaler
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Nicht nur der Erzieher, sondern auch der Vater changiert in Wahrheit also zwischen Natur und Kultur: Zum einen dient er als Helfer der Kultur, der das Kind aus der ersten Symbiose mit der Mutter löst. Als dritter in der Mutter-Kind-Dyade kommt ihm die Erziehung zur Vernunft, zur Kultur zu. So ist auch Karls Rolle angelegt, der zwischen Johannes und Dolores vermittelt. Zugleich aber stellt auch der Vater die Natur dar, was sich exemplarische an dem Konkurrenzverhältnis zu seinem Sohn zeigt.
Liebesbeziehungen« mit sich bringt. Dabei arbeitet die ›Gräfin Dolores« präzise heraus, dass dieses Phänomen keineswegs natürlich begründet ist. Es ist das Resultat kultureller Codierung, dass sich in Johannes’ Fall aus einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Faktoren bedingt. Als entscheidend arbeitet der Roman die Gewalt patriarchalischer Herrschaft heraus. Auf sie beruft sich der Vater, wenn er keine Beziehung zu seinem Sohn aufbaut. Sie ist es, welche die Mutter auf die reine Emotionalität beschränkt und ihr damit die Möglichkeit nimmt, eine andere als eine emotionale Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und es kulturell zu initiieren.722 Für Johannes bleibt es gleich, ob die ödipale Beziehung seiner Liebe natürlich oder kulturell bedingt ist. Er ist in jedem Fall einer emotionalen Extremsituation ausgesetzt. Den geliebten Erzieher verloren, von der Mutter in die Verantwortung des intimen Vertrauten genommen, diese begehrend, erschwert sich seine Liebessituation zusätzlich, wenn Dolores ihm in einem Brief an Herz legt, sich seinen Vater als Vorbild zu nehmen (vgl. 651), wo dieser doch der schärfste Konkurrenten um die Gunst der Mutter ist. Das familiäre Beziehungsnetzwerk verleiht ihm keine Stabilität, sondern setzt ihn widerstreitenden Gefühlen aus. Übersetzt man die Rolle des Vaters und der Mutter nach den um 1800 konventionellen Stereotypen, ist Johannes jetzt – wie Traugott vor ihm – nicht nur zwischen Lust, Begehren und Verbot, sondern auch zwischen Natur und Kultur hin- und hergerissen (508f.). Er lebt in einem melancholischen Schwebezustand und schwankt zwischen den Extremen, Liebe, Hass, Kälte, Leidenschaft: »Diese frühe Heftigkeit, diese Anstrengungen bewegten ihn zu gewaltsam; eine ängstliche Besorglichkeit bemächtigte sich seiner oft mitten in der größten Kühnheit.« (508) Johannes klettert auf die höchsten Bäume, um oben angekommen in Tränen auszubrechen und sich herunterheben zu lassen, von seinen Büchern, von seinen Schreibereien nahm er jeden Tag feierlichen Abschied, als sähe er sie nicht wieder, während er die wunderlichsten Abhärtungen an seinem Körper versuchte, bebte er vor einem Ohrenklingen, als sei es eine furchtbare nahende Krankheit. (508)
Karls und Dolores’ zweiter Sohn ist nicht nur ein Kind seiner Eltern, sondern auch eines seiner Zeit. Johannes ist ein geradezu prototypisches Produkt des doppelten Erziehungsanspruchs. Die Eltern wollen ihre Kinder einerseits behüten, setzen sie damit den ödipalen Liebesgefahren aus. Andererseits wollen sie den Sohn für das gesellschaftliche Leben vorbereiten. Aber die gesellschaftlichen Denkmuster, geben dem Vater keine Zeit dazu, während sie der Mutter die Kompetenz grundlegend absprechen. Es fehlt der Lebensentwurf für diese Aufgabe. Und umgekehrt können weder Mutter noch Vater eine gesellschaftlich akzeptierte Vorbildfunktion
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Judith Butler zeigt in ihrer Antigonelektüre eindrücklich, dass die Denkfigur des Ödipuskomplexes letztlich immer nur die patriarchalischen Ordnungsmuster reproduziert, da der Vater als potentieller Retter aus der Mutter Kind-Dyade gefeiert wird. Im Hinblick auf diese Überlegung tritt Karls Versagen in der ›Gräfin Dolores‹ krasser hervor. Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen, S. 122ff.
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einnehmen.723 Zugleich ist Johannes eines der »Kinder, die größere Leistungsfähigkeit, Kreativität, individuelle Abgeschlossenheit mit hoher seelischer Anfälligkeit verbinden.«724 Diese seelische Instabilität verschärft sich – das macht Arnims Roman in seiner Lust zur Eskalation unmissverständlich klar – durch die Beziehung zu seinen Geschwistern. Während Johannes sich durch sein fremdartiges Verhalten bei dem Großteil seiner Geschwister lächerlich macht und diese ihn entweder necken oder meiden (508), entwickelt sich zwischen ihm und seiner Schwester Hyolda ein so intensives Verhältnis, dass ihm der Ruch des Inzestuösen anhaftet. Hyolda hat nicht nur das Exklusivrecht, die Festung ihres Bruders betreten zu dürfen (508), sie verehrt und idealisiert offensichtlich ihren großen Bruder in der gleichen Weise, wie der seine Mutter. Spätestens der geschwisterliche Wechselgesang eines Liebesgedichts und das vom Schreiber angesichts dieser Episode verfasste Gedicht »getrennte Liebe« deuten auf ein inzestuöses Verhältnis hin. Auch in der Beziehung zu seiner Schwester erfährt Johannes also die Gefahren der familiären Liebesbeziehungen, auch dort ist er zwischen seinem Gefühl und dem Inzestverbot hin- und hergerissen. Der Roman nimmt anhand seiner Johannesfigur also vor allem die Geschichte der Subjektbildung von der frühen Kindheit bis zur Adoleszens in den Blick. Mit diesem Entwurf kehrt der Roman zum Ursprung der Liebe in der Kindheit und im Familienleben zurück. Er reflektiert die Grundbedingungen individualisierter Liebe, die im genealogischen Gefüge zwischen Eltern und Kind geprägt werden.725 In Johannes’ Fall verlaufen diese Beziehungen alle hochgradig komplex. Der Roman setzt seinen narrativen Schwerpunkt auf die ihnen eingeschriebenen Schwierigkeiten und Gefahren. Wenn man den weiteren Verlauf der Johannesgeschichte betrachtet, ist offensichtlich Teil dieses Konzepts, dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht allein die gesellschaftliche Entwicklung des Kindes, sondern vor allem dessen spätere Liebes- und Bindungsfähigkeit präformiert. Nach diesem Grundsatz vollzieht sich Johannes’ weiterer Lebensweg. Um sich seiner prekären Liebeskonstellation und seinen traumatischen Kindheitserlebnissen zu entziehen, flieht Johannes in ein Kloster. In der verbotenen Mutter- und Geschwisterliebe gefangen, vom Vater vernachlässigt, erklärt Johannes sich selbst, als für das gesellschaftliche Leben untauglich. Die familiäre Liebe verhindert seine weitere Entwicklung, er ist nur bedacht, die Gefahr für das Zusammenleben durch seine Selbstjustiz zu bannen. Johannes entschärft die Gefahr, indem er seine Liebesbeziehung transzendiert, der mütterlichen wie der weltlichen Liebe entsagt und sich in Gottes Hände begibt. Er
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Diese Diskussionen sind im Prinzip bis heute nicht verstummt, wenn es darum geht, ob Mütter arbeiten gehen sollen oder nicht, ob Väter ihre Kinder betreuen sollen, etc. Manfred Schneider, Die kranke schöne Seele, S. 15. Die Familie »schafft damit die Voraussetzung, auf die der Mensch als ›animal sociale‹, als das soziale Wesen schlechthin, angewiesen ist, will er nicht seinen Halt, seine Orientierung und Beziehungsfähigkeit verlieren.« Vgl. Claudia Brinker-von der Heyde, Einleitung. In: Dies. u. Helmut Scheuer (Hg.), Familienmuster, S. 8.
transformiert seine verbotene Liebe in den religiösen Code und findet somit eine Liebesform, die gesellschaftlich akzeptiert ist. Im Zuge des Klosterlebens finden Johannes’ Oszillation zwischen Natur und Kultur, seine idealisierte Liebe zu einer Gottesmutter und zu einem unerreichbaren Vater sowie die vertraute Beziehung zu den Ordensbrüdern ihren Platz. Dort sind sie nicht nur angemessen, sondern sie werden sogar ausgezeichnet, während sie mit den Verhältnissen außerhalb des Klosters kollidieren würden. Mit diesem Entwurf inszeniert Arnims Roman das Kloster als einen Vorläufer der Psychatrie. Im Arnimschen Kloster bildet die Anormalie den Normalzustand. Die Klostergemeinschaft übernimmt die Aufgabe, zu überwachen und zu strafen.726 Wie in einer geschlossenen Anstalt hat Johannes nur einmal im Jahr das Recht auf einen Freigang, um ja nicht rückfällig zu werden. Sein Einzug in das Kloster ist daher nicht als Erlösung inszeniert, sondern als Versuch, das Begehren zu kanalisieren. Allerdings begibt Johannes sich damit just in jenen Kreis, dessen Glaubensideal der Roman zuvor in Frage gestellt hat. Johannes’ Liebesgeschichte erzählt nicht von einer harmonisierten und stabilen Kernfamilie, sondern von Unverständnis, verbotener Liebe und Gewalt innerhalb des Familienlebens. Der Roman erzählt anhand seiner Johannesfigur vom Zerfall der Familie, die sich nicht als Modell der Gesellschaft eignet. Anhand dieser Erzählung verabschiedet die ›Gräfin Dolores‹ das romantische, auf Liebe beruhende Familien- und Verwandtschaftsbild zwar nicht vollständig, zeigt aber rigoros die Gefahren dieses Wertesystems auf. Für die soziale Ordnung ist da nicht viel von den in Liebe aufgezogenen Kindern zu erwarten, zumindest keine Stabilität. Auch aus Dolores’ Sicht muss man ein negatives Fazit aus der Johannes-Episode ziehen. Für sie lösen sich die Liebesschwierigkeiten während ihres italienischen Lebens nicht in Wohlgefallen auf, sondern sie spitzen sich zu. Als Ehefrau und als Mutter muss sie zwei unterschiedliche, individualisierte und damit hochkomplexe Liebesbeziehungen zugleich führen. Beiden ist jeweils die Enttäuschung eingeschrieben, ihrer Summe aber die stetige Überforderung, Selbstverleumdung und Demütigung der Frau. 7.4
Der Anfang vom Ende ist, dass man nichts vergisst: Die Rückkehr des Vaters
Als sei es der Komplexität und der Gefahr nicht genug, spielt der Roman mit seiner Inszenierung von familiärer Liebe und Ordnung noch auf eine andere Konstellation an, als die um Johannes und seine Eltern. Mit ihrem Fokus auf die Grundbedingungen der Liebe wendet sich die ›Gräfin Dolores‹ gleichzeitig ihrem narrativen Ausgangspunkt zu. Standen doch im Mittelpunkt der ersten Romankapitel Dolores’ Kindheit und Jugend sowie die Präformation ihrer Liebe durch das Schicksal ihrer Eltern. Die Flucht ihres Vaters und der Tod ihrer Mutter hatten ihre Liebesentscheidung entscheidend bestimmt (vgl. Kapitel 2.2.2.1 dieser Studie). Der
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Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1993.
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Kreisschluss weist auf eine wichtige Analogie hin. So wie Dolores in ihrer Jugend ihren Vater idealisiert hat, so verehrt Johannes jetzt seine Mutter. Und wie die Liebe zur Mutter Johannes’ Leben bestimmt, so hat auch Dolores’ Liebe zu ihrem Vater ihr Schicksal zutiefst geprägt.727 Die Beziehung zwischen Vater und Tochter wiederholt sich eine Generation später im Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Die Liebe des Kindes ist von einer ödipalen Struktur geprägt, das gilt, unabhängig davon, welcher Generation die Liebenden angehören. Indem der Roman mit Hilfe der Johannesepisode die ödipale Struktur von Dolores’ Liebe aufruft, erinnert er daran, dass zu Dolores’ Liebe grundlegend auch die Frage nach den Eltern gehört. Diese prägt Dolores’ Liebeskommunikation ja schon in dem Moment, als sie sich nach der Flucht ihres Vaters Karl zugewandt hat. Für Dolores ging es damals um die essentiellen Fragen, wie sie und ihre Schwester die Lücke, welche ihre Eltern hinterlassen hatten, füllen, wie sie sich dem elterlichen Bannkreis entziehen und wie sie ihre eigene, unabhängige Existenz gründen und sichern können. Der Roman ruft mit seiner Johannesgeschichte also in Erinnerung, dass jede Familiengeschichte zwei genealogische Seiten aufweist. Sie besteht sowohl aus der Neugründung einer eigenen Familie (im Zeichen der Liebe) als auch darin, mit dem Liebesverhältnis zu den eigenen Eltern umzugehen. Betrachtet man die Liebesverhältnisse der mittleren Generation, muss man deshalb immer auch die Auseinandersetzung zwischen dieser und der Elterngeneration beachten.728 Nur wenn man die Liebesgeschichte über drei Generationen hinweg erzählt (Großeltern, Eltern, Kinder), überblickt man das Tableau der familiären Liebeskommunikation. Erst der Überblick über diese dreistufige Familienordnung spiegelt dann auch eine staatliche Ordnung wider und gibt im Kleinen Auskunft über deren Konstruktionsform. Angesichts dieser thematischen Konzeption ist es nur folgerichtig, wenn der Roman in seiner letzten Abteilung den in der Johannesgeschichte bereits angedeuteten Kreisschluss tatsächlich vollzieht und Dolores’ Vater zunächst nach Deutschland, zuletzt aber auch zu seinen beiden Töchtern zurückkehren lässt (vgl. S. 511). Diese Möglichkeit hat sich der Roman von Beginn an offen gehalten, indem er eine väterliche Flucht inszeniert hat, die im Gegensatz zum (mütterlichen) Tod einschließt, dass diese Familienkonstellation durch eine spätere Rückkehr wieder eingespielt werden kann. Die väterliche Rückkehr verleiht Dolores’ und Karls gemeinsamen Liebesleben den Charakter einer Zwischenzeit. Diese stellt nur eine Phase dar, in der die Elterngeneration sich kurzzeitig zurückgezogen hatte, um jetzt wieder offen auf den Plan zu treten. Damit schließt diese Konstruktion zu-
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Vgl. dazu auch Ricoeurs Interpretation des Narziss- und Ödipusmythos: Paul Ricoeur, »Die Vatergestalt – vom Phantasiebild zum Symbol«. In: Ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretation II, München 1974, S. 315–355. Peter von Matt, Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1995.
gleich ein, dass der Vater seinen Einfluss auf Dolores’ Liebesleben auch ausgeübt hat, als er aufgrund seiner Flucht real abwesend war. Nur an der Oberfläche der Handlung spielte diese Machtstruktur keine Rolle mehr, die symbolische Macht aber blieb ungebrochen, und sie bestimmte Dolores’ Liebesleben. Die elterliche Ordnung, mit ihren familiären und ökonomischen Regularien, war zu keiner Zeit vollständig außer Kraft gesetzt, sondern nur in den Hintergrund verdrängt und in den symbolischen Modus verschoben worden. Aufgrund ihrer (ödipalen) Liebeskonzeption ist Dolores’ selbst nach ihrer Flucht nach Italien an das Schicksal ihres Vaters gebunden.729 Bis zuletzt bleibt sie immer nur das Kind ihrer Eltern. Die neue Ordnung der Kinder etabliert sich also nicht unabhängig von der Lebenswelt der Eltern, sie existiert nur relational zu dieser. Man könnte daher die gesamte Liebesgeschichte, die der Roman zwischen Dolores und Karl entwickelt, als »Kinderspiel« bezeichnen, das durch Abreise (107) und Ankunft des Vaters (511) eingerahmt ist. Dolores hängt zwar nicht – wie es beispielsweise Meixner behauptet – von einer numinosen, göttlichen Schicksalsmacht ab,730 aber von dem Verhalten ihres Vaters. Über dieses aber kann sie nicht eigenständig und autonom entscheiden, in diesem Sinne ist sie abhängig von einer fremden Autorität. Dieses aber weist ausdrücklich keinen sakralen Charakter auf. Das Leben des Vaters ist ganz im Gegenteil von ganz irdischen Faktoren wie Liebe, Freundschaft, Ökonomie, Konkurrenz und Abneigung bestimmt. Als (ewige) Tochter ist Dolores in das soziale Netzwerk ihres Vaters eingesponnen. Die letzte große Zirkulationsschleife, die Arnims Roman vollzieht, ist die Rückkehr der Eltern zu ihren Kindern. Die Rückkehr des Vaters bildet den finalen Akt in Dolores’ ödipalem Familiendrama. Indem der Text diese Konstellation aufruft, nimmt er den letzten noch unverarbeiteten Faden von Dolores’ und Karls Liebesinitiation und damit von seiner Liebeskonzeption auf, um ihn zu verarbeiten. Wenn die Erzählung scheinbar ausschweift und sich ausgiebig dem väterlichen Schicksal zuwendet, ist diese Episode also dennoch stets ein integraler Bestandteil von Dolores’ Liebesgeschichte. Der Text weist durch seinen Kreisschluss mit performativer Vehemenz darauf hin, dass Dolores’ italienisches Liebesleben und ihr nahender Tod nur zu verstehen sind, wenn man die väterlichen Liebesbeziehungen in die Überlegungen einbezieht. Für die Lektüre bedeutet dies, dass das Romanende offensichtlich auf der Folie des Romananfangs zu lesen ist. Dort hatte die Erzählung das Beziehungsnetzwerk der Elterngeneration entwickelt. Das Ende der Liebe weist auf den »Ursprung« von Dolores’ Liebe zurück. Wenn man Dolores’ Sichtweise auf ihre Vergangenheit und ihren Vater folgt, welche sie vor allem zu Beginn des Romans äußert, verspricht der Rückbezug auf Dolores’ Kindheit zunächst einmal Harmonie. Und auch der Romantext stützt die-
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Friedrich Kittler hat anhand von Novalis Ofterdingen gezeigt, dass sich diese ödipalen Konstellationen auch an Lacans Theorie des Imaginären und des Symbolischen anbinden lassen. Friedrich Kittler, Dichter – Mutter – Kind, S. 132ff. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus, S. 20ff.
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se Einschätzung mit einigem narrativen Aufwand. Einen essentiellen Bestandteil von Dolores’ Liebesvorstellungen bildet ihr Vorhaben, die Lücke, welche die Flucht ihres Vaters in ihre Kindheit gerissen hat, durch ihr Liebesglück mit Karl zu schließen und auf diese Weise die »heile Welt« ihrer Jugend wieder auferstehen zu lassen (vgl. Kapitel 2.2.2.1 dieser Studie). Dolores liebt, um die Flucht ihres Vaters zu kompensieren, und sie idealisiert ihre Jugend als Zeit des Reichtums und ihren Vater als »das Vorbild aller adlichen Schönheit und Anständigkeit« (122). Aus ihrer Sicht teilt sich ihr Leben in zwei Phasen ein. In ein goldenes Zeitalter ihrer Kindheit, das für sie bis zur väterlichen Flucht paradiesische Züge trug, und die bis zu ihrer Gegenwart reichende Zeit, in der sie unter ihrer Liebespassion leidet. Diese zweite Phase könnte nun – so das Angebot des Romans – mit der Rückkehr des Vaters ihr versöhnliches Ende finden. Folgt man dieser Sicht, verspricht die väterliche Rückkehr für Dolores die Möglichkeit, dass ihre frühkindliche Kränkung geheilt und die Flucht und erlittene Not kompensiert wird. Für sie erfüllt sich, nachdem ihr Vater 16 ½ Jahre zuvor seine Tochter verlassen hat, ihr sehnlichster Jugendwunsch. In diesem Zusammenhang ist die Rückkehr des Vaters als das letzte große Harmonieversprechen zu lesen, das ihr geboten wird. Betrachtet man unter diesen Prämissen die am Romananfang entworfene Kindheitsgeschichte, ist Dolores von Geburt an in ein eng geknüpftes Beziehungsnetzwerk eingesponnen. Ihre Lebensumstände definieren sich durch das Verhältnis, das einzelne Personen zueinander pflegen.731 Dieses Beziehungsgeflecht wird bestimmt von den Gesetzen des Familienlebens, von der Nachbarschaft mit der fürstlichen Familie, von Freundschaft und Liebe sowie von gesellschaftlich-politischen und nicht zuletzt ökonomischen Regularien. Wobei jeder Faden dieses Beziehungsgeflechts mit jedem anderen verknotet ist. Das Bild von Dolores’ Kindheit prägen eine Reihe von Oppositionen. Bereits die Einleitung des Romans hebt hervor, dass ihr Lebensraum zweigeteilt ist. Auf der einen Seite der gräfliche Palast ihre Vaters, diesem gegenüber das Schloss des Fürsten. Die syntagmatische Beziehung der beiden nebeneinander lebenden Familien organisiert zunächst schlicht das topografische Prinzip der »Nachbarschaft«.732 Anhand dieser binären Matrix lassen sich alle Figuren einem der beiden Orte zuordnen. Im Schloss leben der Fürst und die Fürstin mit ihren Kindern, wobei nur der älteste Sohn explizit erwähnt wird. Dieser Familientrias steht die vierköpfige gräfliche Familie gegenüber. Im Palast leben neben dem Grafen (Hektor), seine Frau (Sophie) deren beiden Töchter Klelia und Dolores.733 Der Kreis dieser sieben Figuren, der immer neue Vierer-
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Auf psychologische Passagen verzichtet der Roman hier vollständig. Diese Konstellation erfreut sich im Erzählen von Liebesgeschichten äußerster Beliebtheit, sie setzt sich fort über die Konstellation von Nachbarschaft in Gottfried Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹, Wilhelm Raabes ›Die Akten des Vogelsangs‹ bis zu Gegenwartsromanen wie Katharina Hackers, ›Die Habenichtse‹. Geordnet ist das Leben auch, weil die Familien selbst eine – exponierte – binäre Ordnung aufweisen: Denn Dolores’ (und Klelias) Kindheit ist – wie jede Kindheit – durch
und Dreierkombinationen erlaubt (vier Frauen stehen drei Männern gegenüber, vier Elternteile drei Kindern), weist in seiner Quadratur auf die Vollkommenheit dieser Ausgangssituation hin.734 Der Roman schließt auf diese Weise an das frühromantische Geschichtsmodell an und entwirft auch auf dieser Ebene das Bild eines goldenen Zeitalters.735 Diesen Eindruck verstärkt der Roman noch, da das Verhältnis der beiden Familien nicht nur durch ihre Nachbarschaft, sondern zusätzlich über die ebenfalls syntagmatisch organisierte, weil gleichberechtigte Freundschaft zwischen den einzelnen Elternteilen stabilisiert wird. Die dreißigjährige (Jugend-) Freundschaft (107) der beiden Väter gipfelte darin, dass der Grafen dem Fürsten dessen Frau zugeführt hatte (vgl. 107). Der Freundschaftsbund ist explizit auch für die Kinder verbindlich, die gemeinsam, ohne hierarchische Trennung aufwachsen (107, 175). Doch dieses harmonische Leben, das der Roman entwirft, hat es in Wahrheit nie gegeben. Die einzelnen Puzzleteile, aus denen sich das Bild vollkommener Harmonie zusammensetzt, passen schlicht und einfach nicht zusammen. Zu keiner Zeit haben die Familien in Freundschaft miteinander verbunden in den gegenüberliegenden Schlössern gelebt. Die Freundschaft zwischen den Familien zerbricht in Wirklichkeit genau dann, als der Graf mit dem Bau seines Palastes beginnt. Der Graf legt nämlich legt es darauf an, dass sein Palast die fürstliche Residenz weithin überragt und überbietet. Dieser Neubau, der Reichtum und Macht symbolisiert, wird schließlich »in der ganzen Gegend« (107) als »ein Weltwunder« gehandelt (107). Der prunkvolle Palast stielt dem fürstlichen Schloss die Show und verletzt den Stolz der Fürstin (107). Die Fürstenfamilie findet, der prunkvolle Palast sei geringeren Geburt des Grafen nicht angemessen. Der ökonomische Wohlstand kollidiert also mit der von Geburt an gefestigten, stratifikatorischen Gesellschaftsordnung. Er zeigt den Wunsch des Grafen, sich über seine Abstammung zu erheben. Und er zerstört auf diese Weise die auf Äquilibration basierende Freundschaft zwischen den Familien. Die Freundschaft schlägt nicht einfach nur in Missgunst um; schlimmer noch: der Schlossbau bringt zutage, dass das Äquivalenzprinzip der Freundschaft nur Schein war. So konstatiert der Erzähler über das Verhalten des Grafen:
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die paradigmatisch (vertikal) konstruierte Beziehung zwischen der Eltern- und der Kindergeneration bestimmt. Diese Opposition zwischen Eltern und Kindern ihrerseits prägt sowohl das Leben innerhalb der einzelnen Familien als auch zwischen den beiden Familien. Das Beziehungsnetzwerk ist damit sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch strukturiert, wobei jede Beziehung, jedes Beziehungsmuster mit jedem anderen verwoben ist. Über seine vier Figuren eröffnet Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ ein vergleichbares Spielfeld. Zur Relevanz dieses Geschichtsmodells vgl. grundsätzlich: Gerhard Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1, Opladen 1993, S. 133ff. Auch: Niels Werber, Liebe als Roman, S. 427ff.
