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German Pages VI, 237 [239] Year 2020
Jakob Schissler
Strukturen und Prozesse USamerikanischer Politik Analyse einer radikalen Unternehmergesellschaft
Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik
Jakob Schissler
Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik Analyse einer radikalen Unternehmergesellschaft
Jakob Schissler Sauvo, Finnland
ISBN 978-3-658-31728-7 ISBN 978-3-658-31729-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Das Werden der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.1 Das US-amerikanische Grundgesetz (Basic Law) . . . . . 5 2.2 Die Politik im neuen Gemeinwesen der USA . . . . . . . . 19 2.3 Die Anfänge der amerikanischen Republik . . . . . . . . . 23 2.4 Was machte den Erfolg der amerikanischen Entwicklung aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.5 Der Schutzzolltarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3 Eine US-amerikanische Zivilgesellschaft? . . . . . . . . . . . . . 77 3.1 Der Anfang: Das „Colfax Massacre“ . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.2 Die Struktur der US-amerikanischen Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.3 Ordered liberties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.4 Historische Entwicklung der Bürgerrechte . . . . . . . . . 93 3.5 Liberty oder „die Staatsbürgerschaft“ . . . . . . . . . . . . . . 96 3.6 Der Übergang in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.7 Aufhebung der Rassengesetze und Emanzipation: Auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft . . 104 3.8 Das Strafsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
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Inhalt
4 Der vergesellschaftete Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Was heißt in den Vereinigten Staaten Regierung? . . . . . 5.1 Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Auffächerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Einfluss von Politik und Regulierung auf den Alltag: Zwei Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der Einfluss der Politik auf die gesamte Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Das „amerikanische System“ in seiner vollen Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Verschweigen und Verstecken. Die Erschaffung des „welfare capitalism“ . . . . . . . . . .
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6 US-amerikanische Hegemonie unter Präsident Trump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1 Die Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.2 Die politischen Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7 Offene Fragen und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 223
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Einleitung 1 Einleitung 1 Einleitung
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Diese Studie ist eine Fortsetzung meines Buches „Die US-amerikanische Gesellschaft“. Wie in dieser Publikation folgt auch die vorliegende der Methode des „analytischen Narrativs“. Das besagt: Die Analyse bleibt historisch; das Historische wird jedoch komprimiert auf solche Inhalte, Strukturen und Mechanismen der Entscheidungsfindung, die uns helfen, die wirklich wichtigen Momente im Gang der Ereignisse zu verstehen. Das verlangt eine analytische Einstellung zum Material. Denn es geht nicht (nur) um das Erzählen von bedeutsamen Momenten, sondern auch darum, den Ereignissen eine Bedeutung für den Fortgang der Gesamtentwicklung zuzuschreiben. Diese Gesamtentwicklung wird als einen Leitfaden die Herausbildung einer äußerst unternehmnerzentrierten Gesellschaft zum Ziel haben. Schon der Anfang der US-amerikanischen Republik ist einem zum Teil eben auch öffentlichen Narrativ verpflichtet, nämlich der These, dass die USA ein „Empire of Liberty“ darstellen, in dem nicht irgendwelche Stände von Geburt aus wichtig sind, sondern die Leistung von Individuen das zentrale Moment ausmacht. Und das nach diesem Merkmal auch die Gesellschaft geordnet wird. Gestaltungskraft wird mithin in einem herausragenden Sinne dem erfolgreichen Individuum zugesprochen. Das macht eine solche Gesellschaft zu einer harten – aber wie die Unternehmer meinen auch gerechten – Gesellschaft. Wir können 1 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_1
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diese Vorstellungswelt in unserer Gegenwart ganz besonders deutlich erkennen. Kapitel 2 stellt diese Sichtweise, die generell als das „basic law“, das Grundgesetz mithin (Gabriel) bezeichnet wird, ins Zentrum der Analyse. Es wird bis zum heutigen Tag Formbildung für die US-amerikanische Gesellschaft behalten. Es geht in diesem Kapitel in die Analyse des „Werdens der Republik“ ein, und beeinflusst den Fortgang der USA in ihrem zivilisatorischen Gang hin zur Weltmacht. Das ist dann freilich ein holpriger Weg, weil die kleinen Unternehmer, die unbedingt an das basic law glauben, nicht gern als die Verlierer in die Geschichte eingehen wollen, die sie aber sind. Kapitel 3 macht einen Schritt über die Industrie- und kapitalistische Entwicklung hinaus in den Bereich der rechtlichen Formierung dieser Gesellschaft. Der US-amerikanischen Rechtslehre kommt eine große Bedeutung bei der Gestaltung der Gesellschaft zu. Selbige hat ebenfalls bis heute ihre Gültigkeit, wenngleich Rechtsnormen aus dem frühindustrialisierten Geschehen sich weiter entwickelt haben – jedoch an Härte nichts einbüßten. Kapitel 4 knüpft dann wieder an das Geschehen in der hochentwickelten Industriegesellschaft an und zeigt uns das Wirken von Strukturen auf, die den vitalen Kleinkapitalismus des 19. Jahrhunderts hinter sich lassen. Auch die Politik (Kapitel 5) geht eigene Wege, ohne dabei die Geltung des basic law außer Kraft zu setzen. Die Lebendigkeit der amerikanischen Republik in ca. 89.000 kleinen und großen durch Wahl entstandenen Regierungen soll auch Zeugnis ablegen von einer vitalen Demokratie. Diese horizontale Ausprägung von politischer Beteiligung entspricht allerdings nicht den Standards parlamentarischer Demokratie. Freilich ist auch eine Präsidentschaft von Donald Trump (Kapitel 6) nicht zwingend durch die Geschichtsbücher der Zivilisationen zu erklären. Seine erste Präsidentschaft hat wunderliche Ausprägungen der Möglichkeiten von Politik zugelassen. Eine zweite
1 Einleitung
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Präsidentschaft könnte dem kaum noch neue Akzente zufügen. Aber wir werden ihn nicht vergessen. Das jetzt bestehende Chaos in den USA birgt große Chancen für bisher unterdrückte Potenziale in der ausgeprägten Rassengesellschaft „Amerikas“, zu gewissen Fortschritten an Reformen zu gelangen. „Strukturen und Prozesse“ sind im Folgenden nicht als Teile einer Systemtheorie des „Politischen Systems der USA“ zu verstehen, sondern als historische Potenziale, die aus ökonomischen oder aus sozialstrukturellen Kräften erwuchsen. Letztere können aus Klassenkonstellationen entstehen oder aber aus institutionellen Mechanismen, wie z. B. dem alles dominierenden juristischen Verfahren in der amerikanischen Politik. Keineswegs sind sie jedoch Elemente einer systematischen Theorie, die das Zusammenwirken dieser Elemente innerhalb einer geordneten Vielfalt zum Fluchtpunkt hätten. Nichts wäre dagegen zu sagen, dass eine solche Ordnung zu begrüßen wäre; aber bei genauerer Beschäftigung mit amerikanischer Politik kommt man zu dem Schluss, dass dieses „System“ ein offenes ist, dynamisch, hoch vermachtet, fragmentiert und grenzenlos. Daraus ergeben sich viele Probleme, die der Autor schon anderswo geschildert und erklärt hat. Hier geht es ebenfalls um Schilderung und Erklärung, aber in einem offenen Rahmen. Was berichtet wird, wird als wichtig angesehen, aber wahrscheinlich ist nicht alles was wichtig ist, auch schon erfasst. Welche Rolle genau spielen die „Vereinigten Staaten“ in der „Weltpolitik“? Diese Frage wird unterschiedliche Antworten zeitigen, je nachdem welches Feld man berührt, und welche Kräfte man innerhalb eines solchen Feldes vorfindet. Dabei geht es zu wie in dem Film „Der Pate“ von Mario Puzo, mit Marlon Brando als „godfather“.
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Das Werden der Republik 2 Das Werden der Republik
2.1
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Das US-amerikanische Grundgesetz (Basic Law)
2.1 Das US-amerikanische Grundgesetz (Basic Law) Es klingt sicherlich verwirrend, wenn man bezüglich der Vereinigten Staaten von einem „Grundgesetz“ spricht, da diese doch 1789 eine „Verfassung“ akzeptierten, die man sozusagen als die Basis des politischen und auch des gesellschaftlichen Gemeinwesens betrachten könnte. Zumeist wird in den Regierungslehren über die USA auch davon ausgegangen, dass am Anfang die Verfassung steht. Dies jedoch ist eine neuere Dogmatik, die erst mit der modernen USA, der Weltmacht nach 1945, kreiert wurde. Vorher war es nicht notwendig, die Vielfalt einer verwirrenden Empirie der Welt zu verdeutlichen. Aber nach 1945 bemühten sich politische und wissenschaftliche Mächte, angestachelt durch eine gesellschaftlich führende Elite, ein klares Bild des Werdens der „amerikanischen Republik“ zu erschaffen. Dabei fiel die Lehre von einem „amerikanischen Grundgesetz“ hinten runter. Zurück genommen wurde in diesem Zusammenhang auch die allumfassende Bedeutung des „Common law“ für die nordamerikanische Gemeinschaft. Zuvor jedoch herrschte in den USA eine Skepsis hinsichtlich einer politischen Einigung, deren Grundgesetz die Verfassung von 1789 gewesen wäre. Daran Schuld waren nicht nur die Südstaaten, die sich zur Abtrennung von den Nordstaaten entschlossen hatten 5 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_2
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und diesen Entschluss in einem blutigen Bürgerkrieg umsetzen wollten, aber nicht konnten. Schuld daran war auch ein regionales und einzelstaatliches Identitätsbewusstsein. Stärker aber noch galt in den USA die vorstaatliche und vorpolitische Identität als Basis für eine ganz andere Fundierung des Gemeinwesens. Die Gemeinschaften auf dem nordamerikanischen Kontinent waren großenteils Produkte religiöser Zusammenschlüsse. Politisch wichtig blieb bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts das „Mutterland“ England. Dessen Beamte führten als Gouverneure die einzelnen Kolonien; die Parlamente und Bürgerschaften der Siedler verstanden sich noch nicht als amerikanisch, sondern als kirchlich und englisch, oder aber entsprechend der Abkunft aus einem europäischen Land (Dutch für holländisch, German für deutsch usw.). Was sich aber anscheinend als gesamtamerikanisch herausbildete war eine vage Philosophie, dass man eine Gemeinschaft besonderer Art sei. Das ließ und lässt sich natürlich aus dem Puritanertum des frühen 17. Jahrhunderts ableiten, aus den Einwanderern auf der Mayflower, der Arbella usw. Über den einzelnen Kirchennominationen entwickelte sich jedoch ein mehr oder minder protestantischer Sittengeist, der davon ausging, dass die nordamerikanischen Gemeinschaften durch ein göttliches Sittengesetz zusammen gehalten würden, das sie stärker und bedeutsamer bände, als die Herrschaft durch Bischöfe und Könige auf dem alten Kontinent. Man bestand aus vielen Gemeinschaften, die allesamt jedoch verpflichtet waren, ein gottgefälliges Leben zu führen und dies nach ihrer eigenen Meinung auch taten. Dem entsprachen denn auch die zivilen Verhaltensweisen im Rahmen dieser sittlichen Gemeinschaften. Man hielt sich an die Geltung der Gebote Gottes, so wie man meinte dass selbige zu verstehen seien. Große Zweifel oder Brüche scheinen da nicht aufgebrochen zu sein. Man lebte sozusagen in der Tradition der Geltung des „Common law“ aus dem englischen Kulturkreis. Dass das „Common law“ bis heute ein sehr künstliches Gebilde
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ist, das weder aus Tradition noch aus dem Volk resultiert, sondern eher der Zweckmäßigkeit der juristischen Praxis diente, blieb und bleibt „vom Volke“ unbemerkt. Vieles ist dabei auch unbestritten und das Rechtsempfinden der Amerikaner war und ist bis auf den heutigen Tag ganz unbekümmert, dass man das Rechte tue. Ihre Jurys im Rechtssystem schätzen die Amerikaner besonders, obwohl diese Institution ein sehr künstliches Gefüge mit vielen Fallen des Alltags darstellt. Die Akzeptanz eines quasi natürlichen Lebens als Christenmensch lieferte den Kitt für eine Gemeinschaft, die eine besondere Liebe für ein von Gott geschaffenes Universum einer Newtonschen Ordnung entwickelte (Gabriel, S. 3ff.). Das Universum war genauso geordnet wie der Alltag der rechtschaffenen Menschen. Das Naturrecht war göttlich, aber auch in der Natur ganz unproblematisch enthalten. Thomas Jeffersons berühmte Formulierung „God’s nature and nature’s God“ muss nicht unbedingt der Genialität seines Verfassers zugeschrieben werden, sondern kann auch als Alltagsweisheit akzeptiert werden. Zwischen einer Aufklärung für ein christliches Volk und einer solchen für eine freie Gemeinschaft von Menschen existierte in den USA kein Gegensatz. Der freie Mensch war etwas, das Gott selbst aus seiner Natur geschaffen hatte. Das nun war den angehenden US-Amerikanern extrem wichtig, dass der einzelne als die Basis aller Gesellschaft und Gemeinschaft betrachtet wurde. Das Axiom wurde sehr wahrscheinlich aus dem harmonistischen Glauben an das göttliche Universum abgeleitet. Es hielt sich hartnäckig trotz aller empirisch widerstreitenden Befunde und trotz des Tatbestandes, dass es im Laufe der Geschichte gnadenlos zu manipulativen Zwecken eingesetzt wurde. Das „freie Individuum“ ist neben der göttlichen Sittenordnung der zweite Baustein des US-Grundgesetzes. Und dieses freie Individuum bewirkt seine materiale Existenz durch die Schaffung von Eigentum. Das Eigentum wird damit selbst zu 7
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einem göttlichen Gut, das zwar weltlich erschaffen wird, durch Arbeit oder durch Kauf, das aber in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz geschaffen sein soll. Hier nun fangen die Probleme damit an, dass Eigentum zumeist auch seine unsittlichen Entstehungsgeschichten mit sich trägt. Trotz der unmoralischen Tiefen, in die das Institut Eigentum historisch periodisch hineingezogen wurde, hat sich der Glaube daran bis heute erhalten. Es gibt keine Alternativen dazu. Entweder müssen die Besitzer von Eigentum das Unmoralische an selbigem weg rationalisieren, zu Zynikern werden oder aber auf selbiges verzichten und es einem höheren Zwecke – am besten einer Kirche – stiften. Das nun war das Resultat all dieser Überlegungen die vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Bewohner des nordamerikanischen Kontinents umtrieben und sie bei ihren Fragen: „Wer bin ich?“, „Wer sind wir?“ prägte. Die Gemeinschaft wurde als ein „Empire of Liberty“ perzipiert, jedoch eingefangen in den Selbstverständlichkeiten des englischen „Common law“ und den göttlichen Geboten. Dies war wichtiger für die Menschen als die Schaffung der Verfassung von 1789, selbst mit deren Anhang, den „Bill of Rights“, die sowieso voller Untiefen sind, obwohl viele Amerikaner meinen, hier sei ihre soziale Sicherheit kodifiziert. Erklärlich ist diese Konstruktion aus der Geltung des Protestantismus heraus. Da dieser dem Einzelnen ein Gewissen zuteilt und dieser Einzelne im Gebet vor Gott steht, so stellt er sich auch seine irdische Freiheit in Analogie zu dieser Mensch-Gott-Begegnung vor. Denn entgegen diesem vor allem von den Laissez-faire-Anhängern der „freien Marktwirtschaft“ favorisierten Modell des Individualismus war die Gesellschaft in Nordamerika noch ganz fest in die gemeinschaftsprägende merkantile Wirtschaftsform eingefügt. Erst mit dem Amtsantritt von Präsident Andrew Jackson 1828 setzt man die Periode des Laissez-faire an (Williams, 1988, S. 227ff.), die allerdings lange Übergänge hin zur unternehmer-
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geprägten „Marktwirtschaft“ aufwies und aufweist. So klar ist es den Wirtschaftssubjekten nicht, wenn sie sich für den „freien Markt“ bekennen, dass sie damit den Schutzschirm einer Gemeinwirtschaft sehr bewusst und heroisch verlassen. Auch von den historischen Entwicklungen her ist klar, dass die Zeit nach 1828 von einer unternehmerischen Dynamik geprägt war, jedoch die Eingebundenheit in die religiöse oder die kommunale Gemeinschaft mit z. B. dem öffentlichen Schulwesen, dem Straßenbau usw. überhaupt nicht umstritten war. Erst die Legende einer späteren Zeit versucht nachzuweisen, dass der „freie Amerikaner“ immer schon durch und durch ein Individualist gewesen sei. Dies ist mithin der Bereich der Mythologie, von der aber gesagt werden muss, dass sie zunehmend im Laufe des 19. Jahrhunderts auch realitätsbedeutend wurde. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war eher geprägt von den Klassenkämpfen der kleinen Unternehmer- und Handwerkerkapitalisten gegen die entstehenden „Corporations“ und Charterkapitalisten (Gomory/Sylla 2013), die mit größerem Kapital und Bankdarlehen den wirtschaftlichen Spielraum für den Kleinkapitalismus zunehmend einengten. Deshalb war auch die Auflösung der „Bank of America“ durch Präsident Jackson so populär im Alltagsverständnis (Degler u. a. ed. 1977, S. 176ff.), obwohl sie in der Folge für eine seriöse Wirtschaftsentwicklung schädlich war. Das Grundgesetz für den „freien Eigentümer“ änderte sich erst in der 2. Jahrhunderthälfte, ohne dass damit die grundlegenden Prämissen geändert wurden. Erst mit dem Aufkommen der großen Industriekapitäne (genannt Räuberbarone) wurde das Grundgesetz dahingehend ergänzt, dass nunmehr der Großkapitalist gewissermaßen als der Treuhänder Gottes den Bürgern entgegentrat und diesmal nicht nur der Idealfigur des potenziellen Kleinkapitalisten sondern auch dem Arbeiter. Die großen Industriekapitäne betonten, dass es ihre Leistung und Gottes Fügung und die darwinistische 9
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Auswahl nach dem Prinzip der Stärke war, die sie zum großen Reichtum gebracht habe, und dass an diesem „Naturgesetz“ nichts zu ändern sei. Deshalb müsse sich die Mehrheit der Bevölkerung dem fügen und sich unterordnen. Aus diesem Schicksal der ewigen Unterordnung der anderen „freien Individuen“ gab es freilich den Ausweg durch die politische Korrektion dieser Schicksalslage. Sie wurde allerdings von den Gesetzen eingegrenzt, von der Ideologie der Industriekapitäne her geleugnet: Die Unterlegenen im Daseinskampf sollten sich freiwillig fügen. Zwar ließ die individualistische Ideologie ein kleines Türchen offen: Jeder sollte eine zweite Chance im Leben haben. Und zweite Chancen konnte man ja beliebig oft ergreifen. Aber irgendwann war Schluss und es stand die Unterordnung an. Den Kleinkapitalisten stand keine andere Möglichkeit offen, sie ordneten sich ein, wenn auch widerwillig und neidvoll. Denn sie wollten ja nichts anderes als das, was die Großkapitalisten bereits hatten, nämlich die „große Freiheit“, der zugleich eine Gefährdung durch den Markt entsprach. Gegen diese „Marktfreiheit“ kämpften nun die Großkapitalisten mit aller Macht an. Zuerst gründeten sie so genannte „Pools“ und „Trusts“, in denen sie sich zusammen schlossen, aber jeder der Besitzer seines Kapitals blieb (Hofstadter 1955, S. 227ff., Roy 1996, S. 144ff.). Die Folge war ein bewegliches Verhalten der einzelnen Mitglieder der Trusts, also der auf Eigennutz gerichtete Betrug. Das war unbefriedigend. Den Ausweg stellte die Gründung der großen „Corporations“ dar, in denen der einzelne Kapitalist sein Eigentumsrecht aufgab und stattdessen Anteilsscheine der Gesamtunternehmung erhielt. Der moderne Aktionär war geboren. Er hatte in der Leitung des Unternehmens zumeist nichts mehr zu sagen. Es sei denn, er war groß genug, um im Aufsichtsrat (Board of Directors) oder aber im Vorstand eine Position zu begleiten. Dies alles geschah unter dem Auge des Gesetzes. Denn nach 1865 gab es die stärkere Union, die sich im Bürgerkrieg durchgesetzt hatte. Deren Richter hatten
