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German Pages 260 Year 2012
Schriften zur Literaturwissenschaft Band 35
Studien zur Autobiographie Von Günter Niggl
Duncker & Humblot · Berlin
GÜNTER NIGGL
Studien zur Autobiographie
Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 35
Studien zur Autobiographie
Von Günter Niggl
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Maximilian-Bickhoff-Universitätsstiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 978-3-428-13927-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die hier vorgelegte Sammlung von Studien umfaßt eine Auswahl kleinerer Schriften zur Autobiographie, die seit den siebziger Jahren bis heute meine größeren Arbeiten zu dieser Gattung begleiten. Eröffnet wird die Sammlung von zwei einfuhrenden Aufsätzen über literarische Zweckformen allgemein und von einem Entwurf zur Theorie der Autobiographie, bevor die weiteren Beiträge verschiedene historische Erscheinungsformen dieser Gattung von der Antike bis zur Gegenwart behandeln. Sie können verdeutlichen, wie die Gattung schon in der Antike alle ihre wesentlichen Typen entfaltet, die seit dem Beginn der Neuzeit und verstärkt im 18. Jahrhundert zu je verschiedenen Zeugnissen des modernen Individualismus werden, bis schon bei Goethe und entschiedener in den darauffolgenden Epochen an die Stelle der Egozentrik die neue, noch immer vorherrschende Polarität von Ich und Zeit, Ich und Jahrhundert treten wird. Die meisten Aufsätze sind in Zeitschriften und Sammelwerken publiziert worden, zwei Studien sind bisher ungedruckt. Zu danken habe ich dem Präsidenten der Görres-Gesellschaft, Herrn Professor Dr. Wolfgang Bergsdorf, und meinen Kollegen Mitherausgebern der Schriften zur Literaturwissenschaft für die bereitwillige Aufnahme des Buches in die Reihe. Mein besonderer Dank gilt Herrn Karl-Heinz Mengel und Herrn Dr. Günter Schumann im Vorstand der Maximilian-BickhoffUniversitätsstiftung für ihre volle finanzielle Unterstützung des Druckes. Gedankt sei schließlich den Verlagen, die den Wiederabdruck der bei ihnen zuerst publizierten Arbeiten erlaubt haben. Eichstätt, im März 2012
Günter Niggl
Inhalt Probleme literarischer Zweckformen
9
Probleme und Aufgaben der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen
28
Zur Theorie der Autobiographie
39
Autobiographische Schriften in der Antike. Ein Überblick
52
Rede und Gespräch in Augustins Confessiones
76
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
94
Ulrich Bräkers Weg zu seiner Leb ensgeschickte
114
Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit
121
Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit
134
Goethes Italienische Reise Fontanes Meine Kinderjahre
147 und die Gattungstradition
173
Erfahrung von Zeitgeschichte und religiöse Bekehrung in Alfred Döblins Schicksalsreise
197
Erinnerung als Rekonstruktion bei Christa Wolf und Günter Grass
210
Nachweise
243
Register
245
Probleme literarischer Zweckformen
In der deutschen Literaturwissenschaft, aber auch in den benachbarten Neuphilologien hat in den letzten Jahren wohl keine Frage so nachhaltige Aufmerksamkeit erfahren, keine auch so scharfe Kontroversen hervorgerufen wie das Problem des Verhältnisses von Dichtung und Nichtdichtung, ihrer Abgrenzbarkeit oder ihres inneren Zusammenhangs. Der Streit entzündete sich vor allem an der Frage: Wieweit verdienen die nichtdichterischen Gattungen, also alle rhetorischen und publizistischen Formen: Essay und Kritik, Tagebuch und Biographie, weltliche und geistliche Rede, philosophischer und wissenschaftlicher Traktat, Berichte und Dokumente aller Art überhaupt Beachtung durch die Literaturwissenschaft? Diese sah sich dadurch veranlaßt, Begriff und Umfang ihres Gegenstandes „Literatur" erneut zu überprüfen. Im wesentlichen haben sich dabei zwei gegensätzliche Lager ausgebildet, zwischen denen bisher nur wenige Stimmen zu vermitteln versuchen. Die eine Partei versteht unter „Literatur" im Grunde nur die „hohe" oder „schöne Literatur", zieht also die Grenzen relativ eng und setzt „Literaturwissenschaft" mit „Dichtungswissenschaft" gleich. Die Namen Emil Staiger und Wolfgang Kayser mögen stellvertretend für diese Gruppe stehen.1 Ihre Auffassung geht letztlich auf Hegels strenge Ästhetik zurück, die bereits alle poetischen Gattungen, die der Rhetorik nahestehen (wie das Epigramm, das Lehrgedicht, den Roman), nicht zur eigentlichen Poesie rechnet und die Rhetorik selbst nur mehr als minderwertige Folie für die Definition der Poesie benutzt. 2 Hegels Geringschätzung der nichtdichterischen
1
Emil Staiger vollzieht die Gleichsetzung von Literatur und Dichtung noch ganz (Zürich 1939, 2 1953), S. 11: „Denn was den Literaturhistoriker angeht, ist das Wort des Dichters, das Wort um seiner selbst willen [ . . . ] . " - Wolfgang Kayser unterscheidet zwar bereits zwischen der „Literatur im weiteren Sinne" und der „Schönen Literatur" als engerem Bezirk daraus, erklärt aber anschließend die letztere zum „eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft" (Das sprachliche Kunstwerk. Bern 1948, 4 1956, S. 14 f.). 2
Vgl. Hegel: Ästhetik. Hrsg. von Friedrich Bassenge. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1966. Bd. 2, S. 402 ff. (Epigramme, Lehrgedichte), 452 f. (Roman), 337 ff. („das poetische Kunstwerk im Unterschiede des prosaischen").
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Formen erlangte namentlich in der Epoche des Poetischen Realismus allgemeine Geltung und herrschte zumindest in Deutschland unangefochten bis über die Mitte unseres Jahrhunderts hinaus. Seit den späten sechziger Jahren nehmen jedoch namentlich Vertreter der jüngeren Forschergeneration eine provozierende Gegenposition ein. Diese andere Partei, repräsentiert vor allem von Herbert Singer, Eberhard Lämmert, Jost Hermand, plädiert für einen möglichst weiten Begriff von „Literatur", der alles Geschriebene, ja alles sprachlich Fixierte umfaßt, und will folgerichtig jeden Text, gleichgültig, ob poetisch oder nichtpoetisch, zum Gegenstand der Literaturwissenschaft gerechnet sehen, wobei nicht selten sogar eine Gleichwertigkeit aller nur denkbaren Textarten postuliert wird. 3 Beide Lager erblicken in den Prämissen der jeweils gegenteiligen Auffassung Vorurteile am Werk. Die Verfechter eines weiten Literaturbegriffs werfen ihren Gegnern eine ahistorisch-esoterische Vorstellung einer von aller Wirklichkeit losgelösten, in sich ruhenden Dichtung vor, wohinter sie eine Flucht von Schöngeistern aus unseren gesellschaftlichen Bedingungen in die Bezirke einer ins Zeitlose entrückten reinen Kunstwelt wittern. Umgekehrt werfen die Vertreter der Dichtungswissenschaft ihren Gegnern eine kunstfremde Nivellierung von Poesie und Nichtpoesie vor, die jede literarische Gattung nur noch als zweck- und wirkungsgerichtete Form verstehe und nur noch diese außerliterarische Funktion als Gegenstand und Ziel literaturwissenschaftlicher Untersuchung gelten lassen wolle; darin sei eine Gesinnung erkennbar, die alle Literatur, gleichgültig ob Dichtung oder Nichtdichtung, nur noch als gesellschaftspolitisches Instrument sehen und anerkennen wolle. Dieser Streit konnte eigentlich nur deshalb in dieser Schärfe entbrennen, weil beide konträren Auffassungen überzeugt sind, daß es sich bei Poesie und Nichtpoesie um zwei wohl zu unterscheidende Bereiche handle, zwischen denen die Kluft entweder überhaupt nicht oder nur einigermaßen gewaltsam überbrückt werden könne. Gelegentliche Vermittlungsvorschlä-
3 Herbert Singer: Literatur, Wissenschaft, Bildung. In: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. von Jürgen Kolbe. München 1969, S. 45-59; hier S. 54. - Eberhard Lämmert: Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft. In: Ebd., S. 79-104; hier S. 88. - Jost Hermand: Probleme der heutigen Gattungsgeschichte. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 2 (1970), H. 1, S. 85-94; hier S. 90-92. - Diese Ansichten übernimmt zustimmend Horst Belke: Literarische Gebrauchs formen. Düsseldorf 1973 (Grundstudium Literaturwissenschaft 9), S. 16-18.
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ge - hier sind vor allem Herbert Seidler und Friedrich Sengle zu nennen4 haben denn auch vornehmlich auf die Übergänge, die fließenden Grenzen, die Möglichkeit der Mischformen aufmerksam gemacht, um auf diese Weise, bei Wahrung der hierarchischen Struktur der Formenwelt, eine vorsichtige Erweiterung des Literaturbegriffs zu rechtfertigen. Da die Kontroverse noch immer anhält, scheint diese Frage des Übergangs noch nicht restlos geklärt zu sein, und so stoßen wir hier auf ein erstes Problem literarischer Zweckformen, nämlich auf die Frage nach ihrer theoretischen und praktischen Unterscheidbarkeit von den poetischen Gattungen. Ist hier tatsächlich eine Kluft vorhanden, oder sind Berührungspunkte oder gar partielle Gemeinsamkeiten beider Bereiche zuzugeben? Erst wenn diese Vorfrage geklärt ist, kann in einem zweiten Schritt das Problem der unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Stellenwert der beiden Bereiche zureichend erörtert, vielleicht sogar gelöst werden.
Das Problem der Unterscheidung zwischen Poesie und Nichtpoesie Mit dieser Frage haben sich bisher sowohl die Literaturtheoretiker (insbesondere die Erzähltheoretiker) als auch die Linguisten (sowohl die Textlinguisten wie die Texttheoretiker) beschäftigt. Für die Literaturtheorie existieren die beiden Bereiche seit dem Altertum unter den Namen „Poetik" und „Rhetorik" und begegnen noch übers 18. Jahrhundert hinaus in deutlicher Nachfolge des Aristoteles als Überschriften einschlägiger Lehrbücher. Diese behandeln in ihren einleitenden Abschnitten oft ausdrücklich die Differenz zwischen Dichtkunst und Redekunst und berufen sich auch hierin stets auf die antiken Autoritäten. Als zentrale Stelle haben dabei einige wenige Sätze aus dem 9. Kapitel der Poetik des Aristoteles zu gelten, wo es zu Beginn heißt, „daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der ande-
4 Herbert Seidler: Die Dichtung. Wesen, Form, Dasein. Stuttgart 1959, S. 38 f. - Friedrich Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. Stuttgart 2 1969 (Dichtung und Erkenntnis 1), S. 15-17,24.
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re, was geschehen könnte." 5 Das heißt: Für Aristoteles und die von ihm abhängige Schultradition liegt der wesentliche Unterschied beider Bereiche in der Seinsweise ihrer Gegenstände: Die Geschichtsschreibung (sie kann fur Wissenschaft allgemein stehen) bildet wirkliches, die Poesie mögliches Geschehen nach, die Wissenschaft ist realitätsbezogen, die Poesie grundsätzlich realitätsunabhängig, wobei diese Unabhängigkeit nur durch die Bedingungen der Angemessenheit (wir können auch sagen: der Wahrscheinlichkeit) und der Notwendigkeit eingeschränkt wird. Demgegenüber wird - wieder in der Nachfolge der Antike - in formalstilistischer Hinsicht zwischen Poetik und Rhetorik keine scharfe Grenze gezogen, vielmehr werden namentlich in der Renaissance, aber auch noch im Barock ihre gemeinsamen Fundamente der inventio, dispositio und elocutio und ebenso ihr gemeinsames dreifaches Wirkungsziel des prodesse, delectare und movere betont 6 , so daß auf der formalen und empirischen Ebene die Poetik eher als ein Sonderbezirk der Rhetorik denn als ihr Gegenpol erscheint. 7 Um überhaupt noch den Dichter vom Redner unterscheiden zu können, greift man gerne zum platonischen furor poeticus, dem eine besonders herrliche, kunstzierliche Ausschmückung der Rede entsprechen
5 Aristoteles: Poetik 9, 1-2 (übersetzt von O l o f Gigon. Stuttgart 1961, S. 36). - Beispiele für die Tradition dieser aristotelischen Unterscheidung: Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Lyon 1561; Faksimile-Neudruck mit einer Einleitung von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. Ib.2. - Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Breslau 1624; neu hrsg. von Richard Alewyn. Tübingen 1963 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. N. F. 8), S. 1 1 . - Augustus Buchners Poet. Wittenberg 1665, S. 4, 28 f., 32. - Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. Leipzig 1688, III. Theil, „ A n den Leser" (unpag.). - Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 1730, I. Theil, II. Hauptstück, §§ 4-8 ( 4 1751, S. 97-100). 6 Für die Poetik der Renaissance vgl. die Einleitung von August Buck zum ScaligerNeudruck (Anm. 5), S. V I I I f., für die Barockpoetik Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1966, 2 1969 (Ars poetica 1), bes. S. 26-39. - Ders.: Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhetorik als Verständnishorizont der Literaturtheorie des X V I I . Jahrhunderts. In: Arcadia 4 (1969), S. 1-15, bes. S. 4-7. - Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968 (Studien zur deutschen Literatur 10), S. 9-14, 22-36, 83-94. 7 Bildkräftig hat diesen Zusammenhang noch 1724 Johann George Neukirch in seinen Anfangs-Gründen zur reinen Teutschen Poesie itziger Zeit (Halle 1724, S. 17) veranschaulicht: „Denn ist die Poesie eine Tochter der Wohlredenheit, so muß derjenige, so ihre schöne Tochter haben w i l l , vorher mit der Mutter vertraulich umgegangen seyn, damit sie ihm zu der invention, disposition und elocution den Weg bahne, den er in Ersteigung des Parnassi zu gehen nöthig hat, um endlich diese seine Geliebte zu umarmen." (Zit. nach Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 25).
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soll 8 , deren einziges stichhaltiges Kennzeichen freilich für diese Jahrhunderte ihre Gebundenheit in der Versform bleibt. 9 Sobald aber mit dem Aufkommen des Romans in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts das Verskriterium mehr und mehr abgelehnt wird 1 0 , versucht man statt dessen vor allem die Fähigkeit der lebendigen Vergegenwärtigung der Sachen zur spezifischen Eigenschaft der Dichtkunst zu erklären 11 ; aber schon um 1740 wird auch dem Redner und Historiker der Gebrauch solcher poetischen Kunstmittel zugestanden 12 und so der kaum je bestrittene gemeinsame Stilbereich aller Literatur wiederhergestellt. In dieser Schultradition steht auch das Standardwerk unserer Tage, Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik (1960, 2 1973). Man erkennt es deutlich an seinem Kommentar eines weiteren Satzes aus dem 9. Kapitel der aristotelischen Poetik: „Denn", so heißt es dort, „die Dichtung redet eher vom Allgemeinen (xa Ka$6A,oo), die Geschichtsschreibung vom Besonderen ( x a K a ö ' e K a a x o v ) . " 1 3 Während Aristoteles damit die Unterscheidung noch verstärken wollte, nimmt Lausberg diesen Satz zum Anlaß, sie eher zu verringern. Zwar erläutert er das Gegensatzpaar Ka&o^ou - Ka&' E K a a x o v als zwei verschiedene Ganzheitsgrade: das Ka&oXoo als die auswählend-akzentuierende Ganzheit der Dichtung, die das Detail nur als Funktion behandle, das K a $ ' eKaaxov als die jede Einzelheit genau wiedergebende Vollständigkeit der Wissenschaft. 14 Aber zum einen deutet er beide Darstellungsweisen als Mimesis, weil beide Male mit dem Instrument der Sprache nur eine mittelbare Wirklichkeitsabbildung vorliege, zum andern weist er darauf hin, daß auch jede Wissen8
Belege aus italienischen Poetiken des 15./16. Jahrhunderts bei Buck (Anm. 5), S. V I I I , aus Opitz, Harsdörffer und Birken bei Fischer (Anm. 6), S. 40-52; zu letzterem vgl. Dyck in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 80 (1969), S. 71-74. 9 J. C. Scaliger (Anm. 5), I, 2; Zitate aus Aisted, Harsdörffer, Comenius und Birken bei Dyck: Philosoph (Anm. 6), S. 5; vgl. auch Fischer (Anm. 6), S. 27 f. 10 Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973 (Germanistische Abhandlungen 40), S. 53 f. mit Belegen aus von Hoeveln und Neumark (beide 1667). 11 Voßkamp (Anm. 10), S. 57 f. Das dort angeführte Zitat aus Harsdörffers Poetischem Trichter (3. Teil, 1653) kann ergänzt werden durch Belege aus dessen FrauenzimmerGesprechspielen (5. Teil, 1645, S. 28), aus Buchners Poet (1665, S. 9) und Birkens Teutscher Rede-bind und Dicht-Kunst (1679, S. 186). 12 Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 37 f. mit Belegen aus Breitinger (1740), Batteux (1747 ff.) und Geliert (1751), deren Konzilianz auch für die folgenden Jahrzehnte gültig bleibt. 13 Aristoteles: Poetik 9, 3 (übersetzt von Olof Gigon [Anm. 5], S. 36). 14 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, 2 1973, S. 558 (§ 1167).
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schaft sich nicht mit einer bloßen Reihung der Einzelheiten begnüge, sondern mit jedem reflektierenden Einschub, jeder „sinndeutenden Verknüpfung" das k(x&6A,oo anstrebe. 15 Im übrigen betont auch er die weiten Überschneidungsfelder zwischen Poesie und Rhetorik auf kompositorischer wie stilistischer Ebene 16 und läßt einen wesentlichen Unterschied höchstens in der Intentionalität zu: Alle Gattungen der Rhetorik verfolgen den praktischen Zweck der Überzeugung in einer konkreten Frage, während die Poesie „über ihren aktuellen Anlaß hinausweist, j a sich ganz von ihm lösen kann." 1 7 Das heißt: Für die noch immer lebendige Schultradition bleibt zwischen Poesie und Rhetorik als kategorischer Unterschied nur der des Bezugs zur außersprachlichen Wirklichkeit, die formale Differenz des Ganzheitsgrades oder der sprachlich-stilistischen Mittel ist dagegen nur gradueller Natur. Was den ontologischen Aspekt dieser Unterscheidung von Poesie und Nichtpoesie betrifft, so stimmen mit ihr auch alle anderen Literaturtheorien der fünfziger und frühen sechziger Jahre überein: Die Alltagssprache beziehe sich in ihren Sätzen „auf Sachverhalte, die unabhängig von den Sprechern existieren", die Dichtung hingegen beziehe sich nicht mehr „ a u f reale Sachverhalte", vielmehr sei ihre Gegenständlichkeit nur mehr „als Gegenständlichkeit dieser dichterischen Sätze da", wie umgekehrt „die Sätze der Dichtung [ . . . ] sich ihre eigene Gegenständlichkeit (schaffen)". So Wolfgang Kayser 1 8 seit 1948. Ganz ähnlich Rene Wellek seit 1949: „Sie [die Romanfigur] besteht nur aus Sätzen [...]. Sie besitzt weder Vergangenheit noch Zukunft und oft nicht einmal die Kontinuität des Lebens"; die Haupteigenschaft der Dichtung sei deshalb ihr „Schein"-Charakter, das „Erdichtete", die „Erfindung"; die Kunst schaffe „eine Art eigenen Rahmen, der die Aussage des Werkes aus der Welt der Wirklichkeit herausnimmt". 1 9 Und ein genaues Echo davon hören wir aus Käte Hamburgers Buch Die Logik der Dichtung (1957, 2 1968), wo es heißt, der Dichter sei kein Aussagesubjekt, er erzähle nicht von Personen und Dingen, sondern die Personen und Dinge; diese existierten also nicht unabhängig vom Erzählen, sondern nur kraft ihres Erzähltseins. 20 Umgekehrt besitzen nach Käte Hamburger alle Wirklichkeitsaussagen nicht nur ein Aussagesubjekt, des-
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Ebd., S. 559 f. (§§ 1168-1170). Vgl. ebd., S. 43 f. (§ 35), S. 555 (§ 1163). 17 Ebd., S. 555 (§ 1163). 18 Kayser (Anm. 1), S. 14. 19 Rene Wellek und Austin Warren: Theorie der Literatur. Frankfurt am Main 1963 (Ullstein Buch 420/421), S. 19. 20 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 2 1968, S. 113. 16
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sen Wirklichkeit sich allein darin erweise, „daß wir die Frage nach seinem Ort in der Zeit stellen können" 2 1 , sondern auch ein Aussageobjekt, das unabhängig von seinem Ausgesagtwerden existiert 22 . *
Alle diese ontologischen Definitionen setzen die Polarität „poetisch nichtpoetisch" mit „fiktional - nichtfiktional" gleich und verstehen diese Gegenüberstellung ausdrücklich wertindifferent. Doch bleiben sie bei dieser rein theoretischen Konfrontation nicht stehen; sie fragen vielmehr, auf Grund welcher äußeren Kriterien ein konkreter Text jeweils dem einen oder anderen Bereich zugeordnet werden könne. Man versucht also - nun schon im Unterschied zur Schultradition - , auch auf formaler und stilistischer Ebene eindeutige und womöglich zur ontologischen Unterscheidung analoge Grenzen zu entdecken und zu markieren. Ein noch immer beliebtes Differenzierungskriterium ist die Opposition von Vers und Prosa, von gebundener und ungebundener Rede, obwohl schon Aristoteles dieses Kriterium als unbrauchbar erwiesen hat 2 3 und seine Widerlegung - gerade angesichts der neueren Prosadichtung - auch von modernen Theoretikern grundsätzlich anerkannt wird. Dennoch gelten etwa für Kayser oder Wellek 2 4 Metrum, Reim, Refrain, Alliteration, Lautmalerei und ähnliche Verfremdungen als wesentliche Mittel, auf das Sprachzeichen als solches aufmerksam zu machen und so im Text jene autonome Gegenständlichkeit hervorzurufen. Dies war auch der Ausgangspunkt der bisherigen Bemühungen der Textlinguistik um die Lösung unserer Frage. Als Roman Jakobson 1958 den Begriff der Äquivalenz prägte 25 , d. h. die regelmäßige Wiederholung 21
Ebd., S. 45. Ebd., S. 44. 23 Aristoteles: Poetik 9, 2: „Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine Verse schreibt und der andere nicht (denn man könnte j a die Geschichte Herodots in Verse setzen und doch bliebe es gleich gut Geschichte, mit oder ohne Verse) [ . . . ] " (übersetzt von O l o f Gigon [Anm. 5], S. 36). 24 Kayser (Anm. 1), S. 14 f.; Wellek/Warren (Anm. 19), S. 17. - Sie sind darin nur die jüngsten Vertreter einer humanistisch-klassizistischen Ästhetik, die von jeher (s. die Namen in Anm. 9 und später Wieland, Goethe, Grillparzer, Hegel und seine Schule) den Vers als ein wesentliches Ingrediens der Poesie betrachtet hat. 2:> Roman Jakobson: Linguistics and Poetics. [Vortrag, gehalten 1958 auf der PoetikKonferenz der Indiana-University, Bloomington]. Erstdruck in: Style in Language. Ed. by T. A. Sebeok. Cambridge, Mass., New York, London 1960, S. 350-377; deutsch u. d. T.: Linguistik und Poetik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hrsg. von Jens Ihwe. Bd. II/1. Frankfurt am Main 1971, S. 142-178, bes. S. 153 ff. 22
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gleichwertiger Texteinheiten zum Hauptprinzip der Dichtung erklärte, dachte er wohl vor allem an lyrische Sprache - jedenfalls haben seine Nachfolger (Bierwisch, Baumgärtner, S. J. Schmidt) ausschließlich die Alltagsrede mit der Gedichtsprache, noch dazu aus der modernen Lyrik, verglichen, um über den Parallelismus der Äquivalenz hinaus weitere eindeutige Kennzeichen der poetischen Texte, wie: Komplexität des Satzbaus, semantische Mehrdeutigkeit von Wörtern und Satzteilen, nicht zuletzt die Abweichung poetischer Sprache von den Regularitäten der Grammatik zu entdecken. 26 Das sind alles Erscheinungen, die sicher in lyrischen Texten gehäuft auftreten, aber für eine Abgrenzung des poetischen Gesamtbereichs unbrauchbar sind. Denn entweder sind sie zwar mögliche, aber nicht notwendige Kennzeichen dichterischer Sprache (wie die Mehrdeutigkeit und die Abweichung) oder sie sind nicht auf dichterische Texte beschränkt (wie die Äquivalenz und die Komplexität). Vergleiche zwischen Alltags- und Gedichtsprache halten sich also noch in der Etappe auf, die eigentliche Front der Auseinandersetzung kommt erst mit den brisanten Grenzbeziehungen zwischen Prosadichtung und den ja zumeist in Prosa gehaltenen Zweckformen in den Blick. Dieser Front nähern sich daher erst die Erzähltheoretiker, als eine der frühesten wohl Käte Hamburger. Auch sie fragt über die ontologische Abgrenzung hinaus nach sprachlichen Symptomen der fiktiven Erzählwelt 27 und findet sie vor allem im epischen Präteritum, das in erzählender Dichtung seine Vergangenheitsfunktion verliere und damit die Raum- und Zeitlosigkeit des fiktiven Erzählens bestätige. Freilich wird dieses epische Präteritum nur an vereinzelten Stellen, beim Auftreten deiktischer Zeitadverbien, bei Verben innerer Vorgänge, in Abschnitten der „erlebten Rede" erkennbar, so daß sich also nur punktuell, nie durchgängig fiktives von nichtfiktivem Erzählen unterscheiden läßt. Wenn man darüber hinaus gegen Hamburger 28 selbstverständlich auch jeden Ich-Roman zur fiktiven Welt rechnet, obwohl hier die genannten Symptome nicht mehr auftreten können, bleiben diese lediglich für die Er-Erzählung und auch da nur mögliche, keineswegs kategorische Kennzeichen des fiktiven Bereichs. In seiner Kritik an Käte Hamburgers Dich26 Manfred Bierwisch: Poetik und Linguistik. In: Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft. Hrsg. von Rudolf Gunzenhäuser und Helmut Kreuzer. München 1965, 4 1971, S. 49-65. - Klaus Baumgartner: Formale Erklärung poetischer Texte. In: Ebd., S. 67-84. - Siegfried J. Schmidt: Alltagssprache und Gedichtsprache. Versuch einer Bestimmung von Differenzqualitäten. In: Poetica 2 (1968), S. 285-303. - Vgl. aber den kritischen Forschungsbericht von Klaus Baumgärtner: Der methodische Stand einer linguistischen Poetik. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 1 (1969), S. 15-43. 27 Hamburger (Anm. 20), S. 56-111 („das fiktionale Erzählen und seine Symptome"). 28 Ebd., S. 245 ff.
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tungslogik hat denn auch Harald Weinrich 2 9 weder die Erzähltempora (Präteritum und Plusquamperfekt) ausschließlich der Dichtung noch die besprechenden Tempora (Präsens und Perfekt) ausschließlich der Nichtdichtung zugeteilt, sondern die Grenze der Tempusgruppen quer dazu gezogen. Damit rücken bei ihm Epik und Geschichtsschreibung als erzählte Welt, Lyrik, Drama und Rede als besprochene Welt jeweils nahe zusammen, so daß die Tempora überhaupt nicht mehr als Fiktionssignale gelten können. Im übrigen sei angemerkt, daß es sich auch bei diesen erzähltheoretischen Symptomen um rein grammatikalische, noch nicht um stilkritische und also wie zuvor bei den textlinguistischen Begriffen um völlig wertneutrale Phänomene handelt. *
Dieser unbefriedigenden Aporie empirischer Unterscheidungsmühsal, die ihnen die antiken Autoren hätten voraussagen können, suchten Literaturtheoretiker und Linguisten in den letzten Jahren dadurch zu entkommen, daß sie das literarische Werk stärker im Spannungsfeld zwischen Autor und Leser betrachteten, unser Problem also im Zusammenhang einer Kommunikationstheorie zu lösen versuchten. Dabei wurde entweder mehr vom Autor her, also produktionsästhetisch, oder mehr vom Leser her, also rezeptionsästhetisch, argumentiert. Die produktionsästhetische These lautet, daß allein die Intention des Autors über den fiktionalen oder nichtfiktionalen Charakter eines Textes entscheide. Wie aber ist diese Intention zu erkennen? Sie sei, so lautet die eine Antwort, einigermaßen eindeutig nur aus textexternen Äußerungen des Verfassers zu erfahren. Demgegenüber wurde geltend gemacht, daß sie auf diesem Wege dem Leser nicht immer bekannt werden könne, daß er letztlich auf direkte Orientierungssignale, etwa im Titel des Werks („Roman", „Novelle", „Tagebuch") angewiesen sei. Dies wiederum rief den Einwand hervor, sowohl Äußerungen des Autors über sein Werk als auch direkte Gattungshinweise könnten Täuschung, falsche Etikette sein, die ebensowenig eindeutig seien wie die textimmanenten Symptome. 30 In dieser Verlegenheit hat Wolfgang Preisendanz 31 den
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Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 2 1971 (Sprache und Literatur 16), S. 86-90. 30 Vgl. die Diskussion über Siegfried J. Schmidts Vorlage: Ist „Fiktionalität" eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie? In: Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. Hrsg. von Elisabeth Gülich und Wolfgang Raible. Frankfurt am Main 1972, 2 1975 (Athenaion-Skripten Linguistik 5), S. 72-80, bes. S. 74 f., 80. - Harald Weinrich: Fiktionssignale. In: Positionen der Negativität. Hrsg. von Harald Weinrich. München 1975 (Poetik und Hermeneutik 6), S. 525.
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beherzigenswerten, freilich nicht leicht zu verwirklichenden Vorschlag gemacht, die Intention des Autors weder von diesem selbst noch vom Werk als isolierter Einzelheit zu erfragen, sondern dessen fiktionalen oder nichtfiktionalen Charakter aus den historischen, genauer: den gattungs- und epochengeschichtlichen Bedingungen und Verhältnissen des Werkes, d. h. aus einem größtmöglichen Kontext zu erschließen, wobei auch Preisendanz sich davon keine „restlos zuverlässigen und eindeutigen Kriterien" 3 2 verspricht. Stark relativiert wird indessen das Gewicht der Autorintention durch die rezeptionsästhetische Gegenthese, daß im Grunde nur der Leser über die Zuordnung eines Textes entscheide, je nach seiner Einstellung und Erwartungsperspektive, gleichgültig, ob diese mit der Intention des Autors übereinstimme oder nicht. 3 3 Beispiele abweichender Rezeption gibt es in der Tat genug. Poetische Werke können als historische Dokumente verstanden werden. So wurde der Werther - zum Erschrecken seines Autors - dank der verbreiteten Kenntnis der biographischen Hintergründe vielfach als mehr oder weniger reale Geschichte gelesen. 34 Umgekehrt können historische Berichte, Reden, Briefe, vor allem wenn sie von der Patina des Alters verfremdet sind, ohne Beachtung ihres ursprünglichen Anlasses als zweckfreie, in sich autonome Gebilde empfunden und goutiert werden; die Briefe der Mme de Sevigne sind aus diesem Grunde klassische Literatur geworden. 35 Aber auch Brechts Lehrstücke müssen nicht als Zweckformen, nämlich als Anweisungen zum praktischen Handeln, sie können auch als ein
31 Wolfgang Preisendanz: Sachverhalte in Fiktionen. In: Positionen der Negativität (Anm. 30), S. 520-522. 32 Ebd., S. 521. 33 Im Ansatz vertreten schon von Jan Mukarovsky in der Abhandlung Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten (1936); wieder in: J. M.: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt am Main 1970, bes. S. 69-71 (über die Beziehung ästhetischer, utilitaristischer und emotionaler Norm und ihre wechselnde Vorherrschaft j e nach der sozialen Umwelt der Rezipienten). - Vgl. ferner die in Anm. 30 genannte Diskussion, S. 74 f. und Karlheinz Stierle: Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten. In: Positionen der Negativität (Anm. 30), S. 239. 34 Vgl. Johann Christian Kestner an Goethe, Anfang Oktober 1774 (Briefe an Goethe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1, Hamburg 1965, S. 36 f.); Goethes Antwort an Kestner, 21. November 1774 (Goethes Briefe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1, Hamburg 1962, S. 173 f.). Vgl. auch Goethes rückblickende Darstellung in Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 13. Buch (Goethes Werke. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 9, Hamburg 1955, S. 592 f.). 35 Vgl. Stierle (Anm. 33), S. 239. - Ober frühere, teils ebenfalls ästhetisch bestimmte, teils gehaltsbetonte Rezeptionsphasen dieser Briefe unterrichtet Fritz Nies: Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sevignebriefe. München 1972 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 21).
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fiktives Spiel verstanden werden. Schließlich kann man auf die in moderner Poesie beliebte Montagetechnik verweisen. Ihr Einbau realer Dokumente in einen fiktionalen Kontext läßt dem Leser die Wahl, die nichtfiktionalen Teile in bewußter Spannung zur poetischen Umgebung oder aber von ihr auf die fiktionale Ebene aufgehoben zu erblicken. Sowohl die Möglichkeit der von der Autorintention abweichenden als auch die der wahlweisen Rezeption lassen aber nur den Schluß zu: Keine noch so eindeutig scheinenden Orientierungssignale, keine noch so sicher erkundete Absicht des Autors können eine Zuordnung des Werkes zum fiktionalen oder nichtfiktionalen Bereich erzwingen, trotz solcher ursprünglichen Steuerung kann der Text als Ganzes auch in den je anderen Bereich versetzt werden. *
Unser kurzer Überblick über die verschiedenartigen Bemühungen von Literaturwissenschaft und Linguistik um eine Unterscheidung von fiktionalem und nichtfiktionalem Bereich erlaubt also folgendes Fazit: A u f ontologischer Ebene gelingt es seit alters, eine klare und eindeutige Grenze zu ziehen: Werke der fiktionalen Literatur schaffen eine ihnen je eigene Gegenständlichkeit, eine mögliche Welt, die zwar gelegentlich auf reale Sachverhalte bezogen werden kann 3 6 , aber grundsätzlich unabhängig von ihnen existiert; Werke der nichtfiktionalen Literatur sind dagegen stets zweckhaft auf reale Sachverhalte bezogen, deren Existenz nicht von ihrer Nachbildung im Werk abhängt. Darin stimmen alle Richtungen der Sprachund Literaturwissenschaft miteinander und mit den ältesten Traditionen überein. - A u f der empirischen Ebene gelingt dagegen keine eindeutige Grenzziehung. Während die bis auf die Antike zurückgehende Lehrbuchtradition eine starke Wechselwirkung zwischen Poetik und Rhetorik sieht und anerkennt, versucht die moderne Philologie auch hier klare Unterscheidungskriterien zu ermitteln; doch gelingt ihr oft nur durch Sammlung von Indizien, und zwar nur auf der wertneutralen Stufe der Grammatik, die Zuordnung eines Textes, ohne sie in jedem Fall streng beweisen zu können, zumal die leserorientierte Kommunikationstheorie das Entweder-Oder der Zuordnung überhaupt in Frage stellt. Indirekt wird damit die ältere Auffassung von der starken Interferenz zwischen Poetik und Rhetorik bestätigt, und mit dieser Antwort auf unsere 36 Diese Möglichkeit (spielerischer) Bezugnahme fiktionaler Texte auf wirkliche Sachverhalte betont Hans Ulrich Gumbrecht: Fiktion und Nichtfiktion. In: Funk-Kolleg Literatur. Bd. 1. Hrsg. von Helmut Brackert und Eberhard Lämmert. Frankfurt am Main 1977, S. 188209, bes. S. 198 f.
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Vorfrage sind wir nunmehr besser gerüstet, das noch immer umstrittene Problem der unterschiedlichen Bewertung von poetischer und nichtpoetischer Literatur zu erörtern.
Unterschiedliche Bewertung von poetischen und nichtpoetischen Formen? Wenn Unterscheidungskriterien höchstens auf der wertindifferenten Ebene gefunden werden können, im stilistischen Bereich aber grundsätzlich jeder nur denkbare Austausch zugelassen ist, dann scheint es unbegründet zu sein, einen fiktionalen Text, nur weil er sich seine eigene Gegenständlichkeit schafft, für eine höhere Art von Literatur zu halten als einen nichtfiktionalen Text, nur weil dieser der realen Welt zugeordnet bleibt. Es ist jedenfalls nicht beweisbar, daß ein fiktives Thema mit seinem zweifellos größeren Spielraum zugleich die größere Sprachkraft schenke. Diese ist unabhängig vom gewählten Sujet und kann sich in der Poesie wie in der Nichtpoesie bewähren oder versagen. Umgekehrt steigert auch nicht allein schon die zunehmende Sprachkraft die Geschlossenheit der dargestellten Welt. 3 7 Sprachliche Gestaltungskraft ist keine Funktion der Fiktionalität, Fiktionalität keine Garantie für höheren ästhetischen Wert. Dem scheint nun aber der Altvater der Literaturtheorie, Aristoteles selbst, zu widersprechen. In dem schon genannten 9. Kapitel seiner Poetik fährt er nämlich nach der schon zitierten Unterscheidung: „der Geschichtsschreiber erzählt, was geschehen ist, der Dichter, was geschehen könnte", ausdrücklich wertend fort: „Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender (aTOuSaioiepov) als die Geschichtsschreibung. Denn" und nun folgt die eigentliche Begründung für dieses Werturteil in dem uns schon bekannten Satz: „die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen." 38 Das heißt: Der Grad der Allgemeingültigkeit, des Ganzheits-Charakters, der Totalität des Gegenstandes wird zum Wertkriterium erhoben. Das ist zunächst noch kein ästhetisches Urteil, ist vielmehr nur an dem Thema, dem Aussageobjekt orientiert, und so können hier bereits Poesie und Philosophie, die ja von Hause aus nicht zur Poetik, sondern zur Rhetorik gehört 39 , auf gleicher Wertstufe stehen. Wenn nun darüber hinaus auch die Wissenschaft, sofern sie ebenfalls der
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Vgl. dagegen Seidler (Anm. 4), S. 40. Aristoteles: Poetik 9, 3 (übersetzt von Olof Gigon [Anm. 5], S. 36). Vgl. Lausberg (Anm. 14), S. 44 (§ 36).
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Philosophie zugeordnet ist 4 0 , und die Redekunst, sofern sie im Austausch mit der Poesie lebt 4 1 , ein Streben nach ganzheitlicher, allgemeingültiger Thematik zeigt, können sie wie Dichtung und Philosophie am höheren literarischen Wert Anteil erhalten. Denn es ist einsichtig, daß etwa eine Biographie ihr Wesen noch nicht erfüllt, wenn sie die zerstreuten Einzelheiten eines Lebens bloß in ihrer Zufälligkeit aneinanderreiht (also nur das k o $ ' 8KCXGTOV beobachtet), sondern erst dann, wenn sie sie in bewußter Auswahl und Komposition zur einheitlichen Lebensgestalt (zum K a ^ o ^ o u ) verdichtet; in dieser Form bleibt sie dann nicht mehr unverbindliche Geschichte, sondern kann Vorbildcharakter auch für die eigene Zeit gewinnen. A n diesem Beispiel wird zugleich deutlich, daß die Forderung nach dem KaSoXov auch die nach der formalen Ganzheit, d.h. eine ästhetische Forderung einschließt, die offenbar auch an nichtpoetische Werke der Literatur gestellt werden kann. Wenn man zudem bedenkt, daß jedes brüchige oder mißlungene Poem die aristotelische Voraussetzung der Ganzheit nicht erfüllt, wird auch von daher klar, daß mit der Fiktionalität nicht von vornherein ein Ka$oA,ou mitgegeben ist. Vielleicht deutet im zitierten Satz der Komparativ jiaÄAov („eher": „die Dichtung redet eher vom Allgemeinen") auf diese offene Grenze hin. Mit anderen Worten:"Epya a7rou5aia, ernsthafte, wichtige, bedeutende Werke, d.h. Schriften von philosophischem wie ästhetischem Wert, sind in poetischer wie in nichtpoetischer Literatur möglich, sofern sie die Bedingung der Totalität in Thema und Form erfüllen; in beiden Bereichen nehmen aber auch Bedeutung und Wert der Texte ab, im Maße sie jener Forderung nicht Genüge leisten. *
Ganzheit, Geschlossenheit ist also das einzige und zugleich gemeinsame Wertkriterium für alle Literatur, und so hat sich die Meinung, wertvolle Literatur, solche, die unsere Lektüre wie unser wissenschaftliches Interesse verdient, sei allein im poetischen Bereich zu finden, als eine zu enge Auffassung erwiesen, weil sie die Fiktionalität schon an sich als strikt ausschließendes Qualitätsmerkmal wertet. Daraus ergibt sich positiv, daß grundsätzlich auch der nichtpoetische Bereich, weil auch in ihm wertvolle Literatur anzutreffen ist, als Gegenstand der Literaturwissenschaft anzuerkennen sei. Die klassischen Philologen werden dies für selbstverständlich
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Ebd., S. 559 (§ 1169). S.o. S. 12-14.
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halten, denn es gehört zur besten Tradition ihrer Disziplin, Poesie und Philosophie, Rhetorik, Geschichtsschreibung und alle übrigen Fachwissenschaften als Zweige der einen Literatur und diese, mit Schadewaldt zu reden, als „einheitlichen Ausdruck der griechischen wie römischen Kultur (zu) begreifen" 42 . Ja, es ist in Geschichten antiker Literatur guter Brauch, die erstrangigen Philosophen, Redner und Historiker mit gleicher Ausführlichkeit zu würdigen wie die erstrangigen Dichter 4 3 , und so scheint daraus gar zu folgen, daß die nichtpoetischen Schriftsteller nicht nur zu berücksichtigen, sondern als den Dichtern gleichwertig zu behandeln seien. Und doch zögere ich, diesen Schritt zu tun, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in beiden Literaturbereichen die werthierarchische Binnenstruktur jeweils eine andere Gestalt besitzt. Denn an ein fiktionales Werk muß a priori der Ganzheitsanspruch erhoben werden, durch dessen Erfüllung der fiktionale Charakter des Werkes überhaupt erst gerechtfertigt wird. Diesem Anspruch ist aber jede fiktionale Gattung gleichermaßen ausgesetzt, so daß von daher die Frage einer Wertskala der poetischen Formen, etwa der frühere Streit, ob das Drama oder das Epos die höhere Dichtart sei 4 4 , oder ob der Roman mit dem Epos auf gleiche Stufe zu stellen sei 4 5 , als im Grunde sachfremd und damit sinnlos erscheint. Mit mehr Recht kann man dagegen fragen, ob man nicht innerhalb des nichtfiktionalen Bereichs die verschiedenen Zweckformen danach stuft und ordnet, wieweit an sie jeweils ein solcher Ganzheitsanspruch gestellt werden kann, wieweit sie fähig sind, den Zusammenhang eines Weltausschnittes deutend zu spiegeln. Wichtiger als die Einteilung der nichtpoetischen Gattungen nach ihren Formen, ja wichtiger sogar als alle Gliederungsversuche nach
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Wolfgang Schadewaldt: Der Umfang des Begriffs der Literatur in der Antike. In: Literatur und Dichtung. Versuch einer Begriffsbestimmung. Hrsg. von Horst Rüdiger. Stuttgart 1973 (Sprache und Literatur 78), S. 14. 43 Vgl. z. B. A l b i n Lesky: Geschichte der griechischen Literatur. Bern und München 1957, deren 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 1971 Sophokles 34, Thukydides 32 und Aristoteles ebenfalls 32 Seiten widmet. 44 Argument für den Primat des Epos im 18. bzw. des Dramas im 19. Jahrhundert ist der jeweils nur spekulativ gedeutete Mischcharakter: Zuerst wird das Epos, weil nach dem Redekriterium genus mixtum, als umfassende Gattung betrachtet, in der „alle anderen Gattungen und Formen der besonderen Gedichte gleichsam zusammen(fließen)" (Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Zürich und Leipzig 1740, S. 90; vgl. Scherpe [Anm. 7], S. 180 f.); analog w i r d später das Drama wegen seiner Verbindung der „Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzipe der L y r i k " „als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen" (Hegel [Anm. 2], Bd. 2, S. 512). 45 Vgl. Voßkamp (Anm. 10), S. 160-168, 201 f. - Friedrich Sengle: Der Romanbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: F. S.: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850. Stuttgart 1965, S. 175-196; hier S. 177-180.
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ihren Funktionen 46 erscheint mir diese Ordnung nach dem Ganzheitskriterium, und es wäre für die Klärung unserer Wertfrage schon viel gewonnen, wenn sich dieses Ordnungsprinzip für den nichtfiktionalen Bereich im allgemeinen Bewußtsein der Literaturwissenschaft durchsetzen könnte. Vorschlag einer neuen Grenze zwischen Literatur und Nichtliteratur Bei Anwendung dieses Kriteriums wird nämlich rasch deutlich, daß die Zweckformen nicht wie die poetischen Gattungen grundsätzlich gleichem Anspruch ausgesetzt sind, daß hier vielmehr mindestens zwei höchst verschiedene, und nunmehr auch qualitativ verschiedene Gruppen festzustellen sind. Die eine Gruppe umfaßt die bloßen Gebrauchstexte: Rezepte, Protokolle, Gebrauchsanweisungen aller Art. Sie werden thematisch und formal von dem praktischen Zweck, den sie zu erfüllen haben, total beherrscht. Das hat zwei entscheidende Folgen. Erstens ergreifen sie über ihren speziellen Gegenstand hinaus keinen weiteren Weltausschnitt, und zweitens wird dadurch ihre rasch erreichte normative Gestalt kaum mehr weiter entfaltet, wird vielmehr so gut wie unverändert durch die Jahrhunderte weitergereicht. Gerhard Eis, der bahnbrechende Erforscher der mittelalterlichen Fachprosa, belehrt uns z. B. über das ärztliche Rezept, es sei „schon bei den Sumerern und bei den alten Ägyptern in derselben Form anzutreffen, in der es um 800 erstmalig in deutscher Sprache auftritt [...] und bis in die Gegenwart erhalten bleibt" 4 7 . Wegen ihrer unmittelbaren und ausschließlichen Bezogenheit auf meist ebenfalls unveränderte Sachen sind solche strengen Gebrauchstexte als Formen weder entwicklungsfähig noch überhaupt entwicklungsbedürftig, sie haben, weil extrem spezialisiert und textextern gebunden, von Natur aus so gut wie keine Geschichte. Die relative Geschichtslosigkeit solcher Textsorten ist also ein sicheres Zeichen ihrer hochgradigen Partikularität, ihrer Ohnmacht, die Welt des Menschen in ihrer Allgemeinheit, ihrer Totalität auch nur in einem repräsentativen Ausschnitt zu erfassen.
46 Einige Klassifizierungsversuche dieser Art (von Peter Kern, Hennig Brinkmann und Hans Glinz) sind zusammengestellt bei Belke (Anm. 3), S. 43-57; Belkes eigener Gliederungsvorschlag ebd., S. 78-141. 47 Gerhard Eis: Mittelalterliche Fachliteratur. Stuttgart 2 1967 (Sammlung Metzler 14), S. 58.
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Umgekehrt ist bei jeder literarischen Form das Maß ihrer Fähigkeit, sich im Laufe der Geschichte zu entwickeln, j a zu verwandeln, ein Gradmesser für ihr Vermögen, jenen geforderten Ganzheitsanspruch zu erfüllen. Zu dieser zweiten Gruppe, zu den höher organisierten Zweckformen also, die in wachsendem Maße fähig sind, die geistige Welt in ihrer Weite und Tiefe zu spiegeln, gehören die diskursive Fachliteratur der Einzelwissenschaften, die philosophischen Schriften, alle Formen der Beredsamkeit, die beschreibende und kritische Literatur einschließlich der Essayistik, sodann die Selbstzeugnisse (mit Brief und Tagebuch), die Bekenntnis- und Gebetsliteratur, schließlich alle Zweckformen mit erzählendem Charakter, die man unter dem Generaltitel der Geschichtsschreibung zusammenfassen kann. In dieser Stufenfolge steigert sich die thematische Variationsbreite wie die formale Flexibilität, so daß diese höher entwickelten Gattungen des nichtpoetischen Bereichs zunehmend in gedanklichen und formal-stilistischen Austausch mit den Gattungen des poetischen Bereichs treten können. *
Diese Wechselwirkung ist vielfältiger Art. Einmal konnten die Zweckformen von jeher direkt auf die Dichtung einwirken. Der jahrhuntertelange Einfluß der Schulrhetorik auf die Sprache der Dichtung von der Antike bis zur Barockzeit, j a bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde schon genannt. Dazu kommen Anregungen von einzelnen Zweckgattungen auf die zeitgenössische Dichtung, wie man sie vor allem im großen Aufbruch des 18. Jahrhunderts beobachten kann. So hat damals die neue Selbstaussprache in Briefen und Bekenntnisschriften die Entwicklung einer höchst differenzierten Gefühlskultur ermöglicht, die dann über das erbauliche Schrifttum auch die Dichtung der Zeit befruchtet und ihr bis dahin unerhörte Ausdrucksmöglichkeiten geschenkt hat. 48 Gleichzeitig wurde in der Erzählkunst der Aufstieg des Romans nicht zuletzt damit eingeleitet, daß sich die Romanschriftsteller die kausalpsychologische Methode der pragmatischen Geschichtsschreibung zum Vorbild nahmen und so die Gattung vom bisherigen Abenteuerschema befreien und in die neue Richtung des Charakter- und Entwicklungsromans führen konnten. 49 Dieser wiederum 48
Vgl. Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 (Literatur als Kunst), S. 190 ff. 49 Näheres dazu bei Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 1969 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 11), S. 114-126. - Werner Hahl: Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus. Stuttgart 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 18), S. 43-61. - Voßkamp (Anm. 10), S. 186-205. Voßkamp w i l l dabei in der Beziehung zwischen Geschichts- und Romantheorie
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wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom philosophischen Roman abgelöst, worin sich fiktionale Erzählung und die Zweckform des Essays gegenseitig durchdrungen und die Gattung Roman auf eine zeitgemäße poetische Ebene gehoben haben. 50 Einer seiner Protagonisten, Thomas Mann, hat diesen Vorgang (zur Zeit der Vollendung des Zauberberg) so umschrieben: „eine Verschmelzung der kritischen und dichterischen Sphäre, inauguriert schon durch unsere Romantiker, mächtig gefördert durch das Phänomen von Nietzsche's Erkenntnislyrik, hat sich weitgehend vollzogen: ein Prozeß, der die Grenze von Wissenschaft und Kunst verwischt, den Gedanken erlebnishaft durchblutet, die Gestalt vergeistigt und einen Buchtypus zeitigt, der heute bei uns [...] der herrschende ist und den man den ,intellektualen Roman' nennen könnte." 51 Diese wichtige Funktion mancher Zweckformen, der Dichtung Impulse für ihre stilistische und strukturelle Erneuerung zu geben, wird auch indirekt dadurch bestätigt, daß die Dichter zu allen Zeiten gerne die äußere Gestalt bestimmter Zweckformen zum Gehäuse ihrer poetischen Werke gewählt haben, nicht zuletzt um gerade mit der Frage der Fiktion, dem Problem von Wahrheit und Lüge in der Dichtung zu spielen. So konnten Brief- und Tagebuchroman, Reiseerzählung und Chroniknovelle (samt scheinbar wissenschaftlichen Fußnoten), der poetische Dialog, die Gebetslyrik und viele andere formale Übernahmen sich der niemals bestrittenen Energien ihrer nichtfiktionalen Urbilder mit größtem Erfolg bedienen. Diese formale Nähe kann bis zur täuschenden Kongruenz gehen, so daß sich die Forschung bis heute nicht einig ist, ob Karl Philipp Moritzens Anton Reiser als ein psychologischer Roman (wie der Untertitel vorgibt) oder als eine kaum verhüllte reale Autobiographie zu gelten habe. 52 - Umgekehrt kann die erörternd-abwägende Prosa des Essays oder der philosophischen Abhandlung in die Form einer Unterhaltung gekleidet, d.h. aber in einen fiktiven Gesprächsrahmen eingebaut sein, so daß man zweifeln des 18. Jahrhunderts eher einen wechselseitigen Austausch als ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis sehen (S. 188-190). M) Entwicklung und Erscheinungsformen des essayistischen Romans in Deutschland werden dargestellt von Günther Kirchberger: Essay und Dichtung. Probleme ihrer Integration im deutschen Roman von Goethe bis Walter Jens. Mag. Arbeit (masch.) München 1978. 51 Thomas Mann: Ober die Lehre Spenglers [1924]. In: Th. M.: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt am Main 1953, S. 135. 52 Vgl. Ralph Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 110. - Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976 (Studien zur deutschen Literatur 46), S. 147-152 und 167-169. - Niggl (Anm. 12), S. 71 f. - Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' Anton Reiser. Frankfurt am Main 1987, S. 19-24.
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kann, ob solche Werke - man denke nur an Piatons Dialoge - noch zu den philosophischen Traktaten oder schon zur Lehrdichtung zu rechnen seien, zu einer poetischen Gattung also, die mit den nichtfiktionalen Formen die Orientierung auf einen textexternen Zweck gemeinsam hat. Doch genug des Hin- und Herspringens über eine Grenze, die keine rechte Grenze mehr zu sein scheint; genug, wenn klar geworden ist, daß sie mehr von offenen Übergängen als von Schranken und Gräben bestimmt ist. Eine viel deutlichere Linie jedenfalls zieht sich mitten durchs Gebiet der Zweckformen selbst und trennt die eben betrachteten höheren Arten von jenen stereotypen, geschichtslosen Gebrauchs- oder besser Verbrauchsformen, von denen zuvor die Rede war. Die Schärfe dieser Grenze läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, wie höchst unterschiedlich beide Gruppen von der Poesie ausgewertet werden. Einbau und Übernahme der höheren, wesensverwandten Arten vollziehen sich organisch und unauffällig - bis hin zu genauer formaler Analogie, so daß etwa ein Tagebuchroman wie ein reales Diarium gebaut sein kann. Die bloßen Verbrauchsformen dagegen können mit einem poetischen Werk formal nie deckungsgleich werden - es sei denn zum Zwecke der Parodie; wohl aber können sie aus ihrer bisherigen Umgebung unverändert in einen poetischen Kontext gesetzt und durch diesen bewußten Verfremdungsakt fiktionalisiert werden. So will Günter Grass die Kochrezeptformeln, die er der Syntax seines Butt (1977) einfügt, stets als Zitate aus unliterarischem Bereich erkennbar bleiben lassen, um durch das Immergleiche ihrer Formelhaftigkeit das Thema der ewigen Köchin poetisch-ironisch durchzuführen. So hat Peter Handke in seinem Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) eine Reihe purer Gebrauchstexte: eine Gästeliste, eine Filmanzeige, oder die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 zwischen die Gedichte gestreut und damit seine Leser, die j a den Band mit poetischer Brille lesen, nun auch diese Einlagen als selbstgenügsame, als lyrische Texte mit Lautfolge und Rhythmus wahrnehmen lassen. Erreicht wird diese Verwandlung aber nur dank der extremen Artfremdheit der hier in einer radikalen Montage zusammengezwungenen Textsorten, eine Fremdheit, die keine unmerklichen Übergänge erlaubt, sondern einen salto mortale nötig macht, um über eine offensichtliche Kluft hinweg die poetische Ebene zu erreichen. 53
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Das gewählte Beispiel erscheint mir daher, im Gegensatz zu Karlheinz Stierles Kommentar (Die Einheit des Textes. In: Funk-Kolleg Literatur [Anm. 36], Bd. 1, S. 168 f.) gerade nicht als Beleg dafür, daß „Literatur und Nichtliteratur sich nicht einfach eindeutig voneinander abgrenzen lassen" (S. 169).
Probleme literarischer Zweckformen
Mit dieser Kluft haben wir zugleich die qualitative Trennlinie zwischen Literatur und Nichtliteratur bestimmt: Sie ist nicht identisch mit der fließenden Grenze zwischen Poesie und Nichtpoesie, schließt aber die starren, entwicklungsunfähigen Gebrauchsformen aus dem Bereich der Literatur aus. Denn wie dieser Begriff nicht auf die Belletristik eingeengt werden kann, ebensowenig sollte er unbesehen auf alles Geschriebene ausgedehnt werden. Das aber bedeutet für die Literatuvwissenschaft\ Gegenstand ihres Interesses und ihrer Untersuchung muß nicht jeder Text sein, wohl aber sollten es alle literarischen Formen sein, die - gleichgültig, ob fiktional oder nichtfiktional - miteinander in lebendige Wechselbeziehung treten können und deshalb nicht nur eine je eigene, von den anderen mitbestimmte Geschichte 5 4 haben, sondern auch zusammen die eine Literaturgeschichte bilden, deren Gipfel ohne die Kenntnis der Fundamente nicht zureichend erkannt werden können.
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Zu den spezifischen Problemen und Aufgaben, die sich für die Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen ergeben, vgl. den folgenden Beitrag in diesem Band.
Probleme und Aufgaben der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen
Einleitende Bemerkungen zur Definition nichtfiktionaler Gattungen Um die spezifischen Fragen einer Geschichtsschreibung mcMlktionaler Gattungen aus dem allgemeinen Problemfeld der Gattungsgeschichtsschreibung hervorzuheben, ist es nötig, das Verhältnis zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Literaturformen wenigstens anzudeuten.1 A u f ontologischer Ebene gelingt seit alters eine klare Unterscheidung beider Bereiche: Werke der fiktionalen Literatur schaffen eine ihnen je eigene Gegenständlichkeit, eine mögliche Welt, die zwar gelegentlich auf reale Sachverhalte bezogen werden kann, aber grundsätzlich unabhängig von ihnen existiert; Werke der nichtfiktionalen Literatur sind dagegen stets zweckhaft auf reale Sachverhalte bezogen, deren Existenz nicht von ihrer Nachbildung im Werk abhängt. A u f der empirischen, d.h. auf der sprachlich-stilistischen und strukturellen Ebene ist die Grenzziehung dagegen problematisch. Die bis auf die Antike zurückreichende Lehrbuchtradition hat hier von jeher eine starke Wechselwirkung zwischen Poesie und Rhetorik gesehen und zumeist auch anerkannt. Die moderne Philologie ist zwar bemüht, auch im sprachlich-stilistischen Bereich klare Unterscheidungskriterien zu ermitteln, aber es gelingt sowohl den Literaturtheoretikern als auch den Textlinguisten höchstens durch Sammlung von Indizien (wie episches Präteritum, Negation, Äquivalenz, Komplexität des Satzbaus, Intention des Autors, Rezeption des Lesers), einen konkreten Text dem fiktionalen oder nichtfiktionalen Bereich zuzuordnen, ohne diese Zuordnung in jedem Fall streng beweisen zu können. Daraus folgt für die nichtfiktionalen Gattungen ein eigentümlich doppelpoliger Charakter. A u f der einen Seite sind sie stets auf reale Sach-
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Vgl. zum folgenden die ausfuhrlichere Darstellung dieses Verhältnisses im vorhergehenden Beitrag dieses Bandes.
Probleme der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen
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verhalte bezogen, stets auf textexterne Ziele gerichtet, scheinen im Grunde nur sprachliche Mittel für außersprachliche Zwecke zu sein, d. h. ganz im Dienst einer Sache zu stehen, die möglichst getreu und adäquat wiederzugeben ihr einziger Sinn sein kann. A u f der anderen Seite sind auch nichtfiktionale Gattungen literarische Formen und zeigen als solche nicht nur unausweichlich eine literarisierende Verfremdung ihrer Objekte, sondern sind darüber hinaus grundsätzlich allen literarischen Erscheinungen und Möglichkeiten, also auch denen der poetischen Gattungen gegenüber geöffnet. Dabei wird man zwischen den beiden Polen Übergänge und Stufen innerhalb des nichtfiktionalen Gesamtbereichs feststellen können. So sind die bloßen Gebrauchstexte (wie Protokolle, Rezepte, Gebrauchsanweisungen etc.) so sehr zweckgebunden, daß sie über ihren spezifischen Gegenstand hinaus keinen weiteren Weltausschnitt erfassen; das bedeutet, daß ihre normative Gestalt bald erreicht ist und deshalb so gut wie keine Geschichte erfährt. Je mehr jedoch auch nichtfiktionale Formen fähig werden, die geistige Welt in ihrer Weite und Tiefe zu spiegeln und zu deuten und damit das seit Aristoteles auf die poetischen Gattungen angewandte Wertkriterium der Totalität zu erfüllen, steigert sich auch ihre formale Flexibilität. Aufsteigend von der wissenschaftlichen Fachliteratur und dem philosophischen Schrifttum über die verschiedenen Formen der Beredsamkeit, Kritik und Essayistik bis zu den Selbstzeugnissen (mit Brief und Tagebuch) und allen erzählenden, geschichtsschreibenden Zweckformen erhöht sich, bei gleichbleibender Gültigkeit des textexternen Bezugs, die Fähigkeit zur formalen Entwicklung, ja Verwandlung und damit zum Austausch auch mit den Gattungen des fiktionalen Bereichs.
Probleme der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Kritik bisheriger Beispiele
Gattungen.
Aus dieser prinzipiellen Polarität von Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit erwächst für den Geschichtsschreiber einer nichtfiktionalen Gattung das Hauptproblem, beide Komponenten so zu berücksichtigen, daß daraus die für eine literarische Gattung adäquate Geschichte resultiert. Zu berücksichtigen ist einmal der reale Pol. Da nichtfiktionale Gattungen immer Zweck- und Gebrauchsformen sind, spielen bei ihnen - im Unterschied zu den meisten fiktionalen Gattungen - die außerliterarischen Bezüge, Intentionen und Zwecke eine konstitutive Rolle. Schon die Geschichte einer fiktionalen Gattung kann auf die Einordnung der allgemein-
Probleme der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen
historischen Hintergründe und die Darstellung ihrer Impulswerte nicht verzichten. So könnten etwa der Aufstieg des Romans oder die Entstehung des Bürgerlichen Trauerspiels ohne entsprechende Würdigung des sozialgeschichtlichen Wandels im 18. Jahrhundert nicht zureichend beschrieben werden. Um so nötiger, ja unerläßlich ist die Beachtung dieser textexternen Faktoren für die Geschichte einer Zweckform. Denn abgesehen davon, daß hier stets reale Gegenstände den Darstellungsstoff ausmachen: Hier übt nicht nur die allgemeine Zeitgeschichte epochenspezifischen Einfluß aus; zumeist bilden auch aktuelle Situationen und Vorgänge unmittelbar Anlaß und Adresse, und häufiger als poetische Werke sind nichtfiktionale Texte an ein konkretes Publikum in konkreter Wirkungsabsicht gerichtet. Diese vielfältigen Bindungen an die außerliterarischen Gegebenheiten gewinnen historiographische Bedeutung in synchroner wie in diachroner Hinsicht. Soweit sie die Funktionen und Darstellungsmittel der Gebrauchsformen bestimmen, richtet sich nach ihnen auch die Binnengliederung der Gattungen nach Typen und Unterarten. Diachron gesehen, bilden die epochalen Einschnitte der Wirtschafts-, Sozial- und Geistesgeschichte oft genug auch die Zäsuren für die Gattungsgeschichte - häufiger jedenfalls als bei poetischen Formen; man denke an die Bedeutung der Demokratie für die griechische Rhetorik, der Reformation fur Kirchenlied und Predigt, der Renaissance, des Pietismus und der Empfindsamkeit fur die Formen der Selbstdarstellung. Trotz dieser vielfachen Abhängigkeit aller Zweckformen von äußeren Bezügen wäre es problematisch, wenn die Geschichtsschreibung einer nichtfiktionalen Gattung diese im Grunde nur als Ausdruck jener realen Sachverhalte und Hintergründe verstehen und deuten wollte. So aber verfuhr die ältere Historiographie literarischer Gebrauchsformen um und nach 1900, indem sie die einzelnen Werkbeispiele der Gattung primär als kulturhistorische Dokumente, die Gattungsgeschichte als Illustration der allgemeinen Geistesgeschichte gesehen hat. Die zweibändige Geschichte des deutschen Briefes von Georg Steinhausen (1889-1891) trägt den bezeichnenden Untertitel „Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes". Denn die Geschichte einer nationalen Kultur, des geselligen, sittlichen, geistigen Verkehrs in einem Volk ist das eigentliche Ziel dieses Buches, die Briefe selbst fungieren nur als besonders anschauliche Medien, als vermeintlich treue Spiegel der „ E n t w i c k l u n g der Volksbildung und des Volkslebens" 2 .
2
Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Erster Theil. Berlin 1889, S. IV.
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Analog will Werner Mahrholz noch 1919 seine Geschichte der deutschen Selbstbiographie als direktes sozialgeschichtliches Protokoll vom Aufstieg und Verfall des Bürgertums verstanden wissen. 3 Zweierlei ist hier problematisch. Zum einen rechtfertigt diese Blickrichtung wohl kaum die Beschränkung auf eine bestimmte Gattung. Denn warum berücksichtigt der eine nur den Brief, der andere nur das Selbstbekenntnis, wenn doch beide Male die gleiche Kulturgeschichte behandelt werden soll? Kein ernsthafter Sozial- oder Kulturhistoriker wird vor formalen Gattungsgrenzen seiner Quellen haltmachen. Zum anderen übersieht eine solche geistes- oder kulturgeschichtliche Auswertung der Zweckformen, daß auch nichtfiktionale Gattungen keine unmittelbaren Spiegelbilder der von ihnen wiedergegebenen Sachverhalte sind, übersieht also ihre schon erwähnte notwendig literarisierende Gegenstandsverfremdung. Um daher jene Gefahr der kurzschlüssigen Parallelisierung von literarischer Form und ihrem Objekt von vornherein zu vermeiden, wird es sich für den Gattungshistoriker empfehlen, stärker als bisher den formalen Pol im Doppelcharakter der Gebrauchsformen zu berücksichtigen, d. h. seine Quellen weniger als historische Dokumente denn als literarische Gattungen mit eigenen Formgesetzen und Formtraditionen zu betrachten. Gegenüber den früheren, kulturhistorisch bestimmten Versuchen gewinnt damit die Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen eine völlig neue Perspektive. Im Mittel- und Zielpunkt der Untersuchung stehen nunmehr die Zweckform als literarisches Produkt und ihr geschichtlicher Wandel; alle Bezüge zum außerliterarischen Bereich: Thematik, Weltbild, Lebensgefühl bis hin zu den äußeren Entstehungs- und Wirkungsbedingungen, werden hingegen nur noch insofern berücksichtigt, als sie der Erhellung dieser Formengeschichte dienen können. Erst aus dieser Perspektive die uns aus der Geschichtsschreibung poetischer Gattungen seit langem vertraut ist - können auch nichtfiktionale Gattungen /z7erarhistorisch erforscht werden, kann eine Gattung, gleichgültig, ob poetisch oder nichtpoetisch, als Gattung voll gewürdigt werden. In diesem Sinn hat schon 1929 also etwa gleichzeitig mit den Programmen der russischen Formalisten 4 Günther Müller in seinen Bemerkungen zur Gattungspoetik die literarische 3 Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919, S. 1-9 (Einleitung). 4 Vgl. die von Jurij Striedter mit einer einleitenden Abhandlung herausgegebene Anthologie: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 6/1); darin besonders die Aufsätze von Jurij Tynjanov: Das literarische Faktum (1924) und Über die literarische Evolution (1927), S. 393-431 und S. 433-461.
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Gattung definiert: „Sachhaltige Bestimmungen wie Ton, Ethos, geistiger Ort, Anspruch, Welthaltung kommen ihr nicht zu." Was aber bedingt sie dann? „Doch wohl nichts anderes als die Form." 5 Was hier im Hinblick auf fiktionale Gattungen gesagt ist, gilt gleichermaßen für die nichtfiktionalen Formen, zumal Günther Müller zum Schluß seiner Bemerkungen hofft, sie könnten dazu anregen, „die Lehre von den literarischen Gattungen ohne Bindung an die überkommene Dreiteilung neu aufzubauen, was außer Roman, Lehrdichtung und Schwank die zahlreichen Gruppen schriftstellerischer Literatur längst wünschenswert erscheinen lassen." 6 Damals, in der Blütezeit der Geschichtsschreibung poetischer Gattungen in Deutschland, wurden also schon die Keime gelegt für eine Ausweitung ihrer Methode auch auf den nichtfiktionalen Bereich, und es wäre wohl an der Zeit, diese frühen Anregungen in die Tat umzusetzen. Mustert man nämlich die wenigen seither geschriebenen Geschichten nichtfiktionaler Gattungen, so muß man feststellen, daß sie weder in der Methode noch in der Zielsetzung den Ansprüchen genügen, die an eine Gattungsgeschichte als Formengeschichte zu stellen sind. Einige verfahren ohnehin noch ganz ideengeschichtlich, wie Rene Welleks monumentale Geschichte der Literaturkritik 1750-1950 (1955 ff.) oder Anni Carlssons Deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart (1969); andere, wie die Essay-Geschichten von Klaus Günther Just (1954, 2 1960) und Bruno Berger (1964) 7 oder Werner Schütz' Geschichte der christlichen Predigt (1972), berücksichtigen zwar auch den Formaspekt ihres Gegenstandes, es bleibt aber bei einem zusammenhanglosen Nebeneinander von thematischer und formaler Untersuchung, da der geistesgeschichtliche Zielgrund aufgegeben und eine literaturwissenschaftliche Richtschnur noch nicht gefunden ist. In einer solchen methodologischen Grauzone können daher auch nur Einfuhrungen und Abrisse wie die genannten Arbeiten entstehen, als deren einzig mögliches Ordnungsprinzip die Reihung nach Epochen und Ländern und deren Untergliederung in Einzelgestalten oder Personengruppen erscheint.
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Günther Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik. In: Philosophischer Anzeiger 3 (1929), S. 129-147; hierS. 147. 6 Müller (Anm. 5), S. 147. 7 Klaus Günther Just: Essay. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. von Wolfgang Stammler. Bd. 2. Berlin 1954, Sp. 1689-1738; 2. Aufl. Berlin 1960, Sp. 1897-1948. - Bruno Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern und München 1964 (Sammlung Dalp 95).
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Aufgaben künftiger Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen Wie könnte nun eine dezidiert literaturwissenschaftlich orientierte Geschichte einer nichtfiktionalen Gattung Gestalt gewinnen? (1) Ein erstes Erfordernis wäre, daß über die herkömmlichen Höhenkammstudien hinaus, die nur die ästhetisch befriedigenden oder historisch interessanten Beispiele zu einer Gipfelkette aneinanderreihen, auch die wenig beachteten oder gar unentdeckten Niederungen aufgesucht und vermessen würden. Denn nur wenn das gesamte Gelände zum Gegenstand der Erkundung gemacht wird, können die größeren (epochalen, manchmal säkularen) Zusammenhänge der Gattungsgeschichte erkannt und erst dann auch der historische Ort und Stellenwert der Gipfel bestimmt werden. Mit Grillparzer zu reden: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat." 8 (2) Voraussetzung dafür ist eine möglichst breite Materialbasis; sie zu gewinnen, wird im Falle der Zweckformen durch eine z.T. höchst ungünstige Quellenlage erschwert. Viele nichtfiktionale Gattungen besitzen ja entweder keinen Öffentlichkeitscharakter (Brief, Tagebuch, Erinnerungen sind zunächst private Selbstzeugnisse) oder eine zwar öffentliche, aber mündliche Darbietungsform (Rede, Predigt). In beiden Fällen besteht keine primäre Absicht schriftlicher Publikation, so daß die Breite der Quellenbasis von den Zufällen der späteren Rezeption, nachträglichen Fixierung, Auswahl oder Entdeckung abhängt. Aber selbst die schriftlich fixierten und verbreiteten Gebrauchsformen (Gesetzestexte, wissenschaftliche und kritische Abhandlungen, Rezensionen, Flugschriften, historiographische Formen, Memoiren, Reisebeschreibungen etc.) erfahren wegen ihrer Zeitgebundenheit meist nur eine kurzlebige Aufnahme und sind schon der nächsten Generation oft nicht mehr gegenwärtig. Um also für Geschichten nichtfiktionaler Gattungen eine zureichende Materialbasis zu gewinnen, ist mehr als bei poetischen Gattungen ein oft mühsames Aufspüren und Wiederentdecken verborgener und entlegener Quellen nötig. (3) Erst eine solche breite Quellenerschließung ermöglicht sodann eine sichere, historisch fundierte Gliederung der gesammelten Beispiele. Auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird es gerade bei nichtfiktionalen Gattungen naheliegen, j a oft genug geboten sein, das Material zunächst 8
Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. Erzählung. In: F. G.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher. Bd. 3. München 1964, S. 148.
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nach den außerliterarischen Bezügen zu ordnen. In der Regel lassen sich bei jeder Zweckform verschiedene Entstehungs- und Wirkungsräume feststellen, unterschieden nach ihrem Privat- und Öffentlichkeitscharakter, nach Gesellschafts- und Berufsständen, nach nationalen, religiösen oder Generationsgemeinschaften, Räume, deren Verhältnis von Autonomie und gegenseitiger Offenheit historisch bedingt ist, deren grundsätzliche Eigentümlichkeit aber einen unbestrittenen heuristischen Wert für die erste Grobgliederung besitzt. Die den einzelnen Lebensbereichen zuteilbaren Arten oder Typen der Gattung werden sich aber nicht nur nach den Stoffen und Gegenständen, sondern auch nach der Form ihrer Darstellung mehr oder weniger unterscheiden, d. h. die generelle Gestalt eines Gattungstyps wird in ihrer thematisch-formalen Einheit sehr stark vom jeweiligen „Sitz im Leben" her zu begründen sein. Der Gattungshistoriker wird sodann beachten, inwiefern eine Folge von Beispielen des gleichen Typs, also der gleichen Lebenswelt, durch eine oder mehrere Epochen hindurch die Gestalt dieses Typs bewahrt, verändert oder verwandelt. Bei dieser vergleichenden Analyse der Beispiele wird man zunächst die gemeinsame Kontinuität oder Veränderung von Thematik, Komposition und Stil bis ins Detail bestimmen und dabei das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Traditionsgehorsam und verborgenem bis offenem Erneuerungswillen entdecken. Je weiter man dabei die Herkunft der jeweiligen Gattungstypen in die Vorgeschichte des eigenen Untersuchungszeitraums zurückverfolgt, um so genauer wird man der überraschenden Langlebigkeit der Gattungstraditionen gewahr, um so sicherer lassen sich dann aber auch die entscheidenden Neuansätze erkennen. Man kann z. B. beobachten, wie die verschiedenen Typen einer Gattung, die oft lange in ihren alten Traditionsbahnen weitergelaufen sind, in einer Zeit des Umbruchs sich gegeneinander öffnen und z. T. über die Grenzen ihrer Lebensbereiche hinweg neue Mischformen ermöglichen. Die Typen können dann als frei verwendbar, das einzelne Beispiel als individuelle Brechung der allgemeinen Interferenz erscheinen. Dem Blick des Gattungshistorikers zeigen sich an solchen Angelpunkten der Geschichte Traditionen und Typen aufgelöst in unverwechselbare, ja unvergleichliche Einzelstücke, doch bleibt zu prüfen, wieweit aus solchem momentanen Mischkessel wieder neue Vorbilder, neue Traditionen hervorgehen. (4) Hier freilich gilt es, sofort wieder jene andere Gefahr zu sehen und zu meiden, nämlich Kontinuität und Wandel der Formen für sich zu beschreiben, ohne nach ihrer außerliterarischen Erklärung und Begründung
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zu fragen. 9 Gerade bei Zweckformen ist es angebracht, ja notwendig, Anlässe und Ursachen dafür in den Wirkungsräumen der Gattung und in dem ihnen allen gemeinsamen Zeithintergrund zu suchen. Um jedoch trotz veränderter Blickrichtung nicht wieder in den alten Kurzschluß-Fehler zu verfallen, empfiehlt es sich, als überbrückendes Mittelglied die jeweils zeitgenössische Gattungstheorie aus wiederum oft entlegenen Quellen zu erschließen und die Darstellung ihres Entwicklungsganges ständig mit der Geschichte der Gattungspraxis zu verflechten. Denn die zeitgenössische Diskussion um eine Gattung kann mit ihren Ansprüchen, Erwartungen und Zweifeln noch am ehesten zwischen dem generellen Zeithintergrund und dem gattungspraktischen Vordergrund vermitteln. Sie kann bereits die typologische Gliederung erleichtern, sie kann die Fragen nach den Entstehungsbedingungen, nach der ersten Distribution und Rezeption authentisch beantworten, j a der Historiker wird die Wege und Umwege der Gattungsgeschichte vom Wandel des Gattungsbildes teils prophezeit, teils begleitet, teils bestätigt finden. Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis kann sich dabei so eng gestalten, daß die Entwicklungszäsuren des Gattungsbewußtseins unmittelbar die Epochen der praktischen Gattungsgeschichte bestimmen - oft genauer als die üblichen Daten der Geistesgeschichte. Kurzum: Die gleichzeitige Gattungstheorie kann besser als jede allgemeine Sozial- und Kulturgeschichte, aber auch besser als jede moderne Theorie, die allzuleicht anachronistische Maßstäbe an frühere Epochen legt, Stellenwert und Schicksal der Gattung im literarischen, gesellschaftlichen, politischen Leben der Zeit erkennen helfen. Das aber bedeutet: Nicht schon eine Kette von Einzelinterpretationen, auch nicht in paralleler Typengliederung, sondern erst das Gewebe von Formen und Formvorstellungen ergibt die Gattungsgeschichte; dies gilt schon für poetische Gattungen, um so mehr für die nichtfiktionalen Formen, da nur so die Spannung ihrer Geschichte zum textexternen Grund literarhistorisch adäquat dargestellt werden kann. (5) Mit dem Verhältnis der Typen untereinander und zu ihren Lebensbereichen und mit dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist jedoch das historische Beziehungsgeflecht noch nicht erschöpft. Denn für die Geschichte jeder literarischen Gattung ist es von wesentlicher Bedeutung, 9 Diese Gefahr haben bereits die russischen Formalisten in ihrer Spätphase erkannt. Vgl. die programmatischen Thesen von Jurij Tynjanov und Roman Jakobson: Probleme der Literatur- und Sprachforschung (1928). In: Kursbuch 5 (1966), S. 74-76. - Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen (Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie). In: Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Hrsg. von Walter Hinck. Heidelberg 1977 (medium literatur 4), S. 27-44.
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welche Beziehung sie über den eigenen Bereich hinaus zu benachbarten oder verwandten Gattungen (fiktionaler oder nichtfiktionaler Art) unterhält. Man wird deshalb Art und Grad ihrer Abgrenzung, Verbindung und Vermischung und die daraus sich ergebende gegenseitige Anregung, Belebung und Bereicherung als wichtige, manchmal entscheidende Momente der Gattungsentwicklung beachten müssen. Für eine nichtfiktionale Gattung können sich dabei folgende Beziehungen ergeben: 1. Ihre Begegnung mit einer anderen nichtfiktionalen Gattung. Es sei an das Beispiel der gattungsgeschichtlich fruchtbaren Einwirkung des Tagebuchs auf die Autobiographie im 18. Jahrhundert erinnert 10 , wo erst das sich immer stärker psychologisierende Tagebuch auch der Nachbargattung die minuziöse Darstellung einer Seelengeschichte ermöglicht hat, wozu sie von sich aus, auf Grund ihres anders gearteten Aufbauprinzips, nicht in der Lage gewesen wäre. 2. Ihre Begegnung mit einer fiktiven Gattung. a) Hier sind theoretische und praktische Einflüsse der fiktionalen auf die nichtfiktionale Gattung möglich. Poetische Nachbarn können thematische, strukturelle, stilistische Muster anbieten, die von einer verwandten Zweckform zu ihrer eigenen Auffrischung und Neubelebung übernommen werden. So nutzt die volkstümliche Barockpredigt die Möglichkeiten des schwankhaften Fabulierens, der possenhaften Anekdote, der Parodie und Satire, um ihren erbaulichen Hauptzweck durch poetische Spannung und Unterhaltsamkeit zu steigern; so übernimmt, wie Klaus-Detlef Müller gezeigt hat 1 1 , die Autobiographie im späten 18. Jahrhundert teilweise Erzählstrukturen, die die damalige Theorie und Praxis des Romans bereitgestellt haben, und kann damit für kurze Zeit eine hochliterarische Form gewinnen. Obwohl sich in solchen Fällen die nichtfiktionale Gattung als die unschöpferische Partnerin erweist, die nur dank fremder Anleihen diese Bereicherung erfahren kann, wird der Gattungshistoriker dennoch solche Übernahmen mit besonderer Aufmerksamkeit registrieren; denn sie können den Grad der Aufnahmefähigkeit und Flexibilität einer Gattung vor Augen führen, können demonstrieren, wieweit sich die Grenze zum fiktionalen Bereich ausdehnen läßt, bis sie endgültig überschritten wird. Meist sind solche Vorgänge einer vorübergehenden Aneignung poetischer Muster 10 Diese Einwirkung ist eingehender behandelt in meiner Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (Stuttgart 1977), S. 65-71; vgl. auch den Beitrag in diesem Band, S. 94 ff., bes. S. 108-112. 11 Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976 (Studien zur deutschen Literatur 46).
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durch die nichtfiktionale Gattung Höhepunkte ihrer Entwicklung und sind deshalb auf keinen Fall aus ihrer Darstellung auszuschließen. b) Es ist aber auch der umgekehrte Fall möglich, daß die nichtfiktionale auf eine fiktionale Gattung anregend und bereichernd wirkt. Auch dichterische Ausdrucksmittel können sich zeitweilig erschöpfen und bedürfen dann ihrerseits einer Erneuerung. Diese kann durch neuartige Strukturen und Stilformen geschehen, die sich im lange unbemerkt gebliebenen Raum der Zweckformen herangebildet haben. So hat die sich im 18. Jahrhundert rasch entfaltende Briefkultur als Begründerin und Förderin eines höchst differenzierten Gefühlslebens sehr bald zur neuen Gattung des Briefromans angeregt, der mit Hilfe der unausgeschöpften Energien der nichtfiktionalen Nachbargattung die damaligen Ausdrucksmöglichkeiten des Romans entschieden erweitern und vertiefen konnte. 12 Gegenüber der nichtfiktionalen Vorlage freilich kann in solchen Fällen nie von einer nur linearen Fortsetzung oder Steigerung gesprochen werden. Der Poet übernimmt zwar Struktur- und Stilzüge aus nichtfiktionalen Formen, verwertet sie aber auf fiktionaler Ebene von vornherein nur verfremdet, stilisiert, im weitesten Sinn parodistisch. Insofern bilden derartige Rezeptionen durch die Poesie streng genommen keinen integrierenden Bestandteil der Geschichte des nichtfiktionalen Musters, bedeuten aber dennoch mehr als bloß interessante Randerscheinungen dieser Geschichte. Denn gerade solche Wirkungen in den grundsätzlich anspruchsvolleren fiktionalen Bereich hinein sind untrügliche Zeichen dafür, daß die nichtfiktionale Gattung auf der betreffenden Entwicklungsstufe eine besonders schöpferische Phase erlebt, die für den Gesamtverlauf ihrer Geschichte möglicherweise ebenfalls einen seiner Höhepunkte markiert. Um also die Geschichtskurve korrekt und adäquat, und d. h. stets auch: mit begründetem Werturteil, nachzeichnen zu können, müssen auch diese Wirkungen nach draußen beachtet werden, zumal sie über kurz oder lang von dort auf den ursprünglichen Spender zurückwirken können. Solche möglichen, u. U. langfristigen Um- und Rückläufe wird freilich nur gewahr, wer seinen spezifischen Untersuchungsgegenstand immer auch im Kontext eines größeren Gattungsfeldes erblickt. Abschließend sei noch ein Problem wenigstens berührt, das im Voraufgehenden des öfteren mit dem Begriff der Entwicklung' angeklungen ist. Wieweit ist dieser Begriff für die Charakteristik des Verlaufs einer Gat12
Näheres dazu bei Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 (Literatur als Kunst), bes. S. 190 ff. Weitere Beispiele der Wechselbeziehung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Gattungen bringt der vorhergehende Beitrag in diesem Band.
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tungsgeschichte von der Sache her gerechtfertigt? Wenn Klaus W. Hempfer im letzten Kapitel seiner Gattungstheorie (1973) die verschiedenen Evolutionsmodelle der bisherigen literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskussion kritisch mustert, so ist ihm vor allem darin zuzustimmen, daß er die biologistische Vorstellung einer ausschließlich organischen Entfaltung jeder Gattung aus sich selbst als unsachgemäß ablehnt. 13 Denn die immanente Energie, die wohl jeder literarischen Gattung eigen ist, reicht allein für das Verständnis der Gattungsgeschichte nicht hin, zu oft mußten wir entscheidende Impulse von außen, Verbindungen und Mischungen mit andersartigen Formen als Vorbedingungen für Neuansätze konstatieren. Man wird also die zumindest mißverständliche Metaphorik des Wachstums vom Keimling über Blüte und Frucht bis zum Verwelken besser meiden. Deswegen wird man aber doch von Vorbereitung, Erprobung, Experiment, Erweiterung, Vertiefung, Sammlung, Steigerung und also auch von Höhepunkten und Gipfelwerken und ebenso von Verfestigung, Erstarrung, Epigonentum und Verfall, also in einem bewußt nicht-organologischen Sinn von Entwicklung, von Auf- und Abstieg sprechen können. Ich kann deshalb Hempfer nicht mehr zustimmen, wenn er jede Teleologie aus der Gattungsgeschichte verbannen will und einen Gegensatz zwischen Historiographie und literarischer Wertung behauptet. 14 Denn die Geschichte einer literarischen Gattung, sei diese nun fiktional oder nichtfiktional, besteht nie bloß im „teleologiefreien [...] Durchspielen einer begrenzten Zahl von Möglichkeiten" 1 5 , sondern Phasen einer kontinuierlichen Weitergabe überlieferter Formen werden zuzeiten vom freien Variationsspiel und dieses gelegentlich von einer potenzierenden Sammlung der zuvor erprobten Möglichkeiten abgelöst. Eine Gattungsgeschichte kann also durchaus Zwischenzielen zustreben und sie erreichen und dabei auch Höhepunkte erleben, ohne sich je erfüllen zu müssen.
13 Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973 ( U T B 133), S. 202 ff. u Ebd., S. 216 f. 13 Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Hans Robert Jauß und Erich Köhler. Bd. 1. Heidelberg 1972, S. 124. - Hempfer zitiert diesen Satz zustimmend. Den nachfolgenden Satz, worin auch Jauß die Möglichkeit von Aufstieg, Gipfel und Erstarrung anerkennt, wertet Hempfer als Widerspruch zum Vordersatz; im Grunde ist aber nur dessen Attribut „teleologiefrei" als unpassend zu reklamieren.
Zur Theorie der Autobiographie Der Gattungsname Autobiographie (oder Selbstbiographie) erscheint erstmals am Ende des 18. Jahrhunderts. Der früheste mir bisher bekanntgewordene Beleg begegnet in einem Brief des Sturm-und-Drang-Dichters Lenz an Goethe vom September 1776, worin Lenz von Jung-Stillings Jugendgeschichte als von „Jungs Autobiographie" spricht. 1 In den nächsten Jahren folgen weitere ähnlich versteckte Belege, bis schließlich der Klassische Philologe David Christoph Seybold 1796 einer zweibändigen Textsammlung den Titel „Selbstbiographien berühmter Männer" gibt. 2 Damit erhält die Gattung statt der bisher umständlichen Umschreibungen („Bekenntnisse [...] von sich selbst", „Leben [...] von ihm selbst erzählt" u. ä.) einen neuen und endgültigen Namen, der als Kompositum den Ort der Gattung innerhalb des literarischen Systems genau fixiert und damit das volle Erwachen der theoretischen Vorstellung von dieser biographischen Sonderform bestätigt. Wohl hat sich das künstlich gebildete Wort als Buchtitel in der autobiographischen Praxis nicht einbürgern können; um so mehr wurde durch Seybold seine Aufnahme in die Fachsprache der Rhetorik und Literaturkritik gefördert. Zwar gehen auch hier noch längere Zeit die traditionellen Ausdrücke und Umschreibungen (wie „Bekenntnisse", „Konfessionen", „eigene Lebensbeschreibung", je nach dem gerade vorschwebenden Typ) daneben einher und weichen erst seit etwa 1815 allmählich dem neuen generellen Terminus, der dann selbst immer häufiger und seit dem frühen 20. Jahrhundert fast ausschließlich in seiner voll gräzisierten Form erscheint und sich dadurch zunehmend als reinen Fachausdruck zu erkennen gibt. Die drei Teile dieses Kompositums (autos: selbst; bios: Leben; graphein'. beschreiben) lassen erkennen, daß die Autobiographie im Überschnei-
1 Lenz: Brief an Goethe. Kochberg, Mitte September 1776 [Erstdruck 1909]. In: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. Bd. 3. München, Wien 1987, S. 495. 2 Selbstbiographien berühmter Männer. Ein Pendant zu J. G. Müllers Selbstbekenntnissen, gesammelt von Prof. [David Christoph] Seybold. 2 Bde. Winterthur, in der Steinerischen Buchhandlung, 1796. 1799.