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wollen wir aber ruhiger sein Verhältnis überschauen, entdecken wir, daß es nicht immer reine Freundschaft war, [...] die Freundschaft war ihm nur ein Mittel den Unterschied auszugleichen, den die Geburt zwischen ihnen unabänderlich festgesetzt hatte. (107)
Der ausdrücklich rein repräsentative Schlossbau zerstört mit seiner Fassade also die Fassade der Freundschaft.736 Der immer schon vorhandene Bruch zwischen den Eltern, der bisher allerdings nur vermäntelt wurde, manifestiert sich jetzt offen im Schild über dem Garten des Grafen. Wobei Dolores’ Vater die Tatsachen, die zu dem Ende des Freundschaftsscheins geführt haben, gezielt verdreht, um sie seinerseits zu radikalisieren, indem er sie mit dem Nahrungserwerb in Verbindung bringt: »Freund, hüte dich vor Fürsten, / Denn Freunde werden sie nie / Magst du auch hungern und dürsten / Für sie.« (107) Umgehend wirkt sich der Elternstreit auf das Leben der Kinder aus. Lebten diese zuvor zusammen, so erteilt das Fürstenpaar seinen Kindern jetzt »den Bann […] nicht zum Grafen zu gehen.« (107) Als der Erbprinz am Tag, als der Palast eingeweiht wird, dort dann auch noch die Kellertreppe hinunterstürzt, bricht der Kontakt zwischen den Familien endgültig ab. Der Sturz in den Abgrund besiegelt den Zerfall der Freundschaft. Die Vorgeschichte macht klar, die beiden Elemente »Leben im Palast« und »Freundschaft zwischen fürstlicher und gräflicher Familie« schließen sich aus. Das schöne Bild einer harmonischen Kindheit zerfällt in disparate Einzelstücke. Waren die Familien je befreundet, so müssen sie es in grauer Vorzeit und damit in Dolores’ frühester Kindheit gewesen sein. Das muss allerdings verdammt lang her gewesen sein, denn auch schon vor dem Palastbau war die Freundschaft zwischen den vier Eltern bedroht, und zwar dadurch, dass der Graf die Fürstin nicht nur verehrt, sondern geliebt hat – und umgekehrt. Heimlich sind der Graf und die Fürstin zwischenzeitlich miteinander liiert (523, 546, 588). Dieser doppelte Ehebruch stört das harmonische Familiengefüge auf beiden Seiten beträchtlich. Wenn sich die Fürstin und der Graf lieben, betrügen sie ihre beiden Ehepartner. Weder die Beziehung zwischen den Ehepartnern kann also stabil auf Liebe gründen, noch kann das Verhältnis zwischen den Familien auf Freundschaft basieren. Vielmehr sind Fürst und Graf Konkurrenten um die Gunst der Fürstin, während diese und die Gräfin um den Grafen kämpfen. Zumindest unter der Oberfläche hat spätestens die unerlaubte Liebe jede Freundschaft und Harmonie zerstört. Die Liebe zwischen Graf und Fürstin erschüttert das Beziehungstableau aus den Vorzeiten des Palastes noch weiter, denn sie bleibt nicht ohne sichtbare Folgen. Der älteste Sohn des Fürsten ist, so legt es der Roman an drei Stellen unmissverständlich nahe (ohne allerdings einen letztgültigen Beweis zu liefern) ein unehelicher Sohn des Grafen (vgl. S. 108, 589, 646). Ob dies stimmt oder nicht,
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So ist die Praxis des Geldverkehrs über die väterliche Vorgeschichte bereits untrennbar mit der gesellschaftlichen Ordnung einerseits, mit der Ordnung der Geschlechter andererseits und mit Liebe und Freundschaft verzahnt.
bleibt sich gleich, denn eines ist sicher: Das Prinzip väterlicher Abstammung ist durch diese Anspielungen und Gerüchte zutiefst gestört. Der Roman kennzeichnet also schon hier zu Beginn die Beziehung zwischen den Vätern und ihren (angeblichen) Kindern als arbiträr. Der Fürst steht vor demselben Problem wie nach ihm Karl. Welch eklatante Folgen die Arbitrarität der Vater-Kind-Beziehung innerhalb der patriarchalisch organisierten Gesellschaft hat und welch attraktives, poetisches Spielfeld sich dem Erzähler dadurch eröffnet, zeigt der Roman bereits dadurch, dass er den Sohn des Fürsten konsequent, ohne je dessen Namen zu nennen, in dessen Funktion als den »Erbprinz« bezeichnet. Damit hebt der Roman ironisch hervor, dass genau dieses fürstliche Erbe dem Sohn nicht mehr rechtmäßig zusteht, sollte der Graf sein leiblicher Vater sein. Nachhaltig greift die »Anarchie der Liebe« von den Eltern auf die zweite Generation über und destabilisiert deren (ökonomische wie gesellschaftliche) Lebensgrundlage. Eine weitere Implikation der »falschen Vaterschaft« führt der Roman vor, wenn Dolores rund 150 Seiten nach der Elternepisode noch einmal vom weiteren Schicksal des Erbprinzen hört. In diesem Zusammenhang gesteht sie »daran nehme ich Anteil, er ist mir aus frühern Jahren noch sehr wert; fast möchte ich sagen, wir waren in einander verliebt, so wie Kinder es sind.« (175, 16) Die in die harmonische Anfangskonstellation eingeschriebene Hoffnung, dass sich die Freundschaft der Eltern in eine Liebe der Kinder überträgt und durch eine Hochzeit zwischen einer der beiden Schwestern und dem Sohn den Kreis der Sieben weiter stabilisieren würde, schlägt unter den Umständen der ungeklärten Vaterschaft um. Würden sich Dolores (oder Klelia) und der Erbprinz tatsächlich lieben, so gingen sie ein inzestuöses Verhältnis ein, ohne selbst davon zu wissen.737 Um die Geschwister zu trennen, sind der Graf und die Fürstin bereits aus Sorge um ihre eigenen Kinder geradzu verpflichtet, sich öffentlich zu streiten, um so einen Vorwand zu haben, ihre Kinder zu trennen. Die Liebe zwischen Fürstin und Graf entfaltet unter der Oberfläche also bereits eine ungeheure Virulenz.738 Diese steigert sich dadurch noch, dass die beiden Schwestern im Wettkampf um die Gunst des »einen Erbprinzen« erstmals in eine Konkurrenzsituation geraten. Beide spielen mit dem Gedanken, ihn zu heiraten (S. 107). Da konventionell die ältere Klelia zuerst heiraten dürfte, droht ausgerechnet die vermeintlich so tugendhafte, die vorherige Nachbarschafts- und Freundschaftsillusion zu sprengen. Geradezu genüsslich hält der Roman dann auch fest, dass sie nach dem Hausverbot auch diejenige war, die den Erbprinzen über lange Zeit nicht vergessen konnte (vgl. 107).
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Dass eine solche Konstellation mehr als in der Luft lag, zeigt der Seitenblick auf Tiecks ›Blonden Eckbert‹, bei dem genau dieses Verhältnis zwischen den Protagonisten die entscheidende Rolle spielt. Arnim entfaltet sein tragisches Sujet aus dieser Konstellation, wenn die Generation der Eltern wieder auf die Bühne des Roman zurückkehrt (s. u.).
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Diese zweite Lesart der Elterngeschichte, welche der Roman einfordert, zeigt, dass es in Dolores’ Leben niemals ein goldenes Zeitalter gab, und zwar nicht einmal während ihrer frühen Kindheit. Wenn eine solche harmonische Phase gegeben haben sollte, dann muss diese vor dem Beginn des Liebesverhältnisses zwischen dem Grafen und der Fürstin gelegen haben. Da der Erbprinz aber ebenso alt ist wie Dolores, haben die Kinder jene harmonische Zeit nie selbst erlebt. Diese liegt zudem in der Vorvergangenheit der Erzählung, jenseits des narrativen Horizonts, und bleibt eine Leerstelle. Der Leser weiß nur, dass sie nicht unter den geschilderten Umständen bestanden haben kann. Was aber vor dem gräflichen Palast an dessen Stelle gestanden hat, ob das Grafenpaar überhaupt in der Nachbarschaft der Fürstenfamilie gelebt hat, alles dieses bleibt vollkommen offen. Der Roman entwirft kein Bild, wo und wie die beiden Familien damals gelebt haben. Das goldene Zeitalter ist in Wahrheit ein schwarzes Loch, indem die Konturen des Lebens und Erzählens verschwinden. Der Roman verweigert es, dieses konkret zu schildern, und inszeniert es als ein vages Vorstellungsideal. Indem der Roman das Bild »ursprünglicher Harmonie« gezielt in Unschärfe verschwimmen lässt, und zudem die fragile, rissige Kehrseite von Dolores’ Kindheitsbild exponiert, verabschiedet er zugleich das triadische Geschichtsmodell der Frühromantik und enttarnt es als Illusion. Für Dolores gilt, dass sie von Geburt an in ein familiäres Netzwerk der heimlichen, verbotenen Liebe, des Ehebruchs, der falschen Freundschaft, des Neids und des Konkurrenzkampfes eingewoben ist. Selbst ihre von ihr als unbeschwert erlebte Jugend war eigentlich nur ein Leben auf Pump. Hinter dem schönen Schein, hinter dem repräsentativen Glanz verbargen sich die zerbrochene Ehe ihrer Eltern, der Zwist mit der Fürstenfamilie und die Gefahr einer inzestuösen Liebe. Selbst der Luxus ihrer Kindheit war nur eine Illusion, denn der Vater hat während dieser Zeit sein Vermögen bereits verprasst. Der »große Bau, und noch mehr das Bemühen seinen Palast mit Gesellschaften zu beleben, hatten das Vermögen des Grafen in einer Reihe von Jahren aufgezehrt.« (108) Der Schlossbau spiegelte einen Reichtum wider, den es schon nach kurzer Zeit nicht mehr gab. Dolores’ Jugend war eine Zeit, in welcher der Graf, wie bei seiner heimlichen Liebe und Vaterschaft, versuchte, die schöne Fassade möglichst lange aufrecht zu erhalten. Der Roman raubt also Dolores’ letztes Ideal, dass sie vor der Flucht ihres Vaters eine harmonische Kindheit erlebt habe. Er zerreißt ihr Vorstellungsbild, dass sie mit ihrer Liebe Wirklichkeit werden lassen wollte. Da Dolores’ Liebe aber stets von dieser Idealisierung abhängig blieb, da sich ihre eigene Liebe darauf aufgebaut hatte, verheißt die Rückkehr des Vaters nichts Gutes. Da Dolores und Karl sich nicht grundsätzlich von den Eltern trennen können, agieren sie unausweichlich in der Nachfolge des lapsus primorum parentum. War schon die Vorvergangenheit von Dissonanz geprägt, kündigt die Ankunft der Elterngeneration in Deutschland für die Kinder nichts als Unheil an, unabhängig davon, ob Dolores ihrer kindlichen Illusion noch heute anhängt oder nicht. Wenn also nacheinander der Graf, der Fürst, die Fürstin und zuletzt sogar der Erbprinz die Bühne des Romans wieder betreten, schließt sich der Kreis zurück zur krisenhaften Ausgangssituation. Die schöne Fassade des italienischen 396
Liebeslebens droht samt Dolores’ Kindheitsideal an der Realität der väterlichen Welt zu zerbrechen. Aus Sicht des Lesers also ist der tödliche Mechanismus der Liebeszirkulation im Prinzip seit dem Moment in Gang gesetzt, in dem Dolores ihr Liebesschicksal bewusst oder unbewusst über dessen ödipale Struktur an das Schicksal ihres Vaters gebunden hat. Seither läuft er wie eine nicht aus dem Takt zu bringende Maschine. Und weil Karl und Dolores’ ihre Liebeskommunikation nicht grundsätzlich neu aufgebaut haben, und ihre Lebensordnung damit hochgradig gefährdet bleibt, stellen sich eigentlich nur noch zwei Fragen: Wie wird die Welt der Eltern die der Kinder kontaminieren? Und wann wird dieser Einfluss erste, sichtbare Spuren hinterlassen? Wie zuvor schon geht der Roman auch jetzt kühl und berechnend vor und setzt – wie in einer Versuchsanordnung – das in Deutschland schwelende Gefahrenpotential schrittweise in die italienische Realität um. Kalkuliert bringt der Text sein Liebes- und Gedankenexperiment zu Ende. Tröpfchenweise kontaminiert er Dolores’ und Karls Leben mit dem Gift der Elterngeneration. So inszeniert der Erzähler bereits die Rückkehr des Vaters als Affront gegenüber seinen Protagonisten. Für Unbehagen muss bereits sorgen, als der Erzähler erstmals seinen Blickwechsel weg von Italien, hin nach Deutschland richtet. Mit diesem Rückblick macht er rücksichtslos genau das, was seine beiden Protagonisten unbedingt vermeiden wollten. Er erinnert sich, und zwar im Wissen darum, dass Dolores und Karl ihr gegenwärtiges »Glück« vor ihrer Vergangenheit bewahren wollen. So leitet er bereits seinen ersten Blick zurück nach Deutschland, bei dem vom Vater noch gar nicht die Rede ist, mit der Formel ein: Doch preise sich keiner glücklich vor dem Ende seiner Tage; – eingedenk dieser Regel wollen wir uns nach denen umschauen, die in der Berührung mit dem gräflichen Hause uns merkwürdig waren. (471)
Im Folgenden erzählt er ausführlich von den Liebesschicksalen Arnica Montanas, Wallers und des Predigers Frank. Auf Kosten seiner beiden Protagonisten arbeitet der Erzähler weiter an dem melancholischen Projekt, eine Konstellation unterschiedlicher Liebesgeschichten zu erzeugen. Dieses Erzählprinzip erreicht seinen Höhepunkt, wenn der Erzähler zur Rückkehr des Vaters demonstrativ mit der Formel einleitet: Erinnern wir uns noch einmal, daß der Graf des Schloß seines Schwiegervaters, des Grafen P..., als ein verschlossenes Denkmal seiner früheren Zeit, seines Glücks und Unglücks unbewohnt zurückgelassen hatte, aber für dessen Erhaltung sorgen ließ [...] (511).
Die Erzählung kehrt damit an jenen Ort zurück, den ihr Liebespaar ausdrücklich hinter sich lassen wollte. Sie verstößt gegen die Intention ihrer Protagonisten. Mit Luhmann könnte man sagen, der Erzähler weigert sich, das Erleben von der Erinnerung zu entkoppeln. Doch das ist noch nicht der ganze Affront gegenüber Dolores und Karl. Im selben Zuge nämlich, in dem er sich Deutschland zuwendet, degradiert er seine bisherigen Hauptfiguren zu Nebendarstellern und verteilt die 397
Hauptrolle seines Romans neu.739 Konsequent nur seine eigene Pointe im Sinn, erfüllt der Roman Dolores’ großen Jugendwunsch, indem er ihn gegen sie ausspielt. Zeichen dafür ist auch, dass es zwar exakt 16 ½ Jahre her ist, seit der Vater seine Tochter verlassen hat, dass der Erzähler aber mit einem anderen Maß rechnet: Ungefähr zehn Jahre nach dem Auszuge des Grafen in derselben Nacht, die vor eilf Jahren den Treubruch, der Gräfin Dolores verhüllte, kam ihr Vater, der alte Graf P... mit vier großen sechsspännigen Kutschen über die Heerstraße die Anhöhe herunter gefahren, von welcher die beiden Schlösser und die alte Stadt so herrlich zu übersehen. (511)
Der Vater kommt also nicht im Zeichen der Versöhnung, sondern in dem von Dolores’ Ehebruch zurück. Dass er im Auftrag des melancholisch liebenden Erzählers die Bühne des Romans betritt, zeigt sich auch darin, dass er ein eigenartiges Mischwesens verkörpert. Dem »Reisenden« eröffnet sich, während er die große Heerstraße nach unten in das Tal fährt, der gleiche Blick, wie Karl und dem Erzähler zuvor. Die Bemerkung, der Vater fahre die Straße herunter, »von welcher die beiden Schlösser und die alte Stadt so herrlich zu übersehen« (511), macht eindeutig klar: Die Rückkehr des Vater ruft das Anfangsbild des Romans auf. Wenn der Vater sich den Schlössern aber von der Heerstraße aus in einer Kutsche nähert, ähnelt er auf diese Weise um ein Detail mehr dem Erzähler als Karl. Letzterer hatte zwar auch von einer Anhöhe auf die Schlösser geblickt, aber war ausdrücklich zu Fuß und auf einem Nebenweg dorthin gelangt. Der Text markiert also, dass der Vater als ein Wiedergänger, als ein Gesandter des allmächtigen Textgottes auftritt. Als weiteres Indiz für das Unglück, das mit dem Vater eintritt, dient, dass dieser seine Töchter und seine Frau längst abgeschrieben hat: von den Seinen hatte er nichts erfahren, nicht einmal ob seine Frau und Kinder noch lebten; die Sehnsucht nach seinem Schlosse, von dem er seiner Moham (der neuen Frau) täglich vorerzählte, trieb ihn einzig in diese Gegend zurück. (512)
Vor allem aber gerät die Rückkehr des Vaters zu einer im wahrsten Sinne des Wortes verrückten Szene. Die Episode entgleitet dem Erzähler in seinem Bemühen, eine realistisch wirkende Welt zu entwerfen, vollkommen. Wie aus dem Nichts tritt das Gespenstische der Romantik auf den Plan und bricht mit jeder Harmonie. Schon am Anfang seiner Erinnerung führt der Erzähler das Spukhafte ein:
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Zudem zerschneidet der Erzähler förmlich mit diesem Umschalten nach Deutschland die Erzählung vom italienischen Familienleben. Tatsächlich nimmt im Vergleich mit den ersten drei Abteilungen die Diskontinuität der Erzählung in der vierten Abteilung enorm zu. Das Erzählen wird durch immer mehr Ellipsen mit immer größerem Umfang synkopiert. Der Roman forciert seine »Poetik der Unterbrechung«. Umfassen die ersten drei Abteilungen einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren, reicht die vierte Abteilung über 14 Jahre von Dolores’ Leben hinweg. Die wachsende Diskontinuität löst den Zusammenhang der erzählten Ereignisse auf. Auf diese Weise setzt der Roman seine Poetik melancholischer Liebe kontinuierlich fort. Zur wachsenden Diskontinuität vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, S. 66.