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nunmehr ein scharfes Auge auf Verhältnisse, in denen irgendeine Entwicklung über Einzelstaatsgrenzen hinauswuchs. War dies der Fall, dann beanspruchten sie die Oberhoheit des Bundes (Federal Government). Das berühmteste Ereignis in dieser Entwicklung fand 1884 statt, als aufgrund der Klage eines Eisenbahnkönigs diesem das Recht zuerkannt wurde, Eisenbahnen über Einzelstaatsgrenzen hinweg zu betreiben und dass seine Aktiengesellschaft wie eine Einzelperson zu behandeln sei. Damit hatte der in der Sache kollektive Kapitalismus den Kleinkapitalismus mit dessen eigenen Waffen besiegt. Das Kollektiv der Aktionäre einer großen Firma darf sich als Einzelperson fühlen und wird rechtlich so behandelt. Dem Zusammenschluss der Arbeiter, nämlich einer Gewerkschaft, wurde dieses Recht durch Bundesrichter abgesprochen. Absprachen der Arbeiter untereinander wurden über längere Perioden als „Verschwörung“ (conspiracy) behandelt. Was waren diese „freien Arbeiter“ nun aber im „Empire of Liberty“, wenn sie sich nicht zusammenschließen durften, wenn ihnen sogar das Reden untereinander verboten war? Wenn sie das Arsenal ihrer zweiten Chancen aufgebraucht hatten (Foner, S. 117ff.)? Gesicherte Altersversicherungen gab es noch nicht. Manche Betriebe hatten wohlweislich eine soziale Seite, was Schulung und Unterhalt im Krankheitsfalle betraf. Das mutet feudalistisch an und wurde von den Unternehmern auch so gesehen. Ansonsten aber war der „freie Arbeiter“ rechtlich auf zwei Institute angewiesen, die sein soziales Dasein bestimmten. Als freies Subjekt, im Unterschied zum Sklaven, war er kein Eigentum, keine Ware, sondern er besaß „Vertragsfreiheit“, zum zweiten wurde sein Lohn durch Angebot und Nachfrage, also durch ein „wirtschaftliches Naturgesetz“ geregelt. Dies galt unumstößlich im Rahmen der Grenznutzentheorie, also: erhöhtes Angebot = Senkung der Löhne. Sollten sich Arbeiter gegen dieses „Naturgesetz“ auflehnen, wurde Staatsgewalt (Polizei, Militär, Privatpolizei oder Mob und Streikbrecher) gegen sie einge11
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setzt. Juristisch logisch hätten die Richter eigentlich schlussfolgern müssen, dass nunmehr den Arbeitern die Möglichkeit offen stand, den Vertrag mit dem Unternehmer zu kündigen (Gabriel, S. 226ff.). In ihrer eindeutig parteilichen Ausrichtung hielten sie diese beiden Bereiche aber völlig auseinander: In seiner naturrechtlichen Daseinsweise war der Arbeiter an das Gesetz von Angebot und Nachfrage gebunden, in seiner gesellschaftlich vertragsrechtlichen Position stand ihm das Vertragsrecht nicht für den Fall der Kündigung zur Verfügung (dem Unternehmer sehr wohl). Die logisch unhaltbare Brücke in dieser Argumentation wurde durch den Einsatz von polizeilicher Gewalt überbrückt. Mithin im Resultat: Der freie Arbeiter war lediglich ideologisch im „Empire of Liberty“ frei. Seine zwanghafte Lebenslage zu mildern, blieb letztlich nur durch Politik möglich. Und längst bevor es eine Sozialgesetzgebung in den USA gab, die auch nur annähernd diesen Namen verdiente – nämlich ab 1935 im New Deal – gab es Fürsorge aller Art. Die bekannteste war die korrupte durch die politischen Parteien und durch den Boss, als den politischen Unternehmer. Dieser sorgte durch seine Beauftragten in den Stadtteilen (wards) für Wohnung und für Arbeitsplätze für die neu einströmenden „Immigranten“. (Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Intellektuelle und Reformer in den großen Städten gegen die „Korruption“ der Bosse angehen wollten, wurde ein „ward“ vor Gericht gebracht, dem man „bewies“, dass er gegen die Gesetze verstoßen habe. Seine klassische Antwort war: „The people needed help not the law“. Der „ward“ und sein Boss besorgten nicht nur Arbeit, sondern sie lieferten auch zu „Thanksgiving Day“ den obligatorischen Truthahn, falls benötigt. Ein arbeitsloser jüdischer Musiker, der gerade aus Russland eingetroffen war, konnte auch unter Drohungen in ein Orchester gepresst werden, usw.) (Hofstadter 1955, S. 174ff.). Kein Wunder, dass sich die angehenden neuen Staatsbürger der USA nicht sonderlich für die politische Verfassung interes-
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sierten – aber sehr wohl für den politischen Prozess. Die Würde der Verfassung blieb sowieso unsichtbar oder wurde ganz offen in ihr Gegenteil verkehrt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lagen die Herrschaftsverhältnisse ganz offen zu Tage. Es herrschten im Prinzip die großen Industriekapitäne, sie finanzierten politische Konkurrenzkämpfe, lieferten die Gesetzesvorlagen für die Einzelstaatslegislativen und bestimmten die Wahlen für die Präsidentschaften. Bis zu Präsident Wilsons Amtsantritt 1913 gab es zwischen 1860 und 1913 nur zwei Präsidentschaften von Demokraten, beide Male Präsident Cleveland. Die USA waren de facto zu einem Einparteienstaat geworden. Die Demokratische Partei vertrat eher die kleinkapitalistischen Interessen des Nordens, zunehmend die der Arbeiterschaft und die des geschlagenen Südens, deren reaktionäre Kräfte im Verbund mit den Demokraten des Nordens regierten, aber eine eigenständige Diktatur, den „solid South“, bildeten. Die übergeordnete Ordnung wurde unter dem Grundgesetz durch die „Herrschaft des Rechts“ hergestellt. Als der oberste Richter des „Supreme Court“, John Marshall, zu Beginn des 19. Jahrhunderts entschieden hatte, dass es diesem Gericht zustände, die Verfassungsmäßigkeit der von Legislativen verabschiedeten Gesetze zu beurteilen und gegebenenfalls zu verwerfen, rückte er damit sein Gericht aus der Dreieinigkeit von Exekutive, Legislative und Justiz heraus und bestimmte die USA in altrepublikanischer Tradition dazu, ein Staat des Gesetzes zu sein. Die Aufgabe der Justiz war es mithin nicht, wie in den parlamentarischen Verfassungsstaaten, eine Harmonie zwischen den von den Legislativen erstellten Gesetzen herzustellen, sondern das Gericht beanspruchte unzweifelhaft das letzte Wort, die Hegemonie. Wichtige Entscheidungen sind seitdem des Öfteren vom obersten Verfassungsgericht getroffen worden (Wir werden im Kapitel über die „civil rights“ genauer darauf eingehen). 13
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Was die Industriekapitäne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich vorgenommen hatten war also keine Änderung des ursprünglichen, aus dem Laissez-Faire-Zeitalter stammenden Grundgesetzes, sondern dessen Modifizierung bei weitgehender Erhaltung der Laissez-Faire-Elemente. Bis heute sehen sich die USA als eine Republik, die den Kapitalismus als Kleinkapitalismus verwirklicht hat, wo der Unternehmer sich mit seinen Arbeitern nach Feierabend mal am Biertisch wieder findet. Wo alle „hard working people“ eine Einheit bilden gegen Liberale und Bürokraten. Die neuen Organisationsformen, die gerade von dem korporativen Kapitalismus geschaffen worden waren, wurden nicht in die neue Philosophie des Grundgesetzes mit aufgenommen. Somit waren und sind die amerikanischen Arbeitnehmer darauf angewiesen, falls sie einen voll gültigen Status in diesem Rahmen des Grundgesetzes anstreben, eine „romantische Demokratie“ (Gabriel, S. 247ff.) zu leben, eine Ideologie des freien Amerikaners zu akzeptieren, ohne freilich zu wissen, welchen Gefährdungen seitens einer sehr undurchsichtigen Rechtsprechung sie u. U. ausgesetzt sein können. Eines aber kann man der Herrschaft der Industriekapitäne nicht nachsagen, nämlich dass sie vielleicht vergessen hätten ihren eigenen Gefährdungen realistisch ins Auge zu sehen. Diese bestehen natürlich nicht nur aus Arbeitern, gegen die man eine starke Polizei braucht, sondern sie bestehen auch aus zwei anderen sozialen Gruppen, die unter Umständen gefährlich für großkapitalistische Herrschaft werden könnten: die Politiker und die studierten Experten. Lediglich hinsichtlich der studierten Experten herrscht eine gewisse Ambivalenz in der Betrachtung. Einerseits wird das Wissen und werden die Fähigkeiten dieser Experten in den USA hoch bewundert und auch entsprechend finanziell vergolten, andererseits aber werden diese Experten in populistischer Weise als weltfremd, als unnatürlich, überintellektualisiert und biologisch und geistig defekt wahrgenommen. Die Frage ist je-
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weils, von welchem Blickwinkel man diese Spezies der Menschheit perzipiert. Ein Naturwissenschaftler, der Atome spalten kann, ist natürlich wie ein Weltwunder zu bestaunen. Falls dieser Naturwissenschaftler aber meint, mitreden zu dürfen, wenn es um den Einsatz atomaren Wissens geht, dann wird er verteufelt. So ist es auch gegenwärtig bei den Fragen des Klimawandels, des Umweltschutzes, der Lebensmittelkontrolle oder des sozialen Lernens. Experten und Intellektuelle sollen sich im Alltag nicht mit ihrem Wissen hervortun. Allerdings beanspruchen die Industriellen zu entscheiden, was, wann und wie von dem Experten an Wissen eingesetzt werden darf – mit Hilfe freilich von angepassten Wissenschaftlern, die das Erstgeburtsrecht der Entscheidung durch die Industriellen nicht anzweifeln. Im Großen und Ganzen haben die Wirtschaftsgewaltigen, vor allem in der Gegenwart ihr finanzkapitalistischer Teil, gesiegt, die „marktkonforme Demokratie“ (Bundeskanzlerin Merkel) geschaffen. Der Materialaufwand der neoliberalen Marktpropaganda ist beachtlich; die Ausgaben für die entsprechend angepasste Expertokratie sind nahezu grenzenlos (Weinberg 2012). Der Betrachter von außen kann sich nur amüsieren über die Ängste, die dennoch diese Schicht der großkapitalistischen Wächter umtreibt, dass es ja keine Abweichler gibt. Ähnlich wie Stalinisten verfolgen sie noch imaginäre Gegner, in den USA „liberals“ genannt, weit über deren Tod (als Bewegung) hinaus. Während die intellektuellen Fähigkeiten der Experten von den Mächtigen in den USA durchaus anerkannt und auch gebührend entlohnt werden, gilt eine ähnlich anerkennende Sichtweise auf die Politiker nicht. Die Politiker sind für die Unternehmer eindeutig die minder bemittelte Schicht. Denn, so der unbesiegbare logische Schluss: Wären sie wirklich befähigt, dann wären sie Industrielle geworden, so aber kann man sie als Versager auf dem Feld des Kampfes ums Dasein einstufen. Unter Verhältnissen des Triumphes der Erfolgreichen gibt es denn auch den verachtungsvollen Kampf 15
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gegen diese Kaste von überzeugten Politikern, die meinen, man solle in der Politik versuchen, Gutes für das Gemeinwohl zu produzieren. Auch Bill Clinton hat während seiner Administration dazu aufgerufen, dass befähigte Leute sich einen Job in der Wirtschaft suchen sollten, weil es in der Regierung dafür keine Verwendung gäbe. Zugrunde liegt eine strategische Haltung der Entstaatlichung: Alles was der Staat kann, könne die Privatwirtschaft besser. Auch hier ist es mit der Logik nicht sonderlich gut bestellt. Wie soll man Wirtschaftsführer und Finanzgewaltige sehen, die ihr Unternehmen und manchmal Teile einer Branche ins Unglück stürzen? Wo ist da die Qualität des weitsichtigen Unternehmers abgeblieben? Ein „unfähiger“ Politiker ist manchmal so klug, dass er wenigstens keinen Schaden anrichten will. Und das macht ihn unter der Spezies der Politiker schon wieder zu einem wertvollen Produkt. Präsident Obama und auch Präsident Clinton in Maßen haben trotz aller Widrigkeiten, die gegen sie als an Macht gehinderte Politiker – gegen den Widerstand der Wirtschaft regierend -, vorhanden waren, einiges Gute für die Gesellschaft bewirkt. Die Gesundheitsreform Obamas ist nicht alleine sein Verdienst, sondern dem Mechanismus geschuldet, dass er 2008 eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses auf dem Schweif seines Wahlsieges mit schaffen konnte, die sodann diese brüchige Krankenreform mit bewirkt hat. Dass Politik in den USA generell minderwertig ist, ist nicht den Politikern – schon gar nicht den mutigen Leuten der Demokratischen Partei anzulasten, sondern dem enormen Widerstand und Machteinfluss von Seiten der Republikaner, hinter denen die Wirtschaftsgewaltigen, bzw. deren Speerspitzen stehen. So groß auch die Verachtung der Wirtschaft für die Politiker ist – und diese hatten und haben ihren schlechten Ruf häufig verdient – so sehr fürchten sie seit Roosevelts Zeiten und dem New Deal diese Spezies. (Es gibt eine schöne Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts: Eine Angehörige der berühmten Familie der Vanderbildts weigerte
2.1 Das US-amerikanische Grundgesetz (Basic Law)
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sich bei einem Essen mit dem Senator, den die Familie aushielt, zu speisen. Sie bemerkte treffend: „Ich setze mich ja auch nicht mit meinem Butler an einen Tisch“. Frank, 2008, S. 36f.) Denn es traten ihre schlimmsten Befürchtungen ein, indem nämlich diese Kaste von Politikern es lernte, auch Teile der Wirtschaft zu führen, bzw. das Regelsystem der Wirtschaft zu beeinflussen, den Sozialstaat auf den Weg zu bringen und den Arbeitern einen Boden unter den Füßen (8-Stundentag) und ein Dach über dem Kopf (Sozialversicherung) zu schaffen. Es ist mithin immer im Gedächtnis zu halten, dass nach dem „Grundgesetz“ die religiös-liberale Gesellschaft der USA wie in Platos Modell geschichtet ist. An der Spitze stehen allerdings nicht die Philosophen, sondern die Unternehmer des „Free Enterprise System“, danach kommen die Wissenschaftler und die Gebildeten, und an dritter Stelle stehen die Politiker. Die arbeitende Bevölkerung ist Teil dieser Gesellschaft, aber nicht Teil der Hierarchie. Sie ist der notwendige Bodensatz (mud slingers), aus dem die Arbeiterheere zu rekrutieren sind, denen im Prinzip nur der Lohn für das Existenzminimum zusteht. Mit dem Erstarken des Neoliberalismus hat diese Sichtweise sich wieder durchgesetzt. Man kann das ganze Modell auch als einen Ersatz für eine geschriebene Verfassung verstehen. Gesetzgebungen durch gewählte Körperschaften fallen zwar aus dem Modell heraus, sie sind aber eine Konzession an die Arbeitnehmer, denen im Modell kein Status zukommt, denen aber auch die Idee einer „romantischen Demokratie“ nicht genommen werden soll. Außerdem wird die Gültigkeit von Recht und Gesetz durch die „Herrschaft der Gesetze“, also das statuierte Gesetz in Verbindung mit den Lehrsätzen des „Common law“, durch unabhängige Richter oberhalb der gesetzgebenden Körperschaften festgelegt. Jetzt, wo die Mächte, die das Grundgesetz geschaffen haben, wieder Dominanz erreicht haben, herrscht auch ein Zustand in den USA, den der Rest der Welt nicht versteht. Was wir wissen ist, dass 17
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die amerikanische Bevölkerung sehr stolz ist auf ihr demokratisches System und auf ihre „liberale“ politische Kultur. Man kennt nicht jene Sichtweise, die voller Verachtung gegenüber der Politik ist, die den Politiker in die Nähe des Straßenräubers rückt (Lowi, 1995, S. 104), die ihn verdächtigt, „der hart arbeitenden Bevölkerung“ (the hard working people) das Eigentum wegzunehmen (Steuern), nur um sich selbst damit zu bereichern. Noch weigert sich auch der Rest der Welt, diese Perspektive als eine dominante in den USA wahrzunehmen. Bequemer ist es, wie die Medien dies hierzulande und auch in den USA tun, von einer Blockade (gridlock) zwischen den beiden Parteien auszugehen. Dies ist allerdings die von den Republikanern lancierte Sichtweise, hinter der sie sich verstecken können. So wird es z. B. möglich der Öffentlichkeit zu suggerieren, dass man sich durchaus mit Präsident Obama (oder den Demokaten) verständigen wollte, aber an deren Starrheit scheiterte. Dabei ist der Kurs der Republikaner bewusst ideologisch auf Blockade programmiert, um „den Apparat“ in Washington in die Knie zu zwingen (Bartels 2008, S. 223ff.). Das ist und war längst keine Frage von Inhalten in der Politik, sondern ist eine prinzipielle Strategie, die seit Mitte der 1990er Jahre mit Variationen gilt und mit deren Hilfe der Sozialstaat endgültig an seine Grenzen gebracht werden soll (Ther 2019, S. 43ff.). Die Grenzen des Sozialstaates bestehen nicht in der Zerstörung von Programmen und Verwaltung sondern in deren Aushöhlung. Damit sieht es in der Öffentlichkeit so aus, dass bestimmte Programme, wie Hilfe für allein stehende Mütter, bestehen bleiben aber weder Geld noch Personal besitzen, so dass man dieser unkundigen Öffentlichkeit „beweisen“ kann, dass die Apparate in Washington nicht funktionieren – so jedenfalls nach dem Neokonservativen Irving Kristol, der damit ein konservatives Geheimnis ausplaudert (Hacker/Pierson 2010, S. 233). Was aber bedeutet dann die Existenz der amerikanischen Verfassung neben dem Grundgesetz? Ist diese völlig bedeutungslos,
2.2 Die Politik im neuen Gemeinwesen der USA
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oder sind die hier vorgetragenen Erörterungen über ein angebliches Grundgesetz aus der Luft gegriffen? In öffentlicher Debatte würden die Anhänger und Konstrukteure des Grundgesetzes dessen Existenz natürlich leugnen. Und lachend darauf verweisen, dass die USA eine egalitäre Demokratie sei, wie Tocqueville es schon vor 170 Jahren scharfsichtig erkannt habe. Der amerikanische Traum gelte nach wie vor, Aufstiegschancen seien immer noch in Hülle und Fülle gegeben. Warum zieht es z. B. so viele Einwanderer immer noch in die USA? Außerdem gäbe es ja in Hülle und Fülle zu allen Zeiten Verschwörungstheoretiker, wie mich, die von den geheimen Machenschaften der Reichen erzählen würden: Alles Erfindungen von kranken Gehirnen, usw. Nun, der Leser kann meine Quellen ja heranziehen; dann wären meine Gewährsleute die Verschwörungstheoretiker, denn ich habe nur von selbigen übernommen. Wir müssen froh sein, dass es vor 1945 kritische Wissenschaftler in den USA gegeben hat, die in der geistig freien Atmosphäre des „progressivism“ und später der New-Deal-Epoche, über die Realitäten der amerikanischen Entwicklung berichteten. Aber wenden wir uns dem existierenden politischen System der USA zu.