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dungsfeld der literarischen Selbstzeugnisse und der historiographischen Gattungen liegt. Sie gehört zusammen mit den Memoiren und dem Reisebericht zu den wenigen literarischen Selbstzeugnissen, die eine zusammenhängende Erzählung über einen größeren Zeitraum hinweg aus dem Rückblick bieten. Bei allen anderen Selbstzeugnissen folgen Erlebnis- und Schreibgegenwart dicht aufeinander, so daß sie jeweils nur eine punktuelle Darstellung gegenwärtiger Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen bringen. So zeichnet das literarische Selbstporträt das eigene Charakterbild in seiner gegenwärtigen Erscheinung und suggeriert dabei gern ihre zeitlose Gültigkeit. Das Tagebuch notiert in meist regelmäßigen, kurzen Zeitabständen Erlebnisse, Beobachtungen, Gedanken aus der jeweiligen Augenblicksperspektive, so daß es auch bei der nachträglichen Zusammenschau seiner disparaten Teile noch keine Einheit des Lebens vermittelt. Ähnliches gilt für den Brief. Zwar gibt es hier die Möglichkeit, in einem längeren Brief oder in einer Folge von Briefen das eigene Leben zu schildern und zu deuten, so daß dann eine Autobiographie in Briefen vorliegt; in der Regel aber bringt auch ein Brief nur vereinzelte Erlebnisschilderungen, Reflexionen, Geständnisse aus gegenwärtiger Situation oder jüngst vergangener Zeit, so daß auch eine Sammlung solcher Briefe noch keine bewußt konzipierte Lebensgestalt bietet. Eher schon bilden Annalen als die jahrweise gebündelte Darstellung des Erlebten und Geleisteten in Struktur und Blickrichtung eine Brücke vom Tagebuch zur Autobiographie. Vom Namen her ist die Autobiographie als Darstellung des ganzen eigenen Lebens von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift definiert. Zumindest muß sie einen wesentlichen, kohärenten Teil des Lebens zu ihrem Gegenstand haben. Darin stimmen mit ihr nur noch die Memoiren überein. Alle anderen rückblickenden Selbstzeugnisse, die ihr bisher noch gefolgt sind, trennen sich nunmehr von ihr. Denn Reiseberichte, Kriegserinnerungen und sonstige Beschreibungen herausgehobener Lebensepisoden umfassen als separate Werke nur kurze Abschnitte des Lebens, können aber oft wichtige Kapitel innerhalb einer Autobiographie darstellen. Nicht aber ist im Gattungsnamen schon festgelegt, was unter „Leben" zu verstehen sei. Die Typenskala der Autobiographie umfaßt denn auch eine Fülle möglicher Formen: Sie beginnt beim dürren Gerüst äußerer Lebensdaten in den Hausbüchern und Familienchroniken, die sich später entweder zu Berufskarrieren oder zu abenteuerlichen Lebensgeschichten erweitern; sie setzt sich fort in den Apologien des öffentlichen Wirkens, die zur
Zur Theorie der Autobiographie
Rechtfertigung des eigenen Handelns und Denkens das ganze Leben als Argumentationskette benutzen, und in den Kommentarien, die stillschweigend oder ausdrücklich zur Verherrlichung der eigenen Ruhmestaten auf militärischem und politischem Gebiet verfaßt werden; und sie reicht bis zur oft bekenntnishaften Darstellung der eigenen seelischen Entwicklung oder religiösen Bekehrung. Dabei sind auf dieser hier noch lange nicht erschöpften Skala die einzelnen Typen nicht streng voneinander getrennt; vielmehr sind die Grenzen fließend und viele Misch- und Verbindungsformen möglich. Erst die Gattungsgeschichte kann darüber Auskunft geben, wie sich die Akzente im Lauf der Jahrhunderte verschieben, wann bestimmte Formen erstmals erscheinen, ihre Blütezeit erleben und entweder sich dauernd etablieren oder von neuen Typen abgelöst werden. Wegen dieser Wandlungsfähigkeit der Gattung ist es problematisch, wenn Roy Pascal (I960) 3 oder Philippe Lejeune (1973) 4 von der Autobiographie auf jeden Fall die Geschichte der Persönlichkeit ihres Verfassers fordern. Denn dieses Kriterium tritt nur als mögliches Merkmal, vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert, hinzu, darf also nicht absolut gesetzt, nicht als notwendiger Bestandteil in die Definition der Gattung aufgenommen werden. Darum ist es auch schwierig, die Autobiographie von den Memoiren abzugrenzen. Ursprünglich verstand man darunter sowohl in der Antike als auch in der frühen europäischen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) Augenzeugenberichte aus der nächsten Umgebung regierender Personen; erst seit der späten römischen Republik (seit Sulla und Caesar) und wiederum seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (seit Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Rußland) schreiben Regenten selbst ihre Tatenberichte und Denkwürdigkeiten und begründen damit die heutige Vorstellung von Memoiren als der spezifischen Berufsautobiographie der Politiker und öffentlich Handelnden, so daß seitdem die Memoiren nicht mehr der Autobiographie gegenüberstehen, sondern eine ihrer Unterarten geworden sind. Darum werden gern auch Erinnerungen von Künstlern und Gelehrten, wenn sie weniger die eigene Person als vielmehr ihre Karriere, ihre Berufswelt, ihre Zeit und ihre Gesellschaft schildern, Memoiren genannt. Das hat Bernd Neumann dazu angeregt, in seiner Gattungstheorie Identität und Rollen-
3 Roy Pascal: Design and Truth in Autobiography. London 1960; dt. u. d. T.: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart 1965 (Sprache und Literatur 19), S. 17, 21, 23, 209 f., 220 f. 4 Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. In: Poetique 4 (1973), S. 137-162; dt. u. d. T. : Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl (Wege der Forschung 565). Darmstadt 1989, 2 1998, S. 214-257; hier S. 215.
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zwang (1970) nur noch die Darstellung der Identitätsfindung des Ich in der Kindheits- und Jugendgeschichte als „Autobiographie", die anschließende Beschreibung der Berufsjahre und ihres sozialen Rollenzwangs in den späteren Teilen des gleichen Werkes als „Memoiren" zu bezeichnen.5 Solche Differenzierung hat zweifellos einen heuristischen Wert für die Analyse neuerer Lebensbeschreibungen, die seit etwa 1800 sehr gerne Selbstfindung und Rollenspiel thematisieren. Nur ist zu bedenken, daß die Anwendung der beiden Gattungsnamen auf Strukturunterschiede innerhalb des gleichen Werkes einer Einengung des Begriffs „Autobiographie" Vorschub leisten könnte, was der historisch begründeten Typenvielfalt der Gattung widerspräche. An dieser Stelle muß ergänzend eine besondere Gruppe von Selbstzeugnissen erwähnt werden, die im ganzen Altertum und auch noch im Mittelalter sehr häufig begegnet und die der Mediävist Ulrich Müller „autobiographische Mitteilungen " genannt hat. 6 Es handelt sich um Einschübe persönlicher Art, vor allem in Prologen oder Epilogen erzählender Werke (Epen, Chroniken, philosophische und historiographische Schriften) oder in Anfangs- und Schlußgedichten lyrischer Zyklen. Die Palette reicht hier von literarischer Selbstcharakteristik über die Darstellung einzelner Lebensepisoden bis zum knappen Überblick über das gesamte Leben, so daß hier die Grenzen zwischen statischem Selbstporträt und Lebensgeschichte besonders fließend sind. Man kann diese „autobiographischen Mitteilungen" auch zum weiteren Bereich der sog. Ego-Dokumente 1 rechnen, worunter die Historiker alle Arten von Selbstzeugnissen und Selbstaussagen bis zu Bittschriften, Armenbriefen und Verhörprotokollen verstehen und die seit einigen Jahren das erhöhte Interesse der Geschichtswissenschaft finden, weil diese darin im Zuge ihrer anthropologischen Neuorientierung aufschlußreiche Quellen für die Mikrohistorie, die Alltags- und Mentalitätsgeschichte entdeckt hat.
5 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main 1970 (Athenäum Paperbacks Germanistik 3), S. 32-38. 6 Ulrich Müller: Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Bern 1977, S. 300-310; wieder in: Die Autobiographie (Anm. 4), S. 297-320; hier S. 299-302 (3. These). 7 Näheres dazu in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hrsg. von Winfried Schulze. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2).
Zur Theorie der Autobiographie
Im eingangs genannten Überschneidungsgebiet ist die Ortsbestimmung der Autobiographie nicht nur gegenüber den Selbstzeugnissen, sondern auch gegenüber den historiographischen Gattungen wichtig. Hier nun wird die Eigentümlichkeit der Autobiographie am sinnfälligsten im Vergleich zur Biographie. Beiden Gattungen ist gemeinsam, daß sie ein Leben als zusammenhängendes Ganzes darstellen wollen, und beide zeigen dabei vielfach eine teleologische Tendenz, d. h. sie bemühen sich, alle Stufen des darzustellenden Lebens auf ein Ziel hinzuordnen. Diese ganzheitliche Struktur wird zusätzlich gestärkt, sobald Lebenslauf und Charakter des Helden nicht mehr nacheinander beschrieben, sondern in einer einzigen Darstellung ineinander verschränkt werden 8 , wenn also die Wechselwirkung von Charakter und Lebensbedingungen, von Innen- und Außenwelt erkannt und wiedergegeben wird. Über diesen Gemeinsamkeiten darf aber ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Gattungen nicht übersehen werden: Der Biograph muß aus der Distanz des Historikers eine fremde Individualität und ihr Schicksal aus den Quellen rekonstruieren und dabei in seiner Erzählung historische Kritik mit intuitivem Einfühlungsvermögen verbinden; der Autobiograph dagegen ist mit dem Helden seiner Lebensgeschichte identisch und steht deshalb in einer prinzipiell anderen Erzählsituation. Die gattungsspezifische Rückblicksperspektive erzeugt eine Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich. Diese Erinnnerungsstruktur zuerst von Goethe 9 und später von Wilhelm Dilthey 1 0 als wesentliches Merkmal der Autobiographie erkannt und hervorgehoben - bedingt eine ständige Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart im Bewußtsein des Autors. Er deutet unwillkürlich, j a notwendig sein Selbst und seine damaligen Erlebnisse aus der Situation der Schreibgegenwart, j a er gestaltet in subjektiver Auswahl des Erinnerten sein vergangenes inneres und äußeres Leben als einen Weg zu dem gegenwärtig erreichten Stand der Selbst- und Welterkenntnis, so daß es für die Form und die Art der Lebensdeutung
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Dies geschieht nach theoretischer Forderung einzelner pragmatischer Historiker allmählich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Vgl. Johann Matthias Schröckh: Allgemeine Biographie. 3. Theil. Berlin 1769, Vorrede, S. XIII. Ihm folgen als erste Autobiographen Johann Jacob Reiske (Lebensbeschreibung 1769/70) und Johann Jacob Moser (Lebensgeschichte 2 1777). 9 Vgl. Goethes Brief an König Ludwig I. von Bayern. Weimar, 12. Januar 1830. In: Goethes Briefe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 4, Hamburg 1967, S. 363 f. 1() Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hrsg. von Bernhard Groethuysen). Leipzig und Berlin 1927, S. 71-74 und 196-204; wieder in: Die Autobiographie (Anm. 4), S. 21-32.
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Zur Theorie der Autobiographie
einer Autobiographie wesentlich ist, zu welchem Zeitpunkt sie geschrieben wird. Außerdem hängen die konkreten Variationen solcher Erinnerungsstruktur zum einen davon ab, welchen Instanzen der Autobiograph eine lebensbestimmende Rolle zuweist. Ist es die göttliche Vorsehung oder sind es die geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände, sind es die eigenen inneren Anlagen, die schöpferische Entelechie oder der eigene moralische Charakter, die als lenkende Kräfte verstanden werden? Vielfach wird das eigene Leben auch als Wechselspiel dieser inneren und äußeren Mächte gesehen: Gott und die Seele, Ich und Welt, Ich und Jahrhundert sind häufig begegnende Polaritäten, und manchmal sind alle vier Instanzen daran beteiligt, den Lebenstext zu weben. Zum andern ist für Gestalt und Deutung des Lebens die Intention wichtig, die seine Niederschrift veranlaßt hat. Die Skala reicht hier von der Selbstverherrlichung und der apologetischen Rechenschaft, vom Preis der lenkenden Hand Gottes und von der oft daraus sich ergebenden Selbsterforschung und Selbstergründung über die Lehre und Warnung für die Nachkommen und den Geschichtsunterricht für die Enkel bis hin zur Flucht in die reine Erinnerungsfreude, j a bis zur Rundung und Rettung des eigenen Lebens durch seine Neuschöpfung im Wort. Aus der Erinnerungsstruktur ergibt sich auch das besondere Wahrheitsproblem der Autobiographie. Wohl ist der Autobiograph wie jeder Historiker zur Aufrichtigkeit verpflichtet und darf wie jeder Biograph weder die wichtigen Charakterzüge noch die wesentlichen Lebensvorgänge absichtlich verzeichnen oder verschweigen. Aber die Erinnerung ist als rückschauende Einbildungskraft in ihrer Auswahl und in ihrer Wertung notwendig subjektiv, und so wird weder die Erkundung der eigenen Welt und Zeit noch gar die des eigenen Selbst objektive Bilder gewinnen können. Indessen folgt diese naturgemäße Subjektivität der autobiographischen Darstellung und Deutung dem Gesetz der unausweichlichen Wahrheitsbekundung, sei es in der bewußten, sei es in der unbewußten Selbstmitteilung des Autobiographen, und so ist solche Subjektivität als die dieser Gattung eigentümliche Wahrheit anzusehen.11
11 Schon Arthur Schopenhauer hat die innere Wahrheit der Autobiographie betont, wenn er sagt: „ [ . . . ] in einer Selbstbiographie sich zu verstellen, ist so schwer, daß es vielleicht keine einzige giebt, die nicht im Ganzen wahrer wäre, als andre geschriebene Geschichte." (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig 1819, Faksimiledruck Frankfurt am Main 1987, S. 358).
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Diese gattungsimmanente Wahrheit der Autobiographie kann - anders als die Wahrheit der übrigen historiographischen Gattungen - zwar noch in manchen Einzelheiten, nicht aber mehr in ihrem Gesamtbild von historischer Quellenkritik gemessen oder korrigiert werden. Denn die Autobiographie wird nicht durch die nachprüfbare Richtigkeit ihrer Details glaubwürdig, sondern durch ihre Darstellung eines „Grundwahren" des Lebens (wie es Goethe genannt hat) 12 , eine Darstellung, die bemüht ist, in bewußter Auswahl und Ordnung des Bedeutungsvollen das Vergangene in ein gültiges Bild zu fassen; und wenn auf solche Weise zugleich eine formale Ganzheit und Geschlossenheit erreicht wird, kann man der Autobiographie sogar eine eigengesetzliche Kunstform zuerkennen. Alle bisher betrachteten Abgrenzungen der Autobiographie gegenüber Nachbargattungen auf der gemeinsamen Ebene der Gebrauchsformen geschahen auf Grund formaler Unterschiede. Von grundsätzlich anderer Art ist das Verhältnis der Autobiographie zu analogen fiktionalen Formen, vor allem zur Gattung des autobiographischen Romans. Denn auf fiktionaler Ebene können die Merkmale des autobiographischen Erzählens (IchPerspektive, Erinnerungsstruktur, kommentierender Rückblick usw.) bis zur täuschenden Kongruenz übernommen werden, so daß in formalstilistischer Hinsicht zwischen Autobiographie und Roman gerade keine Unterscheidungskriterien mehr gegeben sein müssen, zumal zeitweilig auch umgekehrt die Autobiographie formale Anleihen bei der fiktionalen Erzählkunst machen kann. 13 Eine eindeutige Definition der Autobiographie gegenüber dem autobiographischen Roman ist daher höchstens in ontologischer Hinsicht möglich. Denn die Autobiographie bleibt auf Grund der doppelten Identität ihres Autors mit dem Helden und dem Erzähler der Lebensgeschichte an die textexterne Realität gebunden, verharrt also prinzipiell auf der Ebene der nichtfiktionalen Literatur; der autobiographische Roman dagegen übernimmt von der Autobiographie nur die Identität des Helden mit dem Erzähler, dehnt sie aber nicht auf seinen Autor aus, weshalb er die fiktionale Ebene auch dann nicht verläßt, wenn er Elemente aus dem realen Leben des Autors, ja dessen Charakterzüge und persönliche
12 Vgl. Goethes Bemerkung über Dichtung und Wahrheit im Brief an König Ludwig I. von Bayern. Weimar, 12. Januar 1830: „ [ . . . ] denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken." Goethes Briefe (Anm. 9), Bd. 4, S. 363. 13 Für die deutsche Autobiographie um 1800 belegt dies Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit Tübingen 1976 (Studien zur deutschen Literatur 46); zusammenfassend S. 333-361.
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Erfahrungen verwertet, da er alle diese Stoffe in den poetischen Raum seiner Geschichte aufhebt.
Bei der Erörterung des Wahrheitsproblems der Autobiographie war soeben davon die Rede, daß jede Darstellung eines „Grundwahren" des Lebens bemüht sein wird, das Bedeutungsvolle der eigenen Vergangenheit in ein gültiges Bild zu fassen, und dann eine formale Ganzheit, ja eine eigengesetzliche Kunstform erreichen kann. Das freilich gilt nur solange, als der Autobiograph an eine Erfüllbarkeit des Lebens und damit an die Möglichkeit eines geschlossenen Lebensbildes glaubt. Sobald im 20. Jahrhundert dieser Glaube schwindet, verschärft sich das Wahrheitsproblem der Autobiographie zur grundsätzlichen Aporie der referentiellen Darstellbarkeit des eigenen Lebens auf eine bisher ungeahnte Weise. An dieser Stelle kann sich eine Theorie der Autobiographie nicht mehr damit begnügen, vermeintlich zeitlos gültige Merkmale der Gattung zu sammeln und zu ordnen. Denn hier eröffnet sich das moderne Problem der Identität und Identitätsdarstellung, das die Autobiographie zumindest der literarischen Avantgarde mit anderen Selbstzeugnissen des 20. Jahrhunderts gemeinsam hat. Die Beispiele dafür stammen fast durchwegs von Schriftstellern, Philosophen und Zeitkritikern, die feinfühlig das sich wandelnde Verhältnis des Ich zur Welt und zu sich selbst wahrnehmen. Seismographisch registrieren sie die wachsende Einsamkeit des einzelnen gegenüber einer anonym und gesichtslos werdenden Umgebung. Schon 1939 spricht Virginia Woolf in ihrem Sketch of the Past davon, daß wir vom Subjekt der Erinnerung sehr wenig wissen, wenn wir die unsichtbar anwesenden Kräfte der Gesellschaft, die mit uns spielen, nicht analysieren können. „Ich sehe mich wie einen Fisch in einem Strom; abgelenkt; gehalten auf seinem Platz; aber ich kann den Strom nicht beschreiben." 14 Diese Verlassenheit des Ich in der Gesellschaft kann sich durch den zunehmenden Zerfall der bisherigen Weltbilder bis zur Selbstentfremdung steigern, wozu noch der epochale Einfluß der Psychoanalyse tritt, die auf anderem Wege die Zweifel des Ich an der eigenen Identität verstärkt. Die Kontinuität des eigenen Lebens kann verlorengehen, die eigene Person in mehrere unzusammenhängende Ich
14 Virginia Woolf: A Sketch o f the Past. In: V.W.: Moments o f Being. Unpublished Autobiographical Writings. Ed. With an Introduction and Notes by Jeanne Schulkind. London 1978, S. 80. - Übersetzung nach Ralph Rainer Wuthenow, Art. "Autobiographie, autobiographisches Schrifttum". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1267-1276; hier Sp. 1275.
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zerfallen. So hat Gottfried Benn 1949 seine autobiographische Hauptschrift mit „Doppelleben" überschrieben und bei der Erläuterung dieses Titels betont, daß die „Einheit der Persönlichkeit" eine „fragwürdige Sache" sei: „Denken und Sein, Kunst und die Gestalt dessen, der sie macht, ja sogar das Handeln und das Eigenleben von Privaten sind völlig getrennte Wesenheiten." Als Gewährsmann dieser These zitiert Benn seinen „Ptolemäer", der gleichfalls die Begriffe „Gesamtschau", „Lebenseinheit", „Harmonie" abgelehnt und statt dessen dekretiert habe: „ W i r alle leben etwas anderes, als wir sind. Dort wie hier Bruchstücke, Reflexe; wer Synthese sagt, ist schon gebrochen." 15 Und ein genaues Echo davon hören wir noch 1987 bei Alain Robbe-Grillet, der sich auf die eigene Frage: „Was ist mein Leben gewesen, und was bin ich jetzt?" die Antwort gegeben hat: „Ich habe den Eindruck, daß ich aus Stücken, aus Fragmenten bestehe." 16 Die Avantgarde der Schriftsteller erfährt also während des ganzen 20. Jahrhunderts die Brüchigkeit des Subjekts, die Fragwürdigkeit der IchIdentität und die daraus folgende Zusammenhanglosigkeit des eigenen Lebens. Isolierte Erinnerungsfragmente und die Vorstellung eines zerstükkelten Ich machen es schwierig, wenn nicht unmöglich, ein ganzes Leben, selbst einzelne Abschnitte daraus, noch als einen Sinnzusammenhang darzustellen und zu deuten. Die frühere kausale Verknüpfung oder gar finale Stufung der Erlebnisse sind nicht mehr möglich, die erinnerten Episoden bleiben unverbunden, werden höchstens in assoziativer Reihung nebeneinandergestellt. Ja, für Robbe-Grillet sind die Bruchstücke seiner Existenz nicht einmal mehr fixierbar, vielmehr „unstet, ungewiß und widersprüchlich" 1 7 . Darum weist er der „Nouvelle Autobiographie", die er in der Nachfolge des Nouveau Roman sieht, die Aufgabe zu, „diesen Fragmenten" des eigenen Lebens „ihr Einzeldasein, ihre Beweglichkeit und die Möglichkeit zu bewahren, in jedem Augenblick eine neue Gestalt anzunehmen". Sollte dies der Nouvelle Autobiographie gelingen, so würde das nach RobbeGrillet bedeuten, daß ihre „Fragmente in Bewegung sind und ununterbrochen versuchen, sich zu etwas wie einer Wahrheit zusammenzuballen"; doch gibt er auch jetzt noch zu bedenken, daß dies eine „zerbrechliche Wahrheit" sei, „die sogleich wieder auseinanderfällt und von einer anderen
15 Gottfried Benn: Doppelleben. In: G.B.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter Wellershoff. Bd. 4: Autobiographische und vermischte Schriften. Wiesbaden 1961, S. 136 (V. Literarisches, b) Doppelleben [datiert 31.12.1949]). 16 Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie. Übersetzt von Hans Rudolf Picard. Konstanz 1987 (Konstanzer Universitätsreden 165), S. 24. 17 Ebd.
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Wahrheit unterminiert wird, und diese wieder von einer anderen und so fort." 1 8 Die moderne fragmentarische Autobiographie ist also manchmal nicht einmal mehr unter dem Bild des Mosaiks, sondern nur noch unter dem des Kaleidoskops vorstellbar, worin die Konstellation der Einzelstücke ständig wechselt und keine einzige Konfiguration sich als endgültige behaupten kann. Diese Überzeugung von der zerbrechlichen und sich ständig wandelnden Wahrheit des eigenen Lebens teilen mit Robbe-Grillet viele Autobiographien der Gegenwart, vor allem in Frankreich. 19 Sie bekennen sich gleichfalls zur prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeder Existenz und akzeptieren deshalb nur eine unvollendbare Lebensdarstellung. Denn nur diese in die Zukunft offene Form vermag in ständiger Reflexion auf die Vorläufigkeit jeder Erkenntnisstufe, also auch des autobiographischen Jetzt, einem unabschließbaren Selbstentwurf des Autors zu dienen, so daß das autobiographische Schreiben nicht mehr dem Leben als seinem fertigen Objekt gegenübersteht, sondern selber ein Teil dieses Lebens wird. Dies alles sind verschiedenartige Versuche, den Fragmentcharakter der Erinnerungen auch in der Form der Autobiographie zum Ausdruck zu bringen. Daneben aber zeigen viele Autoren auch das gegenteilige Bestreben, die Bruchstücke des Lebens in der autobiographischen Darstellung zu ergänzen, aufzufüllen und abzurunden, um das eigene Leben doch wieder als ein - wenigstens literarisches - Ganzes zu gestalten, und nutzen dabei, zumindest partiell, die Möglichkeit, das eigene Ich und seine Erlebnisse auf die Ebene der Fiktion zu heben. Beliebt ist hier die Rolle des Archäologen, der mit den leitmotivischen Fragen „Wie könnte es gewesen sein? Wie könnte man es wiederherstellen?" den Versuch unternimmt, die verschütteten Reste freizulegen, mit Hilfe phantasievoller Interferenz verschiedener Stil- und Erzählebenen sich bis zur Empfindungsweit des frühen Ich zurückzutasten und dann den Weg vom damaligen zum jetzigen Ich zu rekonstruieren. 20 Solche Autobiographien bewegen sich sprachlich-stilistisch wie erzähltechnisch bereits im Feld des Romans, der ja, wie schon angedeutet, alle
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Ebd., S. 25. Michel Leiris, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Claude Roy u.a. - Näheres dazu bei Hans Rudolf Picard : Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich. Existentielle Reflexion und literarische Gestaltung. München 1978 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 44). Auszüge daraus in: Die Autobiographie (Anm. 4), S. 520-538. 20 Beispiele dafür sind Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) und Thomas Bernhards autobiographische Pentalogie (1975-1982). 19
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formalen Eigentümlichkeiten der Autobiographie übernehmen kann und höchstens in ontologischer Hinsicht von ihr unterscheidbar bleibt. Aber auch hier sind inzwischen die Übergänge von der einen zur anderen Gattung fließend geworden. Selbst Philippe Lejeune, der anfangs 21 so vehement das Unterscheidungskriterium des Autornamens auf dem Titelblatt betont und verteidigt hat, gesteht in einem späteren Aufsatz 22 neben dem „nom reel" und dem „nom imaginaire" als Möglichkeit dazwischen den „nom substitue" zu, der sich dem „nom imaginaire" nähere, je mehr man annehmen kann, daß sein Bezug auf eine reelle Person nur partiell sei. Und so machen es sowohl diese gleitenden Übergänge vom referentiellen zum fiktiven Bereich als auch die experimentierenden Selbstentwürfe und die oft fragmentarische Form der modernen Autobiographie verständlich, daß die neuere Forschung dem traditionellen Begriff „Autobiographie", der leicht ein geschlossenes Werk und eine fraglose Ich-Identität suggeriert, nicht selten die flexiblere Umschreibung „autobiographische Schrift" oder die noch vorsichtigere Wendung „autobiographisches Schreiben" vorzieht. *
Dennoch haben die traditionelle ganzheitliche und die moderne fragmentarische Autobiographie eines gemeinsam: Sie betrachten sich als adäquate Spiegelungen des jeweiligen Ich- und Lebensgefühls. Denn gleichgültig, ob Autobiographien die Kontinuität des Ich und die Einheit des Lebens oder aber die Brüchigkeit des Ich, seine oft ergebnislose Suche nach Identität und also die Unabschließbarkeit seines Selbst- und Lebensentwurfs gestalten: immer verstehen sie sich als Mimesis der von ihnen darzustellenden Welt. Gegen diesen bisher unbestrittenen Referenzcharakter autobiographischer Texte ziehen seit den späten siebziger Jahren die Dekonstruktivisten zu Felde, die j a grundsätzlich jede Mimesis in Kunst und Literatur ablehnen. Jacques Derridas Diktum „ i l n'y a pas de hors-texte" zerschneidet jede Verbindung zwischen dem Text und der von ihm beschriebenen und gedeuteten realen Welt, weshalb sich für Derrida ein Text auch nicht auf seine Wahrheit, d.h. auf die von seinem vermeintlichen Autor intendierte Aussage reduzieren läßt. 23 Nicht erst die Poesie, schon jeder nichtfiktionale Text 21
Philippe Lejeune (1973), in: Die Autobiographie (Anm. 4), S. 229-233. Philippe Lejeune: Autobiographie, roman et nom propre [1984], Wieder in : Ph. L. : Moi aussi. Paris 1986, S. 37-72 ; hier S. 70. 23 Jacques Derrida: Otobiographies. L'enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre [Vortrag 1976]. Paris 1984, S. 93. 22
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ist für den Dekonstruktivisten eine in sich geschlossene Welt ohne textexterne Bezüge. Auch Paul de Man 2 4 hat bestritten, in einer Autobiographie zwischen Referenz und Fiktion unterscheiden zu können. Er sieht deshalb in ihr keine Gattung, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, in der zwar noch die beiden Subjekte am Verstehensprozeß beteiligt sind, aber durch ihre gegenseitige Spiegelung eine Fiktion der Referenz erzeugen. Für de Man ist die Autobiographie eine Prosopopöie, ein Geben und Nehmen von Gesichtern, eine Maskierung und Demaskierung; aber erst Derrida interpretiert den Ausdruck „De-Facement" seines Freundes als „l'effacement de la figure visible" 2 5 , als das Ausstreichen der sichtbaren Gestalt, womit erneut das Band zur empirischen Welt gelöst wird. In letzter Konsequenz wird hier die Autobiographie sich selbst zum alleinigen Thema und Ereignis, ihr Autor löscht sich aus und kann in der Schrift nicht mehr wahrgenommen werden. Diese These von der totalen Referenzillusion autobiographischer Texte hat freilich nur wenige Anhänger gefunden. 26 Die meisten Interpreten halten auch jetzt an der repräsentierenden Funktion, dem Referenzcharakter autobiographischer Schriften grundsätzlich fest, sehen ihn aber verschieden stark verwirklicht. Die einen glauben ihn bereits mit dem Willen des Autors zur Selbstdarstellung garantiert und gestehen eine weitgehend fiktive Konstruktion des autobiographischen Gegenstandes z u 2 7 ; andere sehen in der Mischung referentieller und fiktiver Partien ein literarisches Spiegelbild der modernen Idee eines zersplitterten Ich 2 8 ; wieder andere halten an der älteren Auffassung einer individuellen Identität des Menschen fest und erwarten von der Autobiographie die wie auch immer stilisierte Wieder-
24 Paul de Man: Autobiography as De-Facement. In : Modern Laguage Notes 94 (1979), S. 919-930 ; deutsch u. d. T.: Autobiographie als Maskenspiel. In: P. d. M.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main 1993 (edition suhrkamp 1682), S. 131-146. 2: * Zitiert nach: Jacques Derrida: Memoires. Für Paul de Man. Wien 1988 (Edition Passagen 18), S.47. 26 Zu ihnen gehören Michael Sprinker (Fictions o f the Self. The End of Autobiography. In: Autobiography. Essays Theoretical and Critical. Ed. by James Olney. Princeton 1980, S. 321342) und Manfred Schneider (Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München 1986). 27 Z. B. Michaela Holdenried: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Heidelberg 1991 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, Bd. 114). - Dies.: Autobiographie. Stuttgart 2000 (Reclams UniversalBibliothek 17624. Literaturstudium), S. 25 f., 38-44. 28 Z. B. Doris Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. Münster, Hamburg 1994 (Text und Welt 4).
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gäbe dieses einheitlichen Ich und seines Lebens. 29 Die beiden ersten Deutungsperspektiven begegnen vor allem in den Untersuchungen autobiographischer Schriften des 20. Jahrhunderts, die dritte in vielen kultur- und sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten und stets bei der Quellenkritik der Historiker. *
Die hier vorgetragenen Überlegungen zur Theorie der Autobiographie stützen sich weithin auf die Gattungsvorstellungen der neueren und neuesten Zeit. Wieweit sie auch auf die antike oder auf die mittelalterliche Autobiographie und - noch ungewisser - auf die außerhalb des westlichen Kulturkreises entstandenen Lebensbeschreibungen in Vergangenheit und Gegenwart anwendbar sind, muß vorerst offenbleiben. Es bedarf noch vieler gattungsgeschichtlicher Vorarbeiten in den verschiedenen hier einschlägigen Fächern, bis eine interdisziplinäre und komparatistische Zusammenschau eine Theorie der Autobiographie ermöglichen wird, die alle Facetten des Gattungsbildes sowohl systematisch erfaßt als auch historisch differenziert.
29
Z. B. Janet Varner Gunn: Autobiography. Toward a Poetics o f Experience. Philadelphia 1982. - Paul John Eakin: Touching the World. Reference in Autobiography. Princeton 1992. John Sturrock: The Language o f Autobiography. Studies in the First Person Singular. Cambridge 1993.
Autobiographische Schriften in der Antike. Ein Überblick 1
Um innerhalb der Literatur der griechisch-römischen Antike autobiographische Schriften aufzuspüren, ist wenigstens eine ungefähre Vorstellung von der Gattung Autobiographie notwendig. Auch wenn es diesen griechisch klingenden Namen in der Antike noch nicht gab, sondern er erst im späten 18. Jahrhundert als Fachausdruck künstlich gebildet wurde, mag er für unsere Zwecke doch heuristischen Wert besitzen. Seine drei Teile (autos: selbst; bios: Leben; graphein: beschreiben) lassen erkennen, daß die Autobiographie im Überschneidungsgebiet der literarischen Selbstzeugnisse und der historiographischen Gattungen liegt. Sie gehört also zu den Selbstzeugnissen, die einen zusammenhängenden Bericht oder eine Erzählung vergangener Erlebnisse über einen größeren Zeitraum hinweg aus dem Rückblick bieten. Durch diese Rückblicksperspektive unterscheidet sie sich von anderen Selbstzeugnissen, die jeweils nur eine punktuelle Darstellung gegenwärtiger Erlebnisse oder Gedanken bringen, wie der Brief, das Tagebuch oder das literarische Selbstporträt. Aber auch innerhalb der Gruppe der rückblickenden Selbstzeugnisse ist die Autobiographie von ihrem Namen her als Darstellung des ganzen eigenen Lebens von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift definiert; zumindest muß sie einen wesentlichen, kohärenten Teil des Lebens gestalten und unterscheidet sich damit auch von Reiseberichten, Kriegserinnerungen und anderen Beschreibungen herausgehobener Lebensepisoden. Diese relativ strenge Definition von Autobiographie gilt freilich erst für die späten, entfalteten Formen der Gattung. W i l l man sie in ihren Anfängen aufsuchen - und die griechischrömische Antike ist ein wichtiges Quellgebiet auch dieser Gattung - , dann muß man alle Arten von Selbstzeugnissen als mögliche Vorstufen beach-
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Folgende Abhandlungen habe ich dankbar benutzt: Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. 1: Das Altertum. Frankfurt am Main 1907, 3 1949/50. - Lorenz Niedermeier: Untersuchungen über die antike poetische Autobiographie. Diss. München 1919. - Holger Sonnabend: Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta. Stuttgart, Weimar 2002.
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ten, aus denen sich im Lauf der Jahrhunderte allmählich volle Lebensbeschreibungen entwickeln. Autobiographische
Schriften
bei den Griechen
Zu den frühesten autobiographischen Zeugnissen des alten Griechenland gehören einige Gedichte Solons (um 600 v. Chr.), in denen dieser gesetzgebende Gründer des athenischen Staatswesens politische Selbstrechenschaft ablegt, so das erhaltene Bruchstück einer Elegie (D.5.1-6): Ansehn so viel als ihm zukommt, gewährte ich w i l l i g dem Volke, nahm seiner Würde nichts weg, fugte auch nichts ihr hinzu. Wiederum duldet' ich's nicht, daß die reichen und mächtigen Herren mehr besäßen als was rechtens ihnen gebührt. So bewehrte mit starkem Schilde ich beide Parteien, daß nicht mit unrechter Macht einer den andren bedrückt. 2
oder jambische Trimeter (D.24), mit denen Solon in selbstbewußter Rückschau die Athener an seine staatsmännischen Leistungen erinnert: Aus Sklaverei, in die sie Willkür oder Recht gezwungen, fuhrt' ich viele nach Athen zurück ins gottgeschenkte Vaterland; und andre auch, die vor dem Schuldzwang fliehend in der Fremde rings umirrten, schon der att'schen Sprache Klang entwöhnt; auch denen, die daheim der Knechtschaft hartes Joch ertrugen, zitternd vor der Willkür mächt'ger Herrn, gab Freiheit ich zurück. Kraft des Gesetzes schuf das alles ich, verbindend Macht mit strengem Recht. Ich hab's vollendet, wie ich's damals euch versprach. (V.8-17) 3
Die weiteren Verse des Gedichts rechnen polemisch mit den früheren Gegnern ab, und schon im Eingang ruft Solon die Mutter Erde als Zeugin für seine vaterländischen Taten an, so daß seine Rechenschaft auch als Rechtfertigung mit apologetischem Unterton zu verstehen ist. In beiden Gedichten faßt Solon das Wesentliche seiner Lebensarbeit in wenigen Sätzen 2 Solon: Dichtungen. Sämtliche Fragmente. In den Versmaßen des Urtextes ins Deutsche übertragen von Eberhard Preime. Griechisch und deutsch. München 1940 (Tusculum Bücher), S. 21. 3 Ebd., S. 31.
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zusammen und zeichnet darin zugleich die Umrisse seines Charakters als eines tatkräftigen und gerechten Befreiers der eigenen Stadt. Es ist in nuce der Tatenbericht eines Politikers, und so begegnet uns schon in frühester Zeit die Keimform jenes autobiographischen Typs, der durch die ganze Antike als „Hypomnemata" bzw. „res gestae" der Herrscher und Heerführer bis in die späte Kaiserzeit sich immer mehr entfalten und einen wesentlichen Platz unter den autobiographischen Formen einnehmen wird. Dienen bei Solon kürzere Gedichte gänzlich der Ich-Aussage, erscheinen ein gutes Jahrhundert später in den Epinikien Pindars, mit Vorliebe am Schluß einer Ode, vereinzelte Ich-Partien, in denen der Dichter persönliche Ansichten und Urteile einflicht. So spricht Pindar gegen Ende der 8. Nemeischen Ode von Verleumdungen und Schmeichelreden unter den Menschen, um daran den Wunsch zu knüpfen: Möge mir niemals solche Art eigen sein, Zeus Vater, sondern einfache Wege des Lebens möchte ich gehen, daß nach dem Tod ich nicht meinen Kindern den Ruf übler Nachrede anhänge. Einige wünschen sich Goid, Land andere unermeßlich viel, ich aber w i l l noch den Bürgern gefallen, wenn in Erde die Glieder ich berge, lobend Lobenswertes, Tadel säend den Frevlern. (V.35-39) 4
Unvermittelt wird hier - in feierlicher Gebetsform - die rechte Lebensführung und das gute Andenken bei Nachkommen und Mitbürgern, also die Quintessenz des eigenen Lebens und Wirkens, beschworen. Solche Einlagen persönlicher Mitteilung, ja fast schon persönlichen Bekenntnisses, sind Weiterbildungen der sog. Sphragis, des Siegels, womit seit alters ein Autor am Ende seines Werkes durch Namensnennung seine Verfasserschaft beglaubigt hat.5 Diese Tradition persönlicher Einschübe wirkt über Pindar hinaus bis in die lateinische Dichtung der augusteischen Zeit, ja bis in die Handschriften des europäischen Mittelalters. Solche Einlagen begegnen dabei sowohl in Anfangs- und Schlußgedichten lyrischer Zyklen als auch in Prologen und Epilogen erzählender oder wissenschaftlicher Werke (in Epen, Chroniken, philosophischen und historiographischen Schriften) und reichen von der Selbstcharakteristik über die Darstel4 Pindar: Siegeslieder. Griechisch - deutsch. Hrsg., übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Dieter Bremer. München 1992 (Sammlung Tusculum), S. 273, 275. 3 Zur Sphragis und ihrer Weiterbildung in der antiken Literatur: Niedermeier (Anm. 1), S. 8-14.
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lung einzelner Lebensepisoden bis zum knappen Überblick über das gesamte Leben, so daß hier die Grenze zwischen statischem Selbstporträt und Lebensgeschichte nicht streng zu ziehen ist. Für die frühgriechische Lyrik, also auch noch für Pindar, hat freilich Hermann Fränkel gemeint, daß die dort vom Ich des Dichters geäußerten Urteile und Bekenntnisse noch nicht individuelle Ansichten, sondern die öffentliche Meinung, eine allgemein gültige Maxime wiedergäben, daß ein „ich w i l l " oder ein „ich werde" als ein „man soll" zu verstehen sei. 6 Das würde zu dem Umstand passen, daß im griechischen 5. Jahrhundert, in der Blütezeit der Poliswelt, die Gemeinschaft und nicht der Einzelne im Mittelpunkt steht, weshalb in diesem Jahrhundert auch in der Prosaliteratur weder die Biographie noch die Autobiographie Raum gewinnen können. Man kann in dieser Zeit höchstens Vorformen der Gattung ausmachen, etwa verschiedene Reiseberichte, die zwar schon rückblickende Selbstzeugnisse sind, aber doch nur einen kurzen Lebensabschnitt ihrer Verfasser behandeln; diese teilen dabei naturgemäß auch einiges über sich selbst mit, rücken sich aber noch nicht ins Zentrum der Darstellung. 7 *
Ansätze zu einer Literatur, in der eine Einzelperson in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt wird, finden sich bei den Griechen erst im 4. Jahrhundert v. Chr., und die Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Wandel im politischen und gesellschaftlichen Bewußtsein der Zeit. In diesem Jahrhundert erlebt die Demokratie der Polis ihren Niedergang; an ihre Stelle tritt durch Philipp von Makedonien und Alexander den Großen die Monarchie, die auch während der ganzen Zeit des Hellenismus die beherrschende Regierungsform im östlichen Mittelmeerraum bleibt. Dementsprechend verlagert sich das Interesse von der das Kollektiv betonenden Historiographie immer mehr auf eine personenzentrierte Darstellung von Geschichte und Politik. So entsteht im 4. Jahrhundert die Gattung des Prosa-Enkomions, der Lob- und Preisrede zumeist auf Herrscher und Heerführer, seltener auf Künstler und Philosophen, und entwickelt sich im Hellenismus zur politischen bzw. Künstler-Biographie. Gleichzeitig werden politische Rechenschaftsberichte oder Verteidigungsreden vor Gericht zu ausführlichen Selbstporträts hinsichtlich Charakter, Verhalten und Taten erweitert,
6 Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München 2 1962, S. 543, Anm. 12; vgl. auch S. 587. 7 Beispiele für solche Vorformen bringt Sonnabend (Anm. 1), S. 59 f.
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ohne schon eine konsequente Beschreibung des ganzen eigenen Lebens zu intendieren. Ein frühes Beispiel ist die 392 v. Chr. geschriebene Apologie des Sokrates aus der Feder Piatons. 8 Die drei Verteidigungsreden des Angeklagten sind durchwegs in Ich-Form gehalten. Sokrates erläutert darin die Art seiner Philosophie, durch unbedingtes Fragen und Ausforschen die Wahrheit zu finden, als Grundlage und Bedingung seiner Existenz. Er zeichnet von sich einen Charakter, der ihn von Anfang an bestimmt hat und auch jetzt vor Gericht noch gilt; dieser habe sich weder entwickelt noch verändert, und so sind die gelegentlichen Rückgriffe des Sokrates auf Geschichten und Ereignisse seines vergangenen Lebens nur Belege für die Unveränderbarkeit dieses seines Charakters und seiner Lebensart, nicht Belege für ihre Entwicklung, so daß hier weder eine chronologische noch gar eine kausalgenetische Lebensdarstellung sinnvoll gewesen wäre. Ähnliches gilt für die Verteidigungsrede des Sophisten Isokrates, die dieser um 353 v. Chr. nach einem verlorenen Prozeß nachträglich fingiert hat, um sie „als ein Bild meiner Gesinnung und meiner Lebensführung insgesamt" 9 den Zeitgenossen und der Nachwelt vor Augen zu stellen und dadurch die falschen Urteile seiner Gegner zu widerlegen. Es geschieht dies in offensichtlicher Nachahmung des platonischen Sokrates, jedoch in Gestalt und Ton einer recht geschwätzigen Selbst-Panegyrik. Dabei greift auch Isokrates nur gelegentlich auf vergangene Ereignisse zurück, es fehlt auch hier noch jede biographische Struktur. Einen entschiedenen Schritt in die Richtung einer Autobiographie im strengen Sinne geht erstmals Piaton in seinem um die gleiche Zeit (nach 354 v. Chr.) geschriebenen Siebenten Brief 1 0 , der von der Forschung überwiegend als echt angesehen wird. Piaton richtet diesen Brief an die Vertrauten seines Freundes Dion und gibt ihnen darin Ratschläge für ihr künftiges politisches Handeln. Begründet werden diese Ratschläge mit Piatons enttäuschenden Erfahrungen in Sizilien, wo er auf drei Reisen den vergeblichen Versuch unternommen hatte, seine politischen Vorstellungen bei den syrakusischen Tyrannen Dionysios I. und vor allem Dionysios II. in
8 Piaton: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Hrsg. von Gunther Eigler. Sonderausgabe. Bd. 2, bearbeitet von Heinz Hofmann. Darmstadt 1990, S. 1-69. 9 Isokrates: Rede X V : Antidosis oder über den Vermögenstausch. In: Isokrates: Sämtliche Werke. Bd. 2: Reden I X - X X I , Briefe, Fragmente. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Eingeleitet und erläutert von Kai Brodersen. Stuttgart 1997 (Bibliothek der griechischen Literatur 44), S. 117-178; Zitat S. 118. 10 Piaton: Werke (Anm. 8), Bd. 5, bearbeitet von Dietrich Kurz, S. 366-443.
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die Tat umzusetzen. Piaton stellt diese Erfahrungen anhand der genauen Schilderung seiner drei Reisen und der verschiedenen Begegnungen mit den beiden Tyrannen in detailliertem und oft spannend erzähltem Rückblick dar und verbindet damit eine betont ruhige und zurückhaltende Verteidigung seiner Handlungsweise auf Grund der damaligen Zukunftsungewißheit seiner Überlegungen und Entscheidungen. Piaton stellt im Siebenten Brief zwar nicht sein ganzes Leben dar, wohl aber den jahrzehntelangen Zusammenhang wichtiger Lebensabschnitte. Dabei ist das apologetische Motiv nur leise spürbar, erst recht ist dieses erste große autobiographische Dokument des 4. Jahrhunderts von aller Selbst-Enkomiastik frei. Dominant und einheitsstiftend ist vielmehr die grundsätzliche Sorge des Philosophen, in der Welt der Politik überhaupt wirksam werden zu können. Ein Menschenalter später hat dann Demosthenes in seiner berühmten Rede für Ktesiphon über den Kranz 11 (330 v. Chr.) das zurückliegende eine Jahrzehnt (346-336) seines politischen Wirkens für die Vaterstadt Athen im Kampf gegen Philipp von Makedonien leidenschaftlich und zugleich mit höchster rhetorischer Kunst zu seinen Gunsten vergegenwärtigt. Es ist eine Verteidigungsrede vor dem athenischen Volk als seinem Richter, in der Demosthenes das eigene Ich als ein stets im Interesse der heimatlichen Polis handelndes und also seine politischen Taten als patriotische Verdienste deutet. Wie in Piatons Siebentem Brief haben wir auch hier noch keine vollständige Lebensbeschreibung, wohl aber die Darstellung der für den Politiker Demosthenes wesentlichen Epochen seines Wirkens, die er, auf mehrere Erzählblöcke verteilt, in die Gerichtsrede eingebaut hat. An sich hätte der Anlaß, nämlich die Klage des Aischines gegen Ktesiphons Antrag, Demosthenes für seine Verdienste um den Staat mit einem Kranz zu ehren, nicht dieses weitausholenden Rückblicks bedurft. Wenn daher Demosthenes meint, wegen des Klägers Zweifel, „daß ich durch Rat und Tat das Beste wirke", müsse „ i m Zusammenhang dieser Klage mein ganzes politisches Wirken zur Sprache kommen" (§ 59) 1 2 , so überzeugt dieses Argument nicht ganz. Man spürt die Freude des großen Redners, bei dieser Gelegenheit nicht nur als Apologet aufzutreten, sondern sich zugleich als das Vorbild eines verantwortungsvollen Staatsbürgers darzustellen. Bisher waren uns aus dem griechischen 4. Jahrhundert nur Selbstzeugnisse von Philosophen und Rednern begegnet, die erst zum Teil über ein 11 Demosthenes: Rede für Ktesiphon über den Kranz. M i t kritischen und erklärenden Anmerkungen hrsg. und übersetzt von Walter Zürcher. Darmstadt 1983 (Texte zur Forschung 40). 12 Ebd., S. 27.
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statisches Porträt ihrer Gesinnungen und Taten hinaus einen biographischen Rückblick geboten haben, und dann nie über das ganze Leben, sondern nur über wichtige Abschnitte daraus. Auch handelte es sich nie um ihr privates oder inneres Leben, sondern stets um ihre öffentliche, j a politische Tätigkeit. Anlaß zu solcher Selbstdarstellung waren zumeist fremde Angriffe, doch konnten diese Lebensbilder über den vordergründigen Zweck der Rechtfertigung hinaus z. T. schon den Sinn eines Appells an das Publikum gewinnen, sie als Muster für politisches Handeln zu nehmen. Wegen ihres ersten und vereinzelten Auftretens konnten diese Selbstzeugnisse noch keine einheitliche Form finden: Sie erscheinen entweder als Brief oder - häufiger - in Gestalt der Verteidigungsrede vor Gericht und bekunden damit besonders deutlich ihre gattungshistorische Herkunft. *
Im gleichen 4. Jahrhundert entwickeln sich aber nun auch bei den Politikern im engeren Sinn, den Herrschern und Heerführern, autobiographische Berichte über ihre Taten. Denn die politische Prominenz begnügt sich nicht damit, von fremden Biographen und Enkomiasten ihr Leben beschreiben und feiern zu lassen; sie haben das Bedürfnis, auch selbst ihren Charakter und ihre Taten vorzustellen, oft wieder in der Absicht, falschen Urteilen zu begegnen oder auch vorzubeugen. In der hellenistischen Zeit hat sich für solche Tatenberichte der politisch oder militärisch Handelnden schon bald der Gattungsname „Hypomnemata" eingebürgert. 13 Der Singular „Hypomnema" bedeutet ursprünglich „Erinnerung" oder „Mahnung", der Plural „Hypomnemata" „Notizen, Konzepte, Aufzeichnungen, Erinnerungsstützen" und gewinnt dann die spezifische Bedeutung „politische Memoiren". Dieser Typ autobiographischer Schriften von Staatsmännern und Feldherren steht damals am Beginn einer langen Tradition und findet später eine Fortsetzung in den römischen „res gestae" und „commentarii de vita sua". Vorangegangen waren ihnen Tatenberichte orientalischer Alleinherrscher, vor allem des persischen Großkönigs Darius I., der seine Taten und Leistungen in Stein hauen ließ, was schon den griechischen Ge-
13 Näheres zur Gattung der Hypomnemata bei Klaus Meister: Autobiographische Literatur und Memoiren (Hypomnemata) (FGrHist 227-238). In: Purposes o f History. Studies in Greek Historiography from the 4th to the 2nd Centuries B.C. Proceedings o f the International Colloquium Leuven, 24-26 May 1988. Ed. by H. Verdin, G. Schepens and E. de Keyser. Leuven 1990 (Studia Hellenistica 30), S. 83-89. - Johannes Engels: Die f Y7iofivrmaTa- Schriften und die Anfänge der politischen Biographie und Autobiographie in der griechischen Literatur. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 96 (1993), S. 19-36. - Sonnabend (Anm. 1), S. 79f.
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schichtsschreibern des 5. Jahrhunderts bekannt war, so daß die hellenistischen Monarchen und Politiker durch die Vermittlung Herodots und Thukydides' an die persische Tradition anknüpfen konnten. Leider haben die griechischen Herrscher und Politiker ihre Taten nicht in Stein gehauen, sondern den Papyri anvertraut, so daß uns heute nur wenige ihrer Aufzeichnungen überliefert sind. Am Anfang allerdings steht ein vollständig erhaltenes Beispiel. Es ist Xenophons Anabasis 1*, sein detaillierter Bericht über den Feldzug des Kyros gegen Artaxerxes und über seine, Xenophons, Führung des griechischen Heeres auf dem gefahrvollen Rückzug zum Schwarzen Meer und nach Byzanz. Xenophon hat diese minutiös und spannend erzählten Kriegsmemoiren unter einem Pseudonym veröffentlicht, damit die positive Schilderung seines Charakters und seiner Taten um so glaubwürdiger sei. Schon Plutarch hat diese Taktik erkannt, wenn er schreibt: „Xenophon war selbst der Gegenstand seiner Geschichte; er beschrieb, was er als Feldherr getan und was er Vorzügliches geleistet habe. Indem er schrieb, Themistogenes aus Syrakus sei der Verfasser [nämlich in den Hellenika 3,1,2; Anmerkung des Übersetzers], trat er einem anderen den Ruhm seines Werkes ab, damit er um so ieichter Glauben finde, wenn er von sich wie von einem anderen erzähle." 15 Dies ist Teil einer apologetischen Strategie sowohl gegenüber den Athenern als auch gegenüber seinen Söldnertruppen, weshalb sich Xenophon im zweiten Teil der Anabasis als idealer Heerführer und als panhellenisch gesinnter Grieche stilisiert. Sonst gibt es aus dem 4. und 3. Jahrhundert von etwa 12 Hypomnemata nur noch einige Fragmente 16 und eine Reihe von Testimonien bei späteren Historikern, vor allem bei Polybios und Plutarch. A m ehesten kann man sich noch ein Bild von den 30 Bücher umfassenden Erinnerungen des achäischen Staatsmanns Aratos von Sikyon aus dem späten 3. Jahrhundert machen, weil Polybios sie ausführlich zitiert. Aratos hat darin seine jahrzehntelange Führerrolle im achäischen Bund deswegen so eingehend dar-
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Xenophon: Anabasis. Der Zug der Zehntausend. Griechisch - Deutsch. Hrsg. von Walter Muri. Bearbeitet und mit einem Anhang versehen von Bernhard Zimmermann. München, Zürich 1990 (Sammlung Tusculum). 15 Plutarch: De gloria Atheniensium 345 E. Zitiert in: Xenophon (Anm. 14), S. 493 (übersetzt von Bernhard Zimmermann). 16 Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist). Hrsg. von Felix Jacoby. 2. Teil: Zeitgeschichte. Leiden 1927 (Neudruck 1962), Nr. 227-238: Autobiographien, Memoiren und Memoirenhaftes (Textband: S. 955-991; Kommentarband: S. 639-661). - Behandlung zweier Beispiele (Aratos von Sikyon und Ptolemaios V I I I . Euergetes II.) bei Sonnabend (Anm. 1), S. 80-82.
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gestellt, weil er wegen seines radikalen Frontwechsels gegenüber Makedonien angegriffen worden war und sein Verhalten mit Sachzwängen zu entschuldigen versuchte. Autobiographische
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bei den Römern
Einige späte Beispiele griechisch geschriebener Hypomnemata reichen bis ins 1. vorchristliche Jahrhundert und sind bereits von Römern geschrieben, bilden also für die autobiographischen Zeugnisse des hellenistischen Kulturkreises eine Brücke von der griechischen zur römischen Welt. So berichten zwei Angehörige der Scipionenfamilie Anfang und Mitte des 2. Jahrhunderts in je einem Brief als Augenzeugen über die von ihnen geführten Kriege - Scipio Africanus Maior an König Philipp V. über den Zweiten Punischen Krieg 1 7 und Scipio Nasica vermutlich an den numidischen König Massinissa über den Perseuskrieg 18 : es sind die frühesten „res gestae" römischer Feldherren. Stärker in der griechischen Tradition steht noch Ciceros leider nicht erhaltene Denkschrift über sein umstrittenes Konsulatsjahr 63 v. Chr. mit dem Titel f Y7i6|ivr||aa 7ispi i f j q UTtaraaq 19 . Darin hat er nach eigenem Bekunden „die ganze Palette des Isokrates und alle Farbkästen seiner Schüler aufgebraucht, dazu auch ein wenig aristotelische Schminke aufgelegt" 20 . Wir haben uns also eine enkomiastische Schrift vorzustellen, worin Cicero seine Leistungen als Konsul, vor allem seinen Kampf gegen Catilina, rhetorisch aufgeputzt hat, was er im nachhinein selbstironisch ein wenig herunterspielen will. Er hat dieses Hypomnema auch ins Lateinische übersetzt und außerdem über das gleiche Thema ein Hexametergedicht in drei Büchern De consulatu suo im prunkvollen Stil eines ennianischen Epos geschrieben, und noch nach der Rückkehr aus der Verbannung hat er in einem weiteren Gedicht De temporibus suis in ebenfalls drei Büchern sein widriges Schicksal und seine Heimkehr erzählt. 21 Wohl hatte sich Cicero zuvor bemüht, zeitgenössische Dichter und Historiker dafür zu gewinnen, sein bewegtes Leben zu beschreiben. Als er damit keinen Erfolg hatte, griff er selbst zur Feder, um seine politischen Verdienste und seine fata ins rech17
FGrHist (Anm. 16), Nr. 232. Ebd., Nr.233. 19 Ebd., Nr.235. 20 Cicero: Brief an Attikus, Juni 60 (II 1.1), übersetzt von K. Meister (Anm. 13), S. 88. 21 Vgl. dazu Friedrich Klingner: Cicero. In: F. K.: Römische Geisteswelt. München 5 1965, S. 131 f. 18
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te Licht zu rücken. Doch auch damit hatte er kein Glück; denn alle diese autobiographischen Schriften um 60 v. Chr. sind bis auf wenige Bruchstükke verlorengegangen. Mit Cicero haben wir zeitlich ein wenig vorgegriffen. Die beiden Scipionen haben mit den brieflichen Berichten über ihre Kriegserfolge eine Tradition innerhalb der römischen Aristokratie geschaffen, die schon in der Zeit der späten Republik weitere Beispiele (von nun an in lateinischer Sprache) bringt, darunter von mehreren Politikern, die im späten 2. Jahrhundert Konsuln gewesen waren und kurz nach 100 v. Chr. in freilich nur schlecht rekonstruierbaren Schriften ihre Taten gerechtfertigt oder gegen Angriffe verteidigt haben. 22 An sich war es in der römischen Adelsgesellschaft - analog zur griechischen Polis - verpönt, daß ein Einzelner durch Hervorhebung der eigenen Person die Standessolidarität durchbrach. Daß es dennoch seit dem frühen 1. Jahrhundert v. Chr. zunehmend geschah, ist einmal mehr aus der offensichtlich apologetischen Intention dieser Schriften zu erklären, zum anderen ist es aber auch ein Zeichen dafür, daß die Zeit der römischen Republik zu Ende geht und deutlich auf eine Ära der Alleinherrschaft von Diktatoren und Cäsaren zusteuert. *
Den Auftakt zu einer neuen Epoche der römischen Autobiographie bilden daher die Memoiren des Cornelius Sulla, des ersten zeitlich unbegrenzten Diktators der römischen Republik und damit eines Vorläufers der späteren Cäsaren. In seinen beiden letzten Lebensjahren (79/78 v. Chr.) hat Sulla seine umfangreichen Erinnerungen niedergeschrieben, bei seinem Tod lagen schon 22 Bücher vor. Sie sind zwar nicht erhalten, doch hat sie Plutarch ausführlich benutzt 23 , so daß Inhalt und Intention einigermaßen erkennbar werden. Zum einen zeigt auch dieses Werk apologetische Tendenz beim Bericht über Sullas Kämpfe mit Marius und über seinen Krieg mit Mithridates. Zum anderen - und das ist ein Novum in der autobiographischen Literatur der Antike - präsentiert sich Sulla als einen Günstling des Glücks und der Götter 24 , indem er immer wieder von Wunderzeichen, Orakeln und Träumen spricht, die ihn sicherer als planvolle
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Näheres dazu bei Sonnabend Scaurus und P. Rutilius Rufus). 23 Plutarch: Sulla. In: Plutarch: Konrat Ziegler. Zürich 1955, Bd. 3, 24 Unter Hinweis auf Plutarch S. 96-98.
(Anm. 1), S. 90-93 (Über Q. Lutatius Catulus, M . Aemilius Große Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von S. 46-98. (Sulla 6) betont dies nachdrücklich Sonnabend (Anm. 1),
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Überlegung zum Erfolg geführt hätten. Das ist um so bemerkenswerter, als noch Scipio Africanus in seinem autobiographischen Brief betont hatte, er verdanke seine Erfolge in Spanien nicht dem Glück, sondern eigener Tatkraft. Sulla dagegen beruft sich auf den Schutz der Götter, um unter diesem Deckmantel seine Taten und Untaten zu rechtfertigen. Er glaubt, durch dieses pseudoreligiöse Motiv sich unangreifbar zu machen. Damit erreicht er nicht nur eine wirksamere Apologie; er wagt auch als erster die Darstellung seiner Person als einer sakrosankten Erscheinung, die von den Göttern zum Wohl der res publica Romana ausersehen sei. Der Kult der aus den übrigen herausgehobenen Einzelpersönlichkeit und die quasi religiöse Weihe des Alleinherrschers waren damit für die Reihe der späteren Kaiser schon vorgezeichnet. Zu diesem Personenkult trägt kurz darauf der Ahnherr der römischen Kaiser, Caius Iulius Caesar, auf eine besondere Weise bei. Bekanntlich sind seine Kriegsmemoiren Commentarii belli Gallici 25 in Er-Form geschrieben, um den Eindruck größtmöglicher Objektivität zu erwecken. Allerdings nennt der Verfasser die römischen Soldaten „die Unsrigen" („nostri"), den Gegner immer „den Feind" („hostis"), so daß alle Kriegsereignisse stets aus einem subjektiven Blickwinkel dargestellt sind, als ob ein Vertrauter aus der Umgebung des Feldherrn ganz in dessen Sinne berichten würde. Caesar erscheint aus solcher Perspektive als das Ideal eines Heerführers, der klug, besonnen und souverän alle Vorgänge und Ereignisse überschaut und meistert. Mit Hilfe eines scheinbar fremden Urteils gelingt hier auf indirektem Wege eine positive Selbstdarstellung, die zudem in einem ruhigen, zurückhaltenden Ton, in einfachen und klaren Sätzen vorgetragen wird. Nichts ist mehr zu spüren von der auftrumpfenden und nervösen Apologetik eines Sulla, Caesar zeigt sich auch in seinem Berichtsstil als der absolut sichere Herr der gallischen Geschicke, der es versteht, die Fülle der Ereignisse und Situationen in genau geordneter Erzählfolge auf das eine Ziel der Eroberung zu lenken. So hat Caesar diesen kunstvoll komponierten Erfolgsbericht mit einem souveränen Selbstbildnis verbunden, um dem Senat und dem Volk von Rom seine Leistungen und seine Herrschernatur eindrucksvoll vor Augen zu führen. 26
Gaius Iulius Caesar: De bello Gallico. Der Gallische Krieg. Lateinisch - Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Marieluise Deißmann. Stuttgart 2003 (Universal-Bibliothek 9960). 26 Vgl. Karl Büchner: Römische Literaturgeschichte. Ihre Grundzüge in interpretierender Darstellung. Stuttgart 3 1962, S. 210-213.
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Caesar hatte vor, nach den Aufzeichnungen über den Gallischen Krieg und über den Bürgerkrieg auch seine weiteren Feldzüge im Osten, in Afrika und in Spanien zu beschreiben und so in einer lückenlosen Folge von „Commentarii" sein Leben als Feldherr und Staatsmann zu dokumentieren. Sein vorzeitiger Tod hat ihn daran gehindert, diesen autobiographischen Gesamtplan zu verwirklichen. Demgegenüber hat sein Nachfolger und Adoptivsohn Octavianus Augustus in zwei zeitlich weit auseinanderliegenden autobiographischen Schriften jedesmal die Summe des bis dahin Geschehenen und Erreichten gezogen. Die frühe Schrift hat er 25/24 v. Chr. unter dem Titel de vita sua27 in 13 Büchern verfaßt; sie ging zwar verloren, ist aber von Sueton für seine Augustus-Biographie benutzt worden. Octavian hat sie in einer Zeit geschrieben, in der seine Herrschaft trotz der Schlacht von Actium noch nicht unangefochten war. Wohl deshalb unternimmt er es hier, sowohl seine Herkunft und seine privaten Verhältnisse als auch bestimmte politische und militärische Ereignisse in seiner Laufbahn bis 27 v. Chr. gegen Vorwürfe und Gerüchte in Schutz zu nehmen. Der apologetische Sinn der Schrift ist also unverkennbar, ja Octavian ist darüber hinaus bestrebt, wie Sulla sich als Günstling des Schicksals darzustellen - im ganzen ein Instrument der politischen Einflußnahme noch in der Phase des Machtaufbaus. 28 Fast 40 Jahre später hat dann Octavianus, inzwischen mit dem Ehrennamen Augustus ausgezeichnet, ein Jahr vor seinem Tod (12/13 n. Chr.) einen Tatenbericht in ganz anderer Form und mit ganz anderer Wirkungsabsicht geschrieben und seinem Testament beigefügt. Diesen „index rerum gestarum" 29 hat er in einem knappen, lapidaren Stil abgefaßt, weil er ihn als Inschrift publizieren lassen wollte. Das geschah denn auch nach seinem Tod zuerst in Rom vor seinem Mausoleum, dann aber auch in den Provinzen des Reiches, z.B. in Kleinasien, wo sich der lateinische Text zusammen mit einer griechischen Übersetzung an den Wänden eines AugustusTempels in Ancyra (dem heutigen Ankara) erhalten hat, wonach man den Text auch als „Monumentum Ancyranum" bezeichnet. Diese Art einer dauerhaften und allen zugänglichen Publikation der eigenen Taten erinnert
27 Historicorum Romanorum Reliquiae (HRR), hrsg. von Hermann Peter. Bd. 2, Leipzig 1906 (Neudruck 1967), S. 54-64. 28 Näheres dazu bei Sonnabend (Anm. 1), S. 114-118. 29 Augustus: Res gestae. Tatenbericht (Monumentum Ancyranum). Lateinisch, Griechisch und Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von Marion Giebel. Stuttgart 1999 (UniversalBibliothek 9773). - Der Ausdruck „index rerum gestarum" stammt von Sueton (Aug. 101).
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an orientalische Vorbilder in Ägypten und im Perserreich, etwa an die schon erwähnte dreisprachige Inschrift Darius' I. in Behistun. Diese Publikationsart bedingt Monumentalität des Inhalts wie der Struktur des Textes. Deshalb zählen die „res gestae divi Augusti" 3 0 in systematischer und nur innerhalb der Abschnitte in chronologischer Folge zuerst seine Ämter und Ehrungen, dann seine Spenden an das Volk und schließlich seine Siege, außenpolitischen Erfolge und die fast göttlichen Ehren auf, die ihm als princeps zuteil wurden. Die „res gestae" des Augustus behandeln also nach dem Gesetz dieser Gattung nicht das ganze Leben, sondern ausschließlich die öffentliche Tätigkeit Octavians, vom Betreten der politischen Bühne mit 19 Jahren bis zur Schreibgegenwart im 76. Lebensjahr. In jedem Satz ist der Herr des Erdkreises vernehmbar, die Fülle der Macht wird mit Stolz und Genugtuung registriert. Dabei ist Augustus um den Nachweis bemüht, daß er sich diese herausragende Position durch eigene Anstrengung und Leistung verdient habe und sie ihm deshalb vom römischen Senat und Volk verliehen worden sei. Damit verfolgt Augustus ein doppeltes Ziel: A u f der einen Seite betont er die Einmaligkeit seines Herrschertalents, das Non-plus-ultra seiner Regentschaft in der bisherigen Geschichte Roms; auf der anderen Seite dämpft er diese bei aller Kühle seines Stils unverkennbare Selbstverherrlichung durch die prononcierte Deutung seines Prinzipats als einer staatlichen Neugründung, die nicht etwa die Monarchie, sondern die alte Republik wiederhergestellt habe, da der princeps allein auf Grund seiner selbsterworbenen Autorität als Erster unter Gleichen dem Vaterland diene. Hier spüren wir nicht einmal mehr den Hauch einer Apologie; die „res gestae divi Augusti" sind das Vermächtnis eines Imperators, der kurz vor seinem Tod die von ihm inaugurierte Herrschaftsform der Nachwelt als Modell und Richtschnur für ein ideales Regiment empfehlen will. Seine Nachfolger auf dem römischen Kaiserthron, von Tiberius und Claudius über Hadrian bis zu Septimius Severus, also bis ins 3. Jahrhundert hinein, haben ebenfalls Tatenberichte geschrieben. Soweit es die spärlichen Fragmente dieser Schriften und die Testimonien bei Sueton und der Historia Augusta erkennen lassen, hat Tiberius sein Leben noch „summatim breviterque" zusammengefaßt, Claudius hingegen das seine schon auf acht Bücher ausgedehnt, und bei Hadrian und Septimius Severus kommt die alte apologetische Tendenz wieder deutlich zum Vorschein. Gemeinsam ist diesen kaiserlichen Autobiographen nach Augustus, daß sie es nicht mehr 30
M i t diesem Titel beginnt das vermutlich von Tiberius verfaßte Prooemium der Inschrift.
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gewagt haben, die monumentale Form der „res gestae" ihres großen Vorgängers zu übernehmen, sondern sich mit der traditionellen Variante seiner frühen „vita" begnügt haben. *
Neben diesen politisch-militärischen „Commentarii" als dem Hauptstrang der römischen Autobiographik begegnen in der späten Republik und im augusteischen Zeitalter noch andere Arten biographisch strukturierter Selbstdarstellung. Sie werden gepflegt von Philosophen, Rednern und Dichtern, die damit an griechische Traditionen anknüpfen. Schon dort gab es - wie wir gesehen haben - den Brauch der Selbstvorstellung von Autoren, und zwar nicht in eigenständigen Schriften, sondern nur als Teil eines Werkes, sei es in der Vorrede oder am Schluß. Hier ist noch einmal Cicero zu nennen, der in seinem Dialog Brutus 31 (46 v. Chr.) die Geschichte der Beredsamkeit bei Griechen und Römern in einer umfangreichen chronologischen Folge höchst nuancierter Einzelporträts vorträgt und am Ende dieser Reihe seine eigene Rednerlaufbahn schildert. Dies freilich tut er nur zögernd und mag dabei an den Satz des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gedacht haben: „Ein Edler spricht nicht von sich selbst." 32 Sobald die Notwendigkeit der Apologie fehlt, tut sich der antike Mensch schwer, von sich zu reden. Die bloße Selbstdarstellung ohne außerliterarischen Zweck rein um ihrer selbst willen oder aus purer Erinnerungsfreude ist noch völlig unbekannt, und das Selbstlob ohne zwingenden Grund ist verpönt. So entschließt sich Cicero erst nach wiederholter Aufforderung durch seine Gesprächspartner Brutus und Attikus, am Ende seine eigene Rednerkarriere zu erzählen. Dabei begnügt er sich nicht damit, seine verschiedenen Berufserfahrungen und -erfolge nur aneinanderzureihen; vielmehr deutet er - wohl als erster - seine Laufbahn als eine Bildungsgeschichte. Denn wie er schon zuvor in der Geschichte der Rhetorik verschiedene Epochen unterscheidet und mit historischem Feingefühl eine klare Entwicklungslinie zeichnet, so betont er auch bei seinem eigenen Werdegang eine Stufenfolge des Lernens, Studierens und Übens bis zur Meisterschaft. Schon Tacitus hat dies gesehen: „Euch ist gewiß Ciceros Buch mit dem Titel ,Brutus' bekannt, in dessen letztem Teil [...] er seine Anfänge, seine Fortschritte, gewissermaßen die Entwicklung seiner Beredsamkeit berich31 Marcus Tullius Cicero: Brutus. Lateinisch - Deutsch, hrsg. von Bernhard Kytzler. München 3 1986 (Sammlung Tusculum). 32 Aristoteles: Eth.Nik. IV,8 (1125 a 5).
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tet." 3 3 Ausdrücke wie „fast völlig verwandelt", „ausgegoren", „voll entwikkelt", „zur Reife gelangt" 3 4 weisen auf die erste kausalgenetische Lebensdeutung in dieser wohl frühesten vollständigen Berufsautobiographie der Antike. Dazu kommt, daß Cicero sie ja nicht isoliert, sondern als Schlußstein seiner Rhetorikgeschichte dargeboten hat. Da diese aber eine Entwicklungslinie darstellt, bedeutet Ciceros eigene Redekunst, die ihrerseits diese Linie fortsetzt, eine letzte Steigerung, ja Erfüllung der antiken Rhetorik. Cicero mag vor und in seinem Karrierebericht die Selbstrühmung noch so sehr kaschiert haben; die Komposition seines Dialogs macht sie dennoch evident. Neben Philosophen und Rednern haben auch die Dichter, namentlich in der augusteischen Zeit, sich nicht gescheut, von sich selbst und ihrem Leben zu sprechen. Auch sie tun es nicht in besonderen autobiographischen Schriften, sondern innerhalb eines poetischen Werkes, mit Vorliebe an seinem Schluß. Sie folgen damit der Gepflogenheit Pindars, der seinerseits - wir haben es schon gehört - den alten Brauch der Sphragis, der Beglaubigung eines Werkes mit dem Namen des Autors, übernommen hatte. Als erster sei hier Vergil genannt. Die Schlußverse des letzten Buches seiner Georgica (IV, 559-566) 35 lassen sich als eine erweiterte Sphragis verstehen, mit der der Autor am Ende des Gedichts sich und sein Werk, aber auch Zeit und Ort seines Schaffens vorstellt: So von der Pflege der Flur und des Viehs und so von den Bäumen sang ich. Caesar indes, der gewaltige, schleudert am tiefen Euphrat Blitze im Krieg. Als Sieger gibt er Gesetze willigen Völkern, so strebt er hinan die Bahn zum Olympus. Mich, Vergil, ernährte in Huld Parthenope damals, da mir, ferne von Ruf und Ruhm, aufblühte die Dichtung. Hirtengedichte ersann ich im Spiel; mit dem Mute der Jugend, Tityrus, sang ich von dir unterm Dach breitästiger Buche.
Die kurze Selbstvorstellung ist kunstvoll und beziehungsreich: A m Anfang und am Ende nennt Vergil seine bis dahin wichtigsten Dichtungen: Georgica und Bucolica (die Aeneis war noch nicht geschrieben), genau in der 33
Tacitus: Dialogus de oratoribus 30,3; übersetzt von Bernhard Kytzler in: Cicero (Anm. 31), S. 267. 34 Cicero (Anm. 31), S. 245, 247. 35 Vergil: Landleben. Bucolica, Georgica, Catalepton. Hrsg. von Johannes und Maria Götte. - Vergil-Viten, hrsg. von Karl Bayer. Lateinisch und deutsch. München 4 1981 (TusculumBücherei), S. 187.
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Mitte seinen Namen, dazwischen zuerst die Zeit, dann den Ort der Vollendung der Georgica. Doch wird keine Jahreszahl genannt; vielmehr wird der Abschluß der Georgica mit Octavians Zug an den Euphrat umschrieben (30 v. Chr.). Und wenn der nächste Satz dem Kaiser als Sieger und Gesetzgeber huldigt und gar göttliche Ehren verheißt, so zeigt dies im Rahmen einer Sphragis, wie sehr Augustus zur Sonne dieses Dichterlebens geworden ist. Natürlich konnte Vergil in acht Versen keine Autobiographie schreiben. Dennoch vermochte er bereits auf solch engem Raum ein Lebensbild zu skizzieren und zu deuten. Denn mit dem Hinweis auf die Bucolica als eine Dichtung seiner Jugendzeit gewinnt er in den beiden Schlußzeilen die Perspektive des Rückblicks; überdies nimmt er im letzten Vers der Sphragis und damit der Georgica den ersten Vers der Bucolica 36 fast wörtlich auf und schließt mit diesem Selbstzitat die beiden Lehrgedichte zum Kreis seines bisherigen Schaffens zusammen. Da zudem in beiden Gedichten Augustus eine zentrale Rolle für das Geschichtsverständnis des Dichters spielt, will die Rühmung des Kaisers in diesen das ganze eigene Leben umgreifenden Schlußzeilen sagen, daß es der Sinn dieses Lebens von jeher (und schon vor der Aeneis) gewesen ist, augusteischer Dichter zu sein. Nur selten hat Vergil von sich selbst gesprochen, um so unbekümmerter redet sein jüngerer Freund Horaz von sich und seinem Leben. In allen Gattungen kommt er gern auf seine Person, seine Lebensart und seine Welt zu sprechen, in den carmina knapp und andeutend, ausführlicher in den Satiren und Episteln. Doch nur an wenigen Stellen gewinnen Horazens Selbstbilder eine historisch-biographische Dimension. Sie beginnen dann stets mit dem Bekenntnis zu seiner niederen Herkunft als Sohn eines Freigelassenen, um anschließend entweder seine pietas gegenüber dem Vater zu bekunden, dessen Klugheit er seine gründliche Erziehung in der Hauptstadt verdanke (so in der Satire I,6) 3 7 oder um alsbald „sich vom Staube aufschwingen" 38 zu sehen zur Unsterblichkeit seines Namens; so im berühmten Schlußgedicht des 3. Odenbuches „Exegi monumentum aere perennius" (carm. 111,30). Was aber hier noch sphragisartig verknappt ist, hat Horaz kurz darauf am Ende des 1. Epistelbuches humorvoll ausgemalt. Dort gibt
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Vergil: Landleben (Anm. 35), S. 7: Tityrus, du ruhst hier unterm Dach breitästiger Buche (Bucolica 1,1). 37 Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. München 1967 (Tusculum-Bücherei). Bd. 2: Sermones et Epistulae, hrsg. von Wilhelm Schöne, S. 47, 49 (sat. I, 6, 45-92). 38 Ebd., Bd. 1: Carmina. Oden und Epoden, hrsg. v. Hans Färber, S. 177 (carm. 111,30,12).
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er diesem Buch ein Geleitwort mit auf seine ungewisse Reise in die Welt und sagt ihm zuletzt: Hat dann die mild scheinende Abendsonne dir zahlreichere Hörer zugeführt, so wirst du von deinem Dichter sprechen, von dem Sohn des Freigelassenen, dem Sohne der Niedrigkeit, der aus des Nestes Enge zu höherem Flug die Schwingen gereckt hat; und du darfst, was du der Herkunft abziehst, persönlichem Verdienst zurechnen. Erzähle, daß ich bei den ersten Männern Roms, im Kriege wie daheim, Anklang gefunden; daß ich von kleinem Wuchs war, früh ergraut, der Sonnenwärme zugetan, rasch aufbrausend zum Zorne, doch leicht auch wieder versöhnbar. Trifft sich's, daß Neugier dich ausfragt nach meinem Alter, so laß wissen: ich hatte viermal elf Dezember vollendet in dem Jahr, als Lollius seinem Mitkonsul Lepidus im Amt vorauszog, (ep. 1,20, V.19-28) 3 9
Noch immer am alten Ort der Sphragis, sind diese Verse eine Autobiographie in nuce mitsamt einem kurzen, selbstironischen Porträt. Aus weitem Abstand überblickt der Dichter sein Leben und seine Wesensart, kann alles gutheißen und empfiehlt es seinem eigenen Buch zum Weitersagen. Und das Buch war folgsam, es ist tatsächlich in die Welt gegangen und hat es in seinem Schlußgedicht allen erzählt. Schließlich Ovid. Auch er hat sich einmal am Ende eines Gedichtzyklus seinen Lesern als Autor vorgestellt. Es handelt sich um die Trauerlieder (Tristia) 40 aus seiner Verbannung am Schwarzen Meer. Ausführlicher als alle anderen Dichter zuvor hat hier Ovid von seiner Person, seinem Werdegang und seinen Schicksalen berichtet. Wie die anderen Tristia ist auch dieses Schlußgedicht (IV, 10) 41 in Distichen, dem elegischen Versmaß, geschrieben, doch ist es nicht durchwegs auf den Ton der Klage gestimmt. Drei Abschnitte lassen sich unterscheiden. Der erste und längste (V. 1-80) behandelt Herkunft, Geburt und Erziehung, die Entscheidung für den Dichterberuf und erste Erfolge darin sowie familiäre Ereignisse bis zum Tod der Eltern. Das alles ist in einem ruhigen, mehr berichtenden Ton vorgetragen. Sobald aber Ovid in einem kürzeren Mittelabschnitt (V. 81-111) auf das Thema Exil kommt, hebt die Klage des Verbannten um sein Elend an: Glücklich preist er die Eltern, daß sie seinen Schicksalsschlag nicht mehr haben erleben müssen, und versichert ihnen noch über das Grab, daß nur ein Irrtum, kein Verbrechen an seiner Verbannung schuld sei. Darüber 39
Ebd., Bd. 2: Sermones et Epistulae, S. 199 (ep. 1,20,19-28). Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia, Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. München, Zürich 1990 (Sammlung Tusculum). 41 Ebd., S. 216-227 (trist. IV,10). 40
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hinaus wird der Zeitpunkt des kaiserlichen Zorns umschrieben, die unselige Irrfahrt ins Exil und der gefahrvolle Ort der Verbannung skizziert. Zum Schluß (V. 112-132) aber ermannt sich der Klagende wieder. Er bekennt, im Gedicht Trost zu finden, und dankt der Muse für Linderung in der Qual, da sie ihm eine innere Flucht auf den Helikon schenke, j a er dankt ihr für seinen Dichterruhm schon vor dem Tode und ist sich - wie Horaz - künftiger Unsterblichkeit im Reich der Poesie gewiß. Die Motive von Mittel- und Schlußteil dieses autobiographischen Gedichts mußten dem Leser schon vom ganzen Tristia-ZyVXus her vertraut sein. Was aber dort auf viele Gedichte verstreut war und oft breit erörtert wurde, hat Ovid jetzt am Ende zusammengefaßt und dabei die gegenwärtigen Themen des Exils und des Musentrostes dem Lebensrückblick angefügt, wobei als Leitmotiv seine Liebe zur Dichtung alle Teile zu einem geschlossenen Bild seiner Person und seiner Schicksale verbindet. Darin wird zugleich eine auch sonst in der römischen Dichtung begegnende Elegienstruktur erkennbar: Aus düsterer Gegenwart zeichnet der Dichter eine freundliche Vergangenheit seines Lebens, vermag aber auch für die Zukunft ein helles Bild zu entwerfen, da die Muse von jeher sein Leben geführt hat, ihm auch jetzt im Elend die Treue hält und ihm so ewigen Dichterruhm verheißt.
Bevor ich zum Schluß auf autobiographische Schriften christlicher Autoren der Spätantike zu sprechen komme, will ich die beobachtete Entwicklung der autobiographischen Formen in der vorchristlichen Antike kurz zusammenfassen. Im wesentlichen sind zwei Traditionen erkennbar, die vereinzelt seit dem 5., verstärkt seit dem 4. Jahrhundert in Griechenland und dem hellenistischen Raum, und seit dem 1. Jahrhundert auch im römischen Westen bis in die Kaiserzeit sich entfalten. Voraussetzung dafür war stets ein erwachendes Interesse für die Einzelperson, was nur auf Grund politischgesellschaftlichen Wandels von der Demokratie oder Republik zur monarchischen Staatsform möglich war. Die eine Traditionslinie bringt Rechenschaftsberichte zum Zwecke der Selbstverteidigung in Form des Briefes oder der Gerichtsrede; daraus entwickeln sich später die zumeist apologetischen Tatenberichte („Hypomnemata" und „res gestae") der Politiker, Herrscher und Heerführer, wobei die
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Apologetik in eine offene oder versteckte Selbstpanegyrik umschlagen kann. Die andere Traditionslinie stammt aus dem alten Brauch der Sphragis, der Beglaubigung des Autors am Ende seines Werkes; daraus ergeben sich seit Pindar, vor allem bei den römischen Dichtern der augusteischen Zeit mehr oder weniger knappe Selbstvorstellungen, verbunden mit Rückblikken auf das eigene Leben und Schaffen, wobei auch hier eine Selbstrühmung nicht ausgeschlossen ist. In beiden Traditionslinien gewinnen die Selbstdarstellungen seit dem 4. Jahrhundert allmählich die historische Dimension einer Biographie. Dabei beschränken sich die Autoren lange Zeit auf bestimmte Lebensabschnitte, und erst seit der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. begegnen auch Darstellungen des ganzen Lebens, ja sogar schon erste Anzeichen eines kausalgenetischen Lebensbildes. Immer aber bleibt es bei der Darstellung und Deutung des äußeren Lebens, der Ereignisse, Begegnungen, Taten, Werke und Schicksale, nie wird die Geschichte des inneren, seelischen oder religiösen Lebens behandelt. Denn jede Selbstaussage war an die Öffentlichkeit gerichtet; diese aber erlaubte bis in die augusteische Zeit hinein nur gesellschaftlich relevante Stoffe und Themen, zu denen die intimen Fragen und Erlebnisse noch nicht gehörten.
Autobiographische
Schriften
christlicher Autoren in der Spätantike
In den Jahrhunderten der Spätantike konnten sich neue Formen der autobiographischen Literatur entwickeln, weil mit der raschen Ausbreitung des Christentums über das ganze Römische Reich eine neue religiöse Grundstimmung ein bis dahin unbekanntes verinnerlichtes Menschenbild hervorbrachte, das im nichtchristlichen Raum von der neueren Stoa vorbereitet war und im 3. Jahrhundert mit dem Neuplatonismus eine mystische Variante erfuhr. Schon Cicero, Seneca und Marc Aurel hatten begonnen, in ihren Selbstbetrachtungen das eigene Ich moralisch und psychologisch zu zergliedern und ungeahnte Bereiche des menschlichen Innern zu entdecken und für die konkrete Lebensführung fruchtbar zu machen. Christentum und Neuplatonismus fügen eine neue religiöse Komponente hinzu, und während das Christentum an die Stelle des unpersönlichen Fatum die Heils- und Erlösungstat eines persönlichen, um sein Geschöpf besorgten Gottes setzt,
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betont der Neuplatonismus die Sehnsucht des Menschen nach Wiedervereinigung mit seinem göttlichen Ursprung. Alle diese Vorstellungen bringen verschiedene neue Ansichten über das Menschenleben hervor, die darin übereinkommen, daß das menschliche Leben nicht mehr innerweltlich, sondern nur von einer höheren Instanz her zu verstehen ist. Wenn daher jetzt christliche Autoren über ihre Existenz reflektieren, werden ihre Äußerungen inhaltlich wie formal stets von ihrem Bezug zu Gott bestimmt. Wesentlich ist nicht mehr das Verhältnis des Ich zur Welt, zu Politik und Gesellschaft, sondern sein Verhältnis zu Gott, so daß jetzt die apologetische von einer bekennenden Motivation abgelöst wird. Auch bei diesen christlich orientierten Selbstzeugnissen muß man zwischen Zustandsschilderungen und Rückblicken unterscheiden. Erstere begegnen in der Form des Lob- und Dankgebets an Gott, des Glaubensbekenntnisses, aber auch der Beichte und Sündenklage, kurz: der confessio in der Bedeutungsvielfalt dieses Wortes. Diesen statischen Formen steht der Lebensrückblick gegenüber, und auch hier gibt es verschiedene Typen. Auch im christlichen Raum kann es politische Memoiren geben, wenn christliche Autoren zur politischen Prominenz gehören, wie einige Bischöfe. Das bekannteste Beispiel aus der Spätantike ist Gregor von Nazianz. In seinem autobiographischen Gedicht dq xov eauxoO ßtov (um 3 8 2) 4 2 berichtet er im Hauptteil von seinem politischen Wirken als Patriarch und Konzilspräsident von Konstantinopel, überlagert aber seinen gesamten Lebensbericht mit der oft verzweifelten Klage über den Zwiespalt zwischen seinen Verpflichtungen gegenüber Angehörigen und Kirche und seinem Hang zur Einsiedelei, wobei er häufig die Welt beschuldigt, daß sie ihm diesen Wunsch nach Einsamkeit und Nähe zu Gott nicht erfüllen will. Gregors Beispiel bleibt aber die Ausnahme. Denn im christlichen Bereich dieser frühen Jahrhunderte erscheint der Lebensrückblick so gut wie ausschließlich in der Form der Bekehrungsgeschichte. Dabei muß man beachten, daß damals auch manche nichtchristlichen Autoren über eine innere Wandlung ihres Lebens berichten, vor allem über ihre Abkehr von der Rhetorik und ihre Entscheidung für die Philosophie, so Dion Chrysostomos im 1. und Lukian im 2. Jahrhundert n. Chr. 4 3 Frühe christliche Au42 Gregor von Nazianz: De vita sua. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg., eingeleitet und erklärt von Christoph Jungck. Heidelberg 1974 (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern). - Misch (Anm. 1), S. 620-629. Niedermeier (Anm. 1), S. 33-37. 43 Näheres dazu bei Misch (Anm. 1), S. 496 f.
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toren können daran anknüpfen, wie Justinus Martyr, der in der Mitte des 2. Jahrhunderts davon berichtet, wie er nach langjähriger Irrfahrt durch verschiedene Philosophenschulen endlich durch einen weisen Alten vom Neuplatonismus vollends zum Christentum bekehrt worden sei. 44 In der Regel aber zeigen die christlichen Erweckungsgeschichten eine wesentlich dramatischere Struktur und stehen dabei in offensichtlicher Nachfolge des Apostels Paulus, dessen Bekehrung vor Damaskus in der Apostelgeschichte nicht weniger als dreimal erzählt wird, davon zweimal sogar in der Ich-Form (Kap. 22 und 26), so daß wir hier das Urmodell aller späteren Bekehrungsgeschichten vor uns haben, deren Wendepunkt durch einen plötzlichen und wunderbaren Eingriff von oben gekennzeichnet ist. So bekennt der hl. Cyprian, Bischof von Karthago und Märtyrer in der Mitte des 3. Jahrhunderts, in der Einleitung seiner Schrift De gratia Dei, daß er seine geistige Wiedergeburt im Augenblick der Taufe erlebt habe, als „sogleich auf wunderbare Weise das Zweifelhafte sicher, das Verschlossene offen, das Dunkle licht [...] wurde" 4 5 , ein Vorgang, der nicht der Kraft des Menschen zuzuschreiben, sondern als Geschenk Gottes zu betrachten sei. Und in der Mitte des 4. Jahrhunderts beschreibt Hilarius, Bischof von Poitiers, in der Einleitung seiner Schrift De trinitate seinen geistigen Weg vom Suchen und Schwanken in den Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens bis zur befreienden Erleuchtung bei der Lektüre des Alten Testaments durch die Deutung des Namens Jahve als „Ich bin, der ich bin". 4 6 Dies sind ein paar Belege für die lebendige Tradition des paulinischen Bekehrungsschemas, das dem abschließenden Erweckungserlebnis eine Vorgeschichte des sündhaften oder doch blinden und unwissenden Umhertappens als düstere Folie flir die überraschende, lebenswendende Erleuchtung vorausschickt. Wesentlich ist auch, daß in jeder christlichen Bekehrungsgeschichte die Erweckung als ein wunderbarer, gnadenhafter Eingriff Gottes erfahren, gedeutet und gepriesen wird. *
Fragt man, inwiefern Augustinus am Ende des 4. Jahrhunderts an diese Formen christlicher Autobiographik anknüpft, so ist darauf hinzuweisen, daß er zunächst die Form des Justinus Martyr wählt. Denn kurz nach seiner 44 45 46
Vgl. ebd., S. 498 f. Ebd., S. 499. Ebd.. S. 500.