Ein seltsames Toben, das in gewissen Nächten das Schloß erfüllte, die Erleuchtung, die dann in mehreren Zimmern bemerkt wurde, gaben zu wunderlichen Gerüchten Anlaß; man sprach von dem Geiste des alten Grafen, der da umginge, und wie in alter Zeit in Festlichkeiten schwelge. (510)
Die Geistergeschichte lässt sich noch dadurch erklären, dass der Volksmund nun einmal eine Vorliebe für Schaudergeschichten hegt. Doch als der echte Graf in seine Heimat zurückkehrt, findet er sein Schloss tatsächlich in vollem Festglanze wieder: Von der Anhöhe sah er viele Zimmer seines Schlosses hell erleuchtet [...]. Er ließ langsam fahren, und stieg mit Herzklopfen vor dem Schlosse aus dem Wagen, und trat an das Schloß das offen stand, und wo ihn eine prachtvolle Dienerschaft empfing. (512)
Damit wird der Spuk zur Realität und das wäre wohl schon verrückt genug, aber dem Roman reicht das noch nicht. Er treibt die Brüchigkeit seiner Welt noch weiter auf die Spitze. Der Graf tafelt noch in derselben Nacht mit seiner verstorbenen Exfrau in seinem Schloss. Diese erklärt ihm, sie sei inzwischen mit dem Herzog von A vermählt. »Herzog von A«, so heißt der Markese wirklich, so nennt er sich zumindest, wenn er in Italien bei Klelia lebt. Dolores’ Mutter gibt also vor, mit dem toten Exmann ihrer älteren Tochter verheiratet zu sein, der wiederum ihre jüngere Tochter verführt hat und der jetzt der zweiten Frau des Grafen »mit solcher unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit den Hof« macht, dass sie »ihm sichtbare Zeichen ihrer Zuneigung gab.« (513) Wenn die Forschung diese Szene überhaupt wahrgenommen hat, deutet sie diese als wahnhafte wie traumatische Erfahrung des Vaters, der mit seiner eigenen Schuld konfrontiert wird. Aber selbst mit dieser hermeneutisch-psychologischen Auslegung lässt sich die groteske Szenerie nicht wirklich bändigen. Der Bruch mit der »realen« Erzählwelt geht derart tief, dass er sie komplett sprengt. Höchstens strukturell ist dies zu deuten, wenn man diese Episode als Andeutung liest, für die Desintegration und Eskalation, welche die Rückkehr des Vaters mit sich bringt. Zu dieser Lesart gehört dann auch, dass der Graf nur durch einen Unfall aus dem Spukschloss entkommt. Der aber fällt mit der Geisterstunde zusammen und markiert, dass die Realität gespenstischer ist, als der vorherige Spuk im Schloss: »mit halben Worten erfuhren sie jetzt, daß das Schloß mit dem Glockenschlage zwölfe an vier Ecken habe angefangen zu brennen; mit Mühe konnte der Graf sich und die Seinen und seine reichen Wagen packen.« (513f.) Damit lässt sich das drohende Unheil nicht zuletzt auch am Schicksal des Schlossbaus festmachen. Die Schlosssymbolik macht klar, dass hier ein Konflikt schwelt. Der allerdings bereitet dem Grafen zwar Sorgen, er nimmt ihm aber keineswegs die Lust an Genuss und Luxus. Dies stellt der Roman krass aus, wenn der Schlosserbauer nichts Besseres zu tun hat, als sich an dem brennenden Gehölz eine Zigarre anzuzünden: So bitter ihm dieser Gedanke im ersten Augenblicke war, so herrlich sich die schönen Verhältnisse des Gebäudes mit scheidender Sehnsucht in dem Feuer verklärten, so hatte er, der alles aufgeben konnte, auch darüber sich bald gefasst; er zündete seinen Zigaro
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an einem heruntergestürzten brennenden Balken an und ließ sich mit einigen müßigen Zuschauern in eine Unterredung ein. (514)
Der Roman setzt anhand der Vaterfigur sein Spiel zwischen Illusion und Desillusion dadurch fort, dass er ihn im Kleinen einen doppelten Kursus durchlaufen lässt. Denn mit der zweiten Geschichte, in der ihm von seiner Flucht und von dem Schicksal seiner Familie erzählt wird, erfährt er die traurige Wahrheit: Der hochmütige üppige Narr, antwortete ein Bürger, nachdem er unserm Fürsten mit Bauen und Fresserei alles gebrannte Herzleid angetan, mußte schuldenhalber davon laufen, ließ Frau und Kinder im Stich, und die Frau starb bald aus Gram. (519)
Die figura ethymologica leitet – wie schon bei der Initiation von Karl – vom brennenden Schloss auf die Gefühlsebene des gebrannten Herzens über. Und diese überträgt sich sogleich auf das Gemüt des Grafen:740 »Jetzt wußte er genug von dem Schicksale der Seinen; er drehte sich um, und das Gewissen zog eine tiefe Furche über seine Erinnerungen, wie der Ackermann über eine verfluchte und zerstörte Stadt.« (515) Sodom und Gomorha hinterlässt diese Nachricht im Gemüt des Grafen, Ruinen aber hinterlässt auch Dolores’ Vater: Die Trümmer seines alten Schlosses ließ er zu seiner Erinnerung unverändert stehen, Reisende versichern, daß das Lebendige Frische in dem Zerstörten: Marmorsäulen, die halb zu Kalk verbrannt, bunte Wandmalerei, halb geschwärzt, einen eigentümlichen Eindruck von Vergänglichkeit gewähre, der manchem schwermütigen, der Gegenwart überdrüssigen Gemüte so willkommen sei. (519)
Wer nach dieser absurden Ankunftsszene noch davon ausgeht, dass es dem Text tatsächlich darauf ankommt, mit der Rückkehr des Vaters ein Happy-End zu konstruieren, der muss eine ganze Palette von Unsicherheitsfaktoren ausblenden. Arnims Text lebt von seiner doppelten Lust: die Erlösung anzupreisen, um sie genussvoll auszustreichen. Dazu gehört auch, den Vater nicht einfach als »Monster« abzutun. Das wäre zu einfach. Vielmehr bleibt auch das Bild des Vaters ein changent taft. Bedrohlich ist er für Karl und Dolores weniger, weil er ein schlechter Mensch wäre oder ihnen Böses wollte, als vielmehr, weil mit ihm die elterlichen Liebesabenteuern mit all ihre Implikationen erneut aufgerufen werden. Genüsslich spitzt der Roman die Konfrontation zwischen der Welt der Kinder und der Elterngeneration in kleinen Schritten weiter zu. Obwohl die Ereignisse sich zunächst nicht einmal direkt berühren, ist für den Leser unmittelbar klar, dass der Vater mit seiner Ankunft in Deutschland eine Position beansprucht, die Karl in der Zwischenzeit längst eingenommen hat. Vater und Ehemann geraten in Konkurrenz. Anhand des alten Grafen und anhand von Karl inszeniert der Roman
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Der Vater durchlebt seine Schuld in seiner traumatischen Erfahrung. Er arbeitet sie in einer Traumvorstellung ab, indem er eine visionäre Szene durchlebt, die ihn nahe an den Rand des Wahnsinns treibt.
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den männlichen, genealogischen Machtkampf, der jeder Familie eingeschrieben ist. Die Konkurrenz zwischen Vater und Ehemann, die beide um dieselbe Position kämpfen, bildet den komplementären Konflikt zu dem der mutterzentrierten Kernfamilie, welche der Roman anhand von Dolores und Johannes entwickelt.741 Dieses männliche Konfliktmuster entwickelt der zweite, parallel geführte Erzählstrang der Familiengeschichte. Ihre Konkurrenz tragen Dolores’ Vater und Karl zunächst um den Besitz des Schlosses aus, das inzwischen in Karls Eigentum übergegangen ist und über das dieser alleine verfügen kann und darf. Dolores’ Vater missachtet die Rechte des neuen Eigentümers, wenn er davon ausgeht, dass sein eigener Palast in Flammen aufgegangen ist, und er entscheidet, die Schlossruine als Mahnmal der Erinnerung zu erhalten. Der Vater schert sich nicht um die neuen Besitzverhältnisse. Er setzt sich über Karl hinweg. Der Konflikt zwischen dem alten Grafen und Karl reicht aber selbst bis auf die Ebene des discours und sogar bis zur Namensgebung hin. Der Erzähler sieht sich mit dem Problem konfrontiert, welchen der beiden Patriarchen er als »den Grafen« bezeichnen soll. Pragmatisch schlägt er deshalb eine neue Namensregelung vor: Wir wollen den alten Grafen von jetzt, wo er bald mit dem Grafen Karl in eine nähere Berührung kommt, durch seinen Dienst und Ehrentitel als Minister unterscheiden, er hatte die Stelle eines ersten Ministers nach vielem dringlichen Bitten des Fürsten angenommen. (523)
Mit diesem Vorschlag löst der Erzähler das Konkurrenzverhältnis der beiden Alphatiere zwar für seine Leser auf, für seine Figuren aber bleibt »das genealogische Drama der männlichen Generation« virulent.742 Dass der Machtkampf der ›männlichen‹ Familienmitglieder nicht beigelegt ist, zeigt sich schon daran, dass Dolores’ Vater vorerst auf eine souveräne Stellung verzichten muss. Er wird jetzt mit seinem Dienstgrad und somit ausgerechnet in Relation zu seinem alten Freund und Konkurrenten, dem Fürsten, benannt. Als Minister trägt er somit bereits im Namen, dass er wieder in das alte Beziehungsnetzwerk der Elterngeneration eingesponnen ist. Im Kreis der Eltern aber tritt alles andere als Harmonie ein. Obwohl Dolores’
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Vgl. zu diesen beiden Modellen und zu ihrer Relevanz im Familienroman des 19. Jahrhunderts grundlegend Walter Erhart, Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001. Dieser Begriff stammt von Walter Erhart, der ihn unter anderem anhand von Thomas Manns Buddenbrooks entwickelt. Vgl. Ders., Thomas Manns ›Buddenbrooks‹ und der Mythos der zerfallenden Familie. In: Claudia Brinker-von der Heyde u. Helmut Scheuer (Hg.), Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt am Main, New York 2004, S. 161–184, hier S. 181. Zum Motiv des »Verfalls der Familie«: Ders., Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001. Allerdings macht Erhart den Verfall der Familie erst im ausgehenden 19. Jahrhundert fest und hält dieser Tendenz die romantische Familienharmonie im Sinne Schleiermachers entgegen. Arnims Roman spielt in diesem Zusammenhang also eine Vorreiterrolle.
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Vater eine neue Frau und neue Kinder mit zurück nach Deutschland bringt (511), obwohl das Wiedersehen mit dem Fürstenpaar freundschaftlich verläuft und der Erzähler das »schöne Zusammenleben und Zusammenwirken des Fürsten mit dem Grafen« würdigt (523), lösen sich die Eltern nicht aus ihren alten Verstrickungen. Als nämlich der Fürst unerwartet stirbt, müsste jetzt eigentlich jener Erbprinz die Regierung übernehmen, dessen Abstammung – um es vorsichtig auszudrücken – fraglich ist. Das uneheliche Kind des Grafen müsste zum neuen Fürsten werden, vor Ort würde er seine leiblichen Eltern vorfinden, die Fürstin und Dolores’ Vater, und letzterer würde dann Minister, Angestellter und Untertan seines eigenen Sohnes sein. Kurz gesagt: Das Kartenhaus des neuen Glücks würde mit einem Windstoß in sich zusammenfallen. Der Sohn aber ist (klugerweise) wie Dolores und Klelia aus dem Bannkreis seiner Eltern geflüchtet (vgl. S. 175–183).743 Dafür übernimmt die Fürstin, so der despektierliche Kommentar des Erzählers, »im Namen ihres blödsinnigen Sohnes, der in gemeiner Ausschweifung Frankreich durchschwärmte« (523) die Verwaltung ihres Landes. Dolores Vater wird ihr Minister und gemeinsam bringt das Paar die vom Krieg geschundene Stadt wieder zum Blühen (524). Das hört sich gut an, nur darf man zum einen nicht übersehen, dass die Regentschaft der Eltern sich auf Kosten ihrer Kinder vollzieht. Und zum anderen muss man im Gedächtnis bewahren, dass zwischen Graf und Fürstin doch einmal etwas war. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis die Gefühle der beiden wieder hochkommen und die harmonische Oberfläche ihres Zusammenlebens gefährden. Offensichtlich haben die Eltern in Sachen Liebe nichts dazu gelernt. So heißt es kurz nach dem Ableben des Fürsten von dessen Witwe und ihrem ergebenen Minister: Er war sehr überrascht, sie so durchaus in ihrer ganzen Schönheit erhalten zu finden, als wäre diese Zeit nur ein schlimmer Tag, der vor vierzehn Jahren verlebten; sie wußte ihre alte Vertraulichkeit so ganz herzustellen, daß er alle Geschäfte gern übernahm, und mit Hülfe ihres Geistes zu noch größerer allgemeiner Zufriedenheit fortführen konnte. Er hätte sich von neuem in sie verliebt, aber sie mied diese Berührung [...]. (523)744
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Dort erzählt der ehemalige Prinzenhofmeister Kirre unter dem Titel »Der verlorne Erbprinz« vom Schicksal des gräflichen Sohnes. Die Brüchigkeit der Konstruktion markiert der Roman auch auf der Ebene seines discours. Exakt an dieser Stelle nämlich wird auch das Zeittableau der Erzählung brüchig. Wenn der Erzähler behauptet, Fürstin und Graf P* würden wieder eine Zeit verbringen, wie sie sie »vor vierzehn Jahren verlebten« (523), stimmt diese Angabe nicht mit der Zeitrechnung im Roman überein. Nach dieser liegt die Affäre zwischen den beiden viel länger zurück: 3 Jahre haben Dolores und Klelia nach der Flucht ihres Vaters allein im Schloss gelebt, bevor Karl bei ihnen ankam (113). 3 ¼ Jahre liegen zwischen Karls Ankunft bei Dolores und dem Ehebruch. Die Verführung und die Rückkehr des Vaters nach Deutschland trennen 11 Jahre (511). Macht 17 ¼ Jahre. Hinzu kommt, dass vor der Flucht schon die lange Streitphase lag. Die Zeitangabe ist schlicht falsch. Dieselbe Brüchigkeit tut sich auf, wenn der Erzähler behauptet, bei der Ankunft der Fürstin in Italien sei Karl zwar gealtert, sehe aber im Vergleich zur über 12 Jahre zurückliegenden Ankunft bei Dolores sehr gut aus (545). Die Liebesinitiation liegt da schon mehr als 15
Der Vater ist immer noch so liebes- und spielsüchtig wie eh und je. Und auch, wenn der Erzähler beschwört, die Fürstin entziehe sich diesen Avancen, so bleiben ihre Gefühle dennoch nicht unberührt: Es spricht Bände, dass die Fürstin nach kurzer Zeit in eine tiefe Schwermut verfällt und zur Melancholikerin wird (vgl. 523f.). Das Gefahrenpotential, das von den Eltern für die Kinder ausgeht, beschränkt sich aber nicht nur darauf, dass die Eltern von einem Ende des Liebesreigens nichts wissen wollen und dieses Liebestreiben sich nach der Logik des Romans unausweichlich früher oder später auf die Kinder ausweiten muss. Der Konflikt zwischen Karl, Dolores und ihrem Vater tritt nicht zuletzt dadurch zutage, dass die Ideale, die der alte Graf von Dolores’ Kindheit an vertreten hat und jetzt gemeinsam mit der Fürstin lebt, konträr zu den Wertmaßstäben stehen, die Dolores in ihrer Selbstaufgabe ihrem Ehemann zu Liebe übernommen hat. Der Vater vertritt die Egalität der Geschlechter. Er ist sich nicht zu schade, seinen Dienst unter der Regentschaft der Fürstin als Minister zu leisten. So ist es in der elterlichen Welt eine Frau, welche »das ganze Städtchen wohlhabender als je« (525) werden lässt und »Zweige der eignen Industrie schnell entwickelt, die sonst viele Jahre vergeblich aufgemuntert worden« (ebd.) Die Fürstin erreicht mit Hilfe ihres Ministers das, was Karl an gleicher Stelle nicht gelungen ist. Sie lebt das Leben, das Dolores an der Seite ihres Mannes führen wollte, was Karl seiner Frau aber grundsätzlich abgesprochen hat. Denn der ist ja der Auffassung, dass eine Frau glücklich zu sein hat, wenn sie ihren Mann lieben und mit reicher Kindergabe glücklich machen darf. Die Rückkehr des Vaters ruft offensichtlich einen Konflikt der Ideologien auf, denn die Werte der Eltern stehen im Widerstreit zu Karls Maximen. Dolores’ italienisches Leben lässt sich mit der Überzeugung ihres Vaters nicht vereinbaren. Dass sich für Dolores aus dieser Konstellation auch ein innerer Widerstreit entspinnt, bei dem sich ihre Liebe zu ihrem Vater und die zu ihrem Ehemann gegenseitig ausschließen, wird dadurch deutlich, dass Dolores heute Karl als ihren Erlöser idealisiert, während sie in ihrer Kindheit und Jugend ihren Vater in der gleichen Weise verehrte. Karl besetzt die gottgleiche Position, die einst Dolores’ Vater Inne hatte. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass Dolores sich jetzt vollkommen mit den Idealen und dem Leben ihres Vaters identifiziert. Immerhin hat er mit seiner Flucht ihr Wohl aufs Spiel gesetzt und dient jetzt einer Frau, die Dolores’ Mutter gedemütigt und ihr aus Eifersucht und Kälte »den Todestoß« (110) gegeben hat. Auch in diesem Sinne lässt sich also die väterliche Vorstellungswelt nicht in den ideologischen Horizont von Dolores’ Italienleben integrieren. Trotz räumlicher Distanz also nimmt die Welt der Eltern aus Sicht der Kinder zunehmend bedrohliche Züge an.
Jahre zurück. Der Roman erzeugt absichtlich Risse in der Konstruktion, welche den oberflächlichen Glanz seiner Geschichte gezielt stören. Diese strategisch eingesetzten Konstruktionsfehler machen darauf aufmerksam, dass der Erzähler mit seinen Figuren und deren Schicksal in melancholischer Liebe verbunden bleibt und die Erzählung damit kontinuierlich ihre Poetik umsetzt.