2.2
Die Politik im neuen Gemeinwesen der USA
2.2 Die Politik im neuen Gemeinwesen der USA Ich bin nicht länger ein Anhänger des Begriffs „politisches System der USA“, weil ein politisches System, um System zu sein, eine gewisse abgerundete „Ordnung“ aufweisen muss. Dies fehlt der amerikanischen Politik. Sie ist uferlos, und damit auch für den Experten aus dem tiefen Innenbereich dieser Politik nicht ganz auszuloten. Allerdings gibt es Experten unterschiedlicher Qualität in den USA, die ihr Expertentum für irgendwelche Klientel schon 19
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einmal bewiesen haben und damit auch mehr Geld verdienen als ihre nachgeordneten Kollegen. Auch auf diesem Feld, wie überall bei der Juristerei (oder der Medizin), gibt es unterschiedliche Fähigkeiten, die sich materiell umsetzen. Amerikaner bezeichnen ihr „politisches System“ liebevoll als die älteste Demokratie der Welt. Ich will ihnen diese Liebe nicht nehmen. Wir können die USA natürlich als eine Demokratie bezeichnen; das hat aber damit zu tun, dass definitorisch der Begriff Demokratie ebenfalls grenzenlos ist. Das Kriterium „freie Wahlen“ gilt als ein beliebtes und klares Kennzeichen einer Demokratie im Unterschied zu einer Diktatur, wo die Wahlen beeinflusst sind, aber schon von vornherein feststeht, dass nur eine Staatspartei zur Wahl steht. Experten haben große Schwierigkeiten mit solchen Definitionsmerkmalen, denn auch in Nordkorea dürfte es Zirkel geben, die mit dem Diktator in einem Austausch stehen und die mit ihrer Macht auch bestimmte Bevölkerungsgruppen damit „am System“ beteiligen. Andererseits sind alle freien Wahlen in den Demokratien durch bestimmte Begrenzungen der gegebenen Möglichkeiten eingegrenzt und damit nicht „so“ frei, wie es eine Ursprungsideologie des Begriffes will. Im Kalten Krieg hat man solche dämonologischen Welten geschaffen, in denen das Gute (die Demokratie, vor allem die amerikanische) gegen das Schlechte, das Böse (die Sowjetunion) stand. Umso schöner die jetzige ironische Situation, wo Menschen wie Snowden aus den USA in den Nachfolgestaat der Sowjetunion fliehen, weil sie sich durch „die Demokratie“ verfolgt fühlen. Also, unbestritten gestehen wir, dass die USA eine Demokratie sind. Auch außer Wahlen lässt sich Vieles für den lebendigen Charakter des politischen Gemeinwesens der USA anführen, das bewundernswert offen ist. Bürgerrechtsbewegungen, Frauenbewegungen, Umweltschutzbewegungen u. ä. sind ein eindrückliches
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Merkmal für lebendige Demokratie, stehen auch nicht im Gegensatz zum soeben charakterisierten „Grundgesetz“. Dennoch, es ist auch anderes zu beachten. Nach ihrer Verfassung weisen die USA in gut parlamentarischer Tradition eine Gewaltenteilung zwischen einer Legislative, einer Exekutive und einer Judikative auf. Die Legislative besteht in den USA bekanntermaßen aus dem Kongress, die Exekutive wird von einem vom ganzen Volk der USA gewählten Präsidenten geführt und die oberste Judikative (der Supreme Court) wird zwar nicht vom Volk aber doch vom Senat gewählt. Dieser wiederum ist der eine Teil der Legislative und besteht z.Zt. aus 100 Senatoren aus den 50 Einzelstaaten der USA. Im Moment ist eine Erweiterung der Staatenwelt der USA nicht abzusehen, aber man könnte spekulieren, dass z. B. Puerto Rico, das den USA territorial „gehört“, den Antrag auf Zugehörigkeit stellt. Bei Akzeptanz durch den Kongress verfügten dann die USA über 51 Staaten und mithin 102 Senatoren. Auch der Senat stimmt für Gesetzesvorlagen mit Mehrheit ab – und damit hätten wir ein Problem. Denn im Senat ist z. B. Kalifornien mit ca. 64 Mio. Einwohnern vertreten und auch Montana mit etwas über 900.000. Beide Staaten schicken je zwei Senatoren nach Washington. Das ist schön für Montana, weniger schön für Kalifornien. Es gibt aber viele Montanas in den USA und nur wenige Kalifornien, z. B. New York. Soll heißen, die Ballungszentren der Wirtschaft sind in diesem Plan benachteiligt. Das war ursprünglich gar nicht die Absicht der Verfassungsväter, aber „heilig“ war das Prinzip, dass jeder „Einzelstaat“ in der neuen zu schaffenden Union ab 1789 gleichberechtigt sein sollte. Wichtig war auch, dass die Sklaven haltenden Staaten des Südens an Zahl gleichstark blieben wie die Nordstaaten. Wie wir alle wissen, schuf dies große Probleme, die letztendlich nicht gelöst werden konnten und zu einem sinnlosen Bürgerkrieg führten. Aber darum geht es hier nicht, sondern darum, dass einer Menge von dünn besiedelten, also landwirtschaftlichen 21
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Staaten, mehr Macht zukommt als den wirtschaftlich entwickelten Staaten. Es lag eben außerhalb des Horizontes der „Verfassungsväter“, diese industrielle Zukunft vorauszusehen. Das nächste Problem mit der Demokratie besteht darin, wie oben schon angedeutet, dass in den USA das Recht über allem zu stehen hat. Nicht nur kann das Recht problematisch sein, auch der Tatbestand, dass Richter die oberste Macht über der Legislative beanspruchen dürfen, schafft ein Demokratieproblem. Man muss konstatieren, dass der demokratische Volkswille in den USA, der zweifelsohne existiert, in einer Weise gebrochen wird, dass dem Grundsatz der Mehrheitsdemokratie nicht entsprochen wird. So lange „das Volk“ dies akzeptiert, wird man es von außen sicherlich auch akzeptieren können. Aber es drängt sich auf, diesen Tatbestand anders als demokratietheoretisch zu deuten, nämlich im Sinne des Modells einer Republik. So verkehrt ist diese Zuordnung auch nicht. Die USA verstanden sich nach ihrer Entstehung eher als eine Republik, denn als eine Demokratie. Bei einem Bevölkerungsanteil von über 90 % von Armen liegt es auch nahe, von Seiten der andern 10 % misstrauisch zu sein (Zinn 1980 und Wilentz 2005). Dies war in der Tat in hohem Maße der Fall. Wenn also im Gesetzgebungsprozess von heute eine sehr geringe Wählerschaft einen großen Teil von durchaus demokratisch gewählten Senatoren stellt und wenn außerdem Gesetze der Legislative durch den „Supreme Court“ kassiert werden können, dann schafft nicht die Demokratie das Gesetz, sondern die Republik. Die Verfassung, die unter dem Motto geschaffen wurde, „We the People“ wollen eine perfektere Union, muss nachträglich so gedeutet werden, dass „We the People“ eine Mischform von Demokratie und Republik geschaffen haben, d. h. ein Gebilde, das mal so und mal so reagiert. Wenn man die USA mithin als eine Demokratie versteht, die hin und wieder auch als eine Republik auftritt, dann hat man ein besseres Verständnis von der Sachlage. Ohne damit
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gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem man etwa entrüstet reagiert und folgert: „das ist keine Demokratie“. Wenn Präsident Obama sich etwa mit einer Kritik an den Justizverhältnissen im Staate Missouri, St. Louis/Ferguson zurückhielt, dann tat er das nicht als der demokratisch gewählte Präsident, sondern als oberstes Exekutivorgan der Republik, in der die Einzelstaaten über viele Belange ihre eigene Souveränität behalten haben. Freilich, was die Analytiker des Modells der Republik immer wieder lobend hervorheben, dass dieselbe über ein hohes moralisches Bewusstsein verfüge, kann ich im Falle der amerikanischen Republik nicht sehen. Ich habe vielmehr ein völlig verfassungsrechtliches Verständnis einer Republik ohne ideologische Unterfütterung.
2.3
Die Anfänge der amerikanischen Republik
2.3 Die Anfänge der amerikanischen Republik Das „Verfassungsrechtliche“ musste sich jedoch erst herausbilden. Es war nicht von Anfang an klar. Der erste nordamerikanische Staat der „Vereinigten Staaten“ existierte nach dem Frieden mit England von 1783–1789. Danach schien es einigen einflussreichen Persönlichkeiten nötig, eine bessere Zentralregierung zu etablieren. Sie ließen sich mit dem Einverständnis der 13 Einzelstaaten den Auftrag erteilen, eine „Verbesserung“ der Verfassung „A more perfect Union“ vorzunehmen. Das war schon das Äußerste, was sie den Einzelstaatsregierungen und deren Legislativen in diesem Moment zutrauten. Sie sollten sich nicht irren. Denn ihr wirkliches Vorgehen, nämlich eine neue Verfassung zu entwerfen, stieß nach Abschluss der „Verfassungsgebenden Versammlung“ von 1787/88 auf erhebliche Kritik, z. T. auf Widerstand. Durch eine kühne Strategie machte die Versammlung die Akzeptanz nicht von der Zustimmung aller 13 Staaten abhängig, sondern von einer Mehrheit (Adams 2000, S. 37ff.). Diese wurde unter viel Unsicherheit 23
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erreicht und Anfang 1789 konnte das neue System der Republik sich in New York etablieren. Die Bundeshauptstadt wurde erst später festgelegt. Wir kommen darauf zurück. Die neuen „Vereinigten Staaten von Amerika“ wählten nunmehr ihre Regierung, die anfänglich noch nicht nach allgemeinem Männerwahlrecht zustande kam, die aber dennoch viele Wähler einschloss, die nur bedingt über Vermögen verfügten. Über Wahlen war auch in der neuen Verfassung weniges geregelt (vgl. Art. I). Denn diese verblieben im Hoheitsbereich der Einzelstaaten. Jedoch war in der Verfassung festgelegt, wieviel Stimmen etwa die sklavenhaltenden Staaten unter Einbezug der Zahl ihrer Sklaven haben konnten, u. ä. Gewählt wurden die „representatives“ – also die Abgeordneten – nach der Bevölkerungszahl ihrer jeweiligen Staaten. Jeder Staat wählte dann durch seine „representatives“ 2 Senatoren, die der zweiten Kammer angehörten. Außerdem wählten sie unter sich die zur Wahl sich stellenden Kandidaten für die Präsidentschaft, aber nicht direkt, sondern über so genannte Wahlmänner, die sich als Mittelsmänner zu den Kandidaten bekannten. Das war alles in allem ein recht misstrauisches System gegenüber dem Souverän. Direkt „vom Volk“ gewählt wurden mithin nur die „representatives“. Diese wiederum waren nur für 2 Jahre gewählt – damit ja keine Machtballung zustande kommen sollte. Auch diese indirekten Wahlen mit vielen Sperren deuten darauf hin, dass die Akteure im Rahmen einer „republikanischen Tradition“ dachten und handelten. Die Wahl des ersten Präsidenten schuf noch kein Problem. Es war klar, dass dem „Helden“ des Unabhängigkeitskrieges diese Ehre zuteilwerden sollte: George Washington. Auch über das oberste Verfassungsgericht machte man sich noch keine großen Gedanken – jedenfalls nicht öffentlich. Die wichtigen Probleme, die anstanden und derentwegen man ja die neue Verfassung angestrebt hatte, waren es, die den Rhythmus und die Richtung der ersten wichti-
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gen Schritte auf dem Weg zu einer etablierten Regierung abgeben sollten. Das Hauptproblem stellten die riesigen Schulden dar, die diese Staatengemeinschaft aufgrund des Unabhängigkeitskrieges angehäuft hatte. Und dieses musste nun einer Regelung zugeführt werden. Außerdem musste „die Verwaltung“ der Regierung stehen, soll heißen, die in der Verfassung vorgesehenen „Departments“ waren einzurichten. Im Grunde genommen waren dies die „Ministerien“ der alten Vereinigten Staaten – genannt „departments“. John Jay war der „Secretary“ des „Department of State“, Henry Knox war der Verteidigungsminister, genannt „Secretary of War“, ein enger Vertrauter General Washingtons aus dem Krieg. Unproblematisch schien auch, dass der brillanteste Kopf des neuen politischen Teams, Alexander Hamilton, zum Finanzminister (gut englisch: Schatzkanzler) ernannt werden sollte. Jedoch tauchte dabei ein Problem auf, das von struktureller Bedeutung war. In der alten Regierung gab es einen „Board of Commissioners“ aus 3 Personen, der dem Kongress unterstand. 1781 – also noch mitten im Unabhängigkeitskrieg gegen England, verlor dieser „Board“ das Vertrauen, resp. der Kongress verlor damit das Vertrauen; und es wurde ein „Superintendent of the Finance“ gewählt, der sofort ins Amt trat aber bereits 1783 vom Kongress qua Misstrauen abgelöst werden sollte. Jedoch das Militär rebellierte gegen diesen Schritt und der Superintendent blieb im Amt. Nunmehr tauchte im kongressionalen Rahmen (also „House of Representatives“ und „Senate“), der sich mit der Struktur auseinandersetzen musste, ein Konflikt auf. Es gab Befürworter für beide Lösungen: Für das Kollektivprinzip oder für die Einzelverantwortung. Da Alexander Hamilton für das Amt vorgesehen war, erübrigte sich mithin hier eine Entscheidung. In der obigen und der kommenden Darstellung folge ich den Ausführungen von Henry Jones Ford in seiner luziden Darstellung der Ereignisse. Fords Studie (Washington and his Colleagues) ent25
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stand 1920 und ist wiederum ein guter Beleg für den weltoffenen und kritischen Geist der Zeit vor den Zurichtungen durch die Hexenjäger von 1938 bis ca. 1958 (Gemeint ist damit die fälschlicherweise so genannte McCarthy-Ära) (Halberstam 1993, S. 49ff.), die vor der Zeit des Senators bereits existierte und auch nach dessen Tod noch anhielt. Indirekt hat sie auch heute noch Gültigkeit, weil sie „die Schere im Kopf führt“, die die Wissenschaft überwiegend in ihrem Denken begleitet.) Die neue Staatsgründung nahm Form an, als im April 1789 James Madison, Abgeordneter aus dem Staat Virginia, das Heft in die Hand nahm und einen Gesetzentwurf vorbereitete, mit dem die staatlichen Finanzen mit Hilfe von Steuern ins Leben gerufen werden sollten. Zwar hatte auch schon der alte Kongress Steuern auferlegt, aber die Debatten im neuen Kongress zeigten, dass hier erneut grundsätzlich entschieden werden musste. Washington war Anfang April noch gar nicht in New York erschienen und war mithin noch nicht vereidigt. Die Regierung war noch ohne ihren exekutiven Kopf. Aber das machte nichts, weil der Kongress und in erster Linie das Repräsentantenhaus über Steuern zu entscheiden hatte. Wie im chaotischen System der Vereinigten Staaten üblich, argumentierte Madison zuerst mit dem obersten „general principle“. Madison legte fest, „Commerce ought to be free, and labor and industry left at large to find its proper object“. Aber einschränkend bemerkte er, dass es unklug wäre, eine solche Bestimmung ohne die Berücksichtigung spezifischer Umstände zu treffen. „Although interest will, in general, operate effectually to produce political good, yet there are causes in which certain factitious circumstances may divert it from its natural channel, or throw or retain it in an artificial one.“ So, als würde er die Zukunft vorausahnen, fügte Madison an, es gebe Fälle “where cities, companies or opulent individuals engross the business from others, by having had an uninterrupted possession
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of it, or by the extent of their capitals being able to destroy a competition“ (Ford 1920, S. 27). Das heißt klipp und klar: Marktkräfte tendieren dazu, den Markt aufzuheben. Dies war eine kluge Einsicht, die freilich immer noch dem merkantilistischen Zeitgeist entsprach. (Man setzt den Beginn des Laissez faire ab ca. 1828 an; vgl. Williams 1988, S. 227ff. ). Adam Smith hatte erst wenige Jahre zuvor, nämlich auch 1776 (dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung), seine berühmte Studie über „The Wealth of Nations“ publiziert. Aber weder bei Smith noch bei seinen Zeitgenossen setzte damit eine radikale Abwendung von der Gemeinwirtschaft einer ganzen Nation noch eine Hinwendung zu einem radikalen Unternehmerkapitalismus ein. Wir werden im Folgenden mehr darüber erfahren. Wir werden erfahren, dass erst im Jahre 1884, also fast 100 Jahre später, ein Richter entscheiden wird, dass die Privatkapitale nicht in allen Fällen als heilig anzusehen sind. Anstatt aber das neue Steuersystem im Geiste von Prinzipien vorzustellen, also einer US-amerikanischen ideologischen Disposition zu folgen, folgten Madison und seine Anhänger dem ebenfalls guten amerikanischen „Prinzip des Versteckens“. Sie brachten die zu erbringenden Steuern und die Steuersätze in „Amendments“ (also Anhängen) unter, die immer wieder auch geändert und ergänzt werden konnten. Die Besteuerungen waren in sich sehr moderat gehalten. Bei den ausländischen Handelspräferenzen fielen niedrige Steuern (Zölle) auf eingeführte Waren an, bevorzugt aus Holland und Frankreich. England, die Macht mit der man gerade Krieg geführt hatte, wurde hintangestellt. Diese Art der Privilegierung wurde im Senat nicht akzeptiert. Der Senat tagte über das Steuergesetz. Aus wohl überlegten Gründen tagte der Senat zu dieser Zeit und für die nächsten 5 Jahre hinter verschlossenen Türen. Der Senator von Pennsylvanien, William Maclay, war ein Beobachter dieser Prozesse und gibt uns Einblick in die tieferen Sphären der 27
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Interaktion. Er berichtet über seinen Kollegen aus Pennsylvanien, dass dessen Nasenflügel und die ganze Nase vor Erregung wie der Kopf einer Viper zitterten. Das heißt, der politische Prozess im Kongress war durch ein hohes Maß an Erregung geprägt. (Auch das hat sich nicht geändert). Die Stimmenverteilung war häufig so, dass der Vizepräsident, John Adams, die entscheidende Stimme abgeben musste. Die Spannung zwischen „dem Haus“ und dem Senat blieb jedoch hoch. Das „Haus“ wollte gerne den Passus über den Handel im Steuergesetz halten, wurde jedoch vom Senat dahingehend belehrt, dass man dies in einem gesonderten Gesetz zu regeln gedächte. (Man erinnere sich: Verträge sind nach der Verfassung Privileg des Senats). Ford interpretiert diese Zurückweisung eines Anspruchs des „Hauses“ als dessen anfängliche Abwertung (Ford 1920, S. 30). Auch darin dürfte er nicht Unrecht haben. Fisher Ames, ebenfalls ein herausragender Abgeordneter aus Massachusetts, beobachtete, dass es drei Arten von Abgeordneten sind, die Probleme bereiten: die Antikräfte zur Bundesregierung, die Anhänger lokaler Vorurteile und die radikalen Anhänger republikanischer Prinzipien (Ford 1920, S. 32f.). Das ist insofern eine gute Beobachtung, als damit sozusagen unvereinbares Denken in parlamentarischen Prozessen diagnostiziert ist und andererseits mit einer Vorstellung von direkter Demokratie aufgeräumt werden kann. Bereits in ihren Anfängen sind politische Menschen Anhänger von politischen Inhalten oder von Denkstilen. Ende 1790 fing Thomas Jefferson an, der im Moment noch nicht in New York anwesend ist, weil er als Botschafter der USA in Frankreich zu tun hat, seine Anhänger im „Haus“ unter dem Namen „Republicans“ zu organisieren. Dadurch konnte dem Chaos individueller Meinungen gegengesteuert werden (Vgl. das Chaos von direkter Demokratie bei Wilentz 2005). Einer, der den „Geist der Opposition“ in sich trug, war der Abgeordnete Ellbridge Gerry von Massachusetts. Er war bereits