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Bekehrung skizziert Augustinus in der Vorrede zur Schrift De beata vita (386) 4 7 seinen geistigen Weg von Ciceros Hortensius zu den Manichäern und über die Akademiker zu Plotin, Ambrosius und der Bibel unter dem Bild einer Irrfahrt auf dem Meere durch Nebel und Sturm bis zur endlichen Ruhe in einem freilich weiten Hafen, so daß er noch nicht weiß, in welcher Gegend des Festlands er schließlich sein Glück finden wird. Dieser innere Weg erscheint hier als selbständige Suche nach der wahren Philosophie; noch vermeidet Augustinus jedes religiöse Vokabular, auch die Zuspitzung auf ein Erweckungserlebnis fehlt. Zehn Jahre später jedoch unternimmt Augustinus mit seinen Confessiones eine nicht mehr nur philosophisch, sondern vorrangig religiös bestimmte Deutung seines Lebens. Deshalb knüpft er jetzt an die andere Form frühchristlicher Autobiographik, an die dramatisch gestaltete Bekehrungsgeschichte paulinischer Provenienz an 4 8 und übernimmt von ihr eine Reihe von Motiven und Strukturelementen als kompositorisches Gerüst. Aber der Knochenbau ist noch nicht die ganze Gestalt, und das hat zu der einhelligen Meinung der Forschung geführt, daß dieses geniale Werk mit seiner Fülle von Themen und Motiven und deren kunstvollen Verbindung zu einem unerhört neuen Ganzen keine Vorbilder besitzt und auch keine Nachfolger gefunden hat. Natürlich hilft ihm das Bekehrungsschema zu einer einigermaßen zielgerichteten Komposition, in der eine gestufte Vorgeschichte zum Durchbruch der Bekehrung führt. Aber im Unterschied zu seinen Vorgängern und zu seiner eigenen früheren Skizze beschränkt sich Augustinus jetzt nicht mehr auf einen kurzen Bericht in einer Vorrede oder Einleitung zu einem 47
Augustinus: Über das Glück (De beata vita). Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Ingeborg Schwarz-Kirchenbauer und W i l l i Schwarz. In: Augustinus: Philosophische Frühdialoge. Hrsg. von Carl Andresen. Zürich, München 1972 (Die Bibliothek der Alten Welt. Reihe Antike und Christentum), S. 145-213; Text der Vorrede (§ 1-5): S. 181-186, darin Darstellung des eigenen geistigen Weges (§ 4): S. 183-185; vgl. dazu aus der Einleitung S. 153-156. 48 Pierre Courcelle hat bei der Erkundung möglicher Vorgänger der Confessiones ermittelt, daß Augustinus außer der Apostelgeschichte die genannten Schriften von Cyprian und Hilarius und also wohl auch die darin mitgeteilten Bekehrungsgeschichten gekannt hat. - Pierre Courcelle: Antecedents autobiographiques des „Confessions" de Saint Augustin. In: Revue de Philologie de litterature et d'histoire anciennes. 3. Serie, 31 (1957), S. 23-51. - Wieder in: Ders.: Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition litteraire. Antecedents et Posterite. Paris 1963, S. 95 f., 119-125. - Vorbild für die spezielle Szene seiner Bekehrung im Garten von Mailand (August 386) war nach Augustins eigenem Zeugnis (Confessiones VIII,29) die Erweckung des ägyptischen Mönchsvaters Antonius (251-356) durch ein Bibelwort, von der und von deren wiederum erweckender Wirkung auf andere ihm soeben Pontician erzählt hatte (Confessiones V I I I , 14-15). Quelle dieser Erzählung war wohl die um 360 entstandene und schon um 370 in lateinischer Übersetzung vorhandene Vita Äntonii des Athanasios von Alexandria. Näheres zu dieser frühesten Hagiographie bei Sonnabend (Anm. 1), S. 209-213.
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theologischen oder philosophischen Werk, wie dies Cyprian und Hilarius und er selbst noch immer in der Tradition der Sphragis getan hatten; vielmehr weitet Augustinus seine Bekehrungsgeschichte zu einem neun Bücher umfassenden Werk, das nun das eigene Leben in allen Einzelheiten und in allen Verflechtungen des äußeren und inneren Geschehens zu erzählen erlaubt. Verschränkt werden vor allem die Darstellung der eher passiv erlebten gnadenhaften Führung durch Gott und die Schilderung der eigenen aktiven Bemühung um Selbsterkenntnis, die den vorläufigen Irrungen des Lebens eine zusätzliche teleologische Richtung gibt. Was aber diesem Werk die einzigartig geschlossene literarische Gestalt verleiht, ist die sonst nirgends in der Gattungsgeschichte anzutreffende durchgängige Anrede an Gott, das Continuo eines Dankgebets, das den Vorsehungsrahmen und das schon erreichte Ziel stets gegenwärtig hält und das Leben trotz aller Irrwege, Fehler und Schwächen des Ich von vornherein als von Gott aufgehoben und gerettet zeigt. Aber Augustinus begnügt sich in seinen Konfessionen nicht mit einer bloßen Lebensbeschreibung. Vielmehr nimmt er die Schilderung seiner konkreten Erlebnisse und Begegnungen, Verfehlungen und Irrtümer, Brüche und Wandlungen immer wieder zum Anlaß, sie als Exempla des menschlichen Lebens allgemein zu deuten und die damit verbundenen psychologischen, philosophischen und theologischen Probleme meditierend zu ergründen. So sind schon die ersten 9 Bücher ein philosophischtheologisches Werk, dessen Themen am Leitfaden der eigenen Geschichte erörtert werden. Deshalb konnte Augustinus ohne weiteres die Bücher 10 13 anschließen, um auf dieser von Anfang an gewonnenen Reflexionsebene die schon zuvor erörterten Grundthemen der gnadenhaften Erschaffung und Erlösung des Menschen und der Welt in generellen Abhandlungen über Gedächtnis, Zeit und Schöpfungsgeschichte abschließend zu behandeln, ohne mehr eines autobiographischen Grundrisses zu bedürfen. Wenn Augustinus dennoch in den ersten 9 Büchern der Confessiones seine Erlebnisse nicht systematisch geordnet hat, was j a die Diskussion der daraus erwachsenden theologischen Probleme durchaus erleichtert hätte, sondern im wesentlichen die chronologische Folge seiner Lebensereignisse gewahrt hat, so ist dies dem Wunsch geschuldet, eine Bekehrungsgeschichte zu schreiben. Bekehrungsgeschichte aber bedeutet Heilstat Gottes und kann als ein Miniaturbild der großen Heilsgeschichte der Bibel am besten dann gesehen werden, wenn auch sie in historischer Folge erzählt wird. Dann aber sind die Konfessionen Augustins in erster Linie confessio laudis, fast erscheint dieses Werk - und jetzt wieder in allen
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seinen Büchern - als ein einziger großer Lobpsalm, mit der ein aus der Tiefe Geretteter die Heilstat Gottes preist und verkündet. 49 Darin liegt zugleich der protreptische Charakter des Werkes, der seiner autobiographischen Struktur nicht widerspricht. 50 Denn Augustinus zeigt darin am Beispiel des eigenen Weges Symbole des Menschenlebens und seiner Führung durch Gott, und vermag deshalb jeden Leser unmittelbar anzusprechen, ja zur Gotteserkenntnis und zu einer daraus resultierenden rechten Lebensführung aufzuwecken: Es ist eine Predigt des Bischofs von Hippo an alle Welt in alle Zeit. Diese überzeitliche Bedeutung begründet zugleich die besondere Stellung von Augustins Confessiones in der Literaturgeschichte. Sie sind nur lose mit der autobiographischen Tradition der Antike verbunden. Als überragender Gipfel am Ausgang des Altertums blicken sie viel eher in die Zukunft, wo freilich erst die Autobiographik des europäischen 17. Jahrhunderts an die Errungenschaften Augustins anknüpfen wird. Auch reift dann erst die Zeit heran, wo seine Confessiones einige wenige, ihnen ebenbürtige Gipfel werden wahrnehmen können.
49 Vgl. schon Heinrich Böhmer: Die Lobpreisungen des Augustinus. In: Neue Kirchliche Zeitschrift 26 (1915), S. 419-438, 487-512; hier S. 438, und (zustimmend) Max Wundt: Augustins Konfessionen. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 22 (1923), S. 161-206, hier S. 163 f., 184. 50 Vgl. dagegen Erich Feldmanns These, „daß Augustinus mit seiner Schrift keine Autobiographie, sondern einen christlichen Protreptikos zu schreiben beabsichtigte". Beide Gattungen schließen sich ihm nur deswegen aus, weil er Mischs neuzeitliche Vorstellung einer „freien" Autobiographie übernimmt. - Erich Feldmann: Einführung. Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones. In: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern. Hrsg. von Norbert Fischer und Cornelius Mayer. Freiburg, Basel, Wien 1998 (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 1), S. 11-59; hier S. 38; vgl. auch S. 46. - Misch (Anm. 1), S. 650.
Rede und Gespräch in Augustins Confessiones
Augustinus hat in seinen Confessiones vom Prooemium (1,1-6) über die Bücher des Lebensrückblicks (Buch 1-9) bis zu den abschließenden Büchern über Gedächtnis, Zeit und Schöpfungsgeschichte (Buch 10-13) alle Reflexionen, Erzählungen und Abhandlungen in direkter Rede an Gott gerichtet. Dieser höchste Adressat ermöglicht für den Begriff der „confessio" eine mehrfache Bedeutung: Zur „confessio peccatorum" im Lebensrückblick treten die „confessio fidei u und die „confessio scientiae et imperitiae" in den späteren Büchern, und alle drei Bekenntnisarten sind verbunden mit der durchgängigen „confessio laudis" auf die Herrlichkeit und Güte des erbarmenden Gottes als der Grundhaltung des ganzen Werkes. 1 Da dieses veröffentlicht worden ist, hat seine „confessio laudis" auch Bedeutung für die Leser, die hier das Heilshandeln Gottes modellhaft erfahren und auf ihr eigenes Leben beziehen sollen. 2 Unterstützt, j a vorgebildet und bekräftigt wird Augustins Lobpreis durch die immer wieder eingestreuten Psalmenzitate, in denen der Psalmist gleichfalls Gott in direktem Anruf rühmt. Dadurch nun, daß Augustinus sein eigenes Lob Gottes immer wieder in die Lobesworte des Psalmisten münden, seine Stimme durch die Stimme des Psalmisten vertreten läßt, hebt er seine eigene „confessio laudis" auf die biblische und damit auf eine zeitlos gültige Ebene.3 Diese grundsätzliche Ausrichtung auf Gott als das ständige Ziel der menschlichen 1 Die verschiedenen Bedeutungen des Titels Confessiones haben untersucht und ermittelt: Joseph Ratzinger: Originalität und Überlieferung in Augustins Begriff der confessio. In: Revue des Etudes Augustiniennes 3 (1957), S. 375-392. - Cornelius Mayer: Artikel Confessio, confiteri. In: Augustinus-Lexikon. Hrsg. Von C. M., Bd. 1, Basel 1994, Sp. 1122-1134. Friedrich Wilhelm von Herrmann: Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit. Frankfurt am Main 1992, S. 24 f. - Norbert Fischer: Einführung zu: Aurelius Augustinus, Confessiones - Bekenntnisse. Lateinisch - deutsch. Übersetzt von Wilhelm Thimme. M i t einer Einfuhrung von N. F. (Sammlung Tusculum). Düsseldorf und Zürich 2004, S. 818-828. 2 Diese protreptische Funktion der Confessiones betont vor allem Erich Feldmann: Artikel Confessiones. In: Augustinus-Lexikon (Anm. 1), Bd. 1, Sp. 1166-1180. - Ders.: Einführung. Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones. In: Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern. Hrsg. von Norbert Fischer und Cornelius Mayer (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 1). Freiburg, Basel, Wien 1998, S. 11-59; hier S. 32-50. 3
Vgl. Georg Nikolaus Knauer: Psalmenzitate in Augustins Konfessionen. Göttingen 1955.
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Rede bleibt für den Leser immer gegenwärtig, wird höchstens für einige Sätze oder einen Abschnitt nicht artikuliert, um darauf sofort wieder aktualisiert zu werden. Welche Bedeutung hat diese ständige Ausrichtung der Rede zu Gott vor allem für Augustins Lebensrückblick in den ersten neun Büchern seiner Confessiones? Wie für alle autobiographischen Schriften 4 ist auch hier die Spannung zwischen erzählendem und erzähltem Ich konstitutiv für Aufbau und Stil des Werkes. 5 Die Erzählung des Vergangenen geschieht dabei nie ohne dessen Deutung in der Schreibgegenwart, ja die Lebensgeschichte wird nur um dieser Deutung willen erzählt. Nicht zuletzt um diesen jetzigen Sinn des Geschehenen stets gegenwärtig zu halten, wählt Augustinus das Reden und Rufen zu Gott als basso continuo seiner Lebenserzählung. Aber nicht nur auf der Gegenwartsebene spricht er zu Gott; auch im Rückblick selbst erzählt er von seinen damaligen Reden zu Gott, ja von seinen Wünschen nach einer Antwort Gottes und also nach einem Gespräch mit ihm. Gibt es auf der Erzählebene der Lebensgeschichte in dieser Hinsicht eine Entwicklung und ist das Reden mit Gott auf der Reflexionsebene der Schreibgegenwart eine Frucht dieser Entwicklung? 6 Um diese Fragen be-
4 Den autobiographischen Charakter der ersten neun Bücher von Augustins Confessiones, oft bestritten, nie widerlegt, hat zuletzt Bernhard Zimmermann mit Augustins eigenen Äußerungen darüber bekräftigt: Augustinus, Confessiones - eine Autobiographie? Überlegungen zu einem Scheinproblem. In: Antike Autobiographien. Werke - Epochen - Gattungen. Hrsg. von Michael Reichel. Köln, Weimar, Wien 2005 (Europäische Geschichtsdarstellungen 5) S. 237249. 3 Näheres dazu bringen meine Bemerkungen „Zur Theorie der Autobiographie". In: Antike Autobiographien (Anm. 4), S. 1-13; jetzt auch in diesem Band S. 39-51. 6 Diese Fragen hat sich zuvor vor allem Reinhart Herzog gestellt: Non in sua voce. Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones - Voraussetzungen und Folgen. In: Das Gespräch. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 11). München 1984, S. 213-250. Herzog w i l l zeigen, daß die Confessiones die „allmähliche Konstituierung eines Gesprächs" sind (S. 215). Ziel seiner Untersuchung ist also der Nachweis, daß im Laufe der Confessiones zwischen Gott und Augustinus nicht lediglich eine „dialogische Beziehung*', sondern ein „Gespräch" im genauen Sinne des Wortes erreicht wird (S. 214). Doch wird sich zeigen, daß zum einen die von Herzog angenommenen Gesprächssituationen zwar ein Sprechen zu Gott und ein Hören seiner Stimme, aber keine Wechselreden sind, und daß zum andern der anfängliche Wunsch Augustins nach einem Gespräch mit Gott zugunsten anderer Arten der Redebeziehung aufgegeben wird. - Erst nach der Erstveröffentlichung der vorliegenden Studie (2008) wurde mir die umfassende Interpretation von Augustins Confessiones durch Christian Moser bekannt, die hinsichtlich des Themas ,Rede und Gespräch' durch ihre Auffassung des augustinischen Dialogs mit Gott als eines fiktiven und imaginären Gesprächs zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt. Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Piaton bis Montaigne. Tübingen 2006 (Communicatio 36), S. 421-588 (Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik).
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antworten zu können, müssen wir im folgenden einen Gang durch die Bücher 1-9 der Confessiones unternehmen und danach die späteren Bücher 10-13 damit vergleichen. *
Augustinus hat dem ganzen Werk und also auch dem Lebensrückblick die ersten sechs Paragraphen des Ersten Buches (1,1-6) als Prooemium vorangestellt und darin auf der Reflexionsebene der Schreibgegenwart das Wesen Gottes und die Beziehung des Menschen zu ihm erörtert, ja zu ergründen versucht. Einem kurzen Lobpreis auf die Größe und Unermeßlichkeit Gottes folgen sofort Fragen an ihn, ob Anruf oder Preis, Kenntnis oder Anruf am Anfang stehen müsse und wie er anzurufen sei. Da Gott nicht antwortet, muß das Ich durch weitere Fragen und vorläufige Aussagen die Unfaßbarkeit Gottes in diskursivem Umkreisen erörtern und sich so selbst die Antwort zu geben versuchen. Weil solche Überlegungen kein Ergebnis bringen, kehrt das Ich zu einem hymnischen Lobpreis mit rhetorisch großartiger Häufung von Attributen Gottes in paradoxen Gegensätzen zurück, muß aber am Ende den Sinn auch dieses Redens bezweifeln: „quid diximus, deus meus,[...] aut quid dicit aliquis, cum de te dicit?" (1,4). 7 Das führt schließlich zu der verzweifelten Frage an Gott: „quid mihi es?" (1,5), und ohne neue Erörterung legt das Ich Gott nahe, ihm eine bestimmte Antwort zu geben, indem es mit dem Psalmisten bittet: „Die animae meae: salus tua ego sum" (Ps. 35,3). Das Ich wünscht mit aller Heftigkeit ein Wort von Gott zu hören, das es verstehen und dem es „nachlaufen" kann, um Gott zu „ergreifen". So scheint am Ende des Prooemiums das Verhältnis des Menschen zu Gott in eine Aporie zu münden, und man fragt sich als Leser, ob diese Unruhe des Auftakts, die ja in der Schreibgegenwart formuliert wird, das Ergebnis der in den Confessiones erzählten religiösen Entwicklung darstellt, oder ob der Autor aus kompositorischen Gründen an den Anfang des Buches den scheinbaren Tiefpunkt eines verzweifelten Suchens setzt, um die darauffolgende Vergangenheitserzählung als eine positive Stufenfolge seiner Beziehung zu Gott zu gestalten.
7 Stellen und Zitate aus den Confessiones werden hier und im folgenden nur mit Nummer von Buch und Paragraph (ohne Kapitelzählung) nachgewiesen. Die Originaltexte und zumeist auch die Übersetzungstexte werden zitiert nach: Aurelius Augustinus, Confessiones Bekenntnisse. Lateinisch - deutsch. Übersetzt von Wilhelm Thimme. M i t einer Einfuhrung von Norbert Fischer (Sammlung Tusculum). Düsseldorf und Zürich 2004. Gelegentlich zum Vergleich herangezogen wurden die Übersetzungen von Joseph Bernhart (München 4 1980) und von Kurt Flasch/Burkhard Mojsisch (Stuttgart 1989).
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Der Lebensrückblick setzt mit der Situation des Prooemiums ein. A m Anfang steht wieder ein Lobpreis Gottes: Herkunft aus Vater und Mutter werden als Schöpfung Gottes, Wohltaten der Eltern als Wohltaten Gottes gerühmt. Die einzelnen Geschehnisse der Kindheit werden also vor allem deshalb erzählt, um Gottes Güte und Gnade zu preisen. Dann aber tauchen alsbald Fragen an Gott nach der möglichen eigenen Präexistenz und ursprünglichen Schuldlosigkeit auf, Probleme, die das Ich, weil eine Antwort Gottes ausbleibt, wieder selbst zu lösen versucht, bis es im einen Fall sich Gott als einen Gesprächspartner vorstellt, der den Fragenden auslacht (1,9), im anderen Fall sich selbst ins Wort fällt, weil es diese früheste, spurlos entschwundene Zeit nicht weiter erörtern will (1,12). Beide Male ist es Selbstkritik des Fragenden, der die Unangemessenheit seiner Auskunftswünsche einsieht. In den folgenden Büchern (2-4) über Augustins Jugend und erste Berufstätigkeit in Karthago lassen denn auch solche Fragen nach; an ihre Stelle treten umfangreiche Selbstgespräche (2,11; 4,12-13), statt Gott wird jetzt manchmal die eigene Seele angesprochen (3,3; 4,9), wieder in Gestalt vieler Fragen, die den Sinn von Sünde und Verbrechen, von Schmerz, Mitleid und Trauer erörtern, Grübeleien, von denen sich das Ich plötzlich abwenden kann, um sich im Gebet zu Gott zu kehren: „Doch wozu das? Jetzt ist's nicht die Zeit zu grübeln (tempus quaerendi), sondern dir zu bekennen." (4,11) Einmal sogar fordert das Ich die eigene Seele über mehrere Paragraphen hinweg (4,16-19) auf, sich Gott anzuvertrauen und alle Geschöpfe zu ihm emporzuziehen, ja legt ihr eine umfangreiche Predigt über die Erlösungstat Christi in den Mund - innerhalb dieses Selbstgesprächs eine mehrfach verschachtelte „confessio laudis", die mit keinem Wort Gott selbst anspricht! Alle diese Reden und Selbstgespräche bleiben auf der Reflexionsebene des gegenwärtig Schreibenden. Dagegen berichtet Augustinus auf der Erzählebene in diesen frühen Büchern noch nirgends von damaligen Gebeten oder Rufen zu Gott; vielmehr baut er hier eine Spannung auf zwischen seiner damaligen Verständnislosigkeit und seiner späteren Einsicht in das Handeln Gottes mit ihm. Bei der Schilderung der geistigen und moralischen Irrwege seiner Jugend spricht Augustinus davon, daß er die dunkle Wolke göttlichen Zorns über sich damals nicht bemerkt habe (2,2), und vom Schweigen Gottes über den Hochmütigen und Lasterhaften. Wenig später korrigiert er sich jedoch: „Schwiegst du mir wirklich damals?" (2,7) und interpretiert jetzt die mütterlichen Ermahnungen als Warnungen Gottes („Durch sie sprachst du zu mir"), die er aber damals nicht als solche er-
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kannt habe. Ähnlich deutet er im nachhinein das tröstende Traumgesicht der Mutter über die künftige religiöse Gesinnung ihres Sohnes (3,20) als Antwort Gottes auf ihre klagenden Bitten (vgl. auch 5,17), und in die gleiche Richtung geht die von Augustinus eindringlich wiedergegebene Erzählung seiner Mutter, sie habe die ärgerliche Zurechtweisung durch einen Bischof („ein Sohn so vieler Tränen kann nicht verloren gehen") aufgenommen, „als sei es eine Stimme vom Himmel gewesen" (3,21). Mit diesen Beispielen w i l l Augustinus verdeutlichen, daß er in jenen Jahren noch nicht, wie seine Mutter, eine Beziehung zu Gott, weder durch Gebete noch durch Fragen, gesucht hat und Mahnungen und Urteile anderer nur als menschliche Äußerungen verstanden und bewertet hat, daß er diese aber jetzt in der Rückschau als mittelbares Sprechen Gottes zu ihm deutet, aus einer Zeit, in der er selbst den Wunsch danach noch nicht verspürt hat. Augustinus gibt damit indirekt zu erkennen, daß zuerst Gott zu ihm gesprochen hat, nicht er zu Gott. Die Bücher 5-6 berichten dann von einer ersten Stufe von Augustins Gottesbeziehung. Sie schildern die frühen Mailänder Jahre als eine Übergangszeit der allmählichen Abkehr vom Manichäismus und der vorsichtigen Hinwendung zur katholischen Glaubenslehre. Zu Beginn dieser „Zweifelsperiode" (tempore dubitationis: 5,25) „seufzte ich noch nicht im Gebet, daß du mir zu Hilfe kommest, aber eifrig und ruhelos war mein Geist zu forschen und zu disputieren" (6,3). Doch durch den Mailänder Bischof Ambrosius gewinnt Augustinus einen neuen, erhellenden Zugang zur Bibel, von deren göttlicher Autorität er durch Unterredung und Nachdenken immer mehr überzeugt wird. „Das bedachte ich", so kommentiert Augustinus diesen Vorgang, „und du standest mir bei, ich seufzte und du hörtest mich, ich taumelte und du leitetest mich, ich ging den breiten Weg der Welt, und du verließest mich nicht." (6,8) In diesem Satz wird erstmals ein Zueinander von Ich und Gott umschrieben. Dabei ist freilich zu bedenken, daß Augustinus zwar sein eigenes Verhalten aus der Erinnerung berichtet, die Taten Gottes aber nicht als damals schon erkannte schildert, sondern erst aus späterer Einsicht deutet. Immerhin wird mit „Seufzen" ein zwar noch nicht Sprache gewordener, aber doch schon lebhafter Wunsch, ein noch unartikuliertes, aber doch schon vernehmbares Rufen zu Gott zum Ausdruck gebracht. Doch bleibt dieses Rufen hier noch vereinzelt. Noch immer herrscht das Schwanken zwischen der bisherigen, weltlich bestimmten und einer entschieden auf Gott ausgerichteten Lebensführung. Anschauliches Zeugnis für diese Unentschlossenheit ist die in die Erzählung eingeschaltete Wiedergabe eines damaligen Selbstgesprächs in direkter Rede (6,18-19), worin zweifelnde Fragen und Ausflüchte mit ermunternden
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Antworten, energische Entschlüsse mit ihrem alsbaldigen Widerruf abwechseln. Ergebnis dieses Schwankens ist Aufschub der Bekehrung. Augustinus bedauert dabei vor allem, daß er damals keine Hilfe von Gott erbeten hat, und kann dieses unterbliebene Rufen nur im Irrealis wiedergeben: „ D u hättest sie mir gewiß gegeben, hätte ich nur mit innerlichem Seufzen deine Ohren bestürmt und mit festem Glauben meine Sorge auf dich geworfen."
(6,20)
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In den darauffolgenden letzten drei Büchern des Lebensrückblicks (Buch 7-9) erzählt Augustinus, wie sich seine religiös-ethische Krise verschärft, bis sein Suchen in der Bekehrung zum Christentum endlich sein Ziel erreicht. Diese Entscheidung wird in mehreren Schritten vollzogen, und man kann die Dramatik dieser Lebenswende nicht zuletzt an der zunehmenden Intensität seines Redens mit Gott erkennen. Zunächst setzt sich im Siebenten Buch das Zweifeln und Schwanken in einem längeren Selbstgespräch mit unruhigen Grübeleien fort, diesmal über die Unverletzlichkeit Gottes und den Ursprung des Bösen (7,5-7). Augustinus erinnert sich an diese seine „ruhelose Sorge" ohne Ausweg und daran, „welche Seufzer" sein „schwangeres Herz" (cor parturiens) damals ausgestoßen habe; und er deutet diese „stummen Qualen" seines Geistes als ein „lautes Schreien zu deinem Erbarmen" (7,11). Das „Seufzen" ist heftiger geworden (vielleicht müßte man „gemitus" hier besser mit „Ächzen" und „Stöhnen" wiedergeben), und auch der Gebärwille des Herzens kündigt eine baldige Entscheidung an. Wieder betont Augustinus, daß sein Stöhnen und Schreien von Gott gehört worden sei: „Deine Ohren vernahmen es, ob ich's schon nicht wußte." Noch immer bleibt es eine einsame Rede ohne Gewißheit, daß Gott dieses Rufen hört. Kurz darauf aber berichtet Augustinus, daß er überraschend erstmals ein Gespräch mit Gott geführt habe (7,16). Es ist die Zeit, in der er sich vom Manichäismus abgekehrt hat und neuplatonische Schriften studiert, die ihn veranlassen, „zu mir selbst zurückzukehren". Diese Selbsteinkehr führt zu einer Vision Gottes als eines unwandelbaren Lichtes hoch über dem Geist des Schauenden, der darin die Hoheit des Schöpfers über sein Geschöpf erblickt. Im Erschrecken über diese erstmalige Erkenntnis Gottes „war mir, als vernähme ich von oben deine Stimme". Diese „als-ob"-Konstruktion verweist auf den Charakter eines inneren Hörens, wie ja auch Augustinus am Ende des Gesprächs beteuert, daß er gehört habe, „wie man mit dem Herzen hört". Dabei gebraucht die göttliche Stimme zuerst kein Bibelzitat, sondern Worte, die ganz individuell zu diesem Hörenden gesprochen
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scheinen: „Ich bin Speise der Starken; wachse, und du wirst mich genießen. Nicht wirst du mich in dich verwandeln wie die Speise deines Fleisches, sondern wirst verwandelt werden in mich." Diese neuplatonische Vorstellung einer Einswerdung mit der Gottheit provoziert eine Antwort des Ich, die ein manichäisches Axiom in Frage stellt: „Ist die Wahrheit nichts, weil sie sich nicht dehnt in begrenzten und unbegrenzten Weiten und Räumen?" Und darauf, heißt es von Gott, „riefst du von fern: ,Ich bin, der ich bin'". Alle Inhalte des Gesprächs, auch diese Selbstdefinition Jahwes aus Ex. 3,14, bewegen sich im Raum der neuplatonischen Philosophie, erreichen aber noch nirgends die Ebene der christlichen Theologie. So mutet dieses visionäre Gespräch wie eine traumhafte Gottesbegegnung an, in die das Ich eine Art Selbstvergewisserung über die nunmehr gewonnene Stufe seiner religiösen Gedankenwelt gekleidet hat. 8 Frucht dieser Klärung ist zwar das Schwinden aller bisherigen Zweifel über das Verhältnis von Schöpfer und geschaffener Welt, über Ursprung und Wesen des Guten und Bösen, aber auch ein um so deutlicheres Ungenügen an der eigenen Fremdheit gegenüber Christus und dem christlichen Glauben. Augustinus greift deshalb erneut zur Bibel, die ihm, dem Redekünstler, bisher wegen ihres schlichten Stils mißfallen hatte, und vertieft sich in eine Lektüre der paulinischen Briefe. Er findet darin die platonische Gedankenwelt wieder, doch überragt von der Verkündigung der rettenden Gnade eines menschgewordenen, demütigen Gottes. Gerade diese Predigt des Apostels über Christi Erlösungstat erscheint dem Bibelleser als „ein einziges Bild klarer Reden" (una facies eloquiorum castorum: 7,27), die nicht, wie die platonischen Bücher, das Ziel des Lebens nur zeigen, sondern auch den Weg dorthin weisen. „Das alles", so schließt Augustinus das Siebente Buch, „drang mir wundersam ins Herz, als ich ,den geringsten deiner Apostel' las", und wenn der Anfang des Achten Buches an diesen Satz anknüpft: „ T i e f hafteten deine Worte in meinem Herzen" (8,1), so wird von dem erzählten Ich erstmals gesagt, daß es Sätze der Bibel als Worte Gottes, Bibellektüre als Hören der göttlichen Stimme verstanden habe. Bisher war dies nur auf der Reflexionsebene des gegenwärtig schreibenden Ich begegnet. Dort hatte Augustinus neben vielen Bibelzitaten, die er zur Illustration und zur Bekräftigung seiner Lebensdeutung in die Darstellung eingeflochten, einige Sätze aus der Bibel ausdrücklich als Gottes „Stimme, die aus Wolkenhöhen spricht" (2,3) oder als „deines Geistes heilsame Mahnung, die du an uns richtest durch deinen guten und frommen Knecht" (3,8) be8 Dagegen erblickt Herzog (Anm. 6), S. 227 darin bereits ein „diverbium", das erstmalige „Gelingen einer sprachlichen Kommunikation zwischen Gott und Augustin".
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zeichnet und damit jedesmal Zitate aus Paulusbriefen eingeführt, auch Sätze Jesu als Stimme Gottes, als „Wort, das deiner Wahrheit Mund gesprochen" (6,16) umschrieben, ja Christus selbst im Sinne des johanneischen taSyoc; als „dein Wort, die ewige Wahrheit" (7,24) apostrophiert. Das alles waren bisher Reflexionen aus späterer Einsicht, jetzt aber wird erstmals im Präteritum der Lebenserzählung diese Deutungsstufe erreicht, die ein Bibelwort explizit als Wort Gottes versteht. Augustinus ist also jetzt nicht mehr auf Traum und Vision angewiesen, um eine göttliche Stimme zu vernehmen. Sein Ohr ist hellhörig und demütig genug geworden, um schon aus den heiligen Schriften den Ruf Gottes zu hören. Aber trotz der Entdeckung dieser neuen Quelle und trotz der neuen Erkenntnis der Wahrheit zögert das Ich noch immer, den entscheidenden Schritt zu tun. Augustinus bekennt, daß sich in ihm zwei Willen gestritten haben, der alte, sinnlich und weltlich gesinnte, und der neue, geistige, der schon geneigt war, Gott frei zu dienen, aber noch zu schwach war, den alten zu überwinden (8,10). Auch die Erzählung von Victorinus, dem römischen Rhetor, der nach intensiver Bibellektüre sich vom Götzendienst abgewandt und zum Christentum bekannt hatte (8,4-5), vermochte den unschlüssigen Augustinus noch nicht zur Nachfolge zu bestimmen. Solchen Willenswiderstreit vergleicht er mit dem Schlaf kurz vor dem Erwachen und faßt diesen seinen Schwebezustand in die Form eines neuen kurzen Gesprächs mit Gott, das nur aus Mahnung und Reaktion darauf besteht: „Nichts mehr konnte ich dir zur Antwort geben, wenn du zu mir sprachst: , Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten!'" (8,12) Augustinus muß bekennen, daß er zwar von dieser Wahrheit schon überzeugt gewesen sei, aber dennoch nichts erwidern konnte als die „trägen, schlaftrunkenen Worte: ,Bald, j a bald, laß mich noch ein Weilchen!'" (ebd.) Auch hier läßt Augustinus Gott durch Paulus (Eph. 5,14) zu ihm sprechen, und so ist die Form des direkten Gesprächs mit Gott hier offensichtlich gewählt, um die Intensität der neuen Pauluslektüre zu illustrieren, die jetzt immer stärker die Stimme Gottes repräsentiert. Zugleich aber wird deutlich, daß selbst sie noch immer nicht fähig ist, die Entscheidung herbeizuführen. In genauer Komposition des Achten Buches bringt Augustinus darauf zwei weitere Bekehrungsgeschichten, die ihm und seinem Freund Alypius der gläubige Christ Ponticianus erzählt, als er die Schriften des Paulus bei Augustinus liegen sieht und von dessen lebhaftem Interesse am Christentum erfährt. Zuerst erzählt Ponticianus die Konversion des ägyptischen Mönchsvaters Antonius (8,14), deren entscheidender Punkt hier aber noch
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nicht genannt, vielmehr als Parallele zu Augustins eigener Bekehrung aufgespart wird; sodann erzählt Ponticianus als Augenzeuge von der Konversion zweier kaiserlicher Hofbeamter auf Grund ihrer zufälligen Lektüre der Antonius-Vita (8,15). Thema dieser Erzählung ist also die erweckende Wirkung einer Bekehrung auf andere, und um wiederum die Wirkung dieser Erzählung auf Augustinus glaubhaft erscheinen zu lassen, wird sie in einem eindringlich dramatischen Stil vorgetragen. Dabei fällt auf, daß Augustinus zunächst Ponticianus in indirekter Rede (mit zahlreichen a.c.i.Sätzen) erzählen läßt, dann aber unvermittelt selbst die Rolle des Erzählers übernimmt und die weitere Bekehrungsgeschichte in selbständigen (von keinem verbum dicendi mehr abhängigen) Sätzen fort- und zu Ende führt. Die entscheidende Szene der Umkehr wird dabei in direkter Rede wiedergegeben, so daß sie nicht nur lebhaft vergegenwärtigt wird, sondern auch den Anschein erweckt, als habe sie Augustinus selbst miterlebt und nicht von Ponticianus hier erstmals erfahren. Augustins Perspektive wird zusätzlich dadurch verstärkt, daß er während dieser Erzählung immer dann, wenn von Gott die Rede ist, diesen direkt anspricht, als wolle er vor allem Gott diese Geschichte erzählen und sein Heilshandeln darin preisen. Mit dieser Erzählung des Ponticianus gewinnt die Dramatik des Achten Buches eine neue Dimension. Augustinus bekennt, Gott habe noch während der Erzählung ihn mit sich selbst konfrontiert und beim Vergleich mit jenen Bekehrten sein eigenes entstelltes Wesen wie in einem Spiegel sehen lassen (8,16), womit er andeutet, daß er damals neben Bibelworten nun auch Bekehrungsgeschichten als appellierende Stimmen Gottes erkannt habe. Zudem fordert die Komposition der beiden wie Ursache und Wirkung zusammenhängenden Bekehrungsgeschichten für Augustinus eine fast zwingende Konsequenz. Denn wie die beiden Hofbeamten durch die Vita des Antonius für Christus gewonnen worden waren, so müßte Augustinus beim Hören dieser doppelten Bekehrungsgeschichte um so stärker zur Umkehr bewegt werden. In der Tat löst die Erzählung in ihm einen wilden inneren Kampf aus, der sich zuerst in lauten Selbstvorwürfen entlädt. Diese werden in direkter Rede an den Freund Alypius gerichtet und in Form verzweifelter Fragen über ihr schändliches Zögern hinausgeschrieen (8,19) - in genauem Gegensatz zu dem zwar auch erregten, aber doch beherrschten Ton, in dem der eine Hofbeamte dem anderen seine Entscheidung begründet (8,15). In beiden Fällen handelt es sich um „Geburtswehen des neuen Lebens" (ebd.), nur tobt bei Augustinus der „Sturm in meiner Brust" noch länger und treibt ihn zunächst aus dem Innern des Hauses in die Freiheit des Gartens. Dieser
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Schauplatzwechsel erlaubt es ihm, in seinen Bericht eine längere Reflexionspassage (8,20-25) über die Ungeheuerlichkeit des menschlichen Willenszwiespalts einzuschalten, bevor er wieder zur Erzählung zurückkehrt, wo die beiden Freunde in schweigendem Beieinander verharren und Augustinus seinen letzten Kampf in die Gestalt einer allegorischen Psychomachie kleidet (8,26-27). Zuerst treten darin „törichteste Torheiten und nichtigste Nichtigkeiten, meine alten Freundinnen" auf und flüstern ihm zu, ob er sie wirklich wegschicken und dafür allerlei Verbote einhandeln wolle. Doch ihr Flüstern und Wispern hinter seinem Rücken und ihr verstohlenes Zupfen an seinem Kleid und selbst die Frage der „tyrannischen Gewohnheit", ob er wirklich ohne sie leben könne, machen weniger Eindruck als die Gestalt der Enthaltsamkeit (continentia), die ihn von der anderen Seite einlädt, zu ihr zu kommen, eine Fülle edler Vorbilder aus allen Lebensaltern in ihren Händen hält und ihn freundlich ermahnt, nicht aus eigener Kraft zu leben, sondern sich auf Gott zu werfen und sich von ihm auffangen zu lassen. Als er noch immer das Flüstern der Torheiten hört und zaudernd schwankt, ermahnt ihn die Enthaltsamkeit, die Ohren dagegen zu verschließen, weil jene keine göttlichen Freuden verheißen. Diese allegorische Szene nennt Augustinus abschließend einen „Streit in meinem Herzen, der nur um mich kämpfte gegen mich selbst" (controversia in corde meo non nisi de me ipso adversus me ipsum: 8,27). Im allgemeinen wird als Begründer der literarischen Gattung Psychomachie ein Zeitgenosse Augustins, der christliche Dichter Aurelius Prudentius Clemens (348-405), betrachtet, der eine Folge von Zweikämpfen zwischen Tugenden und Lastern (mit dem jedesmaligen Sieg der Tugend und der Vernichtung des Lasters) in Form eines Hexameterepos unter dem Titel Psychomachia (im Sinne von „ K a m p f der Seele" gegen den Leib) 9 geschaffen hat. Bei Augustinus dagegen kämpfen Torheit und Tugend um die Seele des Menschen 10 , indem sie ihn mit verlockenden Reden jeweils auf ihre Seite ziehen wollen. Vielleicht hat Augustinus sogar noch früher als Prudentius seine Miniatur einer Psychomachie geschrieben; 11 auf jeden Fall ist sie das erste Beispiel dieser Gattung, das in eine Autobiographie eingebaut ist, wobei die eigene Seele des Autors zum
9 Diese Übersetzung des Titels macht Christian Gnilka: Studien zur Psychomachie des Prudentius (Klassisch-Philologische Studien 27). Wiesbaden 1963, S. 4-7, 25 f. mit Erläuterungen des Titels aus der Psychomachia selbst plausibel. 10 Vgl. ebd., S. 26. 11 Da sich zwar die Entstehungszeit von Augustins Confessiones auf die Jahre 397-401, aber die der Psychomachia des Prudentius innerhalb der Periode seiner christlichen Dichtungen (392-405) nicht näher eingrenzen läßt, muß die Frage der zeitlichen Priorität offenbleiben.
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Gegenstand des Kampfes wird. Doch verselbständigt sich bei Augustinus die Allegorese noch nicht; ihre dramatische Szene (bei aller anschaulichen Gestik und witzigen Regie) bleibt Bild für die Kontroverse im eigenen Herzen, wo nicht fremde Mächte um ihn kämpfen, sondern das Ich mit sich selber streitet. *
Die Akzente, die Augustinus in dieser kurzen Psychomachie setzt, lassen das Resultat des Kampfes nicht mehr zweifelhaft erscheinen. Das nun folgende letzte Kapitel des Achten Buches (8,28-30) läßt er denn auch mit dem Aufkommen eines gewaltigen Sturms in seinem Innern beginnen. Sich noch weiter vom Freund zurückziehend, überläßt er sich in völliger Einsamkeit seinen Tränen und fleht Gott um Erbarmen an: „ W i e lange, Herr, willst du noch zürnen?" (Ps. 79,5), um dann mit eigenen Worten fortzufahren: „Wie lange noch, wie lange immer bloß: ,Morgen, morgen!' Warum nicht jetzt, warum nicht in dieser Stunde ein Ende meiner Schmach?" (8.28) Diese drängende Frage, die Gott gleichsam beschwört, nun endlich das befreiende Wort zu sprechen, erhält eine seltsame Antwort. Augustinus berichtet, er habe in diesem Augenblick eine kindliche Stimme aus dem Nachbarhaus gehört, die immer wieder die Worte „tolle, lege, tolle, lege" (8.29) gesungen habe. Adolf von Harnacks Auffassung, die beiden Worte bedeuteten in dieser Zusammenstellung „den Anker lichten und das Tau aufwickeln", und seine Vermutung, die Kinder im Nachbarhause könnten „Schiffchen" gespielt haben, sind durchaus plausibel. 12 Auch Augustins angestrengtes Nachdenken, „ob wohl Kinder bei irgendeinem Spiel so zu singen pflegten", lokalisiert diese Worte zunächst noch auf dieser Ebene. Da aber das Nachdenken darüber ergebnislos bleibt, deutet sie der innerlich Aufgewühlte und eine Antwort Gottes dringend Erwartende in seinem Sinne um, indem er das „tolle, lege" als „nimm und lies" versteht und sich diese Worte „nicht anders erklären kann, als daß ich den göttlichen Befehl empfangen habe, die Schrift aufzuschlagen und die erste Stelle zu lesen, auf die meine Blicke träfen". Dies ist im Falle des „tolle" eine kühne Umdeutung; denn „tollere" meint „emporheben, aufrichten, (aufs Pferd) heben, (an Bord) nehmen", während für „(in die Hand) nehmen" viel eher das Verbum „sumere" zu erwarten wäre. 13
12 A d o l f von Harnack: Die Höhepunkte in Augustins Konfessionen. In: A. v. H.: Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Gießen 1916, S. 90. 13 Vgl. etwa die Stelle aus einem Brief Augustins an den römischen Beamten Darius, worin er diesen aufmuntert, die Bücher seiner Bekenntnisse in die Hand zu nehmen: „sume, inquam, etiam libros quos desiderasti, confessionum mearum" (Ep. 231,6 = Zählung nach der
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Daß aber Augustinus aus der Kinderstimme gar den göttlichen Befehl herauszuhören glaubt, die Schrift aufzuschlagen, erklärt er selbst mit einer analogen Szene der Antonius-Vita, die er jetzt aus der Erzählung des Ponticianus nachholt und dabei als mehrfache Präfiguration der eigenen Bekehrung deutet: „Denn ich hatte von Antonius vernommen, daß er bei der Verlesung des Evangeliums, der er zufällig beigewohnt, sich durch ein Wort, als wär' es zu ihm gesprochen, hatte aufrufen lassen." (ebd.) Die erste Parallele besteht zwischen dem zufälligen Hören des Evangeliums und dem Hören der Kinderstimme von ungefähr - beide Zufälle werden zwischen den Zeilen als göttliche Fügung, als von Gott Zugefallenes verstanden. Diese erste Parallele zieht eine zweite nach sich: das Hören der Stimme Gottes im Schriftwort. Dabei entspricht bereits das Wort, von dem Antonius erschüttert war und das Augustinus hier zitiert: „Geh hin und verkaufe alles, was du hast [...] und komm und folge mir nach" (Matth. 19,21), ganz dem eigenen langgehegten Wunsch, die Welt zu lassen und Gott anzuhangen. Schließlich zieht Augustinus noch eine dritte Parallele. Denn wenn er hinzufügt, Antonius habe, „von dieser Gottesstimme (oraculo) angesprochen", „sich sogleich zu dir bekehrt", so wird klar, daß er damit das gleiche für sich selbst schon hier vorausverkündet. Es ist deshalb nicht mehr überraschend, was nun die weitere Gartenszene bringt. Augustinus kehrt zu Alypius zurück, wo er die Schrift des Apostels hatte liegen lassen. Er schlägt sie auf und liest den Satz, der ihm zuerst in die Augen fällt, d. h. er läßt wieder die göttliche Zufallsfügung handeln: „Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor fleischlichen Gelüsten." (Rom. 13,13 f.) Dieser eine Satz genügte jetzt, um „mein Herz" mit dem „Licht der Gewißheit" zu erfüllen und „alle Schatten des Zweifels" verschwinden zu lassen. In der Tat paßt dieser Appell sehr genau zur aktuellen geistig-moralischen Verfassung des Lesenden. Aber er allein hätte wohl nicht zur augenblicklichen Bekehrung Augustins geführt, zumal diesem seit seiner intensiven Pauluslektüre gerade der Römerbrief vertraut und die aufgeschlagene Stelle wohl schon vorher bekannt war. Daß diese jetzt die alles entscheidende Umkehr bewirken konnte, ist Frucht der ganzen bisherigen Lebensgeschichte Augustins, seines auf vielen Irr- und Umwegen beharrlich gebliebenen Strebens nach Erkenntnis der philosophischen und religiösen Wahrheit, seines immer lebhafter gewordenen Wunsches, mit Gott zu reden und von ihm Antwort Mauriner Ausgabe; Text nach: St. Augustine. Select Letters. With an English Translation by James Houston Baxter. Cambridge, Mass., and London 4 1980, S. 458).
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zu erhalten, und seiner zunehmenden Hellhörigkeit, zuerst im Wort der Schrift und dann auch in Bekehrungsgeschichten diese antwortende Stimme Gottes zu vernehmen. Jetzt im Achten Buch werden diese beiden Medien Schriftwort und Bekehrungsgeschichte zusammengeführt, ja in der Antonius-Vita sind sie dergestalt miteinander verbunden, daß die Bekehrung des Antonius in ihrer anschaulichen Szenenfolge für Augustinus den Charakter eines verheißungsvollen Musterbilds gewinnt, er darin das so sehr ersehnte Heilshandeln Gottes auch für sich schon vorgezeichnet findet und deshalb dank dieser Präfiguration das ihm nun selber von Gott vorgelegte, zu seiner Situation passende Schriftwort folgerichtig zur Bekehrung führt. *
Im Neunten Buch der Confessiones, dem letzten Buch des Lebensrückblicks, gewinnen im Bericht über das erste Jahr nach der Bekehrung Rede und Gespräch eine eigentümliche Ruhe. Es ist die erfüllte Zeit mit den Freunden in Cassiciacum, der Taufe durch Ambrosius in Mailand und des letzten Beisammenseins mit der Mutter in Ostia. Gleich zu Beginn des Neunten Buches nimmt Augustinus in seinem Lobpreis auf die rettende Tat Gottes jene Bitte aus dem Prooemium des Ersten Buches (1,5) wieder auf, die mit dem Psalmisten von Gott ein ganz bestimmtes Wort wünscht: „ [ . . . ] du aber antworte mir und ,sprich zu meiner Seele: Ich bin dein H e i l ' " (Ps. 35,3). Im Prooemium war diese Bitte heftig und drängend vorgebracht worden; jetzt wird sie in gefaßtem Ton gesprochen, ist kaum mehr als der Wunsch nach Bestätigung seines Lobpreises auf die göttliche Heilstat. Gleich darauf bekennt er, wie sehr ihn das neugewonnene Leben von allen irdischen Sorgen und Eitelkeiten befreit habe, und faßt sein nunmehriges Verhältnis zu Gott in eine neue Art des Sprechens: „ich lallte dir entgegen (garriebam tibi), meiner Klarheit, meinem Reichtum und Heil, meinem Herrn und Gott." (9,1) Gelegentlich hat man das Wort „garrire" als „schwatzen, plaudern" verstanden und also bei dem frisch Bekehrten eine plötzlich intime Nähe zu Gott vermutet. 14 Dabei wurde übersehen, daß die Bekehrung für Augustinus schon vor der Taufe eine Wiedergeburt bedeutet, zu der das Lallen eines Kindes viel besser paßt als das Geplauder eines Erwachsenen mit seinesgleichen. Es kommt hinzu, daß „schwatzen" Distanzlosigkeit voraussetzt, was den feierlichen Titeln Gottes in diesem Satz 14 So Herzog (Anm. 6), S. 213, 233. - M i t diesem Wortverständnis (auch „sermocinari" 12,10 übersetzt er mit „plaudern" und dementsprechend „familiaris" 9,8 mit „familiär, privat": S. 213) w i l l Herzog seine These vom „entspannten Gespräch" (S. 214) durch Augustinus selbst bestätigt sehen.
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(„Klarheit, Reichtum, Heil") durchaus widerspricht. Mit „garrire" will Augustinus den neuen Anfang seines Lebens im Bilde kindlicher Unerfahrenheit und zugleich kindlichen Zutrauens zum Vater hörbar machen, so wie er sich kurz darauf als Katechumenen einen „Neuling noch in der echten Liebe zu dir" (rudis in germano amore tuo: 9,8) nennt. Jetzt, in der Zeit der Vorbereitung auf die Taufe, intensiviert Augustinus die Bibel- und besonders die Psalmenlektüre, und er begreift diese Lektüre als Gebet: „ W i e hab' ich damals, Gott, zu dir gerufen, als ich Davids Psalmen las", und noch genauer: „Wie hab' ich damals mit jenen Psalmen zu dir gerufen." (9,8) Doch betont er, daß er zwischen den Psalmenzitaten eigene Worte gesprochen habe, die er halb als Gebet, halb als Selbstgespräch charakterisiert: „als ich so mit mir und für mich vor dir (mecum et mihi coram te) und vertrauensvoll dir hingegeben sprach." (ebd.) Es ist kein Gespräch mit Gott, vielmehr ein Selbstgespräch vor Gott. 1 5 Dieses „coram te" gilt aber in dieser Zeit nicht nur für solche gebetartigen Meditationen, sondern auch für die Dialoge, die er in Cassiciacum mit den Freunden und mit sich selbst über philosophische Probleme geführt hat (9,7). Alles Denken, Reden und Tun ist in dieser Rüstzeit auf Gott hin ausgerichtet, geschieht in seiner Gegenwart. Um so weniger hat es Augustinus jetzt noch nötig, unmittelbare Antworten von Gott oder Gespräche mit ihm zu verlangen. Mehr denn je genügt ihm das Wort der Bibel als Stimme Gottes, als Mahnung, Trost und Ermunterung. Über mehrere Paragraphen des Neunten Buches hinweg (9,9-11) zitiert er verschiedene Stellen der Schrift, die er damals gelesen hat; dabei wird die Aufnahme des Bibelworts teils als „Lesen", teils als „Hören" bezeichnet, wie die Kundgabe des göttlichen Geistes im Psalmwort ein „Sprechen" oder „Rufen" genannt wird (9,9). Wieder betont Augustinus die Treffsicherheit des „prophetischen Wortes" und seine vielfältige Wirkung auf ihn, von Schauern der Furcht bis z u j u belnder Freude. Aber auch von der dunklen Rede der Schrift spricht er, wenn er sich daran erinnert, wie er als Katechumene das von Ambrosius empfohlene Buch des Propheten Jesaja zwar zu lesen begann, dann aber beiseitelegte, bis „ich in der Redeweise des Herrn größere Übung erlangt hätte" (9,13). Demgegenüber betritt Augustinus am Ende des Neunten Buches und also am Ende seines Lebensrückblicks einen neuen, überraschenden Weg zur Begegnung mit Gott. Es geschieht in seinem letzten Gespräch mit der Mut15 Dennoch glaubt Herzog (Anm. 6), S. 233 f., in dieser Psalmenlektüre ein „Psalmengespräch" mit Gott herauszuhören und darin das erste Wechselgespräch zwischen Gott und Augustinus zu entdecken.
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ter A u g in Aug am Fenster in Ostia, kurz vor ihrem Tod. Die zweite Hälfte des Buches (9,17-32) füllt er mit dem Lebensbild der Mutter von ihrer Jugendzeit bis in ihre letzten Tage und bis zu seiner Trauer über ihren Tod, und in die Mitte dieser Aristeia setzt er sein „herzerquickendes Gespräch" mit ihr (9,23-26). Zuerst fragen sie nach dem „ewigen Leben der Heiligen" (9,23); aber sobald ihnen dessen unvergleichlicher Wert klar geworden, empfinden sie ein großes Verlangen, sich emporzuheben zum „wesenhaften Sein" (id ipsum). Dabei unterreden auch sie sich „vor dir, der du die Wahrheit bist" (apud praesentem veritatem) und öffnen mit dem Psalmisten ihre Herzen „der Quelle des Lebens, die bei dir ist" (Ps. 36,10), und so erreichen sie ihr hohes Gesprächsziel über die neuplatonische Stufenfolge der Körper- und Geisteswelt schließlich im Land, „ w o du Israel auf grüner Aue der Wahrheit ewig weidest" (9,24). A u f dieser Gedankenhöhe erfahren sie das dortige Leben als „jene Weisheit, durch die alles wird", die aber selbst nicht wird, sondern ewig ist. Während sie darüber reden und Sehnsucht spüren nach dieser ewigen Weisheit, „berührten wir sie mit vollem Schlage unseres Herzens (toto ictu cordis) ein klein wenig, atmeten tief auf und ließen dort angeheftet ,die Erstlinge unseres Geistes'" (ebd.). Es ist das einzige mystische Erlebnis, das Augustinus von sich in den Confessiones berichtet; er erfährt es nicht allein (wie sonst die Mystiker), sondern im Gespräch und also gemeinsam mit der Mutter. Wenn Augustinus die mystische Erfahrung der Transzendenz nur hier, beim letzten Zusammensein mit der Mutter, erzählerisch gestaltet hat, ist es wohl ein Zeichen dafür, daß er jetzt nach Bekehrung und Taufe in diesem Gesprächserlebnis Siegel und Vermächtnis der geistigen Gemeinschaft von Mutter und Sohn gesehen hat. Das Einzigartige dieses Gesprächs deutet Augustinus auch damit an, daß es für einen Augenblick ins Sprachlose gedrungen war, bevor es wieder zurückkehrte „zum tönenden Laut unserer Sprache, wo die Worte Anfang und Ende haben" (ebd.). Dieser Endlichkeit und Lautgebundenheit des irdischen Wortes setzt er folgerichtig den Logos entgegen, „dein Wort, unsern Herrn, das ohne zu altern, in sich selbst verharrt und alles erneuert" (ebd.). So erwächst aus dem Gespräch in Ostia die Erfahrung des unendlichen Abstands zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Wort, das hier mit Wahrheit und Weisheit in eins fällt. Ihr Verlangen nach dem göttlichen Wort bleibt also letztlich ungestillt; aber gerade weil sie in ihrem meditativen Gespräch für einen Augenblick an das Höchste rühren konnten, fragen sie sich nach ihrer Rückkehr in die Welt der Sprache, wie jene Gegenwart des Göttlichen von Dauer sein könnte. In einem Konditionalsatz, der als eine einzige Periode die himmelstürmende Bewegung dieses Gesprächs gestaltet (9,25), zählen sie die
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Bedingungen dafür auf: Wenn nach und nach die ganze Schöpfung schwiege und nur noch ihrem Schöpfer lauschte, „und wenn dann er allein spräche, nicht durch diese Dinge, sondern durch sich selbst", und wenn das Hören dieses reinen göttlichen Wortes für immer gegenwärtig wäre; wenn all dies erfüllt wäre, dann, so folgern sie, wäre das ewige Leben wie jener von ihnen erlebte Augenblick höchster Erkenntnis; aber dies - und mit dieser Einsicht bescheiden sie sich am Ende ihres Gesprächs - würde wohl erst bei unser aller Auferstehung geschehen. Als Zwischenbilanz können wir festhalten: A u f unserem Gang durch Augustins Lebensrückblick in den Confessiones (Buch 1-9) haben wir eine deutliche Steigerung in der Intensität seines Redens mit Gott erkennen können, aber auch eine zunehmende Ehrfurcht vor der Majestät des göttlichen Wortes, so daß er mehr und mehr auf unmittelbare Antworten Gottes oder Gespräche mit ihm verzichtet und sich damit bescheidet, die Stimme Gottes aus der Bibel und aus Bekehrungsgeschichten zu hören, wodurch er schließlich selbst bekehrt worden ist. Auch der im letzten Gespräch mit der Mutter hervorbrechende Wunsch, Gott unmittelbar zu berühren, zeitigt am Ende die Einsicht, daß die dauernde Gegenwart des göttlichen Wortes nicht schon hier, sondern erst am Tage der Auferstehung erfahren werde. *
In den noch folgenden Büchern 10-13 erzählt das Ich nicht mehr aus seiner Vergangenheit, sondern spricht in der Gegenwart der Niederschrift, so wie bisher im Prooemium und auf der Reflexionsebene des Lebensrückblicks. Gleichgültig, ob es den Sinn seiner Bekenntnisse erörtert, das Gedächtnis erforscht, das Wesen der Zeit untersucht oder den Schöpfungsbericht der Genesis auslegt: immer sind es gegenwärtige Ansichten, Fragen und Probleme, wie j a Augustinus schon zu Beginn dieser letzten Büchergruppe ankündigt, daß er nicht mehr von seinem früheren Ich, sondern von seinem jetzigen Zustand („quis ego sim, non quis fuerim": 10,4) sprechen werde. Alle Formen von Rede und Gespräch, die schon zuvor auf der Reflexionsebene der früheren Bücher begegnet waren, bleiben erhalten: Neben dem Continuo der Anrede an Gott, die ja als einigendes Band alle Bücher der Confessiones umschließt, sind es hymnische Lob- und Dankgebete, Bekenntnisse der eigenen Schuld und Schwäche und Bitten um Erleuchtung über das Wesen Gottes und seiner Schöpfung. Aber auch Fragen an Gott, jetzt etwa über das Wesen des Gedächtnisses oder der Zeit, die, da Gott schweigt, sich das Ich dann doch selbst beantworten muß (10,36-37; 11,25.28), tauchen wieder auf und erinnern an Situationen aus
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den ersten Büchern. Doch haben sie jetzt einen anderen Sinn bekommen; sie sind nicht mehr Ausdruck eines verzweifelten Suchens, sondern nur Variationen jenes Selbstgesprächs, das gleichfalls viele Fragen stellt, ohne dabei Gott anzureden, eines Selbstgesprächs, das auch jetzt wieder begegnet und in das manche Rede zu Gott unvermerkt übergehen kann (10,39). Aber auch Sinn und Form von Rede und Gespräch, die in der Lebensgeschichte gewonnen worden sind, werden jetzt teilweise vom gegenwärtigen Sprechen übernommen. Vor allem bekennt Augustinus, daß er im Wort der Bibel nach wie vor die Stimme Gottes hört, die „an mein inneres Ohr pocht und mein Herz erleuchtet" (10,46), ein Bild, das er auch sonst gerne gebraucht und einmal sogar zu einer Art Leitmotiv werden läßt (12,11.12.18). Die Schrift bleibt für ihn das wesentliche Organ seiner Begegnung mit Gott: „Sprich du mich an, rede du zu mir! Ich glaube deinen heiligen Büchern, aber ihre Worte sind sehr geheimnisvoll." (12,10) Solche zuletzt in Ostia erfahrene Hoheit des göttlichen Wortes bleibt ihm bewußt, doch ist er zuversichtlich, es recht zu verstehen, da es „'Fleisch geworden und unter uns gewohnt hat'" und uns deshalb „menschlich vertraut" geworden ist (10,69). Dank dieser christologischen Sicht wird für Augustinus jetzt erst recht ein gegenseitiges Rufen und Hören von Gott und Mensch möglich (10,2; 11,3), wobei er wiederholt in rückschauenden Sätzen betont, daß dabei die Initiative von Gott ausgegangen sei: „Bist du doch, ehe ich noch rief, mir zuvorgekommen und hast mich bestürmt, häufig und mit vielerlei Stimmen, damit ich es in der Ferne vernehmen, umkehren und dich, den Rufenden, anrufen solle." (13,1) Hier sind gegen Ende der Confessiones noch einmal die ganze Bekehrungsgeschichte und die in ihr sich entfaltende Beziehung zu Gott zusammengefaßt. Das Verhältnis aber zwischen dieser Vergangenheit und der jetzt zu bewältigenden Gegenwart bringt ein anderes Resümee zum Ausdruck, das schon in der Mitte des Zehnten Buches steht: Du warst bei mir, aber ich nicht bei dir. [...] Da hast du gerufen, geschrieen, den Bann meiner Taubheit gebrochen; hast geblitzt, gestrahlt und meine Blindheit verscheucht. Deinen Duft hab' ich geatmet und seufze nun nach dir. Ich habe dich geschmeckt und hungere und dürste nun. Du hast mich berührt, und ich bin entbrannt in Verlangen nach deinem Frieden. (10,38)
Zuerst wird die ganze Dramatik der Bekehrung noch einmal in großartigen Bildern beschworen - als fast gewaltsame Öffnung von Gehör und Gesicht. Dann aber bekennt Augustinus, daß auch seine anderen Sinne und auf sanftere Weise von Gott berührt worden seien. Aber gerade diese Berührungen wirken auf besondere Weise in die Gegenwart des Bekehrten her-
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ein; denn weil sie in ihm die Sehnsucht nach Gottes Frieden geweckt haben, fordern sie für jetzt Entsagung und Ausharren bis zur endlichen Erfüllung seines Verlangens. Darin spiegelt sich die Grundspannung der Confessiones zwischen dem gewaltigen Aufbruch der Bekehrungsgeschichte und dem beharrlichen Durchhalten der Glaubenstreue auf dem weiteren Lebensweg bis zum erhofften Ziel. 1 6 Analog dazu ist die Motivik von Rede und Gespräch in beiden Teilen des Werkes gestaltet. Hatte der Lebensrückblick eine allmähliche Steigerung in der Intensität des Redens mit Gott, bei manchen Irrwegen und Seelenkämpfen, bis zur reifen Fähigkeit des Hörens der göttlichen Stimme gebracht, so verharren die Gedanken und Reflexionen der Gegenwart auf dieser einmal gewonnenen Höhe, im ruhigen Vertrauen auf das menschgewordene göttliche Wort.
16 Vgl. dazu jüngst Joseph Ratzinger: „Augustinus hat nach den strahlenden Erleuchtungen des Anfangs, der Stunde der Bekehrung, die Mühsal dieser Geduld (des immer gleichen Fortgehens) tief erfahren und gerade so die Liebe zum Herrn gelernt und die tiefe Freude des Gefundenhabens." Joseph Ratzinger - Benedikt X V I . : Jesus von Nazareth. I. Teil. Freiburg, Basel, Wien 2007, S. 306 f.
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
I. Die Bewegung des Pietismus, im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts innerhalb des deutschen Protestantismus entstanden, entdeckte als Reaktion gegen eine dogmatisch erstarrte Obrigkeitskirche wieder eine dogmenferne, zu Gott unmittelbare, vornehmlich von den Gemütskräften bestimmte Frömmigkeit; sie behielt aber die lutherische Rechtfertigungslehre als theologische Grundlage bei und machte so eine ständige Kontrolle des eigenen Glaubens- und Gnadenstandes an den äußeren Merkze chen der wechselnden Zustände und Stimmungen der Seele notwendig. 1 Daraus resultierte eine neuartige Bekenntnisliteratur, die überwiegend in der zweckdienlichen Form der geistlichen Stunden- und Tagebücher auftrat und nur gelegentlich als rückblickend-zusammenfassende Geschichte der eigenen religiösen Erlebnisse erschien. Für beide Fälle hat die neue Darstellungsform nicht der Gründer des Pietismus, Philipp Jacob Spener, sondern sein auch sonst einflußreichster Schüler 2 , August Hermann Francke, geprägt. Denn Speners eigenhändig aufgesetzter Lebens-Lauff (1683/86) 3 bewegt sich noch ganz in den Bahnen der traditionellen Biographik: A u f den annalistischen Bericht der äußeren Studien- und Berufslaufbahn, die er weniger von eigener Tatkraft als von göttlicher Providenz gelenkt deutet, folgt eine statische Selbstcharakteristik hinsichtlich seiner Tätigkeiten und Mängel in Amt und Predigt, zuletzt ein allgemeines Sündenbekenntnis mit der Vergebungsbitte an Gott und die Gemeinde. Mit curriculum, portrait und confessio sind
1 Vgl. Hans R. G. Günther: Psychologie des deutschen Pietismus. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (1926), S. 144-176, bes. 165 ff. 2 Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 2. Gütersloh 1951, S. 156 f., 161 ff. 3 D. Phil. Jacob Speners eigenhändig aufgesetzter Lebens-Lauff. In: Heinrich Anshelms von Ziegler und Kliphausen [ . . . ] Continuirter Historischer Schau-Platz und Labyrinth der Zeit; [...]. Erste Fortsetzung. Leipzig 1718, S. 856-862.
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
damit drei verschiedene Traditionsformen aneinandergereiht, höchstens durch den Unterton der Selbstanklage lose miteinander verbunden. Es leuchtet ein, daß eine solche Form für die Darstellung religiöser und seelischer Krisen, Wandlungen und Durchbrüche, wie sie jetzt in pietistischen Kreisen erlebt werden und zur Formulierung drängen, wenig geeignet war. Darum ist es für die Entstehung und Ausbreitung der Bekenntnisliteratur innerhalb der pietistischen Bewegung in Deutschland entscheidend gewesen, daß schon wenig später (1690/91) August Hermann Francke seine religiösen Erlebnisse in die Form einer Bekehrungsgeschichte 4 mit genau benennbaren Phasen gekleidet und zum Muster eines ganzen Bekehrungssystems 5 erhoben hat. Das bedeutet zunächst Wiederbelebung der augustinischen Tradition, doch erscheint dieses Muster jetzt verwandelt in eine gedrängte, fast ängstliche Gestalt. Denn Francke hat seine Stationen: Sündenerkenntnis, Sündenangst, Glaubenszweifel, Erlösungswunsch, ringendes Gebet, dann plötzliche Erleuchtung und Glaubensgewißheit, in Gestalt eines kurzen, aber heftigen Bußkampfes und überraschenden Durchbruchs auf engem Raum dramatisch konzentriert. Er tut es in bewußt pädagogischer Absicht, um auch anderen „mit dem Atheismo luctirenden Menschen" zu helfen, „weil die Exempel mehr zu moviren pflegen, und gewiß eben dergleichen damahls in meinem Gemüth vorgegangen" 6 . Franckes Bekehrungsschema wird in der Folgezeit vor allem als Grundlage für die Praxis der pietistischen Tagebücher wichtig, die als Seelenprotokolle alle bei Francke vorgezeichneten Phasen durch tägliche Selbstbeobachtung herbeiführen und nachvollziehen sollen; daneben tritt als Ergänzung die summarische Deutung in der eigenen Erweckungsgeschichte. Beide Formen übernehmen später auch andere pietistische Richtungen, wie etwa die Herrnhuter Brüdergemeine 7 ; während dabei die Diarien das strenge Sche4
H. M. August Hermann Franckens [ . . . ] Lebenslauff (1690/91). In: August Hermann Francke. Werke in Auswahl. Hrsg. von Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 5-29. 5 Zur Vorgeschichte und Eigenart des Franckeschen Bekehrungssystems vgl. Albrecht Ritsehl: Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Bonn 1884, S. 111-114, 257 f.; s. auch Hirsch (Anm. 2), S. 157-160; Günther (Anm. 1), S. 167 f. 6 Francke an Spener, 15. März 1692. In: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's enthaltend den Briefwechsel Francke's und Spener's. Hrsg. von G. Kramer. Halle 1861, S. 219. 7 Hier wurde das mündliche und schriftliche Selbstbekenntnis vor allem innerhalb der sogenannten „Banden" oder „Gesellschaften", freiwilligen Zusammenkünften gleichgesinnter Brüder zu gegenseitiger offener Aussprache, in Form von „Bandenbücheln" und „Bandenbriefen" festgehalten. Näheres dazu bei Gottfried Schmidt: Die Banden oder Gesellschaften im alten Herrnhut. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 3 (1909), S. 145-207, bes. S. 175-179. Nach Schmidt (S. 177, Anm. 106) wurden bei der Revision des Unitätsarchivs nach 1760 viele Bandenbriefe gefunden und vernichtet, zudem haben die Synoden von 1764, 1769, 1775
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ma des Franckeschen Bußkampfes nicht mehr zugrunde legen, greifen die Bekehrungsgeschichten, von Pietisten gleich welcher Provenienz verfaßt, gern auf das Hallesche Muster zurück, weil es am besten den unwillkürlichen Wunsch nach dramatisch-bewegter und zugleich geschlossener Darstellung der göttlichen Heilstat zu erfüllen verspricht. Die bekannte Sammlung solcher Zeugnisse in Johann Henrich Reitz' Historie der Wie der gebohr nen (Itzstein 2 1701, 4 1717) ist dabei eher als eine Sackgasse in der Entwicklung dieses Typs anzusehen. Schon der Untertitel der Sammlung: „Exempel gottseliger [...] Christen, Männlichen und Weiblichen Geschlechts, In Allerley Ständen, Wie Dieselbe erst von GOTT gezogen und bekehret, und nach vielen Kämpffen und Aengsten, durch GOttes Geist und Wort, zum Glauben und Ruhe ihres Gewissens gebracht seynd" läßt eine starke Uniformität der Beispiele erwarten. In der Tat haben die Berichte hier, namentlich im Ersten Teil mit überwiegend autobiographischem Material, von Franckes erzählfreudiger und psychologisch nuancenreicher Darstellung nur das bloße Aufbaugerüst bewahrt, woran sich regelmäßig eine Aufzählung der besonders, trostreichen Bibelworte und der stets gleichen Gnadenwirkungen anschließt. Fast scheint es sich um Antworten auf vorgelegte Fragenreihen zu handeln, womit der Sammler den hier ohnehin vorhandenen 8 Schematismus noch verstärkt hat. Dennoch glaubt er, damit einen Strauß „von vielerley Farben und mancherley Kräfften", j a einen „lebendigen Spiegel" zu liefern, worin „ein jeder [...] am besten sehen und vernehmen (kan) sein Bild, Gestalt und Gleichheit, oder seine Ungleichheit, und was ihm fehlet, wie nahe oder wie fern er noch seye vom Reich Gottes" 9 , ohne zu bemerken, daß sein eigener normierender Dogmatismus zwar seine pädagogische Intention befördern
die Vernichtung solcher Geständnisse, auch der im Privatbesitz befindlichen, empfohlen, so daß heute wohl nur noch wenige Zeugnisse dieser Art existieren werden. Eine Edition etwaiger Restbestände von Bandenbücheln oder Bandenbriefen wäre darum für unsere bisher recht spärliche Kenntnis des streng pietistischen Tagebuchs um so verdienstvoller. - Dagegen erscheinen selbstverfaßte Lebensläufe innerhalb der Brüdergemeine erst in den fünfziger Jahren und erleben in der zweiten Jahrhunderthälfte ihre Blütezeit. Näheres darüber bringt die in Anm. 61 genannte Arbeit, S. 62-65, 121-129. Vgl. das Beispiel Spangenbergs (unten S. 99100) und die Publikation einiger Lebensläufe aus dem 18. Jahrhundert in: Herrnhuter Hefte 6 und 7, Hamburg 1953; ferner: Hermann Dechent: Die autobiographische Quelle der Bekenntnisse einer schönen Seele. In: Berichte des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main N . F . 13 (1897), S. 14-16. 8 Schon Gottfried Stecher: Jung Stilling als Schriftsteller. Berlin 1913 (Palaestra 120), S. 22 hat daraufhingewiesen, daß allein durch die Lektüre von Bekenntnisschriften in pietistischen Kreisen das individuelle Erlebnis von vornherein literarisiert und durch schriftliche Fixierung noch mehr normiert wurde. 9 Vorrede. An den Christlichen Leser, S. [2].
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
kann, zugleich aber eine formale Erstarrung des dafür beanspruchten literarischen Typs bewirken muß. 1 0
II.
Der pietistischen Autobiographie war insgesamt ein anderer, weniger isolierter Weg vorgezeichnet. Er wird sofort deutlich, wenn man beachtet, daß keineswegs jede pietistische Erweckungsgeschichte sich auf die Schilderung des Bekehrungsvorgangs selbst beschränkt. Gerade die als Folie stets vorangestellte Darstellung des Weltlebens, des „natürlichen Menschen", ist oft genug die Einbruchstelle für eine thematische Erweiterung der religiösen Bekenntnisschrift. Diese thematische Erweiterung ist schon des öfteren bei genauen Analysen der einschlägigen Beispiele, so etwa von Werner Mahrholz 1 1 oder später noch von Ingo Bertolini 1 2 , gesehen worden (und sie ist bei aufmerksamer Lektüre auch kaum zu übersehen). Aber sie ist dabei von Fall zu Fall mehr oder weniger verlegen als eine Beeinträchtigung der Reinheit der Bekenntnisschrift, als ein bedauerlicher Erdenrest hingenommen oder gar abgewertet worden. 13 Sieht man hingegen diese Erweiterung neutral-gattungshistorisch, wird sie als eine zunehmende typologische Überlagerung der religiösen Bekenntnisschrift erkennbar. Das soll im folgenden begründet werden. Schon bei Francke wird die fast zwei Drittel der Bekehrungsschrift umfassende Vorgeschichte mit Einzelheiten aus der Studien- und ersten Berufszeit gefüllt, deren Mitteilung weder zum Verständnis der Bekehrung noch gar für den pädagogischen Zweck der Schrift nötig wäre. Wohl versucht Francke auch diese Vorgeschichte in das Netz der Polarität von Gott
10 Ähnlichen Schablonencharakter zeigen die von Dechent (Anm. 7), S. 14-16 erwähnten und durch eine Textprobe (ebd., S. 15 f.) illustrierten Herrnhuter Lebensläufe. 11 Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919. 12 Ingo Bertolini: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus. Diss, (masch.) Wien 1968. Diese umfangreiche Arbeit zeichnet sich durch eingehende, mit ausführlichen Zitaten belegte Untersuchung von ca. 15 Autobiographien deutscher Pietisten des 18. Jahrhunderts aus. Jedes Kapitel des Hauptteils bietet das geschlossene Porträt einer pietistischen Selbstbiographie, jeweils eingeleitet durch eine Kurzcharakteristik ihres Autors. Wohl ermöglichen sowohl diese Methode der Porträtgalerie als auch die theologiegeschichtliche, nicht gattungstypologische Großgliederung zahlreiche Vergleiche zwischen den einzelnen Schriften, lassen aber die Grundlinien einer Formgeschichte der Gattung nicht erkennen. 13 Mahrholz (Anm. 11), S. 155; Bertolini (Anm. 12), S. 106, 108 (Francke), 135 f. (Bogatzky), 165 f. (J. W. Petersen), 312.
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und Welt (im Sinne des negativen johanneischen Koa/ioq-Begriffs) 1 4 einzufangen, doch lassen Reflexionen über die rechte Kindererziehung oder die Aufzählung aller Lehrer, Kolleg- und Disputationsthemen dieses Bezugssystem zeitweilig halb vergessen. 15 Dazu kommen als längere Exkurse die ausfuhrliche Geschichte des Collegium philobiblicum und die der Molinos-Übersetzung 16 , beide ausdrücklich zum Zweck der Selbstverteidigung eingeschaltet, obwohl das Bekehrungsschema anschließend den Autor dazu zwingt, auch diese Tätigkeiten noch dem verwerflichen „Weltleben" zuzurechnen. Hier stoßen deutlich zwei gegensätzliche Intentionen zusammen, und Francke gelingt nur mühsam die Überbrückung. Geschichtlich gesehen, ist hier der Schnittpunkt zweier konträrer Gattungstraditionen erkennbar: Die Tradition der religiösen Konfession will nach augustinischem Vorbild die Bekehrung als den Angelpunkt des eigenen Lebens darstellen und dieses von Anfang an auf jenes Hauptereignis hinordnen; sie wird durchkreuzt von der Tradition der Berufs- (meist Gelehrten-)Autobiographie, die den beruflichen Werdegang von den Studienjahren in die öffentliche Wirksamkeit mit ihren wechselnden Erfolgen und Konflikten als das eigentliche autobiographische Thema betrachtet und seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch mehrere umfangreiche, zunächst noch lateinisch geschriebene Werke, vor allem in Frankreich (Junius, Thuanus, Huetius), aber auch in Deutschland (Ursinus, Andreä) vertreten ist und im 18. Jahrhundert eine neue Blütezeit erleben wird. Das soeben bei Francke beobachtete typologische Nebeneinander wird in Johann Georg Hamanns Gedanken über meinen Lebenslauf (1758) 1 7 zu einem bedeutsamen stilistischen Ausgleich von Vorgeschichte 18 und Erweckungsprozeß 19 gebracht, weil hier, wohl zum einzigen Mal in der deutschen Bekenntnisliteratur, eine hypotaktische Einheit in der Darstellung des weltlichen und geistlichen Geschehens gelingt. Ermöglicht wird sie durch die besondere Situation der Niederschrift: Unter dem frischen Eindruck des Erweckungserlebnisses wird die Rekapitulation des eigenen Lebens zu einem Preis auf die prüfende Führung Gottes, die Hamann in 14
Francke (Anm. 4), S. 14. Ebd., S. 7 f., 9; 9-12, 13 f., 15 f. 16 Ebd., S. 17-23. 17 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. Bd. 2. Wien 1950, S. 9-54 (niedergeschrieben in London, 21.-24. April 1758, mit Nachträgen vom 25. April 1758 bis Neujahr 1759). 18 Ebd., S. 12-32. 19 Ebd., S. 32-45. 15
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den häufigen Gebetseinlagen von der Vergangenheit her durch den gegenwärtigen Punkt der Neugeburt hindurch in alle Zukunft vorausentwirft. Diese Verbindung der drei Zeitbereiche hat die formale Konsequenz, daß in allen Teilen dieses Lebenslaufs eine annähernd gleich deutliche Zeichnung der Umwelt (Angehörige, Freunde, Reiseeindrücke) gleichmäßig von Selbstanklagen, Reflexionen und Gebeten durchzogen ist und der Erwekkungsprozeß nur durch einläßlicheres Erzählen und bewegteres Tempo formal aus dem übrigen Bericht herausragt. Vor allem beschränkt sich die psychologische Selbstbeobachtung nicht mehr, wie noch bei Francke, auf Bußkampf und Durchbruch; vielmehr werden schon bald Skizzen der eigenen Seelenumstände und Verhaltensweisen in die Vorgeschichte eingestreut 20 und dabei als Folge der Sündhaftigkeit, letztlich als Wirkung der „schweren" Hand Gottes 21 gedeutet. Wenn überdies das äußere Geschehen (Berufswechsel, Reisen) als Ausdruck der seelischen Unruhe erklärt wird 2 2 , so ergibt sich im ganzen eine klare kausal-hierarchische Gliederung, worin der Detailrealismus des äußeren Berichts wie der psychologischen Analyse allein der Veranschaulichung des göttlichen Handelns zu dienen hat. Ein späteres Beispiel dieser Gruppe, der Lebenslauf des Herrnhuter Bischofs August Gottlieb Spangenberg (1784) 2 3 , entbehrt der psychologischen Selbstanalyse als der notwendigen Vermittlerin im Begründungszusammenhang von weltlichem und geistlichem Leben, so daß sich beide Bereiche unweigerlich wieder trennen müssen. Es geschieht hier auf neue Art, indem Spangenberg an einen kurzen Erweckungsbericht 24 , der samt seiner knappen Vorgeschichte an den typisierenden Stil der Reitzischen Sammlung erinnert, ausführlich die Geschichte seiner „vieljährigen ausgebreiteten Thätigkeit" 2 5 im Dienste der Brüderunität daheim und in der nordamerikanischen Mission erzählt 26 . Der Typus der Berufsautobiographie hat hier bereits die Oberhand gewonnen, der Durchbruch ist nicht mehr Ziel-, sondern Ausgangspunkt des Lebenslaufs, ja die einleitende Erweckungsgeschichte erscheint fast nur noch als Zugeständnis an die Tradition der pietistischen Bekenntnisübung. Wohl versucht Spangenberg, 20
Ebd., S. 19 f., 21 f., 23, 27 f., 31 f. Ebd., S. 27, 32. 22 Ebd., S. 27, 31 f., 36 f. 23 Lebenslauf unsers seligen Bruders August Gottlieb Spangenbergs, genannt Joseph, von ihm selbst aufgesetzt (datiert: „Barby im Jahr 1784."). In: Archiv für die neueste Kirchengeschichte. Hrsg. von D. Heinrich Philipp Conrad Henke. Zweyten Bandes drittes Stück. Weimar 1795, S. 429-482. 24 Ebd., S. 432 f. 25 Ebd., S. 429 f. (Fußnote des Herausgebers). 26 Ebd., S. 437-482. 21
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die gattungstypologische Differenz der beiden Teile seiner Lebensgeschichte durch das durchgängige Leitmotiv von des „Heilandes weiser Direction" 2 7 auszugleichen, indem er auch später zwischen die annalistisch gereihten und detailliert ausgeführten Reise- und Arbeitsberichte die göttlichen Hilfen, Gnadenerweise und Gebetserhörungen dankbar einflicht und auch summarische Mitteilungen über seine damaligen religiösen Gedanken und Erfahrungen einbaut 28 ; es geschieht dies aber meist so abrupt und blockartig („Ehe ich aber in der Erzählung weiter gehe, muß ich noch davon, wie es in der Zeit in meinem Herzen gestanden, etwas hinzuthun" 2 9 ), daß die Kluft der beiden Lebensbereiche erst recht sichtbar wird. Sie wird vollends deutlich, wenn die Berufsgeschichte des Herrnhuter Bischofs zunehmend zu einer Geschichte der Brüdergemeine aus der Sicht ihres Oberen wird und Spangenberg als berufener Memorialist der Unität ihr geistliches Wachstum aus eigener Erfahrung nachzeichnet und dabei am Ende des Berichts neben die Selbstanklage gleichwertig die Mahnung an die Brüder setzt, zur „ersten Gnade, Liebe und Einfalt" 3 0 zurückzukehren. Möglicherweise hat diese protreptische Intention auch die Bekehrungsgeschichte des Anfangs veranlaßt, so daß wenigstens in der Zielsetzung der ganze Bericht eine gewisse Einheit fände. Wie leicht ablösbar dennoch die Erweckungsgeschichte bleibt, zeigt sich darin, daß Spangenberg sie wenige Jahre später (1789) separat und nur leicht gekürzt als sein geistliches Vermächtnis, einer alten Tradition folgend, in der schon Spener stand, für die Verlesung bei der Leichenpredigt bestimmt hat. 31 A n die Stelle der Erzählung der langjährigen Amtstätigkeit, die jetzt ausdrücklich als unwesentlich verworfen wird, tritt als Abschluß, wieder in der Nachfolge Speners, das Generalbekenntnis mit der Bitte um Absolution. Für den spezifischen Gebrauch als Beichte im engbegrenzten Öffentlichkeitsraum der eigenen Glaubensgemeinde ist damit die reine Form der religiösen Konfession bis ins späte 18. Jahrhundert erhalten geblieben. Neben den Formen der reinen und der untermischten Bekehrungsgeschichte begegnet in der pietistischen Autobiographik des 18. Jahrhunderts noch eine dritte Gruppe, deren Vertreter wohl ebenfalls beabsichti-
27
Z. B. ebd., S. 441, 454, 460, 465, 481. Z. B. ebd., S. 442, 444 f., 451 f., 457, 461, 465, 478. 29 Ebd., S. 460 f. 30 Ebd., S. 481 f. 31 Als Einlage (mit dem Datum: „Gnadenfrey am 8ten April 1789") in: Heimgang und Begräbniß unsers lieben Bruders, August Gottlieb Spangenberg, genannt Joseph. In: Archiv für die neueste Kirchengeschichte. Hrsg. von D. Heinrich Philipp Conrad Henke. Drittes Quartal. Weimar 1794, S. 40-47. 28
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
gen, ein Bekehrungsschema ihrer Lebensdarstellung zugrunde zu legen, in Ermangelung eines entsprechenden Bußkampferlebnisses jedoch keine eigentliche Umkehr, sondern einen meist schon länger vorbereiteten und schließlich durch einen äußeren Anstoß bewirkten religiösen Entschluß für ihren „Durchbruch" erklären. Im ganzen folgt diese Gruppe der milderen Anschauung Speners 32 über die nur bedingte Notwendigkeit von Bußkampf und Sündengefuhlen zum Gewinn der Wiedergeburt. Dadurch aber erscheint in ihren Lebensdarstellungen das Franckesche Muster nahezu umgekehrt: A u f eine kurze Vorgeschichte, die bereits die stufenweise Weltabkehr illustrieren soll und darum kaum ein Sündenbekenntnis enthält, folgt die ebenfalls undramatische Entscheidung für Gott, und nun erst setzt der Kampf mit der Welt ein, die diese Abkehr mit Spott und Verfolgung bestraft: nicht das Leben eines Sünders also, sondern das eines Gerechten, dessen Verdienste freilich stets der ungeschuldeten göttlichen Gnade zugeschrieben werden. Ein sehr frühes Beispiel dafür ist die Lebensbeschreibung der Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau. In ihrer Kurtzen Erzehlung / Wie mich die leitende Hand Gottes bißher geführet / und was sie bei meiner Seelen gethan hat (1689, 2 1719) 3 3 , wird diesem Titel gemäß vor allem die allmähliche Abkehr von der (adeligen) Welt zu Christus hin in anschaulichen Stufen (Bibellektüre, Entschluß, eine „Thäterin des Wortes" 3 4 zu werden; Konflikt mit der widerstrebenden und endlich verleumdenden Standeswelt) psychologisch fein und aufmerksam nachgezeichnet. Das Durchbruchschema ist wohl zu erkennen, aber die eigene Seelengeschichte wird nicht als Sündengeständnis und Bußkampf, sondern als eine Zunahme der religiösen Erkenntnis und der von oben geschenkten Gnadenerweise verstanden und so die Schilderung dieses ganz von Gott geführten und ganz seinem Willen anheimgegebenen Lebens zugleich als Unschuldbekenntnis gegen die Lästerungen der Feinde konzipiert. Deutlicher zeigt sich der Unterschied zum Halleschen Bekenntnisschema ein Menschenalter später in der Lebensdarstellung ihres Mannes 32
Vgl. Philipp Jacob Spener: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle 1700, S. 197*; Bd. 3. Halle 1701, S. 476, 588. - Ritsehl (Anm. 5), S. 113 f. 33 Erstdruck als Anhang zu: Gespräche des Hertzens mit GOTT, Ander Theil. Auffgesetzet Von Johanna Eleonora Petersen, Gebohrne von und zu Merlau. Ploen: Siegfried Ripenau 1689, S. 235-295. - Wieder u. d. T.: Leben Frauen Johannä Eleonorä Petersen [ . . . ] von Ihr selbst mit eigner Hand aufgesetzt [...] als ein Zweyter Theil zu Ihres Ehe-Herrn LebensBeschreibung beygefiiget [...]. Andere Auflage [ . . . ] 1719 [erweitert um die §§ 31-38: Aufzählung ihrer religiösen Erkenntnisse]. 34 Leben J. E. Petersen 2 1719 (Anm. 33), S. 2, 27, 35, 45.
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Johann Wilhelm Petersen (1717, 2 1719) 3 5 . Hier findet man keine Konfession seelischer Kämpfe mehr (weshalb auch sonst die psychologische Selbstschilderung stark zurücktritt). Statt dessen wird als „Durchbruch" die Erkenntnis des wahren Christentums auf Grund theologischer Gespräche im Spenerschen Kreis relativ an den Anfang gerückt 36 und daraufhin noch eine Reihe von Erlebnissen direkter Visionen und Offenbarungen (Aufschließung der Apokalypse im chiliastischen Sinne, Apokatastasis-Lehre und andere) als unvermittelte Einbrüche ins Leben beschrieben. Es ist dabei aufschlußreich, daß Petersen diese erst in einem Anhang als eine Kausalfolge göttlicher Lektionen gedeutet hat. 37 Denn in den Lebenslauf selbst hat er sie nicht zur Veranschaulichung eines inneren geistlichen Prozesses, sondern vor allem deshalb eingebaut, um ihre Wirkung auf seine weiteren äußeren Schicksale mitteilen zu können, nämlich die wachsende Gegnerschaft einer Welt, deren Intrigen und Verhöre er bis in die wörtliche Wiedergabe von Briefen und Protokollen einzeln darzulegen bemüht ist. 3 8 Diese Selbstverteidigung verschafft ihm zugleich willkommene Gelegenheit, nach verschiedenen Lehrschriften nun auch im Lebensbericht seine theologische Doktrin vorzutragen. Solcher rechtfertigend-didaktische Hauptzweck übertönt hier die traditionelle, auch von Petersen noch behauptete Intention, die innere (religiöse) Geschichte der Seele zu bekennen, so sehr, daß auch die oftmalige Beteuerung der gnädigen Führung Gottes bereits wie ein literarischer Topos wirken muß. Nicht zufällig ist Petersens Autobiographie die erste aus pietistischem Raum, die schon zu Lebzeiten des Autors von diesem selbst unter seinem Namen und Titel als selbständiges Buch in Druck gegeben worden ist und in deren Vorrede das wirkliche Ziel - Verteidigung gegen die Widersacher - kaum mehr vom vorgeschobenen Zweck der Erbauung verdeckt wird. Sie ist ein Beispiel dafür, wie von einzelnen sektiererischen Vertretern des Pietismus schon in dessen Frühzeit die religiöse Konfession aus einer Bekehrungsgeschichte in eine Schutz-
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Lebens-Beschreibung Johannis Wilhelmi Petersen, Der Heiligen Schrifft Doctoris, vormahls Professoris zu Rostock, nachgehends Predigers in Hanover an St. Egidii Kirche, darnach des Bischoffs in Lübeck Superintendentis und Hoff-Predigers endlich Superintendentis in Lüneburg. Die zweyte Edition [...]. A u f f Kosten eines wohlbekanten Freundes. 1719. 36 Ebd., S. 17-21 (§ 5). 37 Ebd., S. 343-367 (§§ 68-74). Es ist darum ein Anachronismus, wenn Mahrholz (Anm. 11), S. 160 f. die Stufenleiter dieses Unterrichts bereits „ E n t w i c k l u n g " nennt. - Analog dazu hat Johanna Eleonora Petersen dem Neudruck ihrer Lebensbeschreibung (1719) eine freilich nur additive Reihung ihrer Offenbarungsträume und chiliastischen Meditationen als Anhang beigegeben und damit das didaktische Moment auch in ihrer Schrift verstärkt. 38 Vor allem ebd., S. 92-110 (§§ 26-28), S. 171-205 (§§ 41-47).