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Im nächsten Schritt des narrativen Gedankenexperiments reist nicht etwa Dolores’ Vater selbst nach Italien, sondern er sendet mit der Fürstin eine Stellvertreterin dorthin. Mit der Ankunft der Fürstin tritt die Elterngeneration erstmals wieder direkt in Kontakt mit ihren Kindern. In diesem Augenblick setzen sich umgehend die alten, elterlichen Muster der Zirkulation in Gang. So zieht die Fürstin in das Gartenhaus, also in die Nachbarschaft der gräflichen Familie und nimmt damit wieder die syntagmatische und zunächst ausdrücklich freundschaftliche Beziehung auf. Wobei sowohl das Prinzip Nachbarschaft als auch das Codewort »Freundschaft« bereits belastet sind. Demnach ist es nur folgerichtig, wenn sie sich – die ja zuvor schon die Regeln nach eigenem Gutdünken ausgelegt hat – jeder Norm und jedem Verbot verschließt. Die Fürstin verliebt sich in Karl (vgl. 547). Sie bricht mit ihrer Liebe nicht nur die paradigmatische Ordnung der beiden Generationen und kehrt – wie Dolores’ parallel gegenüber Johannes – das ödipale Liebesverhältnis zwischen Mutter und Sohn um, sondern sie stellt auch die hierarchische Struktur der Gesellschaft in Frage. Träumt sie doch, dass Karl an ihrer Seite nach Deutschland zurückkehren und dort an ihrer Seite, gegenüber seinem eigenen, inzwischen abgebrannten Palast regieren würde. Die Liebe der Fürstin wird angeheizt von der »alten Obristin«. Auch sie ist ein Mitglied der Elterngeneration, die damals Klelia nach Italien geführt hatte. Als würde die Obristin in die höfische Kultur des Barock zurückfallen, veranstaltet sie jetzt, ein Liebesspiel nach dem anderen, wobei sie in der Fürstin und in Karl ihre liebsten Opfer findet. Ihre Spiele verharmlosen und befeuern zugleich, was sich zwischen den beiden anbahnt (vgl. 555f.). Die Liebe der Fürstin beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Karl nämlich wiederholt seinen alten und immergleichen Fehler. Er sucht die Nähe zur Fürstin. Für ihn erweitert sich durch sie der Kreis der Personen, die seinen individuellen Vorstellungen nachkommen und seine Wünsche erfüllen. Teilt er sich mit Klelia seine politischen, sozialen und ökonomischen Aufgaben und mit Dolores das Familienleben, so reicht ihm das noch lange nicht aus, um ein erfülltes Liebesleben zu führen: »beide gaben ihm sonst nur im praktischen Geschäfte Gelegenheit, seine Talente zu entwickeln, sein Freude an Künsten aller Art verschloß er unwillkürlich in sich«. (546) Die Fürstin erweckt als Muse noch einmal Karls Künstlertum: »er fand, daß ihm die Fürstin eine geistige Unterhaltung gewähre, die er nie bei Dolores gefunden und nie bei ihr vermißt habe.« (546) Der Graf beginnt wieder zu dichten. Karl gibt sich gemeinsam mit der Fürstin einer intimen Kommunikation hin, die zumindest die Gefahr in Kauf nimmt, dass man zwischen Freundschafts- und Liebescode nicht exakt trennen kann. Und zumindest von diesem Problem sollte Karl doch nach seinen Erfahrungen wissen. Als Liebeskommunikation charakterisiert der Roman Karls Verhalten, indem er Karl nun exakt die Themenfelder vereinen lässt, die zuvor schon seine Liebesvorstellungen ausgezeichnet hatten. Der Graf und die Fürstin verlieren sich im gemeinsamen »Dekorieren des Landhauses« (551), was Karl – so beschwert sich Klelia – einmal sogar seine landwirtschaftliche Arbeit vergessen lässt. Die Fürstin triumphiert, anders als Dolores zuvor, über das Gartenhobby. Der Text ruft also die Verbindung von Gartenkunst, Autorschaft und eben Liebe auf (vgl. 404
Kapitel 4 und 5 der vorliegenden Studie).745 Mit dieser Kommunikation mag der Graf von seiner Seite aus Zeichen der Freundschaft aussenden wollen, aus Sicht der Fürstin und des Lesers verweisen diese aber auf seine Liebe. Alle Indizien jedoch sprechen sowieso dafür, dass Karl, will man ihm nicht absolute Naivität unterstellen, das Spiel mit der Gefahr genießt. Auch umgekehrt versteht es Karl geschickt, die arbiträre Zeichenrelation im eigenen Sinne zu nutzen. Er deutet die Kommunikation mit der Fürstin mit einigem interpretatorischem Aufwand als Zeichen der Freundschaft, selbst wenn sie von Liebe spricht. Das Spiel mit dem Feuer beruht auf dem kunstvollen Umgang mit ambivalenten Zeichen, die jeweils changieren wie ein Schillertaft. Diesen Grenzgang zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Begehren und Verbot inszeniert Arnims Roman in Form einer Doppelgänger und Verwechslungsgeschichte. Sie bildet den Höhepunkt des Liebesspiels und macht die Verwirrung perfekt. Die Episode spielt – nach dem altbekannten Schema – erneut an einem dritten, heterotopischen und intertextuell hochgradig aufgeladenen, Ort. Die Fürstin und der Graf begeben sich gemeinsam mit dem Schreiber (und selbstverständlich ohne Dolores) auf eine Reise zum Ätna (559). Sie reisen also ausgerechnet zu einem Vulkan, wohl dem locus communi für gewagte Grenzgänge und Feuerspiele schlechthin. Es zieht sie dorthin, wo schon Empedokles die begrenzte Erkenntnis des Menschen am eigenen Leib erfahren hat und sich in den Krater stürzte. Zudem zitiert Karl selbst: Petrarchs wunderbares Ereignis, als er mit großer Beschwerde einen Berg bestiegen und in den Bekenntnissen des heiligen Augustinus mit über überraschender Rührung die Worte aufgeschlagen habe: Die Menschen gehen hin die Höhen der Berge, die Welle des Meeres, die gewaltigen Ströme, den weiten Umfang des Ozeans und die Kraft der Sterne zu bewundern, und verlassen sich selbst. (561)
Zu Füßen des Vulkans inszeniert der Roman die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, die immer nur an seinen Verstehenshorizont gebunden bleibt. Dort beginnt das Endspiel der romantischen Liebe, auch wenn es am Ätna ausdrücklich nicht zur Katastrophe kommt. Die einzelnen Figuren erweisen sich als im wahrsten Sinne des Wortes umnachtet. Als in der Nacht nach dem Aufstieg die Fürstin in Karls Schlafzimmer eindringt, um ihre Liebe zu besiegeln, liegt dort nicht der Graf, sondern der Schreiber: In der Dunkelheit konnte sie es nicht bemerken, daß sie ihn verfehlt hatte, der, den sie traf, beschwichtigte so bald ihren Mund, sie fühlte sich so ganz beglückt und sie ließ ihr Bild in einer goldnen Fassung dem Freunde zurück, daß er seines Traumes Gewissheit erkenne. (561)
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So beklagt Klelia, die sich wie ihre Schwester von Karl vernachlässigt sieht, in ihrem Tagebuch: »Über tausend Bäume sind durch die Vergessenheit des Grafen, der die nötigen Arbeiter nicht herbeigeschafft, vor dem Einpflanzen verdorrt. Lieber Gott, wenn er nur die Hälfte der Sonnenstrahlen auf sich nehmen sollte, die darum ein ganzes Jahr länger auf die armen Wandrer und Pilger fallen, er müßte ja verschmachten.« (551)
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Die Fürstin hält den Schreiber auch am nächsten Tag noch für den Grafen. Der Schreiber, welcher die Fürstin liebt, deckt diese Täuschung nicht auf, sondern sonnt sich in der Vorstellung, er könnte tatsächlich von der Fürstin geliebt werden. Karl schließlich bekommt von den Ereignissen überhaupt nichts mit und pflegt weiterhin seine intime Kommunikation mit der Fürstin. Und die deutet Karls Verhalten als Zeichen seines inneren Konflikts (561). Karl stehe im Widerstreit seiner Wünsche, einerseits sich ihr hinzugeben, andererseits seiner Frau treu zu bleiben. Gerade weil die Liebeskommunikation zwischen Fürstin und Karl von Grund auf missglückt, gerät das Beziehungskarussell erneut in Schwung. Obwohl Karl keinen Ehebruch begeht, und die Situation gekonnt in der Schwebe bleibt, beginnt die Weltordnung der Kinder doch zu erbeben. Möglich macht dieses Verwechslungsspiel aber einzig die Tatsache, dass Karl weiterhin seine Welt strikt von Dolores trennt, weil er (genussvoll) alle seine alten Fehler wiederholt und offensichtlich in Sachen individualisierter Liebe nichts dazugelernt hat. An dieser Einschätzung lässt der Roman keinen Zweifel. Dolores hingegen hüllt sich in Schweigen und flüchtet sich in den (falschen) Glauben, Karl sei mit der Fürstin liiert. Den (erneuten) Ehebruch verrechnet sie als Buße für ihre frühere Schuld, weshalb sie sich verpflichtet fühlt, ihr Leid stumm zu ertragen: Der Gräfin war die Leidenschaft der Fürstin für ihren Mann nicht entgangen, aber ihr Zutrauen zu ihm blieb unwandelbar; sie glaube es eine notwendige Buße für ihre frühere Verwirrung von ihren Besorgnissen niemanden sagen zu dürfen; was er auch tun mochte, sie war nicht berechtigt ihm Vorwürfe zu machen. Mit hoher Festigkeit verschwieg sie jedem ihre Qual, als sie beide der Versuchung einer Reise sich so unbesorgt aussetzen sah; sie verschwieg es, als den Äußerungen der Fürstin zu entahnden meinte, daß sie mit ihrem Manne in enger Vertraulichkeit lebe. (562)
Dolores verrechnet die Ereignisse in den Code ihres Mannes. Sie kapituliert schweigend und kraftlos vor der Macht der Stärkeren. Ein Heilmittel für ihre Liebesbeziehung zu Karl – das spielt der Roman gnadenlos aus – ist dieses Verhalten nicht. Dass vielmehr die Kommunikationslosigkeit zwischen den beiden Partnern den Boden aller weiteren Missverständnisse bereitet, und das Paar damit nicht über seine anfängliche Annäherung hinauskommt, demonstriert der Roman, indem er Dolores’ Verlobungsring einen weiteren Auftritt vergönnt. Der Ring bindet die Episode zurück an den Anfang der Beziehung (vgl. Kapitel 3.2 dieser Studie) und an die unterschiedlichen Bedeutungen, die Dolores und Karl dem Ring zugeschrieben hatten. Dieser Prozess wiederholt sich bei einer Meerfahrt, die der Graf zu Ehren der Fürstin auf purpurnen Böten mit Musik besetzt, von vergoldeten Rudern getrieben, an einem sonnigen, stillen Tage veranstaltet [...], wo sich jedes in Erzählungen vergangener Geschichten ausließ. (563)
Der Graf zeigt »der Fürstin den Ring der Apostel in deren Mitte Christus, den Dolores noch immer an ihrem Finger trug.« (563) Dolores nimmt daraufhin den Ring von ihrem Finger, übergibt ihn der Fürstin. Da die Fürstin in dem Ring »einen 406
besonderen Talisman für die Treue des Grafen« (563) erkennt, nutzt sie die Gunst der Stunde und besticht den Zufall. Haben Dolores und Karl mit der dreisamen Bootsfahrt bereits den sicheren Hafen ihrer Ehe verlassen, kommt es jetzt, wie es kommen muss: ein paar Kinder traten lebhaft nach einer Seite, das Boot schwankte, die Fürstin schrie auf, und der Ring schnellte aus ihrer Hand ins Meer. Die Gräfin war untröstlich, aber der Graf, der den Unfall nicht minder tief empfand, hatte mehr Gewalt über sich; er wollte nicht die verehrte Freundin durch Vorwürfe kränken; er bat seine Frau zärtlich, dies kleine Zeichen ihrer Liebe nicht so zu beweinen, da ihnen so viel größere übriggeblieben. (563)
Karl spielt den Verlust des symbolträchtigen Objekts herunter und versucht, die für ihn komfortable Vierecksbeziehung zu seinen nun insgesamt drei Frauen auf diese Weise zu stabilisieren. Dafür nimmt er in Kauf, dass er den Wert, den er dem Erbstück seiner Mutter zuvor zugesprochen hatte, jetzt zurücknimmt. Dolores hingegen, welche die Wertmaßstäbe ihres Mannes zuletzt übernehmen musste, interpretiert die Situation anders: Diese scheinbare Gleichgültigkeit deutete Dolores auf ein Erkalten seiner Liebe, so wie den Verlust des Ringes auf den Untergang ihrer glücklichen Ehe; aber in stiller Buße sagte sie davon kein Wort, nur mit heimlichen Gebeten suchte sie ihr Schicksal abzuwenden, das durch ein zutrauliches Wort mit ihrem Manne zu lösen war. (563)746
Dolores erkennt in den Zeichen ihrer Umgebung den Hinweis, dass ihre Ehe zerfällt und ihr Mann sich für die Fürstin entscheidet. Zur Verständigung zwischen den Partnern kommt es nicht. Dolores Lesart kommt nicht einmal zur Sprache. Da Dolores jeder Handlungsspielraum genommen ist, sinkt sie – gefangen »in ihrer tiefen Demütigung« (567) – in »einer Ohnmacht nieder« (ebd.). Ihre Ohnmacht verweist zurück auf die »Versöhnung« in der Kapelle, und damit auf ihre absolute Machtlosigkeit gegenüber ihrem Mann. Schrittweise gibt sich Dolores selbst auf; ihre Ohnmacht bringt sie ihrem Tod für einen Moment bereits schon einmal sehr nahe. 7.5
Dolores’ Liebestod
Dolores’ Hoffnung, mit ihrer »Buße«, mit ihrer Aufgabe aller Ansprüche und persönlichen Eigenschaften aus dem Bann der Wiederholung austreten zu können und noch einmal ganz von vorne, am Ursprung ihrer Liebe anfangen zu können, entpuppt sich als Illusion. Der Roman führt vor, dass dies nicht der Weg für die romantische Liebe sein kann. Das Liebeskonzept fordert zwei egalitäre Partner, die sich gegenseitig in ihrer Persönlichkeit anerkennen. Dolores’ Selbstaufgabe rettet
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Auf diese unterschiedlichen Sinnzuweisungen weist bereits Nicola Kaminski hin. Dies., Kreuz-Gänge, S. 253f. (vgl. Kapitel 3.2 dieser Studie).
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die Liebe nicht, sondern destabilisiert sie, weil sie so ohne Gegenwehr, ohne aktive Suche nach Austausch und Kommunikation äußeren Kräften ausgesetzt ist. Mit ihrem Entschluss, sich selbst aufzugeben, hat Dolores längst auch schon ihr Schicksal entschieden. Indem sie sich freiwillig und wehrlos in die Fallstricke der Liebesverhältnisse ergibt, sie sich der Macht der anderen ausliefert, hat sie sich auch dem Tod ergeben. Demonstrativ bestimmen daher auch die einzelnen Personen, zu denen Dolores’ eine intime Beziehungen unterhält (also Karl, Johannes, Klelia, ihr Vater, die Fürstin und damit indirekt auch ihre Mutter), mit ihren Handlungen Dolores’ Todestag. Additiv reiht der Roman diese einzelnen Liebesverhältnisse mit ihren nicht enden wollenden Verstrickungen aneinander. Er nimmt alle Fäden noch einmal auf, die Dolores’ Liebeskommunikation bestimmt haben, und verwebt sie narrativ. Der Roman initiiert noch einmal einen Kreisschluss. Und Dolores stirbt in dem Moment, in dem sich alle Fäden verknüpfen. Die Erzählung löst nun den vorherigen Schwebezustand auf. In den Tod führt Dolores kein katastrophaler Akt, sondern die Koinzidenz unterschiedlicher Ereignisse, die sich miteinander vernetzen. In Gang kommt diese Ereignisfolge, indem der Schreiber dem Grafen P* von der Liebe der Fürstin zu Karl berichtet: Der Schreiber, immer besorgter das Geheimnis jener Nacht möchte verraten werden, hatte inzwischen gleich nach der Rückkehr vom Ätna einen Brief an den Minister über die Leidenschaft der Fürstin zu seinem Schwiegersohn geschrieben. (588)
Dolores Vater entschließt sich in Folge dieses Briefes, umgehend nach Italien aufzubrechen, und zwar nicht etwa, um seine Tochter zu schützen, sondern weil ihn seine Eifersucht auf Karl antreibt: »So wenig der Minister die Untreue bei Männern für etwas Bedeutendes hielt, so war sie ihm doch unangenehm an seinem Schwiegersohn; er wollte ihn nicht gerne an der Stelle sehen, wo er selbst einst gestanden.« (589) Aus Sicht des Vaters hat Karl den Konkurrenzkampf auf die Eroberung der Fürstin ausgedehnt. Und auf dem Feld der Verführung will sich der alte Haudegen nun wirklich keine Niederlage gegen seinen Konkurrenten nachsagen lassen. Eine moralische Legitimation des Vaters kann man sich wohl ersparen. Wichtiger aber ist, dass der Vater mit seiner Italienreise aktiv in das Liebesgeflecht eingreifen will, das Dolores umgarnt hat. Der Graf beschließt, die symbolische Machtposition, die er gegenwärtig noch einnimmt, wieder durch seine körperliche Anwesenheit zu ersetzen. Mit seiner Reise nach Italien nehmen neben der Konkurrenz um die Gunst der Fürstin auch Dolores’ ödipaler Liebe, der Wettstreit um die Position an Dolores’ Seite sowie die Konfrontation der Wertesysteme reale Züge an. Allerdings gewährt der Roman Dolores und Karl noch eine Karenzzeit. Sie dauert solange, wie der Vater in seiner Kutsche von Süddeutschland nach Italien reist. Es wird, so viel kann man vorwegnehmen, nicht zur offenen Konfrontation kommen. Denn es geht dem Roman nicht darum, die angelegten Konflikte noch weiter auszugestalten, sondern, die diskursiven Fallstricke mit allen ihren Verwicklungen an Dolores’ Totenbett vollzählig zusammenzuführen. Der Vater kommt – aus Sicht der Ro408
manstruktur – damit sich der Kreis schließt, den die Erzählung mit der ödipalen Struktur von Dolores’ Liebe eröffnet hat. Während Dolores’ Vater reist (und auf dieser Reise auch noch den Erbprinzen trifft), spitzt sich in Italien die Dreiecksbeziehung zwischen Dolores’ Karl und der Fürstin weiter zu, und zwar gefördert durch die Sprachlosigkeit des Ehepaares, durch Karls strikte Trennung seiner Lebenswelt von seiner Frau, durch sein Spiel mit ambivalenten Zeichen und die unterschiedlichen Deutungen, die dieses evoziert. So hat Karl seine Frau am vermeintlichen Jahrestag ihrer »Schuld« keineswegs vergessen, er wollte sie mit einem angenehmen Geschenke überraschen und der Goldarbeiter in Palermo hatte es nicht beendigt, es war ein breiter Goldring, auf welchem zwölf Planetenzeichen mit Perlen eingelegt waren; er sollte zum Ersatz des verlorenen Verlobungsringes dienen und in dem Bilde des ewig sich verjüngenden Jahrs, die ewig sich verjüngende Liebe darstellen. (653)
Weil Karl es vor Ungeduld, den Ring endlich abzuholen kaum aushält und weil er überdies fürchtet »in dieser Stimmung ihr das ganze Geheimnis, die nahe Ankunft ihres Vaters zu verraten, von dessen Reise er den Tag vorher die erste Nachricht bekommen« (653), weicht er seiner Frau aus. Karl geht ausgerechnet zur Fürstin, um dort zu musizieren. Die wiederum missdeutet seine Unruhe und das »Trauernde seiner Melodie, sie glaubte darin eine verhaltene Sehnsucht ausgedrückt.« (563) Sie beschließt, Karls vermeintliches Liebesleid zu beenden und ihn bei seiner Frau auszulösen. Mit Geheimnissen und Missverständnissen beginnt der Tag, mit Fehldeutungen geht er weiter. Als Karl aufspringt, um endlich nach Palermo zu reisen, er die Fürstin aber bittet, seine Reise gegenüber seiner Frau zu verschweigen, ist erstere sich »ganz gewiß, daß ihn dieselben Scheidungspläne von seiner Frau beschäftigten, worüber sie den ganzen Morgen nachgedacht.« (657) Dolores hingegen hat zunächst am frühen Morgen dieses 14. Julis einen Brief ihres Sohnes Johannes erhalten. In diesem teilt er ihr mit, sich endgültig für ein strenges Klosterleben entschieden zu haben. Wie bereits oben gezeigt, steht dieser Entschluss in Kontinuität zum hochgradig ambivalenten und gefahrvollen Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Die Mitteilung per Brief, ein einseitig geführter Dialog, der keine unmittelbare Widerrede erlaubt, macht deutlich, dass Dolores sich seiner Entscheidung zu beugen hat, wie auch immer sie zu dieser steht. Außerdem hat Dolores am Morgen beobachtet, wie ihr Mann mit seiner Gitarre zur Fürstin gegangen ist (653). Sie schließt daraus, dass er einmal mehr, ohne sie zu beachten, zu seiner neuen Muse eilt. Dolores bleibt im Haus zurück. Sie tröstet sich mit einem Blick zum Jesusbild an ihrer Wand, das jetzt zum Stellvertreter ihres Mannes wird, indem es den vorherigen Fensterblick substituiert. Als Dolores – bereits ihrem Schicksal ergeben – die Bibel aufschlägt, werden »ihre Augen zufällig auf den Spruch geführt, den Christus zu dem armen Sünder sagte: Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.« (653) Was der Roman von diesem paradiesischen Versprechen hält, hat er mehrfach markiert. Interessanter als das Erlösungsversprechen ist daher, dass Dolores’ Bibellektüre exakt das Gespräch mit 409
ihrem Mann ersetzt, das ihre Lieben und ihr Leben retten würde. Die Parallelität der Ereignisse, bei der sich Dolores’ und Karls Leben in keinem Punkt berühren, führt konsequent vor, dass ein offenes Gespräch zwischen Dolores und Karl den Schwebezustand zum Guten auflösen könnte und alle aufgezeigten Komplikationen ausräumen würde. Aber zu diesem Austausch kommt es nicht, weil der Graf – wie schon beim Verlobungsring – seine Frau nicht an seinen Entscheidungen teilhaben lassen will und ihr weder von seinem Ringkauf noch von der Ankunft ihres Vaters berichtet. Nicht des Ehebruchs, sondern der immer gleichen strukturellen Gewalt und Demütigung macht sich Karl ein weiteres Mal schuldig. In Palermo – so gnadenlos knüpft der Roman seine Fallstricke weiter – holt Karl nun nicht nur den Goldring ab, sondern er trifft zudem dort auch Dolores’ Vater. Gemeinsam kehren sie zu Klelias Landgut zurück. Währenddessen beichtet die Fürstin Dolores, dass sie und Karl sich gegenseitig lieben würden. Dieses Geständnis besiegelt aus Dolores’ Sicht nicht nur den Verlust ihres Mannes. Für sie spielt sich noch ein ganz anderes Szenario ab. Aus ihrer Perspektive wiederholt sich jetzt an ihr die Geschichte ihrer Mutter. Auch die wurde ja von der Fürstin betrogen und noch einmal gedemütigt, als die Fürstin ihr nach der Flucht des Vaters aus Missgunst einen Indult verwehrte und ihr damit wohl den Todesstoß erteilte (110). Dolores wird demnach gleich dreifach gedemütigt, als Tochter ihrer Mutter, als Ehefrau und als Mutter ihrer Kinder. Doch sterben müsste Dolores von dieser Herabsetzung sicherlich nicht. Zumal sie den (falschen) Verdacht der Fürstin ja schon lange teilt. Außerdem fügt ihr im physiologischen Sinne auch niemand eine tödliche Wunde zu. Auch auf einem theatralisch inszenierten Selbstmord verzichtet sie. Diese Rolle kommt der MedusenBecher servierenden Fürstin zu, die sich und den Schreiber vergiftet, nachdem sie in der Schublade des Schreibers das Amulette gefunden hat, das sie ihm in der Nacht am Ätna für ihre Liebesdienste zugesteckt hatte. Dolores stirbt also einen (aus medizinischer Sicht) rätselhaften Tod. Von keiner Krankheit geschlagen, von keiner plötzlichen Erkenntnis überrascht, sich nicht einmal der Indizien gewiss, gibt es eigentlich keinen Grund zu sterben. Der Leser erfährt nur: »sie ringt mit fürchterlichen unerklärlichen Träumen, die ineinander sich vermehren und keiner mehr beschwichtigen kann.« (670) Der rätselhafte Charakter von Dolores’ Tod, lässt schließlich den Erzähler pathetisch ausrufen: »Ewige Gerechtigkeit, warum mußte sie sterben« (671). Mit der Frage nach der Nemesis bringt er gezielt eine höhere Gewalt ins Spiel. Und tatsächlich hat der Erzähler in einer philosophischpoetologischen Reflexion gleich zu Beginn des Kapitels sein eigenes Gedankenexperiment in Beziehung zu Gottes Liebe gesetzt: Wunderbares Nachdenken, ewges Schaffen, du unsichtbare Sonne, in der die Taten reifen, die Begebenheiten in ewigem Wechsel von Frühling zu Frühling fortschreiten; allgegenwärtiger Strahl, der übers Meer und in die Tiefen leuchtet, während er die Höhen zugleich vergoldet, wo ist dein Sitz und deine Quelle? Dieser sterbliche Körper ist dein Zeichen und ein göttliches Zeichen, aber was herrlich im allgemeinen Leben, das denket alles in Gott, alle herrlichen Gedanken sind Strahlen seiner Liebe, Gottsöhne vom
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heiligen Geiste empfangen, so mannigfaltig hat sich verkündet der Herr aller Zeiten, allen Völkern, wie die Wärme durchdringt er die kalte Welt und regt sie an zu neuer Verbindung. Wehe dem, der sich dem göttlichen Strahle verschließt, und in eigener Lust sich der allgemeinen Liebe verschließt. (648)