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Mitglied im „Continental Congress“ von 1776. Bei den Verfassungsberatungen in Philadelphia 1787 war er auch anwesend und entpuppte sich als überaus strenger Befürworter des Prinzips der Gewaltenteilung. Deshalb sollte in der Verfassung verankert werden, dass die „Heads of the Department“ (also in unserem Sprachgebrauch die Minister) völlig vom Prozess der Gesetzgebung ausgeschlossen sein sollten. Die Mehrheit auf der „convention“ folgte ihm nicht. Nunmehr, im neuen Kongress verfolgte er wiederum dieses Ziel – man sieht, wenn man auf der Ebene der Organisation von Politik erfolglos ist, kann man immer noch in den politischen Prozessen nachhaken. Jetzt ging es insbesondere um das Finanzministerium. Gab man dieses an einen „Secretary“ (Minister) dann war damit die Entscheidung getroffen, dass dieser auf der Seite der Exekutive, also der des Präsidenten, funktionierte. Ließ man andererseits die Finanzen eigenständig von einem „Board“ innerhalb des Kongresses verwalten, dann blieben die Finanzen im legislativen Zuständigkeitsbereich. Aber, stattet den Präsidenten mit Staatsministern aus, “the president will be induced to place more confidence in them, then in the Senate. … An oligarchy will be confirmed upon the ruin of the democracy; a government most hateful will descend to our posteriority and … the … cause of freedom will be frustrated“ (Ford 1920, S. 37). Gerry beging dann den schwerwiegenden Fehler, zur Stützung seiner Sichtweise auf die Wirklichkeit zu rekurrieren. Er lobte nämlich das „Board“-System im alten Kongress. Daraufhin brach die Ordnung in der Diskussion zusammen. Die Beschimpfungen gegen das Board-System oder gegen den Finanzinspektor der Nation nahmen überhand; und es wurde klar, dass es eine vernünftige Lösung für das Problem von staatlicher Autorität einerseits und legislativer Kontrolle andererseits nicht gibt. Diese „Spannung“ wurde freilich nicht in klarer rationaler Sprache sondern in Beschuldigungen und Unterstellungen ausgetragen. 29
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Nachdem die Aussprachen in Ermattung landeten, einigte sich das „Haus“ darauf, dass die „Secretaries“ zwar vom Kongress berufen, aber vom Präsidenten alleine zu entlassen wären. Im altem Kongress, dem „Continental Congress“ hatte es keine Gewaltenteilung gegeben, der „Congress“ war Legislative und Exekutive zugleich. Diese Symbiose wurde aber historisch nicht mehr akzeptiert. Die Trennung zwischen beiden Bereichen war, intellektuell gesehen, beschlossene Sache. In der Trennung ging die Übereinstimmung dahin, der Exekutive den Vorrang zu geben. Das hatte in den USA aber auch informelle Gründe, weil der „große General“ damit geehrt wurde. Wir werden im Folgenden sehen, dass der Kongress sich noch mehr entmachtete. Das geschah im „Fall Hamilton“. Denn dieser stellte nach Ansicht seiner Gegner eine „besondere Gefahr“ für das neue politische Gefüge des Bundes dar. Hamilton war nämlich ein brillanter politischer Stratege und ein guter Redner zugleich. Dringend benötigt wurde eine Lösung des Problems der Schuldverschreibungen während des Krieges. Bürger hatten Schuldverschreibungen akzeptiert. Manche hatten ihre auch wieder verkauft, bevor sie sozusagen (fast) wertlos wurden. Das heißt, sie wurden wie die Staatspapiere eines bankrotten Staates behandelt. Und viele im Kongress sahen darin auch die Lösung. Wer sein Geld für die Revolution angelegt hatte, der hatte nunmehr auch den von ihm gewünschten Staat usw. Andererseits waren manche Staaten, wie South Carolina oder Massachusetts, vom Krieg stärker betroffen als andere. Man hatte Hamilton, der das Puzzle lösen sollte, als „Secretary of the Treasury“ etabliert. Washington war inzwischen in New York eingetroffen, und am 30. April 1789 als Präsident eingesetzt worden. Sein Wohnsitz war in der Wallstreet, Hamilton war Offizier in der Armee gewesen und ein Vertrauter des Präsidenten. Außerdem wohnte er in der Nähe des Kongressgebäudes und stimmte sich häufig mit Madison auf langen Spaziergängen ab. Beide Männer waren nicht besonders
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groß, im Vergleich zu Washington und Jefferson, aber von einem sehr beweglichen Geist. So nahm das Schicksal denn seinen Lauf. Der neue „Finanzminister“ hatte innerhalb weniger Tage seinen Plan, wie man von der immensen Staatsschuld von über 50 Mio. USD wegkommen könne, fertiggestellt. Im „Haus“ jedoch wurde eifrig debattiert, ob der bedeutende Minister (Titel: Secretary) seinen „report“ vor dem Haus mündlich erteilen dürfe. Und da erwies sich James Madison als ein Kleingeist. Er fürchtete die gewaltige Wirkung der Rhetorik von Alexander Hamilton und hielt sich bei der Debatte um das Für und Wider in der Frage des persönlichen Erscheinens von Hamilton eher pessimistisch bedeckt. Einer der Abgeordneten brachte schließlich die Lösung. Statt einen „report“ vor dem „Haus“ zu liefern sollte der Minister nicht berichten, sondern „prepare a report“. Dies wurde begrüßt, und dem armen Minister wurde aufgebrummt, seinen Report schriftlich zu verfassen. Bei der Tüchtigkeit von Hamilton stellte dies kein Problem dar. Und in wenigen Tagen lag sein Bericht dem „Haus“ vor. Das politische Problem, das sich hier stellt und das von unserem Autor, Henry J. Ford, klar angesprochen wurde, war, wie eine Rede vor dem Parlament wirken würde und wie die Wirkung einer Diskussion für den politischen Prozess zu beurteilen wäre. Die Subtileren im „Haus“ erkannten, dass, wenn der Minister nicht vor dem „Haus“ auftreten würde, sondern lediglich eine schriftliche Unterlage abgäbe, dies zwar den Vorteil hätte, dass man schwarz auf weiß die Festlegungen des Ministers vor sich hätte, dass aber hinter dem Rücken seines Dokuments er quasi frei wäre mit dem Rest der Exekutive – oder gar ganz anderen Mächtigen im Land, man denke nur an wirtschaftliche Kräfte – zu kommunizieren. Das heißt, hier bildete sich eine Struktur heraus, bei der die Exekutive an wahrer Macht gewann, die Legislative sich aber ein Bein gestellt hätte. Kurzum: Es gab in der Folge noch glänzende Redeschlachten im amerikanischen Kongress, 31
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aber sein wirklicher Einfluss ebbte ab, bis auf die Funktion, Lärm zu produzieren. Auch der politische Lärm wurde sofort installiert. Die brillante Gesetzesvorlage zur Abtragung der Staatsschuld wurde gelesen aber nicht verstanden. Sie war so diffizil, dass man Hamilton verdächtigte, er wüsste selbst nicht wie man mit den Schulden umgehen sollte. Die Reden, die dann ohne Anwesenheit des Ministers erfolgten, waren von Ignoranz, Arroganz und ganz einfach einer Menge von abenteuerlichen Unterstellungen geprägt. Die schlimmsten Auswüchse der direkten Demokratie kamen wieder zum Tragen, nämlich ein lokaler Individualismus der Destruktion von Meinungen der anderen. Hamilton in der Diskussion hätte als Filter gewirkt. Die Gesetzesvorlage des Ministers ging von dem klaren Prinzip aus, dass der neue Staat international als verlässlicher Partner, der „seine Schulden bezahlt“ (siehe Griechenland) anerkannt sein müsste, sonst würde kein anderer Staat den „Kredit der USA“ als einen Wert ansehen. Manche der Abgeordneten waren eher der Meinung, man sollte die Dummköpfe, die dem „alten Staat“ Vertrauen entgegengebracht hatten, ruhig schröpfen. In dieser Meinung drückte sich eine wohl weltweite Erfahrung aus, dass es den Kreditnehmern am besten ging, wenn durch Inflation oder andere Maßnahmen das Geld für diese Gruppe verbilligt würde. Man kam also zu keiner Entscheidung hinsichtlich der Schuldengesetzgebung. Es stand jedoch noch ein anderes Problem an. Eine Hauptstadt sollte für die neue Union errichtet werden, die auf dem Gebiet der Staaten Virginia und Maryland gelegen sein sollte und ein Rechteck von einer bestimmten Größe am Fluss Potomac umfasste. Die genaue Lage dürfe Präsident Washington selbst bestimmen. Diese wunderschöne Phantasterei über die Zukunft einer Hauptstadt wurde konsensual von allen Kongressmitgliedern getragen und konnte als Gesetz schnell verabschiedet werden. Die Führung
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in der Politik, mithin auch Jefferson, der neue „Secretary of State“ und Madison als der erfolgreichste Meinungsführer im „Haus“, unterstützten den Plan; aber sie taten noch mehr. Als einen Anhang zu diesem Gesetz fügten sie den Gesetzentwurf über die Schuldenabwicklung von Hamilton bei. Wieviel Abgeordnete und Senatoren sich dieser Sachlage bewusst waren, kann nur spekuliert werden. Da zwischen Jefferson, dem angehenden Parteiführer der Agrarpartei (Republican Democrats), und Hamilton allmählich eine stabile Abneigung herrschte, wunderten sich alle, dass Jefferson diese Abstimmung gut hieß und sogar bekräftigte, da habe er doch wohl „unbewusst“ etwas Positives für Hamilton getan. Man sieht, hier hat Politik in ihren Anfängen bereits eine Reife erreicht, die auch von den heutigen Intrigen in Washington, D.C. nicht übertroffen wird. Die politische Macht war somit einseitig von der Legislative auf die Exekutive übergewechselt. Nach der Verfassung war das „House of Representatives“ eindeutig für die Gesetzgebung zwar zuständig, aber wo die Gesetze nun wirklich entstanden, das war eine Frage, der man kaum nachgehen konnte, weil hier das „Verstecken und Verbergen“ in der US-amerikanischen Politik zu einer wahren Kunst ausgebaut wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts, im „Gilded Age“, gab es Politiker, die sagten, dass alle Gesetzgebung von den Parteibossen außerhalb des Parlaments gemacht würde. Auch dies war ein Beleg für die politische Ehrlichkeit, die noch im „Progressivism“ um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert vorhanden war. Unser Autor Ford ist sogar der Meinung, dass es Jeffersons größte politische Leistung war, das Hamiltonsche Gesetz zu lancieren – gegen den vorherrschenden politischen Kleingeist – im Vergleich zu seinem Scheitern mit der Intention der „Unabhängigkeitserklärung“ – hört, hört -. Ford nimmt ihm aber übel, dass er sich nicht offen zu Hamiltons Leistung bekannte,
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sondern seinen Beitrag gleichsam als eine Begebenheit unter Unachtsamkeit ablegte. Aufgrund der Art und Weise, wie der Kongress sich entmachtete und die „Spielregeln“ setzte, brachte er selbst ein System zum Laufen, das nur als ein Regelapparat von „checks und balances“ zu verstehen sei. Das hört sich zwar gut an, aber ich plädiere dafür, diesen Begriff nur mit Vorsicht zu gebrauchen und stattdessen von „politischer Komplexität“ als vornehmem Ausdruck, und von „chaotischer Mannigfaltigkeit“ als weniger höflicher Phrase zu sprechen. Am besten ist es, amerikanische Politik, soweit möglich, als einheitliche Akte mit vielen Akteuren in Netzwerken zu untersuchen. Ein amerikanischer „staffer“ im US Kongress sagte mir einmal: „Nothing in politics matters“. Das ist ein fast europäischer und kritisch pessimistischer Blick auf amerikanische Politik, aber er ist dennoch übertrieben. Es kommt immer etwas zustande bei der Höhe der Budgets und der Verschuldung des amerikanischen „Staates“, aber wir werden im Folgenden noch feststellen, in welcher Komplexität mit welch geringen Folgen für eine strukturierte und zielgerichtete Politik diese Art der Politikgestaltung durchgeführt wird. Zudem ist es wichtig, noch einen Gedanken zu verfolgen: Wir sind zwar von der Schwächung des Kongresses, also der Legislative grundsätzlich und im Allgemeinen durch die erwähnte Etablierung der Spielregeln ausgegangen, aber es gibt in der Verfassung gewichtige Punkte, etwa die Validierung von Verträgen, die es der Regierung erschweren, mit ausländischen Mächten oder gar internationalen Institutionen kompetent zu verhandeln. Wir sehen dies an allen möglichen Punkten, ohne es häufig zu verstehen. Der Fall, an dem sich das verdeutlichen lässt, spielte im Jahre 1794 eine Rolle. Da war bereits die zweite Administration von Washington im Amt, aber es gab immer noch Probleme, den Friedensvertrag mit England von 1783 voll zu implementieren. Stein des Anstoßes waren amerikanische
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Forderungen nach Entschädigung für die entlaufenen Sklaven, die unter britischem Schutz standen, und die britischen Forts im Nordwesten des neuen Territoriums der USA aufzugeben. Ansonsten, so der Kongress, dürften keine Schulden an England, die von USamerikanischen Bürgern zu zahlen wären, abgeführt werden; auch Embargos – also An- oder Auslaufverbote von Schiffen – wurden initiiert. England antwortete kühl, die Zahlung von Schulden sei bereits im Friedensvertrag vereinbart und würde bei Erledigung mit dem Abzug der britischen Truppen aus dem Territorium der USA beantwortet. Für die ehemaligen Sklaven würde man nichts bezahlen, denn nach englischem Recht waren Sklaven, die unter die britische Flagge gerieten, freie Menschen und keine Waren. Präsident Washington schickte John Jay, den damaligen obersten Richter, nach England, um das Problem zu beseitigen. Jay wusste wie schwierig es war, eine Regelung des Kongresses zu umgehen, und erreichte eine englische Zustimmung dazu, ihre Posten im „Northwest Territory“ in zwei Jahren aufzulösen, falls die Schulden beglichen wären. Jay gelang dieses Kunststück: unser Autor Ford aber moniert die „defective sovereignty“ der USA, die sich in diesem Fall im Verhältnis von Kongress und Regierung einstellte. Jedoch auch die „Defekte Souveränität“ im Verhältnis zu den Einzelstaaten ist beachtlich. Vieles an Kompetenzen wurde im Bürgerkrieg zugunsten der Bundesregierung entschieden, aber wir werden sehen, was dabei außen vor blieb. Viele der Mechanismen, die von Madison gleich zu Beginn der neuen Regierung etabliert wurden, erwiesen sich als äußerst nützlich, um die Brücke von der Verfassung zur Administration zu schlagen. Das Denken der „Verfassungsväter“ war sehr im naturgesetzlichen Verständnis der Newtonschen Physik befangen, und man glaubte, dass verfassungsmäßige Regeln von selbst ihre Regelung erzwingen würden. So wie heute noch der Streit um die „originale“ Auslegung der Verfassung bei Gesetzen geht – als sei ein Gesetzesverständnis ohne Inter35
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pretation von Texten möglich. Weniger gelungen war dann jedoch der Umgang mit den administrativen Umsetzungen im politischen Prozess. Das Fehlen von parlamentarischen Parteien verringerte den zivilen und effektiven Umgang mit politischen Materien. Hier trat dann das Gesetz „nothing in politics (should) matter“ in Kraft, weil die destruktive Kraft von Regionen und Interessen Politik verkrüppelte und allein ökonomistische Lösungen zuließ. Ohne die große Depression Ende der 1920er Jahre hätten die USA es schwer gehabt, eine „aktive, gestaltende Politik“ zu initiieren. Zur Abrundung jedoch noch eine Episode aus der Außenpolitik der neuen Republik, die ebenfalls von Ford klarer dargelegt wird als man sie in vielen „textbooks“ findet. 1783 war der „Unabhängigkeitskrieg“ mit England beendet worden und symbolträchtig wurde der Friedensvertrag in Paris abgeschlossen. Dies war ein grandioses Ergebnis für das französische Königtum, das ja den Unabhängigkeitskampf der Amerikaner mit unterstützt hatte. Leider nützte dies dem französischen König wenig, weil er 6 Jahre danach entmachtet und wenig später geköpft wurde. Der Vertrag mit England sah vor, dass die neuen Vereinigten Staaten keinen Feind Englands unterstützen würden. Aber auch mit Frankreich wurde ein Vertrag geschlossen, der vorsah – zum Dank für die gegebene Unterstützung – Frankreich in Zukunft zu unterstützen. Das sieht auf den ersten Blick recht harmlos aus, sollte sich aber besonders ab 1789 – bei Ausbruch der Französischen Revolution – als katastrophal auswirken. Der alte Hegemonialkrieg zwischen diesen beiden Mächten brach wieder aus und Frankreich forderte die amerikanische Unterstützung gegen England. Die USA suchten aber ein gutes Einvernehmen mit England, weil man sich zu Recht viel von einer Zusammenarbeit mit der wirtschaftlichen Großmacht England versprach. Als das Dilemma so richtig offensichtlich wurde, war Jefferson als „secretary of state“ in großer Verlegenheit. Er schob die anfallende Unterstützung für Frankreich mit der Be-
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gründung hinaus, man wolle Frankreich ja gern unterstützen, aber von den Naturgesetzen her gesehen, sei jeder Staat naturgesetzlich zum Frieden verpflichtet! Wozu Naturgesetze nicht gut sein können! Frankreich schickte sogar einen Emissär in die Staaten, der dort „das Volk“ für Frankreich gewinnen sollte. Dies erwies sich als recht leicht. Der „Bürger Genet“, so sein Name, bewirkte gar, dass revolutionäre Clubs erneut in den USA entstanden, da die amerikanischen Bürger ja noch vom Gefühl der Feindschaft gegen England durchdrungen waren. Jefferson musste sein ganzes Geschick als ehemaliger Gesandter am französischen Hof aufbieten, um eine Entscheidung über ein US-amerikanisches Engagement hinauszuschieben. Sein naturrechtlicher Eiertanz wurde dabei über alle Maßen strapaziert; aber er hatte Glück. Die Dynamik der französischen Revolution kam ihm zu Hilfe; der „Bürger Genet“ fiel nämlich beim französischen Revolutionsrat in Ungnade und wurde nach Frankreich zurückbeordert. Genet entschied sich jedoch, in den USA zu bleiben und dort reich zu heiraten. Somit ging der Kelch an Jefferson und an den USA vorbei. Die Ironie der Geschichte besteht jedoch darin, dass Präsident George Washington bei seiner „farewell adress“ das Resultat dieses außenpolitischen Schlitterns als reifes Ergebnis „weiser Überlegungen“ verkündet: Die USA sollten künftig vermeiden, sich in „entangling alliances“ einzubinden. Das bedeutet zwar, das richtige Resultat aus diesem stümperhaften diplomatischen Verhalten abgeleitet zu haben; in der Folge freilich wurden die Worte des Generals als das „weise Vermächtnis“ des „Vaters der Republik“ gefeiert. Jedoch auch diesen historischen Trost kann Henry J. Ford nicht ohne weiteres stehen lassen. Die Querelen, Intrigen und gehässigen Sichtweisen hatten damals schon in der Politik Struktur gewonnen. Ein Teil der Öffentlichkeit amüsierte sich über den Titel „Vater der Republik“. Ja, er sei wohl der Vater der Republik, aber besser mit dem Titel „Stiefvater“ bedient. Realistisch betrachtet 37
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konnte Washington als recht erfolgreicher erster Präsident der USA durch die Geschichte schreiten; aber er war dies, weil er ein eher zurückhaltender Präsident war. Viele aggressive politische Maßnahmen überließ er seinem Vertrauten Alexander Hamilton und versteckte sich mithin hinter diesem. Alexander Hamilton starb früh, ohne damit in seiner wirklichen Bedeutung erkannt zu werden; er starb im Duell für die Ehre einer Frau unter der Präsidentschaft von Thomas Jefferson nach 1800. Sein Duellant war der Vize von Jefferson, Aaron Burr (vgl. Gore Vidal, Burr. Gore Vidal war ein Onkel von Clintons Vizepräsident Al Gore). Andererseits gilt Hamilton zu Recht als der wahre Gründer der imperialen Republik USA, weil er für die Industrialisierung der USA eintrat und außerdem einer starken Marine das Wort redete. Letztere ließ zwar über ein Jahrhundert auf sich warten, aber die Industrialisierung wurde, wie im Folgenden in Grundzügen zu sehen, spektakulär erreicht. Der „Stiefvater der Nation“ wurde in der Tat wenig geehrt. Erst im Jahr 1853 erinnerte eine Dame der Gesellschaft daran, dass sein ehemaliger Wohnsitz, Mount Vernon, im Verfall begriffen sei, und rührte die kommerzielle Nation dazu auf, neben dem Geldverdienen auch noch die Würde des „höchsten Amtes“ der USA zu ehren (Gabriel, S. 98). So wurde er – eigentlich unverdient – doch noch zum Vater der Republik. Aber das „Uneigentliche“ teilt er mit vielen anderen Ausprägungen der US-amerikanischen Symbolik.
2.4
Was machte den Erfolg der amerikanischen Entwicklung aus?