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und Propagandaschrift für die eigene Person und Lehre mehr oder minder bewußt umgewandelt werden kann. Daß in den späteren Jahren auch im Halleschen Kreise selbst das Franckesche Bekenntnisschema unterwandert wird, dafür ist Joachim Langes Lebenslauf (begonnen 1720, gedruckt 1744) 39 ein anschauliches Zeugnis. Wohl berichtet auch Lange im ersten Abschnitt (§§ X I und X I I I ) 4 0 noch von geistlichen Anfechtungen und Glaubenszweifeln während der Studienzeit, doch werden sie nicht mehr näher ausgeführt und auch sofort als eine damals nur eingebildete Gottesferne in ihrer Bedeutung fürs Lebensganze so sehr abgeschwächt, daß hier allenfalls von einer vorübergehenden Krise, aber nicht mehr von Durchbruch oder Wiedergeburt die Rede sein kann. Vielmehr herrscht auch hier von vornherein der Dank an die stets bewahrende Gnade Gottes vor, der eine geistliche Umkehr als Angelpunkt der Darstellung gar nicht mehr erwarten läßt. Aber selbst der Begriff der „gnädigen Führungen" durch die „hertzlenkende Hand Gottes" 41 erscheint hier je länger je mehr nur noch als formales Band, das die Lebenseinzelheiten bequem aneinanderzureihen erlaubt. Lange verfolgt denn auch mit der Publikation seiner Lebensgeschichte handgreiflichere Ziele, als ein religiöses Bekenntnis abzulegen. Die Darstellung seiner Laufbahn als Schulmann, Prediger und Theologieprofessor dient ihm einmal dazu, seinen Schülern, Kollegen und Freunden mit detaillierten Ratschlägen und Warnungen aus dem Fundus seiner vielseitigen Berufserfahrungen praktisch zu nützen. 42 Daneben spielt aber auch das Motiv der Selbstdarstellung eine wichtige Rolle. So will er mit seinen Augenzeugenberichten über die Entstehung des Halleschen Pietismus 43 in dieser Bewegung zugleich die eigene Herkunft und Richtung gegen ihre noch vorhandenen Feinde verteidigen; nicht zuletzt aber beabsichtigt er mit der Mitteilung seines Werdeganges und seiner Berufserfolge (wozu auch die detaillierte Charakteristik seiner Schriften gehört) 44 , sich auch für die Zukunft als einen noch durchaus rüstigen akademischen Lehrer zu beurkunden und auf 39
D. Joachim Langens [ . . . ] Lebenslauf, Zur Erweckung seiner in der Evangelischen Kirche stehenden, und ehemal gehabten vielen und wehrtesten Zuhörer, Von ihm selbst verfaßet [...]. Halle und Leipzig: Christ. Peter Francke 1744. 40 Ebd., S. 20-23, 24-26. 41 Ebd., S. 3, 13, 33, 51, 81 u.ö.; „gütige Regierung (Providentz) Gottes": ebd., S. 104, 106, 127, 142 u.ö. 42 Z. B. ebd., S. 30-32 (Benutzen der Hebräischen Bibel), S. 63-65 (Methode des Lateinunterrichts), S. 69 f. (Schuldisziplin), S. 73-75 (Methode der Predigt), S. 85-89, 99 f. (Methode der akademischen Lektionen). 43 Ebd., S. 13-20. 44 Ebd., S. 124-176 (= fünfter Abschnitt).
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diese Weise der neuerlichen Abnahme seiner Hörerzahl zu steuern. Das wird am Ende der Vorrede ausdrücklich als eines der Ziele des Buches genannt 45 , und so haben wir zuletzt auch hier wieder eine der Selbstempfehlung dienende Schrift vor uns, die freilich im Unterschied zu Petersen statt eines apologetischen Tones mehr das didaktische Moment hervortreten läßt. In manchem konservativer, auch weniger schulmeisterlich wirkt, um noch ein spätes Beispiel für diese Gruppe zu nennen, die Selbstbiographie Friedrich Christoph Oetingers (geschrieben 1762/72, auszugsweise gedruckt erst seit 1815, vollständig 1845). 46 Selbst hier ist noch ein Nachhall der Bekenntnistradition spürbar, wenn Oetinger seine Entscheidung fürs Theologiestudium unter Hinweis auf sein literarisches Vorbild nun allerdings schon bewußt zum Durchbruch stilisiert: „ M i r ging's gerade wie Augustino, der auch zwischen zweyen hing, als er sich zu Gott bekehren wollte." 4 7 Gerade solche Literarisierung zeigt aber, daß dieses Ereignis auch hier keinen organisierenden Wert mehr für die Lebensdarstellung besitzt. Dafür erscheint, deutlicher als bei Lange und selbst bei Petersen, als entscheidendes Kompositionsprinzip, wenigstens in der ersten Hälfte, das Motiv der „äußern Schickungen Gottes" 48 , womit Oetinger vor allem den sprunghaften Verlauf seiner theologischen Irr- und Umwege erklären kann. 4 9 Solche „Führung mit mir" betrachtet er sogar, neben der Philosophie und dem Sinn der Heiligen Schrift, als die dritte Säule seines Lehr„Gebäus" 5 0 , weshalb er denn auch seinen Lebensbericht a priori als § 3 seiner Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten 1 konzipiert. 45
Ebd., Vorrede an den Leser, letzte Seite. Vollständige Erstdrucke: Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Selbstbiographie. Hrsg. von Dr. Julius Hamberger. M i t einem Vorwort von Dr. Gotthilf Heinrich von Schubert. Stuttgart 1845. - M. Friedrich Christoph Oetinger's Lebens-Abriß, von ihm selbst entworfen. Nebst einem Anhang [ . . . ] Zum Druck befördert von Freunden der Oetingerschen Schriften. Stuttgart 1849, S. 1-56. 47 Oetinger: Selbstbiographie 1845 (Anm. 46), S. 13. 48 Vgl. ebd., S. 4, 9, 11, 20 f., 23, 25, 32. 49 Wohl betont Oetinger dabei die Teleologie der Vorsehung, aber das Bild der „äußern" Schickungen schließt die Vorstellung einer immanenten Entelechie aus, so daß es auch noch hier problematisch erscheint, den organischen Begriff der „ E n t w i c k l u n g " anzuwenden. So aber Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 4. Bd., 2. Hälfte: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts (1904). Frankfurt am Main 1969, S. 816 f. - Marianne Beyer-Fröhlich: Pietismus und Rationalismus. Leipzig 1933 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe X X V , Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 7), Nachdruck Darmstadt 1970, Einführung, S. 12. - Bertolini (Anm. 12), S. 265, 274. 50 Oetinger: Selbstbiographie 1845 (Anm. 46), S. 66. 51 Der volle Titel lautet: „Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten: 1) durch die Stimme der Weisheit auf der Gasse, d. i. durch die Philosophie, 2) durch den Sinn und 46
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Daraus erhellt aber zugleich, daß auch Oetinger ihn nicht mehr niedergeschrieben hat, um andere mit Beispielen göttlicher Providenz zu erbauen, sondern um den Gang seines theosophischen Denkens zu demonstrieren. Darum kann die zweite Hälfte der Lebensdarstellung, nach dem endlichen Fund der philosophia sacra, auch noch des Schicksalsgerüsts entbehren und braucht nur noch diese Oetingersche Lehre weiter zu explizieren - vor der Folie andersartiger Meinungen in den von Oetinger besuchten separatistischen Gemeinden, durch Darstellung seiner Dispute und Bekehrungsversuche, durch Zeichnung der geistigen Physiognomie der Lehrer, Freunde und Kontrahenten. Damit mündet aber auch dieser Lebensbericht in das Genre der Gelehrtenautobiographie, die diesmal ohne jeden polemisch-apologetischen Ton im ruhigen Aufweis der Berufsstationen, auch der zahlreichen Schriften und ihres Echos vornehmlich eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der eigenen Gedankenwelt bieten will. Demgegenüber scheint die mehrteilige Lebensgeschichte Jung-Stillings (1777-1804) 52 zu den Anfängen der pietistischen Konfession zurückkehren zu wollen. Das Erweckungserlebnis zu Beginn der Wanderschaft (1778) 5 3 wird als der endgültige Bundesschluß mit Gott zur entscheidenden Lebenswende erklärt, und in der Tat gewinnt von da an das Vorsehungsthema auch in struktureller Hinsicht immer mehr an Gewicht. Dennoch kehrt Jung - dies muß gegen Gottfried Stecher 54 betont werden - nur scheinbar zu traditionellen Formen zurück. Denn schon zu Beginn der Jünglingsjahre (1778) 5 5 war die Vorstellung einer auf ein dunkles Ziel in der Zukunft gerichteten Lebensbahn mit dem Begriff eines ursprünglichen „Grundtriebes" (zum gelehrten Beruf) geweckt worden. Wohl wagt es Jung noch nicht, solchen Grundtrieb im Sinne eines Goetheschen „Daimon" als selbständige Entelechie zu deuten, bezeichnet ihn vielmehr sofort als von Gott „eingeschaffen" und subordiniert darum auch seine Erfüllung ganz dem Willen der Vorsehung. Weil aber Jung insgeheim von seiner selbständigen Verwirklichung des Grundtriebes, das heißt der eigenen individuellen Lebensgestalt überzeugt bleibt, führt jene gewaltsame Unterordnung unter das alte pietistische Schema schließlich zu dem rationalistischen Bemühen,
Geist der heiligen Schrift, 3) durch die äußern Schickungen Gottes." Ebd., S. 66 Anm., wo auch der Text der beiden ersten Paragraphen des Aufsatzes wiedergegeben wird. 52 Johann Heinrich Jung's, genannt Stilling, Lebensgeschichte, oder dessen Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, häusliches Leben, Lehrjahre und Alter. In: Joh. Heinr. Jung's sämmtliche Schriften. Hrsg. von I. V. Grollmann. Bd. I. Stuttgart 1835. 53 Jung (Anm. 52), S. 211 f. 54 Stecher (Anm. 8), S. 34 f., 120 f. 55 Jung (Anm. 52), S. 105.
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sowohl in der Lebensgeschichte selbst als vor allem in dem als theoretischem Anhang beigefügten Rückblick auf Stillings bisherige Lebensgeschichte (1804) 5 6 die Allmacht der Vorsehung nicht mehr nur zu bekennen, sondern als planmäßiges Kalkül syllogistisch zu beweisen. Dies aber fuhrt weit über das Ziel aller bisherigen pietistischen Autobiographik hinaus. Denn damit gibt Jung das traditionelle Bild des gnädigen und also unberechenbaren Gottes auf und übernimmt gerade den von ihm hier so heftig bekämpften maschinenmäßigen Determinismus 57 der zeitgenössischen Aufklärungsphilosophie, was auch formal die schon von Stecher nachgewiesene 58 Verarmung der anfangs bunten und nuancenreichen Umweltzeichnung zu einer „dürren Familien- und Reisechronik" 59 verursacht. Überdies betrachtet Jung im Rückblick seinen strikten Vorsehungsbeweis nicht mehr nur als Mittel zum Erweis der Selbstverwirklichung, sondern auch zur speziellen Legitimation seines theologischen Lehrsystems, dessen Irrtumslosigkeit er aus der Unfehlbarkeit seines von Gott gelenkten Lebens folgert. 60 A l l dies verdeutlicht, daß Jungs Versuch, die pietistische Vorsehungsstruktur mit der modernen entelechischen Idee zu verbinden, zu einer beschleunigten Rationalisierung des Vorsehungsglaubens fuhrt. Die verspätete Wiederaufnahme hergebrachter Schemata konnte bei Jung keine Renaissance der pietistischen Konfession bringen, sondern erreichte mit ihrer forcierten Überlagerung der neuen vernunftmäßigen Ideen nur, daß die religiöse Autobiographie hier schließlich zu einem pseudotheologischen Mittel der Selbstbestätigung erstarrte. Überblickt man die bisher betrachteten Beispiele der pietistischen Autobiographik und ihre Gliederung nach dem typologischen Mischungsgrad, so ergibt sich: Die reine Konfession im Sinne einer Beichte (Sündenbekenntnis, Bekehrung, Mitteilung der Gnadenerweise) hat die Bewegung des deutschen Pietismus zwar wieder erneuert, aber doch nur im engeren Raum der Gemeinde (als Erbauungs- und Vermächtnisschrift) verwirklichen können, und auch dann existiert sie gewöhnlich in der Form des geistlichen Tagebuchs, seltener in der einer rückblickenden Seelengeschichte. Die pietistische Autobiographie zeigt vielmehr von Anfang an die Neigung, die äußeren Daten des Lebens nicht nur als unerläßliches (chronologischtopographisches) Gerüst zu sehen, sondern dem weltlichen Leben mit und 56
Ebd., S. 583-610. Ebd., S. 605 f. Vgl. ebd., S. 444 f. 58 Stecher (Anm. 8), bes. Kap. I: Jung Stillings Autobiographie. Ihre Entstehung und ihr literarischer Charakter (S. 19-121). 59 Ebd., S. 36. 60 Jung (Anm. 52), S. 600. 57
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neben der religiösen Geschichte Raum zu gönnen, oder gattungstypologisch gesprochen: die traditionellen Modelle der religiösen Konfession und der Berufsautobiographie hypotaktisch oder auch schon gleichberechtigt nebenordnend zu verbinden. Denn die Tradition des letzteren Typs war am Ende des 17. Jahrhunderts schon so deutlich in die allgemeine Vorstellung einer Autobiographie getreten, daß die führenden und also öffentlich wirksamen Vertreter der neuen Bewegung des Pietismus ihre Absicht, die Geschichte ihrer Bekehrung als religiöse Konfession zu verfassen, typologisch nicht mehr rein verwirklichen konnten. A m ehesten bleibt der Bekenntnischarakter noch gewahrt, wenn das strenge Franckesche Bußkampfschema zugrunde gelegt wird. Die quietistische Lebensauffassung hingegen, deren Vorsehungsvertrauen sich ganz dem führenden Willen Gottes anheimgibt, bringt zumeist statt der Bekehrungsgeschichte einen Lebenslauf mit religiösen Bezugspunkten und Leitmotiven (die weise Direktion der Hand Gottes), in deren Rahmen sich die weltlichen Ereignisse (Unglücksfälle, Reisen, Berufskämpfe) um so ungestörter erzählen lassen. Je stärker dabei das Vorsehungsmotiv hervortritt, desto mehr wird gleichzeitig der Beichtcharakter der religiösen Autobiographie abgebaut. A n die Stelle der Sündenklage tritt das Unschuldbekenntnis, das sich überdies oft mit didaktischen und apologetischen Tendenzen im Kampf gegen kirchenpolitische Gegner verbindet. Damit aber öffnet sich die religiöse Konfession des 18. Jahrhunderts, und zwar von Anfang an, einer typologischen Säkularisation, ohne daß der Keim für diese Säkularisation schon notwendig in ihr läge. Den Anstoß dazu gibt vielmehr eine allgemein zu beobachtende Zunahme des individuellen Selbstbewußtseins, das quer durch alle Typen der Gattung das Motiv der Belehrung und Erbauung immer mehr vom Motiv der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung ablösen läßt. 61 Die religiöse Konfession als Unschuldbekenntnis bedeutet dabei für die Gattung insgesamt einen kräftigen Impuls in diese Richtung. Wenn Jung-Stilling schließlich auch noch das Vorsehungsthema dem neuen Hauptzweck der Selbstbestätigung dienstbar macht, zieht er nur die letzte, freilich überspannte und nur bei ihm anzutreffende Konsequenz aus dieser Entwicklung.
61 Diese weiteren gattungshistorischen Zusammenhänge und Entwicklungslinien verfolgt meine Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (Stuttgart 1977).
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Zu dieser typologischen tritt die seit längerem bekannte psychologische Säkularisation beim Übergang vom pietistischen Bekenntnis zur Erfahrungsseelenkunde, den Werner Mahrholz, Robert Minder und Fritz Stemme untersucht und nachgewiesen haben. 62 Nur ist ihnen gegenüber zu betonen, daß diese Säkularisation als gattungsimmanente Erscheinung nur beim pietistischen Tagebuch anzutreffen ist, von wo aus sie rückwirkend die pietistische Selbstbiographie erfaßt hat. Denn sowohl das Hallesche Bekehrungssystem als auch Speners Anweisungen in den Theologischen Bedencken (1702) 6 3 , welche die Glaubensgewißheit an den Gnadenwirkungen abzulesen empfehlen und in denen Stemme mit Recht Ansätze einer Psychologisierung des Glaubens und damit den Keim der Säkularisation zur rein psychologischen Selbstanalyse erblickt 6 4 , denken ja primär an eine jeweils unmittelbar-aktuelle Beobachtung der eigenen Seelenregungen, die ihren schriftlichen Niederschlag naturgemäß nicht in einem späteren Rückblick, sondern in erinnerungsfrischen Notizen findet, die, regelmäßig als Tagebuch geführt, bei einer späteren Lektüre sogar einen etwaigen Prozeß dieser Regungen zu erkennen gestatten. Nur im Tagebuch konnte die Selbstbeobachtung der Frommen jene minuziöse Aufmerksamkeit auf jede seelische Stimmung und Schwankung erreichen, die nach Vorbereitung durch Haller und Geliert schließlich bei Lavater (1771 ) 6 5 den Sprung ermöglichte, die Erkundung des eigenen Ich
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Mahrholz (Anm. 11), S. 204-235 (Kap. III, 3: Die psychologische Autobiographie). Robert Minder: Die religiöse Entwicklung von Karl Philipp Moritz auf Grund seiner autobiographischen Schriften. Studien zum Reiser und Hartknopf. Berlin 1936 (Neue Forschung 28), S. 147-171. - Fritz Stemme: Karl Philipp Moritz und die Entwicklung von der pietistischen Autobiographie zur Romanliteratur der Erfahrungsseelenkunde. Diss, (masch.) Marburg 1950; Zusammenfassung bei Fritz Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 72 (1953), S. 144-158. Ähnlich schon Misch (Anm. 49), S. 809 ff. Vgl. auch Bertolini (Anm. 12), S. 86-89. 63 Philipp Jacob Spener: Theologische Bedencken Und andere Briefliche Antworten. Bd. 1. Halle 1702, S. 36 f.; zitiert bei Stemme: Säkularisation (Anm. 62), S. 148. 64 Stemme: Säkularisation (Anm. 62), S. 148 f. 65 Albrechts von Haller [ . . . ] Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. [Hrsg. von Johann Georg Heinzmann]. Zweyter Theil. Bern 1787, S. 219-319: Fragmente Religiöser Empfindungen 1736 bis 1777. - Chr. F. Geliert's Tagebuch aus dem Jahre 1761. [Hrsg. von T. O. Weigel]. Leipzig 1862. - [Johann Caspar Lavater:] Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Leipzig 1771, 2 1772; [Ders.:] Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche
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nicht mehr als religiöses Mittel, sondern als psychologischen Selbstzweck anzusehen. 66 Diese anhaltende und sich steigernde Pflege der psychologischen Selbstanalyse in der verbreiteten Tagebuchkultur des Pietismus hat es mit sich gebracht, daß die Selbstbeobachtung und ihre Formulierung bald auch in anderen dafür zugänglichen literarischen Gattungen, wie dem Gespräch, dem Brief, dann aber auch in der Romanliteratur und in den verschiedenen Typen der Autobiographie Eingang gefunden haben, wobei seit der Jahrhundertmitte die Moralischen Wochenschriften eine noch nicht genügend untersuchte Vermittlerrolle spielen. 67 Von sich aus aber zeigt die religiöse Autobiographie nicht wie das entsprechende Tagebuch die Fähigkeit, sich allmählich in eine durchgängig psychologische Selbstdarstellung zu verwandeln. Der Grund dafür liegt in der spezifischen Aufgabe der Autobiographie, einen Lebens Zusammenhang darzustellen und womöglich zu deuten. Bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus kann der Autobiograph diesen Zusammenhang nur von außen durch die Hand Gottes oder allenfalls durch die Launen des Zufalls konstituiert finden. Auch wenn bei der Schilderung religiöser E^ebnisse die psychischen Hintergründe und Wirkungen mitbeachtet werden, j a mitunter der religiöse und der seelische Bereich als Innen und Außen des gleichen geistigen Prozesses untrennbar miteinander verbunden erscheinen (Eleonora Petersen, Francke, Hamann), so bleibt doch die vertikale Polarität des Vorsehungsschemas zu dominant, als daß sie gattungsimmanent allmählich in ein rein psychologisches Grundmuster (horizontale Kette der Empfindungen) verwandelt werden könnte. Die in diesem Zusammenhang gern genannte 68 Eigene Lebens-Beschreibung des melancholischen Predigers Adam Bernd (1738) 6 9 ist nur schein-
eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Theil, nebst einem Schreiben [Lavaters] an den Herausgeber desselben. Leipzig 1773. 66 Vgl. Stemme: Säkularisation (Anm. 62), S. 152. 67 Erste Hinweise geben: Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. 1. Bd. Berlin 1894, S. 64-67 ( 2 1902, S. 147-150): Zitate aus der Wochenschrift Der Mensch 1751-1757: Misch (Anm. 49), S. 781 f.; Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969 (Sammlung Metzler 85), S. 43. - Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968 (leider ohne Sachregister) kommt, soweit ich sehe, auf diese Thematik der Wochenschriften nicht zu sprechen. 68 Vgl. die in Anm. 62 genannten Arbeiten. 69 M . Adam Bernds, Evangel. Pred. Eigene Lebens-Beschreibung, Samt einer Aufrichtigen Entdeckung, und deutlichen Beschreibung einer der grösten, obwol großen Theils noch unbekannten Leibes- und Gemüths-Plage, Welche GOtt zuweilen über die Welt-Kinder, und auch wohl über seine eigene Kinder verhänget; Den Unwissenden zum Unterricht, Den Gelehrten
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bar ein Gegenbeweis; denn hier handelt es sich nicht um ein Übergangsbeispiel für die allmähliche Emanzipation der psychologischen Selbstbeobachtung aus einer religiösen Konfession, vielmehr werden mehr oder weniger isolierte Schilderungen psychophysischer Krankheitsbefunde nachträglich in den Rahmen einer traditionell erzählten Berufsgeschichte gestellt. Bei Bernd fungiert die Autobiographie nur als Einkleidung. Denn um den Lesern die Lektüre seiner „fürchterlichen" Erlebnisse überhaupt zu ermöglichen, habe er sie nicht „gantz alleine in einem eigenen Tractate beschrieben", sondern „ m i t andern erfreulichen, und geringen Dingen meines Lebens [...] verknüpffen müssen" 70 . Ebenso nachträglich (im logischen Sinne) hat sich Bernd auf die Tradition der pietistischen Autobiographie als eines religiösen Bekenntnisses besonnen. Denn beim Versuch, seine Gemütsplagen zu erklären, spricht Bernd sowohl von rein physiologischen Ursachen des Temperamentum melancholicum 71 als auch, und oft genug gleichzeitig, von Sündenstrafen und „Anfechtungen Gottes" 7 2 . Das erste Argument entspricht der Hauptintention des Buches, eine medizinische Klärung herbeizuführen 73 ; die zweite Deutung geschieht letztlich deshalb, um diese Plagen in den allein durch Gott herstellbaren Zusammenhang des Lebens einordnen zu können und nicht als isolierte Ausflüsse des bloßen Zufalls betrachten zu müssen. Mit dem Einbau der Krankheitsschilderungen in eine Autobiographie ist die religiöse Interpretation als zusätzliche Argumentation notwendig geworden, in einem separaten Traktat hätte die medizinische Diagnose genügt. Die Doppelerklärung kann also die Bruchstellen in diesem Zwitter nur scheinbar überbrücken, in Wahrheit verdeutlicht sie die Kluft. Den gesuchten Lebenszusammenhang allein anhand der Seelengeschichte aufzuweisen, also das eigene psychische Leben als das strukturbestimmende Hauptthema zu behandeln, gelingt erst spät. Theoretische Äußerungen, vor allem des pragmatischen Historikers Johann Matthias Schröckh, dann auch Wielands und Herders und endlich in Moritzens Magazin, erwarten erst seit etwa 1770 von den biographischen Gattungen die Darstellung einer kausalpsychologischen Entwicklungsgeschichte. 74 Bis dahin
zu weiterm Nachdencken, Den Sündern zum Schrecken, und Den Betrübten, und Angefochtenen zum Tröste. Leipzig: Johann Samuel Heinsius 1738. 70 Ebd., Vorrede, S. V. 71 Z. B. ebd., S. 3 f., 48, 208, 230, 240 u. ö. 72 Z. B. ebd., S. 3 f., 46-48, 208, 241 u. ö. 73 Vgl. ebd., Vorrede, S. I-II. 74 Eine ausfuhrliche Darstellung dieser ersten theoretischen Auseinandersetzung um die biographischen Gattungen in Deutschland bietet die in Anm. 61 genannte Arbeit, S. 41-56.
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weiß auch der praktische Autobiograph noch nichts von einer seelischen Entelechie als dem immanenten Einheitsprinzip seines individuellen Lebens, weshalb vor den achtziger Jahren in Deutschland keine durchgängig psychologische Autobiographie anzutreffen ist; allenfalls zeigen die Beispiele aus dieser Zeit punktuelle psychologische Interessen (etwa einzelne Kindheitserinnerungen, Träume, isolierte Reflexionen über psychische Erfahrungen). Erst auf dem Umweg über das Tagebuch und das daraus resultierende Interesse an der Erfahrungsseelenkunde konnte erstmals Karl Philipp Moritz im Anton Reiser (1785-1790) 75 die Idee der kausalpsychologischen Entwicklung in die autobiographische Tat umsetzen. Schon Robert Minder 76 hat gezeigt, wie Moritzens eigenes Tagebuch, in den Beiträgen zur Philosophie des Lebens (1780) 7 7 teilweise veröffentlicht, die ganze Entwicklung dieser Gattung im 18. Jahrhundert selbst noch einmal in Stufen durchläuft. Man kann ergänzend hinzufügen, daß dieses Tagebuch nicht nur die konkrete Selbstanalyse Moritzens gefördert, sondern auch sein Interesse an der Erfahrungsseelenkunde überhaupt geweckt hat; er konnte darum 1782 ganze Abschnitte aus der Vorrede der Beiträge unverändert in die programmatischen Ankündigungen seines Magazin übernehmen 78 , die darüber hinaus erstmals zum historischen Rückblick, zum Entwurf der „Geschichte (des) eignen Herzens" 79 auffordern. Als Moritz bei der Bemühung, diese Forderung für sich selbst zu erfüllen, kurz darauf seine eigene psychische Entfaltung historisch zurückverfolgt und dabei nach ihren Ursachen und Anstößen fragt, gelangt er zu seiner bekannten pädagogischsozialkritischen These, wonach die frühesten Eindrücke die ganze künftige Lebens- und Charakterrichtung entscheiden 80 und auch im weiteren Fortgang „die äußern Gegenstände einen immerwährenden Einfluß auf die 75
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785-1790]. M i t Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort hrsg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1972 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 4813-18). - Daß der Untertitel nur als Maske flir eine „Biographie" „ i m eigentlichsten Verstände" (Vorrede zum Zweiten Teil, 1786) zu werten sei, versucht die in Anm. 61 genannte Arbeit, S. 71 f. zu zeigen. 76 Minder (Anm. 62), S. 150 f., 163. 77 Beiträge zur Philosophie des Lebens. Hrsg. von Carl Philipp Moritz. Berlin 1780, 2 1781. 78 Beiträge, 2 1781, Vorrede, S. 3-8 = Vorschlag zu einem Magazin einer ErfarungsSeelenkunde. In: Deutsches Museum. Sechstes Stück. Sommermond [Juni] 1782, S. 492-494. 79 Ebd., S. 492. 80 Vgl. den Satz zu Beginn des Romans: „Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward." (Moritz [Anm. 75], S. 12). - Zur weiteren Bedeutungsgeschichte der Kindheitsabschnitte in deutschen Autobiographien des 19. Jahrhunderts vgl. meinen Beitrag „Fontanes Meine Kinderjahre und die Gattungstradition" in diesem Band, S. 173 ff., bes. S. 175-178.
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inneren Gedankenreihen" 81 ausüben. In der Tat hat dann Moritzens Autobiographie selbst eine neue, nunmehr immanente Polarität aufgebaut, die die Welt stets als bestimmend, das Ich stets als von ihr beeindruckt, j a bedrängt erscheinen läßt. Gerade in dieser einseitigen Rollenverteilung gibt sie sich als säkularisierte Form des Vorsehungsschemas zu erkennen, insofern der Mensch nicht mehr von oben, nun aber von außen gelenkt erscheint. Doch fällt auf, daß nur das Vorsehungsschema (das die typologische Säkularisation sogar völlig unverändert überdauert hatte) verwandelt wiederkehrt, das Durchbruchschema dagegen ganz aufgegeben ist. Um so genauer ist die Übung des Tagebuchs, den Wechsel der Gefühle und Stimmungen aufzuzeichnen, in diese psychologische Autobiographie übertragen worden. 8 2 Denn sowohl das Wandern Anton Reisers zwischen realer und selbsterträumter Welt als auch der ständige Wechsel von „Exaltation zu Depression und umgekehrt" 83 innerhalb dieser erträumten Welt ist eine analoge oder direkte Übernahme des unendlichen und ergebnislosen A u f und Ab der Gefühlskurve aus dem damals schon völlig psychologisierten pietistischen Tagebuch. Damit hat Moritzens Anton Reiser als erster Vertreter der durchgängig psychologischen Autobiographie von der eigenen Gattung lediglich den beliebig füllbaren Vorsehungsrahmen (säkularisiert) übernommen, im übrigen aber den unmittelbaren Anschluß an das Tagebuch gesucht und nur dadurch dessen neugewonnene Energien für die Nachbargattung fruchtbar machen können.
IV.
Als Ergebnisse können wir festhalten: Die pietistische Autobiographie begegnet als reine Bekehrungsgeschichte relativ selten und bleibt zudem auf den begrenzten Raum der pietistischen Gemeinden beschränkt. In der Regel öffnet sie sich von Anfang an einer typologischen Säkularisation, das heißt einer Überlagerung und Vermischung mit dem vorherrschenden Typ der pragmatischen (Berufs-)Autobiographie, wobei ihr Beichtcharakter zurückgedrängt wird, dafür ihre Verwandlung aus einem Schuld- in ein Unschuldbekenntnis die Grundtendenz der Autobiographie des 18. Jahrhunderts zur Selbstdarstellung und Selbstbestätigung unterstützt.
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Moritz (Anm. 75), S. 390. Daraufhat zuerst Minder (Anm. 62), S. 157 aufmerksam gemacht. Minder (Anm. 62), S. 157.
Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert
Nur dieser Säkularisationsvorgang vollzieht sich innerhalb der Gattung Autobiographie selbst, als unmittelbare Auseinandersetzung und Verbindung ihrer Typen. Dagegen verläuft die schon seit längerem bekannte psychologische Säkularisation nicht, wie bisher angenommen, im allmählichen direkten Übergang von der religiösen Konfession zur psychologischen Autobiographie, sondern nur auf dem Umweg über das pietistische Tagebuch, das als einzige literarische Form sich gattungsimmanent psychologisiert, und zwar führt dieser Umweg zurück zur Autobiographie nur mit Hilfe der neuen Theorie einer kausalpsychologischen Entwicklung, die es erlaubt, die Errungenschaften des Tagebuchs zu einer autonomen und in sich schlüssigen Geschichte der seelischen Erlebnisse aneinanderzureihen. Beide Säkularisationswege aber zeigen, daß die religiöse Bekenntnisliteratur des Pietismus, gleichviel ob Autobiographie oder Tagebuch, dazu bestimmt war, ihre gedanklichen wie formalen Energien alsbald den neuen Zielen dieser Gattungen - der Selbstbestätigung und Selbsterkenntnis dienstbar zu machen und gerade in ihren Verwandlungen das literarische Selbstzeugnis insgesamt für die Zukunft zu bereichern. Darin und nicht in der kurzfristigen Renaissance der religiösen Konfession als eines abgesonderten Typs liegt ihr gattungsgeschichtlicher Sinn.
Ulrich Bräkers Weg zu seiner Lebensgeschichte
In der frühesten uns erhaltenen Schrift Bräkers, seinem wort der vermahnung, an mich und die meinigen daß nichts beser sey den gott förchten zuallenzeitten (1,5-117) 1 aus den Jahren 1768-1771, findet sich sein erster kurzer Lebensrückblick unter dem Titel „beschribung. meiner leiblichen reiß und pilgerschafft, in dieser armen weit, bis in das 33.geste jähr meines alters" (1,19-24), d. h. bis zur damaligen Schreibgegenwart, die zwischen Mitte Februar und Anfang März 1769 anzusetzen ist. 2 Diese ältesten Blätter übersendet Bräker im Juni 1789, also einen Monat nach dem Erscheinen der großen Lebensgeschichte, seinem Pfarrer Martin Imhof auf dessen Wunsch und entschuldigt sich in einem „vorbericht" (1,3-4) dafür, daß er damals „immer und allewil sünden bekentnüße - und meistens erzwengte frömeleien" zusammengeschmiert und sich „nie bey aufgeräumter laune oder weltlichen gedannken zuschreiben" erlaubt habe (1,4). Diese ausdrückliche Distanzierung von seiner früheren Geisteshaltung nennt Bräker hier selbst wiederum ein „bekantnuß" (1,4) und bezeugt damit seine entschiedene Ablehnung der früheren Schreibart. In der Tat unterscheidet sich die in die vermahnung eingebaute kleine Lebensbeschreibung von 1769 nicht nur in Umfang und Stoffauswahl, sondern auch in der Intention und damit in Ton und Perspektive deutlich von der nur 12 Jahre später begonnenen großen Autobiographie. Um Bräkers literarischen Weg zu dieser Lebensgeschichte besser zu verstehen, sei zunächst ein genauerer Blick auf ihre Vorläuferin geworfen. Diese zeigt wie die ganze vermahnung einen betont geistlicherbaulichen Charakter. Schon der Titel, der das eigene Leben als „leibliche
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Zitate aus den Tagebüchern Bräkers (mit Band- und Seitenangaben im Text) nach: Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Andreas Bürgi u. a. Bd. I—111. München, Bern 1998. Bd. I: Tagebücher 1768-1778. Bearbeitet von Alfred Messerli u. a.; Bd. II: Tagebücher 17791788. Bearbeitet von Heinz Graber u. .a.; Bd. III: Tagebücher 1789-1798. Bearbeitet von Andreas Bürgi u. a. 2 Vgl. die letzte Datierung in der vermahnung vor der „beschribung": „ermahnung an mich selbst den 12. horn: 1769." (1,12) und die Datierung des auf die „beschribung" unmittelbar folgenden „gebett": „den 5. mertz" (1,27).
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reiß und pilgerschafft in dieser armen weit" umschreibt, zeigt es an, ebenso der einleitende Satz, worin Bräker als Leitthemen der kleinen Schrift seine „vergehungen" wie seine „guten rührungen" und die „gnaden züg" Gottes (1,19) in seinem bisherigen Leben ankündigt. Er schreibt aber diese Geständnisse nicht nur für sich, sondern - im Rahmen der vermahnung ganz folgerichtig - auch seinen Kindern „zur warnung" (1,19), damit seine eigenen inneren Erfahrungen auch und gerade bei ihnen Frucht tragen. Damit aber werden in dieser kurzen Lebensbeschreibung zwei Traditionsstränge, der der Beichte und der der Haus- und Familienbücher, miteinander verflochten, und es ist aufschlußreich zu sehen, wie diese Verbindung Bräker hier gelungen ist. Der äußere Aufbau folgt dem Schema der Chronik. Fast jeder Abschnitt beginnt mit einer Jahreszahl, doch bietet Bräker dabei keine lückenlose Annalistik, sondern wählt aus seinen bisherigen 33 Jahren diejenigen aus, die für ihn und für die Familie bedeutsam waren. Wie in jeder Hauschronik, so werden auch hier neben Geburt, Taufe, erstem Abendmahl und Hochzeit die nachhaltigen und besonders eindrucksvollen Ereignisse, häufig mit genauer Datierung, vermerkt: schwere Krankheiten und Unfälle, Umzug und Hausbau, Soldatendienst und Berufswechsel, schließlich verschiedene Todesfälle in der Familie. Doch begnügt sich Bräker nicht mit dem bloßen Registrieren der Begebenheiten. Sie sind ihm vielmehr zumeist Anlaß, an ihrem Beispiel die Güte und gnädige Vorsicht, die schützende und rettende Hand Gottes zu erkennen und zu preisen und zugleich seinen eigenen sündhaften Zustand als Ursache seiner oftmaligen Not zu bekennen und anzuklagen. Die Chronikdaten sind also grundsätzlich in einen religiös-sittlichen Lebenskommentar eingebettet, und doch hat sich Bräker erlaubt, gelegentlich auch die äußeren Ereignisse einläßlicher darzustellen. Die drei ausführlichsten Beispiele dafür: das Geißenhüten, der Söldnerdienst und der Tod des Vaters, lassen dabei drei aufschlußreiche Variationen der Verbindung von weltlichem und geistlichem Thema erkennen. Das Geißenhüten selbst wird hier noch nicht geschildert, es ist nur Stichwort für das ausführliche Bekenntnis, daß er damals in die böse Gesellschaft „gottloser mitgesellen" (1,19) geraten und nur durch ein gutes Büchlein wieder zu Gott zurückgeführt worden sei. Nichts also von der Hirtenidylle, deren Darstellung in der großen Lebensgeschichte diese Kindheitsepisode später berühmt gemacht hat. Die Episode dient hier nur dazu, anschließend die Bedeutung guter Gesellschaft für Kinder und
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Jugendliche zu betonen; das geistliche Thema läßt hier noch keine Schilderung „natürlicher Ebentheuer" (wie sie die spätere Lebensgeschichte schon im Titel ankündigen wird) aufkommen. Anders der Bericht vom Soldatendienst. Hier macht Bräker von der alten Möglichkeit, das von jeher dehnbare Chronikschema für die genauere Darstellung besonders denkwürdiger Ereignisse zu nutzen, ausgiebig Gebrauch, so daß dieses eine Jahr mehr als ein Viertel der ganzen Vita einnimmt (I, 20-22). Der Aufbruch von zu Hause, die Schaffhausener Zeit, Bräkers Vertrauen zu Markoni, der Fußmarsch nach Berlin, das böse Erwachen dort, der Feldzug nach Böhmen, die Schlacht bei „Löberschütz" (I, 21), Flucht und glückliche Heimkehr werden - oft mit genauer Datierung - im typischen Chronikstil aneinandergereiht, wobei das Erlebnis der Täuschung durch andere den Bericht durchzieht. Bräker kommt hier unwillkürlich ins Erzählen 3 , das geistliche Thema ist völlig vergessen, nur im Augenblick der höchsten Lebensgefahr wird kurz daran erinnert. Und doch kann sich das Erzählen hier noch nicht verselbständigen. Der Bericht vom Soldatendienst dient zwar kaum noch der religiösen Lebensdeutung, ist aber um so stärker auf den Bereich der Familie bezogen. Schon die Ausfahrt wird als der erste Abschied vom Elternhaus hervorgehoben, das unterschiedliche Urteil der Eltern über dieses Unternehmen und ihre sorgenvollen Besuche in Schaffhausen werden eigens und umständlich behandelt und die ganze Episode mit der gesunden Rückkunft „bey den meinigen" (1, 22) beschlossen. Fast hat man hier den Eindruck, als handle es sich bei Bräkers unfreiwilligem Soldatendienst um einen etwas längeren Ausflug von zu Hause, der geeignet ist, die Familienbande noch enger zu knüpfen.
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Ein Präludium dieses unwillkürlichen Erzählens findet sich in einem „den 1 mey 1768" (1,8) geschriebenen Abschnitt der vermahnung über „die langmuth gottes" (I, 6-11). Darin klagt sich Bräker seiner wiederholten Untreue gegen Gott an und preist dessen stetes Erbarmen am Beispiel verschiedener Lebensstationen. Im Falle der Schlacht bei Lowositz begnügt sich Bräker nicht mit dem bloßen Hinweis auf seine Angst und das Erbarmen Gottes (was der Charakter des ganzen Abschnittes erlaubt hätte), sondern vergegenwärtigt dazwischen die Turbulenz des Schlachtgeschehens und damit die eigene Todesgefahr in einem schier atemraubenden Erzählduktus: „ [ . . . ] ich möchte mich wenden auf welche seiten ich wollte, stund ich in gefahr, weil vor mir hinter mir, und zu beiden seiten ville tod bliben das getös des volcks das geschrey der blesierten das rauschen der tromlen das donneren des geschützes hate mich vast unsinig gemacht [ . . . ] " (1,9). Dabei verläßt dieser Satz nirgends die Tonlage seiner Textumgebung, da Bräker hier die Schlacht in biblischer Parataxe beschreibt und so die Preisgabe des Menschen an den Tod und seine Rettung durch die Hand Gottes um so eindringlicher spüren läßt. In allem beweist diese Stelle das Erwachen des Erzählers Ulrich Bräker schon 1768!
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A n diesem zweiten Beispiel läßt sich also erkennen, daß das religiöse Bekenntnis zeitweilig suspendiert werden kann und dann um so stärker die Familienchronik hervortritt. Beide Traditionsstränge aber fordern Beachtung ihrer Gesetze und ihrer Grenzen und lassen kein freies Erzählen zu. Auch e silentio läßt sich dies zeigen; denn 1769 wird die Liebesgeschichte mit Ännchen noch mit keinem Wort erwähnt: Ännchen gehört nicht zur Familie und also auch nicht in die Familienchronik. Eine weitere Variation der Verbindung von geistlichem und weltlichem Thema bietet das dritte Beispiel, der Bericht vom Tod des Vaters (I, 23 f.). Das Auffinden des im Wald verunglückten Toten ist schon hier fast ebenso detailliert und ausfuhrlich wie in der späteren Lebensgeschichte geschildert, zusätzlich vergegenwärtigt Bräker 1769 sein und der Geschwister Wehklagen über den toten Vater, nicht zuletzt durch direkte Anrede an ihn, und läßt den im Schreiben wieder lebendig werdenden Schmerz über diesen Verlust in einen Lobpreis des unerforschlichen Gottes münden, der alles zum Besten der Familie lenke. In diesem dritten Beispiel ist ein Gleichgewicht zwischen Bekenntnis und Chronik erreicht: Der Bericht vom Tod des Vaters verläßt sofort die Ebene des Chronikstils und wird im hohen empfindsamen Ton einer Nänie vorgetragen, der wie von selbst in den psalmodierenden Ton religiöser Deutung und Beruhigung übergeht. Bräker zeigt hier also, daß ihm auch eine Verschmelzung beider Sphären möglich ist. Solch rascher Wechsel der Proportionen von geistlichen und weltlichen Themen und Motiven kann freilich nur geschehen, weil bei Bräker der geistliche Strang gegenüber dem reihenden Chronikschema keine eigene Struktur besitzt oder durchsetzen möchte. Denn Bräker beschreibt keine Pilgerschaft im strengen Sinn, keinen Weg aufwärts zu Gott, sondern bis zuletzt ein ständiges A u f und Ab, ein barockes Baldanders, ja der letzte Abschnitt malt als Ergebnis sogar ein recht düsteres Bild, das ihn „biß auf dise stunde" (I, 24) der Schreibgegenwart von vielen Feinden in Gestalt biblischer Laster angefochten zeigt, in ständigem Kampf und seltenem Sieg. A u f keinen Fall also lesen wir hier eine Erweckungsgeschichte pietistischer Konvenienz, auch wenn Bräker einzelne Sprachformeln aus pietistischen Schriften übernommen hat. Denn weder ein Bußkampf mit plötzlichem Durchbruch oder auch allmählicher Bekehrung noch überhaupt eine Zunahme religiöser Erkenntnis bis zur Heilsgewißheit strukturieren diese Schrift. Die dynamische, ja dramatische Gestalt einer pietistischen Seelen-
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geschichte mit ihrem endlichen Gewinn eines inneren Friedens liegt Bräker völlig fern, um so näher der lebenslange Wechsel von Reue und Rückfall, der sich dem parataktischen Bau der Chronik ohne weiteres einfügt. *
Die gleiche gegenseitige Anpassungsfähigkeit zeigen die beiden Themenbereiche in Bräkers Tagebüchern. Und so gelingt es ihm in den folgenden Jahren, seit etwa dem Frühjahr 1772, in die oft umfangreichen Gebete und religiösen Meditationen gelegentlich Naturbeobachtungen, philosophische Gedanken und allgemeine Lebensmaximen einzustreuen 4 , die dann Schritt für Schritt breiteren Raum und am Ende der siebziger Jahre sogar die Oberhand gewinnen, so daß die geistliche Deutung nur noch den Rahmen, nicht mehr die Mitte bildet. In diesem wohl wichtigsten Jahrzehnt für die Entwicklung des Schriftstellers Bräker legt er die ihm im Grunde fremde erbauliche Schreibart immer mehr ab und entdeckt sein genuines Beobachtungs- und Erzähltalent. So werden die Tagebücher der siebziger Jahre zur entscheidenden Vorübung für die große Lebensgeschichte der frühen achtziger Jahre. In diesem Jahrzehnt wandelt sich zugleich Bräkers Urteil über das Erinnern der eigenen Vergangenheit. Im September 1772 verwirft er noch das Zurückwünschen der alten Tage als ein „unrechtes heimweh" und bittet Gott um das „rechte heimweh" nach ihm und seiner Gemeinschaft (I, 433 f.). Aber spätestens im Juni 1777, beim Bericht über einen Besuch im Dreyschlatt nach „dreyssig Jahren" (I, 739), ist solche Kritik verschwunden und an ihre Stelle das Lob vergangener Zeit getreten, ja Bräker schwelgt jetzt beim Wiedersehen seiner alten Rastplätze an Bäumen, Bach und Gumpen in der Erinnerung an diese „so glücklichen schuldlosen Tage" (I, 739). Spätestens um diese Zeit hat Bräker die Kinder- und Jugendjahre als einen paradiesischen Fluchtpunkt seiner Gedanken entdeckt, und von da ist es nur noch ein Schritt bis zum Entschluß, aus dieser elegischen Perspektive die frühen Jahre zusammenhängend zu schildern. Das Tagebuch aus dem ersten Entstehungsjahr der großen Lebensgeschichte, 1781, gibt denn auch einen deutlichen Hinweis, daß das we-
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Vgl. die folgende Auswahl philosophischer Meditationen bereits im Tagebuch 1772, die entweder erst jeweils gegen Ende oder gar nicht mehr in religiöse Gedanken münden: 17. 2. — 23. 5. (I, 391 ff.): „betrachtung unsers zustands jetziger zeit"; „allerhand vor sinen"; „deises leben nur ein träum"; „könt ich zu mir selber komen"; „unruhige gedanken"; 24. 7. - 17. 11. (I, 425 ff.): „das wesen deiser weit vergeth"; „ w i e mans n i m m t " ; „ l o b der nützlichen arbeit"; „lieber dienen als bedient sein".
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sentliche Motiv für ihre Niederschrift nicht mehr religiöse Warnung und sittliche Ermahnung an die Nachkommen, sondern Freude an der Erinnerung gelebter Tage ist, wenn es etwa am 18. März 1781 im Zusammenhang eines Frühlingsspaziergangs mit den beiden jüngsten Töchtern heißt: „ [ . . . ] - ich kleterte mit ihnen den felsen hinan - krumselten im gebüsch, im moos und dürrem laub herum, und freüthen uns sälige freüden - - ich ruffite meine keinder jähre zurük. - - dachte, ha das du mußtest ein brausender jüngleing - ein mann werden, wie schön ists, bey schuldlosen keindern - - nun - bald bald, will ich wieder keind werden - - eylt wieder herbey - ihr harmlosen tage - - [ . . . ] " (II, 238). *
Dieser Motivationswechsel wird dann von der Lebensgeschichte 5 selbst bestätigt, weil sich der Erzähler darin der eigenen Erinnerungsfreude bewußt wird und in gelegentlichen Ausrufen eigens dazu bekennt. Schon die „Vorrede des Verfassers" (363) nennt neben der „Schreibsucht" und den schon von der Chronik her bekannten Zwecken („Lob meines guten guten Gottes" und Nutzen für „meine Kinder") als neuen Grund: „so macht's doch mir eine unschuldige Freude, und ausserordentliche Lust, so wieder einmal mein Leben zu durchgehen", und kündigt auch schon die damit verbundene erhöhte Aufmerksamkeit auf die Einzeldinge an: „ M i t welcher Wonne kehr' ich besonders in die Tage meiner Jugend zurück, und betrachte jeden Schritt, den ich damals und seither in der Welt gethan." Solche Lust an der Vergegenwärtigung des verlorenen Jugendparadieses ist zum einen Flucht aus einer wenig erfreulichen Gegenwart, zugleich aber auch der Versuch, sich wenigstens literarisch wiederzufinden, das eigene Leben neu zu erschaffen und vielleicht zu retten. Deshalb ist es Bräker jetzt wichtig und sinnvoll, nicht nur die außergewöhnlichen Vorfälle zu berichten, sondern alle Vorkommnisse und Begegnungen zu berücksichtigen, die dem Ich als Ausschnitte seiner Erlebniswelt bedeutsam geblieben sind. Für den Blick des gemütvoll sich Erinnernden kann jetzt das alltägliche wie das ungewöhnliche Ereignis in Haus, Natur und Fremde Bedeutung gewinnen und als erstaunliches, unerhörtes Ding geschildert werden. Dieser neuen Erlebnisperspektive eines wertenden Ich verdanken zumindest die beiden ersten Drittel des Buches, die 1781 zusammenhängend 5 [Ulrich Bräker:] Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, bey Orell, Geßner, Füßli und Compagnie 1789. - Zitate (mit Seitenangaben im Text) nach: Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften (Anm. 1), Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. Bearbeitet von Claudia Holliger-Wiesmann u. a. München, Bern 2000, S. 355-557.
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niedergeschrieben worden sind, ein in der bisherigen Autobiographik unbekanntes Gleichgewicht von Außen- und Innenweltdarstellung. Dies gilt sowohl für die ökonomischen Teile, in denen die Familienchronik als Aufbaugerüst noch erkennbar ist, als auch insbesondere für die dazwischen eingeschalteten idyllischen und novellistischen Erzählräume: die Naturerlebnisse im Hirtenstand, die Liebesromanze mit Ännchen, die Abenteuerlichkeit des Soldatendienstes, die alle das längst Durchlebte mit poetischer Einbildungskraft so zu vergegenwärtigen verstehen, daß es mit allen damaligen Stimmungen und Gefühlsregungen (mit einer Vorliebe für direkte Gespräche und einsame Monologe) nochmals durchmessen wird. Damit gestaltet Bräker einige existenzielle Erlebnisse in ihrem Eigenwert. Dies ist ihm möglich, weil er in der Lebensgeschichte von 1781 vor allem den religiösen Traditionsstrang stark zurückdrängt, während er das flexiblere Raster der Familienchronik noch durchaus bewahrt. Deren Tradition gehorcht er auch noch insofern, als er seine Lebensgeschichte keineswegs mit der aufregenden Jugendzeit schließt, sondern, wie jeder Chronist, bis zur Schreibgegenwart fortführt, obwohl er zugeben muß, daß ihm die spätere Zeit (nach der Heirat) „unendlich weniger Vergnügen als meine jüngern Jahre" macht (523). Dieses letzte Drittel des Buches (483 ff.) gliedert sich in eine annalistische Kapitelfolge und in drei Anhänge („Meine Geständnisse", „ V o n meiner gegenwärtigen Gemüthslage", „Glücksumstände und Wohnort"). Gemeinsam ist allen Teilen dieses Schlußdrittels eine Verlagerung auf die Selbstdarstellung, eine zwischen Anklage und Verteidigung wechselnde Selbstbewertung und Selbstberuhigung. Damit erhält dieser Schlußteil die gleiche Funktion der Selbstvergewisserung wie zuvor die sentimentalische Rückkehr ins Jugendland. Stilistischer Ausdruck für dieses allen Teilen des Buches gemeinsame Ziel ist die durchgängige subjektiv-wertende Erlebnisperspektive, womit Bräker - und das ist eine gattungshistorische Errungenschaft - der Familienchronik ein neues Einheitsprinzip schenkt, ohne ihre alte offene Form zu beeinträchtigen. Ja, Bräker bekennt sich sogar zu dieser offenen Form, wenn er seine Geschichte ungeniert ein „Gickel Gakkel" (512) und einen „Wirrwarr" (513, 544) nennt, und muß deshalb folgerichtig die strenge Vorsehungsstruktur eines Jung-Stilling und auch das radikale Bekenntnisprogramm eines Rousseau ablehnen (vgl. 514). Denn beide wären nur eine säkularisierte Wiederkehr der religiösen Lebensdeutung, die ihn lange genug am freien Erzählen gehindert hatte.
Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit
Als Goethe Dichtung und Wahrheit konzipierte, hatte er den Plan, das eigene Leben im Sinne der Morphologie nach den Gesetzen der pflanzlichen Metamorphose darzustellen. In einem Juni/Juli 1813 geschriebenen, aber ungedruckt gebliebenen Vorwort zum Dritten Teil seiner Autobiographie hat er diesen ursprünglichen Plan im nachhinein bestätigt: Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drey Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwikeln. In zweyten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis manigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Bande ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen. 2
Die Metaphorik dieser Sätze lebt von der rundum positiven Vorstellung, daß sich der Mensch in einer naturgesetzlichen Stufenfolge entfalte, seine Anlagen und Fähigkeiten fast im evolutionistischen Sinne unaufhaltsam ausgewickelt würden. Dieses Bild einer „hoffnungsvollen" Entwicklung hat Goethe zumindest in den beiden ersten Teilen von Dichtung und Wahrheit auch darstellerisch zu verwirklichen gesucht. So läßt er bestimmte Themen seiner Bildungsgeschichte - die Beschäftigung mit Poesie und die Erfahrung eines Publikums, das Verhältnis zum Theater, zeichnerische Bemühungen, Bibelkritik, die Begegnungen mit religiösen Strömungen der Zeit - auf den verschiede-
1
Zitate nach: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abteilungen mit 133 Bänden. Weimar 1887-1919 ( = W A ; Abteilung in römischer, Band in arabischer Ziffer). - Gelegentlich wird zitiert nach: Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR. Historischkritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text; Bd. 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin: Akademie-Verlag 1970 und 1974 ( = A k A ) . 2 A k A 2, S. 581 (Plp. 122); W A I, 28, S. 356. - Zur Datierung vgl. A k A 2, S. 145: „zwischen dem 3. Juni und dem 20. Juli 1813 [ . . . ] entstanden."
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nen Altersstufen wiederkehren und zeichnet dabei durch das je vertiefte Interesse und Aufnahmevermögen des Ich eine Art Spiralbewegung, die die frühen Stufen als Vorankündigungen, die späteren als deren gesteigerte Wiederaufnahmen erscheinen lassen. Dieses Aufbauprinzip hat Goethe schon kurz nach dem Erscheinen des Ersten Teils angekündigt, wenn er in einem Dankesbrief an den Rezensenten Johann Friedrich Rochlitz vom 30. Januar 1812 versichert, „der erste Theil sey mit Bewußtseyn und mit Absicht geschrieben, und enthalte auch nicht das kleinste geringfügig scheinende, was nicht künftig einmal nach seinem Geschlecht und Art in Blüthe und Frucht hervortreten soll" 3 . Die Pflanzenmetaphorik gebraucht Goethe gelegentlich auch in Dichtung und Wahrheit selbst, wenn er etwa eine Lebenskrise als Übergangsphase illustrieren will. So spricht er einmal in der Mitte des 6. Buches davon, daß durch den Verlust Gretchens „der Knaben- und Jünglingspflanze das Herz ausgebrochen (war); sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen und den ersten Schaden durch neues Wachsthum zu überwinden" 4 . Diese Stelle zeigt zugleich, daß Goethes Metamorphose-Begriff nicht nur von der Theorie der Evolution, sondern ebenso stark von der der Epigenese bestimmt ist 5 , wonach eine innere Formkraft das Lebewesen befähigt, sich nicht nur artgemäß zu entwickeln, sondern auch auf äußere Einflüsse fördernder oder hindernder, j a schädigender Art sich durch Anpassung, Abweichung und Restitution zu behaupten. Neben dieser positiven Reaktionsfähigkeit hat Goethe schon früh auch die Gefahr einer negativen Entwicklung des Lebewesens gesehen. Schon in den Vorüberlegungen zur eigenen Biographie, nämlich in einer Tagebuchnotiz vom 18. Mai 1810, die ein Gespräch mit Riemer über „Biographica und Aesthetica" resümiert, unterscheidet er bei den Folgen äußerer Einwirkungen zwischen häufigen „physiologisch-pathologischen" Retardationen und solchen, die „einen morbosen Zustand hervorbringen und durch eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen das Wesen umbringen" 6 . Diese wichtige Unterscheidung zwischen einer am Ende erfolgreichen „pathologischen" Auseinandersetzung des Lebewesens mit der Außenwelt und der 3
W A IV, 22, S. 252. W A I, 27, S. 39 f. 5 Daß für Goethe beide Theorien kompatibel sind und er sie deshalb wahlweise zur Erklärung der Phänomene benutzen w i l l , hat er selbst bezeugt: „So werde ich die Vorstellungsart der Evolutionisten so gut als der Epigenesisten, die bestimmte sowohl als die freiere Zeugung, [ . . . ] bloß als Wort und Mittel brauchen, je nachdem ich mich besser dadurch zu erklären denke". W A II, 7, S. 8 (Vorarbeiten zur Morphologie-, geschrieben 1788). 6 A k A 2, S. 477 (Plp. 7); W A III, 4, S. 121. 4
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Gefahr eines Untergangs in den zuletzt tödlichen „morbosen" Zustand führt im Tagebuch zu einer unmittelbar anschließenden Bemerkung, die einen bestimmten autobiographischen Typ mit der zweiten, negativen Entwicklungslinie verbindet: „Jeder der eine Confession schreibt ist in einem gefährlichen Falle, lamentabel zu werden; weil man nur das Morbose, das sündige bekennt, und niemals seine Tugenden beichten soll." 7 Von solchen programmatischen Überlegungen her ist es verständlich, daß Goethe in Dichtung und Wahrheit mit seelen- und gewissenserforschenden Selbstbekenntnissen äußerst zurückhaltend ist und in bewußter Distanz zu Rousseau seiner Autobiographie den an Cardano und Montaigne anknüpfenden 8 positiven Bekenntnischarakter verleiht, indem er statt Sünden- und Schuldgefühlen die eigenen Interessen, Tätigkeiten und Erfolge „ m i t Behaglichkeit" 9 erzählt. Denn diese extrovertierte Perspektive ermöglicht die bald darauf (1811) im Vorwort zum Ersten Teil von Dichtung und Wahrheit angekündigte 10 und dann auch das ganze Werk kennzeichnende Darstellung eines empfangend-antwortenden Doppelaustauschs von Ich und Welt, der den Blick auf morbose Zustände vermeiden hilft und daher um so leichter die Entwicklung des Individuums im Bilde einer fruchtbaren Metamorphose epigenetischer Art zu sehen erlaubt. Zumindest ist Goethe in den ersten beiden Teilen von Dichtung und Wahrheit bestrebt, dieses Prinzip einer positiven morphologischen Lebensdeutung auch praktisch durchzuführen. Noch im 9. Buch erklärt er das Motto des Zweiten Teils: „Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle" 1 1 damit, daß „mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Theil des ersten Wunsches erfüllt (wird), bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken" 12 . Nun sieht aber Goethe jenes Motto im darauffolgenden Abschnitt vor allem dann bestätigt, wenn eigene Pläne durch „zufällige Hindernisse" 13 unausgeführt bleiben, aber von einer späteren Generation wieder aufgenommen und sogar besser, als man selbst
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Ebd. W A II, 3, S. 219 (Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. 3. Abteilung: 16. Jahrhundert, Abschnitt Hieronymus Cardanus; geschrieben 1809). 9 W A I, 40, S. 365 (Rezension über: Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten, mit ihren Selbstbiographien, hrsg. von S. M. Lowe. Berlin 1806. In: Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung 1806, Nr. 48, 26. Februar). 1() W A I, 26, S. 7 f. 11 W A 1,27, S. 1. 12 Ebd., S. 276. 13 Ebd.. S. 277. 8
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dachte, verwirklicht werden, womit er zur bekannten Laudatio auf die tatkräftigen Bemühungen Sulpiz Boisseree's um den Kölner Dom als Erfüllung der eigenen jugendlichen Begeisterung für die gotische Baukunst überleitet. Hier also spricht Goethe erstmals in Dichtung und Wahrheit deutlich davon, daß eigene Bestrebungen durch Hindernisse und Ablenkungen verzettelt werden können und dann aufgegeben werden müssen, und er kann dieses Bild einer für die eigene Person negativen, weil vereitelten Metamorphose nur dadurch noch einmal ins Positive wenden, daß er die verschiedenen Stufen der Entwicklung vom einzelnen Individuum auf die Vertreter zweier Generationen verteilt. *
Es kann daher nicht allzusehr überraschen, wenn Goethe diesen bisher optimistisch gesehenen und zuletzt fast hartnäckig verteidigten Entwicklungsbegriff im Verlauf der Niederschrift des Dritten Teils von Dichtung und Wahrheit, im Frühjahr und Sommer 1813, einer gründlichen Revision unterzieht. Denn dieser Teil, der damals als vorläufiger Abschluß des Werkes gedacht war, ersetzt an mehreren wichtigen Stellen den Gedanken an eine letztlich erfolgreiche Metamorphose durch die Vorstellung eines von willkürlichen Außenkräften beherrschten Lebens, dessen Resultate nicht mehr von der Entelechie des Individuums als der bisher entscheidenden Komponente bestimmt werden, weshalb denn auch dieser Teil das Motto erhält: „Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen." 14 Die erste Stelle ist eine Zwischenbemerkung im 11. Buch, daß es „wenige Biographien" gebe, „welche einen reinen, ruhigen, stäten Fortschritt des Individuums darstellen können", weil „unser Leben [...] auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt" sei 15 . 14
W A 1,28, S. 1. Ebd., S. 50. - Hinsichtlich der Entstehungszeit dieser Zwischenbemerkung sei folgendes erwogen. Sowohl die vorausgehende Textpartie über Schöpflin als auch die nachfolgende über französische Sprache und Kultur sind lt. Tagebuch ( W A III, 4, S. 336) am 2. und 3. November 1812, und zwar für das 12. Buch entstanden; doch wurden sie im Frühjahr (März-Mai) 1813 im Zuge der „concentrirten Behandlung" des Dritten Teils (Tagebuch vom 24. März 1813: W A III, 5, S. 26) in das 11. Buch eingeordnet. Wenn daher Plp. 99 ( A k A 2, S. 563 f.) unter der Überschrift „ X I Buch" alle Themenpunkte in der genauen Reihenfolge des endgültigen 11. Buches aufzählt (darunter auch die hier erörterte Zwischenbemerkung als „Umkehrung u[nd] Uebergang"), so kann für die Entstehungszeit dieses Schemas von Scheibes Alternativen: 5. November 1812 oder 1. Mai 1813 ( A k A 2, S. 119), nur die letztere in Frage kommen. 15
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Der darauffolgende Satz stellt zur Erläuterung dieses Begriffspaars dem entelechischen „Wollen" des Individuums die äußeren „Umstände" gegenüber, die es „auf ihre eigene Weise" „ergreifen" 16 , d. h. selbstherrlich in eine vor allem von ihnen bestimmte Richtung lenken. Wichtig ist auch, daß Goethe hier das Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit „unbegreiflich" nennt: Das Leben ist für ihn zum undurchschaubaren Rätsel geworden, so daß er jetzt auch die Frage nach seinem Sinn und Ziel zurückweist: „ [ . . . ] nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deßhalb verweis't man uns mit Recht aufs Quia." ]1 Nur die Gründe lassen sich erkennen, nicht das Ziel, womit stillschweigend sogar der bisher unangefochtene Begriff ,Entelechie' im Sinne einer zielbesitzenden, zielbestimmenden Formkraft in Frage gestellt wird. Offensichtlich stehen hier Freiheit und Notwendigkeit nicht im Gleichgewicht zueinander, die eigenmächtig gewordenen Umstände überwiegen, und wenn daher Goethe jetzt solche „ N o t w e n d i g k e i t " in den Lebensgrundriß aufnehmen muß, besitzt er nicht mehr die tröstliche Gewähr eines letztlich doch fruchtbaren Umwegs; die Gefahr des Verkümmerns, des vorzeitigen Abbruchs bestimmter Hoffnungen und Pläne wird jetzt einbezogen, vor allem wird erstmals die relative Ohnmacht des strebenden Ich eingestanden. Die gleiche Auffassung vertritt Goethe kurz darauf (Juni/Juli 1813) an einer zweiten Stelle, nämlich in den beiden nächsten Abschnitten des schon erwähnten Vorworts zum Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit. Denn im Anschluß an die Mitteilung seines ursprünglichen Vorhabens, die eigene Jugendgeschichte nach den Gesetzen der pflanzlichen Metamorphose darzustellen, bemerkt er einschränkend, es sei „freylich [...] Gartenfreunden wohl bekannt, daß eine Pflanze nicht in jedem Boden, j a in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht" 1 8 , und bezieht dabei diesen negativen Aspekt nicht auf den Inhalt seiner Lebensgeschichte, sondern auf diese Autobiographie selbst. Er fährt nämlich fort: „ [ . . . ] und so hätte denn auch diese Darstellung, mehrere Jahre früher, oder zu einer günstigem Zeit unternommen, eine frischere und frohere Gestalt gewinnen mögen." 1 9
Da bei Goethe ein Schema den Inhalt eines Buches nie nachträglich wiedergibt, sondern stets für eine künftige Ausarbeitung skizziert, ist es denkbar, daß gerade die kleineren Gelenkstellen und Überleitungsabschnitte erst im Zuge der Erledigung des Schemas (nach A k A 2, S. 119 zwischen 1. Mai und 20. Juni 1813) hinzugefügt worden sind. 16 W A 1,28, S. 50. 17 Ebd. 18 A k A 2, S. 582 (Plp. 122); W A I, 28, S. 356 f. 19 A k A 2, S. 582 (Plp. 122); W A I, 28, S. 357.
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Damit wird die Gunst oder Ungunst der Stunde unmittelbar für die Gestalt eines literarischen Werkes mitverantwortlich gemacht, und so gibt Goethe selbst einen Fingerzeig, daß auch die jeweiligen Zeitumstände Konzeption und Durchführung eines schriftstellerischen Projekts beeinflussen können. Goethe selbst also unterstützt die Forschung, wenn sie die Zeitereignisse des Frühjahrs und Sommers 1813, den sich abzeichnenden Niedergang Napoleons und die zunehmende Unruhe der Befreiungskriege, als Ursachen für Goethes neue Bewertung der Umstände als willkürlich beschränkender Außenkräfte annimmt. Denn die „frischere und frohere Gestalt" der ersten beiden Teile von Dichtung und Wahrheit ist j a genauer Ausdruck für die dort noch mögliche Darstellung eines „reinen, ruhigen, stäten Fortschritts des Individuums", während schon der Dritte Teil grundsätzliche Zweifel an solcher Möglichkeit äußert und darum jene „frohe" Zuversicht einer sicheren Lebensentfaltung verloren hat. Die Skepsis steigert sich noch in weiteren Sätzen des Vorworts, in denen sich der Autobiograph von seinen Lesern vorläufig verabschiedet: „denn", so lautet seine Begründung, in der nächsten Epoche zu der ich schreiten müste fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen sezen Frucht an und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherley Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt. 20
Da der Dritte Teil damals noch die Zeit bis zur Abreise nach Weimar behandeln sollte, meint Goethe mit „nächste Epoche" sein erstes Weimarer Jahrzehnt, das er hier auffällig negativ als eine enttäuschende Periode vorzeitig fallender Früchte zeichnet und deshalb in der Autobiographie nicht mehr darstellen w i l l (und übrigens auch später nie dargestellt hat). Aber nicht genug damit, erhebt er dieses spezielle Resümee anschließend zur allgemeinen Maxime und bezieht es dabei ausdrücklich auch auf die in Dichtung und Wahrheit geschilderte Zeit vor Weimar, vor allem wohl wieder auf die für den Dritten Teil damals vorgesehenen Jahre bis 1775: „So geht es den Werken der Natur und der Menschen und so ging es auch mir mit meinen Arbeiten, wie schon die erste Epoche Beyspiele genug darlegt." 21
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Ebd. Ebd.
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In all diesen Sätzen des Vorworts behält Goethe noch immer das Pflanzengleichnis bei, kehrt aber dessen bisherigen Sinn fast ins Gegenteil: Das menschliche Leben wird nicht mehr als gesetzmäßiger Gestaltwandel, ja nicht einmal mehr als eine von äußeren Umständen zwar beeinflußte, aber letztlich doch zielsichere Metamorphose gesehen, sondern als eine von eigenmächtigen „Zufälligkeiten" bestimmte, mehr behinderte als geförderte, jedenfalls ihres Erfolges ungewisse Entfaltung des Individuums verstanden. *
Dieser früher 22 nur in Grundzügen vorgelegte Kommentar der beiden Belegstellen, hier eingehend überprüft und durch zusätzliche Argumente erweitert, ist seitdem des öfteren bestätigt worden: Christoph Michel, Martin Stern, Peter Sprengel, Harald Schnur und zuletzt Benedikt Jeßing 23 sehen in diesen beiden Texten übereinstimmend eine „Suspendierung der Metamorphose als Darstellungsprinzip" 24 und begründen dies teils mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen, teils mit dem Scheitern des Pflanzenmodells an der Disparatheit des späteren biographisch-historischen Stoffes. Doch gibt es in jüngster Zeit auch Stimmen, die dieser opinio communis widersprechen. Sie vertreten die These, daß Goethe in Dichtung und Wahrheit den Metamorphose-Gedanken bis zuletzt aufrechterhalten habe und also die morphologische Lebensdeutung weder einen Bruch erfahren habe noch gar verabschiedet worden sei. So postuliert Fotis Jannidis 25 die Kon-
22 Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 162 f. 23 Christoph Michel: „Eine Ausgeburt mehr der Notwendigkeit als der Wahl" - Goethes Autobiographie und die „Metamorphose der Pflanzen". In: Goethes Bedeutung für das Verständnis der Naturwissenschaften heute; Kolloquium 26.-28. November 1982. Bayreuth 1982, S. 197-235; hier S. 222 f. - Martin Stern: „ W i e kann man sich selbst kennen lernen?" Gedanken zu Goethes Autobiographie. In: Goethe-Jahrbuch 101(1984), S. 269-281; hier S. 277-279. - Peter Sprengel: Einführung. In: Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von P. S. (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16). München 1985, S. 881-920; hier S. 888 f. Harald Schnur: Identität und autobiographische Darstellung in Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 28-93; hier S. 63-72. - Benedikt Jeßing: Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart, Weimar 1995 (Sammlung Metzler 288), S. 175 f. - Ders.: Artikel „Dichtung und Wahrheit". In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u. a. Bd. 3: Prosaschriften. Stuttgart, Weimar 1997, S. 278-330; hier S. 322-324, 329. 24 Schnur (Anm. 23), S. 64. Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ,Bildung' am Beispiel von Goethes Dichtung und Wahrheit. Tübingen 1996 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 56).
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tinuität von Goethes Bildungsbegriff, betont deshalb die Überlegenheit der entelechischen Formkraft und läßt die Einflüsse der äußeren Umstände nur so weit gelten, als sie die Zielbestimmung des Lebens wohl modifizieren, aber nicht in Frage stellen oder gar vereiteln. Darum setzt er die Polarität von Freiheit und Notwendigkeit mit der Dialektik von Fortschritt und Retardation der Metamorphose gleich 2 6 , ohne den neuen resignativen Ton zu hören, womit jene Reflexion im 11. Buch die Eigenmacht der Umstände über das Wollen des Individuums herrschen läßt und so erstmals Zweifel an Sieg und Zielgewißheit der Entelechie zum Ausdruck bringt. Auch das Bild des vorzeitigen Fallens der Früchte im Vorwort zum Dritten Teil liest Jannidis nicht als Zurücknahme des Begriffs einer letztlich fruchtbaren Metamorphose, sondern als dessen Bestätigung, weil er sogar angesichts der Fruchtlosigkeit noch immer einen Bildungsprozeß mit positiven Retardationen und höchstens „hemmenden" Einflüssen sich vollziehen sieht. 27 Demgegenüber verstehen die bisherigen Interpreten das Vorwort zum Dritten Teil als eine Abkehr Goethes nicht etwa nur von der evolutionistischen, sondern auch von der epigenetischen Metamorphose-Idee; sie heben also nicht, wie Jannidis meint 2 8 , lediglich die „retardierenden Faktoren" der letzteren hervor, sondern sehen Goethe eine entschiedene Distanz zur Entwicklungstheorie überhaupt gewinnen. Gleichzeitig mit Jannidis und unabhängig von ihm vertritt auch Erwin Seitz 29 die These eines durchgängig positiven Entwicklungsbildes in Dichtung und Wahrheit. Ausgehend von einem biographischen „Schema" in der Geschichte der Farbenlehre, das die Entwicklung des Individuums in „triadischer Struktur" als „Bildung, Streben, Vollendung" zeigt 3 0 , überträgt Seitz diesen „dialektischen Dreischritt" von 1809 auf die ersten drei Teile
26
Vgl. ebd., S. 92 f. Ebd., S. 94. - Vollends abwegig ist die Schlußfolgerung (ebd., S. 94 f.), Goethe habe im Vorwort zum Dritten Teil allein schon mit dem Festhalten an der Pflanzenmetaphorik auch den Metamorphosegedanken beibehalten. Nicht das Bild als solches, sondern der jeweilige Sinn des Bildes entscheidet. Im übrigen hat Goethe das Vorwort nicht „verworfen", weil er die darin formulierte „Konzeption des dritten Bandes" „noch einmal verändert hat" (ebd., S. 95). Er hat es nicht verworfen, sondern nur zurückgezogen, weil der darin vorgesehene Abschied von den Lesern seit dem Entschluß im Herbst 1813, zum ursprünglichen Plan von zwei Schlußbänden zurückzukehren, sich erübrigt hatte. Diese Zurücknahme des Vorworts aus äußeren Gründen bedeutet also kein Dementi seiner Gedanken. Vgl. Sprengel (Anm. 23), S. 889. 28 Jannidis (Anm. 25), S. 95. 29 Erwin Seitz: Talent und Geschichte. Goethe in seiner Autobiographie. Stuttgart, Weimar 1996. 30 Ebd., S. 137. - Vgl. W A II, 3, S. 244 {Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 4. Abteilung: 17. Jahrhundert, Abschnitt Allgemeine Betrachtungen; geschrieben 1809). 27
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von Dichtung und Wahrheit, wo er in den wiederholten Konflikten zwischen den „angeborenen Kräften" und den „äußeren Umständen", zwischen „Talent" und „Geschichte" den „entelechischen Trieb" des Individuums sich am Ende stets durchsetzen und behaupten sieht. 31 Darin erblickt Seitz die für Goethe und also auch für Dichtung und Wahrheit einzig gültige „Gesetzlichkeit menschlicher Entwicklung" 3 2 und so ordnet er auch das Vorwort zum Dritten Teil in dieses Modell ein. Es kann ihm freilich nur gelingen, weil er dieses Vorwort lediglich bis zum ersten Satz des zweiten Abschnitts berücksichtigt 33 , bis wohin es zur Not noch unter den epigenetischen Metamorphose-Begriff subsumiert werden kann, wenngleich es schon hier den Zeiteinflüssen eine die Zielgewißheit aufhebende Macht zugesteht. Aber spätestens die weiteren Sätze des Vorworts mit ihrem harten Urteil über das erste Weimarer Jahrzehnt sprengen das Schema der vollendungssicheren Dialektik. Wenn daher Seitz diese Zurücknahme des Metamorphose-Gedankens als bloßes „Vorgeben" und „rhetorische Wendung" abwertet, womit Goethe lediglich „auf die konfliktreicheren Passagen der nächsten Bücher vorbereiten" wolle 3 4 , so wird er dieser prononcierten Abkehr Goethes von seinem bisherigen Prinzip der Lebensdeutung nicht gerecht. Unzureichend aber bleiben beide Diskussionsbeiträge vor allem deswegen, weil sie sich nicht oder kaum mit einer dritten, für den Problemzusammenhang entscheidenden Textstelle auseinandersetzen. Gemeint ist Goethes ausführliche Umschreibung des „Dämonischen" im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit. Jannidis verzichtet ausdrücklich auf eine Analyse des Begriffs, weil dieser „nur für Goethe Gültigkeit hatte" 3 5 . Doch ein für Goethes Lebensdeutung so wichtiger Begriff, der in seinem Alterswerk sehr häufig erscheint und in Dichtung und Wahrheit an prominenter Stelle seine ausführlichste Exegese erfährt, kann nicht als unverbindlich abgetan werden. 36 Es ist freilich verständlich, daß Jannidis dem Phänomen ausweicht: es paßt nicht in seinen Argumentationsgang. Seitz hat solche Bedenken nicht. Als er einmal kurz auf das Dämonische zu sprechen kommt, indem er Goethes Liebe zu Lili dazu rechnet, geschieht es nur, um es als weiteres Beispiel für die Außenkräfte, die von der Entelechie zuletzt über-
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Zitate: Seitz (Anm. 29), S. 151, 148, 328. Ebd., S. 326. 33 Ebd., S. 139. 34 Ebd. 35 Jannidis (Anm. 25), S. 175, Anm. 69. 36 Vgl. dazu auch die Rezension von Harald Schnur, in: Aurora 57 (1997), S. 217-223; hier S. 223. 32
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wunden werden, in sein dialektisches Modell einzubauen. 37 Solche Integration in die Polarität von Ich und Welt widerspricht jedoch der Definition des Dämonischen, wie sie Goethe im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit gibt. Das soll im folgenden noch gezeigt werden. 38 *
Goethe hat den Abschnitt über das Dämonische mit der Darstellung seines Aufbruchs nach Weimar verbunden und diesen Schluß des ganzen Werkes - damals noch für das Ende des Dritten Teils - schon im Mai 1813 diktiert 3 9 , so daß der Exkurs über das Dämonische mit dem Vorwort zum Dritten Teil und möglicherweise auch mit der Reflexion über Freiheit und Notwendigkeit in enger entstehungszeitlicher Nachbarschaft steht. Nun will Goethe mit den Erörterungen über das Dämonische nicht nur die „seltsamen Ereignisse" 40 bei seiner verspäteten Abreise nach Weimar erklären; vielmehr gilt dieser Rahmen rückwirkend für die ganze Lebensgeschichte. Denn gleich zu Beginn des Abschnitts 41 betont Goethe, es sei ihm schon früh auf seinen Wanderungen von der „natürlichen" über die „positive" Religion bis zum „allgemeinen Glauben" ein dazwischenliegendes „Ungeheures, Unfaßliches" begegnet, „was zu keiner von allen gehören mochte", das weder göttlich noch menschlich 42 , weder teuflisch noch engelhaft war, gleichzeitig dem Zufall und der Vorsehung glich, ohne Vernunft und Verstand, wohltätig und schadenfroh zugleich. War schon der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit für Goethe „unbegreiflich", so erst recht das Dämonische, ja er empfindet dieses „Unfaßliche" darüber hinaus als ein „furchtbares Wesen", weil es „mit den nothwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten", nämlich „zwischen alle
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Seitz (Anm. 29), S. 140. Vgl. Niggl (Anm. 22), S. 163 f., wo aber mehr der religiöse Aspekt des Dämonischen und seine von dorther begründete gattungshistorische Bedeutung in Dichtung und Wahrheit hervorgehoben werden. 39 Nach A k A 2, S. 138 f. zwischen 26. April und 3. Juni 1813 diktiert. 40 W A 1,29, S. 177. 41 Ebd., S. 173. 42 Hierin folgt Goethe antiker Tradition, von der er nach eigener Aussage ( W A I, 29, S. 173) auch den Begriff „dämonisch" übernommen hat. Vgl. Piaton: Symposion, 202d: „Was wäre also, sprach ich, Eros? Etwa sterblich? - Keineswegs. - Aber was denn? - Wie oben, sagte sie, zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen. - Was also, o Diotima? - Ein großer Dämon [Aal^icov], o Sokrates. Denn alles Dämonische [ m v TO ö a i n o v i o v ] ist zwischen Gott und dem Sterblichen." Zitiert nach: Piaton: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Hrsg. von Gunther Eigler. 3. Bd.: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 1990, S. 315. 38
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übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden" scheint 43 , und also „eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht (bildet), so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen." 44 Das frühere Pflanzengleichnis wird jetzt vom Webegleichnis abgelöst, und dieses faßt die bisher in Dichtung und Wahrheit einzige und maßgebliche Konstellation von Ich und Welt, Individuum und Jahrhundert, deren Wechselwirkung als eine von der Vernunft geleitete und erkennbare Geschichte konzipiert war, unter dem Begriff der „moralischen Weltordnung" zu dem einen Pol eines neuen Spannungsfeldes zusammen, worin das rational nicht mehr erfaßbare, „sich nur in Widersprüchen manifestirende" 45 Dämonische den gleichrangigen Gegenpol darstellt. In dieser gestuften Doppelpolarität von Ich, Zeit und dämonischer Gegenmacht werden entschiedener als in jeder morphologischen Vorstellung die immanenten Kräfte Ich und Jahrhundert gleichermaßen ihrer Eigenmacht beraubt und beide von einer wie immer gearteten metaphysischen Komponente relativiert. Diese neue Konstellation der Lebensmächte wird noch deutlicher, wenn Goethe mit der Gestalt Egmonts ein geheimes Selbstporträt zeichnet und mit Egmonts Ausruf am Ende seiner Autobiographie die eigene dämonische Existenz umschreibt. Dieses berühmte Schlußzitat 46 von Dichtung und Wahrheit verläßt sogar die Ausgewogenheit des Webegleichnisses, wenn jetzt „unsichtbare Geister" allein die Richtung der Lebensbahn bestimmen und ihnen sowohl die „Sonnenpferde der Zeit" als auch der Wagenlenker gehorchen müssen, dem nur noch die Rettung vor Sturz und Untergang in die Hand gegeben ist, dem aber das Ziel der Fahrt unbekannt bleibt. Die Schlußstellung dieses Zitats verdeutlicht nochmals, daß die neu eröffnete Dimension nicht nur fur die Endphase, sondern grundsätzlich für die ganze Lebensgeschichte gelten soll, auch wenn sie darin nur gelegentlich erkennbar wird. Das zufällige Glück der Begegnung mit Herder, die vereitelte Annäherung an die französische Kultur im Elsaß, der undurchschaubare Widerstreit zwischen Frankfurt, Italien und Weimar im schicksalhaften Jahr 1775 sind die wenigen, aber entscheidenden Lebenspunkte 47 , bei denen eine höhere Einwirkung spürbar werden soll. Nicht von ungefähr
43 44 45 46 47
W A I, 29, S. 174. Ebd., S. 176. Ebd., S. 173. Ebd., S. 192. W A I, 27, S. 302; W A I, 28, S. 50 f.; W A I, 29, S. 177, 180, 185 f.
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begegnen sie erst von der Mitte des Werkes an und bezeugen auch von ihrer Seite, daß sich dem morphologischen Entwicklungsschema seit dem Dritten Teil das Dämonische nicht etwa als weitere immanente Außenkraft einfugt, sondern als eine willkürlich herrschende metaphysische Macht überordnet. So kommt auch Harald Schnur zu dem Ergebnis, daß „die Metamorphose [...] mit dem Dritten und Vierten Teil von Dichtung und Wahrheit zum Stillstand gekommen" sei, weil „dieses Darstellungsprinzip [...] mit dem für diese Teile geltenden ,Dämonischen' nicht vereinbar (ist)." 4 8 Auch Benedikt Jeßing sieht die anfangs verwirklichte „organologische Sinnkonstruktion" von Dichtung und Wahrheit durch die Erfahrung des Dämonischen als „des Inkommensurablen und nicht Einsichtigen in Geschichte und Biographie" unterlaufen, j a unterminiert 49 , was sich auch darin zeige, daß der zuerst souveräne Erzähler in der zweiten Hälfte des Werkes immer mehr hinter den das autobiographische Material nur noch ordnenden und montierenden Herausgeber zurücktrete. 50 Gleichgültig nun, wieweit man die praktischen Konsequenzen dieser neuen Lebensansicht gezogen sieht: A u f jeden Fall ha: Goethe damit zum Ausdruck gebracht, daß ihm das morphologische Modell für eine biographische Darstellung zu starr und schematisch erscheine, daß er damit die eigene Person und ihre Erfahrungen mit der Welt zu sehr nach einer vorgefaßten Entwicklungs- und Bildungsidee stilisiere und auf diese Weise dem „Grundwahren" 5 1 seines Lebens nicht gerecht werde. So hat Goethe im Verlauf der Niederschrift von Dichtung und Wahrheit mit befreiender Souveränität die Fesseln einer allzu engen und abgezirkelten Lebenskonstruktion gesprengt und, durch die überraschenden politischen Umbrüche dieser Jahre zusätzlich belehrt, ein neues Verständnis fur das Rätselhafte und Unberechenbare, für das Nichtbeherrschbare und Zielungewisse des menschlichen Lebens gewonnen. 52 Literarhistorisch gesehen, ist dieser Wandel der Goetheschen Lebensdeutung von der Nachbildung morpholo-
48
Schnur (Anm. 23), S.91. Jeßing: Artikel „Dichtung und Wahrheit" (Anm. 23), S. 328 f. 50 Ebd., S. 327 f. 51 Vgl. Goethes Bemerkung über Dichtung und Wahrheit im Brief an König Ludwig I. von Bayern, 12. Januar 1830: „ [ . . . ] denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken." W A IV, 50, S. 61. 52 Vgl. Paul Hankamer: Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1943, S. 120 f. - Hans Pyritz: Goethes Verwandlungen (1949). In: H. P.: Goethe-Studien. Hrsg. von Ilse Pyritz. Köln, Graz 1962, S. 4 f. - Stern (Anm. 23), S. 279. Gerhard Schulz: Chaos und Ordnung in Goethes Verständnis von Kunst und Geschichte. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 173-183; hier S. 180. 49
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gischer Gesetze bis zur Anerkennung jener Mächte, die Gesetz und Ordnung durchkreuzen, ein wichtiges und anschauliches Beispiel für seinen Abschied von der normativ-klassischen Periode, und es ist das Besondere an Dichtung und Wahrheit, daß sich dieser Umbruch innerhalb des Werkes selbst vollzieht; auf diese Weise vermag es nicht nur die Stufen und Wechselfälle des erzählten Lebens, sondern zugleich den gegenwärtigen Erfahrungswandel seines Erzählers zu spiegeln.
Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit W i l l man ein bestimmtes Thema, hier das Pietismus-Bild, in Dichtung und Wahrheit untersuchen, muß man sich vergegenwärtigen, daß ein solches Thema in einem gattungsbedingten Spannungsfeld steht. Bekanntlich hat Goethe im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit als Hauptaufgabe jeder Biographie die Darstellung des Individuums in seinen Zeitverhältnissen genannt, so daß jede Thematik, ja jedes Einzelmoment nur aus dieser ständigen Polarität von Ich und Welt zu verstehen ist. Das bedeutet, daß jeder Gegenstand in Dichtung und Wahrheit nicht aus historischer, sondern aus autobiographischer Perspektive geschildert und beurteilt wird, und so gilt für das Thema des Pietismus das gleiche, was Goethe von der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts als Gegenstand seines Rückblicks zu Beginn des 7. Buches bemerkt hat: „ [ . . . ] was ich gegenwärtig stück- und sprungweise davon zu sagen gedenke, ist nicht sowohl wie sie an und für sich beschaffen sein mochte, als vielmehr wie sie sich zu mir verhielt." (258) 1 Nur unter diesem Gesichtspunkt kann unser Thema sachgerecht behandelt werden, und da Goethe hier gleichfalls stück- und sprungweise vorgeht, müssen wir verschiedene Bücher des umfangreichen Werkes aufsuchen, um ein einigermaßen schlüssiges Gesamtbild zu gewinnen. Um uns andererseits nicht zu verzetteln, konzentrieren wir uns auf drei Hauptstellen, und zwar aus dem 1., dem 8. und dem 15. Buch. *
Die erste wichtige Stelle findet sich gegen Ende des 1. Buches. 2 Dort erwähnt Goethe als letztes Lehrfach den Religionsunterricht der Kinder, doch nur, um daran Kritik zu üben: „Doch war der kirchliche Protestantis-
1 Zitate mit Seitenangaben im Text (aus Bd. 10 mit vorangestellter römischer Bandzahl) nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg 1959. - Bd. 9: Dichtung und Wahrheit, 1.-13. Buch; Bd. 10: Dichtung und Wahrheit, 14.-20. Buch. 2 Das 1. Buch entstand in der 1. Hälfte 1811, eine genauere Datierung seiner Schlußabschnitte ist nicht möglich. Erstausgabe des Ersten Teils (1.-5. Buch) von Dichtung und Wahrheit: Oktober 1811. - Vgl. Momme Mommsen unter Mitwirkung von Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Bd. 2: Cacilia bis Dichtung und Wahrheit. Berlin 1958, S. 348-529; hier S. 348 f., 399.
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mus, den man uns überlieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral: an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen." (43) Sowohl der Inhalt dieses Unterrichts als auch die Art des Vortrags und seine Wirkung auf die Schüler werden durchwegs negativ gesehen. Das „Geistreiche" wird vermißt, die Erwartungen der „Seele" und des „Herzens" bleiben unerfüllt. Das Bild des „kirchlichen" Protestantismus ist also mehr durch Mängel und Leerstellen als durch positive Züge gekennzeichnet, und deshalb dient es auch nicht nur der Illustration des Religionsunterrichts, sondern noch mehr als Folie für andere religiöse Formen, deren Entstehung Goethe mit der Trockenheit der offiziellen Lehre erklärt, wenn er fortfährt: Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Hermhuter, die „Stillen im Lande", und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien. (43)
Mit diesen beiden Sätzen hat Goethe den Raum des häuslichen Religionsunterrichts verlassen und ihn kurz mit dem Raum der zeitgenössischen Kirchengeschichte vertauscht. Der Pietismus wird als separatistische Bewegung, also aus seiner Spannung gegenüber der „gesetzlichen Kirche" heraus definiert. 3 Dennoch spricht Goethe hier nicht als Kirchenhistoriker, die Ich-Perspektive ist nur scheinbar verlassen. Die verschiedenen Richtungen und Gruppen des Pietismus werden zwar genannt; sie werden aber nicht nach ihren theologischen oder frömmigkeitspraktischen Besonderheiten differenziert; sie werden nur als Namen zitiert, und zwischen den Zeilen wird dabei hörbar, daß Goethe gegenüber diesen gängigen Bezeichnungen distanziert bleibt, weil ihnen aus dem Munde der offiziellen Kirche allzuoft ein pejorativer Unterton beigemischt war. 4 Das geht deutlich aus 3 U m dieses Gegensatzes willen läßt Goethe die Variante des innerkirchlichen Pietismus, der als Reformbewegung im Sinne Speners auch im damaligen Frankfurt lebendig war, hier und auch sonst in Dichtung und Wahrheit bewußt außer acht. Selbst als Goethe im 4. Buch auf Johann Philipp Fresenius zu sprechen kommt, erwähnt er nur dessen Gegnerschaft zu den Herrnhutern als den „abgesonderten Frommen" (143), nicht aber, daß dieser selbst zu den (hallisch gesinnten) Pietisten gehörte, als Senior des Ministeriums das Haupt des kirchlichen Pietismus im Frankfurt der 1750er Jahre war. 4 Vgl. den Hinweis in einer frühen Streitschrift: „ [ . . . ] weil die Atheisten/Anabaptisten/ Menonisten/und dergleichen jederman verhasset/Papisten und Calvinisten bekante Secten seyn/der Quietisten auch bißhero in Zeitungen öffters nicht in guten gedacht worden; Als haben sie sich der Gelegenheit bedienet/und solche eyffrige Christen mit dergleichen Endung der Pietisten benennet/damit sie durch das Lateinische Wort/welches dem gemeinen Mann
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dem angefügten Relativsatz hervor, der sich durch ein „aber" von der üblichen Sicht abhebt und ein durchwegs positives Urteil über die abgesonderten Frommen ausspricht, indem er voller Verständnis ihren Separatismus mit dem einzigen Wunsch nach größerer Nähe zu Gott erklärt. Dieses wohlwollende Urteil beherrscht auch den nächsten Abschnitt, der wieder zur Welt des Knaben zurücklenkt und davon spricht, daß dieser „unaufhörlich" vom „Für und Wider" die Pietisten in den kirchlichen Kreisen Frankfurts gehört habe. Aber von den Meinungen der Pietisten-Gegner erzählt er nichts, wohl aber nennt er positive Charakterzüge der Abgesonderten: „ [ . . . ] ihre Sinnesweise zog an durch Originalität, Herzlichkeit, Beharren und Selbstständigkeit." (43) Nicht die Inhalte dieser Sinnesweise werden genannt, wohl aber ihre Eigenschaften und die daraus entspringende anziehende Wirkung auf andere. Mit „Originalität" mag Goethe auf die Rückkehr der Pietisten zu den biblischen Quellen und zum Urchristentum anspielen 5 , vielleicht auch auf die wieder erneuerte Idee der Wiedergeburt und auf die je einmalige Subjektivität der Inspirierten: mit „Herzlichkeit" meint er wohl die Erbauung des inneren Menschen und die gefühlvolle Frömmigkeit; mit „Beharren und Selbstständigkeit" zollt er ihrem neuen Stand der unmittelbaren Gotteskindschaft außerhalb der offiziellen Kirche volle Anerkennung. Mit diesen möglichen, aber nicht sicheren Anspielungen ist aber der Sinn dieses Tugendkatalogs nicht erschöpft. Mit „Originalität", „Herzlichkeit" und „Selbstständigkeit" sind zugleich Hauptpunkte der späteren Genieästhetik genannt, und so wird fast unmerklich schon bei der ersten Skizze des Pietismus in Dichtung und Wahrheit seine wichtige geistesgeschichtliche Rolle als Wegbereiter der künftigen neuen Literatur angedeutet. Vordergründig aber bleibt der Abschnitt noch immer in der Welt des Kindes, und hier nimmt die anschließende Anekdote vom frommen Klempnermeister, der von sich bekannte, er habe den gleichen Beichtvater wie König David, das Motiv der unmittelbaren Gottesbeziehung wieder
unbekant/dieselben eben so schlim/ja noch ärger abbildeten/und also bey jederman verdächtig machen möchten." Acta Pietistica oder Kurtzer Begriff der gesammten Schriften so beydes vor als wider die so genante Pietisten zu Leipzig, Hamburg, Gießen und anderer Orten publiziret worden. Nr. L V , Frankfurt 1692, S. 1. - Weitere Belege bei Hans-Jürgen Schräder: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz' Historie der Wiedergebohmen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra 283), S. 360-362. 5 Vgl. unten S. 144.