Könnte man ohne diese Textstelle noch von einer religiösen Volte des Romans ausgehen, so lässt der Erzähler hier keinen Zweifel, dass er und kein anderer auch im letzten Kapitel als »Textgott« die Geschehnisse nach den Vorgaben seines Gedankenexperiments lenkt. Der melancholisch Liebende inszeniert noch ein letztes Mal sein immergleiches Spiel. Er knüpft bei Dolores’ Tod die Stränge. Wenn er behauptet, alle Gedanken seien »Gottsöhne vom heiligen Geiste empfangen« verbindet diese Metapher zwar kalkuliert das religiöse mit dem familiären Register. Aber eine schrägere Allegorie als diese kann man sich auch schwerlich vorstellen: Gedanken als Gottessöhne, der heilige Geist als sie empfangende Frau, das sind nach der Dekonstruktion des religiösen Codes zuvor, nur noch leere Pathosformeln. Auch und gerade im letzten Kapitel führt der Textgott also selbst Regie, und zwar im Sinne seiner »melancholischen Liebe«, deren Programm er konsequent umsetzt und so bis zuletzt dafür sorgt, dass sich das Wechselspiel aus Trennung und neuer Verbindung in immer neuen Zirkulationsschleifen fortsetzt. Bei Dolores Tod handelt es sich also um Regietheater, bei dem nichts dem heraufbeschworenen Zufall überlassen ist, sondern jedes Detail akribisch geplant wird. Ihr Tod ist nun als ein (letzter), stiller Akt weiblicher Autorschaft zu lesen. Dolores inszeniert keinen theatralischen Auftritt, bei dem sie sterbend noch einmal die Autonomie des Subjekts behauptet. Diese Rolle, an der Karl ja zuvor gescheitert war, kommt der Fürstin zu. Dolores hingegen scheidet als melancholisch liebende Autorin aus ihrem Leben. Sie löst sich – wissend um die Verstrickungen der Liebe sowie um die Materialität der Zeichen – still und leise in den unterschiedlichen Positionen auf, welche ihr die Liebe zuschreibt. Ihre Persönlichkeit verschwindet schlicht hinter den Rollen der Tochter, der Ehefrau, der Schwester, der Konkurrentin, der Betrogenen, der »Sünderin« und der Mutter sowie all den Verstrickungen, die mit diesen Beziehungen verbunden sind. Zeichen dafür ist Dolores’ absolute Passivität und Selbstaufgabe in die Macht der anderen. Ihre Passivität hebt der Roman bereits dadurch hervor, dass er keines der letzten Geschehnisse aus Dolores’ Perspektive erzählt. Die Ankunft Karls und des Vaters wird aus Klelias Perspektive geschildert. Hatte Klelia sich zu Beginn des Romans noch hinter verschlossenen Türen verschanzt, schaut sie jetzt in einem Schlossfenster stehend nach Karls Kutsche aus. Die anschließende Todesszene der Fürstin erlebt der Leser mit den Augen von Dolores’ Vater. Und erst als dieser sich von der toten Fürstin trennt und endlich Dolores’ Kammer betritt, erreicht auch der Leser die Protagonistin wieder. In der Kammer haben sich bis dahin, ohne dass Dolores selbst sie gerufen hat, auch Karl, Klelia und Johannes versammelt. In diesem Moment schaltet die Erzählung zu Nullfokalisierung um, der Leser sieht aus einer omniszenten und damit »gottgleichen« Perspektive auf den Kreis, den Vater, Schwester, Ehemann und Sohn um Dolores bilden. Zu Dolores selbst schaltet die Perspektive bis zu ihrem Tod nicht 411
mehr um. Sie wird stets von außen, durch die Augen anderer betrachtet. Und diese Blicke figurieren sie im Folgenden als Sterbende. Wenn nun alle geliebten Personen um Dolores stehen, so ist der Kreisschluss vollzogen, auf den es der Roman anlegt. Denn noch einmal sind in dieser letzten Kommunikation alle Beziehungsmuster und -komplikationen präsent. Die Logik von Dolores Tod erschließt sich aus ihrer Einsicht, dass sie gegen die Komplexität, die grundlegende Ambiguität, die ständige Bedrohung ihrer einzelnen Liebesbeziehungen nicht ankommen kann. So mögen es alle Umstehenden gut mit Dolores meinen, letztlich führen sie Dolores vom Leben in den Tod über, indem sie alle ambivalente Zeichen aussenden, die zeigen, auf welcher instabilen Ordnung ihre jeweilige Beziehung zu Dolores beruht. So mag es Dolores trösten, als sie von ihrem Mann erfährt, dass er ihr nicht untreu geworden ist, und die Fürstin sich das Leben genommen hat, aber an den Grundlagen ihrer Liebesbeziehung ändert dies nichts. Das führt der Roman demonstrativ vor, wenn Dolores zwar auf dem Sterbebett endlich den zur Verlobung versprochenen Goldring geschenkt bekommt. Aber erstens hat Karl den Ring eigenmächtig, ohne jede Absprache mit seiner Frau ausgesucht und bestätigt auf diese Weise die patriarchalischen Machtstrukturen, die er bei der Verlobung einführen wollte. Zweitens repräsentiert der Goldring in Dolores’ und Karls Liebesgeschichte nur den Anfang aller Missverständnisse und nicht etwa einen Neuanfang. Selbst der von Dolores gewünschte Goldring war nur der Ersatz für den Haarring der eigentlichen Verlobung und ist somit bereits Teil der endlosen Zirkulation (vgl. Kapitel 3 dieser Studie). Und drittens ist dem Ring selbst ein semiologischer Riss eingeschrieben, weil er zwölf Planetenzeichen darstellt, obwohl es doch nur sieben gibt. Die Ringübergabe begründet nur oberflächlich den Ehebund des Paares neu, stellt diesen aber keineswegs auf einen sicheren Grund, sondern perpetuiert nur wieder die Gefahr. Ebenso zwielichtig erscheint auch der Auftritt des Vaters, der zunächst die Fürstin in den Tod begleitet, bevor er sich schließlich doch noch Dolores zuwendet. Der Vater verkörpert aus Dolores’ Perspektive, als er jetzt an ihrem Sterbebett steht, nicht etwa den Retter aus der höchsten Not, sondern das zerstörte Ideal ihrer Kindheit, der das Liebesleid seiner Tochter als erste Instanz zu verantworten hat. Er personifiziert die Konkurrenz zu Karl und dessen Wertsystem und damit die Bedrohung von Dolores’ Lebenswelt, und er steht für den Tod ihrer Mutter, den der Vater leichtfertig in Kauf genommen und der sich um ein Haar an ihr wiederholt hätte. Dolores gibt sich unter den Blicken ihres Vaters als liebende Tochter, als Wiedergängerin und als Rächerin ihrer eigenen Mutter dem Tod hin. Auch Klelia erscheint aus Dolores’ Sicht erneut als Schwester, als Konkurrentin und als potentielle Nachfolgerin an Karls Seite zugleich. Und selbst Dolores’ Lieblingssohn Johannes tritt in einer eigenartigen Doppelrolle auf. Einerseits kehrt er wie Jesus’ Lieblingsjünger Johannes zum Sterbett der (heiligen) Mutter (Maria) zurück, um sie nach dessen Vorbild zu trösten und ihr das letzte Sakrament zu spenden. Andererseits ist es ausgerechnet er, der als Nachfolger des Markese und verführerischer Sohn den Körper seiner Mutter als letzter berührt, und zwar am 14. Juli, am Tag der Demütigung. Diese Inszenierung macht deutlich, für Dolores gibt es kein Entkom412
men aus der endlosen Zirkulation der Liebeszeichen und der Verstrickung in die demütigenden Liebesbeziehungen. So wie bisher würde es immer weiter gehen. Dolores’ Tod vollzieht sich nun – da er in Kontinuität der vorherigen Selbstaufgabe verläuft – wenig spektakulär. Ihr Tod ist keine Katastrophe, sondern treibt nur einen Schritt weiter, was sich die gesamte Zeit über entwickelt hat: Dolores gleitet in den Tod über: So heißt es, Dolores litt »schon seit einiger Zeit an Ohnmachten« (659). Von der Ohnmacht zum Tod ist es für Dolores offenbar nur ein schmaler Grad. Sie löst sich vor den Augen ihrer Familie und des Lesers wie eine Spinne im Netzwerk ihrer unterschiedlichen Liebesbeziehungen auf. Sie gibt nach ihrer Persönlichkeit jetzt ihr Leben preis. Mit diesem Akt der Autorschaft gibt sie sich dem Medium Schrift hin und wird so zur Geschichte der ›Gräfin Dolores‹. Der Tod setzt – gleichsam über ihren Kopf hinweg – der Erzählung einen Endpunkt, aber er markiert zugleich auch, dass die Zirkulation ungebrochen weitergeht. Mag auch die analytische Seite der enzyklopädischen Liebeserzählung mit Dolores’ Tod einen Endpunkt finden, mag auch dem Gedankenexperiment nichts mehr hinzuzufügen sein, so markiert doch der Tod auch den Einsatzpunkt des changierenden Romantextes, dem die melancholische Liebe grundlegend eingeschrieben ist. Dolores Tod ist keine späte Rache, sie ist aber auch kein Happy-End. Die Gefahr, die vom Roman ausgeht, ist mit Dolores’ Tod keineswegs gebannt. Das gilt nicht nur auf der Ebene des discours, auch die Zirkulation auf der Ebene der histoire setzt sich über den Tod hinaus fort. Von einem »Schluß der Geschichte« (648) wie ihn das letzte Kapitel ankündigt, kann in einem apokalyptisch-geschichtstranszendeten Sinne einer teleologischen Heilsgeschichte keine Rede sein.747 Dass sich die Geschichte entgegen den Vorgaben eines triadischen Geschichtsmodells einfach nach den altbekannten Prinzipien fortsetzt, zeigt sich bereits daran, dass nur die Männer die Geschichte der Gräfin Dolores’ überleben, während die Frauen sterben. Die Ausnahme bildet Klelia, die allerdings als kinderlose Witwe und Landesherrin ein Leben nach männlichen Maßstäben führt. Das Patriarchat behauptet demnach seine Macht. Das aber schützt Karl keineswegs davor, in den Fängen seiner alten Fehler verhaftet zu bleiben. Er überträgt sie jetzt auf seine Beziehung zum Prinz von Palagonien. Der »schien ihm eine einsame Insel, die aus einem wilden Meere, das ihm alles entrissen, hervorgegangen, ihn freundlich aufgenommen und erhalten hatte. [meine Hervorhebung, C. M.]« (673) Mit seiner Inselmetapher ist Karl also wieder bei seiner bevorzugten Projektion angelangt, er setzt sein altes Liebesspiel einfach weiter fort, jetzt unter der Chiffre einer homoerotisch konnotierten »Freundschaft«. Prompt wird der Prinz zu seiner Muse, der Karl »den Gedanken eines Denkmales auf die Dolores« eingibt. (674) Nach den altbekannten Liebesprinzipien verläuft dann auch Karls Erinnerung an seine Frau. Wenn der Graf seiner Frau im Ange-
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Auf diesen Doppelsinn weist erstmal Offermanns hin, vgl. Ernst L. Offermanns, Achim von Arnims Beitrag zu romantischen Roman, S. 122. Vgl. dazu auch Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 294.
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sicht seines Doloresdenkmals gedenkt oder sich ihrer im Anblick des vom Prinz von Palagonien wieder gefundenen Verlobungsrings erinnert, heftet seine Erinnerungskünste an polyseme Zeichen.748 Und da Karl »alle Liebe, die der Graf mit diesem Ringe der Verstorbenen geschenkt hatte, [...] nun zu dem ewigen göttlichen Vorbilde aller Leidenden, den dieser Ring in dem Kreise der Aposteln darstellte« (675) wendet, bespiegelt er sich ein weiteres Mal narzisstisch selbst. Wenn er sich schließlich durch diesen Anblick gestärkt fühlt, »bei dem Rufe seines bedrängten Vaterlandes, sich von dem Grabe seiner Dolores loszureißen, den Deutschen mit Rat und Tat, in Treue und Wahrheit bis an sein Lebensende zu dienen« (675) bedeutet dies für das Land, das es um 1800 nicht gibt, nichts Gutes. Denn Karl hat seinem Verhalten nichts gelernt, und wird demnach wohl den männlichen Liebesreigen fortsetzen. Was seine Rückkehr nach Deutschland also verspricht, ist Erzählmaterial für weitere Liebesromane nach dem Vorbild von Arnims ›Gräfin Dolores‹. Der eigenen Poetik melancholischer Liebe sagt der Roman eine große und lang anhaltende Karriere voraus. Diese Prophezeiung erscheint am Ende des Romans alles andere als gewagt. Denn dem Vorbild ihres Vaters Karl, der mit seiner Rückkehr augenscheinlich im Zeichen melancholischer Liebe handelt, »folgten seine Söhne mit jugendlicher Kraft« (675). Die Söhne aber – so muss man wohl ergänzen, um die Wiederholungsstruktur deutlich zu machen – wachsen allesamt ohne Mutter auf, ihnen und ihrem Leben ist daher von Kindesbeinen an die melancholische Liebe eingeschrieben.
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Sowohl Michael Andermatt als auch Nicola Kaminski weisen auf die Ambivalenz des Apotheosemotivs am Schluss der ›Gräfin Dolores‹ hin. Michael Andermatt, Happy-End und Katastrophe. Die Erzählschlüsse bei L. Achim von Arnim als Form romantischer Ironie. In: Ders. (Hg.), Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim, Bonn 1994, S. 11– 33, hier S. 24. Nicola Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 298ff.
IV. Zusammenfassung und Schluss
Betrachtet man Achim von Arnims ›Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores‹ aus einer Perspektive, die Kulturwissenschaft, Narratologie und Semiologie ineinander verschränkt, entpuppt sich der Roman als literarische Enzyklopädie, welche die Gestalt eines melancholischen Liebesromans trägt. Die ›Gräfin Dolores‹ leistet im Rahmen ihrer Erzählung sowohl eine akribische Bestandsaufnahme als auch eine scharfsinnige Analyse aller brisanten Aspekte, welche das romantische Liebeskonzept um 1800 aufwirft. Darüber hinaus ist ihr analytisches Interesse an der individualisierten Liebe von Beginn an poetologischer Natur. Arnims Roman reflektiert, auf welche Weise Liebe zu erzählen ist. Als Metaroman hinterfragt er die konventionellen Erzählweisen der Liebe. Da die ›Gräfin Dolores‹ – wie sich im Rahmen der Untersuchung gezeigt hat – eine ausgeprägte Vorliebe für die Figur des Dritten hat, der in die (vermeintliche) Harmonie eindringt, deren grundlegende Gefährdung aufzeigt und sie letztlich durch eine neue Ordnung substituiert, kann man dem Romanprojekt im Hinblick auf seine Stellung im Diskurs der Liebesromane exakt diese Position zuschreiben. Arnims Roman tritt seinerseits in die konventionellen Ordnungsmuster empfindsamer und romantischer Erzählungen ein, legt deren »innere Logik« offen und etabliert somit ein anderes, realistisches Liebeskonzept. Zudem macht er deutlich, dass die konventionellen Erzählmodelle daran mitgewirkt haben, den »Mythos romantische Liebe« zu etablieren. Er entwickelt deshalb neue, den strukturellen Problemen der Liebe angemessene Erzählweisen. Allerdings verwirft er weder das romantische Liebesmodell noch dieselben Erzählmuster vollständig, sondern partizipiert weiterhin an diesen, um in der dialogischen Auseinandersetzung mit der Tradition einen kritischen Randgang zu initiieren. Dies gelingt dem Roman mit dem Erzählprinzip des changent taft. Er inszeniert sich als eine Textur, die man stets zugleich in die eine wie in die andere Richtung streichen kann. Diesem doppelten, dekonstruktiven Verfahren unterzieht der Text zunächst das romantische Liebesmodell selbst. Anhand von Dolores’ und Karls Liebesinitiation inszeniert er zum einen alle Topoi und Ideale individualisierter Liebe, um zum anderen scharfsinnig die Aporien dieses Konzepts aufzuzeigen. Diese doppelte, sich der Idealisierung der Liebe verweigernde, Erzählweise stellt um 1800 eine narratologische Neuheit dar. Entgegen der konventionellen Liebesversprechen verschmelzen Dolores und Karl nicht in gegenseitiger Liebe. Sie finden sich zwar als Paar, aber eine Symbiose können sie zu keiner Zeit eingehen. Ihr Liebesglück ist von Beginn an eingeschränkt, obwohl sie jeder für sich Liebe empfinden. Das Glück bleibt 415
unvollkommen, weil das Gegenüber für den Liebenden letztlich immer opak bleibt und zu keiner Zeit vollständig verstanden werden kann. Es ist trügerisch, weil jede intime Kommunikation darauf beruht, über die eigenen Vorlieben oder Idiosynkrasien Stillschweigen zu bewahren, und es leidet an dem semiotischen Problem, aufgrund der arbiträren Zeichenrelation nur unzureichend von den geäußerten Signifikanten, auf deren Bedeutung schließen zu können. Die Liebeskommunikation bleibt unausweichlich gestört, obwohl die Liebesmechanismen zugleich ineinander greifen und den Eindruck gegenseitiger Liebe vermitteln. Erzählt wird die Geschichte einer Liebesinitiation, die oberflächlich zwar glückt, gleichzeitig aber grundlegend misslingt. Diese erste, grundlegende Analyse romantischer Liebe zählt zu den herausragenden Leistungen von Arnims Roman. Das gilt zumal, weil es dem Text gelingt, seine radikale Kritik narrativ umzusetzen. Diese Erzählung erkennt die Probleme romantischer Liebe nicht länger darin, dass sie von widrigen Umständen bedroht sei. Sie zeigt, dass die Logik des Liebeskonzepts selbst aporetisch ist (Kapitel 2 der vorliegenden Studie). Mit dieser Einschätzung unterscheidet sich Arnims Analyse nicht nur von seinen literarischen Vorgängern, sondern darüber hinaus sogar von den literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die – wie Wegmanns und Koschorkes Studien – in jüngster Zeit noch die Probleme des Liebeskonzepts in erster Linie in seiner Mediologie festgemacht haben. Diese mediale Kritik vollzieht Arnims Roman erst im zweiten Schritt. Während der Brautzeit seiner Protagonisten nutzt er das Unruhepotential, das dem Liebeskonzept eingeschrieben ist. Da er davon ausgeht, dass die beiden Liebespartner unausweichlich durch die Materialität jener Zeichen voneinander getrennt sind, die zwischen ihnen zirkulieren, erprobt er nun unterschiedliche Kommunikationsformen. Er untersucht, ob und inwiefern sie den (kommunikativen) Totalitätsund Individualitätsanforderungen des Intimsystems »Liebe« gerecht werden. Die ›Gräfin Dolores‹ zeigt das Potential und die Grenzen der Liebeskommunikation im persönlichen Gespräch, im Zuge des Briefverkehrs sowie der Malerei auf, und sie etabliert das Geld als neues Leitmedium, welches Dolores’ und Karls individualisierte Liebe nicht – wie konventionell behauptet – verhindert, sondern vielmehr erst ermöglicht. Das Liebespaar verleiht seiner Liebesbeziehung mit Hilfe seines – wie Eva Illouz es später nennen wird – »Konsums der Romantik« Dauer (Kapitel 3). Führt der Geldverkehr das Paar von der Brautzeit in die Ehe, so zeigt der Roman dort, im dritten Schritt, eine weitere Aporie des romantischen Liebesmodells auf. Er motiviert Dolores’ Ehebruch aus dem Konflikt, dass die um 1800 naturrechtlich legitimierte Geschlechterordnung sowie das mit dieser verbundene romantische Ehekonzept der Frau alle jene Rechte absprechen, welche ihnen zuvor die auf Egalität beruhende, individualisierte Liebesentscheidung zusichert – ja, ohne die eine individuelle Liebesinitiation unmöglich wäre. Die Modelle romantischer Liebesinitiation und Ehe schließen sich gegenseitig aus. Scharfsinnig arbeitet der Roman hinter dem Rücken seiner männlichen Protagonisten, Karl und dem Erzähler, die Mechanismen heraus, mit denen der Mann seine Ehefrau im Zuge des Ehealltags schrittweise entmündigt und demütigt. Aus Dolores’ Demütigung und der Enttäu416
schung ihrer Liebesvorstellungen motiviert der Roman den (liebeslogisch berechtigten) Wunsch seiner Protagonistin, aus ihrer Ehe auszubrechen. Doch Dolores’ Geschlechterkampf scheitert erneut. Jetzt an den falschen Egalitätsversprechen ihres Verführers, des Markese. Die Verführung besiegelt in Arnims Roman die Demütigung der Frau und die scharfe Kritik an der patriarchalischen Struktur des romantischen Ehemodells (vgl. Kapitel 4). Parallel zu Dolores’ weiblich konnotierter Liebesgeschichte entwickelt der Roman einen zweiten, »männlichen« Themenkomplex. Karl fungiert als Reflexionsfigur, um die Paradigmen von Liebe, Autorschaft und Subjektdiskurs in ihrer Interferenz zu durchleuchten. Karls Liebesgeschichte führt vor, wie der liebende, naive Künstler an seinem Versuch scheitert, sich seiner Gefühle in seiner Lyrik bewusst zu werden, seine Emotionen authentisch zu kommunizieren und dadurch seine Identität zu stabilisieren. Karl ist wider seinen Willen ein melancholisch liebender Autor. Dieses Gegenmodell einer reflektierten und polyphonen Autorschaft personifiziert im Roman der Verführer, Markese. Der versteht es, das Zeichenrepertoire seiner Vorgänger kunstvoll weiter zu verwenden. Karls Autorschafts- und Liebestragödie erlebt ihren Höhepunkt in seinem Selbstmordversuch, der seine Niederlage im Dichter- und Liebeswettbewerb besiegelt (Kapitel 5). Die kritische Revision romantischer Liebe und das Wissen um die strukturellen Grundbedingungen von Liebe, Autorschaft und (vermeintlicher) Identität setzt Arnims Roman auf der Ebene des discours in eine Poetik melancholischer Liebe um, der er mit seiner Erzählerfigur Stimme und Gestalt verleiht. Mit dieser Konzeption wendet Arnims Roman seine Reflexion poetologisch und (er)findet so die spätromantische Erzählform schlechthin, um aus einer kritischen Distanz von Liebe zu erzählen. Der Verfahrensweise des Romans entsprechend entpuppt sich die Erzählerfigur als ein changent taft. Einerseits ist sie in den Liebesreigen ihrer Figuren integriert und wird demnach von den erzählten Ereignissen unmittelbar affiziert. Andererseits seziert sie das Liebeserlebnis mit der Distanz und der Kühle eines Experimentators, lässt sich durch nichts von ihrem Gedankenexperiment abbringen und erweist sich als immun gegenüber allen Liebesgefühlen. Die Erzählerfigur trägt gleichzeitig die Züge des leidenschaftlichen Liebhabers, des kalkulierenden Verführers und des väterlichen Aufklärers. Sie vereint die beiden zuvor entworfenen Prototypen »Karl« und »Markese« dialektisch in sich. In dieser Doppelrolle spinnt sie den Leser in eine melancholische Liebeskommunikation ein und etabliert somit einen eigenen romantischen Liebescode (Kapitel 6). Das abschließende Kapitel der vorliegenden Studie zeigt, dass Arnims Roman bis zuletzt nicht hinter seine Erkenntnisse über das romantische Liebeskonzept zurückfällt, sondern diese bis zum »Schluß der Geschichte« konsequent ausspielt. Die vierte Abteilung verweist zunächst die Vorstellung, dass eine harmonische Liebe im Zeichen der Religion möglich sein könnte, in das Reich der Illusionen. Sie legt mit gadenloser Akribie dar, dass Dolores’ und Karls vermeintlicher Neuanfang kontinuierlich an den Aporien romantische Liebe krankt. Im darauf folgenden Schritt überträgt die letzte Abteilung des Romans die strukturellen Schwierigkeiten romantischer Liebe 417
auf die Familie. Diese Ausweitung der Gefahr leuchtet schon deshalb ein, weil auch das Familienleben seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf individualisierten Liebesbeziehungen beruht. Der Roman stellt anhand von Dolores’ und Karls Verhältnis zu ihrem zweiten Sohn, Johannes, sowie an Dolores’ Beziehung zu ihrem Vater dar, welche Gefahren es mit sich bringt, die Familienordnung auf individualisierten Liebesverhältnissen aufzubauen. Da die Aporien des Liebeskonzepts auch innerhalb der Familie jeder intimen Kommunikation eingeschrieben sind, gefährden sie grundlegend das Beziehungsgefüge. Der Roman weist die Liebe als Basis des Familienlebens als alternativlos aus, entwickelt seine Erzählung von Dolores’ und Karls Sohn Johannes gleichzeitig aber gezielt aus exakt jener Krisenanfälligkeit der Liebeskommunikation. Er zeigt, wie die Kommunikation der Eltern mit Johannes’ vollkommen scheitert und leitet aus dieser fehlgeschlagenen Erziehung und Bildung Johannes’ ödipale Liebe zu seiner Mutter ab. Dem Sohn bleibt letztlich nur, sich aus der Gesellschaft in ein Kloster zurückzuziehen. Johannes’ Kindheitsgeschichte verhandelt exemplarisch den drohenden Zerfall der Familie. Da die letzte Romanabteilung die Gefahren romantischer Liebe in keiner Weise entschärft, sondern mit der Religion und der Familie geradezu genüsslich zwei weitere Fundamente bürgerlichen Lebens kontaminiert, ist es nur folgerichtig, dass sich zuletzt auch Dolores’ Tod aus den Aporien des Liebeskonzepts erklärt. Dolores stirbt nicht etwa, weil sie gesündigt hat, sondern, weil sie liebt. Vollständig eingesponnen in das Beziehungsnetzwerk ihrer Familie, entzieht sie sich der Anforderung, gleichzeitig als Mutter, Ehefrau, Geliebte und Tochter lieben zu müssen. Dolores’ löst sich im Gewebe ihrer Liebesbeziehungen auf. Allerdings scheitert ihr Versuch, die potentiell unendliche Liebeszirkulation durch ihren Tod zu beenden. Der Liebesreigen dreht sich nach ihrem Tod munter weiter. Mit diesem liebesanalytischen und narrativen Programm erweist sich Arnims Roman als ein hochgradig reflektierter und zugleich innovativer Liebesroman. Zum einen kommuniziert – so würde die Systemtheorie angesichts der bisherigen Zusammenfassung resümieren – die ›Gräfin Dolores‹ also im »aufklärerischen Displacement«.1 Es geht ihr darum, ihren Lesern Erkenntnisse über die romantische Liebe und deren Erzählweisen zu vermitteln. Man darf über diese analytische Seite aber nicht vergessen, dass der »verwildertste Roman der Romantik« seine (imaginären) Leser zum anderen stets auch zu gefährlicher, risikoreicher, rauschhafter Lektüre verführt. Er legt es darauf an, dass seine Rezipienten sich im (Spiegel-) Labyrinth seiner wuchernden Geschichten verirren. Als changent taft kommuniziert er also auch in Form des »romantischen Displacements«.2 In diesem Paradigma spielt die Informativität eine untergeordnete Rolle: »Es geht nicht mehr vordringlich um das WAS, sondern um das WIE der Mitteilung.«3 Der Systemtheoretiker
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Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 36. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 36. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 36.