2.4 Erfolg der amerikanischen Entwicklung Dies ist eine spannende Frage. Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus (Deutschland) und den Autoritarismus (Japan) 1945 traten die USA als eine Weltmacht auf den Plan, der man vom
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zerstörten Europa aus nur mit Staunen und ehrfürchtiger Bewunderung begegnen konnte. Die Austauschstudenten Europas kamen in Verhältnisse, wo sie bei fröhlichen Mittelklasseeltern untergebracht waren, die alle optimistisch die eigene Lage beurteilten und eine rosige Zukunft vor sich sahen. Im Fernsehen gab es Werbung für Kaugummi, das man selbst auch kauen durfte. Erstaunlicherweise gab es wohl kaum Geschichten darüber, dass im Jahre 1938 in der wieder aufgeflammten Wirtschaftskrise Menschen auf den Straßen verhungerten. Es gab auch keine Geschichten darüber, dass mächtige Organisationen in den USA dies als ein Naturgesetz betrachteten, dem einfach nichts entgegen zu setzen war. Zwar gab es den Präsidenten Roosevelt, der versucht hatte, diesen fundamentalen gesellschaftlichen Notlagen ein Ende zu bereiten; er hatte jedoch nur begrenzten Erfolg gehabt. 1938 gab es noch (oder schon wieder) 10 Millionen Arbeitslose in den USA. Jetzt freilich mit einer geringen Unterstützung für die Industriearbeiter – dies zumindest hatte Roosevelt schon geschafft. Ein soziales Netz war errichtet, wie minimal seine Leistungsfähigkeit auch immer war. Ähnliches wird vielleicht nach 50 Jahren über Präsident Obama gesagt werden, der eine Krankenversicherung für alle auf die Beine stellen konnte, die ihre Wirkung entfalten wird. Als „Obama Care“ wird sie z.Zt. in der Öffentlichkeit diskreditiert, kostete ihn den Sieg bei den Zwischenwahlen des Jahres 2014 und hat der Demokratischen Partei u. U. auch den Sieg bei der Präsidentschaftswahl im November 2016 gekostet. Die zwei Jahre dazwischen regierte Obama als so genannte „lame duck“, als lahme Ente, die nichts mehr auf die Beine stellen konnte. Das war dann der Fall, aber es macht so gesehen wenig, weil der Präsident ab 2016 einen Wall aufbauen konnte, um die Begehrlichkeiten der Republikaner durch seine „institutionelle Macht“ ein Veto gegenüber (wörtlich lateinisch: „Ich verbiete“) bestimmten Gesetzen des Kongresses auszuüben. Hier haben wir ein Beispiel einer institutionellen 39
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Regelung aus der Verfassung heraus, die man als eine Struktur in der amerikanischen Politik ansehen kann. Solche Mechanismen gibt es zuhauf und sie zeitigen Wirkung. Allerdings gibt es keine Chancen, solche „institutionellen Mechanismen“ in eine bestimmte Richtung zu bündeln und damit kumulativ ein Gemeinwohl aufzubauen, das letztendlich eine in sich harmonische Gemeinschaft bewirken könnte. Die USA bestehen gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell aus Gegenkräften, die nicht am Gemeinwohl, sondern am Zerstören der Möglichkeiten der Anderen interessiert sind. Ein Analytiker des Wahlsystems brachte dies auf die Formel: „You have to know who hates whom“! Wenn man die Wahlkämpfe, besonders in den Jahren wo auch der Präsident zur Wiederwahl ansteht, beobachtet, dann weiß man, welche Energien an Hass da aufgebaut werden. Freilich werden wir im Kommenden nicht nach dem Muster verfahren, dass Menschen sowohl hassen und auch lieben können und dass dies mithin natürlich sei. Diesen Formalismus, der seit 1945 Einzug in die Sozialwissenschaften in den USA gehalten hat, werde ich hier zurückweisen. Die Kräfte des Hasses sind im Folgenden zu bezeichnen und sind in ihren groben Potenzialen erkannt. Zurück zur Ausgangsfrage: Wie schafften es die USA, dass sie nach 1945 als der strahlende Sieger des Weltenlaufs erschienen? Sie waren ja nicht nur einer der militärischen Sieger sondern sicherlich auch weltweit das Ziel aller Sehnsüchte und Phantasien. Hier zeichnete sich eine konsumorientierte Mittelstandsgesellschaft ab, deren Existenz niemand so für möglich gehalten hatte (Schissler, 2019). Nicht nur schien das Ende allen Elends in Sicht, nein, es gab einen Überfluss, dessen Ende gar nicht absehbar war. Und schon deutete sich für die 1950er Jahre ein Autoboom an, der mit dem Eigenheimboom koordiniert werden konnte zur besten aller Welten (Schissler 2019, S. 31ff.). Allerdings darf man gleich hinzufügen, dass die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer auf das gleiche
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Modell einschwenkte und mit ein paar Jahren Verzögerung ein ähnliches Wohlstandsniveau erreichte wie die USA. Unter Umständen war sogar die Güterqualität in Westdeutschland höher als in den USA. Aber das soll uns nicht weiter beschäftigen. Wir fragen immer noch, woher und wie entstand dieser Reichtum in den USA. Er verdankte sich sicherlich zweierlei. Einer menschlichen Energie und der Beschaffenheit des nordamerikanischen Kontinents. Er verdankte sich nicht der Art und Weise, wie die Besiedlung des Kontinents vonstattenging und wie die Verwendung der Ressourcen organisiert war. Die menschliche Energie war gegeben durch das Vorbild der englischen Industrialisierung, die wiederum auch kulturelle Vorbedingungen hatte. Man kann ganz vage und vorsichtig vermuten, dass der nordeuropäische Protestantismus dabei eine Rolle spielte. Ein geordnetes und nüchternes Leben zu führen mit Sparsamkeit und Fleiß usw. – mit all den Tugenden eben, die der Protestantismus in seiner Sauertöpfigkeit den Menschen auferlegte. Man kann dies mit Sicherheit formulieren, weil die südeuropäische Welt des Katholizismus zwar auch Erfindungen vorzuweisen hatte, diese aber nicht über viele Jahrzehnte hinweg in unternehmerisches Potenzial einmündeten. Ganz anders der Impetus des kleinen englischen Königreiches. Dort bestimmten die Könige einen harten Sparkurs aber auch eine innovative Wirtschaft, die man den Merkantilismus nannte, und der darin bestand, dass alles was überschüssig produziert wurde am besten in den Export ging, um damit an Gold und Geld (Werte) zu kommen. Wie bekannt, setzte man nicht auf den Handel allein, sondern beraubte genauso gern die spanische Flotte, die mit Gold beladen von Südamerika ihre Heimathäfen in Spanien ansteuerte. Viel an Geld kam auch in Spanien an, aber es wurde nicht zur weiteren Kapitalakkumulation umgesetzt. Spaniens „institutionelle Mechanismen“ wirkten anders als jene in England (und später in Nordeuropa und den USA). Der 41
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Erwerbstrieb der nordamerikanischen Siedler war der dynamische Faktor der Entwicklung. Hunger nach Vermögen trieb die Siedler um. Einige wurden statisch als sie ihr Ackerland in Besitz nahmen, aber das Modell des selbstgenügsamen Farmers (Yeoman) war nicht das zukunftsträchtige. Erfindungsreichtum und Handel mit der ganzen Welt, etwa von Boston aus oder von anderen Städten in Massachusetts – das war der richtige Weg (Boorstin, 1965, S. 15f.). Eis wurde in die Karibik exportiert, um dort die Waren und Getränke zu kühlen. Melasse (ein Zuckerrohrrohprodukt) wurde zur Rumerzeugung eingeführt. Und wenn möglich an der englischen Zollkontrolle vorbei geschmuggelt. Soll heißen: Handel, Raub und Betrug bildeten eine Einheit – wie auch heute noch. Der „edle Kaufmann“ ist ein literarisches Produkt. Als unabhängige Größe erwies es sich, dass der nordamerikanische Kontinent sehr viele Möglichkeiten der Ausbeutung bot. Es gab Bodenschätze, aber den Ausgang bildeten doch Agrarprodukte. Und lange nach der Unabhängigkeit von England – im beginnenden 19. Jahrhundert –, war noch viel englisches Kapital erforderlich, um die Infrastruktur an der nordamerikanischen Ostküste zu entwickeln und den Verkehr und Transport ins westliche Inland zu schaffen (Lipset 1963, S. 46ff. und Schissler 2019, S. 107ff.). Am Beispiel Pennsylvaniens zeigt der amerikanische Historiker Louis Hartz sehr differenziert auf, was alles vonnöten war, um die wirtschaftliche Entwicklung über Krisen hinweg zum Erfolg zu bringen (Hartz 1948, vgl. generell: Lipset 1963 und Schlesinger 1986, S. 219ff.). Dafür waren verschiedene Prozesse erforderlich. In den Einzelstaaten der USA gab es weitgehend staatliche Unabhängigkeit von der Bundesregierung in Washington. Das heißt, ein Staat wie Pennsylvania operierte als eine politisch-ökonomische Einheit – in einem gewissen Sinne. Denn der Handel griff natürlich schon über die Staatsgrenze hinaus und auch die Produktion etwa von Agrargütern (sprich Weizen für Whiskey) wurde von den
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Farmern strategisch über Landesgrenzen hinweg gesehen. An sich schon reiche Leute wollten natürlich den Handel monopolisieren, aber man brauchte zuvörderst ein Transportsystem. Dazu war Kapital und staatlicher Schutz vonnöten. Zudem benötigte man Banken, die das Kapital bündeln konnten. Sodann brauchte man den Staat, der eine „Charter“ genehmigte, also eine feste Zusage für eine bestimmte Investition in einen Kanal, in Brücken oder in private Überlandstraßen (Turnpikes). Die Charter sicherte das wirtschaftliche Unternehmen politisch ab. Nun könnte man sich den Vorgang als eine geordnete Landesplanung vorstellen, zum größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl. Dies war aber mitnichten so: Über diese von dem Engländer Jeremy Bentham entwickelte Theorie waren die Einzelkapitalisten in Pennsylvania recht erbost. Denn in allererster Linie fürchteten sie um den Einsatz ihres eigenen Kapitals. Die Kapitale der damaligen Zeit waren noch so gering, dass sie nur für bestimmte Zwecke eingesetzt werden konnten. Und das musste sich rentieren. Also setzten die Kapitaleigner nicht unbedingt auf das Landesparlament für ihre Charter, sondern auf politische „Bosse“, die ihnen die Lizenz verschafften. Freilich hatten auch Regionen oder Städte ihre Bosse. Kurzum, die politische Einheit Einzelstaat trägt für die damalige Zeit, bis Ende des Bürgerkrieges (1865), nicht sehr weit zur Erklärung wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Handlungseinheiten waren verbündete Einzelkapitalisten in Städten mit ihren politischen Unternehmern und ihren Banken. Recht bald schon standen sich in Pennsylvanien die Städte Philadelphia und Pittsburgh in Konkurrenz gegenüber. Pittsburgh setzte zudem auf eigene Transportwege auf dem Ohio und bis nach New York, welch selbiges drohend über der ganzen Region hing. Zudem entwickelte sich Baltimore in Maryland zu einem gewichtigen Konkurrenten. Es herrschte also das normale Chaos, bezwungen durch Intrige, Bestechung, Korruption, Betrug, die 43
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richtigen Ideen zur rechten Zeit und eine außerordentliche Portion Glück. So wurden manchmal Transportwege und Brücken, Kanäle, Eisenbahnen und Eisenträger gegen alle Widrigkeiten und mit viel Energie erstellt, zum Preis, dass viele unternehmerische Talente zwischenzeitlich gescheitert waren. Andere waren mit Nichts dazugekommen und gingen mit 100.000 USD davon – so zumindest die Vorstellung der Zeitgenossen. Der dynamische, kapitalistische Prozess war mithin äußerst riskant und nicht recht kalkulierbar – trotz Charter und Banken. Dennoch aber kann man festhalten, dass, wenn alles schief lief, doch ein Endprodukt erstellt war: Kanäle, Transportwege, Eisenteile und Banken als deren Besitzer. Wir können dies als das Fazit der amerikanischen Entwicklung nehmen. Der Weg der Entwicklung war alles andere als erhebend, die Resultate jedoch waren es. Der Gang über den Kontinent war eine ökologische Katastrophe wie Marx meinte (nicht Karl oder Goucho, sondern Leo).
2.5
Der Schutzzolltarif
2.5 Der Schutzzolltarif In Ergänzung zum vorher Gesagten ist die Materie Schutzzolltarif das Wesentlichste was über amerikanische Politik gesagt werden kann und muss, noch wesentlicher als der „New Deal“ unter Präsident Franklin Delano Roosevelt – obwohl diesem eine ebenfalls sehr große Bedeutung zum Verständnis der USA zukommt (zusammen mit der Gegenbewegung, die uns die heutige Zeit verdeutlicht). Deshalb ist es nur schwer verständlich, dass in der deutschen historischen Analyse der USA im 19. Jahrhundert diese Phase, gleichgewichtig wie andere Phasen auch, besprochen und additiv den Ereignisketten beigefügt wird. Der Schutzzoll durchzieht wie ein roter Faden die gesamte Geschichte der USA im 19. Jahrhun-
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dert. Andere Themen, wie die Westwärtsbewegung, die Industrialisierung, die Einwanderung, der Protest der Populisten lassen sich allesamt nicht richtig einordnen, wenn man den Kontext des Schutzzolls nicht berücksichtigt. Auch die Dominanz der Republikanischen Partei nach dem Bürgerkrieg ist ohne die Existenz dieser Strategie nicht erklärbar. Vor allem aber, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, ist der Bürgerkrieg und die vorhergehende Bewegung der Abschaffung der Sklaverei ohne Rekurs auf die Zollfrage nicht plausibel zu thematisieren.
2.5.1 Das System einer nationalen Wirtschaft In den jungen Vereinigten Staaten gab es schon große Städte, wie etwa Philadelphia in Pennsylvanien, New York war auch schon bedeutend, Boston war es auf jeden Fall und früher als die beiden genannten. Kurzum, der Reichtum der Städte bestand im Handel. Mit dem Handel verbunden sind die Banken. Reiche Leute aus Banken und Handel benötigen bestimmte Güter und Fähigkeiten (Hausbau, Schiffsbau). Somit gab es auch schon Manufakturen, wie die Gewerbebetriebe größerer Art genannt wurden. Jedoch war dies noch alles bescheiden entwickelt im Vergleich zum großen Wirtschaftsbereich der Landwirtschaft. Von daher rührt natürlich auch die arrogante Sicherheit der Anhänger von Thomas Jefferson, dass seine Partei, die „Republican Democrats“, für „immer“ die Mehrheit in der Wahlbevölkerung stellen würden und die reichen Leute, die für die Bundesverfassung eingetreten waren, die „Federalists“, auf lange Zeit hin am langen Zügel gehalten werden konnten. Dies sollte sich in tragischer Weise bewahrheiten, denn die Dominanz der Landwirtschaft in der amerikanischen Politik führte in komplizierter Weise zum Bürgerkrieg. Der in der Sicht vieler Experten bedeutsamste Politiker der USA, Alexander Hamilton, kam aus 45
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New York und war ein Repräsentant der Handels- und Bankenwelt. Sein Blick war auf England gerichtet; und er kritisierte den unterentwickelten Zustand der nordamerikanischen Republik. In einer Denkschrift für den Kongress wies er der Nation den Weg, nämlich mit Hilfe eines aktiven Staates das Manufakturwesen zu stärken (Hamilton in Boorstin 1966, S. 196ff.). In den späten 1790er und 1800er Jahren hörte kaum jemand auf ihn. Er galt vielmehr als eigensüchtig und hinterhältig – als ob das nicht alle zu jener Zeit und unter den vorhandenen Bedingungen gewesen wären (und auch heute noch sind). Insofern war sein unmittelbarer Einfluss auf die Politik noch gering. Dominant waren die „Jeffersonians“, die eher die politische Stärke den Einzelstaaten vorbehalten lassen wollten; und die die Gefahr sahen, dass ein zentralstaatliches Übergewicht der Regierung zu Lasten der Landwirtschaft gehen könnte. Insoweit war die Partei der Landwirtschaft überhaupt misstrauisch gegenüber der Politik und wollte den minimalistischen Staat. (Erst nach ihrem Übergewicht hat die Großindustrie die Philosophie des Minimalstaates übernommen; und die „ärmeren“ Schichten verlangen nach einem gut funktionierenden Zentralstaat – den sie aufgrund der Machtverhältnisse aber nicht bekommen). Den in Hamiltons Tradition stehenden Befürwortern eines aktiven Staates zum Zwecke der nationalen Entwicklung kam der Zufall zu Hilfe. Aufgrund nichtiger Anlässe kam es 1812 zum letzten Krieg zwischen England und den USA. Bis dahin hatten die Amerikaner mangelnde Produktion im Inland durch englischen Import ausgleichen können. Nunmehr aber verhängte England eine Blockade über die amerikanischen Seehäfen; und im Lande machte es sich bemerkbar, dass man ein industriell unterentwickeltes Land war. Alle Anstrengungen richteten sich nunmehr darauf, die eigene Industrie – vor allem die Manufakturen – zu entwickeln. Deren Produkte waren schlechter und teurer als die englischen, wie vor allem die Wortführer der Landwirtschaftspar-
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tei, nämlich die reichen Plantagenbesitzer aus dem Süden deutlich bemerkten. Als der Krieg 1814 zu Ende ging und sich zwischen den beiden Nationen USA und England ein recht gutes Verhältnis entwickelte, dachten gerade auch die politikmächtigen Südstaatler nicht daran, länger die „minderwertige“ Eigenproduktion zu hohen Preisen zu kaufen. Auch die kleinen Farmer mit ihren sehr, sehr geringen Einkünften waren sich klar bewusst, dass sie die Zeche, sprich die „überteuerten“ Preise für ihren Bedarf an landwirtschaftlichen und handwerklichen Geräten aus dem eigenen Land zahlen sollten. Auch hier bestand eine gewisse Tragik, weil die amerikanische Situation, in einem „Empire of Liberty“ zu leben, ein hochwaches Bewusstsein für ökonomische und politische Angelegenheiten geschaffen hatte. Kurzum, die landwirtschaftlichen Schichten insgesamt, solche mit dem frivolen Konsum, wie die im Süden, und solche mit dem Subsistenzkonsum dachten nicht daran, einen „sogenannten“ Schutzzoll gegen ausländische Produkte zu erlauben, mit der die inländische Produktion vor den billigen englischen Importen geschützt, ja, jene sogar abgeschreckt werden sollte. Es kam zu Schutzzöllen, ja, aber das ganze System blieb verkrampft, weil die südlichen Pflanzer- und Plantagenstaaten doch zumeist mit der Höhe der Schutzzölle nicht so recht einverstanden waren. Es kam sogar zu Drohungen, aus der Union austreten zu wollen. Die landwirtschaftlichen Südstaaten sahen entsprechend der Jeffersonschen Philosophie den Bund von 1789 (the Union) „etwas anders“ als die nordöstlichen und zunehmend die nordwestlichen Staaten. Aber während des Krieges hatten sich politische Stimmen verfestigt, die die wirtschaftliche Entwicklung der USA nunmehr ganz anders deuteten. So war z. B. ein einflussreicher Politiker aus Kentucky, Henry Clay, der Meinung, dass die USA nicht noch einmal so schwach bei einer internationalen Auseinandersetzung dastehen sollten. (Merke: so fängt ganz klein eine große Entwicklung 47
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an!) Ein einflussreicher Verleger in der großen Stadt Philadelphia, Mathew Carey, und später dessen Sohn Henry entwickelten die Lehre vom nationalen Reichtum, die die einzig richtige Lehre für die Wohlfahrt der Menschen und der Nation sei. Theoretisch wandten sich diese Propheten einer neuen Zeit von der klassischen Ökonomie ab, die eine Lehre des Pessimismus war. Insbesondere der Theoretiker Malthus, der davon ausging, dass eine Bevölkerungsausweitung zu immer neuen Hungersnöten führen müsse, weil ja die Erstellung von Nahrung immer gleich bleiben würde, geriet ins Abseits. Malthus’ Lehre von der Knappheit der Ernährung konnte ja schlagend auf dem nordamerikanischen Kontinent widerlegt werden, weil dessen landwirtschaftliche Fläche sich ja tagtäglich ausdehnen ließ. Konnte man mehr Brot für eine größere Bevölkerungszahl produzieren, dann ließen sich mehr Menschen ernähren, Einwanderung war also möglich. Damit kamen mehr Fachkräfte ins Land und ein Manufaktursystem konnte aufgebaut werden (Hartz 1948, S. 243ff. und Degler 1959, 149f.). Solange dieses freilich in den „Kinderschuhen“ (Infant Industries) steckte, musste es gegen den Druck von außen mit Zöllen abgesichert werden. Eine neue, nunmehr optimistische Volkswirtschaftslehre war mithin geschaffen. Diese sollte sich rasant ausweiten und von Jahr zu Jahr Erfolge zeitigen. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts boomte die amerikanische Wirtschaft, und zwar auf kleinkapitalistischer wie auch auf „mittelkapitalistischer“ Ebene, wie die Studie von Louis Hartz anschaulich beweist. Die „mittelkapitalistische Ebene“ bestand aus ersten Formen von Aktiengesellschaften, die in gewisser Weise vor Kapitalverlust durch Charters, die von den „einzelstaatlichen“ Parlamenten ausgestellt worden waren, geschützt wurden. Die Parlamente waren an diesen Formen der Wirtschaftsförderung sehr interessiert, denn nur diese Kapitalgesellschaften konnten den Landesausbau voranbringen. Und das hieß damals in den nordamerikanischen Ost- und Mittel-
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weststaaten Überlandstraßen (Turnpikes) und Kanäle zu schaffen. Die Staaten wetteiferten um solche Wirtschaftsformen, weil nur sie die notwendige Dynamik aufbrachten, Mengen von Material und Menschen zu bewegen. Die Menschen wurden zu Wählern und der eingefahrene Gewinn konnte auch zur Gehaltsaufbesserung für Abgeordnete (sprich Korruption) benutzt werden. Ab 1828, mit der so genannten „Jacksonian democracy“, boomte das amerikanische Wirtschaftsleben – bis ca. 1835; dann gab es einen Konjuktureinbruch, der die Menschen unvorbereitet traf. Der alte Reichtum, etwa von Boston, geriet da (fast) ins Abseits; aber gegen die dynamischen Erwartungen der Zeit, getragen von der „Demokratischen Partei“ war kein politisches Kraut gewachsen. Aber die Republikaner, damals hießen sie noch Whigs, wie ihr englisches Vorbild, schliefen nicht (Howe 2007). Jedenfalls war diese an Stärke zunehmende Schicht amerikanischer Kapitalisten, die in der Industrieproduktion tätig war und bereits Reichtum akkumuliert hatte, sehr daran interessiert, Schutzzölle für ihre eigenen Produkte einzurichten. Den Plantagenbesitzern ging es vorübergehend immer schlechter, weil ihre Böden ausgelaugt waren und weil die Arbeit mit den Sklaven zeitweilig weniger Ertrag als erhofft brachte. Insofern waren sie eher an billigeren englischen Importen interessiert. Ihre politische Partei blieb damit diejenige der kleinen Landwirte. Eine gesamtkapitalistische Interessengruppenpartei konnte bei dieser Spaltung der Interessen nicht erfolgen. So nahm das Schicksal denn seinen Lauf. Dieser aber ist natürlich nicht mit dem Schutzzoll alleine zu verstehen. Die anderen Bedingungen, wie die Größe des Wirtschaftsraumes, die erwerbsorientierte Bevölkerung usw. spielten eine wichtige ergänzende Rolle.