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auf, um damit zu einer analogen Idee des Kindes überzuleiten, das sich durch solche Erzählungen pietistischer Frömmigkeit habe aufgefordert gefühlt, sich Gott gleichfalls „unmittelbar zu nähern" (43), und dies mit dem Versuch eines Rauchopfers unternommen habe, dessen ausführliche Szene das 1. Buch bedeutsam schließt. Mit dieser feierlichen Verehrung des Schöpfers Himmels und der Erden mit Hilfe einer kunstvoll erbauten Pyramide aus Prachtstufen der väterlichen Naturaliensammlung und wohlriechenden Räucherkerzen an ihrer Spitze ahmt der junge Priester freilich keine pietistische Frömmigkeit nach; es ist vielmehr die kindliche Form einer naturreligiösen Liturgie, die Gott „ i n seinen Werken (aufsucht)", keiner Vermittlung „durch Christum" bedarf und höchstens „auf gut alttestamentliche" Weise das Opfer vollzieht (44). Wesentlich aber bleiben in diesem Kontext doch die Tertia comparationis: der Wunsch nach individueller Annäherung an Gott und der „sehr sonderbare" Weg dazu (43) in Form einer originellen, selbständigen und herzlichen Andacht. Denn im ganzen will die bewußt gebaute Folge der hier betrachteten Textpartien sagen, daß es gerade die Berichte über pietistische Lebens- und Frömmigkeitsform waren, die das Kind angeregt haben, aus dem trockenen Religionsunterricht den Weg zu einer phantasievollen Verehrung seines Schöpfers zu finden. Wenn dabei am Ende nach der mißlungenen Wiederholung des feierlichen Opfers die Warnung steht, „wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen" (45), so bleibt offen, ob Goethe mit „dergleichen Wegen" auch noch die pietistische Selbständigkeit mit einschließt oder vielmehr nur den hier geschilderten eigenen Sonderweg einer einsamen, außerhalb jeder Gemeinschaft gewagten Unmittelbarkeit zu Gott meint. Im letzteren Falle erschiene die Haltung der Pietisten als ein lebendiger und maßvoller Mittelweg zwischen den Extremen einer trockenen Kirchlichkeit und einer bedenklich eigenwilligen religiösen Zudringlichkeit. *
Während Goethe im 1. Buch seine früheste Erinnerung an die pietistische Welt nur als einen Bericht vom Hörensagen gestaltet, schildert er im 8. Buch, das die letzte Zeit in Leipzig und das darauffolgende Frankfurter Intervall von 1768/69 behandelt6, erstmals persönliche Begegnungen mit Vertretern dieser Bewegung.
6 A n der 2. Hälfte des 8. Buches, die den Umgang mit Langer in der letzten Leipziger Zeit und das Frankfurter Intervall 1768/69 behandelt, arbeitet Goethe vom 1. bis 10. März 1811 und revidiert sie von Mitte Juni bis Anfang August 1812; Erstausgabe des Zweiten Teils
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Bevor wir diese näher ins Auge fassen, sei auf ein grundsätzliches Darstellungsprinzip in Dichtung und Wahrheit hingewiesen. Wenn Goethe in diesem Werk Bekannte oder Freunde porträtiert, so stehen diese nie für sich. Ihre Porträts sind zugleich Spiegelbilder für das eigene Wesen, Urteil und Weltverhalten, so daß solche Begegnungen beide Partner in ihrem lebendigen Wechselverhältnis charakterisieren. Die fremden Figuren stehen aber auch insofern selten für sich, als sie oft eine soziale Gruppe oder geistige Strömung repräsentieren und daher als Mittelglieder zwischen Ich und Zeithintergrund fungieren. So repräsentiert der Großvater Textor als Stadtschultheiß die reichsgeschichtliche Tradition Frankfurts, der Vater das reichsstädtische Patriziat, Gretchen und ihr Bekanntenkreis den niederen Stand, Graf Thoranc die französische Kulturnation usw. Solche Fremdporträts facettieren dann das Jahrhundert in seinen konkreten gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, religiösen Zuständen, Vorgängen und Stimmungen und lassen es dadurch unmittelbar und individuell als eine das Ich bestimmende und bildende Macht erscheinen (vgl. 9: Vorwort zum Ersten Teil). Dies sei vorausgeschickt, um nun zwei in unserem Zusammenhang wichtige Porträts näher zu betrachten. Das erste stellt Ernst Theodor Langer vor, den Nachfolger Behrischs als Hofmeister beim Grafen Lindenau in Leipzig und später dann Nachfolger Lessings als Bibliothekar in Wolfenbüttel. Sein Porträt ist das letzte und bedeutendste derjenigen Freunde, die Goethe nach seinem Blutsturz in den letzten Leipziger Wochen (August 1768) liebevoll betreut, unterhalten und aufgemuntert haben. Gleich zu Beginn (333) betont Goethe Langers „lehrreichen Umgang" mit ihm und die Fähigkeit, den Heißhunger des Kranken nach Kenntnissen zu stillen. Daß es sich dabei auch um geistliche Gespräche gehandelt hat, kann man zunächst nur ahnen; erst später spricht Goethe deutlich von Unterhaltungen mit Langer über „religiöse Gesinnungen", über „die Angelegenheiten des Herzens, die auf das Unvergängliche Bezug haben" (334). Bevor aber die Inhalte dieser Gespräche mitgeteilt werden, unternimmt Goethe eine Einordnung Langers in die religiösen Strömungen der Zeit. Unter Hinweis auf das damalige Schwanken der christlichen Religion zwischen ihrem „Historisch-Positiven" und einem „reinen Deismus" (334) unterscheidet er Männer, die wie Schmetterlinge die Puppenhülle (nämlich ihren christlichen Glauben) wegwerfen, in der sie zu vollkommenen Deisten gediehen sind, von solchen, die wie Blumen der Wurzel und dem Mutterstamme (d.h. ihrer positiven Religion) treu bleiben und dadurch
(6.-10. Buch) von Dichtung 379, 416 f., 422.
und Wahrheit-.
Oktober 1812. - Vgl. Mommsen (Anm. 2), S. 351,
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erst die Frucht zur Reife bringen, nämlich eine Versöhnung von christlichem Glauben und Vernunftdenken erreichen. Zu dieser zweiten Gruppe rechnet Goethe seinen Freund Langer, weil dieser die Bibel vor allen anderen Überlieferungen bevorzugt und zu denen gehört habe, „denen ein unmittelbares Verhältnis zu dem großen Weltgotte nicht in den Sinn w i l l " (334 f.), dem vielmehr eine „ V e r m i t t l u n g " (335) durch irdische und himmlische Dinge notwendig gewesen sei. Vergleicht man diese Auskünfte über Langers theologische Position mit dem Ende des 1. Buches, so erscheint es zumindest denkbar, daß Langer pietistischer Gesinnung war; bestätigt aber wird es weder hier noch später. Auch ob Langer damals einer pietistischen Gemeinde nahestand und sich mit ihrer Glaubenspraxis auseinandersetzte, erfährt man nicht aus Dichtung und Wahrheit, kann es höchstens aus Goethes Briefen an ihn nach der Rückkehr von Leipzig erschließen. 7 Goethe hat in Dichtung und Wahrheit die genaue geistig-religiöse Ortsbestimmung Langers wohl vor allem deshalb vermieden, um sich desto freier als „getreuen [...] Proselyten" (335) des von Langer vorgetragenen Glaubens an die Bibel als ein göttliches Buch bekennen zu können. Einschränkend freilich erklärt er diese seine Empfänglichkeit für die himmlischen Dinge mit seinem Krankenlager, mit seinem Zustand eines „Duldenden, zart, j a schwächlich Fühlenden" (335) und kontrastiert deshalb auch bewußt Langers Skepsis gegen zu starke Empfindung und Schwärmerei mit dem „Gefühl und Enthusiasmus" des Kranken für das Neue Testament (335).
7 Siehe besonders die Briefe vom 8. September 1768, 24. November 1768 und 17. Januar 1769. In: Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 1. Berlin 1963, S. 245 f., 260, 263 f. - Hans-Jürgen Schräder nennt Langer den „pietistischen Jugendfreund Goethes" und zählt aus Langers „ i m ganzen vorrangig schöngeistig und literarisch-historisch [ . . . ] ausgerichteten Bibliothek" eine Reihe von Pietistica auf: autobiographische Schriften der Schurmann, von Petersen, Edelmann, J. J. Moser, Zinzendorf und Bernd, „ferner die Werke Dippels, die Kirchen= und Ketzer=Historie und andere Schriften von Arnold, auch einiges Camisarden- und inspiriertenschrifttum". Schräder (Anm. 4), S. 269, 492. - Vgl. dagegen Paul Raabe, der Zweifel daran äußert, daß Langer Pietist gewesen ist: „Es ist nicht anzunehmen, daß Langer selbst Pietist war. Die Briefe Goethes an ihn lassen eher die Vertrautheit mit dem Pietismus erkennen - die er auch Goethe vermittelte - als ein wirkliches Ergriffensein. Weder in Langers großer Bibliothek gab es bemerkenswerte Pietistica, noch lassen sich aus den Stammbucheintragungen und aus dem späteren Leben innere Bindungen an den Pietismus erkennen." Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Halle 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 6), S. 62.
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Mit Ernst Theodor Langer wird so in Dichtung und Wahrheit ein sympathischer, kluger, ernsthafter und glaubensfester Mann vorgestellt, dessen Missionserfolg bei seinem jüngeren Freund hier durchaus verständlich erscheint. Wie stark dieser Erfolg tatsächlich war, d. h. wie sehr Goethe damals sich der pietistischen Gedanken- und Glaubenswelt genähert hat, wird in Dichtung und Wahrheit auf dreifache Weise verschleiert: Zum einen wird die ,Bekehrung' auf eine Erneuerung der Ehrfurcht vor der Bibel als einem heiligen Buch beschränkt, was zudem als eine bloße Rückkehr zu früherer Ansicht gedeutet wird; zum andern wird dieses neue Interesse für das Evangelium mit dem empfindlichen Zustand des Kranken erklärt; zum dritten wird sorgfältig verschwiegen, wieweit es sich bei Langer um einen Vertreter pietistischer Glaubensrichtung handeln könnte. Eine ähnliche Zurückhaltung übt der Autobiograph in der nächsten einschlägigen Textpartie, die das Frankfurter Intervall nach der Rückkehr von Leipzig beschreibt. Neben Schwester und Mutter erscheint deren Base und Freundin Susanna Katharina von Klettenberg als eine bedeutende Gestalt am Krankenlager des Heimgekehrten. Sie wird als eine der vorzüglichsten Freundinnen der Mutter eingeführt, die alle „gebildete und herzliche Gottesverehrerinnen" (338) gewesen seien. Nur das Attribut „herzlich" gibt dem aufmerksamen Leser einen Fingerzeig, welcher Art diese Gottesverehrung war, und einen zusätzlichen Hinweis gibt die Bemerkung (339), der „sehr nette Anzug" des Fräuleins habe „an die Kleidung Herrnhutischer Frauen (erinnert)." Damit will Goethe aber zugleich andeuten, daß auch ihre Frömmigkeit an die der Herrnhuter erinnert habe, ohne mit ihr identisch zu werden, daß die Klettenberg zwar der Frankfurter Brüdergemeine nahegestanden habe, aber nie ihr Mitglied geworden sei. Diese ihre Selbständigkeit gegenüber ihrer pietistischen Umgebung betont Goethe auch dadurch, daß er bei diesem Porträt zweimal auf ihr poetisches Bild 8 in den Bekenntnissen einer schönen Seele verweist und dabei als wichtige Übereinstimmung beider Gestalten das Hervorgehen ihrer „religiösen Gesinnungen" aus den „sittlichen Erfahrungen" betont (339). Goethe stellt Fräulein von Klettenberg aber auch den religiösen Kreisen Frankfurts direkt gegenüber und begründet ihre persönliche Spannung zu anderen Frauen, die auf dem gleichen Heilsweg begriffen waren, sowohl mit der „Lebhaftigkeit und Eigenheit ihres Geistes" (339) als auch mit ihrem besonderen Lebensgang und ihrem vornehmen Stand. Dadurch hebt x Zum fiktiven Charakter der Bekenntnisse einer schönen Seele gegenüber den realen pietistischen Lebensläufen der Zeit vgl. meine Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert (Stuttgart 1977), S. 124-129.
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er Susanna von Klettenberg als eine Herrnhuterin auf eigene Hand deutlich aus ihrer Umgebung heraus, die er nun umgekehrt und gleichsam mit den Augen des Fräuleins einigermaßen kritisch mustert. Er definiert diese Umgebung durch zwei extreme Positionen: A m einen Ende repräsentiert Frau Griesbach (eine Tochter des Hallenser Professors Rambach) eine strenge, trockne, gelehrte und deshalb einen „großen Apparat" (339) mit sich fuhrende Variante des Pietismus, womit Goethe auf das Hallische Bekehrungssystem anspielt; ans andere Ende rückt er das Gros der übrigen, nicht namentlich genannten Frauen, die sich mit der Entwicklung ihres Gefühls begnügen und sich daher an eine etwas eintönige Terminologie halten. Zwischen diesen Extremen sieht Goethe das Fräulein von Klettenberg ihren Weg gehen und sich dabei im Bilde des Grafen Zinzendorf spiegeln, wobei ihm wiederum dessen höhere Geburt zur Begründung dieser Vorliebe dient. Diese unter allen Gesinnungsgenossinnen herausragende Gestalt tritt nun im zweiten Teil dieses Porträts mit dem jungen Goethe in Kontakt, und zwar in einem exemplarischen, beide Gesprächspartner konturierenden Disput über den gnädigen Gott. A u f der einen Seite steht ihre Deutung seiner Unruhe in dieser Umbruchszeit als Zeichen eines unversöhnten Gottes, auf der anderen sein freimütig geäußerter Dünkel, er habe umgekehrt Gott zu verzeihen, daß dieser seinem guten Willen nicht genug geholfen habe. Wenn dann der Autobiograph diesen Streit „auf die freundlichste Weise" (340) und mit humorvoller Nachsicht von seiten der Klettenberg enden läßt, so faßt er zum Schluß dieses Porträts die ganze Liebenswürdigkeit und überlegene Geistigkeit seiner Gesprächspartnerin, aber auch seine eigene herzliche Anerkennung dieser außerordentlichen Frau zusammen. Zugleich soll aus dem Gespräch eine deutliche Distanz Goethes gegenüber einem wichtigen Theologumenon des Pietismus spürbar werden: Der Übereinstimmung mit Langer über die Verehrung der Bibel folgt hier wenige Seiten später die entschiedene, fast provokante Ablehnung der zentralen pietistischen Gnadenlehre. Die Situation des Frankfurter Intervalls gestattet es Goethe aber nun, noch einen weiteren und für das späte 18. Jahrhundert signifikanten Aspekt der pietistischen Sinnesart sehr anschaulich zu demonstrieren. Denn auch der am Krankenlager erscheinende Arzt gehörte, wie es ausdrücklich heißt, „unter die abgesonderten Frommen" (340) und wird als ein Mann charakterisiert, der sich „ i n dem frommen Kreise" ein besonderes Zutrauen durch „geheimnisvolle selbstbereitete Arzneien" und besonders durch ein Wundersalz erworben hatte, von dem „nur unter den Gläubigen die Rede (war)" (341). Damit wird dieser „fromme Kreis" fast zu einem Geheimbund stili-
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siert, und indem Goethe dabei vom Begriff der „Gläubigen" zur Wendung vom „Glauben" an das „Universalmittel" (341) hinüberspielt, schiebt er hier religiösen und naturkundlichen Bereich unmerklich ineinander und schlägt zugleich die Brücke zum hernach breit ausgeführten Thema der „mystischen chemisch-alchemischen Bücher" (341) und ihres Studiums zum heimlichen Gewinn jenes Mittels. Diese enge Verbindung von Pietismus und hermetischer Medizin wird von Goethe noch zusätzlich dadurch betont, daß er an dieser Stelle die Überzeugung der Klettenberg formuliert, es sei „das Heil des Körpers [...] zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt" (341), um damit ihre liebevolle Sorge für die Heilung des Kranken als Ursache ihrer alchimistischen Interessen zu erklären. Dies fuhrt schließlich nicht nur zur dramatischen Szene der wunderbaren Heilung des auf den Tod liegenden Kranken durch das geheimnisvolle Salz, sondern auch zur detaillierten Schilderung alchimistischer Experimente und auch schon chemischer Studien des Rekonvaleszenten (letzterer anhand der Schriften des Empirikers Boerhaave), und ebendiese Themenfolge soll demonstrieren, wie sehr Goethes damalige intensive Berührung mit dem pietistischen Zirkel Frankfurts sein Interesse an der Naturwissenschaft geweckt und ihn schon damals von der Alchimie zur wissenschaftlichen Chemie weitergeführt hat. 9 M i t der Skizze seines damaligen Studiums neuplatonisch-pansophischer Bücher, besonders von Wellings Opus mago-cabbalisticum, bereitet Goethe zugleich auf sein jugendliches Glaubensbekenntnis vor, das er in Gestalt eines Weltentstehungsmythos an das Ende des 8. Buches gesetzt hat. Als Vorbedingung jedoch für die Kühnheit einer solchen „seltsamen" Welterbauung (350) nennt er unmittelbar davor eine weitere, wiederum pietistische Quelle, nämlich Gottfried Arnolds „Kirchen- und Ketzergeschichte". Die Kurzcharakteristik Arnolds: „Dieser Mann ist nicht ein bloß reflektierender Historiker, sondern zugleich fromm und fühlend" (350), deutet wieder nur indirekt seine pietistische Herkunft an. Goethe erinnert sich vor allem an seine Freude über das günstigere Bild mancher Ketzer, das ihm Arnolds Geschichtswerk geboten habe, und an seine daraus gezogene Folgerung, daß er sich gleichfalls „seine eigene Religion [...] bilden könne" (350). Goethe sieht hier also Arnolds Bedeutung für seinen 9 Auch wenn Herman Boerhaave seine empirische Chemie auf hermetischen Grundlagen aufgebaut hat, steht er doch nicht mehr im Räume der Alchimie. Entsprechend verdeutlicht Goethe mit seinem durch „Indessen" (344) eingeleiteten Satz den eigenen Schritt vom okkulten zum wissenschaftlichen Bereich. Vgl. dagegen Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969, S. 135.
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anschließend formulierten Privatmythos nicht in inhaltlichen Angeboten, sondern in der Aufmunterung, ein eigenes, eigenwilliges, von kirchlichen Normen abweichendes und also ketzerisches Credo zu bekennen. Die Analogie zwischen dem Ende des 1. und dem Ende des 8. Buches von Dichtung und Wahrheit ist evident: In beiden Fällen regt der Pietismus mit seinem Grundsatz geistiger Selbständigkeit das erlebende Ich zu eigener religiöser Tat an, dort das Kind zu einem phantasievollen Naturopfer, hier den Heranwachsenden zu einem individuellen Glaubensbekenntnis; beide Male wird der Begegnung des Ich mit dem Pietismus eine hervorragende Rolle bei der Entfaltung der eigenen Originalität zuerkannt. Dieser Schluß des 8. Buches macht auch verständlich, daß Goethe in der ganzen Erzählung des Frankfurter Intervalls von 1768/69 nirgends seine damalige Teilnahme an den Exercitia Religionis der frommen Gesellschaft um Fräulein von Klettenberg erwähnt, auch nicht jene Versammlung dieses Kreises in seinem Elternhaus, von der uns sein Brief an Langer vom 17. Januar 1769 so anschaulich berichtet. 10 Offensichtlich wollte er im Rückblick jeden Eindruck einer näheren Konnexion mit frommen Zirkeln oder gar den einer Erweckung vermeiden, wie sie der gleiche Brief unter dem Bilde des endlichen Erhaschtwerdens durch den Heiland andeutet. 11 Solche Bekenntnisse der Bindung an eine wie immer geartete religiöse Gemeinschaft hätten nicht in die für das 8. Buch intendierte Linie seiner selbständigen Entwicklung gepaßt, vor allem wäre dann der voll orchestrierte Schlußpunkt des ganz persönlichen Weltmythos nicht mehr möglich gewesen. *
Dennoch ist damit die Beschäftigung mit der Brüdergemeine in Dichtung und Wahrheit noch nicht abgeschlossen. Im 15. Buch, also gegen Ende des Dritten Teils, führt Goethe das Porträt der Susanna von Klettenberg zu einer letzten Steigerung und berichtet dann vom Abschluß seiner Beziehung zu den Herrnhutern. 12 Zu Beginn des Buches zeichnet er die heitere Gemütsruhe seiner „edlen Freundin von Klettenberg" (X, 41), und um diesen ihren Wesenszug zu bekräftigen, erzählt er davon, wie ihm eines Abends die am Fenster sitzende Kranke bei untergehender Sonne „wie
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Der junge Goethe (Anm. 7), Bd. 1, S. 263. Ebd., Bd. 1, S. 264. 12 Diese Anfangsabschnitte des 15. Buches diktiert Goethe am 25. März 1813; Erstausgabe des Dritten Teils (11.-15. Buch) von Dichtung und Wahrheit: Mai 1814. - Vgl. Mommsen (Anm. 2), S. 356, 448, 479. 11
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verklärt vor(kam)" und er sich gedrängt fühlte, diese Szene zu zeichnen und das Bild durch ein Lied zu supplieren, das er anschließend als Adresse an eine auswärtige Freundin direkt wiedergibt: Sieh in diesem Zauberspiegel Einen Traum, wie lieb und gut, Unter ihres Gottes Flügel, Unsre Freundin leidend ruht. Schaue, wie sie sich hinüber Aus des Lebens Woge stritt; Sieh dein Bild ihr gegenüber Und den Gott, der für euch litt. Fühle, was ich in dem Weben Dieser Himmelsluft gefühlt, Als mit ungeduld'gem Streben Ich die Zeichnung hingewühlt. (X, 41 f.)
Selten genug zitiert Goethe in Dichtung und Wahrheit aus seinen Jugendgedichten; tut er es doch gelegentlich, so sind es entweder satirische Zeilen oder aber Verse, die eine bestimmte gefühlsbetonte Situation zusammenfassen und so das zuvor prosaisch Skizzierte poetisch überhöhen. Dadurch, daß er hier zuerst von einer Zeichnung, dann von einem supplierenden Gedicht spricht und dieses dann selbst zitiert, haben wir eine jener wiederholten Spiegelungen vor uns, worin er das Grundwahre eines Erlebnisses, hier seiner Beziehung zu einer bis in sein Alter hochverehrten Gestalt, zum endgültigen Bild verdichtet. Die Überleitung zur letzten Begegnung mit den Herrnhutern bildet der Hinweis auf die Rolle, die das Ich in diesem Gedicht spielt, nämlich die des Auswärtigen, des Fremden, ja des Heiden, und Goethe begründet seine allmähliche Entfernung vom pietistischen Bekenntnis damit, daß „ich dasselbe mit allzu großem Ernst, mit leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht hatte" (X, 42). Seine spezifische Neigung zur Brüdergemeine führt er dabei auf ihre Intention zurück, den Zustand des Urchristentums fortzusetzen, „ w o sich alles noch frisch und unmittelbar geistig darstellt" (X, 42) und sich schöne Ruhe und lebendige Tatkraft verbinden. Dieses rundum positive Bild des Herrnhutertums begründet Goethes Bekanntschaft mit den „trefflichen Männern [...] auf dem Synodus zu Marienborn" (X, 43) und
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sein ehrerbietiges Urteil über sie: Sie „hatten meine ganze Verehrung gewonnen, und es wäre nur auf sie angekommen, mich zu dem Ihrigen zu machen." (X, 43) Nach diesem Höhepunkt folgt die überraschende Wende durch die Entdeckung schwerwiegender dogmatischer Differenzen zwischen Goethe und den Herrnhutern über die verdorbene oder nicht völlig verdorbene Natur des Menschen und durch den daraus resultierenden Vorwurf des Pelagianismus von seiten der Brüder. 13 Die unterschiedliche Auffassung über die Gnadenlehre bei Goethe und der Klettenberg im 8. Buch wird jetzt verschärft wieder aufgenommen und zur Ursache für den endgültigen Abschied von der Brüdergemeine erklärt. Und wie im 8. Buch die Ketzerhistorie des frühen Pietisten Gottfried Arnold Goethe zu einer eigenen Religion ermuntert hatte, so hat im 15. Buch sein Abschied von der Brüdergemeine genau die gleiche Wirkung, da Goethe ihn zum Anlaß nimmt, sich „ein Christentum zu meinem Privatgebrauch" (X, 45) zu bilden. Aber noch mehr als im 8. Buch bewirkt jetzt die religiöse Selbständigkeit zugleich die Aktivierung 1 4 des produktiven Talents: Goethe leitet über zur Entstehung seiner Prometheus-Dichtung als einer auf sich selbst reflektierenden Poesie. *
Zusammenfassend können wir festhalten: In Dichtung und Wahrheit hat Goethe in einer sich steigernden thematischen und motivischen Folge alle wichtigen, auf verschiedenen Altersstufen stattfindenden Begegnungen des 13
Goethes Brief an Johann Friedrich Heinrich Schlosser vom 15. Januar 1813 (zitiert Mommsen [Anm. 2], S. 442) belegt, daß Goethe bei der Vorbereitung dieses Abschnitts in David Cranz' Alte und Neue Brüder=Historie (2. Auflage Barby 1772) den „ § 304. Kurze Nachricht von dem [Marienborner] Synodo 1769" (S. 862-868) gelesen hat. Darin wird S. 863 ff. ein umfangreiches Protokoll über die Verhandlungen des Synodus wiedergegeben, woraus von den „practischen Erinnerungen" an erster Stelle zitiert wird: „1.) Je mehr zu unsern Zeiten der Pelagianismus, oder die irrige Meinung von den natürlichen Kräften des Menschen, sich selbst zu bessern, die Oberhand zu gewinnen scheint: desto mehr haben wir Ursach, darüber zu halten, daß die Lehre von dem Verderben der menschlichen Natur rein und lauter unter uns getrieben werde." (S. 865) Dieser Satz mag Goethe angeregt haben, seinen Besuch des Synodus zu Marienborn 1769 und seine in den darauffolgenden Jahren geführten Gespräche mit Herrnhutern über Pelagianismus und Verdorbenheit der menschlichen Natur bei der Schilderung dieser letzten Begegnungen mit der Brüdergemeine in einen wenn auch lockeren Kausalzusammenhang zu bringen. - Zu Goethes Besuch in Marienborn vgl. Raabe (Anm. 7), S. 81-84. 14 Das bedeutet freilich noch nicht, daß damit eine „Transformation" des Religiösen ins Ästhetische, , j a die Vernichtung des theologischen Gehalts zugunsten des Dichterischen" geschieht (so Bernd Witte: Autobiographie als Poetik. Zur Kunstgestalt von Dichtung und Wahrheit. In: Neue Rundschau 89 [1978], S. 384-401; hier S. 391 f.). In Dichtung und Wahrheit ist der religiöse Bereich nicht lediglich Metapher und Gleichnis, bleibt vielmehr ein historischer Gegenstand, auch wenn an seine Darstellung das autobiographische Ich die Entdeckung eigener Originalität und Produktivität knüpft.
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autobiographischen Ich mit dem Pietismus, sei es mit einer spezifischen Richtung, sei es mit einer repräsentativen Einzelgestalt, durchaus schattierend, aber im ganzen positiv gezeichnet, indem er der pietistischen Bewegung jedesmal eine Außenseiterrolle im geistigen Leben der Zeit attestiert und ihr deshalb eine stets produktive Wirkung auf das heranwachsende Ich in religiöser, philosophischer und ästhetischer Hinsicht zuerkennt. So wird die Bedeutung des Pietismus gleichermaßen für den Menschen wie für den Poeten hervorgehoben und ihm damit eine zentrale Rolle in der Darstellung dieses Künstlerlebens zugesprochen.
Goethes Italienische Reise
Die Reise 1786-1788 Als Goethe am 3. September 1786 aus Karlsbad nach Italien aufbricht, erfüllt er sich mit dieser Reise einen lange gehegten Jugendwunsch. Die begeisterten Erzählungen des Vaters über seine eigene Italienreise (1740), die römischen Prospekte im Vorsaal des elterlichen Hauses in Frankfurt und die kleine Naturaliensammlung, die der Vater aus Italien mitgebracht hatte, beschäftigten von früh an die Phantasie des Kindes und ließen ihm gerade dieses Land als die faszinierende Fremde schlechthin erscheinen. Doch obwohl sich ihm in den siebziger Jahren öfters die Gelegenheit einer Fahrt nach Italien bot, trat er damals instinktiv noch nicht den Weg nach Süden an. Schon 1770 wollten ihn Raffael-Teppiche, die beim Durchzug der Königin Marie-Antoinette in Straßburg ausgehängt waren, nach Italien verfuhren. Doch Goethe widersteht: „Nur nicht über's Jahr. Das ist mir zu früh; ich habe die Kenntniße noch nicht die ich brauche, es fehlt mir noch viel. Paris soll meine Schule seyn, Rom meine Universität." 1 Nicht nur, daß Rom schon hier als Höhe- und Schlußpunkt künftiger Welterfahrung gesehen wird; es erscheint auch schon das Motiv der Schule, des Lernens, das später die Briefe aus Italien (und die Italienische Reise) wieder aufnehmen werden. Auch auf seinen beiden Schweizer Reisen 1775 und 1779 hat Goethe der Versuchung widerstanden, nach Italien hinunterzugehen, beide Male ist er auf dem St. Gotthard wieder nach Norden umgekehrt. Als er dann 1786 endgültig am Brenner nach Süden weiterreist, spürt er die Bedeutung dieses Schrittes für sein ganzes Leben. A n Charlotte von Stein schreibt er am 9. September: „Von hier fliesen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland diesen hoff ich morgen zu folgen. [...] Gedenck an mich in dieser wichtigen Epoche meines Lebens." 2
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Goethe an Ernst Theodor Langer. Straßburg, 29. April 1770. In: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1, Hamburg 1962, S. 107. 2 Goethe an Charlotte von Stein. [ A u f dem Brenner] 9. September 1786. In: Goethe, Tagebuch der Italienischen Reise 1786 [= Reise-Tagebuch für Frau von Stein]. Hrsg. und erläutert von Christoph Michel. Frankfurt am Main 1976, S. 25.
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Nun war Goethe nicht der erste, der im 18. Jahrhundert nach Italien reiste. Schon seit der Barockzeit besuchte man besonders Rom, um seine Kenntnisse zu erweitern und sich zu bilden. Aber schon Winckelmann brachte einen neuen Sinn in diese Bildungstour. Zwar heißt es auch noch bei ihm: „ I n Rom, glaube ich, ist die hohe Schule für alle Welt", aber er fügt hinzu: „und auch ich bin geläutert und geprüfet." 3 Für ihn hat die Romfahrt nicht nur den Sinn einer Wissenserweiterung, sondern den Wert eines tiefen Erlebnisses, das er nun auch anderen vermitteln will: „Ich glaube ich bin nach Rom gekommen, denenjenigen die Rom nach mir sehen werden die Augen ein wenig zu öffnen." 4 Goethe hat wohl von Anfang an dieses tiefere Erlebnisziel Winckelmanns intendiert, als er sich im Sommer 1786 endlich entschloß, den immer wieder hinausgeschobenen und nun zur Reife gediehenen Lieblingsplan auszuführen, und so müssen wir zuerst nach den eigentlichen Gründen fragen, die gerade um diese Zeit solchen Entschluß herbeigeführt haben. Ein erster Grund war das zunehmende Mißverhältnis zwischen seiner dichterischen Arbeit und den vielfältigen Tätigkeiten in seinem Ministeramt, die den größten Teil seiner Zeit verschlangen. Seine Existenz drohte mehr und mehr zu zersplittern, und sein poetisches Schaffen mußte darunter am meisten leiden. Daher kam es, daß im ersten Weimarer Jahrzehnt (1775-1786) Goethe zwar sehr viel begonnen, manche Pläne geschmiedet, aber außer Gedichten so gut wie nichts vollendet hat: Egmont, Iphigenie, Tasso, der neue Roman Wilhelm Meisters theatralische Sendung, das philosophisch-religiöse Epos Die Geheimnisse - nicht eines von diesen Werken wurde damals fertig. Es ist die Zeit eines Umbruchs, des Abschieds von einer nur subjektiven Dichtung, wie sie der Sturm und Drang gerade beim Frankfurter Goethe in großartiger Übersteigerung hervorgebracht hatte, und der Hinwendung zu einer höheren Objektivität, des Strebens nach Allgemeingültigkeit, nach einer gemilderten Form, die dem neuen Humanitätsideal genau entsprechen sollte. Aber solches Streben konnte in diesen Jahren noch nicht zu einem befriedigenden Ziel gelangen; darum stockte der Tasso, deshalb kam der Roman nicht weiter, darum konnte auch der Faust nicht weitergeführt werden. Es fehlte noch das gültige Muster für das Leben wie für die Kunst, und Goethe mochte ahnen, daß vielleicht, wenn überhaupt, im Süden solche Musterbilder für ihn bereitliegen könn3 Winckelmann an Johann Michael Franke. Rom, 4. Februar 1758. In: Johann Joachim Winckelmann, Briefe. Hrsg. von Walther Rehm. Kritisch-historische Gesamtausgabe. Bd. 1, Berlin 1952, S. 326. 4 Winckelmann an Hieronymus Dieterich Berendis. Rom, 7. Juli 1756. In: Winckelmann, Briefe (Anm. 3), Bd. 1,S. 235.
Goethes Italienische Reise
ten. Der eingeengte Norden jedenfalls, mit seinem alltäglichen Pflichtenkreis und der allzu strengen Bindung an die Gesellschaft eines kleinstädtischen Hofes, konnte ihm auf Dauer seine Ansprüche als Künstler und seine Bereitschaft, der Gesellschaft zu dienen, nicht in wünschenswerten Einklang bringen. Sein Lebensideal suchte nach neuen Maßstäben, und er glaubte und hoffte, sie in Italien zu finden. Dazu kam ein zweites. Sein Liebesverhältnis zu Charlotte von Stein mußte für Goethe eine schmerzliche und auf die Dauer unbefriedigende Entsagung bedeuten. Noch aus Italien (im Aufbruch von Rom nach Neapel) schreibt er ihr: „ A c h liebe Lotte du weißt nicht welche Gewalt ich mir angetan habe und antue und daß der Gedanke dich nicht zu besitzen mich doch im Grunde, ich mags nehmen und stellen und legen wie ich w i l l aufreibt und aufzehrt. Ich mag meiner Liebe zu dir Formen geben welche ich will, immer immer - Verzeih mir daß ich dir wieder einmal sage was so lange stockt und verstummt." 5 Diese beiden Konflikte, die immer unerträglicher werdende Bürde der vielfältigen und zersplitternden amtlichen Tätigkeiten und die tragische Not einer unerfüllbaren Liebe, haben wohl in Goethe die Ahnung rascher lebendig werden lassen, daß im Süden solche Spannung weniger fühlbar sei. So wurde seine Reise zur Flucht - aber nicht, um dem Konflikt zu entgehen, sondern um als ein Erneuerter zurückzukehren, um die Bindung an den Herzog wie an die Geliebte auf eine neue Weise zu festigen. Um dieses wichtige Unternehmen ungestört und vor allem ohne lästige Begleitung durchführen zu können, verheimlichte Goethe seinen Freunden und selbst dem Herzog das Ziel seiner Reise, sprach statt dessen von einer mineralogischen Exkursion ins thüringische Gebirge von wenigen Wochen und lüftete erst bei seiner Ankunft in Rom das sorgfältig gehütete Geheimnis. Von Karlsbad fuhr er über Eger und Regensburg, München und Innsbruck nach Trient und an den Gardasee, blieb nach dem Besuch von Verona und Vicenza für vierzehn Tage in Venedig und eilte dann in rascher Fahrt über Florenz, wo er sich auf der Hinfahrt nur drei Stunden aufhielt, und Assisi nach Rom als seinem eigentlichen Ziele, das er am 29. Oktober erreichte. Außer dieser „Hauptstadt der Welt" (32, 125 u. ö. ) 6 wollte er ursprünglich nur noch Neapel sehen; aber als er sich dort im März 1787 für 5 Goethe an Charlotte von Stein. Rom, 21. Februar 1787. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 2, S. 50. 6 Zitate aus Goethes Italienischer Reise (mit Seitenangaben in Klammern) nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe (= HA). Bd. I I . Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Herbert von Einem. München 8 1974.
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etwa vier Wochen aufhielt, regte sich in ihm der Wunsch, von dort nach Sizilien überzusetzen und so sein Bild von Italien abzurunden. Sechs Wochen lang (von April bis Mitte Mai 1787) bereiste Goethe mit dem Maler Kniep diese Insel von Palermo über Agrigent und Catania nach Taormina und kehrte von Messina aus nach Neapel und schließlich nach Rom zurück, wo er Anfang Juni wieder eintrifft, um dort für fast noch ein Jahr seinen zweiten römischen Aufenthalt zu nehmen. Erst am 23. April 1788 trat Goethe die Heimreise an: Über Florenz und Mailand, wo er sich jeweils mehrere Tage aufhielt, nahm er seinen Weg durch die Schweiz und kam über Konstanz, Biberach und Nürnberg am 18. Juni 1788 wieder in Weimar an mehr als eindreiviertel Jahre hat diese seine erste Italienreise gedauert. Goethe reiste allein und inkognito als „Filippo Miller, Tedesco, Pittore" 7 , um allen gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entgehen und sich ganz den Landschaften und Städten Italiens, seinen Altertümern, seinen Kunstschätzen und seinem Volksleben zu widmen. A u f der Fahrt durch die Alpen geht er vor allem seinen geologischen und mineralogischen Interessen nach, im botanischen Garten von Padua (und später dem von Palermo) sucht er nach der Urpflanze. In Verona begegnet ihm mit der Arena erstmals antike Architektur, in Vicenza bewundert er die Bauten Palladios. In Venedig erblickt er zum ersten Mal das Meer und beobachtet Ebbe und Flut der Lagunen, vor allem aber nimmt er hier das Leben des Volkes wahr, auf den Straßen und Plätzen, im Theater und in Gerichtssitzungen. In Rom findet Goethe geselligen Kontakt im Kreis der dortigen deutschen Künstler, mit Tischbein, Angelica Kauffmann, Johann Heinrich Meyer, Kniep, Trippel u. a. In ihrer Begleitung konzentriert er sich zunächst auf den Besuch antiker Denkmäler: von den Ruinen des Palatins und Colosseums über die Cestius-Pyramide bis zum Pantheon, von den Aquädukten bis zu den Grabmälern der Via Appia; bald auch studiert er Statuen, Gemmen und Münzen in Museen und Privatsammlungen. Beim Rom der Renaissance schwankt er, ob er mehr den Raffael der Stanzen oder den Michelangelo der Sistina bewundern solle. In und um Neapel interessiert er sich erneut für das Volksleben, doch beeindruckt ihn hier vor allem die Schönheit der Landschaft; das vulkanische Gestein weckt sein besonderes Interesse, so daß er mehrfach den gerade tätigen Vesuv besteigt. Pompeji und Herculaneum werden besucht, auf zwei Ausflügen nach Paestum erlebt
7 So im Einwohnerverzeichnis der römischen Pfarrei S. Maria del Populo ( „ L i b r o dello Stato d e l l ' A n i m e " ) 1787 und 1788, nach: Horst Claussen: „Gegen Rondanini über...". Goethes römische Wohnung. In: Goethe-Jahrbuch 107 (1990), S. 200-216; hier S. 211 und die Abb. 10 und 11.
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Goethe erstmals griechische Tempel. Weitere Beispiele lernt er in Segesta und Agrigent auf Sizilien kennen, dessen Landschaften um Palermo und Taormina er als homerisch empfindet. Nach Rom zurückgekehrt, vertieft er, zusammen mit den befreundeten Künstlern, seine früheren Studien der Altertümer und Kunstsammlungen, besonders der Statuen, und kommt von da zu einem intensiven Studium der menschlichen Gestalt. Hand in Hand damit gehen, von dem deutschen Maler Philipp Hackert angeleitet, seine malerischen und zeichnerischen Bemühungen, die entscheiden sollen, ob er zur bildenden Kunst oder zur Poesie geboren sei; am Ende siegt die Dichtkunst - eine Einsicht, die Goethe als ein wesentliches Ergebnis seines Italienaufenthalts betrachtet hat. Mitschuldig an diesen langen Zweifeln war Goethes Beschäftigung mit eigenen Werken während der ganzen Reise. Er hatte mehrere Manuskripte eingepackt, um sie in Italien für die im Erscheinen begriffene erste Gesamtausgabe seiner Schriften (1787-1790 bei Göschen in Leipzig) zu Ende zu führen. Aber außer einigen Singspielen hat Goethe nur die VersIphigenie und Egmont abgeschlossen, während er Tasso und Faust nur unwesentlich zu fördern vermochte und ihre Manuskripte wieder nach Weimar zurückbrachte, um sie erst dort zu vollenden. Wichtiger fast als diese Arbeiten waren ihm in Italien das Reisetagebuch für Frau von Stein, das er von Karlsbad bis zur Ankunft in Rom gefuhrt hat, und die regelmäßigen Briefe an die Freunde nach Weimar (vor allem an den Herzog, an Frau von Stein, an das Ehepaar Herder und an Knebel), in denen er seine Begegnungen und Erlebnisse, Beobachtungen und Entdeckungen in Rom, Neapel und auf Sizilien schildert. Sowohl mit dem Reisetagebuch als auch mit den Briefen aus Italien will sich Goethe seiner Erfahrungen in diesem Land versichern und zugleich die Empfänger seiner Briefe in allen Details daran teilnehmen lassen. Goethes Schilderungen waren denn auch so anregend, daß sowohl die Herzoginmutter Anna-Amalia als auch Herder Lust bekamen, gleichfalls eine Reise nach Italien zu unternehmen, was sie bald nach Goethes Rückkunft auch verwirklichten.
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Das Reisewerk Entstehung und Veröffentlichung Sowohl das Reisetagebuch für Frau von Stein als auch die Briefe aus Italien an die Freunde gedachte Goethe von vornherein später als selbständiges Werk zu veröffentlichen. Schon zu Beginn der Reise, am 14. Oktober 1786 in Venedig, macht er Charlotte von Stein, zugleich mit der Ankündigung einer ersten Sendung seines Tagebuchs, den Vorschlag: „Wenn du es nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und ließest was dich allein angeht, oder du sonst denkst weg; so fänd ich wenn ich wiederkomme gleich ein Exemplar in das ich hineinkorrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte." 8 Nach der Rückkehr aus Italien hat Goethe dann zwar von Frau von Stein das Reisetagebuch und auch seine Briefe an sie zurückerbeten, hat diese Materialien aber damals nicht bearbeitet, da nach dem allzu kühlen Empfang durch die Freunde dem Zurückgekehrten jede Lust vergangen war, seine italienischen Erlebnisse mündlich oder schriftlich mitzuteilen, j a ihm alle Aufzeichnungen der Reise widerwärtig geworden waren. Herder, der Goethes Tagebuch gerne zur Vorbereitung der eigenen Italienreise benutzt hätte, erhielt Ende Juli/Anfang August 1788 eine ablehnende Antwort: „Die Abschrift meines Reise Journals gäbe ich höchst ungerne aus Händen, meine Absicht war sie ins Feuer zu werfen. [...] es ist im Grunde sehr dummes Zeug, das mich jetzt anstinckt. [...] Es ist nicht Knauserey sondern redliche Schaam daß ich die Blätter nicht hergeben mag." 9 Das einzige, was Goethe damals an Reisefrüchten veröffentlicht hat, waren einige kurze Aufsätze in Wielands Zeitschrift Der Teutsche Merkur 1788/89 unter dem Titel Auszüge aus einem Reise-Journal, z. B. „Lebensgenuß des Volks in und um Neapel" oder „Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt" oder „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" (hervorgegangen aus Goethes kunsttheoretischen Unterhaltungen mit Karl Philipp Moritz in Rom). Sonst ließ Goethe damals nur noch, und zwar als selbständige Publikation, geschmückt mit zahlreichen kolorierten Stichen, seinen Essay Das Römische Carneval erscheinen (Berlin 1789), den er später in den Zweiten Römischen Aufenthalt übernommen hat.
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Goethe an Charlotte von Stein. Venedig, 14. Oktober 1786. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 2, S. 14. 9 Goethe an Herder. Weimar, Ende Juli/Anfang August 1788. In: Goethes Briefe. W(eimarer) A(usgabe), IV. (Abt.), (Bd.) 9, S. 8 f.
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Die Reisebeschreibung selbst aber blieb vorerst unausgeführt, und noch als Schiller im Herbst 1796 um Manuskripte für seine Zeitschrift Die Hören bat, erwähnte Goethe zwar „das Tagebuch meiner Reise von Weimar bis Rom, meine Briefe von dorther, und was sonst allenfalls davon unter meinen Papieren liegt", meinte aber, daß er diese Materialien nur selbst redigieren könnte: „ Z u einer absichtlichen Komposition umgearbeitet würden solche Aktenstücke wohl einigen Wert erlangen, aber so in ihrer lieben Natur sind sie gar zu naiv" 10 Während Goethe auf der Reise selbst noch glaubte, seine Tagebuchnotizen später für eine Publikation nur noch korrigieren und ordnen zu müssen, spricht er jetzt von der Notwendigkeit einer Umarbeitung „zu einer absichtlichen Komposition", die die „naive" Spontaneität des Reisenden nicht mehr unmittelbar zu Wort kommen ließe, sondern einer wertenden Deutung aus späterer Sicht unterwürfe. Aber auch zu solcher Umarbeitung konnte sich Goethe damals nicht entschließen, und so blieb der Plan eines italienischen Reisewerks weiterhin liegen. Erst als im Spätherbst 1813 nach Beendigung des Dritten Teils von Dichtung und Wahrheit die weitere Arbeit an der Jugendgeschichte ins Stocken geriet - Goethe hatte Bedenken, seine Beziehung zu Lili Schönemann bei deren Lebzeiten und auch das problematische erste Weimarer Jahrzehnt darzustellen - , griff er zu dem Ausweg, diese nächsten zehn Jahre zu überspringen und da fortzufahren, „ w o das bisher beengte und beängstigte Naturkind in seiner ganzen Losheit wieder nach Luft schnappt, im September 1786 auf der Reise nach Italien" (an Eichstädt, 29. Januar 1815). So wie Goethe in Dichtung und Wahrheit die „Geschichte meiner Bildung, meines Privat- und ersten Autorlebens" dargestellt hat, „bis zu welcher Epoche ich mir noch ganz selbst angehöre" (an Cotta, 12. November 1812), so entschloß er sich nun zur Mitteilung seiner italienischen Jahre als der nächsten (und zugleich letzten) Epoche persönlicher Freiheit. Goethe läßt also schon hier deutlich erkennen, daß er mit diesem neuen Werk keine Reisebeschreibung im üblichen Sinne, keinen Reiseführer, sondern ein weiteres Stück seiner Autobiographie intendiert, worin nicht das besuchte Land, sondern der Reisende selbst im Mittelpunkt steht. Im Januar 1814 begann Goethe die lange beiseitegelegten italienischen Papiere zu sichten und redigierte in Zusammenarbeit mit Heinrich Meyer in den Jahren 1814-1816 relativ kontinuierlich (nur unterbrochen von seinen beiden die Divan-Lyrik hervorbringenden Reisen an Rhein, Main und Nek-
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S. 241.
Goethe an Schiller, Weimar. 26. Oktober 1796. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 2,
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kar in den Sommer- und Herbstmonaten 1814 und 1815) die ersten beiden Teile der Italienischen Reise: Von Januar bis Mai und im November und Dezember 1814 bearbeitete Goethe das Reisetagebuch von Karlsbad bis Rom, von Januar bis Mai 1815 die Briefe und Aufzeichnungen seines ersten römischen Aufenthaltes und vom Herbst 1815 bis ins Frühjahr 1816 seine Papiere aus Neapel und Sizilien. Im März 1816 konnte er das fertige Manuskript des Ersten Teils der Italienischen Reise (von Karlsbad bis zum ersten römischen Aufenthalt einschließlich) in Druck geben, worauf dieser erste Band zur Michaelismesse (Oktober 1816) erscheinen konnte. Gleichzeitig wurde im September 1816 die Arbeit am Zweiten Teil (Neapel Sizilien - Neapel) fortgesetzt, doch im Oktober vorläufig abgebrochen, im Januar 1817 zwar kurz wiederaufgenommen, aber erst im Sommer 1817 intensiviert und Ende August abgeschlossen, so daß der 2. Band erst zur Herbstmesse 1817 erschienen ist. Beide Bände trugen als Titel noch nicht Italienische Reise, sondern Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung Erster und Zweiter Teil, wurden also ausdrücklich als Fortsetzung von Goethes Autobiographie vorgestellt, wobei mit „Erster Abteilung" Dichtung und Wahrheit gemeint war. Italien als Ort des Geschehens fehlte also noch auf dem Titelblatt; nur das Motto „Auch ich in Arcadien!" deutete den (sorgenfreien) Aufenthalt in einem südlichen Lande an. Von Anfang an hatte Goethe vor, auch seinen zweiten römischen Aufenthalt (Juni 1787 - April 1788) zu schildern und diesen Erlebnisbericht als Dritten Teil des Reisewerks zu publizieren. Doch vorerst kam es nur zu einzelnen Ansätzen im April 1819, Februar 1820, März 1821 und Oktober 1824. Erst im Zusammenhang der Vorbereitung der autobiographischen Bände für die seit 1827 bei Cotta erscheinende Ausgabe letzter Hand ging Goethe im April und Anfang Mai 1828 gründlicher an die Arbeit zum Dritten Teil und intensivierte sie in steter Folge vom Februar bis September 1829, so daß Ende des Jahres der Zweite Römische Aufenthalt als 29. Band der Ausgabe letzter Hand erscheinen konnte, zusammen mit dem 27. und 28. Band, die die beiden ersten Teile des Werks brachten, diesmal unter dem endgültigen Titel Italienische Reise I und II
Redaktion und Komposition Als Goethe zu Beginn des Jahres 1814 darangeht, seine italienischen Aufzeichnungen für ein Reisewerk zu bearbeiten, redigiert er im Laufe dieses Jahres zunächst sein Reisetagebuch von Karlsbad bis Rom. Die Art und Weise dieser Redaktion erläutert er seinem Freund Zelter (im Brief
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vom 27. Dezember 1814): „Dieses Büchlein erhält dadurch einen eigenen Charakter, daß Papiere zum Grunde liegen die im Augenblick geschrieben worden. Ich hüte mich, so wenig als möglich daran zu ändern, ich lösche das Unbedeutende des Tages nur weg, so wie manche Wiederholung; auch läßt sich vieles, ohne dem Ganzen die Naivetät zu nehmen, besser ordnen und ausfuhrlicher darstellen." 11 Hatte Goethe 1796 noch geglaubt, er müsse den „naiven" Blick des Reisenden in einer „absichtlichen Komposition" aus späterer Sicht aufheben, so läßt er nun bei der tatsächlichen Bearbeitung die damaligen Augenblickseindrücke möglichst unberührt und beschränkt sich, ähnlich dem ursprünglichen Redaktionsprogramm zu Beginn der Reise, auf Ordnung des Materials und erweiternde Darstellung manches damals nur Angedeuteten, weil er nunmehr die „Naivetät" des Reisetagebuches gewahrt wissen will. Dem widerspricht nicht Goethes Bemerkung ein halbes Jahr später, wieder gegenüber Zelter (17. Mai 1815), er „habe glücklicherweise noch Tagebücher, Briefe, Bemerkungen und allerlei Papiere", er meint diesmal vor allem aus Rom, „so daß ich zugleich völlig wahrhaft und ein anmutiges Märchen schreiben kann." 1 2 Dieses Zugleich von „wahrhaft" und „Märchen" erinnert an den Titel „Dichtung und Wahrheit", den Goethe auch nicht als Gegensatz, sondern als Hendiadyoin im Sinne einer „verdichteten Wahrheit" verstanden hat, wobei hier mit „Märchen" zusätzlich der arkadische Charakter seiner römischen Existenz mit anklingt. Im gleichen Brief betont Goethe jetzt sogar die Notwendigkeit der alten Papiere, um sich den damaligen seelisch-geistigen Zustand wieder vergegenwärtigen zu können: „denn wie soll man, zur Klarheit gelangt, sich des liebenswürdigen Irrtums erinnern, in welchem man, wie im Nebel, hoffte und suchte, ohne zu wissen, was man erlangen oder finden würde." 1 3 In diesem Satz skizziert Goethe seine italienischen Jahre als die Zeit eines für seine Künstlerexistenz entscheidenden Entwicklungsprozesses, der in seiner Zielungewißheit, in seinem Irren, Hoffen und Suchen nur dank der damaligen Dokumente mit ihrer dramatischen Folge und ihrer authentischen Gebärde gestaltet werden konnte. Diesen besonderen Quellenwert der italienischen Zeugnisse für das Reisewerk betont Goethe auch noch ein Jahr später, kurz nach dem Erscheinen des Ersten Teils der Italienischen Reise in einem Brief an Sulpiz Boisseree: „Besäß ich nicht die getreuen
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Goethe an Zelter. Weimar, 27. Dezember 1814. In: W A I V , 25, S. 118. Goethe an Zelter. Weimar, 17. Mai 1815. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 3, S. 308. Ebd., S. 308 f.
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Tagebücher und beinah sämtliche aus Italien geschriebene Briefe, so könnte das Werkchen diese Unmittelbarkeit und Frische nicht haben." 14 Wieweit die tatsächliche Redaktion den hier zitierten programmatischen Äußerungen Goethes entspricht, läßt sich nur für den Ersten Teil der Italienischen Reise nachprüfen, da hier die Vorlagen, vor allem das Reisetagebuch und alle Briefe vom Beginn der Reise bis zur Fahrt von Rom nach Neapel, erhalten sind. Ein Vergleich dieser Quellen mit den entsprechenden Texten des Ersten Teils bestätigt im wesentlichen die von Goethe genannten Redaktionsprinzipien. Schon Erich Schmidt, der erste Herausgeber von Goethes Reisetagebuch 1786, hat festgestellt 15 : Gestrichen wird alles Persönliche (alle Liebesworte an Charlotte von Stein, alle Vergleiche zwischen Italien und Weimar), manches ausführlich Geschilderte (wie die Fahrt von Vicenza nach Venedig) wird jetzt nur noch knapp skizziert; umgekehrt wird manches im Tagebuch nur Angedeutete phantasievoll ausgestaltet (wie die Begegnung mit der kleinen Harfnerin oder die Gerichtssitzungen in Venedig), ja einige Szenen, wie das Abenteuer mit den Sbirren auf dem Weg von Assisi nach Foligno, werden hinzuerfunden. Auch kompositorisch greift der Redaktor in den überlieferten Text ein. So werden die venezianischen Aufzeichnungen nach den Prinzipien von Zusammenhang und Wechsel neu zusammengestellt, im Tagebuch locker aneinandergereihte Abschnitte kunstvoll verzahnt, manchmal wichtige Themen jetzt an den Anfang oder an den Schluß eines Abschnitts gerückt, wenn etwa die Schilderung Veronas mit der Arena eröffnet und der Brenner-Abschnitt mit dem feierlichen Vorsatz geschlossen wird, die Iphigenie in Italien zu vollenden. Bei all diesen Änderungen hat Goethe dennoch den Charakter des Reisejournals, die Aufbruchstimmung jener ersten Reisewochen in ihrer „Unmittelbarkeit und Frische" durchaus bewahrt. Stärker eingegriffen hat der Redaktor bei der Darstellung der ersten römischen Zeit. Wohl werden die Briefe dieser Monate weitgehend wörtlich übernommen, nur manchmal werden Urteile erweitert und Gedanken frei umformuliert. Doch wesentlicher ist, daß Goethe eine deutliche Auswahl aus diesen Briefen trifft. Zum einen verwertet er nur die Briefe an Charlotte von Stein und an Herder sowie die ostensiblen Briefe an den Weimarer Freundeskreis, während er die Briefe an andere Personen so gut wie unbeachtet läßt. Zum anderen wählt er aus den verwerteten Briefen nur die 14 Goethe an Sulpiz Boisseree. Weimar, 16. Dezember 1816. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 3, S. 383. 15 Erich Schmidt, Einleitung zu: Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder. Weimar 1886 (Schriften der Goethe-Gesellschaft 2), S. X X I V - X X V I I .
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Berichte über seine Erlebnisse und Beobachtungen und immer seine Bekenntnisse über die Wirkung der erlebten Dinge auf sein Ich aus, streicht hingegen wieder alles Persönliche und auf Weimar Bezügliche und also fast alle Du-Anreden, so daß jetzt alle ausgewählten Abschnitte wie Tagebucheintragungen wirken, in denen das Ich nur sich selbst Rechenschaft über sein Erleben und Empfinden gibt. 1 6 Nur gelegentlich ist von den „Freunden" (in 3. Person) die Rede und erinnern Vokabeln wie „erzählen", „melden", „mitbringen" daran, daß es sich nicht um Tagebuchnotizen, sondern um Briefe handelt. Der Redaktor begnügt sich aber nicht mit bloßen Streichungen und Kürzungen, er übt darüber hinaus ein bewußt komponierendes Verfahren. Während die ostensiblen Briefe (mit einer Ausnahme) von der Schere verschont bleiben und fast immer ungekürzt und unbearbeitet übernommen werden, weil sie von vornherein für die Öffentlichkeit formuliert worden sind und nichts Persönliches enthalten, hat Goethe die Privatbriefe dieser ersten römischen Zeit oft in einzelne Streifen zerschnitten und die so gewonnenen kürzeren Abschnitte gleicher oder verwandter Thematik aus verschiedenen Briefen zu neuen Briefen zusammengesetzt (z. B. „Rom, den 7. November", „Den 10. November 1786", „Den 25. Januar" u. ö.). Er kann aber auch einzelne Abschnitte aus den römischen Briefen als kurze Notizen unter jeweils eigenem Datum bringen (z. B. „Den 7. November", „Rom, den 17. November", „Den 1. Dezember" u. ö.), womit er nochmals den Tagebuchcharakter verstärkt und so die Darstellung des ersten römischen Aufenthalts dem davorliegenden Reisejournal angleicht. Dadurch, daß Goethe die in seinen realen Briefen deutlich hervorgehobenen Bezüge zu den Weimarer Freunden bei der Redaktion stark zurücktreten läßt, konzentriert er die Darstellung seines ersten römischen Winters auf die Begegnung eines einsamen Reisenden mit dieser Stadt als die zukunftsentscheidende Epoche seines Lebens. Dazu kommt, daß er in mehreren Partien, die entweder aus verlorengegangenen (oder vernichteten?) Briefen dieser Monate stammen oder aber neu hinzugeschrieben worden sind, Tischbein und Moritz als fördernde Begleiter und Gesprächspartner hervorhebt und mit diesem neuen Freundeszirkel inmitten der römischen Welt ein Gegenbild zu Weimar entwirft, das in diesen freien Raum kaum einzuwirken vermag. Zu solcher Stilisierung der eigenen neuen Existenz paßt es, daß Goethe aus seinen Briefen kaum einmal Passagen übernimmt,
16 Vgl. Melitta Gerhard: Die Redaktion der Italienischen Reise im Lichte von Goethes autobiographischem Gesamtwerk. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1930, S. 131150; hier S. 137-139.
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die Negatives über Rom und die Römer berichten; so hat er auch seinen Brief an Knebel vom 17. November 1786 17 mit den mißmutig-abwertenden Urteilen über römische Trümmer, Museen und Kirchen unberücksichtigt gelassen und führt seine zweimalige Ankündigung, „auch Schatten in meine Gemälde zu bringen" (144, 146), dann doch nicht aus. 18 Im Unterschied zum Ersten Teil der Italienischen Reise sind uns zum Zweiten Teil kaum Vorlagen überliefert. Goethe hat Anfang 1818 alle Papiere aus dem Frühjahr 1787 verbrannt; es handelt sich um sein „Neapolitanisches Tagbuch" 1 9 auf der Fahrt von Rom nach Neapel und seine Tagebücher und Briefe aus Neapel und Sizilien. Erhalten sind uns - aus Zufall - einige Tagebuchblätter und wenige Briefe. Soweit die Tagebuchblätter nicht nur Stichworte, sondern ausformulierte Sätze enthalten, hat Goethe diese fast ohne Änderung übernommen, höchstens einige Sätze ihre Plätze tauschen lassen. Bei den Briefen sind uns nur spärliche Kollationen möglich, ein genaueres Redaktionsbild läßt sich hier nicht entwerfen. Einige Anzeichen sprechen aber dafür, daß Goethe hier ein ähnliches Verfahren wie beim Ersten Teil angewandt hat. Aus einer uns erhaltenen eigenhändigen Brieftabelle geht hervor, daß Goethe nur in Neapel und Palermo Briefe geschrieben hat, dagegen auf der Fahrt von Rom nach Neapel und während der ganzen sizilianischen Reise einschließlich der beiden Seefahrten nur Tagebuch geführt hat. Deshalb finden sich hier noch weniger als schon im Ersten Teil Abschnitte mit Briefcharakter, mit Du- und Ihr-Anreden und Bezugnahmen auf Weimar und die Freunde. Denn auch die Briefe aus den beiden Städten zeigen in der Regel die Erzählhaltung eines Tagebuchschreibers, der seine Mitteilungen nicht an ein bestimmtes Du oder Ihr, sondern an sich selbst und vielleicht an ein allgemeines Publikum richtet; deshalb kann einmal das Diarium (Neapel, zum 17. März) sogar die Gestalt einer Aphorismensammlung gewinnen. Wie schon im Ersten Teil, so können auch hier, vor allem bei der ersten Bekanntschaft mit neuen Orten und Gegenden (Golf von Neapel, Bucht von Palermo, Umgebung von Taormina) enthusiastische Urteile über das soeben Erlebte begegnen, gleichgültig, ob als Brief oder als Tagebuchnotiz gestaltet. Diese Abschnitte bilden aber 17
Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 2, S. 22 f. Andererseits gibt es durchaus auch negative Urteile Goethes über Italien und seine Bewohner im Reisewerk selbst; Peter Boerner hat darauf aufmerksam gemacht (Italienische Reise [1816-1829]. In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler und James E. McLeod. Stuttgart 1985, S. 344-362; hier S. 351-361). Doch bleiben diese Äußerungen Goethes vereinzelt und können den positiven Gesamteindruck seines Italienbildes in diesem Werk nicht schmälern. 19 So genannt im Brief an Charlotte von Stein. Rom, 21. Februar 1787. In: Goethes Briefe (Anm. 1), Bd. 2, S. 50. 18
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im Zweiten Teil nur noch den Rahmen für das umfangreiche Reisejournal durch Sizilien, das vor allem die Eigentümlichkeiten der Landschaften, der Geologie und Vegetation, der Landwirtschaft und des Volkslebens einläßlich-nüchtern notiert und ebenso das genaue Studium der noch verbliebenen Altertümer der Insel wiedergibt. Dazwischen hat Goethe - typisch für seinen beginnenden Altersstil - schon in den Zweiten Teil, aber noch ohne besondere Überschriften, einige Essays an passender Stelle eingelegt, die er schon früher formuliert und veröffentlicht hatte (über die hl. Rosalia, über Cagliostro, über die Lazaroni, über den Lebensgenuß des Volkes in und um Neapel). Während aber diese Einlagen noch auf der Brief- und Tagebuchebene bleiben, hat Goethe an einer Stelle des Zweiten Teils (8. Mai 1787) erstmals in der Italienischen Reise diese Ebene verlassen und einen Abschnitt „Aus der Erinnerung" (298-300) eingefügt. Darin faßt er das zuvor wiederholt angedeutete Erlebnis der großgriechischen Atmosphäre an den Küsten Palermos und Taorminas nochmals zusammen, teilt den davon angeregten Plan zu einer Afaws/£aa-Tragödie im einzelnen mit und setzt dabei sein eigenes damaliges Reiseschicksal mit dem des Odysseus parallel, so daß diese kurze Einlage, mitten ins fortlaufende Reisejournal gesetzt, die ganze Italienische Reise in einem poetischen Spiegel aus deutendem Rückblick reflektiert. Noch viel stärker als im Zweiten Teil hat Goethe dann ein Jahrzehnt später bei der Redaktion des Dritten Teils die benutzten Briefzeugnisse durch Rückblicke und Einlagen unterbrochen und ergänzt - Ausdruck seines nunmehr voll entwickelten Altersstils, der das lockere Komponieren unterschiedlicher Stücke mit jeweils anderer Perspektive liebt. Bekanntlich hat Goethe den Zweiten Römischen Aufenthalt nicht mehr als fortlaufende Briefsammlung gestaltet, sondern jeden Monat in „Korrespondenz" und „Bericht" gegliedert, und er hat dieses Verfahren in einem Gespräch mit Eckermann am 10. April 1829, also noch während der Redaktionsarbeit, damit begründet, daß die Briefe des zweiten römischen Aufenthalts „zu viele Bezüge nach Haus, auf meine weimarischen Verhältnisse" und „zu wenig von meinem italienischen Leben" zeigten; deshalb könne er nur diejenigen Stellen daraus verwenden, „die meinen damaligen inneren Zustand ausdrücken"; diese wolle er übereinandersetzen und „meiner Erzählung einschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen w i r d . " 2 0 Goethe verdeutlicht damit, daß den Grundstock des
20 Goethe zu Eckermann, 10. April 1829. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Fritz Bergemann. Wiesbaden 1955, S. 336.
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Dritten Teils die rückschauenden Berichte ausmachen und die jetzt nur noch „eingeschalteten" Briefe lediglich die „Stimmung" des letzten römischen Jahres vermitteln sollen. Ihnen liegen offensichtlich wieder vor allem Briefe an Charlotte von Stein und an Herder zugrunde. Da diese Vorlagen auch jetzt wieder von Goethe nach beendigter Redaktion vernichtet worden sind, ist ein Vergleich der endgültigen Texte mit ihnen nicht mehr möglich. Doch fällt auf, daß die Briefauszüge hier mehr als im Zweiten Teil die Du- und IhrAnreden übernommen haben, vielleicht, um den persönlichen Ton dieser Briefe als Stimmungsträger zu gewinnen. Denn nicht nur die Sendungen fertiger Manuskripte (Egmont, Singspiele) für die Gesamtausgabe geben Anlaß zum Kontakt mit Weimar, sondern auch die Entscheidung, noch bis Ostern nächsten Jahres in Rom zu bleiben, und die damit verbundene Zuversicht, in Sachen der Kunst die entscheidenden Fortschritte zu erzielen, wecken ein neues Glücksgefühl, das Goethe seinen Freunden mitzuteilen nicht müde wird. Demgegenüber fassen die erst bei der Redaktion aus der Erinnerung geschriebenen Berichte die Ereignisse der betreffenden Monate in ruhigerem Tone des Rückblicks zusammen, ergänzen die Briefe und erweitern manchmal das dort nur Gestreifte, um „dadurch", wie Goethe an Riemer (6. Juni 1829) schrieb, „das allzu Subjective der brieflichen Mittheilungen auf eine objective Weise (zu) balanciren" 21 . Doch kann es auch vorkommen, daß ein Bericht, wie der vom September 1787, nicht mit dem Monatsüberblick, sondern mit einer damaligen Aufzeichnung über den 3. September (mit dem Zeitadverb „heute") beginnt und dazwischen den umfangreichen Brief an den Freundeskreis vom 17. September 1787 22 wörtlich und ungekürzt einfügt. Goethe hat also im Zweiten Römischen Aufenthalt die beiden Zeitebenen von Korrespondenz und Bericht nicht immer streng getrennt, römische Originalpapiere können auch in die rückschauenden Abschnitte eingebaut werden. Analoges gilt für die verschiedenen Einlagen, die meist mit eigenen Überschriften die Berichte unterbrechen. Auch hier handelt es sich teils um schon 1788 entstandene Aufsätze, wie die Studie „Über Christus und die zwölf Apostel nach Raphael" oder „Das Römische Carneval", teils um spätere Texte, wie den Nachtrag „Päpstliche Teppiche" (1829) oder den Essay „Philipp Neri, der humoristische Heilige" (1810 begonnen, 1829 21 22
Goethe an Riemer. Weimar, 6. Juni 1829. In: W A I V , 45, S. 285 f. W A I V , 8, S. 257-260.
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vollendet). Gelegentlich hat Goethe auch Texte von fremder Hand eingeschaltet, wie einige Briefe Tischbeins an ihn aus Neapel 1787 oder Auszüge aus Moritzens Heft Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). Alle diese Einlagen haben den Sinn, die Kunst-, Natur- und Volksstudien im Kreis der Freunde während des zweiten römischen Aufenthalts sowohl durch damalige Zeugnisse zu veranschaulichen als auch die fruchtbare Nachwirkung der italienischen Studien anhand späterer Arbeiten zu dokumentieren, so daß die Grundspannung zwischen der Korrespondenz und den Berichten durch das Konzert älterer und neuerer Einlagen wiederholt und gesteigert wird. Gerade dieses Mit- und Gegeneinander damaliger und späterer Stimmen und Urteile verbürgt die höhere Einheit des Zweiten Römischen Aufenthalts, weil Goethe damit andeuten wollte, „wie hier der Grund meines ganzen nachherigen Lebens sich befestigt und gestaltet hat" 2 3 . Die Erinnerung an diese folgenreichste, weil glücklichste Zeit seines Lebens hat Goethe denn auch noch im höchsten Alter inspiriert, in verschiedene Monatsberichte die zartpoetische Novelle seiner Begegnung mit der schönen Mailänderin einzuflechten und zum Ausklang des Zweiten Römischen Aufenthalts seinen schmerzlichen Abschied von dieser Stadt in eine erhabene Mondnachtszene auf dem Forum Romanum und - als ein zweiter Ovid - in klagende Distichen dieses römischen Dichters zu kleiden.
Der Zusammenhang von Fremd- und Selbsterfahrung Mit der Italienischen Reise wollte Goethe seine Grunderfahrung jener Jahre bezeugen, daß er in der Begegnung mit einem fremden Land und Volk die eigene Identitätskrise als Mensch und Künstler überwinden konnte, von der Selbstentfremdung zur Wiedergeburt des eigenen Wesens und der eigenen Kunst gelangt ist. Wir haben schon gesehen, wie sich Goethe bei der Redaktion der Vorlagen auf diese Themen konzentriert und damit eine gewisse Stilisierung seiner italienischen Existenz verbunden hat. Es ist jedenfalls nicht zu verkennen, daß Goethes Italienische Reise als autobiographische Komposition in allen drei Teilen - anders als die fragmentarische Sammlung der Reisezeugnisse - den Weg der Selbstfindung des Dichters im fremden Land eine geschlossene und bewußte Gestalt gewinnen läßt. Dieser Weg soll in mehreren Schritten nachvollzogen werden.
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Goethe an Göttling. Weimar, 8. November 1828. In: W A IV, 45, S. 46.
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a) Das Fremde als Schule Wir erinnern uns: Goethe hatte sich schon in Straßburg 1770 vorgenommen: „Paris soll meine Schule seyn, Rom meine Universität." Schon damals hatte er Rom als das Endziel künftiger Bildung und Welterfahrung betrachtet und mit ihm das Motiv der Schule, des Lernens verbunden, das nun die Italienische Reise wieder aufnehmen und vielfältig abwandeln wird. Dem scheint eine andere Entdeckung Goethes in Italien zunächst zu widersprechen. Von den frühen Eindrücken her, die er im Elternhaus empfangen hatte, sind ihm viele italienische Gegenstände so sehr vertraut, daß ihm bei ihrer leibhaftigen Begegnung im Lande selbst nicht zumute ist, „als wenn ich die Sachen zum erstenmal sähe, sondern als ob ich sie wiedersähe" (99). Daraus könnte man schließen, daß der vor den engen Weimarischen Verhältnissen Flüchtende gerade deshalb in den Süden reist, um nicht ein Fremdes, sondern das Altgewohnte zu finden, nicht die Mühen der Schule, sondern den Genuß frühempfangener Bilder zu suchen. Doch dieser Widerspruch löst sich rasch; denn wenn Goethe jetzt 1786 „alle Träume meiner Jugend" „lebendig" vor sich sieht, treten sie ihm doch neu und überraschend entgegen: „es ist alles, wie ich mir's dachte, und alles neu." (126) Dieses paradoxe Erlebnis, daß ihm hier zum ersten Mal ein Fremdes vertraut und neu zugleich erscheint, ist aber nur möglich, weil Goethe auf dieser Reise von Anfang an entschlossen ist, alles ihm Begegnende nicht den eigenen subjektiven Erwartungen anzugleichen, sondern durch ein „freies, klares Anschauen" (122) auf sich wirken zu lassen. 24 Hier in Italien kann und will er seinen von jeher geübten „Beobachtungsgeist" (25) erst voll und ganz entfalten: „Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Auge licht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention" (134) werden jetzt wiederholt zu Maximen seiner Begegnung mit dem fremden Land erklärt. Sie sind zugleich Voraussetzung und Garantie einer fruchtbaren Verwertung des Aufgenommenen für die eigene menschliche und künstlerische Existenz, eine Verwertung, die Goethe in immer neuen Variationen aus dem Begriffsfeld
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Näheres dazu in Wilfried Barners grundlegendem Vortrag: Altertum, Überlieferung, Natur. Über Klassizität und autobiographische Konstruktion in Goethes Italienischer Reise. In: Goethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 64-92; hier S. 79 ff. - Vgl. auch Horst Althaus: Goethes „römisches Sehen". In: H. A.: Ästhetik, Ökonomie und Gesellschaft. Bern und München 1971, S. 142-162.
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des Lernens und Sichausbildens umschreibt: „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betriegen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen" (45) - bündiger läßt sich der Zusammenhang von Fremd- und Selbsterfahrung des italienischen Goethe kaum ausdrükken. Winckelmanns Wort über Rom als „die hohe Schule für alle Welt" (149) kann Goethe nur bestätigen, doch ist er überrascht, wie weit er dabei „in die Schule zurückgehen" muß (150). Aber er freut sich dieser Hingabe und Selbstverleugnung und ist entschlossen, alle falschen Vorstellungen zu verlernen und alle Vorurteile aufzugeben, um statt des bisherigen schlechten ein neues, gediegenes Fundament für den endgültigen Bau seines Weltbildes zu legen. Mit diesen Bildern einer Rückkehr zu den Ursprüngen und eines von dorther möglichen Neuaufbaus korrespondiert der berühmte Begriff der „Wiedergeburt" (147, 149, 150) 25 , der Umwandlung „bis aufs innerste Knochenmark" (146), und auch dieses „neue Leben" sieht Goethe ausdrücklich in der unvoreingenommenen „Betrachtung" des „neuen Landes" begründet (146), die das Fremde nicht mehr durch „ W o r t " und „Tradition" (365, 389), sondern endlich „mit eignen Augen" erlebt und erkennt (99, 220, 365). Dieses Erlebnis erfährt dabei im Verlauf der Reise eine deutliche Steigerung und endliche Erfüllung. A m Anfang steht noch ein etwas angestrengtes Bemühen um das klare Anschauen der Dinge, mehr Studium als Genuß (148), ein bewußtes „Stillschweigen" in einer Art von pythagoreischem Noviziat (131). Schon bald aber wird das „erste Staunen" „in ein Mitleben und reineres Gefühl des Wertes der Sache" aufgelöst (151), der Blick wird „sicher", die Teilnahme „gelassen" (154, 171), so daß Goethe schon in Sizilien die Fertigkeit erlangt, „alles gleichsam vom Blatt wegzuspielen" (322), bis er schließlich, nach Rom zurückgekehrt, vom Wandeln „ i n der wahren unterscheidenden Erkenntnis", ja von der „stillen, wachen Seligkeit" im Betrachten der Kunstwerke sprechen kann (446, 447). b) Der Weg vom Individuellen zum Allgemeinen Dieses Umlernen vollzieht Goethe vor allem in drei Bereichen, in denen ihm das fremde Land neue Gegenstände entgegenbringt: in Natur, Kunst
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Dazu im einzelnen Klaus H. Kiefer: Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise. Bonn 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 280).
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und menschlicher Gesellschaft. 26 Seine Naturstudien beginnt Goethe auf der Reise schon in Süddeutschland und Tirol mit genauen Beobachtungen ihm bisher unbekannter Dinge, die er zunächst nur in ihrer Eigentümlichkeit erkennen und beschreiben will. Aber schon in Padua regt ihn die fremde Vegetation nicht nur zum Schauen, sondern auch zum Denken an, zu jener „botanischen Philosophie" (60), die alle Pflanzenarten aus einer einzigen entwickeln will. Es wird Goethe bewußt, daß seine Idee der Urpflanze niemals in der Heimat hätte geboren werden können, erst das fremde Land hat ihm die nötige Distanz gewährt, um diese größtmögliche Abstraktion in der Naturbetrachtung zu leisten. Auch diesen Prozeß „botanischer Aufklärungen" (205) kann der Leser der Italienischen Reise stufenweise verfolgen, von Padua über Neapel bis Palermo, wo Goethe noch einmal betont, daß er das „Geheimnis der Pflanzenorganisation" nur „unter diesem Himmel" (323) habe entdecken können. Einen analogen Weg vom Individuellen zum Allgemeinen, von der Einzelheit zur Gesetzlichkeit gehen gleichzeitig Goethes Kunststudien in Italien. Wie er die Patellen und Taschenkrebse am Lido als etwas „Lebendiges" und darum als „wahr" und „seiend" preist (93), so bestätigt er wenig später der Baukunst der Alten eine „wahre innere Existenz" und sieht in ihr deshalb eine „zweite Natur" (122). Diese Gleichsetzung von Natur und Kunst begegnet von da an in Goethes Italienischer Reise immer wieder (149, 168, 395, 456), und offensichtlich lassen ihn erst die neuen Naturerkenntnisse, die ihm Italien schenkt, auch die Kunstwerke dieses Landes, namentlich die großen Zeugnisse aus Antike und Renaissance, die er hier erstmals unmittelbar erlebt, als die „höchsten Naturwerke", als „von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht" begreifen (395). „Wahrheit", „Gesetz", „Notwendigkeit" sind die immer wiederkehrenden Schlüsselwörter für diese Analogie, die Goethe namentlich im Zweiten Römischen Aufenthalt als ein entscheidendes Resultat seiner Italienerfahrung nicht ohne Stolz und Glücksgefühl hervorhebt. Und wie er in der Botanik auf ein ev Kai 7täv gestoßen ist (395), so entdeckt er bei seinen Kunststudien ein von ihm nicht näher erläutertes „Prinzip" (393, 395), das ihm das Wesen eines jeden Werkes aufschließt und ihm sogar die produktive zeichnerische Nachbildung erleichtert.
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Diese drei Bereiche hat Goethe selbst im Aufsatz „Schicksal der Handschrift" aus den Schriften Zur Morphologie (1817) in einem knappen Resümee seiner ersten italienischen Reise benannt und zusammengefaßt: H A , Bd. 13, S. 102. - Vgl. auch den Kommentar zu Goethes Italienischer Reise von Herbert von Einem in: H A , Bd. 11, S. 563-566.
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Ähnlich sucht Goethe auch den ihm zunächst fremden Menschenschlag des italienischen Volkes ganz als Natur, als ein „notwendiges, unwillkürliches Dasein" (67), j a fast als Urvolk und Muster jeder menschlichen Geselligkeit zu verstehen. So wird er schon bei seinen Streifzügen durch Venedig auf „der Einwohner Betragen, Lebensart, Sitte und Wesen" aufmerksam (70) und bildet sich auch in Neapel „einen allgemeinen Begriff von dem Lande, seinen Einwohnern und Zuständen" (222). Aber es genügt ihm dabei nicht, nur die Eigentümlichkeit dieses unbekümmert-leidenschaftlichen Volkes zu erkunden. 27 Er dringt auch hier alsbald in Stufen vom Besonderen zum Allgemeinen vor. So fallen ihm kleine Häuser bei Neapel als „vollkommene Nachbildungen der pompejanischen" auf (199), oder er sieht die Einwohner auf dem Markte in Caltanisetta „nach antiker Weise" umhersitzen (282), findet also „nach so vielen Jahrhunderten" noch immer eine „ähnliche Lebensart und Sitte" bewahrt (199). Während hier aber die zeitüberdauernde Kontinuität des Menschlichen noch an eine bestimmte Gegend gebunden erscheint, löst sie Goethe endlich auch noch davon, wenn er etwa im naiv-kindlichen Betragen der Neapolitaner „etwas Ursprüngliches der Menschengattung" entdeckt (206). Und auf diese symbolische Ebene hebt Goethe schließlich das römische Karneval, wenn er in einzelnen Auftritten „die wichtigsten Szenen unseres Lebens" (Freuden der Liebe, Geburt, Tod) abgebildet sieht oder im Gedränge des Corso sich an die „Wege des Weltlebens" erinnert fühlt (515) und so in diesem römischen Volksfest nicht nur „ein anderes bedeutendes Naturerzeugnis und Nationalereignis" (520), sondern darüber hinaus ein Sinnbild des „Lebens im ganzen" erblickt (515). Damit ist deutlich geworden: Goethe schreitet in Italien dank seiner vorurteilsfreien Aufnahme dieses fremden Landes, aber auch dank der ihm von dieser Fremde gewährten Distanz bei seinen Studien der Natur, der Kunst und der Gesellschaft jedesmal von konkreter Einzelbeobachtung zu immer stärkerer Abstraktion fort und entdeckt dabei nicht nur den engen Zusammenhang dieser drei Lebensbereiche, sondern in ihnen auch das gemeinsame Prinzip des Wahren, Gesetzlichen und Notwendigen, was sich auch als das Prinzip des Klassischen zusammenfassen läßt.
27 Weitere Belege (vor allem aus Goethes Reisetagebuch für Frau von Stein und aus seinen italienischen Briefen) bei Hans-Georg Werner: Goethes Reise durch Italien als soziale Erkundung. In: Goethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 27-41.
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c) Die Begegnung mit dem Klassischen und die Wiedergeburt des Dichters Goethe entdeckt jedoch in Italien das Klassische nicht nur in der Theorie und Abstraktion, er erfährt es leibhaftig auf dem Höhepunkt seiner Reise. Voraussetzung dafür war, daß der Reisende aus einem Beobachter immer mehr zu einem Mitlebenden wurde, und dies wiederum wurde möglich durch das überraschende Erlebnis einer „paradiesischen Natur" in Neapel und Sizilien (171, 175), womit Goethe innerhalb der Reise eine, wie ihm selbst bald bewußt wurde, entscheidende neue Stufe betrat. A m Anfang der Reise hatte er das Unerwartete des italienischen Lebens noch mit staunender Neugier als ein Fremdling und Außenstehender registriert, wie er selbst umgekehrt von den Italienern als ein Fremder bestaunt worden war. Auch in der ersten römischen Zeit fühlte Goethe noch den beschwerlichen Umgang mit einem Volk, das „zu weit von uns absteht" (126). Aber in Neapel erlebt er auf einmal eine gleiche Art von „trunkner Selbstvergessenheit" wie alle Bewohner dieser Gegend (207); er lernt jetzt „mit dem Volke leben" (214), und so wird ihm bei der Rückkehr nach Rom dann auch diese Stadt „nah und natürlich" (385), ja „ganz familiär" (397), und er fühlt sich am Ende so sehr als „eingebürgerter Italiener" (436), daß er andere Reisende aus Deutschland mit ihren „kimmerischen Vorstellungen und Denkweisen des Nordens" (430) nun seinerseits als fremd und störend empfindet. 28 Dieses Einheimischwerden hebt auf seinem Höhepunkt in Sizilien den Zusammenhang von Fremd- und Selbsterfahrung auf eine neue Stufe. A u f dem Festland hatte Goethe Natur und Kunst, gerade auch die Antike, noch wissenschaftlich und historisch zu begreifen gesucht (die Schichten Roms, Paestum: 130 f., 219 f.). A u f Sizilien aber, in meer- und inselhafter Landschaft „unter dem reinsten Himmel" Großgriechenlands (298), wird ihm das Altertum unmittelbare Gegenwart. 29 Sizilien wird für Goethe der Inbegriff des „klassischen Bodens", ein Ausdruck, den er schon in Terni kurz vor Rom erstmals erwogen hat. Er kam dabei zu dem wichtigen Ergebnis, daß dieser Begriff nur dann rein zutage tritt, wenn die Einbildungskraft, genauer: die historische Phantasie unterdrückt wird und allein der „geologische und landschaftliche Blick" die Gegend in ihrer Realität erfaßt, wor-
28
Goethes Äußerung über seine wieder zunehmende während des zweiten römischen Aufenthalts: „Ich werde [ . . . ] und mit diesem Volke habe ich gar nichts gemein" In: Goethes Briefe [Anm. 1], Bd. 2, S. 64) fehlt in der (Anm. 27), S. 39. 29 Vgl. Barner (Anm. 24), S. 74-77, 83.
Entfremdung vom italienischen Volk [ . . . ] mit der Nation immer fremder (Brief an Knebel, 18. August 1787: Italienischen Reise\ - Vgl. Werner
Goethes Italienische Reise
an sich dann „die Geschichte lebendig anschließen" kann (122). Folgerichtig verwirft Goethe in Palermo das „klassische Andenken" an eine Hannibalschlacht und stellt ihm pointiert die „ewig klassischen Höhen des Erdaltertums" entgegen (233), damit andeutend, daß nicht Erinnerung an ein Vergangenes, sondern allein der Boden selbst, die Fülle dieser Landschaft die Gegenwart des Klassischen hervorrufe. So bringt dem Dichter die Bucht von Palermo wie von selbst „die Insel der seligen Phäaken" vor die Sinne (241), er greift zum Homer, übersetzt sich jenen Gesang und wird bald unter dem doppelten Eindruck der Landschaft und der ebendarin erst wieder lebendigen Odyssee zu eigener Produktion, zu einer NausikaaTragödie angeregt (266). Die Szene, in der Goethe bei Taormina auf Orangenästen sitzend den Plan der Nausikaa überdenkt (298), gehört zu den schönsten Symbolen der Italienischen Reise: Alle bisherige Distanz zum Fremden und Fernen ist aufgehoben, der nordische Dichter erscheint mehr als nur einheimisch, fast schon einverwoben einer Landschaft, die als gegenwärtige antike Welt in einem erfüllten Augenblick den klassischen Dichter wiedererweckt. A u f diesem Höhepunkt der Reise mündet für Goethe das Zusammenspiel von Fremd- und Selbsterfahrung in ein Sichfinden als Mensch und Künstler, das dann im fruchtbaren zweiten Aufenthalt in Rom sich endgültig klären und festigen und ihm nie wieder verlorengehen wird.