und Liebesforscher Peter Fuchs behauptet nun erstens, »daß diese Form für die Kunst typisch ist«. Zweitens konstatiert er: »Und das ist, was ich das Romantische an der modernen Liebe nenne, diese Auslenkung der Kommunikation, die, wenn ich so sagen darf, eine verunsachlichende Aussage ist. [Hervorhebung im Original, C. M.]«4 Vor der Folie dieser Einschätzung gewinnt das Liebeskonzept, welches die ›Gräfin Dolores‹ auf der Ebene ihres discours entwirft, noch einmal klare Kontur: Wenn Peter Fuchs allein das »romantische Displacement« als typisch für die Kunst und für das Romantische der Modernen Liebe ansieht, greift seine Einschätzung im Hinblick auf Arnims Roman offensichtlich zu kurz. Denn die kommuniziert ja in beiden Paradigmen gleichzeitig. Im Gegensatz zu Fuchs kann man anhand der ›Gräfin Dolores‹ daher festhalten: Erstens legt Arnims Roman höchsten Wert auf das WAS der Kommunikation. Offensichtlich versteht die ›Gräfin Dolores‹ Literatur (und damit sich selbst) ausdrücklich als ein Erkenntnismedium. Damit konstituiert zweitens der Roman ein Konzept romantischer Liebe, dessen Code das »romantische« mit dem »aufklärerischen Paradigma« vermittelt. Exakt diese dialektische Verschränkung macht das Moderne der romantischen Liebe und das (durch Arnims Roman neu definierte) Romantische an der modernen Liebe aus. Arnims ›Gräfin Dolores‹ erprobt und reflektiert bereits die Liebes- und Erzählmuster der Moderne. Dieses Fazit zeigt seinerseits, dass die semiologisch-narratologische Methodik, welche die vorliegende Studie in ihrem ersten Teil entwickelt, die Erwartungen eingelöst hat. Der erhebliche systematische Aufwand, eine neue methodische Blickweise auf den literarischen Liebesdiskurs zu entwickeln, ist somit gerechtfertigt. Er führt zu einer grundlegenden Neueinschätzung von Arnims Roman sowie von seiner Rolle innerhalb des literarischen Liebesdiskurses. Der Roman, dem bislang eine untergeordnete Position zugeschrieben wurde, bildet das Scharnier zwischen den empfindsamen und romantischen Liebesmodellen und -erzählungen einerseits und den nachfolgenden Liebeskonzepten und -narrativen des Realismus und der Moderne andererseits. Wenn man sich die Liebesromane, die seit der Erfindung individualisierter Liebe entstanden sind, eingeknüpft in ein dreidimensionales Gewebe vorstellt, so bildet Arnims Roman in diesem einen entscheidenden Knotenpunkt. Er nimmt die Fäden der zuvor entstandenen Romane auf, von ihm aus entspinnen sich die Muster zu den nach ihm folgenden Liebeserzählungen. Wenn die Verbindung aus kulturwissenschaftlicher und narratologisch-semiologischer Arbeitsweise eine solche Neubewertung von Arnims Roman nach sich zieht, wirft dies automatisch die Frage auf, ob dieser spezifische Blick auf den literarischen Liebesdiskurs nicht erlaubt, die Geschichte des Liebesromans neu zu akzentuieren, wenn nicht sogar, sie an einigen Stellen zu revidieren. Die Aufwertung von Arnims Roman legt die Hypothese nahe, dass die Fäden innerhalb dieses diskursiven Gewebes anders verlaufen könnten, als man bislang gedacht hat. Sie legt nahe, dass aus der neuen
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Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 37.
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systematischen Perspektive und in Relation zu Arnims ›Gräfin Dolores‹ betrachtet, einigen Klassikern des Liebesdiskurses neue Facetten abzugewinnen sind und wohl auch andere als die gemeinhin genannten »großen Romane« die entscheidenden Knotenpunkte des literarischen Liebesdiskurses bilden. Ohne zu behaupten, dass unüberschaubare Rhizom des literarischen Liebesdiskurses systematisch erschließen zu können, und im Wissen, dass es ein Widerspruch in sich und ein gewagtes Unterfangen ist, einerseits eine akribische Lektüre als Grundlage literaturwissenschaftlicher Liebesforschung einzufordern und sich andererseits im Eiltempo durch die Literaturgeschichte zu bewegen, nehmen die folgenden Überlegungen einige der Fäden auf, die sich von Arnims Roman aus entspinnen. Aus der Erfahrung mit Arnims Roman lässt sich schließen, dass aus der veränderten, systematischen Perspektive nicht länger die Romane zuerst in den Blick geraten, die sich einem einzigen Liebeskonzept verschreiben, es idealisieren und seine Inszenierung einseitig auf die Spitze treiben. Weniger also Schlegels ›Lucinde‹ oder Goethes ›Werther‹, als vielmehr die Romane, welche die Schnittstellen unterschiedlicher Liebeskonzepte bilden, geraten in den Fokus der Analyse. Denn sie sammeln als literarische Enzyklopädien die altbekannten Topoi und Narrative eines Liebeskonzepts, um sie zugleich durch neue Muster und Erzählweisen zu ersetzen. Damit bereiten sie einen Fundus auf, aus dem sich spätere Erzählungen bedienen, um ihrerseits einzelne Facetten auszubreiten sowie weiter zu differenzieren. Blickt man zunächst von Arnims Roman aus zurück in das 17. Jahrhundert, an den Beginn der individualisierten Liebe, so fällt dort besonders Sophie von La Roches ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ als eine solche literarische Enzyklopädie auf. Im Jahre 1771 erschienen, gilt sie schon zeitgenössischen Rezensenten als ein »sittsamer und empfindsamer Roman«5 Die Einschätzung hat sich in der Sternheim Forschung bis in die Gegenwart gehalten. Sie basiert auf der Charakterisierung der Titelfigur Sophie von Sternheim, einem jungen empfindsamen Fräulein, das auf dem Land aufwächst, und nach dem Tod seiner Eltern an den Fürstenhof kommt, wo es mit Lord Seymour sofort den Mann ihres Lebens trifft, dann aber zum Opfer einer Intrige wird, einen anderen Mann heiratet und am Ende doch noch in Lord Seymour ihre Liebe findet. Betrachtet man den Roman aus dieser Perspektive, ist die ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ ein Abgesang auf die höfische Galanterie und ein Loblied der empfindsamen Liebe. Als einer der ersten deutschsprachigen Liebesromane, der von einer Frau geschrieben und mit einer weiblichen Titelfigur ausgestattet ist, partizipiert der Roman zwar noch am höfischen Liebescode, aber nur, um auf dieser Negativfolie die empfindsame Liebe und ihre Erzählweise (den Brief) zu etablieren.
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Vgl. Albrecht Haller, Rezension zu Wielands Geschichte des Fräuleins von Sternheim, in: Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen, 118. Stück, vom 3. Oktober 1771, zitiert nach: Barbara Becker-Cantarino (Hg.), Sophie von La Roche. Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart 1983, S. 366f.
Eine narratologische Liebesstudie würde von dieser Einschätzung ausgehend zunächst die diskursive Organisation der ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ als polyperspektivischer Briefroman betrachten. Der Text besteht aus insgesamt zweiundfünfzig Briefen, die sechs unterschiedliche Figuren verfassen. Außer dem Fräulein von Sternheim – Urheberin von dreißig Briefen – beteiligen sich auch ihr späterer Ehemann, Lord Seymour (6 Briefe), dessen Bruder, Lord Rich (4 Briefe), Sophies vermeintlicher Ehemann, Lord Derby (9 Briefe), die Kammerzofe, Rosina (1 Brief), Madame Hills (1 Brief) und Sophies Onkel, Graf von R. (1 Brief) an der regen Korrespondenz. Durch die unterschiedlichen Briefschreiber entsteht die für diesen Roman charakteristische Polyperspektive (mehrfache interne Fokalisierung). Diese Erzählweise erlaubt, Alternativen zu Sophie von Sternheims Liebesgeschichte zu rekonstruieren. Es lassen sich mehrere, nämlich insgesamt vier Handlungsmuster und Liebesgeschichten in La Roches Roman konstruieren, obwohl alle Figuren die gleichen Erlebnisse teilen. Am interessantesten sind die Briefe Lord Derbys, denn diese zeigen, wie weitgehend La Roches Text die Empfindsamkeit als sprachliches Experiment versteht, das der Text gehörig ausreizt. Liest man Lord Derbys neun Briefe und betrachtet die erzählten Ereignisse aus seiner Perspektive, entwickelt sich – statt der oben erwähnten – eine ganz andere Liebesgeschichte: Ein Höfling verliebt sich in eine Unschuld vom Lande. Er verführt sie mit Hilfe von Ränken und täuscht ihr eine rechtmäßige Hochzeit vor. Da ihn seine Eroberung nach der Trauung schnell langweilt, verlässt er sie wieder, um sich in ein neues Liebesabenteuer zu stürzen. Derby ist ein Grenzgänger zwischen dem höfischen und empfindsamen Code. Er versteht es, in beiden Liebescodes zu kommunizieren, weil beiden dasselbe Zeichenrepertoire vom Musizieren, über den Tanz bis hin zum wechselseitigen »Blick in die Augen« zu Eigen ist. Damit aber führt Derby vor, dass die Zeichen der empfindsamen Liebe von vornherein ambigue sind. Sie verweisen nicht authentisch und eindeutig auf die Gefühle der Liebenden. Noch einen Aspekt führt der Roman anhand von Derby vor: Als Grenzgänger, der sich an kein Muster bindet, ist Sophies Verführer letztlich der einzige, der eine starke Tendenz zur Psychologisierung und Individualisierung aufweißt. Als Außenseiter am Rande der Gesellschaft ist Derby ein Prototyp Werthers. Im Gegensatz zu diesem aber ist Derby sich schon der Beschränktheit des empfindsamen Liebescodes bewusst und versteht es mit dessen Repertoire zu spielen. Mit ihrer Reflexionsfigur »Derby« läuft die ›Geschichte des Fräuleins von Sternheim‹ dem berühmtesten empfindsamen Liebesroman den Rang ab. Sie legt nicht nur die Erzählmuster an, die im ›Werther‹ dann weiter ausbuchstabiert werden, sondern reflektiert zugleich schon die Aporien empfindsamer Liebe. Sie kritisiert schon das, was Werther nach ihr noch idealisieren wird. Nimmt man diese Lesart ernst, deutet sich – nach der Aufwertung von Arnims ›Gräfin Dolores‹ – eine zweite Verschiebung innerhalb der traditionellen Ordnung des literarischen Liebesdiskurses an. Behält man die kulturwissenschaftlich-narratologische Sichtweise bei und betrachtet das Gewebe des literarischen Liebesdiskurses, wie es sich von Arnims Romanexperiment aus bis in die Gegenwart entspinnt, erscheint dieses weitaus kom421
plexer als beim Blick zurück. War die individualisierte Liebe zu Arnims Zeit knapp ein halbes Jahrhundert alt, so hat sie seither knapp 200 Jahre Bestand. Tatsächlich ist der Kern des »individualisierten Liebeskonzepts« bis in die Gegenwart unverändert derselbe geblieben. Seine Vorgaben sind immer noch ebenso verbindlich, wie um 1800. In diesem Punkt herrscht Kontinuität; kommt es zu keinem weiteren Bruch. Demnach etablieren die nachfolgenden Liebesromane keine grundlegend neuen Liebeskonzepte mehr. Keiner von ihnen lässt die individualisierte Liebe hinter sich. Denn sie wissen, dass es (zumindest bislang) keine alternative zu diesem Modell gibt. Diese Behauptung lässt zugleich den Schluss zu, dass Arnims Roman, indem er den Kern des romantischen Liebeskonzepts – die Spontaneität, Egalität, Totalität und die Symbiose der Liebenden – einerseits beschwört, um ihn andererseits radikal zu kritisieren, eine Art Spielrahmen abgesteckt hat, indem sich die Liebesliteratur vom 19. Jahrhundert an bewegt. Seither ziehen Liebesromane ihre narrative Kraft wie Arnims ›Gräfin Dolores‹ daraus, dass sie vor den Augen des Lesers die individualisierte Liebe inszenieren, aber stets darum Wissen, dass diesem Konzept grundlegende Aporien eingeschrieben sind. Die Romane haben sich die Struktur melancholischer Liebe zu Eigen gemacht. Sie inszenieren den Konflikt, dass man (individualisiert) lieben muss, obwohl man nicht lieben kann. Das bedeutet zugleich, dass die entscheidenden Veränderungen im literarischen Liebesdiskurs sich nicht im Austausch eines Liebeskonzepts durch ein anderes vollziehen, sondern anhand anderer Aspekte und auf anderen Feldern. Die Innovation einzelner Erzählprojekte entsteht vor allem dadurch, dass sie das Liebeskonzept über ihre Figuren, ihr Setting etc. mit jeweils aktuellen, und damit mit jeweils anderen oder neu kombinierten Diskursen verflechten. Sie inszenieren die melancholische Liebe in diachron sich verändernden Kontexten, konstituieren so spezifische Dispositive, aus denen sie dann ihre Narrative entwickeln. Zudem erproben die Romane (und ihre Figuren) immer wieder neue mediale Träger. Sie reflektieren, wie die individualisierte Liebe sich gegenüber jeweils veränderten kommunikativen Anforderungen bewährt, wie die intime Kommunikation per Telefon, Email, Handy und SMS funktioniert. Die Romane loten das Können (und die Grenzen) dieser Kommunikationsmedien aus. Und nicht zuletzt erreichen unterscheiden sich die einzelnen Liebeserzählungen dadurch, dass sie sich unterschiedlichen programmatischen Vorgaben jeweils aktueller Poetiken und Ästhetiken verschreiben. Ein realistischer Liebesroman will schlicht anders erzählt sein, als sein postmoderner Nachfolger, auch weil sein (imaginärer) Leser sich verändert hat. Aus diesem Innovationspool heraus, inszeniert der einzelne literarische Text einen jeweils eigenständigen semiologischen wie narratologischen Liebescode. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich nun zwei extreme Inszenierungsformen ab. Die erste Gruppe von Romanen legt es, im Wissen um die Aporien der Liebe, mit allen Mitteln darauf an, die romantische Liebe zu beschwören und sie konzeptuell gegen alle Hindernisse zu verteidigen. Diese Romane versuchen, den Kern des Liebeskonzepts bis in die Gegenwart hinein unangetastet zu lassen. Sie feiern die Liebe auf den ersten Blick, ihre Spontaneität und Totalität. Das heißt nicht, 422
dass diese Romane unreflektiert oder trivial sind, aber ihre Kritik greift nicht am Liebeskonzept selbst an. Vielmehr richten sie ihren kritischen Blick auf die Elemente, welche die romantische Liebe ihrer Paare vermeintlich von außen stören. Das romantische Liebeskonzept selbst aber ist ihnen heilig. Innovativ sind sie, weil sie auf der Ebene der histoire mit immer neuen Figurentypen, in stets veränderten Konstellationen, die Ideale individualisierter Liebe und ihre Plotmuster inszenieren. Ihre Liebeskommunikation beschränkt sich dabei keineswegs auf die erzählten Ereignisse. Die Romane dieser Gruppe verführen ihre Leser mit allen ihnen zur Verfügung stehenden (und damit auch immer neuen) rhetorischen, narrativen wie semiologischen Techniken zu emphatischen Lektüren, zur Identifikation mit den Figuren und zur Einfühlung in deren Gefühls- und Gedankenwelt. Einer der Klassiker dieser Kategorie ist wohl Margaret Mitchells ›Vom Winde verweht‹.6 Das Auftreten dieser Art von Liebesromanen kann man aber auch in der deutschsprachigen Literatur über Max Frischs ›Montauk‹7 bis hin zum 2008 erschienen Roman Feridun Zaimoglus’ ›Liebesbrand‹ verfolgen.8 Der beispielsweise zelebriert eine Liebesinitiation wie aus dem romantischen Lehrbuch. Sein Protagonist wird Opfer eines Straßenunfalls. Kaum öffnet er die Augen steht auch schon ein engelsgleiche Frau vor ihm und leistet erste Hilfe. Zurück lässt sie eine Haarspange, und von da an ist der Liebesbrand entfacht. Und selbst, wenn die Erzählung im Folgenden hochgradig reflektiert ein Deutschlandbild des ausgehenden 20. Jahrhundert konstruiert, das romantische Liebeskonzepts bleibt unangefochten bestehen. Die Frau zur Haarspange für sich zu gewinnen, bildet den Antrieb für die weitere Handlung. Dauerhaftes Liebesglück aber, das zieht sich wie ein roter Faden durch diese Gruppe von Romanen, versprechen alle diese Texte nicht. Hinter das Wissen um die Aporien der Liebe fallen sie letztlich nicht zurück. Sie bleiben der Poetik melancholischer Liebe treu. Die zweite Gruppe von Romanen, macht aus den Aporien moderner Liebe grundsätzlich kein Geheimnis. Die einzelnen Texte behalten auf jeweils eigenständige Weise den zugleich emphatisch-affektiven wie analytischen Blick auf das Liebeskonzept bei. Die Romane setzen damit das Erzählprogramm der ›Gräfin Dolores‹ fort. Diese Kontur des literarischen Liebesdiskurses zeichnet sich bereits ab, wenn man sich Achim von Arnims Erzählungen zuwendet. Zunächst bestätigen diese, dass die Liebes- und Romankonzeption der ›Gräfin Dolores‹ alles andere als ein Zufallsprodukt ist. Vielmehr bauen Arnims Erzählungen seine Liebeskonzeption programmatisch weiter aus. Zentraler Gegenstand von Arnims Erzählungen ist unbestritten die Liebe,9 wobei bereits die ›Novellensammlung von 1812‹, die ich im Folgenden exemplarisch in den Blick nehme, im Anschluss an die ›Gräfi n Do-
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Margaret Mitchell, Vom Winde verweht, Berlin 2004. Max Frisch, Montauk, Frankfurt am Main 1975. Feridun Zaimoglu, Liebesbrand, Köln 2008. Ulfert Ricklefs, Sprachen der Liebe, S. 292ff.