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2.5.2 Die Sklavenbefreiung: Das größtmögliche Missverständnis in der US-amerikanischen Geschichte Aus dem Vorhergesagten könnte man folgern, dass der Konflikt um den Schutzzoll, der die Entwicklung der nordamerikanischen Industrie behinderte, der Anlass zur großen Auseinandersetzung war. Ein Anlass, der auch leicht zu einem Krieg führen kann, sollten nicht interne Kompromisse gefunden werden. Ich würde sagen, ja, das war der Grund. Aber im gleichen Atemzug muss man das Argument zurücknehmen und sich mit den Bedingungen von Politik überhaupt in den USA beschäftigen. Wir hatten schon gesagt, dass die Frage, wie weit der Bundesstaat die Einzelstaaten zu irgendetwas zwingen konnte, längst noch nicht zur Genüge entschieden war. Hinzu kommt, dass diese Vereinigten Staaten von Nordamerika über weite Ländereien verfügten, die noch nicht hinreichend besiedelt waren, um daraus Staaten entstehen zu lassen. Deren Existenz war geregelt: sie unterstanden dem Kongress. Es gab aber auch den Kompromiss, dass die Anzahl der Sklavenhalterstaaten mindestens der Hälfte aller Staaten entsprechen müsse. Die nördlichen und östlichen Staaten besaßen, als die Union gegründet wurde, auch Sklaven. Aber sie hatten sich nach und nach derselben entledigt. Sklaven erbrachten „keinen Nutzen“ im nördlichen Teil der Union. Insofern herrschte ein Gleichgewicht. Nun hatte aber Präsident Polk, ein Demokrat, in den 1840er Jahren eine günstige Gelegenheit beim Schopf ergriffen und hatte aus den Querelen mit Mexiko, dem U.S.–mexikanischen Krieg, große Territorien im Südwesten: New Mexiko und Südkalifornien für die USA erobert. Damit war ein weit im Süden gelegenes Terrain nunmehr u. U. auch für die Ausweitung der Sklaverei zu nutzen. Und die Südstaaten bestanden auf dieser Option. Das nachlassende Geschäft mit den ausgepowerten Ländereien in den
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Südstaaten war durch die Rodung für neue Ländereien sowie durch die Entwicklung einer neuen Technologie, der „cotton gin“, die die Baumwolle schnell von ihren Samenpollen befreien konnte, in eine neue Dynamik überführt. Insofern waren die Südstaaten durchaus motiviert, ihren „way of life“ fortzuführen. In dem Jahrzehnt von 1850–1860 wurden diese delikaten Probleme allmählich einer Lösung zugeführt. Diese „Lösung“ verhieß nichts Gutes. Der Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1860 fand zwischen den beiden Senatoren des Staates Illinois statt, dem Senator Stephen A. Douglas (Demokratische Partei) einerseits und dem Juniorsenator Abraham Lincoln (neu gegründete Republikanische Partei) andererseits. Die ehemalige Partei der „Democratic Republicans“ brach im Norden auseinander. Da nunmehr drei Parteien bestanden, zwei davon Demokratisch, konnten die Republikaner unter Lincolns Führung die Mehrheit in den Wahlen erringen. Dass Lincoln „siegte“ ist so schwer von der Kenntnis politischer Rhetorik her nicht zu erklären (Wilentz 2005, S. 753ff.). Er forderte die Wähler zu einer idealistischen Haltung auf. Eine Nation könne „nicht unter zwei verschiedenen Prinzipien“ leben. Das war verdeckt – gemeint war freie Lohnarbeit einerseits und Sklaverei andererseits. Damit hatte Lincoln sozusagen jeden auf seine Seite gezogen, der Angst (die Lohnarbeiter) oder Abscheu (das protestantische Bürgertum und die protestantischen Farmer der Nordstaaten) gegenüber den Sklavenhaltern hatte. Solch eine fesselnde schwarz-weiß-Position konnte sein Gegner nicht aufweisen. Wir erinnern uns: die alte Demokratische Partei Jeffersons hatte sowohl die Plantagenbesitzer wie auch die kleinen Farmer in ihren Reihen. Was bis dato als eine unschlagbare Mehrheit galt, erwies sich nunmehr als ein Spaltpilz. Unter einer wertorientierten Frage mussten kleine Farmer ihre gemeinsamen Interessen mit den Sklavenbesitzern des Südens problematisieren. Ohnehin hatte schon das ganze Jahrzehnt über die Frage, was mit den riesigen 51
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Ländereien, die Präsident Polk den Mexikanern genommen hatte, geschehen solle, geschwelt. Die Phantasie der kleinen Leute (Arbeiter und Farmer) ging in Richtung auf Eigenbesitz – also Opposition zur Sklaverei. Small wonder, dass Lincoln, der damit ein Wahlvolk für die neue kapitalistische Partei, genannt Republikaner, requirierte, mit der diese nie hätten rechnen können. Die reichen Leute in den USA gingen immer davon aus, dass jeder „Kleine“, der noch halbwegs bei Vernunft war, gegen sie wählen müsse. Die so genannte „Jacksonian democracy“ ab 1828 hatte die Regel schlagend bestätigt. Jedoch wussten die Republikaner – und sie wissen es bis heute – dass sie andere Schichten mit Sondersichtweisen überzeugen können, den eigenen materiellen Interessenstandpunkt aufzugeben. Hier wurde dies erstmals historisch exekutiert, und zwar mit durchschlagendem Erfolg (Remini). Zwei Ereignisse hatten die öffentliche Meinung in den Nordstaaten der USA beim kleinen Bürgertum grundlegend gewandelt: eine religiöse Erweckungsbewegung einerseits und eine generelle demokratische Romantik andererseits. Die protestantische Erweckungsbewegung – nicht die erste ihrer Art – hatte die Gläubigen sensibel gemacht für irdische Fehlentwicklungen. Fragen, wie die Rechte der Frauen, aber vor allem entscheidend die Frage ob es christlich gerecht ist, schwarze Menschen als Ware (Sklaven) zu behandeln, hatten die Religion vom Himmel auf die Erde gebracht. Zudem waren mit der europäischen Romantik gefühlte Ideen in Umlauf gesetzt worden, durch die der Staat als eine lebendige organische Wesenheit betrachtet wurde. Auch die Nordamerikaner blieben von solchen Sentimenten nicht unbehelligt. Es entwickelte sich mithin ein nationaler Geist, der aber auch in den Südstaaten lebendig wurde. War man sich dort doch fundamental bewusst, dass das eigene Leben in Übereinstimmung mit der Bibel stattfand, denn in der Bibel herrschte ja auch die Sklaverei und eine paternalistische Gesellschaft vor. Diese neuen Mentalitäten äußerten
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sich mithin als Trennendes. Überspitzt könnte man sagen, dass sich im Norden und im Süden unterschiedliche Nationalgefühle entwickelten (Delbano 2015, S. 8ff.). Außerdem kam hinzu, dass populäre Geschichten, wie „Onkel Toms Hütte“, gerade auf dem literarischen Markt Konjunktur hatten. All diese Kontexte erweisen sich als ein günstiger geistiger Rahmen für die neue kapitalistische Sammlungspartei „die Republikaner“. Wir haben bisher noch nichts über den Gegenkandidaten zu Lincoln, Senator Stephen A. Douglas, ebenfalls aus Illinois, gesagt. Dieser war einerseits in einer misslichen Situation, weil er nämlich eine Partei vertreten sollte, die nunmehr eher aus zwei sichtbaren Teilen bestand: den kleinen Leuten im Norden und den autoritär Herrschenden im Süden. Was sollte Douglas machen? Ihm blieb nur die Möglichkeit, einen prinzipienlosen Pragmatismus zu wagen. Nicht das bisher Prinzipien in der Politik der USA eine würdevolle Rolle zugefallen wäre, aber jetzt war dies der Fall (Leopold/ Link 1963, S. 283ff.). Der „schlechte“ Pragmatismus von Douglas bestand darin, den demokratischen Glauben zu beschwören. Sollten die Menschen in den Territorien, sofern sie Staaten werden konnten und wollten, selbst darüber entscheiden, ob sie die Sklaverei als Institution beibehalten wollten oder nicht. Das sah nach einer Möglichkeit in dieser verzwickten Situation aus, war es aber nicht. Eine Entscheidung für ein mögliches Weiterbestehen von Sklaverei war in den Weltöffentlichkeiten der „zivilisierten Staaten“ nicht länger möglich. Der (offizielle) Sklavenhandel war schon zu Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft worden, und die Institution war gewissermaßen zum langsamen Aussterben verurteilt, weil die Kinder von Sklaven nicht länger als Sklaven gehandelt werden durften – mithin sich auch um das Recht als freie Bürger bewerben konnten. (Inoffiziell gab es einen Sklavenhandel immer noch – bis heute!) Diesem Stand der Dinge hätte sich Douglas anschließen können – eine unter den gegebenen Bedingungen philosophisch 53
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nicht haltbare Sichtweise. Aber anders herum konnte er sie nicht begründen. Theoretisch hätte er argumentieren können, man solle das Ende der Sklaverei ins Auge fassen, aber gewissermaßen einen Bestandsschutz für das gegebene System zulassen. Eine solche Position hätte der Süden nicht akzeptieren können, weil er ja davon ausging, dass die Sklaverei Gott gewollt sei und damit einen Ewigkeitswert besitze. Die Positionen zwischen Douglas und Lincoln wurden übrigens offen ausgetragen (Wilentz, 2005, S. 734ff.). Unter der vorherrschenden „modernen“ Atmosphäre wurde Douglas zum klaren Verlierer. Zudem erzwang Lincolns „Prinzipienposition“ eine Situation, seine nationale Identität zu beweisen. Und da zeigte es sich, dass es eine genuin US-amerikanische Identität nicht gab. Am ehesten herrschte noch eine Identifikation mit den Regionen oder aber mit den Einzelstaaten vor. Das führte viele weiße kleine Farmer im Süden dazu, für den Erhalt der Sklaverei einzutreten, obwohl ihre Meinung geradezu gegenteilig war. Zum ersten Mal in ihrem Leben mussten sie aber der Möglichkeit ins Auge sehen, von lauter schwarzen Freien umgeben zu sein. Diese Möglichkeit erschien ihnen noch schrecklicher als die Sklaverei. Die Abolitionisten hatten mit ihrer radikalen Position die protestantische Bevölkerung des Nordens zu großen Teilen für sich gewonnen, zu dem Preis freilich, dass sich nunmehr verhärtete Fronten entgegenstanden. Den Abolitionisten war aber nicht klar, dass es eine nach ihrer Sichtweise befreite schwarze Bevölkerung gar nicht geben konnte. In der Wahl von 1860 brach die große Partei „the democracy“ in zwei Teile, die erst wieder in Zukunft „versöhnt“ werden mussten; das komplexe Chaos konnte nicht länger unter einem Dach gehalten werden. Die dritte Partei, die dann als eine Minderheit gewann, schloss nun auch Teile der ehemaligen Demokraten – Farmer zumeist – mit ein. Sie nannte sich – wie schon gesagt – „Republican Party“.
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Die nach dem Kriege befreiten Schwarzen waren überwiegend in einer katastrophalen Lage. Sie standen gewissermaßen nackt auf der Straße. Die Vertreter der radikalen Republikaner, die die Umstrukturierung (reconstruction) des Südens vornahmen, wollten Teile des Plantagenbesitzes enteignen und an freie Schwarze verteilen. Dieser Vorschlag wurde nicht einmal seriös im Kongress diskutiert. Eine Enteignung im geheiligten Land des Kapitalismus wäre eine undenkbare Sache gewesen. So herrschte eine unsagbare Notsituation für die überwiegende Mehrheit der 4 Mio. Schwarzen des Südens. Freie Schwarze wurden 1865, als der Krieg zu Ende war, überall, d. h. im Süden und im Norden, diskriminiert, aber die schwarze arbeitende Bevölkerung erlitt diese Situation bei Hungerlöhnen. Wer zur Arbeit nicht erschien wurde eingesperrt und auf den Nachbarplantagen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Hungerlöhne wurde den neuen Arbeitern versprochen, aber nicht immer ausbezahlt. Das ganze System musste sich erst einpendeln. Nach dem Krieg pendelte sich ein Pächter- und Anteilssystem ein, bei dem die neuen „Selbstständigen“ für sich arbeiten konnten, aber auch einen Teil an den Großgrundbesitzer abliefern mussten. Das alte Großgrundbesitzerregime war weitgehend zerstört. „Tara“ und auch „Scarlet O’Hara“ gab es nicht mehr. Trotz Stephen Spielbergs großartigem Film über Lincoln und das 13. Amendement, das die Abschaffung der Sklaverei durch die Einzelstaaten verbindlich machte, ist Lincolns Lösung des Konfliktes zwischen den Sektionen der damaligen Vereinigten Staaten nicht als eine besonders gelungene Lösung der nordamerikanischen Rassenfrage anzusehen. Ein evolutionärer Weg, der auch einer rapiden ökonomischen Entwicklung des Südens das Wort gesprochen hätte, wäre wesentlich probater gewesen. Dies ist die Sichtweise auf das große Problem, dass die amerikanische Nation nicht nach zwei Prinzipien hätte leben können. Diese Sichtweise wäre auch vereinbar mit einer Lösung, die das Problem auf 55
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die lange Bank geschoben hätte. Für viele war die lange Bank gar nicht so lang. Denn eine Reform der Wirtschaft des Südens war dringend geboten. Die Industrialisierung hinkte sehr nach. Man kann dies ganz gut nachweisen, wenn man die beiden Wirtschaften im Krieg vergleicht. Das Erscheinen des Abolitionismus war für die neue Partei der Republikaner ein Segen, denn mit dem Thema Schutzzoll hätte sie keine Mehrheiten erringen können, da ja eine Schutzzollpolitik vor allem den Industriellen zugutegekommen wäre, aber die breiten Massen der Konsumenten, wie z. B. die städtischen Arbeiter und die Farmer, mit hohen Preisen für im Land produzierte Waren belastete. Die Abolitionisten mit ihrem Fanatismus in Sachen Prinzipien sollten nicht nur in der Sklavenfrage eine verheerende Wirkung erzielen, sondern gut 60 Jahre später mit ihrem Kreuzzug gegen den Alkohol ebenfalls. Christlich moralische Politik scheint da mit dem Teufel im Bunde – jedenfalls nach religiös-soziologischer Sicht.