Wirkungsgeschichte
in Deutschland
Goethe hat sich in Italien als klassischer Dichter wiedergefunden und von da an immer klarer erkannt, daß sein Italienerlebnis die entscheidende Lebenswende für ihn als Künstler bedeutet hat. In den nachitalienischen Jahren hat er zusammen mit Schiller nicht nur die schon in den 1780er Jahren sich anbahnende Weimarer Klassik weiter ausgebaut und gesteigert, sondern auch seit etwa 1800 im Kreis der „Weimarer Kunstfreunde", zu denen vor allem auch Heinrich Meyer zu rechnen ist, den Klassizismus der bildenden Künste mit pädagogischen Aktivitäten (Zeitschrift Propyläen 1798-1800, alljährliche Weimarer Preisausschreiben 1799-1805) zu fördern gesucht. Dazu tritt der Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) mit Goethes Winckelmann-Essay, worin er diesen als Kronzeugen der eigenen klassischen Kunstauffassung feiert. Anlaß für diese Bestrebungen war das Aufkommen der romantischen Kunst kurz nach 1800, einer Richtung, die Goethe im ganzen der Neigung zum Abstrusen und Mystischen verdächtigte und deshalb als Gefahr für den von ihm geförderten Klassizismus betrachtete. Als daher seit 1810 in
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Rom deutsche Künstler („Nazarener") eine religiöse Malerei nach dem Vorbild alter Meister erneuerten, wandte sich Goethe, zusammen mit Heinrich Meyer, gegen diese neue Kunstrichtung in dem polemischen Aufsatz Neudeutsche religios-patriotische Kunst (1817) und indirekt gleichzeitig auch in den eben damals erscheinenden ersten beiden Teilen der Italienischen Reise; denn darin hob er Antike und Renaissance und den von dorther beeinflußten empfindsamen Klassizismus der damaligen deutschen Künstlerkolonie in Rom und Neapel (Angelica Kauffmann, Tischbein, Trippel, Hackert) wie auch seine eigenen künstlerischen Bemühungen in Italien als musterhaft hervor und ließ zugleich die mittelalterlich-christliche Kunst als das neue Vorbild der Romantiker so gut wie unbeachtet. Mit der Veröffentlichung der Italienischen Reise 1816/17 hat Goethe also nicht nur seine Autobiographie Aus meinem Leben fortsetzen und darin seine italienischen Jahre als entscheidende Lebenswende darstellen wollen, sondern auch ein dezidiertes Bekenntnis zu Klassik und Klassizismus abgelegt. Die Reaktion der Nazarener - es ist die früheste Rezeption der Italienischen Reise - war denn auch denkbar negativ. Niebuhr überliefert in einem Brief an Savigny (16. Februar 1817) 30 , Peter Cornelius habe nach der gemeinsamen Lektüre des Buches im Kreis der deutschen Künstler in Rom für die anderen gesprochen, „wie tief es ihn bekümmere, daß Goethe Italien so gesehen habe. Entweder habe ihm das Herz damals nie geschlagen, das reiche, warme Herz, es sei erstarrt gewesen; oder er habe es gleich festgekniffen." Und Niebuhr fügt daran das eigene Urteil: „So ganz und gar nicht das Erhabene an sich kommen zu lassen, das Ehrwürdige zu ehren! Aber so viel Mittelmäßiges zu protegieren", womit er auf Goethes Vorliebe für Palladio und auf seine Ablehnung der mittelalterlichen Kunst Italiens anspielt. Auch Ludwig Tieck hat im gleichen Jahr diese romantische Kritik an Goethes Italienischer Reise bekräftigt, wenn er aus dem Axiom, daß die Kunstwelt „unerläßlich mit dem Christenthum, mit dem wahrhaft Nationalen" zusammenhänge, den Schluß zieht, daß in Goethes „Verehrung der Antike" ein „willkürlicher und leerer Aberglaube" liege, ja sein Ideal „ein nichtiges Gespenst der Leblosigkeit" sei. 31
30 Barthold Georg Niebuhr an Friedrich Karl von Savigny. Rom, 16. Februar 1817. In: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Zusammengestellt von Wilhelm Bode. Bd. 3, Berlin 1923 (Neudruck Bern 1969), S. 16-21; Zitate S. 20. 31 Ludwig Tieck an Karl Wilhelm Ferdinand Solger. Ziebingen, 18. Dezember 1817. In: Solger's nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hrsg. von Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer. Leipzig 1826 (Faksimiledruck hrsg. von Herbert Anton. Heidelberg 1973). Bd. 1, S. 587.
Goethes Italienische Reise
Demgegenüber hat Heinrich Heine schon 1826 die Gegenposition vertreten und Goethe bescheinigt, daß er „mit seinem klaren Griechenauge alles sieht, das Dunkle und das Helle" und die Dinge nicht mit seiner „Gemütsstimmung" koloriere, sondern „uns Land und Menschen schildert in den wahren Umrissen und wahren Farben". Diese von Goethe j a selbst immer wieder betonte Unvoreingenommenheit seines Sehens rechnet ihm Heine als besonderes Verdienst an, „das erst spätere Zeiten erkennen werden", da die eigene Generation zu sehr in ihren „kranken, zerrissenen, romantischen Gefühlen" stecke, um Goethes Weltaufnahme zu verstehen. 32 Kurz daraufhat dann Wilhelm von Humboldt das Erscheinen des Zweiten Römischen Aufenthalts zum Anlaß genommen, in einer umfangreichen Rezension 1830 eine Summe der Goetheschen Existenz zu ziehen und dabei den Aufenthalt des Dichters in Rom als entscheidende Lebensepoche hervorzuheben. Auch er betont Goethes „scharf und richtig eindringenden Blick", verbunden mit einer „liebenswürdigen, durch den Moment der glücklichsten Gegenwart inspirierten Heiterkeit". Humboldt ist wohl der erste, der im Einfluß Roms auf Goethe das Hauptthema des Buches und daher in der Darstellung seines „inneren Lebens" in dieser Stadt eine „wirkliche Selbstschilderung" erblickt. 33 Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewinnen die positiven Stimmen immer mehr die Oberhand. Dabei wirken zwei Tendenzen zusammen. Zum einen verlagert sich durch das zunehmende Bekanntwerden von Briefwechseln Goethes das Interesse von seinen Dichtungen auf seine Selbstzeugnisse und auf sein Leben allgemein (so David Friedrich Strauß 1872 und im Rückblick Hermann Bahr 1921 ) 3 4 ; zum andern dauert die Italiensehnsucht der Deutschen an, so daß innerhalb der autobiographischen Werke Goethes die Italienische Reise zusätzliche Bedeutung gewinnt, ja diese Sehnsucht noch
32 Heinrich Heine: Die Nordsee. Dritte Abteilung (1826). In: Heinrich Heines Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Leipzig und Wien 1893. Bd. 3, S. 99. 33 Wilhelm von Humboldt: Rezension des Erstdrucks von Goethes Zweitem Römischen Aufenthalt (Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 29. Band. Stuttgart und Tübingen 1829). In: [Berliner] Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Jg. 1830, Nr. 45-47 (September). - Wieder in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Teil I: 1773-1832. München 1975, S. 475-489; Zitate S. 477. 34 David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig 1872 (Erste Zugabe. Von unsern großen Dichtern, Nr. 97). Wieder in: Goethe im Urteil seiner Kritiker (Anm. 33). Teil III: 1870-1918. München 1979, S. 13 f. - Hermann Bahr: Goethebild. In: Preußische Jahrbücher 185 (1921). Wieder in: H. B.: Sendung des Künstlers. Leipzig 1923, S. 34.
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verstärkt. Schon 1847 konnte Alexander von Humboldt ausrufen 35 : „Wer hat mächtiger hingezogen in das ihm geistig heimische Land" als Goethe? Und gegen Ende des Jahrhunderts konstatiert Victor Hehn, daß „Goethes italienische Reise [...] zu seinen populärsten Werken (gehört)" 3 6 , denn „Goethe und Italien gehören für uns untrennbar zusammen" 37 . Unterschiedlich ist Goethes Wirkung auf die deutschen Italienbücher des 19. und 20. Jahrhunderts. Gemeinsam ist ihnen allen der persönliche Ton und die subjektive Anschauung des jeweils Erlebten, unverkennbares Erbe des Goetheschen Vorbilds. Aber schon in der Präferenz ihrer Gegenstände unterscheiden sie sich: Wilhelm Müller {Rom, Römer und Römerinnen, 1820) interessiert sich vor allem für das Volksleben und die Volkspoesie, Jakob Burckhardt {Der Cicerone, 1855) konzentriert sich ganz auf die Werke der bildenden Kunst und übernimmt dabei Goethes ästhetische Urteile über Palladio, Raffael und die antike Skulpturenwelt 38 ; Victor Hehn {Italien, 1866 u. ö.) zeigt eine deutliche Vorliebe für die Landschaften und den italienischen Volkscharakter, und Ferdinand Gregorovius {Wanderjahre in Italien, 1855-1872) bezieht gerade die von Goethe bewußt ignorierte Geschichte des Landes ausführlich mit ein. Diese Beispiele aus dem 19. Jahrhundert treten also nur in spezifischer Auswahl die Nachfolge an. Dann aber erscheinen um die Jahrhundertwende zwei Bücher, die sich eng an Goethe anschließen und ihn ausdrücklich als Reiseführer durch Italien empfehlen, wobei Julius R. Haarhaus in 3 Bänden (1896-97) eine genaue Anleitung gibt, Auf Goethes Spuren in Italien zu wandern, während George von Graevenitz in Goethe unser Reisebegleiter in Italien (1904) keine Route verfolgt, sondern Goethe als Lehrer in der Kunst des Reisens vorstellt. Die letzte Konsequenz daraus zieht schließlich Julius Vogel, wenn er 1908 unter dem Titel Mit Goethe in Italien das Reisetagebuch für Frau von Stein und alle noch erhaltenen Briefe Goethes aus Italien an die Freunde und den Herzog zusammenstellt, um dem Reisenden ein Vademecum an die Hand zu geben, das „jedem Deutschen, der in Goethes Sinne durch
33
Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2, Stuttgart und Tübingen 1847, S. 75. 36 Victor Hehn: Goethe und das Publikum. Eine Literaturgeschichte im Kleinen. In: V. H.: Gedanken über Goethe. Berlin 1887. Neue Ausgabe mit einem Nachwort von Alexander Eggers. Darmstadt 1921, S. 71-245; hier S. 174. 37 Victor Hehn: Italien. Ansichten und Streiflichter. Berlin 3 1887. Neuausgabe hrsg. von Walther Rehm. München 1943, S. 252. 38 Näheres dazu bei Walther Rehm: Jacob Burckhardt und Goethe (1960). In: W. R.: Späte Studien. Bern und München 1964, S. 249-275; hier S. 265 f.
Goethes Italienische Reise
Italien reist", dessen „ A r t zu sehen und zu genießen" nahebringen soll. 3 9 Dabei bringt Vogel bewußt nicht die Italienische Reise, sondern die Originalzeugnisse, noch dazu in diplomatisch getreuem Abdruck (aus der Weimarer Ausgabe), „weil sie gegenüber der Überarbeitung und Stilisierung" durch die spätere Redaktion „den Reiz des Unmittelbaren und Erlebten an sich tragen" 40 . Nur wenige Jahre später aber erscheint ein erstes Gegenstück zu Goethes Italienbild. Karl Scheffler rühmt in seinem Italien. Tagebuch einer Reise (1913 u. ö.) besonders die von Goethe außer acht gelassene byzantinische, romanische und gotische Kunst Oberitaliens und der Toskana sowie die kaiserzeitliche und frühchristliche Architektur in Rom, wertet umgekehrt die von Goethe so hochgeschätzten Palladio und Raffael ab und bedauert, daß Goethe für seine Straßburger Worte über deutsche Baukunst später in Italien ein „Vollkommenheitsideal" eingetauscht habe, „ohne die Verwandtschaft des Griechischen mit dem Gotischen schon zu sehen" 41 . Eine radikale Gegenposition zu allen Träumen von Italien als einem Natur- und Kunstparadies, wie sie seit Goethes idealisierendem Italienbild immer heftiger und auch noch von Karl Scheffler geträumt wurden, bezieht Rolf Dieter Brinkmann in seinen 1972/73 geschriebenen Briefen und Tagebuchnotizen Rom, Blicke (1979) 42 . Er kehrt sich darin von sämtlichen Bildungswerten und Kulturtraditionen ab und will dafür die heutige formlose und brutale Realität Italiens erleben, um - in nun doch erstaunlicher Analogie zu Goethe - mit möglichst unvoreingenommenem Blick sich über die Wirklichkeit der eigenen Gegenwart klar zu werden, was auch ihm nur in Rom gelingen will. Nach diesem Extrem scheint das Pendel wieder in eine ruhigere Mittellage zurückzukehren. Joachim Fests Im Gegenlicht. Eine italienische Reise (1988) 4 3 setzt entgegen der herkömmlichen Route in Sizilien ein und geht über Kalabrien bis Neapel und Rom, um „das unmerkliche Hinübergleiten in die Muster der Italienischen Reise" zu vermeiden. Er sucht nicht mehr auf dem Wege vom Bekannten zum Fremden die Erfüllung einer Sehn-
39 Nachwort zu: M i t Goethe in Italien. Tagebuch und Briefe des Dichters aus Italien. Für deutsche Italienfahrer hrsg. von Julius Vogel. Verlegt im Jahre 1908 bei Julius Bard in Berlin, S. 511 f. 40 Ebd., S. 519 f. 41 Karl Scheffler: Italien. Tagebuch einer Reise. Leipzig 1913, S. 302. 42 R o l f Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979 (das neue buch 94). 43 Joachim Fest: Im Gegenlicht. Eine italienische Reise. Berlin 1988. Neuausgabe mit einem Nachwort von Wolfgang Büscher. Reinbek bei Hamburg 2004; Zitate S. 7.
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Goethes Italienische Reise
sucht, sondern beginnt im „afrikanischen Süden", um im fremdesten Teil des Landes vielleicht noch Bilder des allmählich verschwindenden alten Italien zu entdecken und festzuhalten und zugleich das Vordringen der alles nivellierenden Weltzivilisation zu beschreiben. „Lauter Abschiede" sollte das in einem melancholisch-elegischen Ton gehaltene Buch ursprünglich heißen, das in lockerer Tagebuchform kaum noch die Kunstwerke und Kulturdenkmäler, um so genauer die Physiognomien der Landschaften, Städte und Bewohner beobachtet, viele Blicke zurück in die Geschichte des Landes wirft und dabei oft Zitate früherer Italienreisender, darunter häufig auch Goethes, als Bestätigung eigener Ansichten und Empfindungen einstreut. Auch wenn Joachim Fest keine Wiedergeburt mehr erlebt, so beruft er sich doch auf Goethe, wenn er bekennt, daß auch ihm Italien mehr als ein anderes Land Einsichten über sich selbst geschenkt habe 44 - im ganzen eine in Zustimmung und Einwand verhaltene Auseinandersetzung mit dem großen Muster nach fast zweihundert Jahren.
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Ebd., S. 10.
Fontanes Meine Kinderjahre und die Gattungstradition
I. „ M i t meinem neuen Buche: ,Meine Kinderjahre' bin ich kurz vor Weihnachten fertig geworden", berichtet Fontane am 26. Dezember 1892 an Georg Friedlaender, „ich weiche ganz von dem Ueblichen ab und erzähle nur Kleinkram. Meine Ueberzeugung, daß das das Richtige sei, ist unerschüttert". 1 Auch im folgenden Jahr, während der Zeit nochmaliger Durchsicht und der Korrespondenz mit Julius Rodenberg über den (schließlich unterbliebenen) Vorabdruck in der Deutschen Rundschau, verteidigt Fontane die „unbarmherzige Kleinmalerei" in seinem Kindheitsbuch als „gerade das, worauf es mir ankam" 2 ; er habe damit eine „Abschilderung von Dingen" erreichen wollen, „die bisher noch nicht geschildert wurden, ein Knabenleben in seinem ganzen Tun und Denken, und zwar auf dem Hintergrunde einer ganz bestimmten Zeit" 3 . Ähnlich bringen weitere Briefäußerungen 4, nicht zuletzt auch das „Vorwort" der Kinderjahre 5 die beiden Hauptthemenkreise des Buches: Kindheitsgeschichte und Zeitbild, in eine mehr oder weniger hypotaktische Beziehung und betonen dabei auch wieder den Detailrealismus als wichtiges Stilmittel, um jenes Doppelziel zu erreichen. Fontanes Überzeugung, damit einen originellen Beitrag zur Geschichte der Kindheitsschilderungen zu liefern, stützte sich auf die Kenntnis der
1 Theodor Fontane: Briefe. Hrsg. von Otto Drude u. a. (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abt. IV). Bd. 4, München 1982, S. 243 (künftig zitiert als „Briefe" mit Band- und Seitenzahl). 2 Fontane an Julius Rodenberg. Berlin, 24. Juli 1893. In: Briefe 4, 270. 3 Fontane an Julius Rodenberg. Berlin, 3. Juli 1893. In: Briefe 4, 263. 4 Fontane an Siegfried Samosch. Berlin, 15. Januar 1894. In: Briefe 4, 320. - Vgl. Fontane an die Tochter Martha. Berlin, 9. Juli 1893. In: Briefe 4, 267. 5 Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Autobiographischer Roman. In: Theodor Fontane: Meine Kinderjahre [und andere biographische Schriften]. Hrsg. von Jutta NeuendorffFürstenau. München 1961 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bd. 14), S. 5-185. Künftig zitiert als „Kinderjahre".
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Fontanes Meine Kinderjahre
und die Gattungstradition
damals jüngst erschienenen Erinnerungsbücher berühmter Zeitgenossen. Seit etwa 1880 erlebte Deutschland die zweite Memoirenflut, und die von ihr auf den Markt geworfenen „Lebenserinnerungen" zeichnen sich gegenüber den Beispielen aus der ersten Jahrhunderthälfte durch eine gesteigerte Ich-Zentrierung aus. Die Darstellung der Karriere und der darin errungenen Erfolge ist ihr eigentliches Ziel, woraus notwendig die Bewertung der Jugendzeit als einer bloßen Vorstufe, allenfalls einer Vorankündigung des später Berühmten folgen mußte. Weder das eigene Empfindungsleben, dem jetzt ohnehin selten genug Beachtung geschenkt wird, noch auch die nähere Umwelt besitzen ein Eigenrecht, stehen vielmehr ganz im Dienste des ruhmvollen Selbstbildnisses. 6 Daraus erklärt sich auch die auffällige Vorliebe dieser „Erinnerungen", jede geschichtlich bedeutende Figur, die die Wege des Autors auch nur flüchtig gekreuzt hat, in die Darstellung einzubauen, j a diese Kette berühmter Bekanntschaften zu einem wichtigen Strukturelement der eigenen Lebensgeschichte zu entwickeln. Als Beispiele für diese Art der Selbstdarstellung seien allein von den um 1890 entstandenen und publizierten Erinnerungen die meist mehrbändigen Bücher von Friedrich von Bodenstedt, Friedrich Spielhagen, Felix Dahn, Georg Ebers, Ludwig Pietsch genannt 7 , und zu dieser Gruppe passen vorzüglich auch die von Fontane wohl nur aus Höflichkeit gegenüber Rodenberg gelobten Erinnerungen des Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick, die unter dem Titel Aus meinem Leben genau in der Entstehungszeit der Fontaneschen Kinderjahre ihren Vorabdruck in der Deutschen Rundschau erleben. 8 Gerade die Lektüre ihrer ersten Fortsetzungsreihe mag Fontane in seiner dezidierten Ablehnung der damaligen autobiographischen „Schablone" bestärkt haben: „Das Operiren mit Größen und sich selber dabei als kleine Größe im Auge haben, immer Kunst, immer Literatur, immer ein Professor, immer eine Berühmtheit, - das alles ist vom Uebel." 9 Der Blick auf zeitlich nächstliegende Erinnerungsbücher - und Hanslick war damals nur das jüngste und keineswegs letzte Beispiel dafür - läßt also Fontanes Überzeu6 Vgl. Jost Hermand: Zur Literatur der Gründerzeit (1967). Wieder in: J. H.: Von Mainz nach Weimar (1793-1919). Studien zur Deutschen Literatur. Stuttgart 1969, S. 219 f. 7 Friedrich Bodenstedt: Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde. Berlin 1888-1890. Friedrich Spielhagen: Finder und Erfinder. Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde. Leipzig 1890. - Felix Dahn: Erinnerungen. 4 Bde. Leipzig 1890-1895. - Georg Ebers: Die Geschichte meines Lebens. V o m Kind bis zum Manne. Stuttgart 1893. - Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. 2 Bde. Berlin 1893-1894. 8 Fontane an Julius Rodenberg. Berlin, 21. Juni und 1. Dezember 1893. In: Briefe 4, 262 und 312. - Eduard Hanslick: Aus meinem Leben. In: Deutsche Rundschau. Jg. 19, Bd. 74-75, Heft 6-8 (März - M a i 1893); Jg. 20, Bd. 77-78, Heft 2-5 (Nov. 1893 - Febr. 1894), Bd. 79-80, Heft 8-10 ( M a i - J u l i 1894). 9 Fontane an die Tochter Martha. Berlin, 9. Juli 1893. In: Briefe 4, 267.
Fontanes Meine Kinderjahre
und die Gattungstradition
gung, mit seinen eigenen Kinderjahren vom „Ueblichen" abzuweichen, durchaus verständlich erscheinen. Der Literarhistoriker freilich, wenn er nicht nur die unmittelbare zeitliche Umgebung berücksichtigt, sondern die verschiedenen Epochen der Gattungsgeschichte seit etwa 1770 als Kontrollmaterial für ein Urteil über den historischen Stellenwert der Fontaneschen Autobiographik heranzieht, wird in der Frage ihrer Originalität wohl zu einem etwas differenzierteren Ergebnis kommen können. II. Beide in Fontanes Vorwort zu den Kinderjahren angekündigten Themenkreise stehen in theoretischer wie praktischer Tradition. Das erste Thema wird von Fontane selbst als mündliche Überlieferung vorgestellt: Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte Jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre stecke der ganze Mensch. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und [...] so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. 10
Die Anfänge dieser Vorstellung, im Charakter und Verhalten des Kindes den späteren Menschen vorgebildet zu sehen, liegen indes schon im 18. Jahrhundert, als man seit den 1770er Jahren im Gefolge der aus der Tagebuchkultur erwachsenen Übung der psychischen Selbstanalyse auch von den biographischen Gattungen eine kausalpsychologische Entwicklungsgeschichte erwartet und bei dem Versuch, die Ursachenkette bis in die ersten Kindheitserinnerungen zurückzuverfolgen, die Überzeugung gewinnt, daß die frühesten Eindrücke unzerstörbar und also lebensbestimmend seien. Noch war damit nicht die obige Gleichung Kindheitsgeschichte = Lebensgeschichte erreicht, wohl aber ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen früherer und späterer Stufe erkannt, das den Charakter in seinem Werden zu erfassen erlaubte. Nur deshalb war es zunächst bedeutsam, die Kindheitsgeschichte zu studieren, und nur so ist der Satz Rousseaus: „um mich im vorgerückteren Alter zu kennen, mußte man mich während meiner Jugend von Grund auf gekannt haben" 11 zu verstehen. Auch K. Ph. Moritz' Bewertung von Kindheitserinnerungen verharrt noch im engeren Horizont der Kausalpsychologie, sieht in ihnen wohl einen Erklärungsgrund für das
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Kinderjahre, S. 7. Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse [Erstdruck 1782]. Übertragen von Ernst Hardt. Wiesbaden 1956, S. 221. 11
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und die Gattungstradition
spätere Lebens- und Charakterbild 12 , noch nicht seinen symbolischen Spiegel, weshalb er denjenigen, der die eigenen Anfänge erforscht, eigens davor warnt, „etwa die Spuren seines Genies, oder dasjenige, was schon in ihm steckte, in den frühesten Begebenheiten seines Lebens oder in seinen kindlichen Handlungen suchen (zu) wollen" 1 3 . - Der entscheidende Schritt wird erst mit dem Organismusgedanken gewagt, der in Bildern pflanzlichen Wachstums die Kindheit als Keim alles Späteren versteht. Bei allem Unterschied der einzelnen Stufen, die der Begriff der Metamorphose auch hier noch betont, bringt das Bild der organischen Entfaltung nun doch, im Gegensatz zur bisherigen mechanischen Kausalkette, die neue Vorstellung eines beharrenden, teleologischen Formprinzips. Darum konnte Goethe einem frühen Rezensenten von Dichtung und Wahrheit bestätigen, der erste Teil des Buches „enthalte auch nicht das kleinste geringfügig Scheinende, was nicht künftig einmal nach seinem Geschlecht und Art in Blüte und Frucht hervortreten soll" 1 4 . Auch wenn Goethes Autobiographie in der individuellen Lebensgestalt vor allem ihre allgemeine Bedeutsamkeit, „Symbole des Menschenlebens" 15 darstellen will, die eigene Kindheit also noch nicht primär Keimling für die späteren Lebensstufen, sondern Musterbild für Kindheit überhaupt vorstellen soll, lassen sich doch schon unterhalb dieses Hauptthemas verschiedene Abschnitte und Szenen (kindliches Rauchopfer, Knabenmärchen Der neue Paris u.a.) als mehr oder weniger verhüllte Vorankündigungen verstehen. 16 Zum organisierenden Mittelpunkt der Kindheitsdarstellung wird dieses Thema dann um die Jahrhundertmitte. „Schon in der Kleinkinderschule finden sich alle Elemente beisammen, die der reifere Mensch in potenzirterem Maaße später in der Welt antrifft [...] Das war denn auch in Wesselburen der Fall." 1 7 So leitet Hebbel in seinen Aufzeichnungen aus meinem Leben (1846 ff.) die Charakteristik seiner Schulkameraden ein, und analog 12 Karl Philipp Moritz: Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde I, 1 (1783), S. 65-70. - Vgl. auch C. F. Pockels, ebd. V , 3 (1787), S. 111 f. 13 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde. In: Deutsches Museum. Sechstes Stück. Sommermond [Juni] 1787, S. 492. 14 Goethe an Rochlitz. Weimar, 30. Januar 1812. In: Goethes Briefe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 3, Hamburg 1965, S. 174. 15 Goethe zu Eckermann, 30. März 1831. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg. von Fritz Bergemann. Wiesbaden 1955, S. 461. 16 Zur Problematik dieser morphologischen Lebensdeutung in Dichtung und Wahrheit vgl. meinen Beitrag im Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 291-299; jetzt auch in diesem Band S. 121-133. 17 Friedrich Hebbel: Aufzeichnungen aus meinem Leben (1846-1854). In: Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Besorgt von Richard Maria Werner. I. Abt. Bd. 8. Berlin o. J., S. 93.
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betritt er in jedem der übrigen Kapitel einen neuen Bereich, um schon innerhalb der Kindheit den ganzen Lebenskreis in nuce abzuschreiten. Wenn Hebbel dabei bewußt die erstmaligen Erlebnisse und Eindrücke auswählt und sich von der Überzeugung leiten läßt, daß „die primitiven Abdrücke der Dinge unzerstörbar" seien und „sich gegen alle späteren behaupten" 18 , so erhellt daraus, daß er diese frühen Empfindungen nicht mehr nur in der Nachfolge des Anton Reiser als „bis auf den gegenwärtigen Tag fortwirkende Momente" 1 9 und auch nicht mehr nur als andeutende Keimlinge der späteren vollen Gestalt, sondern umgekehrt als das ursprüngliche, unübertreffliche und unverlierbare Bild der eigenen Gefühlswelt betrachtet. Für Hebbel ist mit der Kindheitsgeschichte alles und auf bestmögliche Weise über das ganze Leben gesagt; hier tritt erstmals in der deutschen Autobiographik die von Fontane zitierte Gleichung theoretisch wie praktisch in Erscheinung, und nicht zuletzt aus dieser Kindheitsdeutung läßt sich der Fragmentcharakter der Hebbelschen Aufzeichnungen wenn nicht als notwendig, so doch als sinnvoll begründen. Der Höhepunkt scheint damit überschritten. Denn obgleich Heines Memoiren (1855) mit dem Satz: „Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen" 20 programmatisch beginnen, so betonen sie mit der Darstellung der Erb- und Bildungsmächte (Aufklärung und Poesie) doch wieder stärker den kausal-teleologischen Zug, den vorausdeutenden Hinweischarakter, sehen die Kindheit wieder mehr als Entwurf, nicht schon als unüberbietbares Spiegelbild des Lebens (weshalb auch Heines Memoiren nicht aus inneren Gründen Fragment geblieben sind). Diese Linie setzt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte fort. Gerade wenn jetzt die Berufskarriere des Berühmten den roten Faden der Erzählung darstellen soll, ist es naheliegend, die Wurzeln des Talents in den frühen Neigungen und Proben zu entdecken und so der Kindheit die Rolle der verheißungsvollen Anfänge zuzuteilen. Freilich wird sie in solchen Erinnerungen immer nur als das erste Glied einer Kette betrachtet, und ihre Linien werden von vornherein im Hinblick auf den gesamten noch folgenden Lebensbogen, ohne verhüllend-hintergründigen Zeichencharakter, angelegt.
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Ebd., S. 109. Ebd. - Vgl. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Erster Theil. Vorrede (1785). Neuausgabe mit einem Nachwort von Wolfgang Martens. Stuttgart 1972, S. 6. 20 Heinrich Heine: Memoiren. In: Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Bd. 7, Leipzig und Wien 2 1893, S. 461. 19
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Fontane hat demgegenüber, um seine Beschränkung auf das erste Lebensjahrzehnt (nachträglich?) zu rechtfertigen, die ältere Vorstellung vom kindlichen Charakter und Weltverhalten als einem alle Lebensstufen repräsentierenden Miniaturbilde wieder aufgerufen und es so, wenigstens vom Programm her, plausibel erscheinen lassen, die Kinderjahre als ein in sich geschlossenes Erinnerungsbuch zu konzipieren, das zwar der Fortsetzung fähig, aber nicht bedürftig war. Wie Fontane jene Vorstellung verwirklicht, also die hier skizzierte Tradition in praxi aufgegriffen hat, wird noch zu untersuchen sein. III. Auch Fontanes zweiter Programmpunkt, in der Kindheitsgeschichte durch detaillierte Darstellung des Elternhauses und der näheren (städtischen) Umgebung „etwas Zeitbildliches" 21 zu geben, besitzt in der deutschen Autobiographik ausgeprägte Tradition. Im 18. Jahrhundert hatte die pietistische Selbstbeobachtung und der Entwicklungsbegriff des pragmatischen Geschichtsdenkens die neue Idee der Individualität vorbereitet, die in unserer Gattung erstmals in der psychologischen Autobiographik (Rousseau, Moritz) voll zum Ausdruck kommt. 2 2 Der Individualitätsbegriff bezieht sich hierbei vorerst noch allein auf das Ich, noch nicht auf die mitgeschilderte Umwelt. Theoretisch war zwar schon damals von einzelnen Denkern (Moser, Herder) die Vorstellung des Individuellen auch auf Volk und Staat, Generation und Epoche ausgedehnt worden 2 3 , aber bevor diese Erkenntnis literarisch wirksam wurde, mußten erst die Französische Revolution und die daraus folgenden Napoleonischen Kriege breitesten Volksschichten in ganz Europa erstmals ein Epochen- und Generationsbewußtsein vermitteln. Diese bis dahin unbekannte Erfahrung von „Zeitgeschichte" bereichert den Begriff der Einzigartigkeit um die historische Dimension; darum werden von nun an in den biographischen Gattungen Held und Umwelt als zwei geschichtliche Individualitäten gesehen und eng aufeinander bezogen. Schon 1790 erblickt Herder in den Lebensbeschreibungen „Spiegel der Zeitumstände", in denen die Autobiographen gelebt haben, und eine „practische Rechenschaft, was sie aus solchen und aus sich selbst
21
Kinderjahre, S. 7 (Vorwort). Vgl. meinen Beitrag Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert in diesem Band S. 94-113. 23 Vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus (1936). Wieder in: F. M.: Werke. Hrsg. von Hans Herzfeld u. a. Bd. 3, München 1965, S. 319 ff., 399 ff. 22
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gemacht, oder worin sie sich und ihre Zeit versäumt haben" 2 4 , und erstmals hat wenig später Goethe solche Wechselwirkung von Individuum und Jahrhundert im Winckelmann-Aufsatz (1805) und in Dichtung und Wahrheit (181 Iff.) dargestellt, dessen Vorwort den Herderschen Gedanken wiederholt und die Generationsspanne bereits auf zehn Jahre verkürzt. 25 Von allem Anfang an werden in Goethes Autobiographie um das Ich als Mittelpunkt die Bezirke der Familie, der Stadtgesellschaft und endlich der weiteren (politischen, literarischen) Welt in ihrer historischen Besonderheit wie konzentrische Ringe gelegt und dabei konkrete Personen und Situationen (Großvater Textor als Stadtschultheiß, politischer Familienstreit, Graf Thoranc u.s.f.) als willkommene Verbindungsglieder benutzt. Trotz ihrer historischen Individualität bleibt aber bei Goethe die Umwelt stets Horizont des Ich, ihre Darstellung dient letztlich immer der Erläuterung dieser aus ihr erwachsenen, von ihr beeinflußten, in ihr sich entfaltenden Monade. In den folgenden Jahrzehnten kann sich dieses goethische Verhältnis von Ich und Welt (oder Zeit) wiederholen (Carus, Hebbel), es kann sich aber auch in sein genaues Gegenteil verkehren. In einer Reihe von Memoiren des Vormärz und der ersten nachrevolutionären Zeit werden die politische und gesellschaftliche Situation während der eigenen Kindheits- und Jugendjahre, historisch einmalige, nunmehr ein Menschenalter zurückliegende Erlebnisse geschildert, um mit solchem Augenzeugenbericht einen zeitgeschichtlich-politischen Anschauungsunterricht für die gegenwärtig Heranwachsenden zu geben - in der Erkenntnis, daß die zu schildernden Zustände dem Bewußtsein dieser Gegenwart längst entschwunden sind. So will Immermann im Ersten Teil seiner Memorahilien (1839/40) „das Genrebild einer früheren stürmischen Generation", nämlich der „Jugend vor fünfundzwanzig Jahren" ausstellen, um „die Ökonomie des jugendlichen Geistes und Gemütes jener Zeit" (1806-1813) zu zeichnen 2 6 , und will in diese Schilderungen nur insoweit „Individuelles verweben", als „die Geschichte ihren Durchzug durch mich hielt" 2 7 . Daß sich Immermann überhaupt noch diese Mühe macht, Zeitgeschichte aus autobiographischem Blickwinkel zu schreiben, hängt mit seinem Wahrheits-
24 Herder an Johann Georg Müller, Mai 1790. In: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. Hrsg. von Johann Georg Müller. Bd. 1, Winterthur 1791, S. X X X I V ; wieder in: Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 18, Berlin 1883, S. 375. 23 Goethe: Dichtung und Wahrheit, Vorwort (1811). In: Goethes Werke. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 9, Hamburg 1955, S. 9. 26 Karl Immermann: Memorabilien. Erster Teil. In: Karl Immermann: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Benno von Wiese. Bd. 4, Frankfurt am Main 1973, S. 357, 361, 364. 27 Ebd., S. 374.
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anspruch zusammen, der „bei einem allgemeinen Sitten- und Charakterbilde" durch die „subjektive Darstellung" am besten erfüllt werde. 28 Schon viel unbekümmerter geht Gutzkow zu Werke, wenn er in seinem Buche Aus der Knabenzeit (1852) die „allgemeinen Seelen- und Lebenszustände" im damals (1811-1821) aufstrebenden Berlin entwerfen und damit Beiträge zu der soeben von Wilhelm Heinrich Riehl inaugurierten Wissenschaft der „Gesellschaftskunde" liefern w i l l . 2 9 Da er dabei von seinem eigenen „Entwickelungsbild" völlig absieht 30 , wirkt bei ihm der beobachtende „Knabe" weithin nur noch als Staffage, um den Schein einer autobiographischen Perspektive zu wahren. Vollends hat dann Eichendorff in seinen Memoiren (1857) auf eine Ich-Darstellung verzichtet, um besser aus der „Vogelperspektive" des Historikers das Zeitbild der eigenen Jugendjahre überschauen und deuten zu können: „Ich will nicht mein Leben beschreiben, sondern die Zeit (u. ihre Wechsel), in der ich gelebt, mit Einem Wort: Erlebtes im weitesten Sinne. Wenn dennoch meine Person vorkommt, so soll sie eben nur der Reverbere seyn, um die Bilder p: schärfer zu beleuchten." 31 In den auf uns gekommenen Memoiren-Fragmenten Eichendorffs ist die eigene Person nirgends eingeführt (auch nicht als „ W i r " der Generationsgenossen), und nur mehr von außen (durch die Entstehungsgeschichte 32 und sonstige biographische Zeugnisse) lassen sich die für das Zeitbild exemplarisch ausgewählten Einzelheiten (Gestalten, Orte, Situationen) als selbsterlebter Erinnerungsstoff nachweisen. Damit scheint im Verhältnis von Selbst- und Zeitdarstellung eine gattungsformale Grenze erreicht: Das Ich, das als Mittelpunkt den Darstellungshorizont auch hier noch bestimmt, ist bewußt eliminiert, um das historische Bild als alleiniges Thema voll und scheinbar ungehindert hervortreten zu lassen. In der zweiten Jahrhunderthälfte kehrt das Pendel aus solcher Extremsituation in eine Mittellage zurück. Nach 1860 läßt sich, wie schon angedeutet, allgemein eine erneute Ich-Zentrierung der deutschen Autobiogra-
28
Ebd., S. 375 f. Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Gutzkows Werke. Hrsg. von Peter Müller. Bd. 3, Leipzig und Wien o. J., S. 217 (Vorwort zur ersten Auflage, Februar 1852). - Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 1851. 30 Gutzkows Werke (Anm. 29), S. 215. 31 Aus dem Entwurf eines Vorwortes zu Erlebtes, geschrieben 1856/57. In: Joseph von Eichendorff: Erzählungen. 3. Teil: Autobiographische Fragmente. Hrsg. von Dietmar Kunisch. Tübingen 1998 (Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historischkritische Ausgabe. Bd. V/4), S. 98. 32 Vgl. Hermann Kunisch: Die Frankfurter Novellen- und Memoiren-Handschriften von Joseph von Eichendorff. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 329-389, bes. S. 364-368. 29
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phik erkennen, doch ist damit kein neues Interesse an der psychologischen und charakterologischen Selbstdarstellung, am inneren Entwicklungsbild verbunden; vielmehr bleibt der Blick nach außen aufs persönlich „Erlebte" gerichtet 33 , dies aber wird nicht mehr in seinem möglichen Bezug auf die Gegenwart, nicht mehr mit politisch-pädagogischem Engagement, vielmehr in historisierenden „Erinnerungen" (so lautet jetzt meistens der Titel) als endgültig entschwundene Epoche betrachtet und beurteilt. Dabei ergeben sich vor allem zwei Möglichkeiten der Welt- und Zeitdarstellung. Die eine Möglichkeit - und sie wird jetzt zur Regel - behandelt das Zeitgeschehen mehr als Hintergrund und läßt es nur mit konkreten, meist auffälligen Einzelheiten von außen an die eigene private Lebensgeschichte herantreten; ein zuständliches Zeit- und Gesellschaftsbild ist dabei weder beabsichtigt noch erreichbar. So ist etwa Kügelgen bestrebt, alle Weltbegebenheiten und alle berühmten Gestalten aus dem Bekanntenkreis der Familie, die in seine Jugendidylle hineinreichen, noch einmal wie die Seiten eines alten Bilderbuches aufzuschlagen; aber seine Vorliebe für das bedeutsam Individuelle und sein Verzicht auf eine sinnbildliche Auswahl des Erinnerten bringen es mit sich, daß die Fülle der Einzelszenen und -porträts sich trotz ergänzender Skizzen der geschichtlichen Zusammenhänge nirgends zum typisch-allgemeinen Zeitbild rundet. Vielleicht hat das populäre Buch gerade mit dieser Freude am konkret Besonderen auf die nachfolgende Autobiographik gewirkt; denn diese konzentriert sich in ihrer Zeit- und Umweltdarstellung gleichfalls gern auf interessante Begegnungen und die zufälligen eigenen Erlebnisse in Krieg und Revolution, um sie als persönliche Abenteuer in die Kette der Erinnerungen einzureihen und zugleich mit solchen Augenzeugenberichten Beiträge zur (sensationellen) Zeitgeschichte zu liefern. Es ist für diese Art der Zeitbildgestaltung nur folgerichtig, wenn die zunächst noch daran geknüpften allgemeinen geschichtlichen Überblicke schließlich für überflüssig erklärt werden können. 34
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Ein letztes Beispiel für die Darstellung des eigenen Entwicklungsbildes sind die Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten von Carl Gustav Carus (4 Teile. Leipzig 1865-1866); symptomatisch für die Folgezeit ist Wilhelm von Kügelgens Kritik daran: „Falsch erscheint mir, daß Carus sich selbst gar zu sehr zum Objekt seiner Darstellung macht. Ein Selbstbiograph soll vor allem schildern, was er gesehen und erlebt hat; in diesem Rahmen wird er selbst schon hinlänglich anschaulich werden." Brief an den Bruder Gerhard von Kügelgen, 26. Dezember 1866. In: Wilhelm von Kügelgen: Erinnerungen 1802-1867. Hrsg. von Johannes Werner. Bd. 3, Leipzig 1925, S. 376. 34 Vgl. Eduard Hanslicks Bemerkung zu Beginn seiner März-Erinnerungen (1893): „Es hat mich [ . . . ] sehr gelangweilt, in mancher neueren Selbstbiographie, z. B. der von Bodenstedt [Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde. Berlin 1888-1890], die politischen Ereignisse des Jahres 48, die ganze Entwicklung der Märzbewegung u.s.w. ausführlich geschildert zu finden, als wären das alles neue Dinge und nicht in jedem modernen Geschichtswerk nachzulesen.
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Daneben bleibt jedoch als zweite Möglichkeit, wenn auch seltener verwirklicht, die junge, von Immermann geschaffene Tradition der zuständlichen Zeit- und Gesellschaftsschilderung erhalten, nur daß sich jetzt statt des früheren engagierten Gegenwartsbezugs eine passive Erinnerung an politisch bewegte Zeit mit neuen kulturhistorischen Interessen verbindet. Ein Beispiel dafür sind Gustav Freytags Erinnerungen aus meinem Leben (1886). Für den Verfasser der Bilder aus der deutschen Vergangenheit und der Ahnen lag es nahe, auch in der Selbstbiographie, ausgehend von den historischen Wurzeln der Familie und des Geburtsorts, in einer kulturgeschichtlichen Bilderfolge den Alltag und die Lebensgewohnheiten der Vorfahren, des Elternhauses, der Heimatstadt, und weiterhin die Atmosphäre seiner Bildungsstätten und Berufskreise zu vermitteln und damit ein anschauliches „ B i l d des geistigen und politischen Lebens unseres Mittelstandes in den fünfziger und sechziger Jahren" 35 zu zeichnen. Der Einbau dieser Bilderfolge in den Gang und Rahmen der eigenen Lebensgeschichte gelingt hier um so leichter, als Freytag nicht erst die eigene Generation, sondern bereits sich selbst als Kind seiner Zeit empfindet, sich und seine Lebensverhältnisse wiederholt als repräsentatives Beispiel für „viele Tausende" vorstellt 3 6 und ebendeshalb auf eine individuelle Selbstcharakteristik weithin verzichtet. IV. In dieser Tradition der zeitbildlichen Erinnerungen steht auch Fontanes Autobiographik 3 7 , zugleich aber auch in der zuvor skizzierten Überliefe-
Ein Autobiograph, glaube ich, sollte aus jenem, allen Zeitgenossen so geläufigen Jahr, lediglich erzählen, was er persönlich, und nur Er, an charakteristischen Einzelheiten erlebt hat." (Eduard Hanslick: Aus meinem Leben 11,7. In: Deutsche Rundschau, Bd. 75, April 1893, S. 78). 35 Friedrich Meinecke: Rez. Über Die Memoiren des Herzogs Ernst von Sachsen-CoburgGotha, Bd. 1 (1888). Wieder in: F. M.: Werke. Hrsg. von Hans Herzfeld u. a. Bd. 7, München 1968, S. 241 (über Freytags Erinnerungen). 36 Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 2 1887, S. 3, 93, 306 f., 327 f. 37 Die Fontane-Literatur hat sich lange Zeit kaum mit der Autobiographik des Dichters als eigenständiger Literaturform beschäftigt. A m Anfang stehen ein paar freundliche Rezensionen (Paul Schienther, In: Vossische Zeitung, Berlin 1893, Nr. 51 der Sonntagsbeilage, 17. Dez.; Siegfried Samosch: Aus der Jugendzeit eines Dichters, in: National-Zeitung, Berlin 1894, Jg. 47, 14. Jan.; Moritz Necker, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Leipzig 1894, Nr. 13, 29. März; Moritz Heimann: Autobiographisches von Theodor Fontane, in: Neue deutsche Rundschau 9, 1898, S. 959-966), gefolgt von der verständnisvollen Kritik Conrad Wandreys (Theodor Fontane. München 1919, S. 337-344); dann ein jahrzehntelanges Schweigen, bis im Zuge der allgemeinen Fontane-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg mit den vorbildlich kommentierten Editionen der autobiographischen Schriften im Rahmen der Nymphenburger
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rung, das eigene Charakterbild im Spiegel der frühen Erlebnisse zu zeichnen, und gerade der Versuch, Selbstcharakteristik und Zeitbild als zwei gleichwertige Themenkreise in einer Darstellung zu verbinden, begründet die gattungsgeschichtliche Sonderstellung vor allem der Fontaneschen Kinderjahre am Ende des 19. Jahrhunderts. Seit Goethe war eine ausgeglichene Behandlung dieser Doppelthematik nicht mehr recht geglückt, ja nicht einmal mehr gewollt. Wenn sie Fontane jetzt wieder in Angriff nimmt, kehrt er freilich nicht einfach zur Goetheschen Ausgangsposition zurück; zu kräftig war inzwischen die historische Individualität der Umwelt, zu konkret die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit der selbsterlebten Zeit geworden, als daß sie nur den einwirkenden und also erläuternden Horizont für das Ich hätte bilden und im übrigen auf der Vorderbühne noch „Symbole des Menschenlebens" hätte erlauben können. Sollte am Jahrhundertende, auf dem Höhepunkt des historischen Denkens, wieder eine gleichwertige Darstellung von Innen- und Außenwelt in einer Autobiographie gelingen, so konnte es nur durch ihre polare Konfrontation als zweier selbständiger Bereiche geschehen. Das aber war jetzt nur noch bei einer Beschränkung auf denjenigen Lebensabschnitt möglich, wo das Ich noch einen ursprünglichen Eigenstand gegenüber seiner menschlichen Umwelt besitzt, noch nicht der Gesellschaft voll eingegliedert ist - in der Kindheit. Nur noch in der Kindheitsgeschichte konnte Fontane die beiden Themenkreise einander frei gegenübertreten lassen und in einer bipolaren Verschränkung zur geschlossenen Erzählung runden. (In den späteren Fortsetzungsbänden, wo das Ich, lebensalterbedingt, in der Gesellschaft „aufgehend" zum Kind der Zeit wird und also die beiden Kreise kongruieren, mußte notwendig die Erzählung - verglichen mit den Kinderjahren - an Gleichgewicht und damit an Spannung und Geschlossenheit verlieren.) Ermöglicht wird diese polare Einheit der Themenkreise vor allem dadurch, daß in Fontanes Kinderjahren weder das eigene Leben noch das der Familie noch das der weiteren gesellschaftlichen Umwelt als sich verän-
Fontane-Ausgabe (Bd. 14: Meine Kinderjahre, Bd. 15: Von Zwanzig bis Dreißig und Fortsetzungen. Hrsg. von Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau. München 1961, 1967) die Grundlage für eine Neubeschäftigung geschaffen wurde. Hans-Heinrich Reuter hat das Verdienst, als erster wieder Fontanes Autobiographik als eigenwillige Literatur neben den Romanen gewürdigt und sie dem Gesamtwerk des Dichters historisch eingefügt zu haben: HansHeinrich Reuter: Fontane. 2 Bde. München 1968, bes. Bd. 1, S. 87-110: Neuruppin und Swinemünde, und Bd. 2, S. 757-773: Lebensrückblick und Kindheitsroman. - Kurz daraufhat Walter Müller-Seidel in einem Vortrag über Fontanes Autobiographik (in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13, 1969, S. 397-418) auf die Vorliebe des Dichters für das literarische Selbstporträt in Autobiographik und Romankunst und auf die dadurch bedingte Nähe beider Gattungen im Werk Fontanes aufmerksam gemacht.
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dernd oder entwickelnd gesehen wird; entschiedener als selbst bei Freytag herrscht der Charakter des Zuständlichen vor, was Fontane durch ein außergewöhnliches Bemühen um die Einheiten des Ortes und der Zeit erreicht (ca. 80 % des Erzählumfangs nimmt der Swinemünder Schauplatz ein, von Ruppiner Erinnerungsbildern nur schmal gerahmt; überall wird zudem bei vorherrschendem Durativum die Zeit - mit einer wichtigen Ausnahme 38 - als stillstehend behandelt). Dadurch aber gelingt eine weitgehende Überschneidung der beiden Themenkreise, und in ihrem relativ umfangreichen und vielgliedrigen gemeinsamen Mittelfeld können sich Selbstporträt und Gesellschaftsbild wechselseitig konturieren. Nun mag es auf den ersten Blick befremden, daß hier überhaupt von einem Willen zum Selbstporträt gesprochen wird. Fontane gilt gemeinhin als ein extravertierter Autobiograph 39 , der wie seine Zeitgenossen wohl gern von anderen, aber sehr ungern von sich selbst spreche, und ebendeshalb hat Roy Pascal geglaubt, die Kinderjahre nicht zu den großen Autobiographien zählen zu können. 40 Aber auch wenn das Buch nicht mehr in die Reihe der kausalpsychologischen Autobiographien eines Rousseau oder Moritz gehört, ist ihm doch die Gestaltung eines Selbstporträts nicht verwehrt, und in der Tat lassen sich hier verschiedene Formen einer andeutendverschwiegenen, aber darum nicht minder eindrucksvollen Selbstdarstellung entdecken, die keineswegs ein „vereinfachtes, spannungsloses Bild der kindlichen Seele" 41 entwirft. Schon die wenigen, aber wichtigen Partien, die die seelischen Stimmungen des Kindes unmittelbar vergegenwärtigen, sprechen dagegen. Sie veranschaulichen teils die Vorliebe des „phantastischen" 42 Kindes für das Unheimliche und Schauerliche 43 , teils seine Empfänglichkeit für Naturbilder 4 4 , teils sein eigentümliches Glücksgefühl beim Spielen für sich allein 4 5 : Immer ist es ein einsames Erlebnis des Ich, das die dabei empfundenen
38
S. U.S. 189. Vgl. Lilian R. Fürst: The Autobiography o f an Extrovert: Fontanes Von Zwanzig bis Dreißig. In: German Life and Letters. N. S. 12 (1958/59), S. 287-294; S. 293: „Nothing could be more alien to Fontane than to hold up a mirror to his own personality and feelings." 40 Roy Pascal: Design and Truth in Autobiography. London 1960. Deutsch u. d. T.: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart u.a. 1965 (Sprache und Literatur 19), S. 117. 41 Ebd. 42 Kinderjahre, S. 39. 43 Vgl. ebd., S. 26 (nächtliche Wagenfahrt), S. 35, 39 (Spuk des „ o l l Geisler"), S. 99-105 (Geschichte von „ M u h r un sine Fru"), S. 173 f. (Identitätserlebnis in „Störtebeckers Kul"). 44 Vgl. ebd., S. 31, 174 (Bohlenbrücke am Teich = Lieblingsaufenthalt), S. 33 (Blick durch den Hausflur), S. 86 (Abendstimmung im Bauerngarten), S. 179 (Eislauf). 45 Vgl. ebd., S. 42 (Schaukelszene), S. 145 f. („poetisch-phantastisches" Versteckspiel). 39
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„geheimen Schauer" 46 als individuell erfahrene Poesie (im Unterschied zur „Prosa der Umgebung" 4 7 ) begreift. Damit betonen diese Selbstbildnisse nicht nur die prinzipielle Eigenständigkeit des Ich gegenüber aller menschlichen Umwelt, sie bestimmen auch als seine konkrete Eigenart die Einbildungskraft einer Poetennatur und erfüllen so bereits zum guten Teil die im Vorwort angekündigte lebensrepräsentierende Aufgabe der Kindheitsgeschichte. Zu den bewußt isolierten Einzelbildern tritt eine Reihe indirekter Selbstporträts, skizziert in der Begegnung des Ich mit den Gestalten seiner Umgebung durch eine Art Synchronisation von Fremd- und Selbstcharakteristik. Dies beginnt bei peripheren Figuren 48 , gewinnt deutlichere Umrisse im Verhältnis zu den Spielkameraden 49 und erreicht seinen Höhepunkt in der Beziehung zu den Eltern, vornehmlich zum Vater, der den Hauptpart der autobiographischen Spiegelung übernimmt 50 , ohne seine Individualität darüber einzubüßen. Schon der Anekdotenerzähler Louis Henri Fontane, seine Vorliebe fürs Plaudern und Schauspielern, tritt gerade in Gesprächen mit dem „entzückt" lauschenden Sohn am besten in Erscheinung 51 , und mehr als die ausdrücklichen Hinweise auf das Erbgut der Causerie oder den Nutzen des väterlichen Geschichtsunterrichts für den späteren Geschichtenerzähler Fontane hat jene Anfangsszene 52 autobiographischen Verweischarakter, wo das Kind selbst den Vater zum Erzählen auffordert und damit sich und ihm die ihnen beide notwendige Atmosphäre des Poetischen schafft. Noch in manchen weiteren Zügen 5 3 betont Fontane eine Wesensverwandtschaft zwischen Vater und Sohn, und so darf der Leser folgern, Fontane habe die Parallele vollends durchziehen und stillschweigend auch die durchgängig veranschaulichten Grundeigenschaften des Vaters, seine Bonhomie und Humanität, als eigene Wesenszüge andeuten wollen. 5 4 Die ungewöhnliche Dominanz der Vatergestalt in dieser Autobiographie wird z. T. aus solch mehrfacher Eignung zum mittelbaren Selbstbildnis verständlich. Autobiographische Funktion besitzt aber auch das durch die
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Ebd., S. 26, 174, 179. Ebd., S. 39. 48 Z. B. ebd., S. 82 f. (Mamsell Schröder), S. 133 f. (Dr. Lau), S. 153 f. (Teinturier). 49 Vor allem ebd., S. 174-180 (Räuberspiele und Straßenschlachten); vgl. u. S. 189. 50 Vgl. zum folgenden Reuter (Anm. 37), Bd. 1, S. 71. - Vgl. Müller-Seidel (Anm. 37), S. 411. 51 Kinderjahre, S. 51, 123-125, 159-165. 52 Ebd., S. 12 f. 53 Ebd., S. 104 f. (Gespensterfurcht), S. 112 (Gourmand: „ D u bist deines Vaters Sohn."). 54 Vgl. Müller-Seidel (Anm. 37), S. 411. 47
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Gestalt der Mutter ermöglichte wechselseitige Elternporträt. Begünstigt vom Motiv des schwelenden Ehekonflikts, zieht es der Autobiograph in einer Folge von Szenen durch das ganze Buch und baut im Wechsel von Dramatik und Verhaltenheit das Spannungsfeld einer Familienatmosphäre auf, die er nun als die entscheidende Lebensluft des Kindes deutet. 55 Denn in diesen Raum wird es gestellt (scheinbar allein, die Geschwister sind bewußt eliminiert), beobachtend, vermittelnd, verlegen tröstend, auf gute und verfehlte Erziehungsakte sensibel reagierend 56 : Nicht zuletzt um seine Selbstauffassung als Sohn dieser Familie darzustellen, hat Fontane dem Stimmungsbild des Elternhauses so breiten Raum gegönnt. Das eingefugte Intermezzo-Kapitel Vierzig Jahre später 57 bringt vor allem diesen Aspekt des Selbstporträts zum Abschluß. Fontane „rundet" dort den Charakter des Vaters nicht nur darum „nach oben hin ab", um diesen in seiner letzten Gestalt und zugleich sich selbst in einem sublim gebrochenen Altersporträt zu zeichnen 58 , sondern auch um eine Summe des in den Kinderjahren entworfenen Familienbildes und der eigenen Position darin zu ziehen. Wie im 5. Kapitel 5 9 sucht der Sohn den Vater auf - die Wiederholung will erneut Kindheits- und Lebensgeschichte identifizieren - , der Causeur Louis Henri Fontane darf noch einmal alle Register ziehen und erreicht dabei das Ziel seines an den Sohn gerichteten Selbstgesprächs: die Ehe der Eltern und die Frage nach der Schuld ihres Scheiterns. Man hat bei dieser Beichte des Vaters die Rolle des Sohnes noch zu wenig beachtet. Er allein scheint fähig, das Bekenntnis entgegenzunehmen, und indem er es annimmt, ja um die Erlaubnis bittet, es der Mutter mitzuteilen, übt er sein altes Amt des Verstehens und Vermitteins - bis in die Wiederholung der Geste hinein. 6 0 In dieser „eigentlichen" 6 1 Begegnung formuliert Fontane ein endgültiges Bekenntnis zu seinen Eltern und ihrer Welt, also zum eigenen Herkommen. Das poetischste Kapitel der Kinderjahre enthält somit ein reales Selbstbekenntnis des Autors und scheint darin den Bereich des fabulierenden Spiels zu verlassen - vorausgesetzt, daß in Fontanes Autobiographik die Unterscheidung von fiktivem und nichtfiktivem Sprechen überhaupt noch 55
Diese Deutung wird ausdrücklich in Kap. 14 formuliert (Kinderjahre, S. 139 f.). Z.B. ebd., S. 51, 107 f., 112, 143, 170 f. 57 Ebd., S. 157-168 (16. Kap.). 58 Ebd., S. 157. - Vgl. Helmuth Nürnberger: Theodor Fontane in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1968, S. 146 f., wo nur der zu enge Ausdruck „Identifizierung mit dem Vater" zur übrigen Darstellung nicht passen w i l l . - Vgl. Müller-Seidel (Anm. 37), S. 411. 59 Kinderjahre, S. 51. 60 Vgl. ebd., S. 51, 166. 61 Entnommen dem Motto dieses Summe-ziehenden Kapitels: „Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich." (Ebd., S. 157). 56
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sinnvoll ist. 6 2 Jedenfalls erweist der Bekenntnischarakter dieses Einschubs rückwirkend das Netz von Reflexionen und Urteilen, das aus der Sicht von „ganz zuletzt" über alle Kapitel des Buches geworfen ist, als integrierenden Teil 6 3 dieser autobiographischen Erzählung. M i t dem Elternporträt ist aber bereits das Überschneidungsgebiet der beiden Themenkreise der Kinderjahre betreten; denn die Apothekerfamilie Fontane trägt, wenigstens im Swinemünder Hauptteil, als Glied der kleinstädtischen Honoratiorenwelt auch zum Gesellschaftsbild bei, ja dieses erfährt im Elternhaus seine lebendigste Konkretisation. Wenn Fontane dabei zur Einführung die einzelnen Familien, die zur „Gesellschaft" zählen (die unteren Stände fungieren lediglich als Staffage im idyllischen Straßenbild der Stadt) 64 , in einer geschlossenen Kapiteltrias 65 hierarchisch gegliedert vorstellt und sie durchaus Physiognomie, j a Geschichte gewinnen läßt, so bietet er damit nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, eine Galerie isolierter Porträts, sondern zeichnet alle Gestalten immer auch in ihrem Verhältnis zu den übrigen und dann jeweils anonymen „Swinemündern", als konkrete Manifestationen der einen Gesellschaft, für die keine bestimmte Familie, sondern ein stadtbeherrschender „ T o n " repräsentativ bleibt. Ziel ist von Anfang an das allgemeine Stimmungsbild einer lebenslustigen, dem Jeu ergebenen, bankrottgefährdeten Stadtgesellschaft. Zum guten Teil kann Fontane schon hier seine Absicht verwirklichen, am Beispiel „einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts" 6 6 seinen Lesern das kulturhistorische Bild einer entschwundenen Epoche zu vermitteln. Dessen anschaulichste Vergegenwärtigung erreicht er aber wieder in denjenigen Anekdoten und Szenen 67 , in denen er die Eltern als Mitglieder dieser Gesellschaft auftreten läßt. Wieder, wie schon beim Selbstporträt, spielt der Vater die Hauptrolle, diesmal als passionierter Spieler und gutmütiger Gesellschafter, und ist gerade darin wie geschaffen, die Swinemünder Lebensart nach der liebenswerten wie nach der
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Vgl. u. S. 194 f f . Reuter (Anm. 37) hat diese Einheit von früher und später Sicht mit dem glücklichen Ausdruck „stereoskopische Plastizität" veranschaulicht (Bd. 2, S. 772). 64 Kinderjahre, S. 52 f. (Bollwerkszene). 65 Ebd., S. 52-80 (6.-8. Kap.). 66 Ebd., S. 7 (Vorwort). 67 Ebd., S. 44 f. (Kaffeegesellschaft der Mutter), S. 48 f. (Unterhaltungsgabe des Vaters), S. 59 (circle intime), S. 80 (Neckereien mit dem Vater), S. 93-98 („Große Gesellschaft" im Elternhaus - der Höhepunkt dieser Szenen), S. 108 (Whistspiel in der Apotheke), S. 121 (Abschiedssouper). 63
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fragwürdigen Seite zu repräsentieren - ein weiterer Grund für seine zentrale Stellung in diesem Buch. Der Einbau des Elternporträts ins Gesellschaftsbild dient aber nicht nur deren gegenseitiger Veranschaulichung, er gibt dem letzteren auch eine hintergründig autobiographische Funktion. Denn der Erzähler bleibt auch hier nicht neutraler Beobachter und Berichterstatter. Obwohl er als Kulturhistoriker bestrebt ist, das Für und Wider abzuwägen, und mit der möglichst anschaulichen Schilderung des Gewesenen keine generelle Gesellschaftskritik intendiert, verzichtet er doch nicht auf ein ganz von persönlicher Sympathie getragenes Werturteil, wenn er das übermütig-„poetische" Swinemünde vor der Folie des soliden, aber spießbürgerlich-„prosaischen" Neuruppin charakterisiert 68 oder wenn er in den Gesellschaftsszenen regelmäßig die Solidität der Mutter gegen den väterlichen und überhaupt Swinemünder Leichtsinn auftreten und dabei sein Verständnis für den Vater durchblicken läßt, welche Parteinahme durch gelegentliche Hinweise 69 auf die Wesensverwandtschaft der Mutter mit dem „prosaischen" Neuruppin noch bekräftigt wird. 7 0 Damit aber steht, wie schon das Selbstporträt, nun auch das Gesellschaftsbild unter dem Wertgegensatz von „Poesie" und „Prosa", und beide Bilder werden gerade hierin gespiegelt vom antinomischen Elternporträt, das in verbindender Mitte steht. Indem sich Fontane dabei jedesmal für die Poesie und gegen die Prosa entscheidet, läßt er vor allem die Schlüsselposition der Vatergestalt zwischen den beiden Themenkreisen der Kinderjahre vollends deutlich werden: Einerseits indirektes Selbstporträt des Dichters, andererseits beste Verkörperung des Swinemünder Geistes, vermittelt der Vater in hervorragender Weise die wiederholte Spiegelung zwischen der Poetennatur Fontane und dem Motiv des „poetischen" Swinemünde. Auch das Gesellschaftsbild also birgt ein Selbstbekenntnis, das überdies die Wahl gerade dieser Stadt zum Hauptschauplatz der Kinderjahre verständlich macht. 71
68
Z. B. ebd., S. 56 f., 69, 80, 163. Ebd., S. 21,46, 184. 70 Diese Doppelrolle wurde wiederholt beobachtet, durch weitere Werk- und Briefzeugnisse ergänzt und so als ein Grundmotiv in Fontanes Leben und Werk erwiesen: Reuter (Anm. 37), Bd. 1, S. 87-110; Kenneth Attwood: Fontane und das Preußentum. Berlin 1970, S. 43-46. Weil aber dabei die Belege aus den Kinderjahren als Quellenmaterial neben anderen Belegen verwertet wurden, konnte ihre spezifische Funktion innerhalb der Autobiographie (verstecktes Selbstbekenntnis) nicht gesehen werden. 71 Zu Fontanes Flucht vor Neuruppin in den Kinderjahren vgl. Hans-Heinrich Reuter: Theodor Fontane. Grundzüge und Materialien einer historischen Biographie. Leipzig 1969 (Reclams Universal-Bibliothek 372), S. 27 f. 69
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Scheint hier letztlich das Gesellschaftsbild in den Dienst des Selbstporträts genommen, so zeigen die beiden letzten Kapitel 7 2 der Kinderjahre das umgekehrte Verhältnis und stellen das Gleichgewicht wieder her. Der bis dahin vorherrschende Charakter des Zuständlichen verwandelt sich hier in den der Bewegung, der Geschichte. „Das letzte Halbjahr" bedeutet den Abschied von Swinemünde und der Kindheit, das Ich wird sich in Selbstgesprächen einer ersten Lebenszäsur bewußt. Fontane hat diesen Abschied mit der Niederlage in den kindlichen Straßenkämpfen verbunden, die er als eine „Revolution" der Schifferjungen gegen die „Neckereien" der Honoratiorenkinder gestaltet. 73 Die aktuellen Zeitereignisse (Julirevolution 1830 und ihre europäischen Nachwirkungen) hatte Fontane höchstens als sensationelle Zeitungslektüre des Zehnjährigen einschalten 74 , aber nicht ins Gesellschaftsbild verflechten können, da sie für die Erwachsenen kein Gesprächsstoff sind (sie unterhalten sich lieber über Napoleon und seine Marschälle). Wohl aber konnte er in der Kinderrevolution und im eigenen Niederlage- und Abschiedserlebnis eine gleichnishafte Vorschau auf den Abschied der europäischen Gesellschaft von ihrem bisherigen Zustand geben. Von hier aus erhält das Resümee der Kinderjahre: „Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach [ . . . ] " 7 5 auch einen zeitkritischen Bezug, der das „erste Drittel des Jahrhunderts" nicht mehr als zeitenthobene Idylle sieht, sondern ihm - nicht zuletzt auch von 1890 her - einen genauen politisch-historischen Ort zuweist. Der hier skizzierte Überblick mag verdeutlicht haben, wie in Fontanes Kinderjahren Selbstporträt und Gesellschaftsbild als zwei selbständige Bereiche zueinandertreten und sich mit Hilfe eines breiten gemeinsamen Mittelfeldes (Vaterporträt, Elternhaus, kindliche Umwelt) unter der gleichermaßen autobiographischen wie gesellschaftshistorischen Chiffre der „Poesie" (mit der „Prosa" als Folie) in einem für die zeitgenössische Autobiographik einzigartigen Bezugsreichtum ineinander spiegeln und verschränken. Daß dies auf so virtuose Weise gelingen konnte, verdankt das Buch neben dem schon angedeuteten Bemühen um den Charakter des Zustandsbildes jener Erzähltechnik, die Fontane während der ganzen Entstehungszeit der Kinderjahre so hartnäckig verteidigt hat: der „unbarmherzigen Kleinmalerei". Nur indem er beide Themen mit ungezählten Einzelbeispielen bis ins Anekdotische und Beiläufige hinein illustriert und scheinbar
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Kinderjahre, S. 173-185 (17. und 18. Kap.). Ebd., S. 176. Ebd., S. 113-115. Ebd., S. 184.
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atomisiert, wird ihre nötige Mischung und Durchdringung auf dem einen Schauplatze erreicht und in jedem Erzählabschnitt, fast in jedem Satz eine gleichzeitige Behandlung der Themen oder doch eine versteckte Bezugnahme aufeinander möglich. Oft genug verwirklicht es Fontane schon im referierenden Erzählen, am schönsten aber erreicht er dieses Ziel in der Gesprächsgestaltung, und es lohnte eine eigene Untersuchung der Frage, mit welcher künstlerischen Ökonomie Fontane gerade dieses Erzählmittel in seine Erinnerungen einbaut. Die Dialogszenen spiegeln auf stilistischer Ebene das für die thematische Konstellation verwendete Bild der sich überschneidenden Kreise: Im Gespräch kann sich die gegenseitige Charakteristik der Personen (einschließlich des Ich), ihr Verhältnis sowohl zueinander wie auch zum Gesprächsthema mit allen Obertönen des Andeutens und Verschweigens am nuanciertesten artikulieren; zugleich entschwindet dem Leser für die Dauer der direkten Gesprächspartie die Figur des Erinnerungserzählers und damit der letzte Eindruck eines Überblickens nebenund nachgeordneter Erzählelemente, so daß sich gerade in den Dialogszenen (die hier j a stets anekdotische, nie dramatische Funktion haben) das intendierte Zustandsbild am reinsten verwirklicht. In der Verwertung unmittelbarer Gesprächsszenen kulminiert denn auch die formale Besonderheit dieser Autobiographie; es ist derjenige Stilzug, worin einerseits ihre Detailmalerei am entschiedensten vom „Ueblichen" in der zeitgenössischen Autobiographik abweicht, und welcher andererseits Fontanes Kinderjahre am klarsten in die stilgeschichtliche Reihe seines Romanwerkes einzugliedern erlaubt. Auch wenn Reuters These von der notwendigen „Vorbereitung" der letzten Romane durch die Autobiographik nicht Stich hält 7 6 , so
76 Vgl. Reuter (Anm. 37), Bd. 2, S. 762-764. So sehr Reuters These besticht, so kann sie doch nicht des historischen Nachweises entraten. Der Begriff „Vorbereitung" würde im Falle des ersten Werkpaares (Kinderjahre - Efß Briest) nur dann zutreffen, wenn sich nachweisen ließe, daß alle von Reuter genannten Gemeinsamkeiten in M o t i v i k und Struktur erst nach 1892 dem Roman zugute gekommen sind. Die vorhandenen Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte von Efß Briest sprechen aber ein non liquet (vgl. Theodor Fontane: Romane und Erzählungen. Hrsg. von Peter Goldammer u.a. Bd. 7, Berlin und Weimar 1969, S. 536-548). Aber selbst wenn z. B. das Kessin-Bild erst nach dem Swinemünde der Kinderjahre im Roman gestaltet worden wäre, könnte man nicht von einer „ermöglichenden" Vorbereitung sprechen, da Fontane ebendieses Bild schon in Graf Petöfy (1883) und, wie Reuter selbst (Bd. 1, S. 97) betont, dort sogar poetischer geschildert hatte als in den späteren Werken. - Für das andere Paar (Von Zwanzig bis Dreißig - Der Stechlin) ist der Begriff „Vorbereitung" deshalb nicht verwendbar, weil beide Werke gleichzeitig b e i e i n a n d e r entstanden sind (Reuter, Bd. 2, S. 758) und dadurch der Einzelbeweis des Nacheinander vollends unmöglich wird. - Grundsätzlich bleibt hier zu fragen, wieweit dieser These Reuters von der dienenden Funktion der Autobiographik gegenüber dem Romanwerk das seit Hegel herrschende Dogma einer apriorischen Minderwertigkeit der Zweckformen zugrunde liegt, dem sich gerade Fontane nicht mehr zu beugen bereit war (s. u.).
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ist ihm doch voll zuzustimmen, wenn er gerade in den Kinderjahren wegen ihrer „Leichtigkeit des Erzähl- und Gesprächsflusses" 77 den Auftakt für die letzte und „eigentliche" Periode der Fontaneschen Alterskunst erblickt.
V. Das führt schließlich zu der Frage, wieweit bei Fontane noch eine gattungstheoretische Grenze zwischen Autobiographie und Roman zu ziehen, wie der Untertitel der Kinderjahre: Autobiographischer Roman zu verstehen sei. Diese Frage der Abgrenzbarkeit beider Gattungen beschäftigt das ganze 19. Jahrhundert, und sobald in dessen erster Hälfte die Autobiographie, auch quantitativ, immer deutlicher in Erscheinung tritt und in ihrem Gefolge die Sonderform des autobiographischen Romans und der „Erinnerungserzählung" 78 auflebt, wird namentlich die Definition der realen Autobiographie gegenüber diesem neuen poetischen Nachbarn erörtert, im größeren Zusammenhang der Diskussion über die Abgrenzung von Zweckliteratur und Dichtung innerhalb des Prosa-Schrifttums der Zeit. 7 9 Wurde zu Beginn des Jahrhunderts der Roman noch in der Nähe der Zweckformen gesehen (Friedrich Schlegel 1797, Bouterwek 1815) 80 , so wird er in der Folgezeit immer mehr als Nachfolger des Epos betrachtet
77
Reuter (Anm. 37), Bd. 2, S. 770. Fritz Martini: Zur Theorie des Romans im deutschen „Realismus" (1959). Wieder in: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hrsg. und eingeleitet von Reinhold Grimm. Frankfurt am Main und Bonn 1968, S. 157. 79 Einen Überblick über den Wechsel in der Bewertung der Zweckformen während der letzten zweihundert Jahre in Deutschland gibt Friedrich Sengle im Rahmen seiner Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre (Dichtung und Erkenntnis 1. Stuttgart 2 1969, S. 726). - Vgl. auch den Beitrag „Probleme literarischer Zweckformen" in diesem Band, S. 9-27. 8() Friedrich Schlegel: „Werke die mit dem Roman verwandt sind: philosophische Dialogen, individuelle Reisebeschreibungen, Witzwerke, Bekenntnisse, Wollustwerke, alle Conversationsdarstellung, alle Darstellung von Idealen wie Cyropaedie - auch die Biographie Anekdoten." (Literary Notebooks, Nr. 581. Ed. by Hans Eichner. London 1957, S. 71 f.). Friedrich Bouterweks Aesthetik (Göttingen 2 1815) behandelt den Roman innerhalb der „Poet i k " am Ende der „fünften oder Ergänzungs-Classe" der „Dichtungsarten" als einen „Uebergang zur Theorie der schönen Prose" (Thl. 2, S. 249-254). - Vgl. auch Friedrich Schleiermacher: „Der Roman unterscheidet sich schon durch die Prosa von den übrigen Dichtungen, und was den Stoff betrifft, so wie die Form, so nähert er sich dadurch der Geschichtschreibung überhaupt." (Vorlesungen über die Aesthetik [1825]. In: F. Sch.: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Carl Lommatzsch. 3. Abt., Bd. 7, Berlin 1842, S. 700). - Weitere Belege für die Einordnung des Romans zwischen Poesie und Prosa, sogar noch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bringt Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart u.a. 1969 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 11), S. 103-109. 78
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und schließlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als poetische Erzählgattung anerkannt. 81 Dementsprechend vergrößert sich, zumindest in der Theorie, die Kluft etwa zur Historiographie. Bei dieser tritt umgekehrt ihr künstlerischer Pol, in Wilhelm von Humboldts abwägender Definition („schöpferisches" „Ahnungsvermögen und Verknüpfungsgabe", wenn auch nicht „reine Phantasie") 82 noch voll anerkannt, seit Hegels entscheidender Akzentverlagerung zugunsten der „prosaischen Charakterzüge" und der „ratlosen Willkür" des Geschichtsstoffes 83 mehr und mehr zurück vor ihrem wissenschaftlichen Pol einer „gründlichen Erforschung des Einzelnen" (Ranke 1824) 84 und der unbedingten Pflicht zur „sächlichen Wahrheit" (Vischer 1857). 85 Analog vollzieht sich die immer deutlichere Definition der Autobiographie gegenüber formal verwandten poetischen Formen, vor allem dem autobiographischen Roman. Beliebter Ausgangspunkt ist dabei Goethes Titel Dichtung und Wahrheit. Anfangs wird in ungefährem Einklang mit Goethes bekannter Erläuterung 86 , die in diesem Doppelausdruck den Anspruch des Autobiographen auf eine deutend-ordnende Darstellung des „eigentlichen Grundwahren" seines Lebens aus der „dichterischen" Perspektive der Rückerinnerung formuliert sehen will, „Dichtung" in Auto81
Friedrich Sengle: Voraussetzungen und Erscheinungsformen der deutschen Restaurationsliteratur (1956). Wieder in: F. S.: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850. Stuttgart 1965, S. 141. - Ders.: Der Romanbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1959). In: Ebd., S. 175-196, bes. S. 177 ff. - Reinhard Wagner: Die theoretische Vorarbeit für den Aufstieg des Romans im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 74 (1955), S. 353-363. 82 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821). In: W. v. H.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 4, Berlin 1905, Neudruck Berlin 1968, S. 36 f. - Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: Rez. Ober Walter Scotts Napoleon (1827). In: V . v. E.: Zur Geschichtschreibung und Litteratur. Hamburg 1833, S. 86. 83 Hegel: Ästhetik [um 1820]. Hrsg. von Friedrich Bassenge. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1966. Bd. 2, S. 354. 84 Leopold Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber. Eine Beylage zu desselben romanischen und germanischen Geschichten. Leipzig und Berlin 1824, S. 28: „ W i r unsers Orts haben einen andern Begriff von Geschichte [als Guicciardini]. Nackte Wahrheit ohne allen Schmuck; gründliche Erforschung des Einzelnen; das Uebrige Gott befohlen; nur kein Erdichten, auch nicht im Kleinsten, nur kein Hirngespinnst." 85 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik, § 848 (1857). Neuausgabe durch Robert Vischer. Bd. 6, München 2 1923, S. 61. 86 Goethe an König Ludwig I. von Bayern. Weimar, 12. Januar 1830 (auch als Beilage zum Brief an Zelter. Weimar, 15. Februar 1830; daher Erstdruck in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Riemer. 6 Theile. Berlin 1833-1834). In: Goethes Briefe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 4, Hamburg 1967, S. 363. - Vgl. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1811 (geschrieben um 1825); zu Kanzler von Müller, 13. Juni 1825; zu Eckermann, 30. März 1831.
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biographien als „Symbol der zartesten Achtung für geschichtliche Wahrheit" (Woltmann 1815) 87 , als „Keuschheit im Mittheilen des Innenlebens", als „milderndes und verschleierndes Element unerträglicher Wirklichkeiten" (Th. Mündt 18 3 5) 8 8 anerkannt, ja die Zeichnung von „Idealbildern", etwa der Eltern aus der Kinderperspektive, als ein „Hineindichten ins Leben" zugestanden (Mündt über Hippels Selbstbiographie, 1833) 89 . Noch also wird in autobiographischer „Wahrheit" und „Dichtung" kein Gegensatz, sondern höhere Einheit gesehen. Bald aber melden sich Stimmen, die in der Autobiographie, weil an deren Rückblick die Einbildungskraft notwendig beteiligt ist, eine fragwürdige Mischung von Poesie und Geschichte erblicken (was Woltmann noch ausdrücklich bestritten hatte): In ihr werde die „unverfälschte Wahrheit" „durch unwillkührliche Dichtung verunstaltet" (Henrik Steffens 1831), weshalb diese Wahrheit nur „hinter dem durchsichtigen Schleier zugestandener Dichtung", in autobiographischen Novellen, darstellbar sei. 90 Andere nehmen sich vor, ihre Erinnerungen „ i n ihrer reinen Wahrheit ohne eine poetische Ausschmückung", „keine Dichtung und Wahrheit, keine Reiseschatten" zu bringen (Justinus Kerner 1849) 91 . Diese Forderung nach strikter Abstinenz von allem Erdichteten in der Autobiographie verstärkt sich noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts: Fr. Th. Vischer (1874) 9 2 verlangt von ihr die „strenge, sachliche" Darstellung der „faktischen Wahrheit" und mißtraut grundsätzlich der Autobiographie der Poeten, deren Kompositionsbedürfnis allzuleicht „erfinde" und „hinzudichte"; schon Goethes Selbstbiographie sei „zu sehr Kunstwerk". Spielhagen 93 fordert gar (1882) die Erwähnung auch der „völlig unpoetischen, weil völlig zufäl-
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Karl Ludwig Woltmann: Memoiren des Freiherrn von S - a. Prag und Leipzig 1815. Thl. 1, S. 86 f. 88 Theodor Mündt: Rahel und ihre Zeit (1835). In: Th. M.: Charaktere und Situationen. Wismar und Leipzig 1837. Thl. 1, S. 216. 89 Theodor Mündt: Th. G. von Hippel's Lebenslauf nach aufsteigender Linie. Eine biographisch-literarische Skizze. In: Th. M.: Kritische Wälder. Blätter zur Beurtheilung der Literatur, Kunst und Wissenschaft unserer Zeit. Leipzig 1833, S. 208 (über Hippels Selbstbiographie in Schlichtegrolls Nekrolog 1796-1797). 90 Henrik Steffens: Wie ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Luthertum ist. Eine Confession. Breslau 1831, S. 21. 91 Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit [1849]. M i t vielen zeitgenössischen Illustrationen. Hrsg. und erläutert von Günter Häntzschel. Frankfurt am Main 1978 (insel taschenbuch 338), S. 10 (Vorrede). 92 Friedrich Theodor Vischer: Gottfried Keller. Eine Studie (1874). In: Fr. Th. V.: Kritische Gänge. Hrsg. von Robert Vischer. Bd. 6, München 2 1922, S. 242. 93 Friedrich Spielhagen: Der Ich-Roman (1882). In: F. S.: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883, S. 181 f., 185.
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ligen Störungen" im Leben, da „sonst die Rechnung nicht stimmen würde", d. h. das Leben soll in der Autobiographie mit mechanischer Strenge als lückenloser Kausalzusammenhang gezeichnet werden; jede „Veränderung" in Richtung auf „Idealität" und „Totalität", die allein dem Roman zukomme, sei ein „Fälschen", die „schlimmste aller autobiographischen Sünden". Solch scharfe Sonderung der Selbstbiographie von der Dichtung läßt diese Kritiker sogar im autobiographischen Roman (am Beispiel des Grünen Heinrich) ein „amphibisches Genus" 94 erblicken, worin sie Erdichtung und reale Selbstdarstellung in rein stofflichem Nebeneinander addieren und verrechnen. Nur vor diesem Hintergrund einer radikalen Prosaisierung der Autobiographie wird Gottfried Kellers 95 eigene Ablehnung der „unpoetischen" autobiographischen Form seines umgearbeiteten Romans verständlich, eine Kritik, die nicht erst durch eine vielleicht mangelhafte Sublimierung des Erlebnisstoffes, sondern schon durch die formale Analogie zur Autobiographie die Poesie im Roman beeinträchtigt glaubt. Angesichts dieser um 1880 allgemein gewordenen Tendenz zur unüberbrückbaren Trennung der fiktiven und nichtfiktiven Literaturformen darf Fontanes konträre Auffassung besonderes Interesse beanspruchen. Anfangs hatte auch er die Unterschiede betont und war überzeugt, daß die „Dichtung andere Wahrheitsgesetze" und damit auch andere Darstellungsgesetze habe als „die Geschichte" 96 ; aber seine späteren und nur sporadischen Äußerungen über die Aufgaben des Schriftstellers beschäftigen sich kaum mehr mit Gattungsfragen, um so mehr mit dem Problem der Kunst. „Ich sehe klar ein", schreibt er 1882 an seine Frau, „daß ich eigentlich erst beim 70er Kriegsbuche und dann beim Schreiben meines Romans [Vor dem Sturm] ein Schriftsteller geworden bin, d. h. ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt." 9 7 Der Kunstcharakter des Werks ist das entscheidende Kriterium, und aus dieser für Fontane allein wichtigen Perspektive stellt er das historiographische Buch und den historischen Roman wie selbstverständlich auf die gleiche Ebene. Fontane anerkennt damit grundsätzlich wieder die Möglichkeit, j a Notwendigkeit einer künstlerischen Darstellung auch in den Zweckformen;
94 Vischer: Gottfried Keller (Anm. 92), S. 246. - Vgl. Spielhagen: Der Ich-Roman (Anm. 93), S. 223. 95 Gottfried Keller an Paul Heyse, Samstag nach Martini 1880; an Paul Nerrlich, 28. Februar 1881; vgl. an Theodor Storm, 11. April 1881. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Carl Helbling. Bern 1950-1954. Bd. 3/1, S. 48; Bd. 4, S. 227; Bd. 3/1, S. 456. 96 Theodor Fontane: Willibald Alexis (1872). In: Th. F.: Literarische Essays und Studien. 1. Teil. Hrsg. von Kurt Schreinert. München 1963, S. 201. 97 Fontane an seine Frau. Norderney, 17. August 1882. In: Briefe 3, 201.
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nicht nur sachgerechte Darbietung des Stoffes, auch literarische Qualität fordert er wieder von diesem Schrifttum: „Auch die Darstellung des Kriegshistorischen [als eines Beispiels für Geschichtsschreibung überhaupt] ist zu sehr wesentlichem Teile Sache literarischer und nicht bloß militärischer Kritik. Ordnen und Aufbauenkönnen ist wichtiger als ein reicheres Wissens- und Erkenntnismaß." 98 Damit wird die Hegeische Akzentuierung erstmals wieder rückgängig gemacht, und um die wiedergewonnene Priorität des künstlerischen Moments auch praktisch zu bekräftigen, arbeitet der späte Fontane in seinen historischen Schriften zunehmend mit den Mitteln seiner sich gleichzeitig immer mehr verfeinernden Romankunst (Hervortreten des ordnenden Erzählers, Gesprächseinlagen), so daß vor allem im letzten Lebensjahrzehnt Roman und Historie sich immer deutlicher in dem einen unverwechselbaren Fontane-Ton begegnen. Theoretisch wie praktisch also ignoriert Fontane den damals aktuellen Streit um Roman und Zweckform, um Poesie und Prosa in den Erzählgattungen und setzt an seine Stelle allein die Wertfrage, die für ihn nie mit der Gattungsfrage identisch ist. Von hier aus ist auch der Untertitel der Kinderjahre zu beurteilen. Der Begriff „Roman" dient darin, wie das Vorwort erläutert, lediglich dazu, pedantische Leser abzuwehren, die den Autor „auf die Echtheitsfrage hin interpellieren" könnten 99 ; das ironische Anheimstellen im Schlußsatz: „Für etwaige Zweifler also sei es Roman!" ist nicht zu überhören. 100 Es ist die gleiche „Art von Fiktion", zu der sich schon Goethe im „einigermaßen paradoxen" Titel seiner Autobiographie „gewissermaßen ohne Not", aus Widerspruchsgeist gegen ein mißtrauisches, auf pure Richtigkeit bedachtes Publikum bekannt hatte. 101 Auch Fontane begibt sich mit der Wahl des Titels „Roman" zum Schein auf die Ebene der groben landläufigen Unterscheidung ,wahr - erfunden', um sich ebendamit vor der Beckmesserei der Vischer und Spielhagen zu sichern. Man muß die darin 98
Kinderjahre, S. 119. Diese Haltung des Publikums verdeutlicht W u l f Segebrecht in seinen Bemerkungen: Ober Anfänge von Autobiographien und ihre Leser. In: „ D i e Ringenden sind die Lebendigen". Hermann Leins zum 70. Geburtstag am 25. Mai 1969. Stuttgart 1969, S. 63-77. Wieder in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt 1989 (Wege der Forschung 565), 2 1998, S. 158-169; zu Fontanes Kinderjahren: S. 162 f. Sie könnten zu der Untersuchung anregen, wieweit das Mißtrauen des Lesers einer Autobiographie gegen ihre „Wahrheit" grundsätzlicher oder historisch wandelbarer Natur sei. 99
100 Kinderjahre, S. 7. - Schon Moritz Heimann entdeckt im Untertitel eine „humoristische Vorsicht" Fontanes (Moritz Heimann: Autobiographisches von Theodor Fontane [1898]. Wieder in: M. H.: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Essays. M i t einem Nachwort von Wilhelm Lehmann. Frankfurt am Main 1966, S. 176). 101 Goethe an König Ludwig I. von Bayern. Weimar, 12. Januar 1830. In: Goethes Briefe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 4, Hamburg 1967, S. 363.
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Fontanes Meine Kinderjahre
und die Gattungstradition
versteckte Polemik gegen die enge zeitgenössische Poetik mitbedenken, um Fontanes Intention zu verstehen. Wäre seine eigene Vorstellung vom historischen Erzählen damals noch oder schon wieder Allgemeingut gewesen, hätte er auf den vorsorglichen Untertitel und seine Erläuterung verzichten können; so aber sollten sie ihm dazu dienen, auf eine absichtlich überspitzte Weise den für ihn gültigen Spielraum der Autobiographik anzudeuten. 102 Im Grunde will er damit nur den Kernsatz des Vorworts: „Alles ist nach dem Leben gezeichnet" als das Grundgesetz aller Porträtkunst und jeder anspruchsvollen Geschichtsschreibung in sein altes Recht wieder einsetzen, zumal im Zeichen des poetischen „Realismus" eine neue - thematische wie formale - Verschwisterung von Roman, Biographik und Zeithistorie möglich erschien. Mit welcher Meisterschaft „nach dem Leben gezeichnet" werden könne, hat Fontane gerade in den Kinderjahren am schönsten gezeigt und damit stellvertretend allen historiographischen Zweckformen ihren alten Freiheitsraum zurückerobert, den sie noch in den Anfangsjahrzehnten seines Jahrhunderts innegehabt hatten. Er ist hierin als wohl einziger unter seinen Altersgenossen zugleich zum Vorläufer des kommenden Jahrhunderts geworden, das zuerst in der Praxis der Schriftsteller und neuerdings auch in Kritik und Wissenschaft den gegliederten Zusammenhang aller Literatur zu entdecken begonnen hat.
102 Der Untertitel Autobiographischer Roman ist also (wie Dichtung und Wahrheit) als Einheit zu fassen. Darum ist es problematisch, wenn Reuter (Anm. 37), Bd. 2, S. 772 in den Kinderjahren einen „Roman" von der „Autobiographie" trennt und ihn nur im Vater als dem „poetischen" Helden des Buches verwirklicht und also auch mit dem Tod des Vaters (Kap. 16) beendet sieht.
Erfahrung von Zeitgeschichte und religiöse Bekehrung in Alfred Döblins Schicksalsreise Alfred Döblins Schicksalsreise ist im Rahmen unserer Tagung ein Sonderfall. Denn hier deutet nicht ein Christ seine Zeit aus einer a priori christlichen Position, sondern es erscheint umgekehrt die Katastrophe der Zeit als handelndes Subjekt, das einen religiös nicht gebundenen Mann in eine äußerste Verlassenheit und geistige Nacht stößt, ihn darin überraschend den Urgrund des Daseins erfahren läßt und so zum Gewinn und Bekenntnis eines neuen Glaubens führt. Döblin hat denn auch seinem Buch Schicksalsreise den Untertitel „Bericht und Bekenntnis" gegeben.1 Denn er hat darin seine Flucht durch Frankreich im Kriegsjahr 1940 vor allem deshalb in ausführlicher Niederschrift aller Einzelerlebnisse festgehalten, um diese Flucht als Ursache einer für ihn neuen religiösen Erkenntnis zu deuten und sich zu seiner daraus resultierenden Bekehrung zum christlichen Glauben öffentlich zu bekennen. Wie hat Döblin diesen kausalen Zusammenhang von Bericht und Bekenntnis gestaltet? Uns interessiert hier vor allem das etwa drei Viertel des Ganzen umfassende Erste Buch der Schicksalsreise, das Döblin noch in der frischen Erinnerung an das Erlebte schon bald nach der Ankunft in Kalifornien um die Jahreswende 1940/41 unter dem Titel Robinson in Frankreich 2 geschrieben und wofür er schon in Amerika einen Verleger gesucht hat - freilich vergeblich. Erst nach der Rückkehr aus dem Exil hat er es 1949 im Verlag Josef Knecht (Frankfurt am Main) veröffentlichen können, ergänzt um ein Zweites und Drittes Buch über die Jahre in Amerika und über das Wiedersehen mit dem zerstörten Deutschland. Zwar hat Döblin 1
Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Frankfurt am Main: Verlag Josef Knecht/Carolusdruckerei 1949. - Dieser Erstdruck diente als Textgrundlage fur die neueste Edition: Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Hrsg. von Anthony W. Riley. Solothurn und Düsseldorf 1993 (Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden). Seitenangaben im Text nach dieser Neuedition. 2 Robinson in Frankreich. Erlebtes Mai - September 1940 (Typoskript mit zahlreichen eigenhändigen Korrekturen Döblins).