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lores‹ zweierlei leistet. Sie setzt zum einen die Liebesthematik in die pointierte Form von Erzählungen und damit in knappe, übersichtliche Handlungsmuster um. Sie macht damit einen Wechsel in der Erzählform perfekt, welchen Arnims Roman bereits in seinen Einlagen erprobt hat. Die Novellen konzentrieren sich auf ausgewählte Liebesaspekte und Erzählmuster. Wie erfolgreich dieses Prinzip der Verknappung und Pointierung über Arnims Erzählungen hinweg ist, zeigt ein Blick auf den Erzähldiskurs der Liebe. In dessen Zuge werden bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Liebesromane von den Novellen in den Hintergrund gedrängt. Liebesromane erhalten in der deutschsprachigen Literatur um 1900 einen Seltenheitswert, während die Zahl der Liebeserzählungen enorm ansteigt. Zum anderen knüpfen Arnims Erzählungen konsequent an die Erkenntnisse an, welche die ›Gräfin Dolores‹ gewonnen hat. Auch ihnen gelingt es, den analytischen Blick auf die Liebe narrativ in jeweils eigenständige Erzählmuster umzusetzen. Die Erzählungen nehmen einzelne Facetten, Aspekte und Schreibmuster des im Roman konzipierten Liebesmodells auf, legieren diese mit weiteren Diskursen und Themenkomplexen und behalten jederzeit das Reflexionsniveau des Romans bei. Die ›Novellensammlung von 1812‹ setzt Arnims Poetik melancholischer Liebe in veränderter Form fort. Eine solche Lesart soll im Folgenden zumindest skizziert werden, auch wenn die Überlegungen im Rahmen dieses Ausblicks, nur einige Ansatzpunkte einer semiologischen Liebeslektüre aufzeigen können. So nimmt die ›Isabella von Ägypten‹ die ödipale Liebesstruktur aus der ›Gräfin Dolores‹ wieder auf. Die titelgebende Protagonistin der Erzählung kompensiert mit Hilfe ihrer Liebe zu Karl den Tod ihres Vaters. Die Position des Geliebten ist durch die Bindung an den Vater bereits besetzt, sodass Karl diese Stelle zu keiner Zeit einnehmen kann. Indem die Erzählung diese Substitutionsstruktur in Szene setzt, behält sie den analytischen Blick auf die Liebe bei, den Arnims Roman erprobt hatte, bei. Akribisch führt die Novelle vor, wie die Liebe an ihren konzeptuellen Defiziten scheitert. Arnims Erzählung bettet ihre Darstellung melancholischer Liebe zum einen in den historischen Diskurs ein, niemand geringeres als Kaiser Karl V. findet in Isabella seine »erste Jugendliebe«. Zum anderen aber verknüpft sie das Schicksal ihrer Figuren über die ödipale Liebesstruktur an eine Zigeunerlegende. Dieser zufolge befindet sich das fahrende Volk der »Gypsis«, nachdem es aus Ägypten vertrieben wurde, auf einem Jahrhunderte andauerndem Heimweg in ihr Herkunftsland. Die Geschichte oszilliert demnach gekonnt zwischen historischem und poetischem Diskurs. Isabella erbt von ihrem Vater die Aufgabe, ihr Volk in ihr Mutterland zurückzuführen. Väterliche Anweisung und gesellschaftliche Verpflichtung geraten über die ödipale Struktur der Liebe mit der individualisierten Liebe in Konflikt. Als Isabella den Weg nach Ägypten stellvertretend für ihr Volk auf sich nimmt, entpuppt sich diese Reise zurück zur arché als melancholische Bewegung, die keine Ankunft erlaubt. Diese Zirkulation inszeniert die ›Isabella‹ anhand des Einsatzpunktes ihrer Geschichte. Da wohnt Isabella in einem verlassenen, am Stadtrand von Gent liegenden Haus. Nach dem Tod des Vaters und ihrer Liebesinitiation verlässt Isabella den Ort ihrer Kindheit. Von da an zieht sie rastlos mehrfach am 424
(mütterlich konnotierten) Ursprungsort der Erzählung vorbei. Sie umstreift das Haus am Stadtrand förmlich, ohne jedoch dorthin zurückkehren zu können. Die ›Isabella‹, so zeigt schon der skizzenhafte Aufriss ihres Handlungsmusters, setzt das Erzählprojekt melancholischer Liebe fort. Das erweist sich nicht zuletzt darin, dass die Erzählung am Ende ihren Status zwischen Dichtung und Wahrheit nach demselben Muster ausspielt, das zuvor die ›Gräfin Dolores‹ erprobt hat. Als der Erzähler am Schluss der Geschichte vermeintlich die Historizität seiner Geschichte nachweist und ihren »wahren Ursprung« verbürgt, setzt er gleichzeitig eine vielgliedrige Tradierungsmaschinerie in Gang, deren Filiation letztlich die arché des Erzählten vollständig verwischt. Auch die Erzählung selbst umkreist ihren mütterlichen Ursprung wie ein melancholisch Liebender. Auch in ›Angelika, die Genueserin und Cosmus der Seilspringer‹, der letzten von vier Novellen, setzt sich die Bewegung melancholischer Liebe fort. Allerdings bildet hier ein männlicher Protagonist die Perspektivfigur der Novelle. Die Erzählung und mit ihr der Leser begleiten Cosmus auf den Stationen seiner Lebensreise, während der er seiner ihm unbekannten Mutter begegnet. Diese gibt sich ihm allerdings nicht als solche zu erkennen. Weil sie ihm zwar geheime Zeichen ihrer mütterlichen Liebe geben will, die Zeichen aus Cosmus’ Sicht aber auf eine ganz normale Liebeswerbung hindeuten, verliebt sich der Protagonist in die geheimnisvolle Schöne, die sich sichtlich um seine Gunst bemüht. Mit dieser Liebeskonstellation verschränkt sich die (endlose) Suche nach der Geliebten mit der nach der verloren geglaubten Mutter. Und da der Leser zu keiner Zeit der Erzählung mehr über die Identität der Unbekannten erfährt als der männliche Protagonist, sondern streng an dessen Perspektive gebunden bleibt, bezieht ›Angelika, die Genueserin‹ ihren Rezipienten offensichtlich in die Suche nach der Liebe und dem mütterlichen Ursprung ein. Die Erzählung legt es auf die Verführung des Lesers an. Unter dem Gesichtspunkt »melancholischer Liebe« rahmen die beiden komplementären Liebesgeschichten die beiden Erzählungen in ihrer Mitte ein. Ein Element der Liebesanalyse, die in der ›Gräfin Dolores‹ einsetzt und in ›Angelika, die Genueserin‹ profiliert wird, soll an dieser Stelle noch benannt werden. Wenn Cosmus auf der Suche nach der verlorenen Mutter und Geliebten die Kunst des Seilspringers erlernt, verbinden sich in dieser Berufswahl Liebes-, Subjekt- und Autorschaftsdiskurs. Es inszeniert wohl keine Erzählung so pointiert die in der ›Gräfin Dolores‹ entworfene Poetik der Schwebe wie diese Novelle. Wenn Cosmus aus Verzweiflung über seine verloren geglaubte Liebe keine Gefahr mehr fürchtet, wenn er zwischen den Häusern sein Leben riskiert und sich zu höchster Kunst aufschwingt, avanciert der Seilsprung zur Chiffre von Arnims Liebeskonzept und -poetik. Die Versatzstücke und Erzählmuster der Liebe, welche die ›Gräfin Dolores‹ einübt, bestimmen auch die beiden eingerahmten Erzählungen der Novellensammlung. Zentraler Aspekt in ›Die drei liebreichen Schwestern‹ ist die Konkurrenz weiblicher vs. männlicher Autorschaft. In der Erzählung stehen sich die auf Oralität und auf Märchenstoffen basierende weibliche Autorschaft Lenes und die schriftpoetologisch zu deutenden Figur des Schwarzfärbers Golno gegenüber. Zu Beginn 425
der Erzählung sind die beiden zugleich ein Liebespaar, das sich allerdings bereits nach wenigen Seiten Erzählzeit trennt. Indem die Erzählung Liebes-, Identitätsund Autorschaftsdiskurse legiert, spielt sie nach dem Vorbild des Dichterwettstreits zwischen dem Erzähler, Karl und dem Markese in der ›Gräfin Dolores‹ zwei Autorschaftsmodelle gegeneinander aus. Künstlerschaft, Liebe, Alchemie, vor allem aber auch Staatsökonomie und Staatsgeheimnis werden ineinander verwoben. Die letzte noch verbleibende Erzählung setzt anhand der weiblichen Titelfigur ›Melück Maria Blainville‹ das Begehren des Anderen, des Fremden in Szene. Dieses Begehren wird in Gang gesetzt, indem Melück – wie ihre Namensgebung bereits impliziert – eine Lücke in die sicher geglaubte Ordnung Marseilles reißt. Die geheimnisvolle Fremde verunsichert die Stadt allein durch ihre Anwesenheit und durch das, was in der Gesellschaft über sie geredet wird. Die Erzählung zeigt, wie das Fremde durch die Wahrnehmung der »Einheimischen« erst gestaltet und zum Objekt der Begierde erklärt wird. Wie es der gesellschaftlichen Ordnung ergeht, so ergeht es auch dem Einzelnen. Saintree verfällt, obwohl glücklich verlobt, der geheimnisvollen Fremden. Von da an versucht Saintree, die Lücke, die in seinem Glück klafft, wieder zu schließen. Damit versetzt die Erzählung die Liebesstruktur, wie sie die ›Gräfin Dolores‹ anhand von Dolores’ Kindheit, der Flucht ihres Vaters und ihrer defizitären Liebeserfahrung eingespielt hat, in einen anderen Kontext. Der Liebesdiskurs wird mit der Phänomenologie und Wahrnehmung des Fremden kurzgeschlossen. Auch über die Novellensammlung hinaus beherrschen die Liebeserkenntnisse der ›Gräfin Dolores‹ die Konzeption von Arnims Erzählungen, setzen Arnims Erzähltexte also die programmatische Arbeit am Diskurs melancholischer Liebe fort. Zwei Beispiele seien an dieser Stelle noch aufgeführt. In ›Die Majoratsherren‹ wird die Erkenntnis, dass die Liebe auf der Projektion eigener Vorstellungen auf den Geliebten beruht, bis zum Wahnsinn vorangetrieben. Der Liebhaber, der seine Geliebte zwar durch ein Fenster beobachten kann, der aber durch eine Lücke zwischen den sich gegenüberliegenden Häusern von seiner Geliebten und seinem Glück getrennt ist, treibt seine phantasmatischen Vorstellungen einer möglichen Vereinigung so weit, dass letztlich sowohl für ihn als auch für den Leser unkenntlich wird, was der Liebende noch real sieht, und was nur noch seiner Einbildung geschuldet ist. Liebe wird in dieser Erzählung als egoistische, als narzisstische Selbstbespiegelung vorgestellt. Die Novelle radikalisiert das Modell, das die ›Gräfin Dolores‹ anhand von Karls und Dolores Liebe entwickelt hat, bis zum Entwurf einer phantastischen Poetik. Dieselbe Tendenz zum Wahnsinn weist nicht zuletzt auch ›Der tolle Invalide aus dem Fort Rateneau‹ auf. Nur, dass dort die Erzählinstanz den Leser nicht in den Bann dieser Vorstellung geraten lässt, sondern ihn gegen die Verwirrungen der Figuren immunisiert. Die Erzählung setzt Arnims naturwissenschaftlichen, analytischen Blick auf das Liebesphänomen fort. Sinnbildlich hierfür steht die akribische wie realistische Beschreibung der Kopfwunde, welche den Wahnsinn des Invaliden verschuldet haben soll. Der kurze Aufriss zeigt, dass Arnims Erzählungen im Anschluss an die semiologische wie narratologischer Untersuchung der ›Gräfi n Dolores‹ als essentielle Beiträge seiner Liebesanalyse erst noch zu entdecken sind. 426
Behält man den kulturwissenschaftlichen wie narratologischen Blick über Arnims Erzähltexte hinaus bei, zeigt sich, wie zum einen die Klassiker der Weltliteratur, zum anderen aber auch bislang weniger beachtete Romane, die Prinzipien melancholischer Liebe beibehalten und jeweils neu erproben. Zu den enzyklopädischen Romanen, welche die individualisierte Liebe inszenieren, um sie zu unterminieren, gehört über die deutschsprachige Literatur hinaus auch Leo Tolstois ›Anna Karenina‹.10 Der Ehebruchroman zeigt, wie die Liebe alle familiären und sozialen Ordnungen gefährdet. Er spart nicht mit Kritik am Phänomen Liebe, aber dennoch lässt er sich nicht nehmen den entscheidenden Moment romantischer Liebe ausgiebig zu schildern. Es braucht nur jenes einen »magischen Augenblicks«, damit sich Wronskij und Anna Karenina ihrer Liebe sicher sind. Erzählt wird das Geschehen aus Wronskijs Perspektive: Er entschuldige sich und wäre gleich ins Abteil gegangen, fühlte sich aber gedrängt, noch einen Blick auf sie zu werfen [...] nicht etwa, weil sie sehr hübsch war, auch nicht wegen der Eleganz und der reservierten Anmut ihrer ganzen Figur, sondern weil, als sie an ihm vorüberging, aus ihrem reizvollen Gesicht ihn etwas ganz besonders Zartes und Liebliches gestreift hatte. Als er sich umsah, wandte auch sie den Kopf. Der Blick ihrer blitzenden grauen Augen, die unter den dichten Wimpern dunkel schienen, ruhte warm und aufmerksam auf ihm, als sähe sie in ihm einem Bekannten.11
Dieser Blick, in dieser mit allen romantischen Inkredienzen ausgestatteten Liebesszene (Zufall der Begegnung, Spontaneität, kurzzeitige Verschmelzung der sich treffenden Augenpaare, bis hin zur Synchronizität der Bewegung (beide drehen sich zugleich um)) besiegelt ihre Liebe. Die Einbettung der Liebesbegegnung in eine Zugszene, welcher die Beschleunigung modernen Lebens durch technische Erfindungen eingeschrieben ist, verwebt den Liebesdiskurs in ein neues, »modernes« Dispositiv und verschafft gemeinsam mit der realistischen Erzählweise dem romantischen Erzählmuster einer »zufälligen Berührung« eine vermeintlich »reale« Grundlage. Tolstois ›Anna Karenina‹ feiert zum einen die romantischen Liebesideale. Seine Figuren lieben, als wäre die Liebe gerade erst erfunden worden. Der Roman spart zum anderen aber auch nicht mit Kritik an den Folgen und der Unbedingtheit der Liebe. Subtil schleicht sich das Trennende, welches jeder Liebesinitiation eingeschrieben ist, bereits in die Liebesinitiation ein. So kommt es Anna Karenina nur so vor, als ob sie in ihm einen Bekannten sähe. So reicht ein erster Blick offenbar nicht aus, um sich zu verlieben. Vielmehr müssen beide sich noch einmal nach einander umdrehen. So reißt der gerade abfahrende Zug, die vermeintlich stillgestellte Zeit des Augenblicks metaphorisch schon wieder in ihren Fluß. Und so erinnert Wronskijs Blick über seine Schulter zurück, alles andere als zufällig an Orpheus, der sich noch ein letztes Mal umdrehte, bevor Eurydike sich unwiederbringlich im Schattenreich verliert. Auf der Ebene des discours halten sich
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Leo N. Tolstoi, Anna Karenina, übersetzt von Fred Ottow, München 1998. Leo N. Tolstoi, Anna Karenina, S. 79.
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affektive Darstellung und Analytik im Modus’ melancholischer Liebe also exakt die Waage. Nur, dass jetzt die glatte Bildoberfläche realistischer Darstellung von dem in sie eindringenden Mythos zerrissen wird. Es ist in Umkehr zu Arnims Roman das Romantische, das hier die realistische Darstellung durchbricht. Ein weitere Variante dieses Doppelspiel lässt sich bereits an einem der wohl berühmtesten und wirkungsmächtigsten Liebesromane festmachen, der gut zwanzig Jahre vor Tolstois Roman erschienen ist: Gustav Flauberts ›Madame Bovary‹.12 Geht man von Arnims Konstruktion einer melancholischen Liebespoetik aus, deren Erzählstil darin besteht, einerseits mit seinen Figuren mitzufühlen, andererseits ihre Liebe nüchtern zu beobachten, so überwiegt in Flauberts Roman die kühle Betrachtung. Die Flaubertforschung spricht treffend von einer immunen Erzählinstanz, die gegen jedes Mitgefühl am Schicksal ihrer Figuren gefeit ist.13 Diese Konzeption entwickelt das analytische Interesse von Arnims Roman gezielt weiter, während es die emotionale Komponente vernachlässigt. Mit analytischem Interesse betrachtet der Roman das Phänomen Liebe, wobei seine Verfahrensweise die von Arnims Roman stringent weiterführt. Während Arnims ›Gräfin Dolores‹ oder auch Tolstois ›Anna Karenina‹ die »Liebe auf den ersten Blick« oberflächlich betrachtet noch feiern, um sie zugleich bis auf ihr Skelett zu entkleiden, verzichtet Flauberts ›Madame Bovary‹ vollständig darauf, Emmas und Charles erster Begegnung Glanz zu verleihen. Das klingt dann so: Eine junge Frau in einem blauen, mit drei Volants besetzten Merinowollkleid erschien auf der Schwelle des Hauses. Sie empfing Herrn Bovary und führte ihn in die Küche, wo ein großes Feuer loderte.14
Auch beim gegenseitigen Blick in die Augen bleibt der Erzähler nüchtern: »Das Schönste an ihr waren ihre Augen. Obwohl sie braun waren, wirkten sie doch beinahe schwarz unter ihren langen Wimpern, und ihr aufrichtiger Blick begegnete jedem, den sie ansah, mit einer Unbefangenheit ohne Arg und Falsch.« (23) Einerseits macht diese Beschreibung deutlich, dass der Roman die romantischen Liebesmechanismen sehr wohl kennt und durchschaut, andererseits zeigt sie, dass der Roman überhaupt kein Interesse hat, diese zu zelebrieren. Ohne einen Blick in die Augen, ohne Topoi romantischer Liebe kommt auch die ›Madame Bovari‹ nicht aus, aber die graduelle Steigerung des Kühle und Analytik ist im Vergleich zu Arnims Poetik dennoch deutlich bemerkbar. Die Topoi und Ideale romantischer Liebe werden in Flauberts Roman dann allerdings auf einer zweiten Ebene eingespielt. Seine Figuren bleiben fest im Horizont romantischer Liebe verankert. Das wird zum einen deutlich, weil Charles – wohl eher zufällig Namensverwandt
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Gustave Flaubert, Madame Bovary, übersetzt von Walter Widmer, München 1980. Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007. Gustave Flaubert, Madame Bovary, S. 22.
mit Karl – sein Liebesglück mit Emma genießt und sie ebenso schwärmerisch und naiv liebt wie Karl seine Dolores. So hilflos wie Karl steht dann auch Charles seiner Liebestragödie gegenüber. Zum anderen arbeitet der Roman dies heraus, indem er Emma als eine leidenschaftliche Leserin von Liebesromanen darstellt. Emmas Lebens- und Liebeskonflikt entzündet sich an der Differenz zwischen der, in der Literatur idealisierten Liebe und ihrer realen Liebessituation. Dort ist die Liebe ein ständiger Rausch, in Emmas Ehe aber eine alltägliche Mühsal, geprägt von Idiosynkrasien. Der Roman widmet sich intensiv Emmas Liebesunlust in ihrer Ehe und macht deutlich, dass die Liebe nur im Modus der Nachträglichkeit oder in dem der Sehnsucht zu haben ist. Liebe ist für Emma »Sehnsucht nach Liebe«, nach einem falschen Ideal, dem die Realität nicht nachkommen kann. Damit ist Emma eine melancholische Liebende (vgl. 91). Das ändert sich auch nicht in Liebesbeziehung mit Léon, was pointiert anhand von Emmas Dichtungsauftrag an Léon und sein Scheitern als Lyriker ausstellt: Er sollte Verse schreiben, ein Gedicht auf sie machen, ein Liebesgedicht ihr zu Ehren. Aber er brachte nicht einmal den Reim auf den ersten Vers zustande, und schließlich schrieb er einfach ein Sonett aus einem Almanach ab.15
Léons Scheitern ist weniger eine Kritik an seinen Fähigkeiten (das wäre Emmas Blick auf Charles), als vielmehr eine am Liebesmodell. Der selbstreflexive Duktus der zitierten Stelle leitet dazu über, dass Flauberts Roman sein Liebeskonzept auf einer dritten Ebene inszeniert. Die »immune Erzählhaltung« führt keineswegs dazu, dass im Leser keine Affekte und keine Einfühlung mehr evoziert werden. Da der Leser an Emmas romantischen Idealen partizipiert, da er mit ihr gemeinsam mitliest, schwärmt und hofft, erzeugt gerade die Nüchternheit der Darstellung Anteilnahme an Emmas Schicksal. Flauberts Roman nimmt Arnims Kritik am romantischen Liebeskonzept auf. Er führt sie im Modus analytischen Erzählens weiter und verbannt die emphatische Feier der Liebe auf eine (untergeordnete) Metaebene. Obwohl der Roman die beiden Seiten gezielt ins Ungleichgewicht bringt, bleibt er doch der Poetik melancholischer Liebe treu. Aus narratologischer Perspektive lässt sich von La Roche, Arnim, Tolstoi und Flaubert aus zugleich beobachten, wie sich aus den Romanen, die sowohl männliche als auch weibliche Liebesentwürfe beinhalten, nach Geschlechtern getrennte Erzählformen entwickeln. Beide Erzähltypen greifen auf einen Pool von Mustern zurück, den bereits die ›Gräfin Dolores‹ entworfen hat. Ein Umbruch ist allerdings insofern zu verzeichnen, als sich ein eigener Typus weiblicher Liebeserzählungen etabliert. Schon Flauberts Emma steht ja als Leserin, die sich in eine ideale Welt flüchtet, in der Nachfolge von Leserinnen wie Richardsons Clarissa, Gellerts Schwedischer Gräfin, der Sternheim oder der Dolores. Nur verfolgt Flauberts Titelfigur anders als Dolores etwa keine politischen Ambitionen, sondern beschränkt
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Gustave Flaubert, Madame Bovary, S. 357.