2.5.3 Eine perfektere Union (A more perfect Union)? Der Süden muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, so sorglos von dem Austritt aus der Union zu sprechen. Auch hier war eine höchst aufgeladene Ideologie herrschaftsfähig geworden, die nicht mehr mit halbwegs nüchternem Verstand ausgestattet war. Man verließ sich auf den besseren militärischen Sachverstand und darauf, dass die Welt – insbesondere England – die Produkte des Südens, vor allem Baumwolle und Tabak, unbedingt benötige und deshalb den Süden bei seiner Abspaltung unterstützen würde (Bogart 1930, S. 448ff.). Dies waren nicht total abwegige Gedanken, aber doch solche, die mit Vorsicht zu gebrauchen waren und deren Gewicht prüfenswert war. So war z. B. der englische Handel mit dem
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Norden 1861, als der Krieg im April begann, bereits umfangreicher als der mit dem Süden. Schlimmer noch, der Süden verfügte über keine hinreichende Flotte, die die beginnende Blockade der südlichen Häfen durch den Norden hätte brechen können und auch keine Transportflotte, die im Falle einer Pattsituation mit dem Norden die südlichen Produkte nach England hätte verschiffen können. Mit dem Funktionieren der Blockade durch die Union war der nunmehr faktisch vorhandene zweite Staat auf dem Territorium der „Vereinigten Staaten“, nämlich die „Konföderierten Staaten“, bereits „in the long run“ erledigt. Zwar lieferten seine Armeen und seine glänzenden Armeeführer, wie die Generäle Robert E. Lee und Frederick (Stonewall) Jackson, die erhofften Erfolge über die „Yankee“-Armee, aber es blieb nur eine Frage der Zeit, weil den Südstaaten auch hinsichtlich von Munition und Waffen eine unglaubliche Nachlässigkeit bescheinigt werden muss. Die Südstaaten produzierten nur ca. 75.000 Tonnen Stahl jährlich, während die Nordstaaten mehr als 2.2 Mio. Tonnen produzierten (Bogart 1930, S. 484ff.). Die Nordstaaten, jedenfalls deren einflussreiche wirtschaftliche und politische Elite, d. h. nunmehr ganz und gar die neue Republikanische Partei, waren über ihre Überlegenheit voll informiert. Nicht nur ließen sie Abraham Lincoln freie Hand in der Politik. Sie setzten, da die Südstaaten die Republik aufgekündigt hatten, alles durch, was sie längst schon als ihr Programm ansahen. Und da stand der Schutzzoll an erster Stelle. Er wäre zwar als ein Wahlkampfthema nicht gut geeignet gewesen, aber anzunehmen, dass er lediglich eine politische Forderung u. a. gewesen sei, würde seiner Bedeutung nicht gerecht werden. Denn der Schutzzoll spielte von nun an eine dominante Rolle in der Herausbildung der amerikanischen wirtschaftlichen Großmachtrolle. Vor 1861 war 20 Jahre lang nicht versucht worden, einen Schutzzoll im Kongress durchzusetzen, weil dieser durch die Stimmen der Se57
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natoren des Südens blockiert worden wäre. Von daher kann man nicht folgern, dass die Schutzzollpolitik ein politisches Programm unter anderen dargestellt hätte, sondern sie erwies sich nunmehr, auch in der Rückschau als die zentrale Forderung des Nordens, die ohne den Bürgerkrieg nicht durchsetzbar gewesen wäre. Von jetzt ab dominierte die Schutzzollpolitik, was nicht heißen soll, dass darüber bei den Republikanern eine einheitliche Linie herrschte. Manche Zölle wurden durchaus konflikthaft, auch in den eigenen Reihen, behandelt. Der Schutzzoll veränderte sich leicht mit dem so genannten „McKinley Tariff“, 1890. Mit diesem Zolltarif schlug auch das Imperium zu, weil nämlich die Peitsche des Schutzzolls gegen einige schwächliche lateinamerikanische Republiken versteckt wurde und stattdessen ein „reziproker Zollsatz“, der „most favored nation“ Mechanismus eingesetzt wurde, bzw. für einige Länder die Zölle ganz außer Kraft gesetzt wurden, wenn diese Länder sich generell kooperativ zu den USA verhielten. Im Falle einer Zuwiderhandlung kann dann die „most favored clause“ außer Kraft gesetzt und können die Produkte dieser Länder per Zoll ausgeschlossen werden, was zumeist den wirtschaftlichen Ruin dieser kleinen Länder bedeutete (LaFeber 1993, S. 60ff.). Das jedoch ist eine Geschichte, die wir hier nicht behandeln wollen, denn der amerikanische Imperialismus ist ein zu umfassendes Thema. Wichtig ist hier, dass die Schutzzollpolitik ein wesentlicher Baustein für die zweite Republik wurde. Denn das bedeutete der Bürgerkrieg: Er schuf eine nunmehr in vielem zentralisiertere Republik als diejenige, die von 1789 bis 1860 bestand. Man kann zwar die Schutzzollpolitik noch dem normalen kongressionalen Gesetzgebungsprozess zurechnen, nicht jedoch unter der Annahme einer Blockadepolitik durch die Sektionen. Es empfiehlt sich hier, darauf hinzuweisen, dass die Republik in der Zeit des Bürgerkriegs „einfacher“ zu führen war, weil sie fest in der Hand der Republikaner war und der Süden ja gesetzlich als Landesver-
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räter politisch machtlos war. Da vor allem Lincoln und auch viele Republikaner sich die „Wiedervereinigung“ als eine schnelle Tat nach dem Bürgerkrieg vorstellten, war Eile geboten. Deshalb die von Spielberg mit inszenierte Eile, die den Präsidenten umtrieb, den 13. Verfassungszusatz durch die Staatenzustimmung – in diesem Fall allein der Nordstaaten versteht sich – zu erlangen. Anders wurde es mit der Geld- und Währungspolitik. Denn hier griff Lincoln auch im Sinne einer konsolidierten nationalen Wirtschaft durch. Die Geldproduktion durch die Banken der Einzelstaaten wurde gestoppt. Geld konnte nur noch durch die „Federal Republic“ gedruckt werden. Zwar griff der Präsident zu einem Mittel der Geldbeschaffung, das eigentlich verpönt sein sollte, nämlich zur Produktion von Papiergeld, wie es zuvor bei den Einzelstaaten üblich war. Aber diese sogenannten „greenbacks“ wurden politisch dadurch abgesichert, dass man ihre Konvertibilität zum Goldkurs garantierte. So gefestigt war damals bereits der ökonomische Wert der Republik, dass Schuldenmachen kein Problem darstellte. Tatsächlich hat der Krieg, wie so oft, die nordamerikanische Wirtschaft stark beflügelt. Diese Maßnahmen setzte der Präsident autoritativ durch; es war mithin die Stunde der Exekutive, die die neue Republik schuf (Degler 1959, S. 193ff.). Man darf konstatieren, dass ein Protest, vor allem seitens der Wirtschaft, nicht stattfand. Der nächste Schritt folgte auf dem Fuße: Der „Emancipation Act“. Lincoln wäre kompromissbereit gewesen, die Südstaaten hätten ihren Bestand an Sklaven behalten können, aber keine Ausweitung der Sklaverei wäre zugelassen worden. Das ist sicherlich ein wenig heuchlerisch, denn jeder wusste in der damaligen Zeit, dass die Böden auf den Plantagen des Südens schnell ermüdeten und neues Land permanent benötigt wurde. Bereits 1862 – mitten im Krieg – fand das Werben des Präsidenten ein Ende. Mit dem Emanzipationsgesetz wurde ein schwerer Schlag gegen das oben erwähnte wirtschaftliche Grundgesetz der Union geführt: Es 59
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ging um das geheiligte Eigentum. Die mit dem Emanzipationsakt befreiten 4 Mio. Sklaven waren nach damaligem Geld ca. 2. Mia USD wert, das entsprach ca. einem Drittel des Vermögens der Südstaatenplantagen. Man hätte entschädigen können; aber davon war keine Rede mehr. Von nun ab ging es nicht mehr nur um Krieg; es ging um Vernichtung. Die Elite des Nordens war sich klar geworden, dass der Süden Widerstand bis zum Letzten leisten würde. Was selbst diese kühnen Strategen nicht voraussahen, war, dass mit der Niederlage der Süden empirisch historisch nicht mehr zu bekämpfen war. Der Süden wurde Mythologie und erhielt im Kulturbetrieb der Welt seinen Platz als der Kampf um Freiheit, auch als der „lost cause“. Wahrscheinlich waren die Plantagenbesitzer die ersten Deserteure im Kampf um ihre so genannte „peculiar institution“, wie sie verschleiert die Sklaverei nannten. Manche Zyniker sprachen sogar davon, dass nunmehr die Plantagenbesitzer von ihren Sklaven befreit worden seien. Jedenfalls wäre es naiv, die so genannte „Sklavenbefreiung“ als den moralischen Fall der Kriegsführung durch die Nordstaaten zu reklamieren, als einen „Aufstand des Gewissens“ mithin, für den die Abolitionisten verantwortlich gewesen seien. Die Abolitionisten waren dafür verantwortlich, dass ihre Stimmabgabe für die Republikanische Partei dazu führte, dass diese im Norden mehrheitsfähig wurde, und einen neuen Grund für politische Beteiligung geschaffen hatte. Nunmehr galten nicht mehr Interessen, etwa ob man Landwirt oder Bankkaufmann war, zur Bestimmung des politischen Standpunktes, sondern es war die religiöse Position, die entscheidend wurde. Auch im Süden war dies der Fall und hat Geltung bis in die heutige Zeit; auch hier war es der religiöse Protestantismus, der die neue Orientierung schuf. Im Norden hatte man sich das Neue Testament zu Recht interpretiert, während im Süden das „Alte“ galt (Phillips 2004. S. 211ff.), denn in diesem war laufend noch von Sklaven die Rede. Die Republikanische Partei
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hatte einen Mechanismus gefunden, wie man Wählerschichten mit uneigentlichen Standpunkten für eine Politik, die mit dem Uneigentlichen nichts zu tun hatte, gewinnen könnte. Sie beherrschte diese Techniken in der Folge zumeist außerordentlich geschickt und ganz sicherlich bis in die heutige Zeit hinein. Der Schutzzoll war mithin nicht „auch“ eine Form von Wirtschaftspolitik, sondern er war „die Wirtschaftspolitik“ des 19. Jahrhunderts. Sie startete nach dem Ende des amerikanischenglischen Krieges (1812 bis 1814) und gibt die Leitlinie für den Aufbau der bedeutsamsten Wirtschaftsmacht der Moderne vor. Die Schutzzollpolitik ist keine Politik unter anderem, keine Politik, die additiv mit anderen Politikfeldern sich entwickelt, sondern sie ist der dominante Teil. Es ist nicht verständlich, wenn in einschlägigen Darstellungen diese Politik additiv erwähnt wird, oder nur kurz gestreift und zugunsten der Höherbewertung einer Ideenpolitik aufgegeben wird (Abschaffung der Sklaverei). Im Zusammenhang mit dem bisher Gesagten über die Konstruktion der Republikanischen Partei spielt der Schutzzoll eine herausragende Rolle. Denn ihm ist auch die erste wirkliche Sozialpolitik der neuen Union der „Zweiten Republik“ zu verdanken. Die Republikanische Partei sah in Pfründen, die der Schutzzoll schuf, eine große Gelegenheit noch andere Personenkreise als nur die protestantisch erweckten Kleinbürger und Farmer anzusprechen, nämlich die Soldaten der Unionsarmee. Sie führte das System der Pensionen für ehemalige Soldaten ein. Schon während des Krieges war es nachdenklichen Administratoren innerhalb der Kriegsführung klar geworden, dass mit dem bis dato unbekannten Ausmaß des riesigen Gemetzels (McClintock 1996, S. 456ff.)) eine Versorgungspolitik einsetzen müsse, weil ansonsten das Land mit Bettlern und vor allem Bettlerinnen überflutet worden wäre (Morison/Commager 1950, S. 255ff.). Diese Strategie mag nur bei wenigen Akteuren der Idee sozialer Gerechtigkeit entsprungen 61
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sein. In den Denkformen der Republikanischen Partei wurde in ihr sofort die Möglichkeit erkannt, sich eine dauerhafte Klientel neben dem „protestantischen Faktor“ zu schaffen. In der Folge wurde das Instrument der Pensionen immer laxer gehandhabt. Nicht nur das große Heer des Bürgerkrieges mit seinen Toten, Verletzten und sonst wie Geschädigten stand auf der Schwelle als Bezugsberechtigter, sondern innerhalb der Politik traten Verbände wie „Die Große Armee der Republik“ (G.A.R.) auf, die als Lobby auch durchaus auf Erhöhungen pochten und fragwürdige Ansprüche vertraten. Die Epoche von 1860 – 1912 war beherrscht durch Republikanische Präsidenten, mit einer einzigen Ausnahme, Grover Cleveland, der zweimal für 4 Jahre gewählt wurde und vielleicht als einziger „relativ“ korruptionsunverdächtig war. Schon die Wahl des Nachfolgers von Präsident Grant (der Held des Bürgerkrieges) war ein politischer Skandal. Und so ging es weiter bis zur Jahrhundertwende. Erst mit dem „progressivism“, mit Präsident Theodore Roosevelt und dem Demokraten Woodrow Wilson, erlangten „Ehrenmänner“ das Präsidentenamt. Roosevelt selbst war reich und brauchte keine Pfründe und Wilson, der Pastorensohn und Professor wollte in die Fußstapfen englischer Staatsmänner treten. Er war eher durch Zufall an dieses Amt gekommen, weil sich 1912 die Republikanische Partei in einen eher traditionalen also Wirtschafts-Laissez-faire und einen „progressivism“-Flügel gespalten hatte. Wäre diese Spaltung nicht eingetreten, hätten die Republikaner u. U. von 1860 bis 1932 nahezu ununterbrochen die (Präsidenten-) Macht innegehabt. Für eine Pension bewarben sich ca. 900.000 Antragsteller; davon wurden 520.000 angenommen. Der Rest musste sich Anwälte nehmen, bzw. in dem Netzwerk der Lobbys aktiv werden (Morison/ Commager 1950, S. 255ff.). Letztendlich wurden sogar solche Bewerber bedient, die unehrenhaft aus der Armee entlassen worden waren. Auch ehemalige Soldaten, die nicht im Bürgerkrieg gedient
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hatten, und sich eine nicht sonderliche Behinderung zugezogen hatten, konnten mit einer Bewerbung erfolgreich sein. Dass diese umfassende und am Rand korrupte Privilegienpolitik so erfolgreich war, war dem Tatbestand geschuldet, dass durch den Schutzzoll zu viel Geld im Haushalt vorhanden war, das so unter „die Bürger“ gebracht wurde. Noch während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren gab es eine erkleckliche Anzahl ehemaliger Soldaten, die mit Hilfe dieses Pensionsfonds versorgt wurden. Die Epoche nach dem Bürgerkrieg hieß nicht umsonst die „vergoldete“ (gilded). Während ungeahnte Vermögen entstanden, hat sich die Republikanische Partei aber durchaus dem demokratischen Prozess so angepasst, dass ihre Korruption auch den „Kleinen“ zugutekam. Natürlich waren in bescheidenem Umfang auch die Demokraten an dieser Versorgung beteiligt, nämlich über ihre Kongressabgeordneten, die helfen konnten, Rentenanträge durchzubringen. Es wurde Druck auf „ihren“ Präsidenten Cleveland ausgeübt, der zwar gegen die Flut der Einzelanträge kämpfte, dem aber nichts anderes übrig blieb, als fleißig zu unterschreiben. Ansonsten waren die Demokraten in dieser Zeit auch schon eine Partei der Städte, wo die politischen Bosse herrschten und ihre so genannten „Wards“ von Agenten betreut wurden, die Jobs gegen Wahlstimmen tauschten. Kein schlechtes Geschäft in dieser Zeit und ein sinnfälliger Beweis, wie lobenswert doch die Demokratie war. Vieles von diesem machte der Schutzzoll möglich. Am meisten freilich half er effektiv dabei, dass die Wirtschaft auf dem nordamerikanischen Kontinent boomte. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass in der amerikanischen Demokratie zu dieser Zeit mit den Wahlen das so genannte „spoiled system“ verbunden war. D. h. die siegreiche Partei brachte ihre wichtigsten Parteisoldaten in öffentlichen Ämtern unter. Bis in die Zeit von George W. Bush hat sich daran nur wenig geändert (Klein 2010, S. 428ff.).
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Wie macht man eine wirtschaftliche Großmacht?
2.6 Wie macht man eine wirtschaftliche Großmacht? Der nordamerikanische Kontinent war für eine wirtschaftliche Entwicklung außerordentlich gut geeignet. Jedoch weiß man so etwas nicht und man wusste es auch nicht im Vorhinein. In vielerlei Hinsicht erwies sich der Kontinent für seine Besiedlung als sehr sperrig. Hinter der Bergkette, die den Osten begrenzt, den Appalachen, lag für lange Zeit unwirtliches Land. Es war schwierig, die Bergkette zu überqueren. Lediglich Pelztierjäger getrauten sich in dieses unbekannte Land. Zudem lebten in dieser Wildnis bereits andere Bewohner, die Indianer, die längst nicht mehr den Weißen wohl gesonnen waren. Überquerten die landhungrigen weißen Siedler dennoch diese Schwelle, dann ging das nur langsam und schleppend vonstatten, denn die Verbindungen zur Zivilisation mussten zumindest so beschaffen sein, dass man Materialien, dringend benötigte Werkzeuge und Haushaltsartikel in wirtschaftlich vertretbarer Zeit kaufen konnte. Außerdem gab es zuerst im westlichen Gebiet kein Salz. Das alles änderte sich wesentlich als man das Salz fand und der Jäger und Waldläufer Daniel Boone den Cumberland Trail (das spätere Kentucky) fand, einen Übergang über die Berge, der auch von Ochsenkarren bewältigt werden konnte. Der Krieg von 1812–1814 hatte in vielem dazu beigetragen, die Fronten zwischen England und den USA bis auf den heutigen Tag zu klären. Die Engländer wussten, dass auf der anderen Seite des Ozeans eine Oberschicht das wirtschaftliche Leben beherrschte, der man in Geldangelegenheiten vertrauen konnte. Washingtons Finanzminister (Secretary of the Treasury), Alexander Hamilton, hatte von Anfang an klar gestellt, dass eine nationale Bank benötigt wurde und dass Gläubiger der Vereinigten Staaten nicht hintergangen werden durften, weil dann für immer deren Glaubwürdig-
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keit und mithin der internationale Kredit in Verruf geriete. Man verhielt sich bei der Bankgründung nach dem Krieg entsprechend. Deshalb kamen die aufgestauten Waren (Ladenhüter) Englands in großen Massen nach 1814 ins Land und auch englisches Geld, das dringend für die Investitionen benötigt wurde (Lipset, S. 48ff. und Schlesinger 1986, S. 219ff.). Die Warenflut rief allerdings eine Depression hervor und rief die Stimmen auf den Plan, die gerade erwähnt wurden, nämlich die Schutzzöllner. Man brauchte dringend englisches Kapital aber nicht so sehr die Konkurrenz in den „Manufakturen“. Letztere Entwicklung blockierten die Südstaaten, die mit ihren Produkten, wie Tabak und Baumwolle, konkurrenzlos auf dem Markt waren und von daher Anhänger des Freihandels. Es bedurfte des Bürgerkrieges, um für die Schutzzollproduzenten die wirtschaftlich adäquate Lage zu schaffen. Das englische Kapital freilich konnte über Bankkredite den Produzenten zur Verfügung gestellt werden, die am dringendsten selbiges benötigten. Das waren in erster Linie Banken, Baufirmen für Überlandverkehrswege und solche für den Kanalbau. Hier boomte eine spekulative Wirtschaft, die oben bereits in ihren Anfängen erwähnt wurde und die hinsichtlich der Ideologie- oder der Mythenbildung äußerst wichtig für die USA wurde. Deren Held war nämlich der Kleinunternehmer (the hard working people) einer nunmehr sich Bahn brechenden Unternehmerwirtschaft (Laissez-faire). Hinter dessen Rücken entwickelten sich mit Hilfe des über die Banken geschleusten Finanzkapitals bereits ganz andere Kräfte. Da die Laissez-faire Wirtschaft in einem Strudel von Auf und Ab sich bewegte, wurde mit Hilfe einer bestimmten Unternehmung eine gewisse Stetigkeit in den Wirtschaftsprozess gebracht. Am Anfang standen so genannte Chartergesellschaften, wie oben schon erwähnt. Eine „Charter“ bekam man, wenn man über bestimmte Mengen an Eigenkapital und über andere Reputationen verfügte. Eine Charter wurde von den Landeslegislativen erteilt. Ab 1828 65
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waren die Demokraten die definitionsmächtige politische Kraft, die sogenannte „Jacksonian democracy“ war angebrochen, die bis ca. Ende der 1840er Jahren dominant sein sollte. Das heißt, in den Landeslegislativen fand man viele demokratische Politiker, die öffentlich Reklame für die „hard working people“ machten, die aber in Wirklichkeit versuchten, sehr viele Chartergesellschaften auf die Beine zu stellen, weil davon anscheinend auch ein wichtiger „trickle-down“-Effekt in ihre eigenen Brieftaschen ausging. Die (ehemaligen) Federalists konnten nur voller Neid und Abscheu die verlogene public relations-Arbeit der Demokraten beobachten (Hartz 1948, S. 289ff.); sie lernten jedoch schnell. Eine Charter sicherte der Unternehmung eine Sicherheit gegen Gläubiger zu, so dass im Falle von Zahlungsschwierigkeiten nicht gleich der Bankrott angemeldet werden musste. Auch andere Sicherheiten wurden zuerkannt, z. B. die Anpassung der Strafgesetzgebung an die neuen ökonomisch komplizierten Verhältnisse. Dass die Gewährung einer Charter in den folgenden Jahren der Kompetenz der Landeslegislativen entnommen und dem Staat als solchem überantwortet wurde, ist ebenfalls für ein kalkulierbares Finanzgebaren wichtig (Degler 1959, S. 136ff.). Wie schon erwähnt, war man in den USA unter dem merkantilistischen Schutzzollsystem eher an englischem Kapital als an englischen Waren interessiert. Weil aber die Landesentwicklung viel an Beschäftigung mit sich brachte, boomte die Wirtschaft auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gezielt jedoch steuerte die Wirtschaftsführung der Republikanischen Partei auf den Schutzzoll hin und damit auf eine Unterordnung des Südens. Diese wurde mit dem Bürgerkrieg erreicht. Die Verwüstung des Südens bedeutete zugleich die Zerstörung irgendeiner Kapitalhoheit ohne die Banken des Nordens. Diese nahmen nunmehr auch die Wirtschaft des Südens unter ihre Kontrolle. Das Plantagensystem wurde zunehmend von Angestellten der Banken betrieben. Die