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diesem ganzen dreiteiligen Werk den Titel „Schicksalsreise" gegeben, aber er hat darunter primär das Geschehen des Ersten Buches, seine Flucht durch Frankreich und über Spanien und Portugal nach den USA vom Mai bis September 1940, verstanden 3, ein Jahr, das er dementsprechend sein „Schicksalsjahr" (335) genannt hat. Dieses Erste Buch ist wiederum in drei Teile gegliedert („Die Fahrt ins Unbekannte", „Gestrandet", „Rettung") und in der Mitte des mittleren Teils wird der Durchbruch zur Bekehrung geschildert. Doch wird der Leser mit diesem religiösen Thema des Buches nicht unvermittelt konfrontiert, vielmehr bereitet ihn der Autor sehr sorgfältig mit zunächst noch unbestimmten Andeutungen und erst später mit allmählich spezifischeren Ankündigungen darauf vor. 4 Zu Beginn beschränkt sich Döblin noch ganz auf den Bericht des äußeren Geschehens. Mit dem Zitat einer Radiomeldung vom 16. Mai 1940 führt er den Leser sofort in medias res: die „Tasche" an der Nordfront habe nicht geschlossen werden können (17). Mit diesem Anfang der französischen Niederlage bezeichnet Döblin zugleich den Anfang seines Abschieds von Paris und Frankreich. Immer aus der Wahrnehmungsperspektive des Ich, die die jeweilige Augenblickssituation mit ihrer damaligen Zukunftsungewißheit vergegenwärtigt, indem sie ständig zwischen Präteritum und Präsens wechselt und allmählich das Präsens vorherrschen läßt, erfahren wir von den Vorbereitungen seiner Dienststelle zur Flucht und von der Hilfe eines Freundes 5 dabei, sehen Flüchtlingszüge durch die Stadt ziehen, erleben die niedergedrückte Stimmung der Pariser und des Erzählers selbst,
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So schreibt Döblin zu Beginn des Zweiten Buches (273): „Siebzig bin ich jetzt, 1948 [...], wo ich das Manuskript wieder vornehme, in dem ich damals um 1940 nach der Ankunft in dem palmenreichen Hollywood von einer Schicksalsreise berichtete." - Im „ E p i l o g " (1948) grenzt er diesen Begriff gar auf seine Flucht durch Frankreich ein: „ [ . . . ] das Jahr 1940, der finstere Einbruch in Frankreich. Eine ,Schicksalsreise' durch das Land habe ich später darüber geschrieben." (Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Hrsg. von Edgar Pässler. Ölten und Freiburg i. Br. 1980 [Ausgewählte Werke in Einzelbänden], S. 448). 4 Nie also nimmt Döblin das spätere Ergebnis seiner inneren Wandlung vorweg, um seinen Weg dorthin ex eventu zu deuten. Insofern unterscheidet er sich vom Begründer der religiösen Bekenntnisliteratur Augustinus, der bekanntlich von seiner Bekehrung zum Christentum her die davor liegende Geschichte seines Lebens strukturiert und deutet - nicht zuletzt durch die ständige, preisende Anrede an den gnädigen Gott. Vgl. Michael Jaeger: Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin. Stuttgart und Weimar 1995, der S. 314-345 ausführlich Döblins Schicksalsreise in die augustinische Bekenntnistradition einordnet. 3 Es handelt sich um den französischen Germanisten Robert Minder, der wie Döblin am Ministere de 1'Information unter dem Minister Jean Giraudoux für die Propaganda gegen Nazi-Deutschland arbeitete. Döblin nennt seinen Freund Minder in der Schicksalsreise nie mit Namen.
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der seine Nahperspektive immer wieder durch Zeitungsberichte und Rundfunknachrichten zum Überblick über das politisch-militärische Gesamtgeschehen erweitert. Aber schon auf der fünften Seite reflektiert der Berichterstatter erstmals über das Geschehen: „Es bricht über uns herein. Wir können keinen Widerstand leisten. Der Deutsche ist überstark. Seine Art hat etwas Grauenhaftes, Unheimliches an sich." (21) Mit diesen Begriffen wird schon hier der reale Horizont aufgerissen, das Hintergründige, Unfaßbare, Dämonische des Geschehens angedeutet. Noch wird dieses Bild des Gegners zusammen mit dem Gefühl der eigenen Ohnmacht im Präsens einer aktuellen Erfahrung wiedergegeben, aber schon bald wird diese intuitive Deutung durch eine erste rückblickende Reflexion abgelöst. Diese und spätere Reflexionen ähnlicher Art werden mit Vorliebe dem Beginn eines neuen Kapitels vorgeschaltet und sprechen immer ausdrücklich von der gegenwärtigen Schreibsituation in Amerika, womit sie ihren Charakter als Rückblick und Überblick betonen. Döblin spannt also schon bald einen Reflexionsrahmen um seinen Bericht, der von dort manche Deutungsakzente empfängt und selber mit eigenen Interpretationen den gesteckten Rahmen allmählich ausfüllt. So resümiert der Erzähler, bevor er im 2. Kapitel die Wochen der Flucht und Irrfahrt zu schildern beginnt, daß ihm „dieser ganze Abschnitt [s]eines Lebens" „unwirklich" erscheine und daß er zu keiner anderen Zeit so wenig „ich" gewesen sei wie damals. Deshalb werde er von den Ereignissen dieser Wochen „nicht wegen ihres besonderen, historischen Charakters" berichten, „sondern um das Auffällige, Eigentümliche, Unheimliche dieses Zeitabschnittes festzuhalten." (29) Der Begriff des „Unheimlichen" wird jetzt vom Gegner auf die Zeitereignisse allgemein übertragen, und mit der Niederschrift will Döblin diesen Charakter der Zeit wenigstens umkreisen und zugleich zu einer damals gewonnenen ungewöhnlichen „Einsicht" wieder vordringen, um sie „sicherzustellen" und nicht wieder zu verlieren (ebd.). Um welche Einsicht es sich handelt, verrät er in diesem Kapitel noch nicht. Vorerst beschreibt er nur, wie sich auf der Flucht seine anfängliche Rolle als Zuschauer und Beobachter in die des Betroffenen verwandelt, der sich aus allen seinen Lebensgewohnheiten geworfen sieht, der mit anderen Flüchtlingen im Viehwagen transportiert wird und der erlebt, wie die Niederlage Frankreichs das ganze gesellschaftliche Netz zerreißt und einen „Urzustand" (54) freilegt, der auch ihn bis in die Wurzel trifft. „Rette sich,
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wer kann" ist jetzt die wiederholte Parole (58, 75), zumal bei der allmählichen Auflösung der Dienststelle, und der Erzähler zieht schon hier das Fazit: „Das Dach über unserm Kopf wurde vom Sturm abgerissen, der Fußboden unter uns brach zusammen. In alle Winde wurden wir zerstreut." (58) Hand in Hand damit beschreibt Döblin seine zunehmende Passivität, das Getriebenwerden, das Hin- und Herirren, die völlige Abhängigkeit von äußeren Umständen, unterbrochen gelegentlich von plötzlicher, zwanghafter Aktivität, vor allem um seine Frau und den jüngsten Sohn, die schon vor ihm Paris verlassen hatten, hier im Süden wiederzutreffen. Die Dringlichkeit der Flucht wird nicht zuletzt durch die vielfach eingestreuten Urteile über den Feind betont, der nicht einfach nur ein militärischer Gegner ist, sondern für die Familie Döblin durch die drohende Auslieferung eine tödliche Gefahr darstellt, weshalb der Bericht mehrmals von den „Jägern", die „das Wild hetzen" (55, 59, 215), vom „Rachen des Feindes" und vom „Rachen des Todes" spricht (66). Das führt schon zu Beginn des 3. Kapitels zu einer erneuten, nun schon etwas deutlicheren Reflexion. Diesmal rechtfertigt Döblin die Niederschrift all dieser Irrfahrten mit dem „traumhaften, imaginären Charakter" dieser Reise „von Anfang bis zu Ende": „es war keine Reise von einem französischen Ort zu einem andern, sondern eine Reise zwischen Himmel und Erde"; sie „verlief zugleich an mir, mit mir und über mir." (65) Döblin verbindet jetzt das uns schon bekannte Motiv der eigenen Passivität mit der Lokalisierung „zwischen Himmel und Erde" und deutet damit das Getriebensein erstmals als eine Fügung von höherer Hand. Allerdings meint er damit zunächst noch keine göttliche Fügung, vielmehr eine Preisgabe an die Mächte und Gewalten, die nach jüdischer 6 und frühchristlicher Überlieferung „ i n der Luft" herrschen, an „die bösen Geister unter dem Himmel" (Eph. 6, 12). Darauf weisen im 3. Kapitel die Zwischenüberschriften „Ich will es zwingen", „ K a m p f gegen Dämonen" und „Der gestrandete Robinson". Diese Abfolge verdeutlicht die zunehmende Ohnmacht eines Ich, das im Kapitel selbst von seinem „beschlagnahmten Willen" (66) spricht, vom „elenden Spiel", das mit ihm getrieben werde (74), vom „Lasso", das auf ihn geworfen ist (76), ja daß es „in einem Zauberkreis eingeschlossen" (83) sei und „ i n Mißgeschick, in Unglück gefuhrt werden" (81) solle. Daß die6 Die Pseudepigraphen sagen vom Teufel und seinen Engeln, daß sie in der Luft hausen. Test. Benj 3 spricht vom Satan Beliar als einem aspiov 7iveöfia, und in Hen 29, 5 verkündet Gott, daß er den gegen ihn sich empörenden Erzengel von der Höhe hinabgeworfen habe: „ U n d er war fliegend in der Luft beständig über dem Abgrund." Zitiert nach Hermann L. Strack und Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. IV, München 1928, 2 1956, S. 516, 802.
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ses immer stärker gebundene Ich mit gelegentlichen kleinen Aktivitäten „dem tückischen Dämon, der mit mir spielt" (85), Grenzen setzen will, wirkt im Gesamtbild wie ein hilfloses Unterfangen, den eigenen Willen vielleicht doch noch zu retten. Symbol seiner Ohnmacht und seines Verhängnisses wird ihm besonders die von einem Militärwagen zerquetschte Gestalt eines älteren Mannes am Brückengeländer von Mende - ein „unheilverkündendes" Bild, das noch oft vor seine Sinne kommen wird (87 f., 141). *
Mit dem vorläufigen Scheitern des Versuchs, die Familie wiederzufinden, endet Teil I des Ersten Buches und leitet über zu einem zweiwöchigen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager bei Mende (der Hauptstadt des Departement Lozere, am Westabhang der Cevennen gelegen) - nach den vergeblichen Irrfahrten eine erzwungene Ruhepause. Von ihr berichtet Teil II unter dem Titel „Gestrandet" und führt die geistig-seelische Verfassung des Einsamen und Ausgeplünderten in die entscheidende Krise. Eingeleitet wird dieser mehrstufige Vorgang durch eine „Vornotiz über Beziehungswahn" (99-103). Darin kommt Döblin zunächst auf ein ihm merkwürdiges Zirkusplakat zu sprechen, dessen Aufschrift „16. Mai, Cirkus Büro, der einzige Cirkus ohne B l u f f (85, 99) ihn nicht nur an das Unheilsdatum zu Beginn seiner Reise erinnert, sondern auch sein Büro in Paris und seine Flucht- und Irrwege zu verhöhnen scheint, so daß er glaubt, dieses Plakat sei eigens für ihn angebracht. Die Vornotiz versucht nun zwar, diesen und andere seltsame Zufälle auf die chaotische Kriegssituation zurückzuführen und den Wahn, alle Zufälle auf die eigene Person zu beziehen, als verrückt und lächerlich abzutun. Dann aber rechtfertigt Döblin solche Bezugnahme unter Berufung auf ältere Philosophen doch wieder damit, daß Welt und Ich zusammengehören, daß die Welt bis in die Substanz hinein „von dem Ich abhängig und durchdrungen wird" (102), so daß er am Ende seiner Überlegungen zu dem Schluß kommt: „die Paranoiker leiden an Beziehungswahn - der Normale am Wahn der Beziehungslosigkeit." (103) 7 Damit begründet Döblin, daß er die Irrwege seiner Reise als „Zeichen und Winke" betrachtete, als „Willensäußerung einer Urmacht", die ihm aber weder gut noch böse, sondern „dämonisch" erschien, so daß
7 Zur rationalistischen Erklärung der eigenen Wahnvorstellungen durch den Psychopathologen Döblin als einem taktischen Manöver, um die Deutung der empfangenen Zeichen und Winke um so stärker doch als hellsichtige Blicke auf eine transparente Realität zu bestätigen, vgl. Helmuth Kiesel: Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins. Tübingen 1986 (Studien zur deutschen Literatur 89), S. 215-219.
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die Dinge um ihn in einer „tollen, reizenden, verächtlichen, ganz und gar lieblosen Beziehung" zu ihm standen und er sich „schlimmer als verlassen" fühlte (108). In dieser hochsensiblen, für die Transparenz der Realität empfänglichen Stimmung begegnet der Verlassene erstmals dem Kruzifix in der Kathedrale von Mende. Der ganze Erzählabschnitt ist geprägt von einem langen meditierenden Monolog über den Gekreuzigten und dabei über den entscheidenden Gedankenschritt, in ihm nicht bloß ein Symbol menschlichen Elends, sondern den zu diesem Elend herabgestiegenen Gott zu sehen. Wohl vermag der Gestrandete jetzt noch nicht diesen Schritt zu vollziehen, doch eine Frucht dieser ersten Meditation ist die Erkenntnis, daß sein eigenes Gekreuzigtsein, der fürchterliche Zustand der Vereinsamung auf dieser Reise die innere Leere und Apathie, die Nichtigkeit aller bisherigen Beschäftigungen nicht erzeugt, sondern nur aufgedeckt hat, so daß „der ganze Umbau um den Menschen" verschwunden und „die Entkleidung" (109) vollständig ist: „Dies ist die Zeit der Beraubung", in der das Ich nicht mehr weiß, „was eigentlich von mir noch Bestand hat" (124). An dieser Stelle fühlt sich Döblin gedrängt, in einem eingeschalteten Rückblickskapitel Rechenschaft zu geben über seine geistige Entwicklung und politischen Interessen, und muß erkennen, daß alle seine Bemühungen um das Judentum, die Freilandbewegung, den Sozialismus wegen nur halben Engagements fruchtlos geblieben sind. Erst recht habe sein Schreiben die Wirklichkeit nicht verändern können, da es ihn in Phantasiewelten entfuhrt habe; doch habe ihn dabei immer der Wunsch begleitet, sich dem „Ursinn" 8 der Welt zu nähern und ihn zu verehren (135). Damit lenkt der Rechenschaftsbericht wieder zur augenblicklichen Situation des gestrandeten Robinson zurück, der als „Konsequenz aus dem ,Ursinn'" (ebd.) eine sinnvolle Form der Geschichte in Gestalt der Gerechtigkeit postuliert. Da sich diese aber in der gegenwärtigen Katastrophe nicht zeige, folgt für den Gestrandeten, daß der Ursinn nicht nur die sichtbare, sondern auch eine unsichtbare Welt umschließen müsse, aus der die Winke, Zufälle und Zeichen in die sichtbare einströmen. Jetzt also werden die Zeichen und Winke nicht mehr nur negativ gesehen, nachträglich wird wohl auch die erste
8 M i t diesem Begriff erinnert Döblin an seine frühere philosophische Schrift Das Ich über der Natur, die den „Ursinn" als einen „anonymen Urgeist", als eine die Welt durchdringende und ordnende „Urmacht" definiert hatte: Alfred Döblin: Das Ich über der Natur. Berlin 1928, S. 176 f., 181, 190, 243. - Vgl. Monique Weyembergh-Boussart: Alfred Döblin. Seine Religiosität in Persönlichkeit und Werk. Bonn 1970 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 76), S. 141-151.
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Begegnung mit dem Kruzifix von Mende als ein solches rätselhaftes, noch unbegriffenes Zeichen empfunden. Die noch folgenden drei Kapitel über den Lageraufenthalt (7.-9. Kap.) sind von einer seltsam bedrückenden Atmosphäre beherrscht. Die Beschreibung des Lagerlebens, seines alltäglichen Einerleis in einer nur langsam vergehenden Zeit, unterbrochen nur von einigen traurigen und lächerlichen Vorkommnissen, ist ganz im Präsens der Zustandsschilderung gehalten; nur gelegentlich und dann immer für wenige Zeilen wechselt der Erzähler ins Präteritum, um uns daran zu erinnern, daß er uns über vergangene Erlebnisse berichtet. In dieser Luft einer fast stillstehenden Zeit schildert sich das Ich als einen Gelähmten, dessen Familiensuche zu mechanischem Telegraphieren gerät, dessen Wachträume und Tagesphantasien über eine unheilschwangere Zukunft dafür um so hitziger werden und sich in selbstquälerische Spekulationen verlieren, ja, der von Gedanken an Tod und Sterben befallen wird. 9 Dazwischen aber zitiert der Erzähler mehrmals ein Wort, das ihn allein noch aufrecht halte: „Man darf sich den geheimen Kräften nicht widersetzen, die unser Schicksal leiten." (143) In diesem Grundgefühl und Glaubenssatz werden die „geheimen Kräfte" nicht mehr als tückische, foppende, ein willkürliches Spiel treibende Dämonen verstanden, die ins Unglück führen wollen, sondern als positiv bestimmende Mächte, denen man sich anvertrauen müsse. Mit dieser neuen Schicksalsergebenheit, die ihn wieder etwas ruhiger atmen läßt, begegnet der Vereinsamte erneut dem Kruzifix, das ihm inzwischen sehr wohl als Zeichen der Erlösungskraft Gottes bewußt ist; gleichwohl kann er diesen „Jesusgedanken" (144) noch nicht mit seinem Glauben an die geheimen Kräfte und an den alles tragenden Urgrund zusammenbringen, und auch bei weiteren Besuchen der Kathedrale spricht der Erzähler von seinen erfolglosen Versuchen, Urgrund und Jesus miteinander zu verbinden. Bevor sich der Bann schließlich löst und das Ringen um den Jesusgedanken zur Glaubensgewißheit führt, schiebt der Erzähler wieder einige Abschnitte über das Lagerleben und über verschiedene Gänge in die Stadt ein und berichtet darin in amüsiert-ironischem Ton von kuriosen und allzumenschlichen Begebenheiten. Der Leser spürt dabei, wie unterschwellig sich die Erweckungsstunde vorbereitet, wenn wieder von „Zufällen, Win-
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Dem entsprechen depressive Äußerungen Döblins in Briefen an Robert Minder aus diesen Tagen (29. und 30. Juni 1940): „Je suis dans un etat miserable, dans un mutisme complet, sans aide, dans un complet desarroi." - „Comme je suis dans un tourment, dans un torrent de malheur. [ . . . ] Les jours les plus noirs de ma vie." (Alfred Döblin: Briefe II. Hrsg. von Helmut F. Pfanner. Düsseldorf und Zürich 2001 [Ausgewählte Werke in Einzelbänden], S. 144, 145).
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ken und Zeichen" (147-150) die Rede ist, die in „Wellenzügen" und „Serien" (149, 154, 164) das Ich erreichen, das darauf antwortet und so „ein geheimnisvolles Gespräch mit einem unbekannten Partner" (154) zu fuhren glaubt. Nach negativen Serien bemerkt der hellsichtige Blick einen Umschwung der „Kraftlinien" (149) in eine andere Richtung. Das Ich erlebt eine Reihe angenehmer Dinge: eine ernsthafte Unterhaltung mit einem Militärarzt, eine Begegnung mit jungen Offizieren, die ihm von Paris und von Büchern erzählen und ihn damit in eine längst entschwundene Zeit versetzen, schließlich ein Telegramm seiner Frau, das ihm endlich Gewißheit über ihren Aufenthalt gibt. Das Ende der Einsamkeit ist in Sicht, die Welt hat ihn noch nicht aufgegeben, er wird in sie zurückkehren. In diese Stimmung einer neu aufkeimenden Zuversicht bettet der Erzähler seine letzte Begegnung mit dem Gekreuzigten in der Kathedrale: Ich sitze in Sichtweite des Kruzifixes. Wenn ich die Augen schließe, fühle ich das Kruzifix oben rechts als eine strahlende Wärme. (168) In diesen einen Satz hat Döblin den entscheidenden Moment seiner Erwekkung gefaßt. Eben noch hatte er über den historischen Jesus gegrübelt, ihn erneut als ungenügend empfunden und nur die eine Antwort gewünscht, daß er Gott sei. Nun, in der plötzlichen Erfahrung einer ganz neuen Nähe, die ihn Jesus nicht mehr als historisch, sondern als gegenwärtig empfinden läßt, kreisen die Gedanken des Meditierenden um die Dynamik von Welt und Ich und entdecken dabei eine von Jesus geschenkte neue Klarheit, daß der ewige Urgrund die Beziehung zum Menschen nicht aufgegeben hat, eine neue Klarheit über die Geschichtlichkeit der Welt und das über die irdische Existenz hinausreichende Schicksal des Menschen. Und so münden diese Gedanken am Ende in die Erkenntnis: Jesus „ist Gott, er ist einund dasselbe mit dem ewigen Urgrund." (169) Die neue auratische Nähe des Gekreuzigten hat das Ich von der Verehrung eines anonymen Urgrunds zur Begegnung mit Gott als einer Person geführt 10 , die ihn vor den beiden Abgründen des Vegetierens und der Verzweiflung retten kann.
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Dieser Schritt vom anonymen „Urgrund" zum persönlichen Gott erinnert an die Unterscheidung Blaise Pascals zwischen dem Gott „der Philosophen und Gelehrten" und dem „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs" in seinem „ M e m o r i a l " , dem Dokument seiner Bekehrung im „Jahr der Gnade 1654", eine Unterscheidung, die Döblin wohl schon von seiner Pascal-Lektüre der Pariser Jahre her bekannt war. (Zitiert nach Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände IPensees]. Übertragen und hrsg. von Ewald Wasmuth. Heidelberg 7 1972, S. 248.) Vgl. Kiesel (Anm. 7), S. 186 f. - In einem Interview mit dem Südwestfunk Baden-Baden am 31. März 1946 hat Döblin sein Erlebnis des persönlichen Gottes mit den Worten umschrieben: „ich habe das Auge gesehen, das auf uns ruht, und den
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Die wenigen noch folgenden Seiten von Teil II des Ersten Buches handeln von den letzten Tagen im Lager und von der Fahrt nach Toulouse zur Familie - in einem normalen und pünktlichen Schnellzug. Dem gestrandeten Robinson war bewußt, daß er „nun den Strand, die Wildnis verließ und in die Welt der Städte zurückgesandt wurde", aber auch, daß seine „Zusammenbruchserlebnisse" mit ihm fuhren (173). Fast sträubt sich der Reisende vor der jetzt wiedererlangten Normalität. Hier fällt zum ersten Mal im Text der Ausdruck „Schicksalsreise" (174), die nun vorläufig ihren Abschluß finde; aber Döblin schwört es sich zu, daß dieses „irdisch-überirdische Abenteuer" (ebd.) noch nicht zu Ende gehen dürfe, als fürchte er, daß die relative Normalität der weiteren Reise mit der Familie das innere Erlebnis des Einsamen wieder schwächen oder gar löschen könnte. *
Von der gemeinsamen Flucht der Familie Döblin von Toulouse und Marseille über Spanien und Portugal nach den Vereinigten Staaten berichtet Teil III des Ersten Buches, schildert aber fast nur - und wesentlich geraffter als die ersten beiden Teile und vorwiegend im Präteritum - die äußeren Vorkommnisse, Schwierigkeiten, Hindernisse und überraschenden Hilfen bei der Ausreise, zeichnet Porträts einzelner Menschen, aber auch der Städte Marseille und Lissabon, kaum hingegen die seelische Befindlichkeit des Erzählers. Nur gelegentlich kommt Döblin auf sein Erwekkungserlebnis von Mende zu sprechen und betont dann, daß es in ihm ruhe als ein Herzensgeheimnis, worüber er mit niemandem sprechen könne und das er auch selbst nicht anrühren wolle, da es in ihm erst noch reifen müsse. 11 Die wenigen Stellen, die die Erinnerung an Mende wachrufen, lassen aber ein verschwiegenes Glück über die Vertraulichkeit zwischen ihm und Jesus spüren, so daß mitunter auch kurze Dankgebete in den Text einfließen können. Im ganzen aber betrachtet Döblin in Teil III das Erlebnis von Mende als etwas noch „Unbeendetes" (217), das er in einer Art „Einkapselung" „trocken, in Sporenform" (240) für eine künftige Entwicklung aufbewahren müsse. Diese späteren Stationen von Döblins Konversion behan-
A r m gefühlt, der uns hält." (Alfred Döblin: Kritik der Zeit. Rundfunkbeiträge 1946-1952. Hrsg. von Alexandra Birkert. Ölten und Freiburg i. Br. 1992 [Ausgewählte Werke in Einzelbänden], S. 20). 11 Das heißt aber nicht, daß - wie Weyembergh-Boussart (Anm. 8, S. 260 f.) meint - der Aufenthalt in Mende zwar den Ursprung von Döblins religiöser Umkehr, aber noch nicht seine eindeutige Bekehrung zum Christentum bedeutet, da er damals noch ..unfähig" gewesen sei, „sich ganz aufzugeben". Vielmehr war im Erweckungserlebnis der entscheidende Schritt der Bekehrung zum Glauben an die göttliche Erlösungskraft Christi getan; alles Weitere war behutsame Pflege und Entwicklung dieser neuen Glaubensgewißheit.
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delt dann mit Katechumenenunterricht und Taufe das Zweite Buch, jedoch in eigenen Kapiteln, getrennt vom Bericht über die äußeren Erlebnisse in Amerika, da kein kausaler Zusammenhang mehr zwischen Außen und Innen, zwischen Bericht und Bekenntnis besteht. *
Um so deutlicher war dieser Zusammenhang im Ersten Buch der Schicksalsreise zu erkennen, wo Döblin seine inneren Bewußtseinsvorgänge immer aus äußeren Umständen hervorgehen ließ. Dem allmählichen Verlust aller Sicherungen, der schrittweisen äußeren Beraubung bis hin zum Bild des „gestrandeten Robinson" entsprach in diesem Reisebericht die fortschreitende Aufdeckung einer inneren Wüste, verstärkt noch durch den eingeschalteten Lebensrückblick. Umgekehrt konnte das Ringen um den Jesusgedanken vor dem Kruzifix der Kathedrale von Mende erst nach günstigen äußeren Zeichen und Winken zur Glaubensgewißheit gelangen. Vor allem aber wird aus Döblins Schicksalsreise klar, daß erst die äußerste Verlassenheit, in die ihn diese dunkelste Stunde seines Exils geführt hat, die Voraussetzung für den entscheidenden Schritt zur religiösen Wandlung geschaffen hat. Ohne Exil keine conversio: das ist für Döblin ein wichtiges Fazit dieser Reise, die er zuerst als zynisches Spiel dämonischer Mächte empfunden, dann aber als Fügung eines gnädigen Gottes sehen gelernt hat. Denn alle frühere Beschäftigung Döblins mit religiösen Fragen, mit Judentum und Christentum, ja sogar seine Begegnung mit dem Kruzifix des Veit Stoß in der Marienkirche von Krakau im Herbst 1924 12 , verharren trotz aller Teilnahme, j a Betroffenheit in beobachtender, vergleichender Distanz, erwachsen nie aus existentieller Not (man erkennt es an den schön formulierten Sätzen). Die Reise in Polen bleibt noch auf der Ebene des Berichts, des Berichts eines interessierten Beobachters; die Schicksalsreise hingegen besitzt von vornherein die in die Tiefe der Person reichende Dimension des Bekenntnisses, für das der Bericht nur eine wenn auch wesentliche Ausgangsebene bedeutet. Wenn also Döblin die Zeitgeschichte nicht als Beobachter, sondern als zutiefst Betroffener erfahren hat, dann mag man sich erinnern, daß das Wort ,Geschichte' auf früheren Sprachstufen (im Alt- und Mittelhochdeutschen) noch nicht primär ,Begebenheit', ,Ereignis' und ,Geschichte' im
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Alfred Döblin: Reise in Polen [Erstdruck 1926]. Ölten und Freiburg i. Br. 1968, S. 239,
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heutigen Sinne, sondern ,Schickung' und ,Zufall' bedeutet 13 , daß das Verbum ,giskehan', geschehen' den Dativ regiert und deshalb nicht in erster Linie geschehen', sondern vor allem ,einem zuteil werden', ,einem zustoßen' meint 1 4 . Döblin hat somit Geschichte im ursprünglichen Sinne des Wortes erlebt und erlitten, als etwas, was er nicht als ein an ihm Vorüberziehendes registriert, sondern was ihm zustößt, was ihn packt und seine ganze Existenz verwandelt. Immer deutlicher hat er in jenen Wochen Geschichte als ein ihm Zuteil werdendes, als eine Schickung von höherer Hand begriffen und damit Geschichte und Schicksal wieder in engsten Zusammenhang gebracht. *
Zuletzt sei darauf hingewiesen, daß Döblin das Erste Buch seiner Schicksalsreise auf eine verschwiegene Weise in das Gesamtbild seines damaligen Schaffens, seiner damaligen Schriftstellerexistenz im Buch selbst eingebaut hat. Dieses beginnt nämlich mit dem Satz: „ A m 16. Mai 1940, einem Donnerstag, schloß ich vormittags eine Arbeit ab, die mich lange Monate beschäftigt hatte" (17), und erst danach zitiert Döblin die Radiomeldung vom Durchbruch an der französischen Nordfront. Durch diese Nachricht sei ihm „die Feder aus der Hand geschlagen" worden (ebd.), und schon in Erwartung der Flucht spürt der Autor kein Bedürfnis mehr, sich mit dieser Arbeit zu beschäftigen: „Ich [...] sitze vor meinem Manuskript, über das ich ein Zeitungsblatt breite." (21) Die Katastrophe der Zeit deckt die Schriftstellerei zu, macht sie sinnlos: „Was soll das Manuskript, was soll die ganze verflossene Arbeit." (ebd.) Dennoch führt Döblin die umfangreiche Handschrift auf der Flucht mit sich im Gepäck und kommt im Reisebericht wiederholt auf diese beschwerliche Last zu sprechen (31, 41), bis er das Manuskript bei der Trennung von seiner Dienststelle dem Freund anvertraut; denn „es stellte für mich nur ein Gewicht dar und was bedeutete es jetzt für mich, sein ganzer Inhalt?" (64). Dann aber fügt er in Klammern die Vorankündigung hinzu: „Ich sollte nach nicht langer Zeit gewahr werden, wie unheimlich sein Inhalt war, wie er in mir fortlebte." (ebd.) Diese bedeutsame Beziehung des Inhalts auf 13 Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 17 1957, S. 251 (s.v. Geschichte) und S. 645 (s.v. Schicht). - Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1, Leipzig 1872, Nachdruck Stuttgart 1992, S. 902 (s.v. ge-schiht); Bd. 2, Leipzig 1876, Nachdruck Stuttgart 1992, S. 735 (s.v. schiht = geschiht). - Deutsches Wörterbuch. Bd. I V , 1, 2, Leipzig 1897, Sp. 3857-3859 (s.v. Geschichte). 14 Wilhelm Braune / Ernst A. Ebbinghaus: Althochdeutsches Lesebuch. Tübingen 14 1962, S. 233 (s.v. skehan). - Lexer (Anm. 12), Bd. 1, S. 898 f. (s.v. ge-schehen). - Deutsches Wörterbuch (Anm. 12), Bd. IV, 1, 2 , Sp. 3839 und 3841 (s.v. geschehen).
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sich selbst hat er während der ganzen Flucht nicht erfahren; denn auch als er das Manuskript in Toulouse vom Freund zurückerhielt, erachtete er seinen Inhalt für „alte, verschollene Dinge" (215) und wollte nicht hineinsehen. 15 Erst ganz zum Schluß des Ersten Buches - in genauer, fast wörtlicher Symmetrie zu dessen Anfang - erzählt Döblin vom zufälligen Wiederlesen des Manuskripts in Hollywood und von der erstaunlichen Entdekkung, daß darin „lange vor dem ganzen debacle" „viel die Rede von Jesus" sei (269) und das Schicksal der zentralen Romanfigur das Schicksal seines Autors auf frappierende Weise vorweggenommen habe. Denn der auf die Figur bezogene Satz: „Ein Niederbruch, ein Zusammenbruch erfolgt, die Frage nach Jesus taucht auf. Die schrankenlose Hingabe erfolgt" (ebd.) ist in Kurzformel der Inhalt auch der Schicksalsreise. 16 Wesentlich für Döblin bleibt dabei, daß er als Autor im Roman die eigene Krise zwar „geistig vorerlebt", aber nicht „abgelebt" habe (ebd.). In der Phantasie habe dies nicht geschehen können, sondern nur durch die Erfahrung. 17 Diese eigentümliche, den Autor selbst überraschende Vorwegnahme des eigenen Schicksals in einer kurz zuvor beendeten Dichtung läßt die generelle Disposition des Autors für eine religiöse Antwort auf seine äußerste Verlassenheit und geistige Not in den Wirren und tödlichen Gefahren der Zeit erkennen. Zugleich macht seine Unterscheidung zwischen dichterischer Vorahnung und tatsächlicher Erfahrung deutlich, daß Dichtung allein nicht imstande ist, die Probleme des eigenen Lebens zu lösen, daß nur die leibhaftigen Zusammenbruchserlebnisse eine Rettung daraus - und nur von
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Vgl. Döblins Unmutsäußerung im Brief an Robert Minder vom 20. Juli 1940: „Was soll ich nur mit dem Wust anfangen?" Mitgeteilt von Robert Minder: Begegnungen mit Alfred Döblin in Frankreich. In: Text und Kritik 13/14 (1966), S. 57-64; hier S. 61. 16 Zu diesem typologischen Verhältnis zwischen November-Roman und Schicksalsreise vgl. Kiesel (Anm. 7), S. 276, und Jaeger (Anm. 4), S. 315, Anm. 111. 17 Daß Döblin die entsprechenden Romanpartien schon vor seiner eigenen Beraubung und Bekehrung geschrieben und nicht erst nachträglich bei der Überarbeitung des Romans in Amerika eingebaut hat, zeigt ein schon 1940 geschriebenes Paralipomenon zur Schicksalsreise, das schon damals von der Vorwegnahme der eigenen Erfahrung im Roman spricht: „Ich selber wurde, könnte man sagen, in eine Romanfigur verwandelt, in meine eigene, vorgeahnte. Aber wichtiger ist wohl: In meinem eben abgeschlossenen Buch wurde nicht fantasiert, sondern eine im Entstehen begriffene Realität notiert. Und es wurde mir auferlegt, die von mir berührten und notierten Dinge in der allein möglichen Weise weiter zu bringen, nämlich nicht im Schreiben, sondern im Erleben. [ . . . ] Es wurde auf mich die Wucht der realen Vorgänge geworfen. Die Realität griff meine innere Situation auf, und gestaltete sie; ich wurde beim Wort genommen." (379 f.). Vgl. auch Werner Stauffacher, der in seiner Einführung zu Döblins Erzählwerk November 1918 darauf hinweist, daß die Bekehrungsgeschichte im Roman „durchwegs der Grundschicht der Haupthandschrift angehört" (Alfred Döblin: November 1918. Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918. Ölten und Freiburg i. Br. 1991 [Ausgewählte Werke in Einzelbänden], S. 18*).
Zeitgeschichte und religiöse Bekehrung in Döblins Schicksalsreise
höherer Hand - ermöglichen. Zuletzt betont Döblin noch eine weitere Differenz zwischen Dichtung und Wirklichkeit; denn, so sagt er, „dieser Held, der Friedrich Becker, ist doch viel weiter als ich." (270) Zum einen wird damit erst ganz zum Schluß das fragliche Manuskript als der zweite Teil der Romantrilogie November 1918 entschlüsselt. Vor allem aber will dieser letzte Satz sagen, daß die eigene Konversion am Ende des Ersten Buches der Schicksalsreise noch nicht bis zur „schrankenlosen Hingabe" des Romanhelden gelangt ist, daß sie als etwas noch Unvollendetes sich weiterentwickeln müsse und vielleicht als ein lebenslanger Prozeß nie an ein Ende kommen wird, in der Hoffnung, aber ohne Gewißheit, zuletzt die vom Romanhelden schon erreichte Stufe auch selbst zu gewinnen. Mit diesem Dingsymbol eines auf der Reise mitgeschleppten Romanmanuskripts vermochte Döblin alle wesentlichen Aspekte und Bezüge zwischen Dichtung und Wirklichkeit, zwischen Ahnung und Erleben und ganz speziell zwischen der Erfahrung von Zeitgeschichte und einer daraus resultierenden religiösen Bekehrung zuletzt wie in einem Brennspiegel zusammenzufassen und zugleich die besondere Rolle dieses Schicksalsund Bekenntnisbuches innerhalb seines Exil- und Spätwerks anzudeuten. Denn einerseits ist das Mitschleppen des Romanmanuskripts auf der Flucht ein Bild für das verzweifelte Bemühen, die eigene Schriftstellerexistenz hinüberzuretten, andererseits konnte vor jeder weiteren Beschäftigung mit diesem Manuskript erst die Niederschrift der Schicksalsreise, das literarische Festhalten der schlimmsten und beglückendsten Wochen seines Lebens, ebendieser Schriftstellerexistenz einen neuen Grund sichern.
Erinnerung als Rekonstruktion bei Christa Wolf und Günter Grass
I. In Autobiographien des 20. Jahrhunderts macht sich zunehmend die Schwierigkeit bemerkbar, das eigene Leben als Einheit zu sehen, das eigene Ich durch die verschiedenen Lebensperioden hindurch als identisch zu begreifen und darzustellen. Wie schon an anderer Stelle kurz skizziert 1 , hat vor allem die literarische Avantgarde diesen Zweifel an der eigenen Identität, dieses Gefühl einer Diskontinuität des Lebens, des Zerfalls der Person in mehrere unzusammenhängende Ich artikuliert. So hat Gottfried Benn 1949 bei der Erläuterung des Titels seiner Autobiographie Doppelleben die „Einheit der Persönlichkeit" eine „fragwürdige Sache" genannt 2 , und Alain Robbe-Grillet hat sich 1987 auf die eigene Frage: „Was ist mein Leben gewesen, und was bin ich jetzt?" die Antwort gegeben: „Ich habe den Eindruck, daß ich aus Stücken, aus Fragmenten bestehe."3 Diese Vorstellung eines zersplitterten Ich überkam auch Christa Wolf, sobald sie den Plan faßte, ihre Kindheitserlebnisse schreibend zu erkunden. Sie spricht von ihrer „mehrmals gebrochenen Biographie", so daß „mehrere Personen in uns herumgeistern, zu denen ein Verhältnis zu finden gar nicht so einfach ist". 4 Vor allem gegenüber der frühesten Lebensperiode betont sie wiederholt „ein Gefühl der unheimlichen Fremdheit" 5 , so daß sie sich mit dem Kind, das sie einmal war, nicht mehr identifizieren könne. Seit einem bestimmten Zeitpunkt habe sie „nicht mehr das Gefühl, daß ich das war, die 1
Siehe in diesem Band S. 46-48. Gottfried Benn: Doppelleben. In: G. B.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter Wellershoff. Bd. 4: Autobiographische und vermischte Schriften. Wiesbaden 1961, S. 136 (V. Literarisches, b) Doppelleben [datiert 31. 12. 1949]). 3 Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie. Übersetzt von Hans Rudolf Picard. Konstanz 1987 (Konstanzer Universitätsreden 165), S. 24. 4 Christa Wolf: Erfahrungsmuster. Diskussion zu Kindheitsmuster [nach Lesungen aus dem 7. Kapitel am 8. Oktober und 3. Dezember 1975 in der Akademie der Künste der DDR]. In: C. W.: Essays / Gespräche / Reden / Briefe 1975-1986. München 2000 (Christa Wolf: Werke, Bd. 8), S. 31-72; hier S. 41. 5 Ebd., S. 40. 2
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das gedacht, gesagt oder getan hat" 6 . Es ist ihr also trotz manchmal genauer Erinnerung an kindliches Denken, Reden und Tun die personale Identität mit diesem Kind verlorengegangen. Deshalb mußte Christa W o l f ihre anfänglichen Versuche, das Buch über ihre Kindheit und erste Jugendzeit in Ich-Form zu schreiben, als nicht weiterführend aufgeben und sich entschließen, von sich selbst als Kind in dritter Person (mit dem erfundenen Namen „Nelly") zu sprechen, um diese frühen Jahre überhaupt erzählen zu können. Doch hat die Dichterin diese Aufspaltung des eigenen Selbst in zwei Personen nicht als endgültig und irreversibel hingenommen; vielmehr empfing sie von dieser als schmerzlich empfundenen Fremdheit den Impuls, die Brüche und Risse in der eigenen Lebensgeschichte durch die Anstrengung der Erinnerungsarbeit vielleicht zu überwinden und die Einheit der Person zurückzugewinnen. Dieses Ziel deutet Christa W o l f schon mit dem Motto des Buches 7 , einigen Versen aus Pablo Nerudas Buch der Fragen 8, an: Wo ist das Kind, das ich gewesen, ist es noch in mir oder fort? [•••] Warum sind wir so lange Zeit gewachsen, um uns dann zu trennen? Warum starben wir denn nicht beide, damals, als meine Kindheit starb? [...] Diese Trauer um die spätere Trennung, ja der Wunsch nach dem Tod am Ende der Kindheit atmen eine Resignation, die keine Möglichkeit späterer Wiedervereinigung der beiden Ich erblicken kann. Darum fügt Christa W o l f zuletzt einen bei Neruda erst zwei Seiten später folgenden Vers hinzu und trennt ihn durch ein etwas größeres Spatium von den übrigen:
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Ebd. Christa Wolf: Kindheitsmuster. Berlin und Weimar 1976. Wieder in: C. W.: Werke, Bd. 5. München 2000, S. 11 (Zitate und Hinweise auf Textstellen im folgenden mit Seitenzahl dieser Werkausgabe). 8 Christa W o l f zitiert die folgenden Verse aus Pablo Neruda: Letzte Gedichte. Spanischdeutsch. Hrsg. und aus dem Spanischen übertragen von Fritz Vogelgsang. Darmstadt und Neuwied 1975 (Sammlung Luchterhand 201), S. 117 und 119. Diese Ausgabe wurde lt. Impressum im Mai 1975 ausgeliefert, also gleichzeitig mit dem Abschluß des Manuskripts von Kindheitsmuster (2. Mai 1975). Nerudas Verse haben also Christa Wolfs Zweifel und Fragen nicht ausgelöst, sondern bestätigt. 7
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Wann liest der Falter, was auf seinen Flügeln im Flug geschrieben steht? (11) Bei Neruda hat dieser Vers keinerlei Zusammenhang mit den Versen über die Kindheit; Christa W o l f aber stellt ihn bewußt her, weil für sie diese Frage nach einer möglichen späteren Selbsterkenntnis und einer damit wieder erreichten Identität der ganzen Lebensgeschichte ( „ i m Flug") wesentlich zum Problemkreis der Kindheitserinnerung gehört. Dies bleibt freilich auch für Christa W o l f am Ende des Buches mehr eine Frage als ein erreichtes Ziel; doch klingt sie wie die letzte Frage Nerudas nicht ohne Hoffnung. Der tiefere Grund für diese Fremdheit der eigenen Kindheit gegenüber ist aber bei Christa W o l f nicht so sehr die große zeitliche Distanz als vielmehr der Umstand, daß diese Kindheit in die Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus fiel. Die damit verbundenen Prägungen und Verhaltensmuster ethischer, sozialer und politischer Art, die ein Kind in solchen Zeiten empfängt und entwickelt, all das, was in ihm „vor sich geht", „was sich in sein Gedächtnis tief einprägt und was es unterdrückt und warum" 9 , wurde zum Hauptthema der Darstellung und erklärt, warum das Jahr 1945 für diese Biographie einen so radikalen äußeren und inneren Bruch bedeutet hat, so daß alle späteren Lebensperioden ftir die Autorin keine vergleichbare Fremdheit besitzen, vielmehr eine gewisse Kontinuität bis zur Gegenwart erkennen lassen, weshalb sie glaubt, zur etwaigen Darstellung ihrer Nachkriegserlebnisse keine „dritte Person" mehr nötig zu haben. 10 Damit ist aber noch nicht erklärt, warum die spätere Erwachsene, die es hier unternimmt, die eigene Kindheit zu erkunden, nicht einmal zu sich selbst „ i c h " sagen kann, sondern im „Kreuzverhör" (13) mit sich selbst ein „du" einführt, das zwischen Selbstanrede und Selbstgespräch changiert, und damit bis in die Schreibgegenwart geflissentlich jedes „ich" vermeidet. Manche Interpreten haben geglaubt, Christa W o l f habe in Kindheitsmuster einen anonymen Erzähler geschaffen, der die sich erinnernde Frau als zweite Person anspricht 11 , was auch deshalb plausibel scheint, weil gele-
9 Christa Wolf: Kiefern und Sand von Brandenburg. Gespräch mit Adam Krzeminski (1976). In: C. W.: Essays 1975-1986 (Anm. 4), S. 73-86; hier S. 86. 10 Christa Wolf: Eine Diskussion über Kindheitsmuster (1983). In: Ebd., S. 296-304; hier S. 304. 11 So spricht Bernhard Greiner von einem „ D u , das verhört w i r d " bzw. von einem „verhörten Du": Die Schwierigkeit, „ i c h " zu sagen. Christa Wolfs psychologische Orientierung des Erzählens. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 323-342; hier S. 332, 334.
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gentlich deren Angehörige mit „ihr" tituliert werden. Aber der Leser versteht die ständige Du-Anrede immer als Selbstgespräch 12 , setzt also stets Erzählerin und angesprochenes Du identisch (weshalb er auch jenes „ihr" als grammatischen Fremdkörper empfindet). Die Du-Anrede kann also das Ich der Erzählerin kaum kaschieren 13 , und so mutet die erklärte Absicht: „Ich, du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz einander entfremdet werden" (13), einigermaßen gewaltsam an und ist im Grunde nur aus dem Willen zu verstehen, die volle Identität der eigenen Person erst dann anzuerkennen, wenn auch die früheste Lebensperiode, inzwischen so verschlossen und dunkel geworden, wieder aufgedeckt, geklärt und angenommen und so die ganze Lebensgeschichte identisch sein wird. *
Dieses erwünschte Ziel, durch die Aufhellung der frühen Jahre „du und sie im Ich zusammenfallen" (579) zu lassen, glaubt die Erzählerin, wenn überhaupt, nur dadurch erreichen zu können, daß sie im Zuge des Erzählens alle Erinnerungen (an Personen, Schauplätze, Szenen, Gefühle, Urteile etc.) immer wieder auf ihre Tragfähigkeit und Glaubwürdigkeit prüft, also zugleich die Problematik des Gedächtnisses, seine Kraft, seine Ohnmacht, seine Verfälschungsabsicht erörtert und damit das Grundproblem autobiographischen Schreibens in und mit der Darstellung reflektiert. Solche Reflexionseinschübe in die autobiographische Erzählung begegnen zwar schon in früheren Epochen der Gattungsgeschichte, wenn etwa die Autoren eigener Lebensgeschichten den Leser in gelegentlichen Parenthesen um Verständnis für das Fragmentarische oder Fragwürdige der Erinnerungen und die daraus resultierende Schwierigkeit ihrer Darstellung bitten. Aber da früher die Identität zwischen erzählendem und erzähltem Ich nie bezweifelt, geschweige denn verneint wurde, konnte dieses traditionelle Spannungsfeld zwischen Vergangenheitsstoff und Gegenwartsposition des Autors das Darstellungsziel, ein aus der Jetzt-Perspektive gesehenes und gedeutetes Lebensbild, nie in Frage stellen. Christa W o l f aber mußte dieses Ziel erst noch erreichen, und so konnte sie sich mit den beiden herkömmli-
12 Das betonen schon Marie-Luise Linn: Doppelte Kindheit. Zur Interpretation von Christa Wolfs Kindheitsmuster. In: Der Deutschunterricht 30 (1978), H. 2, S. 52-66; hier S. 56, und Sandra Frieden: „Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen". Autobiographie, Biographie und Christa Wolf. In: Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Königstein/Ts. 1982, S. 153-166; hier S. 160. 13 Vgl. Heinz-Dieter Weber: Über Christa Wolfs Schreibart. Konstanz 1984 (Konstanzer Universitätsreden 131), S. 41.
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chen Schichten der Vergangenheitserzählung und der Schreibgegenwart mit ihren gattungstheoretischen Reflexionen nicht mehr begnügen. Sie mußte eine zusätzliche Zwischenschicht in den Text einbauen und dabei alle Textschichten auf eine bisher nicht gekannte Weise mit- und ineinander verschränken, um die tiefe Kluft zwischen Damals und Jetzt zu überbrücken und dadurch einen Sinn der Vergangenheit für die Gegenwart zu gewinnen. Diese Zwischenschicht ist der Bericht über eine kurze Reise der Erzählerin nach Polen in die Geburtsstadt Landsberg an der Warthe („nach L., heute G.": 14), unternommen am 10. und 11. Juli 1971 zusammen mit Ehemann, Bruder und jüngerer Tochter. Die Mitteilungen über die Eindrücke, Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Gespräche beim Wiedersehen der Heimatstadt nach 25 Jahren sind über das ganze Buch verstreut und bilden ein wesentliches Ferment der Vergangenheitserzählung, ja diese wäre ohne die zahllosen Einschübe des Reiseberichts nicht möglich. Entgegen dem ursprünglichen Vorhaben, mit besonders markanten Details der Vergangenheitserzählung (zuerst Flucht aus Landsberg im Januar 1945, später das früheste Erlebnis der Dreijährigen) unmittelbar zu beginnen, schaltet die Erzählerin bald die Polenreise vor 1 4 , weil erst die leibhaftige Wiederbegegnung mit den Schauplätzen der Kindheitsheimat frühe, längst vergessene oder verdrängte Erlebnisse wiederaufzuwecken vermag. Schon auf der Reise selbst, noch vor Erreichen der Heimatstadt, erlebt die Erzählerin im Anblick der Neumark zwischen Küstrin und Landsberg, wie der dichtgewordene Schleier des Vergessens zerreißt, und nennt diese „Wiedergewinnung der vollen Sehkraft" das „wichtigste (Ereignis) der ganzen Reise" (126): Es löst unerwartet „ein freudiges Heimweh" (ebd.) aus und kündigt die Fähigkeit an, auch beim Besuch der Stadt sich das Vergangene zu vergegenwärtigen. In der Tat erweist sich die Erinnerungskraft als so stark, daß sie es mühelos vermag, alle inzwischen eingetretenen Veränderungen der Stadt aufzuheben („Die neuen Häuser sind wie weggeblasen": 30) und auf ihrem noch erkennbaren Grundriß das Landsberg der Kindheit wieder aufzubauen. So genügt der Erzählerin die Außenansicht des stark umgebauten Elternhauses am Sonnenplatz, um sich die damalige Einrichtung der Wohnung zu imaginieren und daran die Erinnerung familiärer Episoden zu knüpfen (25-28). Manchmal genügt eine noch vorhandene Baumgruppe, um darunter eine Kinderszene spielen zu lassen (37 ff.).
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Dies geht aus der Abfolge der Schreibanfänge von Kindheitsmuster hervor, die erstmals die von Sonja Hilzinger besorgte Werkausgabe (Anm. 7) bietet: Bd. 5, S. 607-643.
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Hilfreich für die Erzählerin ist dabei auch die Möglichkeit, in Gesprächen mit dem nur dreieinhalb Jahre jüngeren Bruder Lutz gemeinsame Erinnerungen an Orte und Personen der Heimatstadt auszutauschen und zu bestätigen und dadurch zur Erzählung ganzer Familiengeschichten angeregt zu werden (22 f., 33, 103 u. ö.). Dabei verharren solche Erinnerungen nie bei äußeren Szenenbildern, sondern dringen stets bis in die Welt der Gedanken und Empfindungen, der Ängste, Träume und Phantasien des Kindes und bauen von daher allmählich seine sich entwickelnden Beziehungen zu seiner Umwelt, zu den Eltern, zum Bruder, zu Freundinnen, Verwandten und Lehrern auf. Da Kindheitsszenen immer höchst disparate, unverbundene Erinnerungsfragmente darstellen, ist die Reiseebene durch das ganze Buch hindurch ein vorzügliches erzähltechnisches Mittel, anhand der Fahrten und Wanderungen durch die Stadt und in ihre nächste Umgebung jene Fragmente auf der Vergangenheitsebene in lockerer topographischer Folge zu erzählen, ohne an eine genaue Chronologie gebunden zu sein, und so in bunter Abwechslung nach und nach ein Mosaikbild dieser Kindheit entstehen zu lassen, das sich viele Vor- und Rückgriffe erlauben kann und nur die großen Entwicklungsschritte beachten muß. Die Verschränkung von Reise- und Vergangenheitsebene ist oft so eng, daß sie den Eindruck erweckt, als würden die Kindheitsgeschichten schon während der Reise selbst den Angehörigen erzählt, wobei außer Bruder Lutz auch Ehemann H. und die fünfzehnjährige Tochter Lenka mit Fragen und Einwürfen die Erzählung teils provozieren, teils kommentieren. Das gelegentliche Unverständnis und die kritischen Urteile der Tochter über das Gehörte verdeutlichen dabei die Kluft zwischen den Generationen, wie die Erzählerin selbst mit Erstaunen registriert (51, 65), zumal die Tochter im gleichen Alter wie die aus Landsberg flüchtende Nelly steht. Während also der Bruder vor allem als Augen- und Ohrenzeuge das gemeinsam mit der Schwester erlebte Vergangene nahebringen hilft, wird durch die Tochter Lenka die Perspektive der Jugend von 1971 betont, die namentlich die Berichte über die Nazi-Ideologie und über das davon beherrschte Verhaltensmuster der früheren Generation nur mit Kopfschütteln quittieren kann (181, 282 u.ö.) und dadurch die erzählte Vergangenheit wieder in weite Ferne rückt. Entschiedene Distanz zur Vergangenheit herrscht zunächst auch auf der Ebene der Schreibgegenwart, in der jedoch nicht ein fester, ein für allemal erreichter Standpunkt, sondern ein Prozeß des Denkens, Sehens und Deutens während eines bestimmten Zeitraums (vom 3. November 1972 bis 2. Mai 1975) vorgestellt wird. A u f dieser Manuskriptebene begegnen die
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häufigen Reflexionen über die Problematik von Erinnerung und Gedächtnis, über Sinn und Sinnlosigkeit des Recherchierens (auch der Polenreise, die hier selbst schon wieder Vergangenheit geworden ist), über die Vorsicht beim Abtragen der „geologischen Schichten" (233) der Vergangenheit, über die Schwierigkeit des Erzählens dieser versunkenen Gegenstände und über die Notwendigkeit des ergänzenden Phantasierens beim Versuch ihrer Rekonstruktion. Aber auch die Manuskriptebene ist mit der Vergangenheitsebene auf vielfältige Weise verschränkt. Denn die Gedächtnis- und Erzählschwierigkeiten werden nicht nur in eigenen Abschnitten theoretisch erörtert, sondern auch auf der Vergangenheitsebene in die Erzählpraxis umgesetzt. A u f diese Weise sind das Vermuten, der Zweifel, das Nichtwissen und Wissenwollen, das Raten und Schlußfolgern der Erzählerin auch in ihrem Erzählen selbst stets gegenwärtig. In zahlreichen Wendungen, wie „das ist zu bezweifeln" (63), „ist nicht überliefert", „Nie wird man erfahren" (64), „Soviel ist sicher", „bleibt ungewiß" (114) wird das kritische Abwägen des Erinnerungsmaterials und die Suche nach seinem möglichen Zusammenhang betont. Doch kann sich die Erzählerin aus solcher detektivischen Mühsal bisweilen befreien, wenn sie plötzlich die auktoriale Perspektive wählt: „ W o hat Nelly ihre Augen gehabt, daß sie nicht gemerkt hat, daß ihre Mutter vor Angst innerlich flog - " (243). Zur Ebene der Schreibgegenwart gehören aber auch die gelegentlichen Einschübe und Exkursionen über Geschehnisse des familiären Alltags ebenso wie über Ereignisse der Weltpolitik in den Jahren der Niederschrift des Manuskripts. Zwar siedelt die Autorin diese Abschnitte auf einer eigenen „Gegenwartsebene" 15 an, doch bilden sie gegenüber der Manuskriptebene keine neue Zeitschicht, sondern heben nur mitunter den Blick vom Schreibtisch in die nahe oder weite Welt dieser Jahre. Was hier dem Leser vor allem in Erinnerung bleibt, sind die Bemerkungen und Urteile über Ereignisse des Vietnamkriegs und über die Militärputsche in Chile und Griechenland, die die Erzählerin als erschreckende Wiederholungen überwunden geglaubter Vorgänge der Vergangenheit versteht: „Dieser fatale Hang der Geschichte zu Wiederholungen, gegen den man sich wappnen muß." (249) A u f diese Weise wird die Schreibgegenwart auch durch ihren politischen Themenbereich mit der Vergangenheitserzählung verklammert. Diese Form des Ineinandergreifens verschiedener Zeit- und Textschichten hat die Erzählerin selbst zu Beginn des 8. Kapitels von Kindheitsmuster
15 Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. München 2003, S. 170 (Donnerstag, 27. September 1973. Kleinmachnow, Fontanestraße).
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als „Hilfskonstruktion" bezeichnet, „um das Material zu organisieren" und „Abstand zu gewinnen" (241). Zwar sei damit keine „Beschreibung der Vergangenheit [...] in objektivem Stil" (240) mehr möglich, vielleicht aber eine Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus subjektiver Sicht. „Der Hang zur Authentizität nimmt zu." (240) Mit diesem Satz eröffnet die Erzählerin ihre Reflexion und spielt damit auf ihre Poetik der „inneren" oder „subjektiven Authentizität" 1 6 an, die sie in gleichzeitigen Essays als „Echtheit und Glaubwürdigkeit" 1 7 des Erzählens, als eine Fähigkeit, „wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung" 18 definiert hat. Diese gegenüber herkömmlicher Darstellung kompliziert gewordene Form der häufigen Unterbrechung der Vergangenheitserzählung will also die Deutungsperspektive der gegenwärtigen Erzählerin stets bewußt halten und kann dabei die schrittweise Annäherung an die Vergangenheit, die allmähliche Zunahme ihres Verständnisses dadurch zum Ausdruck bringen, daß gegen Ende des Buches die Unterbrechungen seltener werden, die Erzählung ungestörter vor sich gehen kann. Gleichgültig aber, ob Fremdheit oder wachsende Nähe zur Kindheit: die Position der Erzählerin zur Vergangenheit bleibt immer deutlich. Damit erfüllt c'as Buch Kindheitsmuster eine Forderung Walter Benjamins, mit der er sein Fragment Ausgraben und Erinnern (1932) schließt: „ I m strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren." 1 9 *
Das Ziel dieses behutsamen Sichherantastens an es nun aber nicht, diese als zeitlos und immergültig, darzustellen. Vielmehr sollten die in diesem Buch dungen und Verhaltensweisen eines Kindes als die
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die Kindheitswelt war als Kindheit überhaupt geschilderten EmpfinKindheitsmuster einer
Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann (1973). In: C. W.: Essays / Gespräche / Reden / Briefe 1959-1974. München 1999 (Christa Wolf: Werke, Bd. 4), S. 401-437; hier S. 407 und 409. 17 Ebd., S. 407. 18 Christa Wolf: Lesen und Schreiben (entstanden 1968, Erstdruck 1972). In: C. W.: Essays 1959-1974 (Anm. 16), S. 238-282; hier S. 258 (Abschnitt „Medaillons"). 19 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: W. B.: Gesammelte Schriften IV/1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972, S. 401. - Zur Datierung: Das Fragment ist Vorentwurf für einen Abschnitt in Benjamins Berliner Chronik, die im Frühjahr und Sommer 1932 niedergeschrieben wurde: Gesammelte Schriften VI. Hrsg. von R o l f Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1985, S. 465-519; hier S. 486 f.
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ganz bestimmten Generation, der um 1930 in Deutschland Geborenen und im Dritten Reich Heranwachsenden, aufgezeigt und beurteilt werden, und darum war es notwendig, die ganze von einem solchen Kind erfahrbare Welt in konzentrischen Kreisen um das Kind als Mittelpunkt mit darzustellen. Christa W o l f konnte sich also nicht mehr, wie noch Theodor Fontane in seinen Kinderjahren 20, mit einem unpolitischen Zeitbild aus einer kleinen Stadt im Osten Deutschlands und mit einem Porträt der Eltern als Repräsentanten einer bestimmten Gesellschaftsschicht begnügen. Alle privaten und soziokulturellen Züge des Gesellschaftsbildes mußten jetzt von der historischen Besonderheit der Epoche und den davon herrührenden politischen Einflüssen und Verstrickungen dieser Jahre konturiert werden. Hierbei ist die Erzählerin stets bemüht, alle politischen Vorgänge möglichst aus der Erlebnisperspektive des Kindes mit seiner allmählich zunehmenden Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit zu schildern. Anfangs erscheinen aus dem Blickwinkel Nellys nur isolierte Szenen, die von der Erzählerin erläutert werden müssen: so das Bild der erleichterten Eltern, die froh darüber sind, daß sie (durch die Übernahme des Ruderclubs in eine Gliederung der Partei) ohne ihr Zutun zur neuen Volksgemeinschaft gehören (69 f.), oder die eigene Empfindung des Kindes, wenn es die Vorfreude auf einen Führerbesuch als gemeinschaftsstiftend erlebt (73 f.). Doch sind solche Szenen zu vereinzelt, um die ganze Radikalität dieses Zeitumbruchs zu erfassen, und müssen deshalb in den ersten Kapiteln noch durch umfangreiche Lesefrüchte der Erzählerin aus dem damaligen Landsberger General-Anzeiger (62-64, 70-72) und durch spätere Erzählungen der Eltern (z. B. 66-68) über politische Vorkommnisse dieser frühen NS-Zeit in der eigenen Stadt (Judenboykotte und andere SA-Brutalitäten) ergänzt werden. Später bedarf es dieser nachträglichen Auffüllungen kaum mehr. Das Schulkind erfährt schon selbst die politische Atmosphäre, einmal durch immer genauere Beobachtung der Erwachsenen und ihres unterschiedlichen Verhaltens zur neuen Ideologie, zum andern aber auch dadurch, daß es selbst immer stärker von der politischen Stimmung erfaßt wird, und zwar weniger im Elternhaus als vielmehr in Schule und Hitler-Jugend. Im Elternhaus und bei Verwandten hört das Kind zwar Gesprächsfetzen über Juden (120, 199, 207 f.), über Ostarbeiter, Kommunisten und russische Gefangene (103-106), später über das Attentat des 20. Juli (404 f.), nimmt dabei aber jedesmal wahr, wie die Erwachsenen auf seine Fragen
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Vgl. den Beitrag darüber in diesem Band, S. 173-196.
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nur halbe Antworten geben, ablenken oder verstummen. Dieses Schweigen bewirkt bei ihm eine Abnahme der Neugier und ihre Beschränkung auf ungefährliche Gebiete. „Nelly weiß, was zu tun ist: Sie stellt sich taub und unwissend." (106) Andererseits erfährt die Tochter spätestens seit ihrem zehnten Lebensjahr eine durchaus kritische Distanz der Eltern gegenüber dem Regime, sehr deutlich etwa durch einen drastischen Ausruf der Mutter gegen Hitler bei Kriegsausbruch (244) oder durch das aschgraue Gesicht des Vaters bei der Nachricht, daß seine Einheit polnische Geiseln exekutiert habe, und seinen verzweifelten Satz: „So etwas ist nicht für mich." (263) Aber solche Regimekritik nimmt Nelly zwar wahr, beurteilt sie aber entweder gar nicht oder aus konträrer Sicht („Die Mutter läßt also den Führer im Stich": 247), weil sie inzwischen von Schule und HJ immer stärker in die entgegengesetzte Richtung gelenkt wird. Bei der Vorarbeit zu diesem Lebensabschnitt notierte sich Christa W o l f im Tagebuch: „Ich nähere mich nun bedenklich dem Kernpunkt der Selbstanalyse (Eintritt in den Jungmädelbund und was ihm folgte)." 21 Dem Ausdruck „Selbstanalyse" entspricht es, daß in Kindheitsmuster dieser Schritt der Zehnjährigen keineswegs politisch, sondern psychologisch begründet wird. Die Erzählerin betont nämlich, daß sich Nelly zum Dienst in der Hitler-Jugend gedrängt habe, um jenseits des Elternhauses Gemeinschaft und Kameradschaft als ein „gehobenes Dasein" (278) zu erleben und damit zugleich die bisherige Verlegenheit und Fremdheit anderen gegenüber zu überwinden. Ähnlich erklärt die Erzählerin Nellys spätere Annahme des Angebots, Führerinanwärterin in der HJ zu werden, mit dem Wunsch, durch Unterwerfung und strenge Pflichterfüllung von der Gruppe anerkannt zu werden und so die ersehnte Sicherheit vor Angst und Selbstzweifel zu gewinnen (285 f.). Doch mit diesen beiden Schritten, die die Mutter vergebens zu verhindern sucht, gerät Nelly immer stärker in eine ideologisch indoktrinierende Atmosphäre, die das Bedürfnis der Heranwachsenden nach Gemeinschaft unmerklich in Autoritätshörigkeit verwandelt und diese schließlich in unbedingte Führergläubigkeit münden läßt. 22 Diese Atmosphäre ist geradezu akustisch vernehmbar, wenn in die entsprechenden Abschnitte von Kindheitsmuster nicht nur Liedanfänge, sondern manchmal ganze Strophen von
21 Christa Wolf: Ein Tag im Jahr (Anm. 15), S. 170 (Donnerstag, 27. September 1973. Kleinmachnow, Fontanestraße). 22 Heinrich Boll nennt „die Schilderung der Unmerklichkeit, dieser unheimlichen Unmerklichkeit, mit der da dieses Kind in ein Muster gebracht, mit der es gestanzt w i r d " das besondere Charakteristikum von Christa Wolfs Kindheitsmuster. Heinrich Boll: Wo habt ihr bloß gelebt. In: Christa Wolf. Materialienbuch. Hrsg. von Klaus Sauer. Darmstadt 1979 (Sammlung Luchterhand 265), S. 7-15; hier S. 11 f.
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HJ-Gesängen und NS-Gedichten (z. B. 281-283, 325) und dazwischen markige Hitler-Sprüche eingestreut werden - ohne Kommentar der Erzählerin, die damit zwischen den Zeilen die fraglose Zustimmung Nellys und ihrer Kameradinnen zu diesen Versen und Texten signalisiert. Bekräftigt wird solches mehr und mehr politische Engagement durch die Deutschund Geschichtslehrerin Dr. Juliane Strauch (319 ff.), eine überzeugte Nationalsozialistin mit strengen moralischen Grundsätzen. Nelly verehrt diese Lehrerin, nimmt sie zum Vorbild, wird auch umgekehrt von ihr anerkannt und so in diesen wichtigen Entwicklungsjahren nicht nur charakterlich, sondern zugleich politisch sehr stark bestimmt. Solche Indoktrination durch Schule und Hitler-Jugend befestigt noch gegen Ende des Krieges eine Durchhalte-Gesinnung, die die Sechzehnjährige schon auf der Flucht vor den Russen zwar an kein Zurück mehr nach Hause glauben, aber den Endsieg noch immer für möglich halten (431) und den Entschluß fassen läßt, „dem Führer auch in schweren Zeiten unverbrüchliche Treue zu bewahren" (442). Die Erzählerin erklärt diese Widersprüche mit Nellys „Verlust des inneren Gedächtnisses" (324), d. h. der Unfähigkeit, aus Beobachtungen des äußeren Geschehens die richtigen Schlüsse zu ziehen. 23 Erst mit dem Ende des Krieges habe in Nelly ein jahrelanger Kampf begonnen zwischen melancholischer Selbstzerstörung und der „verkümmerten Fähigkeit, Erfahrungen zutreffend zu deuten" und dadurch zu überleben, und dieser Kampf sei lange unentschieden geblieben (468). Denn beim Hereinbrechen der ideellen und moralischen Katastrophe habe Nelly eine innere Leere empfunden, einen „Phantomschmerz" über das, „was sie nicht mehr hatte und nicht mehr war" (534), und habe deshalb den Satz des KZ-Häftlings: „ W o habt ihr bloß alle gelebt" zuerst nur registriert und erst viel später als eine „ A r t von Motto" über ihr bisheriges Leben verstanden (482). Die hier skizzierte Motivkette, von deren Gliedern hier nur eine Auswahl der wichtigsten gebracht werden konnte, zieht sich wie ein roter Faden durch die zweite Hälfte des Buches. Nach eigenem Bekunden kostete es die Erzählerin bei der Aufarbeitung gerade dieses Themas eine nicht vorhergesehene Anstrengung. Sie mußte ihre Angst „vor den Abgründen der Erinnerung" (109) überwinden, weil sie um die „Höllen der Selbsterfahrung" (556) wußte. So verspürte sie lange gleichzeitig den Wunsch und die Scheu, verdrängte Gedächtnisinhalte, die „verkapselten Höhlen" und
23
Zum Verhältnis von äußerem und innerem Gedächtnis vgl. A l m u t Finck: Subjektivität und Geschichte in der Postmoderne. Christa Wolfs Kindheitsmuster. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hrsg. von Michaela Holdenried. Berlin 1995, S. 311-323; hier S. 320.
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„verschlossenen Räume" im Gedächtnis (107) aufzuschließen. Bei dieser kräftezehrenden archäologischen Arbeit gelingt es der Erzählerin zwar, nicht nur zu den negativen Erinnerungsbildern einer fremdbestimmten Lebenshaltung, sondern auch zu den wahren, aber damals nicht verwirklichbaren Wünschen und Hoffnungen des Kindes Nelly vorzustoßen und in ihnen positive, noch heute anerkennenswerte Charakterzüge zu entdekken. 2 4 Aber gerade diese Erkenntnis ungelebter Möglichkeiten macht ihr die Gewalt der Unterdrückung um so fühlbarer, die daher im erinnerten Lebensbild insgesamt die vorherrschende Komponente bleibt. Dieser Befund soll der Erzählerin eine Frage beantworten helfen, die sie sich seit dem 9. Kapitel wiederholt gestellt hat: „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?" (307, 468, 534). 25 Mit dieser Frage stellt sie einen genauen Wirkungszusammenhang zwischen Damals und Heute her und will andeuten, daß die frühen Erlebnisse und Erfahrungen ihrer Generation nicht nur das damalige, sondern auch alles spätere Verhalten bis in die Gegenwart geprägt haben. Christa W o l f selbst hat in Gesprächen kurz vor und nach Erscheinen von Kindheitsmuster diese leitmotivische Frage des Buches näher erläutert. Sie wolle dieser Frage näherkommen, weil sie glaube, „daß so manches, was unsere Generation heute tut oder nicht tut, noch mit der Kindheit zusammenhängt" 26 , und deshalb sei für sie dieses Buch „auch in der ,Vergangenheitsebene 4 ein Gegenwartsbuch; weil es versucht, Wurzeln zu zeigen für Verhaltensweisen, die heute da sind." 2 7 Für solche „Verhaltensweisen, die, in der Kindheit eingeschleust, die Struktur der Beziehungen eines Charakters zu seiner Umwelt weiter bestimmen", nennt Christa W o l f auch konkrete Beispiele: „die Gewohnheit der Gläubigkeit gegen übergeordnete Instanzen, der Zwang, Personen anzubeten oder doch sich ihrer Autorität zu unterwerfen, der Hang zu Realitätsverleugnung und eifervoller Intoleranz." 28 Im Buch selbst mündet ein24
Näheres dazu bei Greiner (Anm. 11), S. 332-334. Die Frage erscheint auch als Überschrift zum 9. Kapitel im Inhaltsverzeichnis von Kindheitsmuster, zusammen mit dem Stichwort „Hörigkeit" (5). 26 Christa Wolf: Erfahrungsmuster (1975). In: C. W.: Essays 1975-1986 (Anm. 4), S. 53 f. - Vgl. auch Christa Wolf: Subjektive Authentizität (1973). In: C. W.: Essays 1959-1974 (Anm. 16), S. 414-416, 421-423. 27 Christa Wolf: „Kindheitsmuster". „Dialog am Abend", 27. A p r i l 1977. In: Konrad W o l f im Dialog. Künste und Politik. Hrsg. und eingeleitet von Dieter Heinze und Ludwig Hoffmann. Berlin 1985 (Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik. Veröffentlichungen der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der D D R für deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts), S. 275-288; hier S. 285. 28 Christa Wolf: Über Sinn und Unsinn von Naivität (1973). In: C. W.: Essays 1959-1974 (Anm. 16), S. 438-450; hier S. 448. Vgl. auch Christa Wolf: Dankrede fur den GeschwisterScholl-Preis (1987). In: C. W.: Essays / Gespräche / Reden / Briefe 1987-2000. München 25
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mal eine Schilderung des politisch vorsichtigen Verhaltens der Eltern in den verallgemeinernden Satz: „Und das scheint uns leichtzufallen. Überhören, übersehen, vernachlässigen, verleugnen, verlernen, verschwitzen, vergessen." (221) Die im Präsens gehaltene Wir-Form des Satzes erklärt solches Verhalten für zeitlos gültig, zutreffend für Vergangenheit und Gegenwart, und wie zur Bestätigung dieser fortdauernden Gültigkeit hat Christa W o l f am 27. September 1977, also kurz nach Erscheinen von Kindheitsmuster, im Tagebuch notiert: „Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest: schweigen." 29 Dieser Hinweis auf die Fortdauer früheren Verhaltens übt natürlich indirekt auch Kritik an der DDR als einem mit dem Dritten Reich vergleichbaren System der Bevormundung und Überwachung. Auch sonst begegnen in Kindheitsmuster kritische Andeutungen dieser Art von Seiten der Erzählerin (162, 524 f., 545 f. u. ö.), vor allem aber direkte Kritik von seiten der Tochter Lenka, die etwa ihre eigene Arbeitswelt als inhuman (398f.) und überhaupt die Atmosphäre der von ihr erlebten Gesellschaft als „Pseudo" verurteilt (325, 546) und damit zugleich als Kontrastfigur zu Nelly und auch zur Erzählerin gezeichnet wird. 3 0 Denn diese begnügt sich im wesentlichen mit der Hoffnung auf künftige Möglichkeit der freien und offenen Rede (359, 546), verzichtet also auf direkte Kritik am ,realen Sozialismus' des eigenen Staates. Das empfanden manche Kritiker als „Leerstelle" 3 1 , allenfalls als „atem- und stimmlose Nebenrede" 32 des Buches; Heinrich Boll freilich genügten solche gelegentlichen kritischen Anmerkungen und indirekten Distanzierungen „bei einer Autorin, die zu grellen Tönen nie geneigt hat" 3 3 . Grundsätzlich ist hier zu bedenken, daß Kindheitsmuster nur insofern ein Gegenwartsbuch sein will, als es die frühen Prägungen als Wurzeln gegenwärtigen Verhaltens freilegt. Das Buch w i l l weder die Geschichte der DDR in den drei Jahrzehnten bis 1976 noch die politischweltanschauliche Entwicklung der Erzählerin in diesem Zeitraum nachzeichnen. Noch 1987 hat Christa W o l f diese Themen ausdrücklich einer 2001 (Christa Wolf: Werke, Bd. 12), S. 103-110; hier S. 104 f., und Christa Wolf: Unerledigte Widersprüche. Gespräch mit Therese Hörnigk (1987/88). In: Ebd., S. 53-102; hier S. 55 f. 29 Christa Wolf: Ein Tag im Jahr (Anm. 15), S. 224 (Dienstag, 27. September 1977. Metein - Berlin, Friedrichstraße). 30 Näheres dazu bei Linn (Anm. 12), S. 62 f. 31 So Weber (Anm. 13), S. 45; vgl. Greiner (Anm. 11), S. 335 und Linn (Anm. 12), S. 58. 32 Heinrich Mohr: Die zeitgemäße Autorin - Christa W o l f in der DDR. In: Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk Christa Wolfs. Hrsg. von Wolfram Mauser. Würzburg 1985, S. 17-52; hier S. 36. 33 Heinrich Boll (Anm. 22), S. 13.
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späteren Darstellung vorbehalten, sie „eine noch uneingelöste SchreibSchuld" 3 4 genannt. Mit Kindheitsmuster verfolgt also Christa W o l f ein doppeltes Ziel: Sie will zum einen durch die archäologische Erinnerungsarbeit ihrer Erzählerin eine verschüttete Kindheit und darin vor allem die von der Ideologie des Dritten Reiches bestimmten Verhaltensmuster des Kindes und seiner Umgebung wieder aufdecken und zum andern in diesen Mustern die Ursprünge bis in die Gegenwart fortwirkender psychischer und politischer Mechanismen erkennen lassen. Damit - und darin liegt die besondere Brisanz dieses Buches - bekennt erstmals eine DDR-Autorin, daß ihre Generation vom Faschismus keineswegs unberührt geblieben, ja wesentlich geprägt worden sei und daß diese Prägung auch noch ihr gegenwärtiges politisches Verhalten bestimme - ein auch noch für die siebziger Jahre erstaunlicher Mut zur Selbsterkundung und zur Selbstkritik. *
Nun taucht das Thema der Fortwirkung früher Prägungen nicht erst in der Mitte des Buches auf, es wird bereits mit dem Eingangssatz, einem kaum variierten Faulkner-Zitat, präludiert: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." (13) Diese Maxime wird zustimmend zitiert; denn die unmittelbar danach formulierte Verleugnung dieser Wahrheit wird deutlich getadelt: „ W i r trennen es von uns ab und stellen uns fremd." Es ist ein allgemeines „ W i r " , das aber auch die Sprecherin dieses Satzes mit einschließt. Darum klingt er fast wie Kritik am Fremdheitsgefühl gegenüber der eigenen Kindheit, womit die jetzt sofort einsetzende Brechung in zwei Personen (du und sie) begründet wird. Aber noch am Ende dieser kurzen Präambel warnt die hier eigentümlich changierende Stimme (der Autorin? der Erzählerin?) vor der Gefahr der Selbstentfremdung „ohne unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, an das, was uns zugestoßen ist. Ohne unser Gedächtnis an uns selbst." (14) Dieses nicht eindeutig zuzuordnende „ W i r " stellt uns am Schluß vor die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis von Autorin, Erzählerin und Hauptfigur, und also vor die Frage, inwieweit Kindheitsmuster als autobiographisches Werk Christa Wolfs zu betrachten sei.
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Christa Wolf: Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis (1987): In: C. W.: Essays 1987-2000 (Anm. 28), S. 105.
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Zuerst ist das Verhältnis von Erzählerin und Hauptfigur zu klären. Das Fortwirken der frühen Muster scheint den anfangs erwähnten biographischen Bruch am Ende des Krieges zu überbrücken, offenbar überwiegt die von der leitmotivischen Frage des Buches betonte Kontinuität von Damals und Heute. Diese aber setzt auch eine Kontinuität, j a Identität von erzählter und erzählender Person, von Nelly und der sich mit „ D u " ansprechenden Erzählerin voraus. Tatsächlich begegnen in Kindheitsmuster von Anfang an Textstellen, die diese Identität dadurch erkennen lassen, daß ihre Sätze unvermittelt von Nelly zum Du der Erzählerin oder umgekehrt wechseln. Einige Beispiele seien genannt, die mit diesem Subjektwechsel die Wiederkehr oder das Ausbleiben früherer Gefühle und Gesichter begründen: Du erkennst die Empfindung wieder, die jedesmal in Nelly aufkam, wenn sie den Fuß über diesen Rand setzte: ein Gemisch aus Verwegenheit, Neugier, Furcht und Einsamkeit. (31: im 1. Kap.) Die billigsten Farben der Welt, [...] die Nelly [...] diesen Stich beibrachten, Entzücken oder Schmerz, den du nie wieder bei Farben gefühlt hast, nie wieder fühlen wirst. (128: im 4. Kap.) Die Schule, die Straße, der Spielplatz liefern Gestalten und Gesichter, die du heute noch malen könntest. Wo Nelly am tiefsten beteiligt war, [...] sind die Einzelheiten, auf die es ankäme, gelöscht. (337: im 10. Kap.) Am Fuß der Treppe, die Nelly einmal mit Julia (Dr. Juliane Strauch) hochgegangen ist, plötzlich fiel es dir wieder ein. Auch, was sie gesprochen haben. (499: im 16. Kap.) Die meisten Gedichtzeilen, die du auswendig kennst, hat Nelly in jenen Jahren in sich aufgenommen. (578: im 18. Kap.) Daß der Erzählerin solcher Subjekttausch durchaus bewußt ist, zeigt eine Stelle im 6. Kap., wo sie während des Tauschs sich selbst ins Wort fällt: „Dann aber saßest du plötzlich - nicht du: Nelly, das Kind - im Elternhaus [ . . . ] " (191). Die absichtliche Selbstkorrektur soll dem Leser zu verstehen geben, daß solcher Subjektwechsel in Kindheitsmuster stets möglich ist, daß die Identität von Kind und Erzählerin insgeheim immer besteht, weshalb denn auch die Erzählerin die oben zitierten (und weitere) Textstellen als Identitätssignale ins Buch streut (und nicht korrigiert). Die damit erwiesene Identität von Hauptfigur und Erzählerin qualifiziert Kindheitsmuster zum autobiographischen Roman, der das Schicksal der um 1930 in Deutschland Geborenen am Beispiel einer fiktiven Jugendgeschichte schildert. Läßt sich darüber hinaus auch die für eine reale Autobiographie konstitutive Identität von Hauptfigur, Erzählerin und Autorin
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nachweisen? Der Vorspann des Buches, unterschrieben mit „C. W." (10), verneint dies. Dem widerspricht noch nicht die Tatsache, daß Christa W o l f die realen biographischen Daten ihrer selbst und ihrer Familie auf die zentralen Figuren ihres Buches überträgt, auch noch nicht der Umstand, daß nach ihrem Zeugnis verschiedene Szenen aus der Realität in das Buch aufgenommen worden sind. 35 Denn es steht jedem Schriftsteller frei, Daten, Szenen, Erfahrungen aus seinem Leben, ja eigene und anderer Personen Charakterzüge in einem Roman zu verwerten und damit in den poetischen Raum zu heben. Um im Falle von Kindheitsmuster die Gleichung Nelly = Erzählerin auch auf die Autorin ausdehnen zu können, müßte man Äußerungen Christa Wolfs finden, die die im Buch erzählte Kindheit und Jugend Nellys als ihre eigene Entwicklungsgeschichte bestätigen. Solche direkten Äußerungen gibt es nicht. Es gibt jedoch einige Indizien, die eine autobiographische Gleichung nahelegen. So spricht Christa W o l f in einer Diskussion über Kindheitsmuster von einer besonderen Art der Bewältigung, die sie in diesem Buch leisten wolle: „die Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner ganz persönlichen Vergangenheit, mit dem, was er persönlich getan und gedacht hat und was er ja nicht auf einen anderen delegieren kann" 3 6 . Oder sie begründet die späte Niederschrift ihrer Erlebnisse - erst dreißig Jahre nach Kriegsende - mit dem anhaltenden „Schock nach 1945", „daß man einfach noch nicht darüber schreiben konnte - noch nicht in der Form, daß man sich selbst mit hineinnahm", und weist darauf hin, daß dann in der Entstehungszeit von Kindheitsmuster „der Prozeß des ,Über-sich-selbstBescheid-Wissens' durch Arbeit an der Erinnerung fast ein therapeutischer Prozeß" gewesen sei. 37 Auch ist an das Wort von der „Selbstanalyse" zu erinnern, deren „Kernpunkt" sich Christa W o l f lt. Tagebuch vom 27. September 197 3 3 8 bei der Vorbereitung zum 8. Kapitel der Kindheitsmuster
35 Vgl. Kindheitsmuster, 7. Kap. (S. 234), 15. Kap. (S. 482), 17. Kap. (S. 534) und 14. Kap. (S. 447) mit Christa Wolf: Erfahrungsmuster (1975). In: C. W.: Essays 1975-1986 (Anm. 4), S. 53, 51, 50, und Christa Wolf: Ein Tag im Jahr (Anm. 15), S. 199 (Sonnabend, 27. September 1975. Metein). 36 Christa Wolf: Erfahrungsmuster (1975). In: C. W.: Essays 1975-1986 (Anm. 4), S. 37. 37 Christa Wolf: Eine Diskussion über Kindheitsmuster (1983). In: Ebd., S. 296 und 303. Vgl. auch Christa Wolf: Erfahrungsmuster (1975). In: Ebd., S. 55. 38 Christa Wolf: Ein Tag im Jahr (Anm. 15), S. 170. - Eine Vorahnung dieses therapeutischen Prozesses findet sich schon in Christa Wolfs Brief an Brigitte Reimann vom 11. Februar 1971: „ [ . . . ] ich spreche ungern gerade über dieses ungelegte Buch, ich nähere mich ihm unter großen inneren Hemmnissen [...]. Es ist j a neben allem anderen auch eine Art Psychoanalyse, da schwemmt eine Menge mit gutem Grund Verdrängtes wieder hoch, wie verhält man sich nun dazu, schreibt man es auf, nimmt man es nur zur Kenntnis, oder verdrängt man es wie-
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nähere, was von dieser Zentralstelle aus dann auch das übrige Buch beschäftigen wird. Solche Hinweise auf Sinn und Aufgabe der Erinnerungsarbeit und ihre klärende, j a heilsame Wirkung für die Autorin selbst deuten an, daß es sich bei Kindheitsmuster wohl nicht nur um eine symbolische Geschichte der eigenen Generation, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie um eine persönliche und durchaus schmerzhafte und erst nach jahrzehntelanger Karenzzeit möglich gewordene Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit handelt. 39 So lassen es diese Indizien nicht abwegig erscheinen, daß bei Kindheitsmuster von Beginn an auch eine geheime Identität zwischen der Autorin, dem Kind und der Erzählerin besteht. Jedenfalls gibt erst solche im engeren Sinne autobiographische Identität jener leitmotivischen Frage des Buches nach der Fortwirkung der frühen Prägungen bis in die Gegenwart ihr volles existentielles Gewicht.
II. Dreißig Jahre nach Christa Wolfs Kindheitsmuster legte Günter Grass ein in manchem vergleichbares Buch 4 0 vor. Schon der Titel Beim Häuten der Zwiebel deutet metaphorisch erneut auf das Problem der Erinnerung, das in allen Kapiteln thematisiert wird, sei es in eigenen Reflexionsabschnitten, sei es im Erzählvorgang selbst. Drei verschiedene Bilder 4 1 sind es, mit denen Grass die Schwierigkeit der Erinnerung zu verdeutlichen sucht: vorherrschend das Bild der vielhäutigen Zwiebel, dann gelegentlich das Bild vom Insekt im konservierenden Bernstein, schließlich ein paar Mal das Bild vom abgerissenen und nur schwer zu flickenden Film. Schon auf der dritten Seite des Buches wird die Erinnerung erstmals mit einer Zwiebel verglichen, „die gehäutet sein möchte, damit freigelegt wer-
der?" (Brigitte Reimann - Christa Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973. Hrsg. von Angela Drescher. Berlin und Weimar 1993, S. 94). 39 So schon Ingeborg Drewitz: „Aufarbeitung von Vergangenheit, kein Roman" (Stil und Existenz gehören zusammen. Christa Wolfs Kindheitsmuster und Kein Ort. Nirgends. In: Text + Kritik, Heft 46: Christa Wolf. 2. Auflage, Juni 1980, S. 11-16; hier S. 14). 40 Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006 (Zitate und Hinweise auf Textstellen im folgenden mit Seitenzahl dieser Erstausgabe). 41 Vgl. zum folgenden Walter Hinck: Der Autobiograph und der fabulierende Erzähler Günter Grass. Beim Häuten der Zwiebel auf dem Hintergrund zeitgenössischer Selbstbiographien. In: Literatur für Leser 31 (2008), H. 1, S. 1-11; hier S. 8, und Volker Neuhaus: Günter Grass. Stuttgart und Weimar 3 2010 (Sammlung Metzler 179), S. 242 f.
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den kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie verrätselt" (9). Dabei versinnbildlicht die oftmalige Häutung das allmähliche Vordringen in die tieferen Schichten des Unbewußten, die manchmal „zu lange gemiedene Wörter" (9) und „längst Vergessenes" (305) freigeben, aber gleichfalls nicht immer klare Auskunft geben, „mal deutlich lesbar, dann wieder in Hieroglyphen, die, wenn überhaupt, nur mühsam zu entziffern sind" (36). Dazu kommt noch, daß beim Häuten der Zwiebel „die Augen zu schwimmen (beginnen). So trübt sich ein, was bei klarer Sicht lesbar wäre" (225). Das Bild des Zwiebelhäutens w i l l also dartun, daß das Bemühen um Offenlegen des Vergangenen vielfach gehemmt und behindert wird und die schließlich gewonnenen Erinnerungsbefunde häufig ungesichert und zweifelhaft bleiben. Darum greift der Erzähler gelegentlich zu einem anderen Hilfsmittel, das ihm deutlichere Antworten zu geben verspricht, zu einem Stück Bernstein aus dem „Fach überm Stehpult" (64). Es ist „Gold meiner baltischen Pfütze" (ebd.), ein Fund aus der Heimat. Nicht zuletzt deshalb sind ihm die darin eingeschlossenen Insekten Bilder für das, was sich von seinen frühen Erlebnissen „verkapselt" hat (65). Aber erst nach längerer, konzentrierter Betrachtung gibt der Bernstein „Geheimnisse preis, die sich gesichert glaubten", wobei es geschehen kann, daß der aufmerksam Betrachtende anstelle des Insekts sich selbst „in ganzer Figur: vierzehnjährig" erkennt (ebd.). Doch gerade diese Verwandlung eines vor Jahrmillionen eingeschlossenen Bernsteininsekts in die Figur des Heranwachsenden will andeuten, daß die eigene Jugend wie aus geologischer Vorgeschichte heraufgerufen werden muß. 4 2 Einige Male schließlich gebraucht der Erzähler das Bild vom „gestükkelten", mehrmals reißenden und „oft geflickten Film" (137, 150), um die inkohärente Reihung von Erinnerungsfetzen aus der chaotischen Handlungsfolge seiner Fronterlebnisse zu entschuldigen. Dieses dritte Bild will also nicht nur wie die beiden anderen die Mühsal des Erinnerns verdeutlichen, sondern darüber hinaus die Schwierigkeit veranschaulichen, den mit oft zweifelhaftem Ergebnis wiedergewonnenen Erinnerungsstoff in erzählende Form zu bringen.
42 Ähnlich deutet es schon Wilfried F. Schoeller: „Der Erzähler sieht sich selber zu wie einem Insekt aus einer anderen Lebenswelt, eingeschlossen in eine prähistorische Zeit." Wilfried F. Schoeller: Unversöhnt mit sich selbst. In: Literaturen 10, 2006. Wieder in: Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass' Beim Häuten der Zwiebel. Hrsg. von Martin Kölbel. Göttingen 2007 (Steidl taschenbuch 210), S. 314-317; hier S. 315.