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ihre Lektüre auf Liebesromane. Sie flüchtet sich zurück in eine vermeintlich heile Welt der Romantik. Auch ein Blick auf die deutschsprachige Liebesliteratur zeigt, dass sich von der ›Gräfin Dolores‹ offenbar das Leitthema der weiblichen Liebesentwürfe ableiten lässt. Liebe ist aus weiblicher Sicht an das Thema unterdrückter und zu emanzipierender Weiblichkeit gekoppelt. Die Diskrepanz zwischen dem Egalitätsversprechen individualiserter Liebe und deren Rücknahme innerhalb des Liebes- oder Ehelebens, steht im Zentrum von Liebesromanen wie Fontanes ›Effi Briest‹, Irmgard Keuns ›Gilgi – eine von uns‹,16 Elfriede Jelineks ›Lust‹17 oder auch Marlene Streeruwitz ›Jessica, 30.‹.18 Wobei ein Roman wie ›Gilgi – eine von uns‹, dessen Protagonistin – wie Dolores’ mit allen Kniffen der Liebeskunst vertraut ist – ihren Geschlechter- und Liebeskampf in der Großstadt und außerhalb der Ehe ausficht. Die Erzählung buchstabiert die Sequenzen der ›Gräfin Dolores‹ aus, in denen Dolores und ihre Schwester ohne familiäre Verpflichtungen alleine im städtischen Palast leben. Der Vergleich macht die Fluchtlinien deutlich, in denen sich die Erzählmuster diachron verschieben: Die weiblichen Figuren müssen raus aus dem Schloss und rein in die Stadt, raus aus der Ehepflicht, hin zu einem eigenständigen berufstätigen Leben. Die in der ›Gräfin Dolores‹ noch knapp gehaltene Phase zwischen Jugendzeit und Brautzeit weitet sich zu eigenen Romanprojekten aus. Wobei die weiblichen Protagonistinnen sich vor allem auch gegen ihre männlichen Erzähler emanzipieren; sie übernehmen selbst Regie und Stimme, um von ihrer Liebe zu erzählen. In Irmgard Keuns Roman ist dies noch über die interne Fokalisierung in Szene gesetzt, während beispielsweise Marlene Streeruwitz in ›Jessica, 30‹ den Gedankenstrom einer autodiegetischen, weiblichen Erzählinstanz entwirft. Von der Inszenierung melancholischer Liebe lässt sich nun nicht nur eine Brücke zu Tolstois ›Anna Karenina‹ und Flauberts ›Madame Bovary‹ schlagen, sondern auch zu den deutschsprachigen Romanen des Realismus. Eine entscheidende Rolle kommt unter dem veränderten systematischen Blick innerhalb des Liebesdiskurses vor allem Wilhelm Raabes Romanen zu. Anders als bei Flauberts Radikalisierung des analytischen Blicks zur Immunität pflegt beispielsweise Raabes Dr. jur. Krumhardt einen melancholisch liebenden Blick auf seine ›Akten des Vogelsangs‹, der nach dem Vorbild von Arnims Roman zwischen Zuneigung und scharfsinniger Liebesanalyse oszilliert.19 Auch die ›Chronik der Sperlingsgasse‹ lebt von diesem Erzählarrangement.20 Zumal es sich bei Raabes Debütroman um eine literarische Enzyklopädie handelt, die sich exakt auf der Schnittstelle zwischen realistischem und modernem Diskurs etabliert. Zunächst zeigt diese Liebeserzählung, dass sich
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Irmgard Keun, Gilgi – eine von uns, München 2002. Elfriede Jelinek, Lust, Reinbek 1989. Marlene Streeruwitz, Jessica 30., Frankfurt am Main 2004. Wilhelm Raabe, Gesammelte Werke, 2 Bde, hg. von Peter Bramböck und Hans A. Neunzig, 2. Band, München 1980, S. 419–562. Wilhelm Raabe, Gesammelte Werke, 2 Bde, hg. von Peter Bramböck und Hans A. Neunzig, 2. Band, München 1980, S. 7–123.
das Bezugssystem der literarischen Enzyklopädien im Vergleich zu Arnims Roman entscheidend verschoben hat. Bezieht sich die ›Gräfin Dolores‹ ausschließlich auf die Liebesmuster ihrer jüngsten Vergangenheit und ihrer Gegenwart und schreibt sich synchron in ihre Kultur ein, so weitet Raabes Roman sein Sammlungsgebiet diachron aus. Den Ursprung seiner gesamten Liebeserzählung nämlich bildet das Jahr 1770, als Franz’ Mutter, Luise, von einem Adligen verführt wurde. Die junge Frau wird schwanger, an eine Heirat ist schon aufgrund des Ständeunterschieds nicht zu denken, und so bleibt Luise nichts anderes übrig, als sich in die Waldeinsamkeit ihres Bruders zurückzuziehen. Dort stirbt sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Alle weiteren Ereignisse entwickeln sich von diesem Liebesunglück aus. Dessen Folgen bestimmen noch die Erzählgegenwart, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, und das Leben der Kinder und Enkelkinder. Die Lücke, welche die »verbotene Liebe« damals in die Familiengeschichte riss, prägt die Ordnung des Lebens noch hundert Jahre später. Diesen Riss durch die Liebe zwischen den Enkelkindern zu schließen, ist das emphatische Anliegen der Erzählung. Würde dies gelingen, wäre das ein Versprechen, um von der Gegenwart aus in die Moderne aufzubrechen. Das Wissen aber, dass diese Versöhnung scheitern muss, bestimmt die Kehrseite des melancholischen Erzählprojekts. Mit dieser genealogischen Erzählweise bindet Raabes literarische Enzyklopädie den Liebesdiskurs an geschichtstheoretische Überlegungen seiner Zeit an. Er verwebt das Liebeskonzept mit aktuellen Fragen, wie der nach der Vererbarkeit von Schuld, nach der (Un-)Möglichkeit von Liebe und den evolutionsbiologischen Modellen einer sich (vermeintlich) progressiv bis zur Moderne hin entwickelnden Gesellschaft. Einen vergleichbaren Rang wie Raabes ›Chronik‹ nimmt im Diskurs um 1900 Theodor Fontanes Roman »Unwiederbringlich« ein. Bereits der Titel lässt keinen Zweifel daran, dass auch dieser Roman eine Poetik melancholischer Liebe entwirft. Fontanes enzyklopädisches Erzählprojekt schreibt sich in die gleichen Diskurse ein wie Raabes ›Chronik‹, verwendet dazu aber andere Erzählweisen. Wie Raabe so schildert Fontane zunächst eine Familiengeschichte. Sie nehmen also das Modell aus der letzten Abteilung von Arnims ›Gräfin Dolores‹ auf. Von dort aus ließe sich selbstverständlich auch eine Verbindung zu den Familienromanen und -dramen ziehen, die vom 19. Jahrhundert an eine Blütezeit erleben. Der Zerfall von Dolores’ und Karls Familie weist auf Thomas Manns ›Buddenbrooks‹ voraus,21 die Konkurrenz zwischen Dolores’ Vater, Karl und Johannes geht in Arnims Roman zwar noch unentschieden aus, weil Dolores sich mit ihrem Tod opfert. Aber sie weist dennoch auf die Bruchstelle in den Familienordnungen hin, welche späterhin ebenfalls Familiendramen wie Gerhart Hauptmanns ›Friedensfest‹ an der Wende zum 20. Jahrhundert in Szene setzen. Auch Fontanes Roman nimmt diese Bruchstelle in den Blick, und er macht, anders als Raabe die Mutter, jetzt den Vater als Schwachstelle in den familiären Liebesbeziehungen aus. Verharrt
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Thomas Mann, Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Peter de Mendelssohn, Bd. 3, Buddenbrooks, Frankfurt am Main 1981.
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nun Raabes männlicher Erzähler während des Romans in seiner Dachkammer, so begibt sich Holm, der Protagonist aus Fontanes Roman, auf Reisen. Die Reise, mit der er aus seinem Eheleben ausbricht, dient als Vehikel, um die unterschiedlichen Elemente des Liebesdiskurses in die Erzählung einzutragen. So reist Holm nicht nur von Holstein nach Dänemark und nimmt damit die in Fontanes Zeit aktuellen Kriegswirren und politischen Diskurse auf, sondern tauscht zugleich das Land- für das Stadtleben, den Kreis der Familie gegen das Junggesellendasein und die eigene Zurückgezogenheit für den Dienst am Hof ein. Zudem inszeniert der Roman die Überfahrt als Überquerung des Styx und damit als Eintritt in das Totenreich. Die Reise, mit der Holm seine Liebe und seine Familienglück unwiederbringlich aufs Spiel setzt, sorgt dafür, dass Fontanes Roman zu einem eigenwilliges Hybrid heranwächst, das romantische, realistische und moderne Erzähl- und Liebesmustern in sich vereint. Protagonist wie Roman erscheinen als Mischwesen, ohne feste Identität und ohne inneren Halt. Holms verzweifelte Liebe kulminiert schließlich im Bild des Eislaufes, wenn er gemeinsam mit seiner Geliebten lachend von einem zugefrorenen Kanal aus auf das offene Meer zuläuft. Die Erzählkunst ihrerseits findet ihren Höhepunkt im Zuge einer ausführlichen Bildbeschreibung. Diese inszeniert das realistische Erzählen als einen Grenzgang, der für einen Augenblick die Präsenz eines Bildes aufrufen kann, bevor es sich umgehend wieder verliert. Erzähl- und Liebeskunst sowie Holms gesamte Existenz befinden sich in einem Moment der Schwebe, das jederzeit in die eine wie in die andere Richtung kippen kann. Dass diese von Arnims Roman ausgehende Konzeption nicht mit dem realistischen Roman abbricht, sondern weiter ausbuchstabiert wird, zeigt ein Seitenblick auf Wilhelm Genazinos ›Die Liebesblödigkeit‹.22 Dort tritt eine autodiegetische Erzählinstanz auf, die im Präsens von ihren alltäglichen, allzu alltäglichen Liebeserlebnissen berichtet. Zwar behauptet der berufsmäßige Apokalyptiker man könne ihm in Sachen Liebe nichts mehr vormachen, aber dennoch liebt er gleich zwei Frauen auf einmal und doch keine von beiden. Das Sehnsuchtsmoment melancholischer Liebe beschreibt der Erzähler so: Vermutlich sehnt sich meine Sehnsucht nach etwas, was es nicht gibt. Dieses phantastische Moment wäre (ist) der Kern der Liebesverblödung. Ich benutze den Begriff Liebesverblödung, als wüßte ich, was Liebesverblödung ist.23
Deutlicher als dieses Kombination von »wäre (ist)«, die etwas und nichts definiert, kann man die in Arnims Roman angelegte Oszillation zwischen dem analytischem Blick auf die Liebe (ist), und dem Unvermögen, die Analyse zugunsten des Erlebnis’ doch zurückzunehmen, kaum auf den Punkt bringen. Damit zeigt sich zugleich auch eine wesentliche Veränderung zu Arnims Roman. Während Karl dort bis zu-
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Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit, München 2005. Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit, S. 89.
letzt ein naiver Liebender und Autor bleibt, verfügt der liebende Protagonist in Genazinos Roman über ein weitaus höheres Reflexionsniveau. Genazinos Roman gehört wie Streeruwitz’ ›Jessica, 30.‹ zu einer Reihe von Romanexperimenten, die in jüngerer Zeit die Schreibverfahren sowie das Konzept melancholischer Liebe neu erproben und ausbuchstabieren. Von einem »Ende der Liebe«24 kann demnach keine Rede sein. Es bleibt konstant bei der dialektischen Inszenierung von emphatischer Affirmation und kritischer Analyse. Drei Beispiele sollen zuletzt noch zeigen, wie konsequent sich die Literatur der Gegenwart der Poetik melancholischer Liebe. Wie weitsichtig diese Romane diese Poetik ausfächern, wie gekonnt sie neue Schreibmuster einspielen und neue diskursive Felder erschließen, zeigt zunächst ein Blick auf den 2007 erschienen Roman ›Karlmann‹ von Michael Kleeberg.25 Dessen Titel weist bereits in seiner tautologischen Benennung des Geschlechts darauf hin, dass er Karls, aus der ›Gräfin Dolores‹ bekannten, männlichen Blick als leitendes Erzählprinzip übernimmt und reflektiert. Von Liebe zu erzählen, ist in Kleebergs Roman – nach Arnims Vorbild – eine Frage der Perspektive. Sind in Arnims Roman männlicher Protagonist und männlicher Erzähler noch zwei Figuren, so verschmelzen bei Kleeberg »Karl« und die unbestimmte Erzählinstanz »man(n)« phasenweise zu einer Instanz, um sich allerdings nachher wieder zu trennen. Angesichts dieser Verschmelzung zweier männlicher Blicke und Instanzen ist es nicht verwunderlich, wenn er bei seiner Liebesanalyse zu analogen Ergebnissen kommt, wie sie Arnims Text entfaltet. Beispielsweise wenn Charly, dessen Name also auch auf Madame Bovarys Mann verweist, am Hochzeitstag bemerkt, dass seine Liebesvorstellung, von denen seiner zukünftigen Frau grundsätzlich abweichen und beide Partner in ihrem narzisstischen Vorstellungshorizont gefangen sind: Mit einer gewissen Ernüchterung, ja Bitterkeit, sieht er plötzlich deutlich, daß sie beide in diesem Moment ganz weit voneinander entfernt stehen, jeder für sich, eingeschlossen in seine egozentrische und egoistische Phantasie von diesem einzigartigen Abend, daß sie keineswegs ein Fleisch und eine Seele sind, daß Christines Bangen und Sorge und Vorfreude ganz auf sich selbst gerichtet ist, daß sie in sich hineinhört, sich selbst auskostet; er übrigens auch.26
Kleeberg wiederholt Arnims Erkenntnis über die narzisstische Struktur der Liebe. Und wie dieser spinnt er seine Liebesgeschichte aus der Diskrepanz zwischen wahrgenommener und realer Welt. Karlmann versteht zwar vieles, aber immer nur plötzlich, meist im falschen Moment und niemals so, dass er sein Leben nach diesen Erkenntnissen ausrichten könnte. Karl ist ein Opfer seiner Zeit, wobei es Kleebergs Roman aufs vorzüglichste versteht, Arnims Liebeserkenntnis auf seine Erzählge-
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Sven Hillenkamp, Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit, Stuttgart 2010. Michael Kleeberg, Karlmann, München 2007. Michael Kleeberg, Karlmann, S. 82.
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genwart zu übertragen. Karl ist kein adliger Landwirt mehr, sondern betreibt, weil es sein Vater so will, eine Opelniederlassung. Er lebt in Hamburg und sein Leben ist bestimmt von den Strukturen seines Arbeitslebens, sowie den ständigen Versuchen, aus diesem auszubrechen. Allerdings entpuppen sich seine ausgedehnten Autofahrten von und zur Arbeit und sogar seine sexuellen Abenteuer stets als Rituale, die sich in den Alltag einfügen, anstatt ihn zu unterbrechen. Bei allen diesen Anpassungen an die Gegenwart, bleibt Karlmann wie seine Vorgänger Karl ein Patriarch, der eine seltsam traurige Figur macht, wenn er auf die alten Herrenrechte pocht. Noch am Hochzeitstag beispielsweise schläft er mit der Trauzeugin seiner Frau, merkt aber mitten im Sexualakt noch, welch jämmerliches Bild er gerade abgibt. Karlmann erscheint (sich selbst) als Versager, den man am Hochzeitstag eigentlich schon verlassen muss. Tatsächlich erzählt Kleeberg eine männliche Ehebruchgeschichte. Christine wird – so erfährt der Leser – wie Dolores vor ihr die Ehe fliehen. Auf der Handlungsebene ist sie erfolgreicher als Dolores, aber im Roman selbst bleibt sie doch bis zuletzt eine Frau, die der Leser nur aus Charlys Augen kennt, während Arnims Titelheldin wenigstens selbst zu Wort kommt, wenn auch durch den Filter eines männlichen Erzählers. Allerdings bleibt in Kleemanns Roman der männliche Blick an keiner Stelle unkommentiert, der Roman stellt seinen Protagonisten liebevoll und boshaft zugleich als melancholisches Liebesopfer seiner eigenen Ansichten dar. Ein weiterer, jüngst erschienener Roman zieht aus der in Arnims Roman eingeleiteten Kritik am romantischen Liebeskonzept eine radikale Konsequenz. In Daniel Glattauers ›Gut gegen Nordwind‹27 nämlich wissen die beiden Protagonisten, die sich durch eine verirrte Email kennen lernen, so viel über die Mechanismen der Liebe, dass sie dem Liebeskonzept deshalb nicht abschwören, sondern es im Gegenteil nach ihren eigenen Vorstellungen neu generieren. Leo Like und Emmi Rothener – der Vorname ist eine gekonnte Allusion an Effi und Emma gleichzeitig – genießen bei diesem Vorhaben freie Hand, denn in dem Email-Roman gibt es keine Erzählinstanz. Er besteht ausschließlich aus der Folge von Emails. Im virtuellen Raum lässt das Paar kein Ideal der romantischen Liebe aus. Dort funktioniert die Liebe, weil sie neue Kommunikationsformen und -regeln generiert. Im Wissen, diesen textuellen Schwebezustand nicht verlassen zu dürfen, erlaubt das Paar sich nur die Kommunikation via Email oder Anrufbeantworter. Bremsschuhe der Liebeskommunikation, wie persönliche Begegnungen, Gespräche über den Alltag oder Berichte über die Familien werden gezielt ausgeschlossen. So schafft sich Glattauers Paar ein Spielfeld, auf dem es mit dem Sog seines Schreibens und der Lust am Text experimentieren kann. Gegen alle Analytik und Kritik setzen sie auf das Risiko und den Rausch des textuellen Liebesspiels und geben sich ihrer Wortflut hin. So lange die Liebe textbasiert bleibt, geht alles gut, aber dann wollen die beiden Partner sich doch kennen lernen. Sie kippen die fein austarierte Schwebe
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Daniel Glattauer, Gut gegen Nordwind, München 2006.
ihres melancholischen Liebesspiels. In diesem Sinne ist Glattauers Roman weiterhin ein melancholischer Liebesroman und doch gleichzeitig auch ein Gegenmodell zu Arnims ›Gräfin Dolores‹. Im vergangenen Jahr ist ein weiteres Romanexperiment erschienen, welches zugleich die melanscholische Liebespoetik fortschreibt. Leanne Shapton erzählt in ihrem Buch »Geliebte Objekte«28 ihre komplett erfundene Liebesgeschichte »auf noch nie da gewesene Weise.«29 Offenbar – so die Fiktion – haben sich ihre Protagonisten, Lenore und Harold, nachdem genauso viel Zeit vergangen ist, wie sie als Paar miteinander verbracht haben, entschlossen, alle Gegenstände, die sie noch aus ihrer gemeinsamen Zeit besitzen, in einer Auktion zu versteigern. Laut Buchtitel fand die Auktion am Valentinstag, am 14. Februar 2010, statt. Verantwortlich zeichnete das »Auktionshaus Strachan & Quinn« mit Sitz in »New York, London, Toronto, Berlin«.30 Das Buch, das der Leser in der Hand hält, ist der dazugehörige Auktionskatalog. Er bietet in Form von insgesamt 332 Losen alle Arten von Habseligkeiten zum Verkauf an, welche die Zeit überdauert haben, weil Lenore und Harold sie gesammelt, aufbewahrt, weiter genutzt oder zumindest nicht weggeworfen haben: Röcke, Kleider, Hosen, T-Shirts, Vasen, Steine, Schilder, aber auch gebrannte CDs, Schallplatten sowie Fotos, Postkarten, Emails und Post-its finden sich unter den Gegenständen. Mit dieser Inszenierung koppelt der Roman Konsum und Liebe auf zwei Ebenen aneinander. Erstens auf der Ebene der histoire. Offensichtlich haben Lenore und Harold während ihrer Liebesbeziehung einzeln, aber auch gemeinsam konsumiert. Sie waren Einkaufen, sind Ausgegangen, haben sich gegenseitig beschenkt und sich manches Souvenir von ihren Reisen mitgebracht. Die Sammlung zeigt: Liebe und Konsum sind in unserer Alltagswelt ganz selbstverständlich miteinander verbunden. Ungewöhnlich, aber in Zeiten von Ebay keineswegs abwegig ist, dass das Paar sich entschließt, die auratisch aufgeladenen Gegenstände jetzt zu Waren zu erklären und zu versteigern. Zweitens konstituiert Shaptons Buch das Dispositiv aus Liebe und Konsum auf der Ebene des dicsours. Da der Katalog die einzelnen Gegenstände chronologisch anordnet, ist es möglich, die Liebesgeschichte des Paares in Form der material culture von Anfang bis Ende zu rekonstruieren. Der Leser wird zum Zeugen einer Liebesbeziehung. Zudem schreibt der Katalog, der seine Inhalte als ›Waren‹ deklariert und eine (fiktive) Verkaufssituation entwirft, seinem (imaginären) Rezipienten die Rolle eines Konsumenten zu. Der Roman schließt Lesen und Konsumieren, Lektüre- und Kauflust kurz. Zum »Haben wollen«31 verführt der Katalog seine Leser, indem er die dargebotenen Gegenstände
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Leanne Shapton, Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck, aus dem Amerikanischen v. Rebecca Casati, Berlin 2010. Leanne Shapton, Bedeutende Objekte, Klappentext. Leanne Shapton, Bedeutende Objekte, Titel. Wolfgang Ullrich, Haben wollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt am Main 2006.
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inszeniert und somit auf seiner Oberfläche eine eigenständige Warenästhetik entwirft. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Bildästhetik. Der Katalog preist seine Verkaufsgegenstände in Form von insgesamt 259 Schwarz-Weiß-Fotografien an. Diese dominieren auch grafisch die an den seitlichen oder unteren Seitenrand gedrängten, knappen Texte. Aufgrund der Übermacht der Bilder gleicht die Lektüre eher einem Betrachten als einem Lesen. Das Buch fordert von seinem Leser demnach genau jenen schweifenden, beweglichen Blick ein, der für die Konsumkultur charakteristisch ist.32 Er bezieht seine eigene Textoberfläche, die Rolle seines Lesers sowie den Status des Buches als ästhetisierte Ware in seine Reflexion ein. Anstatt ausschließlich zu schildern, wie seine Protagonisten sich in der Konsum- und Medienwelt bewegen, partizipiert er selbst an dieser Kultur. Mit dieser Inszenierung dehnt Shaptons Katalog den Diskurs melancholischer Liebe auf eine warenästhetische Betrachtung hin aus. Der Roman melancholischer Liebe sieht in der Welt des Konsums, mit ihrer fortwährenden Konstruktion von Mangel und Begehren, aber längst nicht nur eine Bedrohung. Vielmehr bietet die Welt des Konsums sowohl der Liebe als auch dem Roman einen erweiterten kreativen Spielraum, der ein enormes poetisches Potential aufweist. Der Kurzschluss von Konsum und Liebe bietet neue Möglichkeiten, individuell zu lieben und von Liebe zu erzählen. Betrachtet man Shaptons Katalog gemeinsam mit den anderen Romanexperimenten der Gegenwartsliteratur, so ist eines wohl sicher: Es wird noch eine Vielzahl von Romanen geben, die sich der Poetik melancholischer Liebe verschreiben.
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Zur »new visual culture« der Moderne, deren Kennzeichen eine »commodified visual mobility« ist, die nicht zuletzt Reiz an warenförmigen Dingen findet vgl. Anne Friedberg, Window Shopping. Cinema and the Postmodern, Berkerly 1994, S. 4.
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