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Bei dem Versuch, das mühsam Erinnerte vom jetzigen Standpunkt aus zu verstehen und in größere Zusammenhänge einzuordnen, wird dem Erzähler Günter Grass, wie zuvor schon Christa Wolf, die Fremdheit dessen bewußt, der er einmal gewesen ist: „Sobald ich [...] meinen Zustand vor rund sechzig Jahren nachzuzeichnen versuche, ist mir mein damaliges Ich zwar nicht ganz und gar fremd, doch abhanden gekommen und entrückt wie ein entfernter Verwandter." (184) Darum begegnen Wendungen wie „jener Junge, der anscheinend ich war" (10) oder „der Schüler meines Namens" (337) mutatis mutandis bis in späte Kapitel, wo sogar einmal das eigene Paßfoto als „der mir fremde Finsterling" (329) erscheint, der nur durch die übrigen Daten des Ausweises als die eigene Person identifiziert wird. Aber wie schon diese Zitatbeispiele zeigen, trägt Günter Grass, anders als Christa Wolf, trotz der immer wieder betonten Zeitkluft zwischen damals und heute keine Scheu, „ich" zu sagen. 43 Zwar spricht er eingangs noch von der „Versuchung, sich in dritter Person zu Verkappen" (7), widersteht aber sofort dieser Verlockung und entscheidet sich von Anfang an für die 1. Person Singular und damit für die grundsätzliche Identität von erzählendem und erzähltem Ich, woran auch die häufigen Umschreibungen des erzählten Ich zur Charakteristik seiner jeweiligen Situation („das Muttersöhnchen", „der Luftwaffenhelfer", „der Kriegsfreiwillige" u.s.w.) nichts ändern. Daß darüber hinaus auch eine Identität von Ich-Erzähler und Autor besteht, es sich also bei diesem Lebensbericht um eine Autobiographie im genauen Sinne handelt, erhellt schon zu Beginn des Buches selbst aus ihrer beider Namensgleichheit, erschlossen aus der Anrede „Ginterchen" (18) und dem Namen der Mutter „Helene Graß" (29). Dazu kommen Äußerungen von Günter Grass schon in ersten Interviews über das Buch. 4 4 Wohl betont er, daß es ihn „eine gewisse Überwindung" gekostet habe, Erinne-
43 Christa W o l f spielt in ihren einführenden Worten zu einer Lesung aus Beim Häuten der Zwiebel durch Günter Grass am 26. Januar 2007 auf eine Parallele zwischen diesem Buch und Kindheitsmuster an, wenn sie das Fremdheitsgefühl des Dichters gegenüber seinem früheren Ich betont, berücksichtigt dabei aber nicht den deutlichen Unterschied beider Erzähler im Hinblick auf ihre Fähigkeit, „ i c h " zu sagen. Christa Wolf: Autobiographisch schreiben. Zu Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. In: die hören. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. 52. Jg., 2007, Bd. 3, S. 119-121; hier S. 119 f. 44 A u f solche Äußerungen von Günter Grass verweisen schon Edgar Platen und Volker Neuhaus, wenn sie Beim Häuten der Zwiebel für einen „autobiographischen Text" erklären, der, so Neuhaus, sogar alle Bedingungen für den von Philippe Lejeune definierten „autobiographischen Pakt" erfülle. Edgar Platen: Erweiterte Zeitgenossenschaft'. Grenzen der Erinnerung und Versuche ihrer Überschreitung bei Günter Grass (mit einigen Bemerkungen zu Beim Häuten der Zwiebel). In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Hrsg. von Christoph Parry und Edgar Platen. München 2007, S. 130-140; hier S. 139. - N e u h a u s (Anm. 41), S. 241.
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rungen zu schreiben, da er „einige grundsätzliche Einwände gegen Autobiographien" 45 wegen ihrer oft apodiktischen Darstellungen habe. Doch folgt daraus für ihn keine Ablehnung dieser Gattung, sondern der Entschluß, sie „offener (zu) gestalten", was er kurz darauf die ihm gemäße „Form des autobiographischen Schreibens" 46 nennt. Daß Günter Grass Beim Häuten der Zwiebel als ein autobiographisches Werk versteht, erhellt auch daraus, daß er es deutlich seinen Romanen gegenüberstellt. Obwohl diese alles Erzählbare der eigenen Erlebnisse schon „geschluckt" haben (329), hält er sein Erinnerungsbuch nicht für überflüssig: „Weil dies und auch das nachgetragen werden muß" und „weil ich das letzte Wort haben w i l l " (8). Damit spielt er auf seinen Konflikt mit der Hauptfigur seines ersten Romans an, die bei der Verwertung gleicher Erinnerungsstoffe ihm „aufdringlich dazwischen(redet)" und auf ihre „Erstgeburt" pocht (352); dennoch besteht der Erzähler des Zwiebelbuchs auf seinem Recht der eigenen realen Perspektive und behält gegen Oskars poetische Sicht „das letzte Wort". Gerade diese Auseinandersetzung zwischen Autor und Kunstfigur zeigt, daß das Erinnerungsbuch nicht auf der Ebene des Romans liegt, sondern einer nichtpoetischen Gattung angehört, was aber deren „offenere" Gestaltung nicht ausschließt. *
Von der üblichen Form eines autobiographischen Rückblicks weicht Günter Grass in Beim Häuten der Zwiebel schon dadurch ab, daß er dieses Buch nicht mit seinem Lebensanfang, sondern erst mit dem Ende seiner Kindheit beginnen läßt. Er übergeht damit die frühesten Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen und Urteile des Kindes in der Wahrnehmung seiner selbst und seiner nächsten Umwelt, es fehlt die erste und wichtigste Entwicklungsgeschichte des eigenen Charakters und Weltverhaltens. Diese sich darin bekundende Abneigung, eine innere Geschichte zu schreiben, gilt aber auch für die dargestellten Lebensabschnitte im Dritten Reich, in Krieg und Gefangenschaft wie auch in der Nachkriegszeit mit der Suche nach einer Künstlerexistenz als Lebensziel. Der Erzähler erinnert sich im Grunde nur an äußere Zustände, Ereignisse und Vorgänge, an punktuelle Erlebnisse und Begegnungen, aber kaum an frühere Gedanken und Gefüh45 Günter Grass: Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche. Ein Gespräch mit Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. August 2006, S. 33 und 35; hier S. 33. Wieder in: Kölbel (Anm. 42), S. 27-36; hier S. 28. 46 Günter Grass: Ich werde mich weiter als Bürger äußern. Ein NDR-Interview zwischen Günter Grass und Stephan Lohr am 16. August 2006. In: Frankfurter Rundschau, 18. August 2006. Wieder in: Kölbel (Anm. 42), S. 78-80; hier S. 79.
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le 4 7 ; gelegentliche Fragen danach, die er sich stellt, bleiben ohne Antwort (82, 84, 232). Er zeigt kaum Interesse, sich in die Empfindungswelt des Heranwachsenden und jungen Mannes zurückzutasten. Um so klarer und schärfer ist der Blick nach außen gerichtet und vermag die Welt des Elternhauses, der Schule, der Heimatstadt, des Arbeitsund Kriegsdienstes, der Gefangenschaft und schließlich der verschiedenen Berufsstationen bis ins atmosphärische Detail zu vergegenwärtigen. Hier bewährt sich auch in diesem späten Buch das unverwüstliche Erzähltalent seines Verfassers, zumal dann, wenn er die erinnerten Einzelheiten zu abenteuerlichen Geschichten und Anekdoten verdichtet. Nicht selten freilich bleiben wegen seiner „löcherig" gewordenen Erinnerung (200) und trotz Zwiebel und Bernstein die äußeren Fakten bruchstückhaft und ohne Zusammenhang. Dann kann es geschehen, daß er keine eindeutige Geschichte vorzutragen vermag und deshalb Alternativen erwägt, ohne zu einer Entscheidung zu kommen, so daß offenbleibt, wie es tatsächlich gewesen ist (228 f.). Um solchen Aporien zu entgehen, verspürt unser Erzähler mitunter die Lust, die verschiedenen Fragmente durch Phantasie zu ergänzen und dadurch erst eigentlich erzählbar zu machen. 48 Dieses Abrundungsbedürfnis begründet er mit der Spannung zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Das Gedächtnis sei genau, pedantisch und rechthaberisch (8), archiviere aber oft nur „des Zufalls spontane Schnappschüsse" (248); diesem „unbestechlichen Buchhalter" 49 widerspreche die Erinnerung: sie neige zum „Schönreden" (8) und schmücke gerne aus, j a „verführt zu Lügengeschichten" (10), „ i n denen es tatsächlicher als im Leben zugeht" (11). Günter Grass sieht also in diesem Buche zwei Möglichkeiten, die Rekonstruktion des Vergangenen „offener" zu gestalten. Er kann der Genauigkeit des Gedächtnisses Tribut zollen und den Fragmentcharakter des von diesem aufbewahrten Stoffes respektieren, muß sich aber dann mit Vermutungen oder gar unschlüssigem Abwägen begnügen. Oder er vertraut der Einbildungskraft der Erinnerung und hat den Mut zur poetischen Ergänzung, selbst wenn er auch hier immer wieder dem Zweifel ausgesetzt bleibt. Denn anstatt die alte und legitime Gattungstradition des phantasie47 Volker Neuhaus (Anm. 41) begründet die geringe Aufmerksamkeit von Günter Grass auf „innere Vorgänge" mit dem „pikarischen Erzählen" (S. 246); sie gilt aber auch fur die anderen Erzähl formen dieser Autobiographie. 48 Vgl. Walter Hinck (Anm. 41), der Beim Häuten der Zwiebel „das gemeinsame Werk des Autobiographen und des fabulierenden Erzählers Grass" nennt (S. 9). 49 Günter Grass: Ich erinnere mich... Anläßlich der litauisch-deutsch-polnischen Gespräche über die Zukunft der Erinnerung (2000). In: G. G.: Essays und Reden IV. 1997-2007 (Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 20). Göttingen 2007, S. 86-90; hier S. 87.
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vollen Ausschmückens selbsterlebter Episoden stillschweigend zu übernehmen, wie es bisher die Regel war, macht der Erzähler des Zwiebelbuchs eigens auf den poetischen Charakter mancher Passagen aufmerksam und stellt dabei ausdrücklich ihre Glaubwürdigkeit in Frage. So setzt er vor die Bilderfolge seiner Überlebensabenteuer der letzten Kriegswochen die Bemerkung, daß ihm diese Situationen durch wiederholte Erinnerung „sich zu Geschichten rundeten, die im Verlauf der Jahre immer griffiger wurden, indem sie darauf bestanden, bis ins Einzelne glaubhaft zu sein" (145). Doch sei alles derart Konservierte „zu bezweifeln", auch wenn es „ i n Geschichten prahlt, die als wahre Geschichten gelten wollen und so tun, als seien sie nachweislich wie die Mücke im Bernstein" (ebd.) 50 . Zusätzlich kündigt er sein Kriegsgeschick als Parallele zu den Glücksfällen des Grimmelshausenschen Simplicius mit seinem „Herzbruder" an (146) und hebt damit schon im voraus die eigenen Abenteuer auf die Ebene eines Pikaroromans. Dennoch oder gerade deswegen erzählt er sie in seinem Lebensbericht, bald mit dramatischer Verve, bald in ruhigen epischen Sätzen, und gestaltet sie so zu eindrucksvoll variierenden Gleichnissen für das autobiographische Thema ,Überleben aus Glück und Zufall'. Ähnliche Kunst der Vergegenwärtigung zeigen die Schilderung des „abstrakten Kochkurses" im Gefangenenlager (202 ff.) oder die Vision von der überraschenden Jam Session Louis Armstrongs mit dem Jazztrio im Düsseldorfer Kellerlokal (374 f.): beides erzählerisch bravouröse Inszenierungen, die die anschließenden Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit unwichtig erscheinen lassen, ja beim zweiten Beispiel wird die „bildlich gewordene" Begegnung für „frei jeder Deutung" und „allem verneinenden Zweifel enthoben" erklärt (375). An solchen Stellen könnte sich Günter Grass, wie schon Wolfgang Koeppen in seinem Erinnerungsbuch Jugend (1976), auf Goethes Satz berufen: „Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene." 51 *
In dieses Spannungsfeld von Gedächtnis und Erinnerung, Klarheit und Zweifel, Fragment und phantasievolle Ergänzung hat der Erzähler ein Leitmotiv eingebaut: die Frage nach der eigenen politisch-moralischen Schuld im Dritten Reich und während des Krieges sowie nach ihrem Wei50
M i t ähnlicher Skepsis äußerte sich Christa W o l f schon 1968 über solche „kunstvoll zurechtgeschliffenen" Erinnerungsstücke, die sie „Medaillons" nannte. Christa Wolf: Lesen und Schreiben (entstanden 1968, Erstdruck 1972), Abschnitt „Medaillons". In: C. W.: Essays 1959-1974 (Anm. 16), S. 255-258; Zitate S. 255. 51 Goethe an Carl Friedrich von Reinhard. Weimar, 31. Dezember 1809. In: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 3. Hamburg 1965, S. 117. - Koeppen hat diesen Satz Goethes zum Motto seines Buches gewählt.
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terwirken in der Nachkriegszeit. 52 Günter Grass hat selber in Interviews wiederholt betont, daß ihn diese Frage immer bedrückt habe und dies einer der Gründe gewesen sei, das Buch zu schreiben. 53 In den ersten drei Kapiteln ist dem Erzähler die Erinnerung klar und deutlich, daß er in der Schulzeit und während des Arbeitsdienstes, als verschiedene Bekannte plötzlich verschwunden waren, keine Fragen nach dem Wohin und Warum gestellt hat. Dieses Schweigen empfindet der Rückblikkende als eine „Schande" mit „nachhinkender Scham" (17) und spürt zugleich die große Versuchung, sich diese bleibende „Schuld" zu verkleinern und, weil „so viele geschwiegen haben", „ganz und gar vom eigenen Versagen abzusehen" (36). In der Tat bemüht sich der Erzähler, sein damaliges Schweigen aus der jeweiligen Situation zu erklären und damit halbwegs zu entschuldigen. So erwägt er, daß ihn im Falle des standrechtlich erschossenen und daraufhin von der Familie verleugneten Onkels vielleicht „Angst vor einer alles auf den Kopf stellenden Antwort stumm gemacht hat" (16) oder daß der aus dem KZ zurückgekehrte Lehrer „ohnehin nicht (hätte) antworten dürfen" (46) und überdies bei einer späteren Begegnung den ehemaligen Schüler von seiner vermeintlich „unverjährten Schuld" des Schweigens freispricht (48). Im Falle eines Arbeitsdienstkameraden, der als kriegsdienstverweigernder Zeuge Jehovas kein Gewehr in die Hand nimmt ( „ W i r tun sowas nicht") und deshalb „abkommandiert" wird, erscheint jede Frage ohnehin überflüssig, da schon damals das Wohin ( K Z Stutthof) allen klar gewesen ist (101 f.). Doch merkt der Erzähler selbstkritisch an, daß damals „Windstille" und „Stumpfsinn" in seinem Kopf jeden Anflug von Irritation alsbald wieder hätten verschwinden lassen (103). Im ganzen gewinnt man den Eindruck, daß Grass diese Beispiele weniger deshalb erzählt, um eine eigene explizite Schuld zu beichten, als vielmehr, um in einer Atmosphäre der allgemeinen Zustimmung zum neuen Regime einige markante Ausnahmen des Widerstands zu zeichnen und sich selbst dabei als einen mehr oder weniger gedankenlosen Mitläufer einzustufen.
52 Wenn im folgenden bei der Erörterung dieser Schuldfrage auch die Mitteilung von Günter Grass über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS zur Sprache kommt, wird auf die davon ausgelöste Debatte kurz nach Erscheinen des Buches (exemplarisch dokumentiert bei Kölbel [Anm. 42]) bewußt nicht eingegangen. Statt dessen werden die Gestaltung dieser Episode und ihr Einbau in den größeren Zusammenhang der Kriegskapitel untersucht, um zu einem literarkritisch begründeten Urteil über dieses Bekenntnis zu gelangen. 53 Günter Grass: Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche (Anm. 45), S. 33. Wieder in: Kölbel (Anm. 42), S. 29. - Vgl. Günter Grass: Ja, ich hätte es sagen können. Auszüge aus dem Gespräch mit Ulrich Wickert in der A R D , 17. August 2006. In: Frankfurter Rundschau, 19. August 2006. Wieder in: Kölbel (Anm. 42), S. 81-85; hier S. 81.
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In diesen Zusammenhang gehört auch das Bekenntnis, schon mit zehn Jahren zwar nicht „besonders begeistert", aber doch „durchaus freiwillig Mitglied des Jungvolks" (27) der Hitlerjugend geworden zu sein. Begründet wird dieser Schritt zunächst, wie schon bei Christa Wolf, psychologisch mit der Verlockung, durch die „wunschgemäße Devise: ,Jugend muß von Jugend geführt werden!'" (27) „aus dem kleinbürgerlichen M i e f familiärer Zwänge" (28) befreit zu werden; später aber charakterisiert der Erzähler den Hitlerjungen seines Namens unverblümt als „Jungnazi", der „ i n Reih und Glied, geübt im Gleichschritt" blieb und in „ungetrübter Fraglosigkeit" bis zum Schluß an den Führer glaubte (43 f.). Für diese Gefolgschaft gestattet er sich kein entlastendes „Man hat uns verführt!" Weder das Passivum noch das Wir der Altersgenossen läßt er gelten: „Nein, wir haben uns, ich habe mich verfuhren lassen." (44). Ungleich schärfer wird ein zweiter Schritt, die freiwillige Meldung des Fünfzehnjährigen zum Dienst mit der Waffe, bewertet. Für den Erzähler steht nur die Tatsache fest, ihre Gründe bleiben ihm unklar. Er kann „nur zu vermutende Umstände" nennen, die zu diesem Entschluß geführt haben mögen. Zuerst wird wieder die zunehmend peinliche Familienenge, ja der „Haß auf den Vater" als möglicher Antrieb für die Flucht an die Front erwogen (79). Dann aber wird dieser Grund nicht „als einzig ursächlicher Anlaß" gesehen, vielmehr darüber hinaus ein allgemeiner Wunsch bei allen Schulfreunden genannt, „weit weg und draußen an der Front zu sein", um „sich möglichst furchtlos in Gefahr erleben" zu können (80). Wohl ist sich der Erzähler sicher, daß dieser Wunsch nach Heldentum von den Sondermeldungen und Wochenschauberichten erweckt und genährt worden ist (80 f.), doch gibt er zu, nichts über die tieferen Gründe seines damaligen unbedingten Kampfeswillens zu wissen, so daß sich wieder nur „Vermutungen" ergeben: „Ist es der Andrang überbordender Gefühlsströme gewesen, die Lust, eigenmächtig zu handeln, der Wille, übereilt erwachsen, ein Mann unter Männern zu sein?" (82). Doch gleichgültig, aus welchen Gründen dieser Entschluß gefaßt worden ist, er wird als „fataler Schritt" verurteilt, dem „keine mildernden Beiwörter erlaubt" werden und der „sich nicht zur jugendlichen Dummheit verwinzigen (läßt)" (75). So wird denn auch die Meldeszene in Gotenhafen mit sarkastischer Ironie geschildert, wo der Kriegsfreiwillige sich nicht als noch zu jung abwimmeln läßt, vielmehr seine „auf blankes Heldentum getrimmten Wünsche" (83) äußert, wenn nicht bei den U-Booten, dann doch bei der Panzerwaffe zu dienen, und sein Übereifer am Ende ein „spöttisch bis mitleidig" (86) vorahnendes Lachen der seine Meldung entgegennehmenden Soldaten erntet. Auch vergißt der Erzähler nicht, die damals in Gotenhafen vor Anker liegende „Wilhelm
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G u s t l o f f zu erwähnen (83), die als Menetekel drohenden Untergangs die Meldeszene überschattet. Denn „fatal" erscheint dem Rückblickenden der Schritt des Fünfzehnjährigen vor allem deswegen, weil dieser Entschluß ohne Not einen Vorgang in Bewegung setzte, der weder rückgängig zu machen noch aufzuhalten war (75) und sinnlos-unheilvolle Folgen heraufbeschwören sollte. Die Zwischenzeit bis zur Einberufung eineinhalb Jahre später wird mit wechselnder Erinnerungsschärfe und als von inneren Widersprüchen beherrscht geschildert. A u f der einen Seite registriert der Erzähler den „trotz rückgängigen Frontverlaufs" „unbeschadeten" Glauben an den Führer und an den Endsieg (106), weshalb den Freiwilligen weder die zunehmende Zahl der Gefallenen (108) noch die Lektüre des Antikriegsromans Im Westen nichts Neues beeindruckt habe (112); auf der anderen Seite glaubt er sich zu erinnern, daß jene Unterschrift in der Gotenhafener Dienststube schon bald „zu einer Laune geworden (ist), die verflogen war", und „der Sog nach draußen, an welche Front auch immer," nachgelassen habe (90). Die unterschwellige Spannung dieser relativ ereignislosen Wartezeit deutet der Erzähler nicht zuletzt dadurch an, daß er dreimal zur Ankunft des Einberufungsbefehls ansetzt (108, 113, 114), sie aber immer wieder durch dazwischengeschobene Erlebnisschilderungen retardiert (Kinobesuche, Lektüre, Familienausflug zur Ostsee), bis die Einberufung endlich als „Tatsache" auf dem Tisch liegt und nicht länger „zu verdrängen war" (114). Aber gerade hier setzt die Erinnerung vollständig aus: Sie weiß nichts mehr vom Inhalt des Schreibens, bietet nur „ein leeres Blatt". Zugleich aber fragt sich der Rückblickende: „oder bin ich es, der nicht entziffern will, was der Zwiebelhaut eingeschrieben steht?" (ebd.). Eine erneute Verdrängung wird also für möglich gehalten, und dafür spricht die anschließende „Beschwichtigung", daß das Thema „Einberufung und ihre Folgen" doch schon im Roman Hundejahre „durchgekaut" sei (ebd.). Damit behauptet der Erzähler, der Roman habe die näheren Auskünfte über die eigene Einberufung vorweggenommen. Aber die daraus zitierten Tagebuchsätze Harry Liebenaus (114 f.) bieten keine „hinlänglichen" Hinweise, da sie von der „Einberufung" auf deren „Folgen" ablenken, und nur der Umstand, daß Harry Liebenau Erlebnisse an der Ostfront notiert, läßt auf eine Einberufung zum Heer schließen. Aber darauf deutet ja ohnehin der anschließende Bericht des Erzählers, wenn er sich als Freiwilligen den Zug nicht nach Gotenhafen, sondern nach Berlin nehmen läßt (115). So bleibt es für den Leser an dieser Stelle rätselhaft, warum er nicht schon hier über
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die endgültige Waffengattung informiert wird, da doch der Einberufene bereits im Zug nach Berlin darüber Bescheid wissen mußte. Warum zögert der Erzähler diese Mitteilung hinaus? Möglicherweise wollte er damit ein narratives Spannungsmoment gewinnen: Im Morgengrauen des neuen Lebensabschnitts sollen die Nebel erst allmählich weichen, der frisch Einberufene nimmt das nächtliche Berlin, zerbombt und brennend, als gespenstische Kulisse wahr („So von Wirklichkeit bedrängt, glaube ich zu träumen": 124), und erst am andern Tag wird ihm auf der Leitstelle in Dresden „gewiß", „welcher Truppe ich anzugehören hatte" (126). Ausdrücklich versichert der Erzähler, daß dieser späte Zeitpunkt der Gewißheit „nur zu behaupten und deshalb zu bezweifeln bleibt" (125 f.), und bestätigt damit die Vermutung, es handle sich bei diesen Abschnitten um eine bewußt retardierende Komposition. Eher beiläufig wird dann der Begriff „Waffen-SS" in den nächsten Satz gepackt, der vor allem die Gegend des Truppenübungsplatzes und die Ausbildung zum Panzerschützen mitteilen soll. Aber diese Unauffälligkeit ist nur scheinbar. Denn sobald dieses Stichwort gefallen ist, hält der Rückblickende in seiner Erzählung inne und gibt sich ausführlich Rechenschaft über diese von ihm bisher verschwiegene Tatsache. Zuerst betont er den Gegensatz zwischen seinem heutigen Schrecken vor dem „doppelten S" und der Gleichgültigkeit des Siebzehnjährigen, dem „die doppelte Rune [...] nicht anstößig" war (126). Gründe dafür kann er nur noch vermuten: daß der Junge die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen habe und ihm vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sei. Doch dann empfindet er solche Erklärungsversuche als „Ausreden", die er nicht gelten lassen kann, weil ihnen sein späteres Nicht-Eingeständnis des Doppelbuchstabens widerspricht: „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen." (127) A m Ende dieser Rechenschaft steht das Bekenntnis, daß trotz damaliger Unkenntnis der für ihn erst später zutage tretenden Kriegsverbrechen der Waffen-SS und auch ohne eigene „tätige Mitschuld" die spätere Einsicht, einem barbarischen System „eingefügt" gewesen zu sein, das Bewußtsein der „Mitverantwortung" geweckt habe (ebd.). Dieses Bekenntnis klärt für uns zugleich die Schuldfrage. Die Schuld tragen jugendlicher Leichtsinn und Kriegsbegeisterung. Sie veranlassen den fatalen Schritt der freiwilligen Meldung zum Waffendienst, ein Schritt, der ein Jahr später den Einberufenen in den absurden Endkampf des Krieges und dabei unfreiwillig, also ohne sein Zutun, aber auch ohne Bedenken oder Widerstand in die Waffen-SS führt. Diese eigen-
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tümliche Mischung von Schuld und Verhängnis läßt das Bekenntnis der Scham und der Mitverantwortung als angemessene Reaktion erkennen und erklärt vielleicht auch den späten Zeitpunkt ihrer öffentlichen Beichte. *
Nun ist diese Frage der politisch-moralischen Schuld zwar ein wichtiges Thema in diesem Buch und erfährt auch noch in späteren Kapiteln einen gewissen Nachhall, wenn Günter Grass dort betont, er habe kurz nach dem Krieg alles, „was schändlich oder schrecklich gewesen war und hinterrücks lauerte", zunächst „unberufen" gelassen (304) und sich erst nach Jahren „zögerlich" eingestanden, „daß ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, [...] das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke" (221). Dennoch sind die politischen Einflüsse und Verstrickungen nicht das beherrschende Thema des Zwiebelbuchs, in deutlichem Unterschied zu Christa Wolfs Kindheitsmuster. Denn dort konzentriert sich die Schilderung der Kindheit und Jugendjahre gemäß dem Titel des Buches auf die ideologiebestimmten Verhaltensmuster des Kindes und seiner Umgebung im Dritten Reich, weshalb das Ende dieser Epoche einen inneren Bruch der Jugendgeschichte bedeutet und zum baldigen Ende auch der Erzählung fuhrt. Günter Grass dagegen schließt seinen „Bericht aus frühen Jahren" 54 nicht mit dem Ende des Krieges, sondern führt ihn weiter bis zum Erscheinen des Romans Die Blechtrommel (1959), d. h. bis zu dem entscheidenden Punkt seiner Künstlerlaufbahn. Damit knüpft Günter Grass an eine Gattungstradition an, die seit dem späten 18. Jahrhundert im Zeitalter des aufkommenden Individualismus einen Typ der Autobiographie hervorgerufen hat, der „das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft" beschreibt und „mit dem Erreichen der Identität, mit der Übernahme der sozialen Rolle" endet. 55 Das berühmteste Beispiel ist Goethes Dichtung und Wahrheit, dessen Abschluß mit der Übersiedlung nach Weimar der Dichter selbst damit begründet hat, daß er darin „die Geschichte meiner Bildung, meines Privat- und ersten Autorlebens zu vollenden (gedenke), bis zu welcher Epoche ich mir noch ganz selbst angehöre." 56 Analog dazu schließt Günter Grass seine Jugendge54 So der Untertitel auf der ersten Seite eines handschriftlichen Manuskripts, datiert „Behlendorf am 30. Nov. 2004". Als Faksimile wiedergegeben in der Sonderbeilage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zum Beim Häuten der Zwiebel vom 19. August 2006, S. 5. 55 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main 1970 (Athenäum Paperbacks Germanistik 3), S. 25. 56 Goethe an Johann Friedrich Cotta. Jena, 12. November 1812. In: Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Bd. 23, S. 136.
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schichte mit der Niederschrift und dem überraschenden Erfolg seines ersten Romans, weil dieser endgültig seine Schriftstellerexistenz und damit seine künftige Rolle in der Gesellschaft entschieden hat. Dieser dezidiert gesetzte Schluß ist das Ziel eines langen Weges, der nicht erst in der Nachkriegszeit auf der Suche nach einem Beruf beginnt, sondern von Anfang an das ganze Buch durchzieht, gelegentlich auf Seitenpfade und in scheinbare Sackgassen gerät und es lange unentschieden läßt, ob die bildenden oder die schreibenden Künste die Oberhand gewinnen. Dieses eigentümliche Doppelinteresse für Kunst und Literatur sieht der Erzähler schon in den Kindertagen angelegt. In der Kunst sind es die „Meisterwerke der europäischen Malerei" (11), die er zuerst beim eifrigen Sammeln von Zigarettenbildern kennenlernt, später in Künstlermonographien studiert. Dazu treten Szenen eines ausdauernden Romanlesers, der auf dem Dachboden und vor dem Bücherschrank der Mutter Buch nach Buch als „Schlupflöcher in andere Welten" (37) entdeckt. In dieser schier unerschöpflichen Aufnahmefähigkeit erblickt der Erzähler zugleich den Quellgrund für seine frühe Neigung zu eigener Produktion auf beiden Ebenen, zu Zeichnungen und Aquarellen, zu Gedichten und zu dem kühnen Unternehmen des Vierzehnjährigen, einen ins Interregnum des 13. Jahrhunderts verlegten blutrünstigen Kaschuben-Roman zu beginnen. Wichtig ist dabei, daß der Rückschauende seine Begabungen in Familie und Verwandtschaft verwurzelt sieht. So betont er, daß die Mutter seine Talente von früh an begleitet und gefordert, ja als Erbgut ihrer drei im Ersten Weltkrieg gefallenen Brüder gedeutet habe; er selbst empfindet den auf dem Dachboden gemachten Fund ihres spärlichen Nachlasses, der ihre Neigung zum Dichten, zur Malerei und zur Kochkunst habe erkennen lassen, im nachhinein als eine „wegweisende Entdeckung" (58). Diesen Weg überblickt schon kurz zuvor (51-53) eine mehrere Zeitschichten übereinanderblendende Szene. Der Autobiograph schildert, wie er als Dreißigjähriger im Frühjahr 1958 die Stadt Gdansk besucht, um für seinen ersten Roman „nach Danziger Spuren zu fahnden" (51), und dabei die alte Stadtbibliothek überraschend unzerstört findet, so daß er im Saal nur einige Tische entfernt sich selbst als Heranwachsenden lesen sieht: Wie durch einen „Zeitspalt" „sehe ich mich und ihn zugleich" (ebd.). Während der Erwachsene aus alten Zeitungsjahrgängen Danziger Alltäglichkeiten notiert, schweift sein Blick immer wieder zu dem Jungen, der sich in verschiedene Künstlermonographien vertieft und dessen Gedanken dabei der Ältere zu entschlüsseln glaubt: „Künstler und berühmt w i l l er werden,
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unbedingt." (52) Dies schreibt der fast achtzigjährige Autobiograph und erfährt dabei seinerseits die traumhafte Simultanvision des Dreißigjährigen als ein gegenwärtiges, im historischen Präsens erscheinendes Gesicht, das für ihn prophetischen Charakter gewinnt. Denn indem er vom Dreißigjährigen bemerkt, daß „er zwar Künstler, aber noch nicht berühmt ist" (53), greift er zum einen auf den ehrgeizigen Gedanken des Jugendlichen zurück und verlängert zum andern unausgesprochen den Weg bis zum bald erreichten Ziel des Künstlerruhms, zugleich andeutend, daß der Weg von den kunsthistorischen Interessen des Jugendlichen über die Laufbahn eines bildenden Künstlers in den endgültigen Dichterberuf münden wird. Vorerst aber produziert der Amateur noch auf beiden Gebieten während der ganzen Kriegszeit: Herbst- und Liebesgedichte der Luftwaffenhelfer, Naturbilder der Arbeitsdienstmann, ein Diarium der Frontsoldat, Liebesgedichte und Landser-Zeichnungen der Kriegsgefangene. Erst mit dem Ende des Krieges taucht erstmals die Frage nach einer konkreten Künstlerexistenz auf, angedeutet in der Begegnung mit dem „Kumpel Joseph" im Lager Bad Aibling. Diese Geschichte wird seit dem 4. Kapitel immer wieder aufgegriffen, weiter ausgebaut und variiert, und schon bald ist an verschiedenen Indizien erkennbar, daß Günter Grass damals dem gleichaltrigen Joseph Ratzinger begegnet sein will. Daß es sich dabei um eine fiktive Episode handelt, gibt am Ende der Autor selbst zu, wenn er in einem Gespräch mit seiner Schwester ihr nicht widerspricht, als sie diese Anekdote „eine von deinen typischen Lügengeschichten" nennt (420). Wie aus den Erinnerungen Joseph Ratzingers 57 hervorgeht, konnte diese Begegnung schon aus chronologischen Gründen nicht stattgefunden haben. Denn Ratzinger kommt nach seiner Gefangennahme in Traunstein Anfang Mai 1945 mit anderen Gefangenen „in drei Tagemärschen" nach Bad Aibling, bleibt aber dort nur „ein paar Tage", also bis etwa Mitte Mai, „bis wir auf ein riesiges Ackergelände bei Ulm verfrachtet wurden", wo er am 19. Juni 1945 entlassen wird. Günter Grass hingegen wird erst „gegen Ende Mai" von Grafenwöhr nach Bad Aibling verlegt, von wo er „wenige Wochen später", also Mitte bis Ende Juni, in ein „Arbeitslager" kommt (216 f.). Die Begegnungsthese wäre also nur glaubhaft, wenn Ratzinger nicht Mitte Mai nach Ulm verlegt worden, sondern bis zu seiner Entlassung am 19. Juni in Bad Aibling geblieben wäre. So aber haben sich die beiden in Wirklichkeit um etwa 14 Tage verfehlt.
57
Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977). Stuttgart 1998, S. 40-44. - Die folgenden Zitate S. 42.
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Und doch oder gerade deswegen ist es eine „hübsche Geschichte" 58 . Denn auch hier gilt nicht so sehr das buchhalterische Gedächtnis als vielmehr die phantasievolle Erinnerung mit ihrem Verständnis für die Symbolkraft einer Szene. Als dem Krieg gerade Entronnene stehen die beiden Achtzehnjährigen am Anfang eines neuen, noch „taufrischen" Lebens (331). Ihr Hocken unter einer Zeltplane, ihr Kümmelkauen und ihr Würfeln um die Zukunft erscheinen als Bilder für die Stunde Null, als gemeinsame Ausgangsposition für ihre in ganz verschiedene Richtungen geplanten Karrieren, wie sie der Gegensatz ihrer (Un-)Glaubens-Bekenntnisse verdeutlicht. „Ich wollte damals schon Künstler und berühmt, er Bischof und noch mehr [...] werden." (421) Und wenn das Würfeln um die Zukunft es dem Zufall überläßt, wem der höhere Erfolg im Leben beschieden sein wird, und überdies beide zuletzt sogar die Möglichkeit eines „Rollentausches" (ebd.) nicht ausschließen, wird am Ende ein schalkhafter Ton hörbar, der geistlichen und künstlerischen Gipfel für annähernd gleichrangig erklärt. 59 Folgerichtig sieht der Rückschauende das erste Nachkriegsjahrzehnt vom Wunsch beherrscht, Künstler zu werden und zu sein, und bestimmt diesen Wunsch als die höchste Stufe auf der Klimax eines dreifachen Hungers (nach Nahrung, nach Liebe, nach Kunst), weil dieses „Verlangen nach bildlicher Besitznahme" der Welt (279) als einziger Hunger unstillbar ist. Noch immer sehen wir den Aspiranten die ihm „vorgegebene Doppelspur" (467) verfolgen. Denn trotz des Entschlusses, Bildhauer zu werden, und bei aller detaillierten Darstellung der Steinmetzlehre und des anschließenden Kunststudiums vergißt der Erzähler nicht, daß in diesen Lehrjahren und selbst auf den Studienfahrten durch Italien und Frankreich neben Zeichnungen und Aquarellen, Kleinskulpturen und Porträtbüsten nach wie vor Gedichte und sogar ein Versepos geschaffen werden. Vielleicht lassen sich deshalb die Bekenntnisse des Rückblickenden, daß ihn der damalige Berliner Streit zwischen dem Maler Karl Hofer und dem Kritiker W i l l Grohmann zur gegenständlichen Kunst geführt habe (423 f.) und Wilhelm Lehmbrucks Expressionismus zum Maßstab der eigenen Arbeit geworden 38 Günter Grass: Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche (Anm. 45), S. 35. Wieder in Kölbel (Anm. 42), S. 35. 59 Walter Hinck (Anm. 41) hat diese Episode aus anderer Perspektive gedeutet. Er legt den Akzent auf die wiederholten Dispute der beiden über Glauben und Unglauben und sieht darin eine „humoristisch verschlüsselte Demonstration des Abstands", „ i n den der abtrünnige Katholik zur höchsten Glaubensinstanz gegangen ist" (S. 5). - Gunther Pakendorf wiederum betrachtet die Joseph-Episode als „deutlichsten Hinweis", „daß Grass sein Erinnerungsbuch als Dichter(auto-)biografie und Entwicklungsgeschichte eines großen Künstlers verstanden haben w i l l " . Gunther Pakendorf: Die gehäutete Zwiebel oder Dichtung und Wahrheit bei Günter Grass. In: Acta Germanica 35, 2007, S. 53-66; hier S. 62.
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sei (313), auch auf seine Dichtung übertragen. Jedenfalls wertet er die Federzeichnungen in seinem ersten Buch, dem Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner (1956), nicht als „illustrierendes Beiwerk", sondern als „grafische Fortsetzung und Vorwegnahme der Gedichte" (466), sieht also in der Doppelspur keine bloß äußeren Parallelen, sondern inneren Zusammenhang und Korrespondenz: „In ganz eigener und dinglicher Weltsicht flössen Wort und Zeichen aus einer Tinte." (ebd.) Erst gegen Ende des Buches konzentriert sich die Darstellung auf die Gründe und Umstände der allmählichen Entscheidung für den Dichterberuf Mitte der fünfziger Jahre. Eingeleitet wird sie vom überraschenden Erfolg bei einem Lyrikwettbewerb (456), der die erste Einladung zu einem Treffen der Gruppe 47 zur Folge hat. Schon die Einladung, mehr noch die Lesung einiger Gedichte vor der Gruppe und die positive Wirkung dieser Kostproben werden als ein unwirklich-überwirkliches Märchen geschildert, in dessen Verlauf der Bildhauer in einen Dichter verwandelt wird (463). Und noch ganz zum Schluß wird das Zurücktreten der bildenden vor der schreibenden Kunst mit der Bemerkung illustriert, daß während der Niederschrift der Blechtrommel im Pariser Heizungskeller die dort ebenfalls begonnenen Skulpturen „vertrockneten" und „vom Gerüst (krümelten)" (475). Obwohl Günter Grass von seinem bildkünstlerischen Arbeiten nie Abschied genommen hat und es bis heute pflegt, suggeriert das Erinnerungsbuch dennoch einen solchen Abschied, will gelegentliche Rückkehr zu Zeichnungen und Skulpturen nur in Schreibpausen gelten lassen (452, 477), um den Gewinn der Schriftstellerexistenz als Zielpunkt der Darstellung zu betonen. Doch wie aus dem Lyriker ein Prosaschriftsteller wurde, bleibt dem Rückblickenden rätselhaft. Zwar erkennt er aus späterer Sicht, „mit wieviel Signalen die Gedichte mein zweites Buch ankündigten" (467), doch kann er sich diese „unbewußte Vorwegnahme" (468) nicht erklären, nur den Stau einer „übermächtigen Stoffmasse" dahinter vermuten, die als „Geröllmasse deutscher und damit meiner Vergangenheit" (ebd.) danach verlangt habe, von ihm abgetragen und benannt zu werden. Das lange erwartete Einsetzen der Geburtswehen des Romans führt er auf das endliche Finden des ersten Satzes zurück, der nun eine unaufhaltsame Niederschrift nach sich gezogen habe; und doch „weiß ich wenig zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen." (478) Wieder also resigniert Günter Grass, die inneren Gründe und Vorgänge seines Schaffens zu benennen, das Geheimnis der Poesie bleibt unberührt. Um so sicherer erspürt er die biographischen Bedingungen seines Künstler-
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turns, wenn er nach dem Bericht vom Sterben seiner Mutter ein Preislied in lyrischer Prosa auf sie anstimmt (442 f.). Diese Aristeia der Mutter ist ein einziger großer Satz, der immer wieder anknüpfend an das Wörtchen „sie" in vielen Relativsätzen eine zeitraffende Folge schon im Buch erzählter Begebenheiten aus dem Zusammenleben von Mutter und Sohn aneinanderreiht. Grundfarbe dieses Mosaikbildes ist ihre gegenseitige Zuneigung, variantenreich schattiert: Sorge und doch unbedingtes Vertrauen, Zuversicht und Bewunderung von seiten der Mutter, Anhänglichkeit und Schuldbewußtsein, Trauer und Sehnsucht von seiten des Sohnes. Durchwebt aber ist dieses Lebensbild der Mutter von ihrem Glauben an das Talent und damit an die Zukunft ihres Sohnes und, als Antwort darauf, vom Bekenntnis des Sohnes zur Mutter als dem Quellgrund seiner Existenz: „sie, die mir, ihrem Söhnchen, alles gab und wenig bekam, sie, die mein Freudenund Jammertal ist [ . . . ] " (443). Ja, so sehr sieht er die Mutter als die für sein Leben und Schaffen bestimmende Kraft, daß er sogar seinen Wechsel vom Bildhauer zum Schriftsteller, den sie selbst nicht mehr erlebt hat, ihr zu verdanken glaubt: „sie, die mich unter Schmerzen geboren und unter Schmerzen sterbend freigesetzt hat, auf daß ich schrieb und schrieb [ . . . ] " (ebd.). So hat Günter Grass dieses Epitaph für die Mutter gegen Ende seines Erinnerungsbuches wie einen Spiegel eingesetzt, der die im Buch verstreuten Anekdoten der Mutter-Sohn-Beziehung zum geschlossenen Bild einfängt, und hat damit zugleich seine Künstlerlaufbahn wie in einer Miniatur noch einmal skizziert. Gerade dieses zusammenfassende Spiegelbild läßt erkennen, daß für Günter Grass ein wesentlicher Anlaß zur Niederschrift von Beim Häuten der Zwiebel der Wunsch gewesen ist, den verschlungenen Weg seiner Entwicklung zum Künstler bis zum entscheidenden Ziel nachzuzeichnen, womit er ein traditionsreiches Thema in der Geschichte der Autobiographie wieder aufgegriffen hat. Zum Schluß bleibt zu fragen, ob das eingangs beobachtete pikareske Erzählen mit seiner Vorliebe für eine lockere Reihung von runden Geschichten und Anekdoten und die Darstellung einer mehr oder weniger zusammenhängenden Entwicklungsgeschichte im gleichen Buch miteinander vereinbar sind. A u f den ersten Blick scheinen sich beide Erzählarten auszuschließen. Doch ist zu bedenken, daß sich die pikaresken Elemente auf die Kapitel der Kriegsabenteuer konzentrieren, wo denn auch Grimmelshausens Simplicissimus ausdrücklich als Vorbild genannt wird, im übrigen Buch aber nur noch vereinzelt erscheinen, so daß nicht von einem durchgängigen Pikaroroman gesprochen werden kann. Andererseits tritt der
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Werdegang des Künstlers erst in der zweiten Hälfte des Buches stärker hervor und wird zudem nicht als innere Entwicklungsgeschichte dargestellt, wie sie der traditionelle Typ des Bildungsromans zeigt; vielmehr gibt Grass eine Berufslaufbahn wieder, deren grundsätzliche Richtung zwar von ihm selbst entschieden worden ist, deren konkreten Verlauf aber zumeist äußere Einflüsse und Anstöße bestimmt haben. Deshalb vermag Günter Grass das pikareske Erzählen abenteuerlicher Geschichten und die Darstellung seiner nicht minder bewegten Künstlerlaufbahn ohne weiteres zu verbinden, womit er eine seit dem späten 18. Jahrhundert mögliche Mischform der Autobiographie auf originelle Weise erneuert. Was aber dieses Buch zu einer eminent modernen Autobiographie werden läßt, sind die Merkmale, die es mit Christa Wolfs Kindheitsmuster gemeinsam hat: das Engagement, mit dem auch Günter Grass seine zeitgeschichtlichen Erfahrungen mitteilt und dabei die Frage nach der politisch-moralischen Schuld seiner Jugend zu klären versucht, und vor allem die über das ganze Buch verstreuten Reflexionen über die Schwierigkeit der Erinnerung und ihrer rekonstruierenden Wiedergabe im Wort und über den Mut des Dichters, seine biographische Wirklichkeit durch die poetische Einbildungskraft „offener" zu gestalten.
Nachweise
Probleme literarischer Zweckformen: Antrittsvorlesung an der Universität Eichstätt am 27. November 1978; in der vorliegenden Form Vortrag 1980 an der Universität Wien. Erstdruck in: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 1-18. Probleme und Aufgaben der Geschichtsschreibung nichtfiktionaler Gattungen: Vortrag 1979 auf dem Germanistentag in Hamburg. Erstdruck in: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hrsg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin: Erich Schmidt 1983, S. 305-316. Zur Theorie der Autobiographie: Vortrag 2001 auf einem Düsseldorfer Symposion zur antiken Autobiographie. Erstdruck in: Antike Autobiographien. Werke - Epochen - Gattungen. Hrsg. von Michael Reichel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 1-13. Autobiographische Schriften in der Antike. Ein Überblick: Vortrag 2003 im Rahmen eines Augustinus-Seminars in Kloster Weltenburg und 2004 auf einer Augustinus-Tagung im Erbacher Hof in Mainz. Erstdruck in: Irrwege des Lebens. Augustinus: Confessiones 1-6. Hrsg. von Norbert Fischer und Dieter Hattrup. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, S. 9-29. Rede und Gespräch in Augustins Confessiones: Erstdruck in: Seelengespräche. Hrsg. von Beatrice Jakobs und Volker Kapp. Berlin: Duncker & Humblot 2008 (Schriften zur Literaturwissenschaft 31), S. 41-56. Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert: Vortrag 1971 in der Sektion für Deutsche Philologie auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Nürnberg. Erstdruck in: Prismata. Dank an Bernhard Hanssler. Hrsg. von Dieter Grimm, Johannes Janota u.a. Pullach bei München: Verlag Dokumentation 1974, S. 155-172. Ulrich Bräkers Weg zu seiner Lebensgeschichte: Vortrag 1998 auf einem von Alfred Messerli und Adolf Muschg geleiteten Bräker-Symposium des Collegium Helveticum der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Erstdruck in: Günter Niggl: Studien zur Literatur der Goethezeit. Berlin: Duncker & Humblot 2001 (Schriften zur Literaturwissenschaft 17), S. 134-141.
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Nachweise
Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit: Vortrag 1999 auf einem internationalen Goethe-Kolloquium der Universität Sorbonne (Paris IV). Erstdruck in: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 291-299. Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit: Vortrag 1999 auf einem interdisziplinären Kolloquium in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Erstdruck in: Goethe und der Pietismus. Hrsg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 257-268. Goethes Italienische Reise: Deutsche Originalfassung meines Anteils an dem ins Rumänische übersetzten Nachwort zu Bd. XVI der rumänischen Goethe-Ausgabe „Editie criticä de Opere Älese de Johann Wolfgang Goethe", hrsg. von George Gutu. Bukarest: Rao-Verlag 2013. Bisher ungedruckt. Der vorletzte Abschnitt (S. 161-167) ist wiederholt aus: Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses Tokyo 1990. Bd. 7. München: iudicium 1992, S. 173-179. Fontanes Meine Kinderjahre und die Gattungstradition: Erstdruck in: Sprache und Bekenntnis. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag, 27. Oktober 1971. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Günter Niggl. Berlin: Duncker & Humblot 1971, S. 257-279. Erfahrung von Zeitgeschichte und religiöse Bekehrung in Alfred Döblins Schicksalsreise: Vortrag 2007 auf einer internationalen Tagung in Dresden über die Publizistik des deutschsprachigen Katholizismus und auf einem Döblin-Symposium in Stuttgart-Hohenheim. Erstdruck in: „Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen". Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Dresdener Kolloquiums vom 10. bis 13. Mai 2007. Hrsg. von Thomas Pittrof und Walter Schmitz. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien: Rombach 2010 (Catholica. Quellen und Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des modernen Katholizismus 2), S. 381-392. Erinnerung als Rekonstruktion bei Christa Wolf und Günter Grass: Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem IVG-Kongreß in Warschau 2010. Bisher ungedruckt. Ein Auszug aus Teil I erscheint demnächst u. d. T.: „Erinnerungsarbeit in Christa Wolfs Kindheitsmuster" in: Akten des XII. Internationalen GermanistenKongresses Warschau 2010: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Hrsg. von Franciszek Grucza. Frankfurt am Main: Peter Lang (Publikationen der Internationalen Vereinigung für Germanistik).
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Personen und Werke Alexander der Große 55 Aisted, Johann Heinrich 13 Althaus, Horst 162 Ambrosius von Mailand 72, 80, 88, 89 Andreä, Johann Valentin 98 Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach 151 Antonius der Große 73, 84, 87, 88 Aratos von Sikyon 59 Aristoteles 11 f., 13, 15, 20f., 29, 60, 65 Poetik 11 f., 13, 15, 20f., 29 Arnold, Gottfried, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie 139, 142f., 145 Athanasios von Alexandria 73 Vita Antonii 73, 84, 87, 88 Attwood, Kenneth 188 Augustinus, Aurelius 72-75, 76-93, 95,98, 104, 198 Confessiones 73-75, 76-93 De beata vita 72 Augustus s. Octavianus Augustus Bahr, Hermann 169 Barner, Wilfried 162, 166 Baumgärtner, Klaus 16 Beauvoir, Simone de 48 Behrisch, Ernst Wolfgang 138 Belke, Horst 10,23 Benjamin, Walter Ausgraben und Erinnern 217 Berliner Chronik 217
Benn, Gottfried, Doppelleben 47, 210 Berger, Bruno 32 Bernd, Adam 109f., 139 Eigene Lebens-Beschreibung 109f. Bernhard, Thomas 48 Bernhart, Joseph 78 Bertolini, Ingo 97, 104, 108 Beyer-Fröhlich, Marianne 104 Bibel 72, 73, 74, 76, 80, 82, 83, 8692, 139, 141 Bibelstellen 72, 81 f., 82f., 86, 87 Psalmen 76, 78, 86, 88, 89, 90 Bibliche Gestalten 83,98,136 Jesus Christus 79, 82, 83, 84, 90, 92,93, 135, 137, 203-206,208 Paulus 72, 73, 82, 83, 87 Bierwisch, Manfred 16 Billerbeck, Paul 200 Birken, Sigmund von, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst 13 Bodenstedt, Friedrich von 174, 181 Boerhaave, Herman 142 Boerner, Peter 109, 158 Bogatzky, Carl Heinrich 97 Böhmer, Heinrich 74 Boiseree, Sulpiz 124 Boll, Heinrich 219,222 Bouterwek, Friedrich 191 Bräker, Ulrich 114-120 beschribung meiner leiblichen reiß und pilgerschafft 114-118 Lebensgeschichte 114, 117, 118, 119f.
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Tagebücher 114, 118f. wort der vermahnung 114, 115, 116 Braune, Wilhelm 207 Brecht, Bertolt, Lehrstücke 18 Breitinger, Johann Jacob 22 Brinkmann, Rolf Dieter, Rom, Blicke 171 Buchner, Augustus 12,13 Büchner, Karl 62 Buck, August 12,13 Burckhardt, Jakob 170 Caesar, Caius Iulius 41,62f. Commentarii belli Gallici 62 Cagliostro, Alexander (d.i. Giuseppe Balsamo) 159 Cardano, Girolamo 123 Carl August, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 149 Carlsson, Anni 32 Carus, Carl Gustav 178,181 Cicero 60f., 65f., 70, 73 Brutus 6 5 f. De consulatu suo 60 De temporibus suis 60 Hortensius 73 YKO/J vr]fj.a KCpl zfjq vnazdaq 60 Claudius 64 Claussen, Horst 150 Comenius, Johann Arnos 13 Cornelius, Peter 168 Cotta, Johann Friedrich 154 Courcelle, Pierre 73 Cranz, David, Alte und Neue Brüder-Historie 145 Cyprian, Bischof von Karthago 72, 74 Dahn, Fritz 174 Darius I. 58,64 Dechent, Hermann 96, 97 Demosthenes, Rede für Ktesiphon über den Kranz 57 Derrida, Jacques 49, 50
Dessoir, Max 109 Dilthey, Wilhelm 43 Dion Chrysostomos 71 Dionysios I. 56 Dionysios II. 56 Dippel, Johann Conrad 139 Döblin, Alfred 197-209 Das Ich über der Natur 202 Kritik der Zeit 205 November 1918 209 Reise in Polen 206 Robinson in Frankreich 197 Schicksalsre ise 197-209 Döblin, Erna 200, 204 Döblin, Stefan 200 Drewitz, Ingeborg 226 Dyck, Joachim 12,13 Eakin, Paul John 51 Ebbinghaus, Ernst A. 207 Ebers, Georg 174 Edelmann, Johann Christian 139 Eichendorff, Joseph von, Erlebtes 180
Einem, Herbert von 149, 164 Eis, Gerhard 23 Engels, Johannes 58 Ennius 60 Faulkner, William 223 Feldmann, Erich 75, 76 Fest, Joachim, Im Gegenlicht. Eine italienische Reise 171 f. Finck, Almut 220 Fischer, Ludwig 12,13 Fischer, Norbert 76,78 Flasch, Kurt 78 Fontane, Louis Henri 185-188 Fontane, Theodor 173-196, 218 Der Krieg gegen Frankreich 187071 194 DerStechlin 190 Effi Briest 190 Graf Petöfy 190 Meine Kinderjahre 173-175, 178, 182-191, 195f., 218
Register
Von Zwanzig bis Dreißig 183, 190 Vor dem Sturm 194 Francke, August Hermann 94, 95, 96, 97f., 99, 101, 107, 109 Lebenslauf/ 95, 97f. Fränkel, Hermann 55 Fresenius, Johann Philipp 135 Freytag, Gustav 182,184 Bilder aus der deutschen Vergangenheit 182 Die Ahnen 182 Erinnerungen aus meinem Leben 182
Frieden, Sandra 213 Friedrich II. von Preußen 41 Fürst, Lilian R. 184
Geliert, Christian Fürchtegott 13, 108 Gerhard, Melitta 157 Gigon, Olof 12, 13, 15,20 Giraudoux, Jean 198 Gnilka, Christian 85 Goethe, Catharina Elisabeth 140 Goethe, Cornelia 140 Goethe, Johann Caspar 138, 147 Goethe, Johann Wolfgang 15, 18, 43, 45, 105, 121-133, 134-146, 147-172, 176, 179, 183, 192, 193, 195,231,236 Bekenntnisse einer schönen Seele 140 Das Römische Carneval 152, 165 Dichtung und Wahrheit 18, 45, 121-133, 134-146, 153, 154, 155, 176, 179, 192f., 195f., 236f. Die Geheimnisse 148 Die Leiden des jungen Werther 18 Egmonl 148, 151, 160 Faust 148, 151 Iphigenie auf Tauris 148, 151, 156 Italienische Reise 147-172 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre 123, 128 Nausikaa 159
Neudeutsche religios-patriotische Kunst 168 Prometheus 145 Sieh in diesem Zauberspiegel 144 Singspiele 151, 160 Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 151-156, 165, 170 Tagebücher 122f. Torquato Tasso 148, 151 Vorarbeiten zur Morphologie 122 West-östlicher Divan 153 Wilhelm Meisters theatralische Sendung 148 Winckelmann-Essay 167, 179 Zur Morphologie 164 Zweiter Römischer Aufenthalt 152, 154, 159, 160, 161, 164, 169 Gottsched, Johann Christoph 12 Graevenitz, George von 170 Grass, Günter 26, 226-242 Beim Häuten der Zwiebel 226-242 Der Butt 26 Die Blechtrommel 229, 236, 237, 240f. Die Vorzüge der Windhühner 240 Hunde jähre 234 Kaschuben-Roman 237 Graß, Helene 228,241 Gregor von Nazianz, Elq zov murou ßiov 71 Gregorovius, Ferdinand 170 Greiner, Bernhard 212, 221, 222 Griesbach, Johanna Dorothea 141 Grillparzer, Franz 15, 33 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von, Der Abentheurliehe Simplicissimus Teutsch 231, 241 Grohmann, Will 239 Grüter, Doris 50 Guicciardini, Francesco 192 Gumbrecht, Hans Ulrich 19 Gunn, Janet Varner 51 Günther, Hans R. G. 94, 95 Gutzkow, Karl, Aus der Knabenzeit 180
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Haarhaus, Julius R. 170 Hackert, Jakob Philipp 151, 168 Hadrian 64 Hahl, Werner 24 Haller, Albrecht von 108 Hamann, Johann Georg, Gedanken über meinen Lebenslauf 98f., 109 Hamburger, Käte 14, 16f. Handke, Peter, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt 26 Hankamer, Paul 132 Hanslick, Eduard 174, 181 f. Hardt, Ernst 175 Harnack, Adolf von 86 Harsdörffer, Georg Philipp, Frauenzimmer-Gesprechspiele 13 Hebbel, Friedrich, 176f., 179 Aufzeichnungen aus meinem Leben 176f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9f., 15,22, 191, 192, 195 Ästhetik 9f., 22, 192 Hehn, Victor 170 Heimann, Moritz 182 Heine, Heinrich 169,177 Memoiren 177 Hempfer, Klaus W. 38 Herder, Caroline 151 Herder, Johann Gottfried 110, 151, 152, 156, 160, 178f. Hermand, Jost 10, 174 Herodot 59 Herrmann, Friedrich Wilhelm von 76 Herzog, Reinhart 77, 82, 88f. Hilarius, Bischof von Poitiers 72, 74 Hinck, Walter 226, 230, 239 Hippel, Theodor Gottlieb von 193 Hirsch, Emanuel 94, 95 Historia Augusta 64 Hitler, Adolf 219, 220, 233,234 Hofer, Karl 239 Holdenried, Michaela 50 Homer 151, 167 Odyssee 159,167
Horaz 67f., 69 Carmina 67 Epistulae 67f. Huet (Huetius), Pierre Daniel 98 Humboldt, Alexander von 170 Humboldt, Wilhelm von 169, 192 Imhof, Martin 114 Immermann, Carl Leberecht
179,
182
Memorabilien 179 Isokrates 56, 60 Antidosis 56 Jaeger, Michael 198,208 Jäger, Georg 24, 192 Jakobson, Roman 15, 35 Jannidis, Fotis 127,128,129 Jauß, Hans Robert 38 Jeßing, Benedikt 127, 132 Jung-Stilling (d.i. Johann Heinrich Jung) 39, 105f., 107, 120 Henrich Stillings Jugend 39 Lebensgeschichte 105f. Junius, Franz 98 Just, Klaus Günther 32 Justinus Martyr 72
Katharina II. von Rußland 41 Kauffmann, Angelica 150,168 Kayser, Wolfgang 9, 14, 15 Keller, Gottfried, Der grüne Heinrich 194 Kerner, Justinus 193 Kestner, Johann Christian 18 Kiefer, Klaus H. 163 Kiesel, Helmuth 201,204,208 Kirchberger, Günther 25 Klettenberg, Susanna Katharina von 140f., 142, 143 f., 145 Kluge, Friedrich 207 Knauer, Georg Nikolaus 76 Knebel, Karl Ludwig von 151 Kniep, Christoph Heinrich 150 Koeppen, Wolfgang, Jugend 231
Register
Kügelgen, Wilhelm von, Jugenderinnerungen eines alten Mannes 181 Kunisch, Hermann 180 Lämmert, Eberhard 10 Lange, Joachim, Lebenslauf 103f. Langer, Ernst Theodor 137,138140, 141 Lausberg, Heinrich 13,20 Lavater, Johann Caspar 108f. Lehmbruck, Wilhelm 239 Leiris, Michel 48 Lejeune, Philippe 41,49,228 Lenz, Jakob Michael Reinhold 39 Lesky, Albin 22 Lessing, Gotthold Ephraim 138 Lexer, Matthias 207 Lindenau, Karl Heinrich August Graf von 138 Linn, Marie-Luise 213,222 Lukian 71 Luther, Martin 94 Mahrholz, Werner 30, 97, 102, 108 Man, Paul de 50 Mann, Thomas Der Zauberberg 25 Über die Lehre Spenglers 25 Marc Aurel 70 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich 147 Martens, Wolfgang 109 Martini, Fritz 191 Mayer, Cornelius 76 Meinecke, Friedrich 178,182 Meister, Klaus 58 Meyer, Johann Heinrich 150, 153, 167, 168 Neudeutsche religios-patriotische Kunst 168 Michel, Christoph 127 Michelangelo Buonarroti 150 Miller, Norbert 24, 37 Minder, Robert 108,111,112,198, 208
Misch, Georg 52, 71, 75, 104, 108, 109 Mohr, Heinrich 222 Mojsisch, Burkhard 78 Molinos, Miguel de 98 Mommsen, Katharina 134 Mommsen, Momme 134, 138, 143, 145 Monnika, Augustins Mutter 79f., 88, 90f. Montaigne, Michel Eyquem de 123 Moritz, Karl Philipp 25, 110-112, 152, 157, 161, 175f., 177, 178, 184 Anton Reiser 25, U l f . , 177 Beiträge zur Philosophie des Lebens 111 Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit 176 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 110, 111, 176 Über die bildende Nachahmung des Schönen 161 Moser, Christian 77 Moser, Johann Jacob 43, 139 Moser, Justus 178 Mukarovsky, Jan 18 Müller, Günther 31 Müller, Klaus-Detlef 25, 36, 45 Müller, Lothar 25 Müller, Ulrich 42 Müller, Wilhelm 170 Müller-Seidel, Walter 183, 185, 186 Mündt, Theodor 193 Napoleon I. Bonaparte 126 Neruda, Pablo, Buch der Fragen 211 f. Neuendorff-Fürstenau, Jutta 183 Neuhaus, Volker 226, 228, 230 Neukirch, Johann George 12 Neumann, Bernd 41,236 Neumark, Georg 13 Niebuhr, Barthold Georg 168 Niedermeier, Lorenz 52, 54, 71 Nies, Fritz 18 Nürnberger, Helmuth 186
Register
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Octavianus Augustus 63-65, 66f. ,69 De vita sua 63,65 Res gestae 63f., 65 Oetinger, Friedrich Christoph 104f. Opitz, Martin 12, 13 Ovid, Tristia 68f., 161
Pakendorf, Gunther 239 Palladio, Andrea 150, 168, 170, 171 Pascal, Blaise, Memorial 204 Pascal, Roy 41, 184 Petersen, Johann Wilhelm 97, 102f., 104, 139 Lebens-Beschreibung 102 f. Petersen, Johanna Eleonora 101, 102, 104, 109 Wie mich die leitende Hand Gottes bißher geführet 101 Philipp von Makedonien 55, 57 Picard, Hans Rudolf 47, 48 Pietsch, Ludwig 174 Pindar 54, 55, 69 Epinikien 54 Platen, Edgar 228 Piaton 12,26, 56f., 82, 130 Apologie des Sokrates 56 Siebenter Brief 5 6 f. Symposion 130 Plotin 73 Plutarch 59,61 Pockels, Carl Friedrich 176 Polybios 59 Ponticianus 83f., 87 Preisendanz, Wolfgang I7f. Prudentius, Psychomachia 85 Ptolemaios VIII. Euergetes II. 59 Pyritz, Hans 132
Raabe, Paul 139, 145 Raffael (d.i. Raffaello Santi) 150, 170, 171 Rambach, Johann Jakob 141 Ranke, Leopold 192
147,
Ratzinger, Joseph (Benedikt XVI.) 76, 93, 238f. Rehm, Walther 170 Reiske, Johann Jacob 43 Reitz, Johann Henrich, Historie der Wiedergebohrnen 96f., 99 Remarque, Erich Maria, Im Westen nichts Neues 234 Reuter, Hans-Heinrich 183, 185, 187, 188, 190f., 196 Riehl, Wilhelm Heinrich 180 Ritsehl, Albrecht 95, 101 Robbe-Grillet, Alain 47,48,210 Nouveau roman et autobiographie 47f., 210 Rodenberg, Julius 173,174 Rotth, Albrecht Christian 12 Rousseau, Jean-Jacques 120, 123, 175, 178, 184 Roy, Claude 48 Sartre, Jean-Paul 48 Scaliger, Julius Caesar 12 Schadewaldt, Wolfgang 22 Scheffler, Karl 171 Scheibe, Siegfried 121, 124 Scherpe, Klaus R. 12,22 Schiller, Friedrich 153,167 Die Hören 153 Schlegel, Friedrich 191 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 130,191 Schienther, Paul 182 Schmidt, Erich 156 Schmidt, Gottfried 95 Schmidt, Siegfried J. 16,17 Schneider, Manfred 50 Schnur, Harald 127, 129, 132 Schoeller, Wilfried F. 227 Schönemann, Anna Elisabeth (Lili) 129, 153 Schopenhauer, Arthur 44 Schöpflin, Johann Daniel 124 Schräder, Hans-Jürgen 136,139 Schreinert, Kurt 183
Register
Schröckh, Johann Matthias 43, 110 Schubert, Gotthilf Heinrich von 104 Schulz, Gerhard 132 Schurmann, Anna Maria van 139 Schütz, Werner 32 Scipio Africanus Maior 60, 61, 62 Scipio Nasica 60,61 Seidler, Herbert 11,20 Seitz, Erwin 128, 129, 130 Seneca 70 Sengle, Friedrich 11,22, 191 Severus, Lucius Septimius 64 Sevigne, Marie Marquise de, Lettres 18 Seybold, David Christoph, Selbstbiographien berühmter Männer 39 Singer, Herbert 10 Sokrates 56 Solon 53f. Sonnabend, Holger 52, 55, 58, 61, 63,73 Spangenberg, August Gottlieb 96, 99f. Lebenslauf 99f. Spener, Philipp Jacob 94, 100, 101, 102, 108, 135 Eigenhändig aufgesetzter LebensLauff 94 Theologische Bedencken 108 Spielhagen, Friedrich 174, 193, 195 Sprengel, Peter 127, 128 Sprinker, Michael 50 Staiger, Emil 9 Stauffacher, Werner 208 Stecher, Gottfried 96, 105, 106 Steffens, Henrik 193 Stein, Charlotte von 149, 151, 152, 156, 160, 171 Steinhausen, Georg 30 Stemme, Fritz 108,109 Stern, Martin 127, 132 Stierle, Karlheinz 18,26 Stoß, Veit 206 Strack, Hermann L. 200 Strauß, David Friedrich 169 Striedter, Jurij 31
Sturrock, John 51 Sueton 63,64 Sulla, Cornelius 41, 61 f., 63 Tacitus 65f. Textor, Johann Wolfgang 138, 179 Thimme, Wilhelm 76,78 Thoranc, Francis de Theas, Comte de 138, 179 Thuanus, Jakob August 98 Thukydides 59 Tiberius 64 Tieck, Ludwig 168 Tischbein, Johann Friedrich August 150, 157, 161, 168 Trippel, Alexander 150,168 Tynjanov, Jurij 31,35 Ursinus, Johann Heinrich 98 Varnhagen von Ense, Karl August 192 Vergil Aeneis 66f. Bucolica 66f. Georgica 66f. Victorinus, Marius 83 Vischer, Friedrich Theodor 192, 193, 194, 195 Vogel, Julius 170f. Vogelgsang, Fritz 211 Voßkamp, Wilhelm 13,22,24,35 Wagner, Reinhard 192 Wandrey, Conrad 182 Wasmuth, Ewald 204 Weber, Heinz-Dieter 213, 222 Weinrich, Harald 17 Wellek, Rene 14,15,32 Welling, Georg von, Opus magocabbalisticum 142 Werner, Hans-Georg 165,166 Weyembergh-Boussart, Monique 202, 205 Wieland, Christoph Martin 15,110, 152
Register
252
Winckelmann, Johann Joachim 148, 163, 167f. Witte, Bernd 145 Wolf, Christa 48, 210-226, 228, 231,233, 236, 242 Ein Tag im Jahr. 1960-2000 216, 219, 222, 225 Kindheitsmuster 48, 210-226, 228, 236, 242 Lesen und Schreiben 217,231 Woltmann, Karl Ludwig 193
Woolf, Virginia, A Sketch of the Past 46 Wundt, Max 75 Wuthenow, Ralph Rainer 25, 46 Xenophon, Anabasis 59 Zimmermann, Bernhard 59, 77 Zimmermann, Rolf Christian 142 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Reichsgraf von 139,141
Sachen und Begriffe Abenteuer, abenteuerlich 40, 205, 230, 231,242 -Geschichten 230,242 - Lebensgeschichte 40 Anekdote, anekdotisch (s. a. Detailfreude) 185, 187, 189, 190, 230, 238, 241 Annalen, Annalistik, annalistisch 40, 94, 100, 115, 120 Apologie, Rechtfertigung(sschrift), Selbstverteidigung(srede) 40f., 44, 53,55-57,58,62, 65, 69f., 98,102, 120 - apologetische Tendenz 53, 57, 59, 61,63,64, 102, 104, 105, 107 Aristeia (Lebensbild) der Mutter 90, 241 Atmosphäre, Stimmung 94, 112, 120, 182, 184f., 186, 187, 199, 202, 203, 204, 218, 219f., 222, 232 Aufbau, Komposition, Struktur (s. a. Form) 34, 37, 43, 48, 62, 64, 65f., 73f., 78, 83f., 88, 96, 98f., 104, 115, 117f., 120, 122, 130, 138, 153, 155-161, 197, 198f., 203f., 214f., 217, 229, 234, 235, 237f., 240, 241,242 Autobiographie (s. a. Geschichte der Autobiographie) - fiktive vs. referentielle 45, 48f., 50 - fragmentarische 47f., 49
- ganzheitliche, geschlossene 43, 45, 46, 48, 49, 50f., 74 - vs. unvollendbare 46, 48, 49 - kausalgenetische 47, 56, 65f., 70 - „nouvelle autobiographie" (RobbeGrillet) 47 f. -pietistische 94-109, 112f., 117f., 140 - psychologische 110-112,113,178 - religiöse 44, 70-75, 76-93, 106 - Absicht, Intention 44, 95, 96, 98, 102 -Definition 40, 41 f., 43, 45, 52 - Erinnerungsstruktur 43, 44, 45, 77, 80, 193 - offene Form, Gestalt 48, 120, 229, 230f., 242 - Gattungsname 39f., 42, 49 - Gattungstraditionen 54, 58f., 69f., 75,98, 1 15, 117, 175-182, 183, 230f., 236 - Gattungstypen 40f., 42, 54, 58, 65,69f., 71, 106f., 112f., 242 - pädagogischer, protreptischer Zweck 58,75,95,96,97, 100, 179, 181 - Referenzcharakter 46, 49, 50 - vs. Referenzillusion 50 -Theorie 39-51,214 - Wahrheitsproblem 44f., 46, 47f., 49
Register
- Zeitebenen, Zeitschichten 99, 214-217, 237f. - als „De-Facement" (de Man) 50 - als Exemplum und Symbol des Menschelebens 74,75, 176, 183 - als Mimesis, Spiegelung, Wiedergabe des Lebens 30, 49, 50 - als Rettung, Sinngebung des eigenen Lebens 44,119 - als Vermächtnis 44, 64, ,115, 119 -als Zeitbild 173,178-182 - und autobiographischer Roman 45f., 48f., 191, 192-194, 195f. - und Biographie 43, 55 - und Dichtung 45, 193f., 229, 231 - und Geschichtsschreibung 42, 191f., 194 f. - und Memoiren 40, 41 f. - und Reisebericht 40, 52, 55, 214f. - u n d Roman 25, 48f., 191-196, 229, 231,234 - und (intimes) Tagebuch 36, 40, 52, 108, 109, U l f . , 113 - und textexterne Wirklichkeit 45, 49-51 - und gesellschaftlich-politischer Zeitwandel 46,55,61,69, 125f., 127, 178f., 183 autobiographische Mitteilungen' 42 Autor und Leser - Intention des Autors 17f., 19, 28, 76, 195 f. - Rezeption des Lesers 18f.,28, 77, 195 f. Beichte, Sündenbekenntnis, Sündenklage 71, 76, 94, 100, 101, 106, 107, 112, 114, 115, 117f., 120, 123 - Schuldfrage, Schuldbekenntnis 91, 231-234, 235f., 242 - als Unschuldbekenntnis 101, 107, 112 Bekehrung, Bekehrungsgeschichte, Erweckung,Erweckungsgeschichte, Erweckungserlebnis 41,71-75,
81, 83f., 87f., 91,95-100, 102,105107, 112, 117, 140, 143, 203f., 205, 206 - augustinische 74f., 81, 84f., 8689,91-93,95,98, 198 - paulinische 72, 73 -pietistische 95-100, 102, 105f., 107, 112, 117 - als Schutz- und Propagandaschrift 102f. - als geistliches Vermächtnis für die Gemeinde 100, 106 - und Berufsautobiographie 98-107, 112 - und Zeitgeschichte 197-209 Bekehrungsschema - paulinisches 72,73 - Bußkampfschema, Franckesches (Hallesches) 95f., 98, 101, 103, 105, 107, 108 Bekenntnis, Selbstbekenntnis, Konfession (iSv Bezeugung) 71, 75, 76, 95, 1 14, 115, 123, 186, 189, 240, 241 - confessio laudis 74f., 76 Bekenntnisse, Konfessionen (als Gattungstyp), Bekenntnisliteratur (s. a. Bekehrungsgeschichte) 31, 39, 41, 75, 76-93, 94-96, 97, 98, 104-107, 110, 113, 123 - pietistische 94-96, 97, 99, 105f., 113 Berufsautobiographie 40, 41, 66, 98, 100, 107, 110, 112, 174, 177 Bildungsgeschichte, Bildungsprozeß 121, 128, 153, 171, 236 Biographie, biographisch 9, 21, 43, 44,55,94, 122, 124, 132, 175, 196 - und Autobiographie 43, 44, 55 Brief, Briefform 18,24,30,31,37, 40,52, 56f., 58,60,62,95, 109 - Bandenbriefe 95 - und Autobiographie 40, 52, 56f., 58,60,61,62 - und Briefroman 37
254
Chronik, Chronikschema, Chronikstil 40,42, 115-120 - Haus-, Familienchronik 40, 115, 117, 120 - und religiöses Bekenntnis 115, 117, 120 Dämonen, dämonisch 129-133,199, 200f., 203, 206 Detailfreude, Detailrealismus, einläßliches Erzählen 99, 115, 117, 119, 173, 190, 230 Dichtung, Poesie - als Vorwegnahme des Autorlebens 207f. - vs. Geschichtsschreibung 13, 20, 194 - vs. Prosa 15 - vs. Wissenschaft 13f. - und Autobiographie 45, 193f., 229, 231 - und Nichtpoesie, Zweckformen 9f., 11-20, 20-23,24-27, 28-38, 49f., 191-196 - und Philosophie 20f. - u n d Rhetorik 9, 11-14, 19,20f., 22, 24, 28 - und Wirklichkeit 13, 14, 19, 202, 207-209 „Durchbruch" (s. a. Bekehrungsschema) 73f., 95, 99, 101, 102, 104, 112, 117
Ego-Dokumente 42 Einbildungskraft, Phantasie 44, 48, 120, 167, 193 - zur Ergänzung der Erinnerungsfragmente 48,216, 230f., 239 Empfindung, Empfindungsweit (s. a. Gefühl) 48, 109, 139, 172, 174, 177,215,217,218, 224, 230 Entelechie, entelechisch 104, 105, 106, 111, 124f., 128, 129 - a l s Formkraft 125,128,129
Register
Entwiclung(sgeschichte),Entfaltung, Wachstum (s. a. Evolution, Metamorphose, Steigerung) 37f., 41, 56, 65f., 102, 104, 110, 111, 121123, 124, 127, 128f., 132, 155, 175, 176, 178, 180, 181, 239, 241, 242 Epigenese, epigenetisch 122, 123, 128, 129 - und Evolution 122,128 Erinnerung -Abgründe 220 -Fragmentcharakter 47f., 213, 215, 230 - Fragwürdigkeit, Glaubwürdigkeit 213,217, 231 -Schwierigkeit 213, 216, 226f., 242 - vs. Gedächtnis 230, 231, 239 Erinnerungsarbeit 211, 217, 221, 223, 225, 226, 227 - als Rekonstruktion des Erlebten 48,216, 221, 230f. - als therapeutischer Prozeß 225, 226 Erinnerungsfreude 44,65, 119 Erinnerungen (als Gattungstyp) 174, 178, 181f. - als „Spiegel der Zeitumstände" (Herder) 178 Erzählen, Erzählung, Erzählkunst 24, 116f., 120, 190f., 195, 196, 231, 241 f. -freies 117, 120 -pikareskes 231, 241 f. -Erzählspiegel 159,188,189,241 Essay 24,25,32 Evolution, evolutionistisch 121,
122, 128
- und Epigenese 122,128 Form, Gestalt (s. a. Aufbau) 31 f., 34, 94-96, 117f., 120, 229, 242 -dramatische 95, 96, 117f. -offene 48, 120,229,242
Register
- Formengeschichte 31,32, 97 -Mischform 34,242 - Uniformität vs. Vielfalt 96f. Freiheit und Notwendigkeit 124f., 128, 130 Gattungen, Literaturformen - fiktionale und / vs. nichtfiktionale 15, 16, 17-19, 20-23,25,27, 28-38, 45f., 49f., 186, 194-196 - historiographische 40,42,43,45, 196 Gattungstheorie und Gattungspraxis 35 Gattungstypen, Gattungstypologie 30, 34, 35,40f., 42 Gebetseinlagen, Gebetsform 25, 54, 71,74, 75,76, 78,91, 118,205 Gedächtnis 74, 76, 91, 213, 216, 220f., 223 - vs. Erinnerung 230,231,239 Gefühl, Gefühlswelt, Lebensgefühl 31,37, 49, 120, 144, 177,210, 224, 229f., 233 - Gefühlskurve, Gefühlswechsel 112 Gelehrtenautobiographie 98, 103f., 105 Geschichte, geschichtlich, historisch (s. a. Zeitgeschichte) 30, 31, 34, 42,43,44, 132, 134, 166, 170, 172, 178, 179, 180, 182, 183, 195, 202, 204 - historische vs. autobiographische Perspektive 43, 134, 179f. - Epochen-, Generationsbewußtsein 178 - Geschichte als Schicksal 206f. -Geschichtsdenken 178,183 - Geistes-, Kulturgeschichte 30, 31, 51, 136, 182, 187, 188 -Sozialgeschichte 30,31,51 -Historiker 13,31,42,43,44,51,
180, 188
- Historismus, historisierend 178f., 181, 183
Geschichte der Autobiographie 31, 41, 51, 74, 97, 112f., 120, 130, 183,213,241 -Antike 41,42,51,52-75 - frühes Christentum 71 -75 -Mittelalter 42, 51 - 16. Jahrhundert 41, 98 - 17. Jahrhundert 75,94, 107 -Pietismus 94-113 - 18. Jahrhundert 36, 39, 41, 43, 175, 178, 236, 242 - 19. Jahrhundert 42, 174, 176f., 179-182, 183, 191-194, 196 - 20. Jahrhundert 39,46-49,51, 196,210 Geschichte literarischer Gattungen allgemein 30-33, 35f., 38, 111, 113 - Entwicklungskurve 37, 38 - als Formengeschichte 31, 32 - und Sozial- und Kulturgeschichte 30,31 Geschichtsschreibung 13, 17, 20, 24, 28-38, 42, 43, 55, 178, 191f., 194f., 196 -pragmatische 24,43, 178 - nichtfiktionaler Gattungen 28-38 - und Autobiographie 42, 191 f., 194f. - und Epik 17 - u n d Roman 191 f., 194f., 196 Gesellschaftsbild 179,181-184, 187-189 - statisch, zuständlich, Genrebild 179, 181, 182, 183f., 189 - u n d Selbstporträt 184, 188, 189 Gespräche, Gesprächsgestaltung 90f., 120, 185, 186, 190f., 204, 215 - Monologe, Selbstgespräche 79, 80f., 89, 92, 120,212,213 - m i t Gott 77, 79, 81 f., 83 Gleichnisse für das Leben (Pflanzenund Webegleichnis) 121f., 127, 128, 131
256
Gott, göttlich - Direktion, Führung, Schickung, lenkende Hand 44, 74, 87, 98, 100, 101-104, 106, 107, 109, 115,
116, 200, 206
- Providenz, Vorsehung 44, 94, 105f., 107, 115 - als Gesprächspartner 77, 79, 81 f., 83 - und Seele 44, 71 f., 73-75, 76-93 Historismus s. Geschichte Ich - erzählendes und erzähltes 43, 77, 213 - Einheit, Identität, Kontinuität 42, 46-48,49, 50f., 210, 211,213,236 -Ohnmacht 125, 200f., 202 - Zersplitterung, Zerfall 46f., 49, 50,210,211,223 - als Zentrum der Autobiographie (Ich-Zentrierung) 153,174,179, 180f. - und Welt (s. a. Innen- und Außenkräfte) 44,46, U l f . , 119f., 121 f., 123, 125, 128, 130, 131, 134, 178f., 183, 185,201,204 - u n d Zeit 44, 121, 131, 134, 138, 146, 178-182, 183 Identität - Autor-Erzähler-Figur 45, 223, 224-226, 228f. - Erzähler-Figur 45, 224, 228 - Ich-Identität 42, 46-48, 49, 50f., 210,211,213,236 - Problem, Verlust 46-48, 49, 50, 210,211,213 Individuum, individuell 50, 123, 124, 126, 127, 128f., 164, 178f. - Autonomie, Selbstbestimmung, Selbständigkeit 143, 145 Innen- und Außenkräfte (s. a. Freiheit und Notwendigkeit) 43, 44, 74, 99, 120, 122, 123, 124f., 127, 128f., 183,206
Register
Jugend, Jugendgeschichte (s. a. Kindheit) 42, 118f., 120, 123, 125, 147, 162, 180, 236, 237 Kindheit 118f.,229 - Fremdheit aus späterer Sicht 210, 212, 223,228 -Verhaltensmuster 212, 215, 217f., 219-223,236 - als Keim und Vorstufe späterer Lebensepochen 174, 175f., 177 - und Zeitgeschichte 217f. Kindheitsgeschichte 42, I I I , 115 -Gattungstradition 173,175-182 - als Lebensgeschichte 175, 176f., 178, 185, 186 - u n d Zeitbild 173,178-182,218220 Kommentarien s. Tatenberichte Künstlerautobiographie, Künstlerlaufbahn 236-241,242 - und Dichterberuf 238, 239f., 241
Leben -Definition 40f. - Einheit, Kontinuität, Zusammenhang 40, 43, 46-48, 49, 94, 109, 110, 194,210, 224 - vs. Diskontinuität, Zerfall 4648,210, 224 - Gleichnisse (Pflanzen- und Webegleichnis) 121 f., 127, 128, 131 Lebenserinnerungen, Lebensgeschichte s. Erinnerungen Lehrdichtung, Lehrgedicht, Lehrstück 9, 18,26,32 Literatur (s. a. Dichtung) 9f., 20-23, 26f., 29, 134, 136 - Begriff, Definition 9f. - Ganzheit, Totalität als Wertkriterium 20-23,29 - und Literaturwissenschaft 9f., 27 Literaturtheorie 11-20,28 - Erzähltheorie 11, 14f., 16f. - Kommunikationstheorie 17-19
Register
- i n der Antike 11-14,15,17,19,24 - in Renaissance und Barock 12,24 - Lehrbuch-, Schultradition 11-14, 15, 19, 24, 28 - moderne Philologie 14-19,28 Memoiren (s. a. Tatenberichte) 40, 100, 174, 179, 180 -Definition 41 f. -politische 41, 58f., 71 Metamorphose (s. a. Entwicklung) 121-125, 127-129, 132, 176 -pflanzliche 121, 122, 125, 126f., 176 - als Darstellungsprinzip 121 f., 123, 125-127, 132, 176 Morphologie, morphologisch 121, 123, 127, 131, 132f. - Lebensdeutung 121-133 - ihre Zurücknahme 124-127, 132f. Pädagogik, pädagogisch 95, 96, 97, 111, 179, 181 Perspektive - autobiographische vs. historische 43, 134, 179f. -subjektive 62,217 -Erlebnisperspektive 119f., 193, 198f., 218 - Rückblicksperspektive, Deutung aus dem Rückblick 40, 43, 44, 45, 57f., 67f., 69, 71,77, 80, 1 18, 153, 159, 160, 192f.,199, 202, 206,213, 217 Pietismus, pietistisch -Autobiographie 94-109, 112f., 117f., 140 -Säkularisation 97-113 -Tagebuch 95, 108f., 113 - Psychologisierung 11 lf., 113 Poesie s. Dichtung Poetik und Rhetorik s. Rhetorik Politik, Politiker, politisch 41, 54, 55, 57, 58, 69f., 132, 179, 181,182, 189, 218-220, 223, 231 f., 235,236
-Memoiren 41,58f., 71 - Rechenschaftsbericht, Verteidigungsrede 53, 55, 57 - Tatenbericht 54, 58-61,61 -65 Psychologie, psychologisch 46, 74, 94, 96, 99, 101, 102, 108-112, 113, 175, 178, 181, 184,219, 223,233 -Autobiographie 110-112,113,178 -Erfahrungsseelenkunde 108,111 -Kausalpsychologie 110,111,113, 175, 184 - Psychoanalyse 46, 225 Psychomachie 85f. Rechenschaft(sbericht) 53, 55, 69, 178, 202, 235 Reflexion und Erzählung 48, 85, 199, 200,213,216, 226, 242 Reisebericht, Reisebeschreibung 40, 52,55,99, 100, 106, 147-172, 198201,205, 207-209, 214f. - als Autobiographie 153,154,168 -als Tagebuch 151-156, 158f., 171 - und Autobiographie 40, 52, 55, 214f. religiös - Autobiographie 44, 70-75, 76-93, 106 -Erlebnisse 94, 95, 100, 109 -Krisen 95, 103 -Lebensdeutung 115,116,120 Rhetorik, rhetorisch 9, 11-14, 19, 20f., 22, 24, 28,30,39, 60, 78, 129 - und Poesie, Poetik 9, 11-14, 19, 20f., 22, 24, 28 Roman 9, 13, 14, 16, 17, 22, 24f., 30, 109 -autobiographischer 45f., 191, 192194, 195f.,224f., 226 - Bildungsroman 242 - Briefroman 25, 37 - Entwicklungsroman 24 -historischer 195 -Ich-Roman 16 - philosophischer 25 - Picaroroman 231, 242
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- als poetische Gattung 191 f. - und Autobiographie 25,36,191196, 229, 231,234 - und Geschichtsschreibung 191f., 194f., 196 - und Zweckform 195 Säkularisation 97-113, 120 - der religiösen (pietistischen) Autobiographie 97-113 - psychologische 108-113 - typologische 97-107, 112 Schicksal, Schickung, Fügung (s. a. Gott, Vorsehung) 200-203, 204, 206f., 208f. Selbstanalyse, Selbstbeobachtung, Selbsterforschung, psychologische 44, 95,99, 108f., 110, 111, 175, 178,219, 225 Selbstanklage, Selbstvorwürfe (s. a. Beichte) 84,95,99, 100, 120 Selbstberuhigung, Selbstbestätigung, Selbstvergewisserung 82, 106, 107, 112, 113, 120 Selbstcharakteristik, Selbstdarstellung, Selbstporträt -psychologische 99, 101, 102, 109 - statische 94 -stilisierte 157,161 - als Sphragis (am Anfang oder Schluß eines Werkes) 42, 54f., 66f., 68, 70 - in autobiographischen Schriften 55,58, 62, 65, 103, 120, 174, 182 - im Elternporträt 185-187, 188 - im Fremdporträt 131,138,144, 185 - und Gesellschaftsbild 184,188, 189 - u n d Zeitbild 178-182,183,189 Selbstenkomiastik, Selbstrühmung, Selbstverherrlichung 41,44,56, 57, 60, 64, 65, 66, 70 Selbstentfremdung 46, 161,223 Selbsterfahrung 161 -167, 220
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- Fremd- und Selbsterfahrung 161167 Selbstfindung 42, 161, 167 Selbstgespräch s. Gespräche Selbstkritik 79, 223, 232, 233f. Selbstporträt (literarische Gattung) 40, 42, 52, 58 Selbstverteidigung s. Apologie Sprache, Stil, Ton 12f., 14, 15-17, 19, 20, 24, 25, 28, 34, 37, 45, 48, 62, 63, 64, 68f., 78, 84, 90f., 98f., 114, 116, 117, 118, 159f., 172, 173, 190, 203,231,239, 241 Steigerung, Stufenfolge (s. a. Entwicklung, Metamorphose) 24, 47, 65f., 93, 121 f., 143, 146, 163, 164, 165, 166 subjektiv, Subjektivität 43, 62, 120, 136, 160, 162, 170, 180,217 -Perspektive 62,217 - „subjektive Authentizität" (Christa Wolf) 217 Symbol, symbolisch 165, 167, 176, 183,226, 239 - „Symbole des Menschenlebens" (Goethe) 176, 183 Tagebuch, Diarium 9, 24, 40, 94, 95, 106, 108f., 111, 112, 113,118f., 151-156, 158, 159, 171, 172, 175 - Stunden- und Tagebücher 94, 106 -pietistisches 95, 108f., 113 -Quellenwert 155f. -Reisetagebuch 151-156, 158, 159, 171 - und Autobiographie 40, 108, 109, U l f . , 113, 118f. Tagebuchroman 25 Tatenberichte, Hypomnemata, commentarii, res gestae 41, 54, 58-65, 69 - von Heerführern 58-61 - von Herrschern 58, 61-65 - von Politikern und Staatsmännern 54,58-61
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Teleologie, teleologisch 38, 43, 74, 104, 176, 177 Textlinguistik, Texttheorie 11, 15f., 17,28 Umwelt, Umweltzeichnung 99, 106, 178, 179, 181, 183, 184,215,229 Vergangenheit - ihre Fremdheit aus späterer Sicht 210,212, 223,228 - ihre Prägung der Gegenwart 221, 222, 223, 226 Vorsehung, Vorsehungsschema (s. a. Bekehrungsschena) 44, 74, 94, 104, 105 f., 107, 109, 112, 115, 120, 130 Wahrheit, Wahrheitsproblem 44f., 46, 47f., 49, 132, 144, 192, 193f., 195 f. Zeitbild - in Autobiographien 173,178-182, 218 - und Gesellschaftsbild 180,182
- und Selbstporträt 178-183,189 Zeitepoche, Zeitgeschichte 127, 178, 179, 181,242 - Epochen-, Generationsbewußtsein 178 - und religiöse Bekehrung 197-209 Zeitumbruch, Zeitwandel - Einfluß auf Selbstverständnis und Lebensdarstellung 46,55,61,69, 125f., 127, 178f., 183 Zufall, Zufälle, zufällig (s.a. Schicksal, Vorsehung) 87, 109, 123, 126, 127, 130, 131, 194, 202, 204, 207, 208, 230, 239 Zweck- und Gebrauchsformen, nichtfiktionale Gattungen 9-27, 28-38,45 - höhere vs. starre Formen 22-24, 26f., 29 - Kunstcharakt.er 194f. -Literarisierung 29,31 - Sachgebundenheit 29-31, 34f. - Wechselwirkung mit fiktionalen Gattungen 24-26, 29, 36f. - vs, Prosadichtung 16f., 190f., 191196