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Produktion erfolgte durch Pächter und kleine Farmer, die den Wirtschaftskonjunkturen gnadenlos ausgeliefert waren. Mögen sie ihre Jeffersonschen Träume von dem unabhängigen Yeoman als Farmer gehabt haben, die brutale Wirklichkeit lässt sich kaum beschreiben, denn die von dieser Gruppe der Selbstständigen zu erbringende Leistung war immens, der von ihnen produzierte Mehrwert konnte durch Preisverfall ihrer Erzeugnisse und Preiserhöhungen ihrer Gebrauchsgüter grotesk vernichtet werden. Sie waren Marionetten in einem Spiel, das sie zu wenig durchschauten, weil sowohl ihre protestantische Leistungsideologie wie auch ihr sturer Landhunger sie zu geborenen Opfern machte. Daran änderte dann auch ihr großer historischer Aufstand in den 1890er Jahren – der Aufstand der Populisten – nichts. Die Zeit nach dem Bürgerkrieg bis hin zu Franklin Roosevelt war eine Epoche des kapitalistischen Aufstiegs in ungeahnte Höhen. Aus dem Bürgerkrieg waren Firmen mit hoher industrieller Kompetenz hervorgegangen. Diese Firmen und neu hinzugekommene „self-made man“-Unternehmer brachten die Eisen- und Stahl-Produktion (Carnegie) sowie eine neu entstehende Elektroindustrie (Edison) und Anfänge einer Chemieindustrie (Öl, Rockefeller) auf ein nie für möglich gehaltenes Niveau (Roy 1999, S. 144ff.). Für das Deutsche Reich stehen die Namen Krupp, Thyssen, Stinnes und Siemens. Dies alles wurde freilich noch übertroffen durch den Eisenbahnbau. Selbiger erwies sich als eine Leitsektorindustrie. Ihres Triumphes im Bürgerkrieg sicher hatte der Eisenbahnbau schon mit einer Kontinentallinie im Norden 1862 begonnen. Nach dem Krieg kamen andere Linien hinzu; zur Strafe die „Southern Pacific“ als letzte. Der Eisenbahnbau war ein Unterfangen von einer Größenordnung, die sich jeglicher praktischen Phantasie entzog. Dennoch war die Lösung des Problems kinderleicht. Die Regierungen der Einzelstaaten und die in Washington gaben, wo nötig, einfach eigenes Land an die sich herausbildenden Eisenbahnkonsortien. 67
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Diese verkauften das Land an prospektive Spekulanten und Farmer; übrigens zu etwas höheren Preisen als der Staat es selbst getan hätte. Mithin wurde der Eisenbahnbau durch Steuergelder und durch Käufe von „Bürgern“ finanziert, kurzum „vom Volk“. Dass dabei nicht alle betrogen wurden, versteht sich auch von selbst, denn viele Spekulanten lagen richtig mit ihren Vermutungen, an welchen Plätzen etwa Eisenbahnknotenpunkte und damit Ansiedlungen und Städte entstehen konnten (Boorstin 1974, S. 120ff.). So war in begrenztem Ausmaß der Eisenbahnbau ein El Dorado für viele, und weil neu, eine welthistorische Überraschung. Und gleichzeitig eine weitere Bestätigung für den kapitalistischen Mythos. Dabei gab es auch die Schattenseiten. Gerade im Eisenbahnwesen fand der erste gewaltsame Streik von 1873 statt; und auch der Streik bei Pullman (Luxuswaggons) in den 1890er Jahren hatte indirekt mit diesem Gewerbe zu tun. Die Unterdrückung des agrarischen Sektors erreichte mit dem Eisenbahnwesen eine neue Qualität, weil nämlich die nunmehr entlang den Linien angesiedelten Farmer als Produzenten zu den schon etablierten hinzukamen; und alle waren sie von den Frachtraten der Eisenbahngesellschaften abhängig. Diese, da sie kurz zuvor den agrarischen Süden in die Knie gezwungen hatten und da sie auch ihre Arbeiter am Existenzminimum hielten, dachten nicht daran, irgendjemand mehr zu bezahlen als er Macht hatte, es einzufordern. Wiederum saßen die Farmer am kurzen Hebel. Der noble Aufschrei der Populisten, dass ohne die Arbeit der Farmer das Land verhungern müsste, rührte die Finanziers der Industrie wenig, weil sie die Schwäche der agrarischen Schichten kannten – ihre Unfähigkeit sich machtpolitisch zu organisieren. Es hat der intensiven Anstrengung der Roosevelt Administration in den 1930er Jahren bedurft, um die Landwirtschaft in das Wirtschaftsgeschehen einzubeziehen, Regulierungen zu erlassen, den Markt als Regulator zurückzudrängen, „Selbstverwaltungsorganisationen“ zu gründen usw., dass endlich diese Schicht als eine
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(relativ) gesicherte Gruppierung mit Vermögen etabliert werden konnte. Zum Dank wurden sie in der Folge – wie übrigens überall – der reaktionärste Stabilisator des kapitalistischen Systems und sind nicht länger Stützen der Demokratischen Partei in den USA. Nimmt man das Land und den Schutzzoll als wichtige Faktoren für den Aufstieg der USA, dann muss man als weitere Faktoren die gelungene Politik sowie die kompetente Umsetzung der industriellen Erfindungen und die genialen strategischen Fähigkeiten einiger der großen Führer der Industrie, einschließlich der sie stützenden Bankenmächte, mit hinzuziehen. Man kann sicherlich noch andere Faktoren auflisten. Die protestantische Ethik wäre sicherlich ein wichtiger Faktor; aber es bleibt ungenau, wie dieser Faktor gewirkt und was er bewirkt hat. Vielleicht sollte man ihn weder auf- noch abwerten, sondern einfach als Mythos der gesamten Atmosphäre des 19. Jahrhunderts beiordnen. Denn es ist nicht so einfach festzustellen, ob die Unternehmer der damaligen Zeit wirklich die „hard working people“ waren oder wie Thorstein Veblen meinte, eine Klasse von „conspicious consumers“ (Hobsbawm 1987, S. 165ff.). Zur großen Handlungseinheit der Epoche wurde die „corporation“. Mit dem Eisenbahnbau erblühte die Gründung von wirklich großen „Corporations“. Andererseits gab es auch mittlere Eisenbahngesellschaften – dies freilich nur im Vergleich zu den großen. Mit dem Charterwesen in den USA, das einen besonderen Schutz der Gläubiger und Investoren solcher Corporations darstellte, war ein kompliziertes Regelwerk gegeben, das denjenigen Unternehmer belohnte, der damit umgehen konnte. Einer der berüchtigtsten Spekulanten der damaligen Zeit, Jay Gould, sandte am 2. Mai 1884 seine Bevollmächtigten in den „Federal District Court“ in St. Louis mit der Bitte, sie zu Konkursverwaltern seiner Eisenbahnen zu ernennen (Berk 1990, S. 141ff.). Der Wunsch war insofern ungewöhnlich und etablierte eine neue Rechtsauffassung und -auslegung, weil Gould noch gar nicht Konkurs angemeldet 69
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hatte. Seine Strategie bestand darin, selbigem vorzubeugen, und zwar mit der Absicht, das Verfahren für ihn natürlich günstig zu gestalten. Gould war selbst der kontrollierende Besitzer der „Wabash Railway“ sowie der „Pacific Railway“. Er meldete für die Wabash-Linie den präemptiven Konkurs an und das Wunder geschah, das Gericht gab ihm Recht. In den Jahren von 1850 bis 1880 herrschte die juristische Doktrin vor, dass Gläubiger als die Eigentümer der Eisenbahnlinien anzusehen seien. Und dass die angestellten Manager für das ökonomische Versagen einer solchen Unternehmung Verantwortung zu tragen hätten. Die ambivalente Natur der Charter kam jetzt voll zum Tragen. Eisenbahncharters wurden als quasistaatliche Absicherungen privater Unternehmungen angesehen, mithin als besonders schützenswerte „öffentliche Einrichtungen“ (public entities). Diese sozusagen staatliche Heiligsprechung einer Charter war in diesem Jahrzehnt zwischen 1840 und 1850 zunehmend in den Besitzstand der Investoren übergegangen. Die Gerichte interpretierten das Verhältnis der Investoren untereinander sowie dasjenige zum Management zunehmend als ein vertragliches, als eine „private artificial entity“. Goulds Problem bestand eigentlich darin, dass er über staatliche Einzelgrenzen hinweg sich andere Linien unter Belastung der Wabash-Linie einverleibt hatte oder selbiges gegen Konkurrenten beabsichtigte und dafür die Rückendeckung bzw. den Schutz der Gerichte brauchte, bevor er bankrott war. Das Gericht ließ seine Sichtweise gelten und schützte ihn vor Gläubigern. Diesen konnte er nunmehr die Pistole auf die Brust setzen, ob sie bei Abwertung ihrer Kapitalwerte an Bord bleiben oder ausscheiden wollten. Die Sachlage war in jeder Hinsicht kompliziert, da Gould ja seine Strategie auch nicht offen darlegen wollte oder konnte. Das Revolutionäre in der Entscheidung des Bundesrichters bestand nun darin, dass er die Strategie Goulds juristisch absicherte, indem er die Doktrin schuf, dass das System schützenswerter sei als seine
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Einzelteile. Soll heißen: Wenn Akquisitionen von Eisenbahnen über Einzelstaatsgrenzen hinausgingen, bzw. durch mehrere Ansprüche von Kapitaleignern „eigentlich“ wieder rückgängig gemacht werden „könnten“, dann sollte die Sichtweise gelten, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Das System der (nationalen) Eisenbahn ist schützenswerter als eine Einzelstrecke. Das Gericht stützte Goulds Sichtweise. Dieser wollte auch keineswegs ein Eisenbahnexperte werden sondern die finanzielle Oberhoheit erreichen und behalten. Er wurde mithin zu einem der Gründungsväter des Finanzkapitalismus in den USA (noch nicht des internationalen). Das Unternehmungsrecht war auch schon so weit entwickelt, dass die Richter die Notwendigkeit erkannten, dass für den operativen Teil einer Unternehmung die Verantwortung der Kapitalgeber nicht gerade als funktional anzusehen war. An die Stelle der wirklichen Unternehmer rückten die Manager. Das Wirtschaftssystem bekam mithin eine neue Stufe in der Hierarchie, bzw. eine neue Stufe der Abstraktion. Hatte also das Gericht einerseits ein System von Unternehmen als höherwertig im Vergleich zur einzelnen Unternehmung anerkannt, so setzte es dem Ganzen noch die Krone auf, indem es diesem Moloch einer Unternehmung noch den Ehrentitel „Person“ verlieh. Einzelne Aktiengesellschaften in den USA sind seither juristisch als Personen zu betrachten, obgleich hinter dieser Maske sich ein Heer von Eigentümern (Aufsichtsrat, Board of Directors) und Managern (Executives, CEOs) tummeln konnte. Wenn man die Gründung der USA nicht als eine Revolution ansehen will, wie der Autor dieser Zeilen, so muss man doch zugeben, dass der Richter von St. Louis im Fall der Wabash Railroad etwas welthistorisch Revolutionäres entschied. Seine Entscheidung war äußerst folgenreich und führte die USA auf den Weg der Größe und Einzigartigkeit als „die“ kapitalistische Weltmacht, obwohl mit dieser Entscheidung der alte (wirkliche) Unternehmerkapitalismus abgeschafft war (Roy 1997, S. 144ff.). 71
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Ansonsten lieben Amerikaner es ja, in ihrem Rechtssystem und auch in der öffentlichen Politiksprache von einer Verschwörung zu sprechen – einer „conspiracy“ – und in dieser Perspektive haben sicherlich die Teilanleger und andere Kleinkapitalisten und Unternehmer der nur lokalen Art diese Entscheidung – so sie denn davon erfuhren – gesehen, aber den Gang der Entwicklung hat dies nicht weiter beeinflusst. Von Einfluss war die richterliche Entscheidung und das daraus resultierende Verhalten von Gould und einer ganzen Klasse anderer Großunternehmer, wie den Carnegies, Vanderbilts, Rockefellers usw. Das Heiligtum der amerikanischen Ideologie, „the free enterprise“ war mit dieser Entscheidung entthront, ohne dass man ihm Bescheid gesagt hätte. Einige Kleinunternehmer werden es auch so bald nicht erfahren haben,- wahrscheinlich bis heute nicht. Aber das Faktum bleibt, dass damit eine neue Qualität geschaffen war, die Eroberung und vor allem Strukturierung des nordamerikanischen Kontinents in die Hand zu nehmen. Denn mit dieser Entscheidung waren die Großunternehmen nicht länger an Einzelstaatsgrenzen zu bremsen – falls es sich um wirtschaftliche Aktivitäten handelte. „Trade“ (Handel) war – wie es sich herausstellte – bei der Freizügigkeit von „Commerce“ nicht eingeschlossen. Wie immer man dies rechtlich und ökonomisch auseinanderhalten mochte. Mit dem 14. Amendement zur Verfassung war bereits eine rechtliche Grundlage geschaffen, (irgendwelche) Personen innerhalb der USA gleich zu behandeln, ihnen den „due process of law“ zuteil werden zu lassen. In Unternehmerkreisen wusste man, dass dies auf sie selbst als die wichtigste Personengruppe gemünzt war (Beard 1957, S. 209f.). Für die ehemaligen Sklaven, deren Gleichstellung man mit dem 14. Amendement sicherstellen wollte, galt dies noch nicht und auch in Zukunft erst in wenigen Angelegenheiten; im Strafrecht bis heute nicht. Aktiengesellschaften konnten als Personen mit dem „due process of law“ rechnen. Dafür sorgten Bundesrichter; bei Zuwiderhandlungen, etwa von
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Einzelstaatslegislativen, drohten die Richter Strafe an. Außerdem hatten die Richter mächtige, wenngleich recht schweigsame Verbündete, nämlich die positiv betroffene Großunternehmerschaft und ihre Aktiengesellschaften. Wenngleich dieser Personenkreis nicht allmächtig ist, so ist er doch so einflussreich, dass er seine Belange weitgehend durchsetzen kann. Vor allem dann, wenn keine expliziten Interessen dem entgegenstanden. Der Wirtschaftsaufschwung der 1890er Jahre war zumindest für die Arbeiterschaft ein deutliches Signal, die Großunternehmen und ihre wirtschaftlichen Erfolge positiv zu sehen. In der Wahl von 1896, als viele Ober- und Mittelschichtangehörige vor den Populisten in der Demokratischen Partei zitterten, gaben beachtliche Potenziale der Arbeiterschaft ihre Stimme für den Republikanischen Kandidaten McKinley, der zur großen Erleichterung dieser Kreise auch gewählt wurde. Von nun an bestimmten die großen Unternehmen wo sie ihre ökonomisch wichtigen Zentren ausbauen wollten, wo und warum die Eisenbahnlinien so oder so verliefen. Hilfreich wurde dabei auch die in den 1880er Jahren vom Kongress ins Leben gerufene „Interstate Commerce Commission“ – die erste unabhängige „federal commission“, die damit konkret einen weiteren Bedeutungszuwachs des Bundes signalisierte. Über die „Commission“ war schon des längeren im Repräsentantenhaus diskutiert worden: sie war eher das Anliegen der einzelstaatlichen Unternehmen gewesen und wurde unter dieser Flagge auch weiterhin diskutiert, bezog aber nunmehr den Wandel im Eisenbahnsektor ein. Soll heißen: Zunehmend wurde nicht mehr diskutiert, wie man den Wettbewerb innerhalb des komplexen Eisenbahnwesens erhalten könne, sondern das System Eisenbahn wurde wie ein Monopol betrachtet, wo kein Wettbewerb mehr zu regeln sondern wo eine Regulierung vonnöten war (Berk 1990, S. 130ff.). Die Regulierung musste für die „Konsumenten“ erfolgen, damit die Frachtraten der 73
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Eisenbahnen diese nicht „unfair“ betrafen (ebd.). Die Eisenbahnen bevorzugten Raten, die für die Kurzstrecken anders waren als für die Langstrecken und dabei für die Großindustrie günstiger als für die kleinen Landwirte. D. h. die von den Eisenbahnen abhängigen Farmer wurden in bekannter Weise an den Rand ihrer Existenz gepresst. Die Kommission blieb dabei eher ein Hoffnungsträger für die kleinen Farmer; es dauerte Jahrzehnte bis die Frachtraten fair geregelt waren. Alles in allem trieb die Gerichtsentscheidung von St. Louis, dass im Eisenbahntransport das „System“ wichtiger wäre als der Einzelbesitz, den Weg für ein nationales Großkapital weiter voran; und die Entscheidung, solche Gesellschaften juristisch als Personen anzusehen, ließ die Bündelung von großem Aktienbesitz unter geschützter Gesellschaftsform, nämlich als privilegierte Charter einer (staatlich/privaten) „Corporation“ zu. Mehr bedurfte es nicht, so dass am Ende des Jahrhunderts große Gesellschaften zu Hauff aus dem Boden schossen (Hofstadter 215ff. und Roy 1999, S. 115ff.) – wie oben schon bemerkt – zuerst als „pool“ und später als „trust“ und sodann in der Rechtsform einer „Holding“ (Chandler 1971, S. 93ff.). An dem Vorgang kommt auch die Theorie zu ihrem Recht, dass die USA eine Gesellschaft unter „dem Gesetz“ seien, denn der Kongress spielte dabei nur eine nachvollziehende Rolle. Es waren die Bundesrichter und die Bundesgesetzgebung die hier das Interesse der „Union“ an einer das Territorium der Vereinigten Staaten umfassenden Struktur durchsetzten. Schon bei der Verfassungsgebung 1789 lag die Vermutung nahe, dass bestimmte Finanzinteressen das Gebaren der Einzelstaatsparlamente mit Grauen sahen und deren Provinzialität zu überwinden gedachten. Während Produzenten ein Interesse an Schutz und mithin an Protektionismus entwickeln können, sind finanzielle Interessen eher auf Expansion angelegt. Das war schon beim Landesausbau, insbesondere in der „Jacksonian democracy“, zu beobachten.
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Es wurde beim Schutzzoll deutlich, dass Exportinteressen des Südens die Entwicklung einer eigenständigen Wirtschaftsmacht behinderten. Und es wurde vollends während des Bürgerkrieges deutlich, dass eine Struktur für die Währung vorhanden sein muss, die nicht beliebig manipulierbar sein durfte. Somit zieht sich ein roter Faden durch den Gang der Republik als Union, durch den das Gesamtwesen für Expansion in die Pflicht genommen wird. Mit der Entscheidung, das „System ist wichtiger als seine Teile“, von St. Louis 1884, erfolgte ein mächtiger Impuls. Danach ging es fast automatisch weiter. Das Folgende verdanke ich der besten Studie, die bisher über diesen Umbruch verfasst wurde, nämlich der Arbeit von William Roy, „Socializing Capitalism“, von 1997. Es entstand auch ideologisch ein Amerikanismus, der sich hin und wieder bemerkbar macht, z. B. in der so genannten McCarthyÄra, wo Abweichler zur Pflicht gerufen werden. Die USA AG ist nicht auflösbar hat Abraham Lincoln autoritativ festgelegt. Dabei ist es geblieben; und dies gilt auch heute in einer weiteren Phase der Globalisierung, wo die Nation in Haftung genommen wird für die Interessen der weltweiten Finanzaktivitäten des amerikanischen Kapitals, das längst schon ein Weltkapital geworden ist. Warum sollten amerikanische Milliardäre Steuern für den amerikanischen Straßenbau bezahlen, wo amerikanische Interessen doch als Weltfinanzinteressen sich der afrikanischen Agrargebiete (Clapp 2014) bemächtigen oder auf die „Heimkehr“ Kubas in die Arme der „Freien Welt“ warten. Wir haben in diesem Kapitel die Finanzialisierung noch auf die materiale Produktion bezogen. In den Kapiteln 4 und 6 wird die Finanzialisierung gewissermaßen entmaterialisiert, indem der Bedeutung der Aktie und der Börse Tribut gezollt wird. Bei der Krise von 2008/09 unter Präsident Obama kommt eine zusätzliche Bedeutung des US-amerikanischen Dollars zum Tragen, nämlich
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sein Einsatz als die Währung „of the last resort“. Präsident Trump hat aus dem Dollar eine Waffe geschmiedet.
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Eine US-amerikanische Zivilgesellschaft? 3 Eine US-amerikanische Zivilgesellschaft?
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Der Anfang: Das „Colfax Massacre“
3.1 Der Anfang: Das „Colfax Massacre“ Aller Anfang ist vermittelt, das ist sicher. Wir könnten also beim Thema „amerikanische Zivilgesellschaft“ mit den Puritanern des 17. Jahrhunderts anfangen und deren „Hexenverbrennungen“ im Jargon unserer Zeit als „gross violations of human rights“ – als schwere Menschenrechtsverletzungen – brandmarken. Aber wir wollen dies lieber als koloniale Vorgeschichte der USA betrachten und somit dem Dunkel der Geschichte nicht entreißen. Insofern ist mein Einstieg zur Sichtweise auf die moderne Menschen- und Bürgerrechtsgeschichte der USA – im Folgenden als „civil rights“ bezeichnet – einem Ereignis verpflichtet, das wiederum die Bezeichnung epochal verdient. Am 13. April 1873 wurden an einem Örtchen am Ende der Welt im Staate Louisiana viele schwarze Bürger der USA, spätestens seit 1865, nach dem verlorenen Krieg der Südstaaten, als frei anzusehen, kaltblütig ermordet. Das Morden wurde als „the bloodiest act of terrorism during the reconstruction“ bezeichnet (siehe Wikipedia unter „Colfax Massacre“). Mit „reconstruction“ bezeichnete man nach 1865 den Prozess, in dem radikale Republikaner des Kongresses die Neugestaltung der Südstaaten in die Hand nahmen. Dass dies misslingen musste, dürfte auf der Hand liegen, denn so wie die Südstaaten in die Knie gezwungen wurden, durfte bei der Mehrheit der Bevölkerung mit 77 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_3
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Einsicht nicht gerechnet werden. Ich schließe mich hier der Lesart an, dass die Rekonstruktion des Südens zudem recht mild und in den verschiedenen Einzelstaaten recht unterschiedlich erfolgte und ein militärischer Zwang eher nicht vorhanden war oder verhalten ausgeübt wurde (Degler 1959, S. 209ff.). Gegenteilig natürlich die Sicht „des Südens“. Unter der „Reconstruction“ hatten im November 1872 die allfälligen 4-Jahres-Wahlen der USA stattgefunden, und auch in Louisiana wurde ein neuer Gouverneur gewählt. Zum Pech behaupteten jedoch 2 Kandidaten die Mehrheit errungen zu haben, ein Republikaner aus dem Norden und ein Landeskind, der Demokrat. Man erinnere sich: die Demokraten waren nunmehr im Süden die rassistische Partei. (Die Urenkel dieser Demokraten wählen heutzutage die Republikaner, haben sich aber, was ihre Mentalität betrifft, nur wenig geändert, wenn überhaupt!) Kongressionale Republikaner (überwiegend schwarze Abgeordnete) unterstützten ihren Mann; die geballte Macht Louisianas unterstützte den ihren. Das gab natürlich viel Aggression auf beiden Seiten. Man muss bedenken, dass die Republikaner in Louisiana in dieser Situation fast ausschließlich von und aus den Reihen der gerade befreiten Schwarzen gewählt wurden, die in diesen Jahren noch recht hoffnungsvoll nach vorn schauten und mit ihrem Wahlrecht auch etwas anfangen wollten. Jedenfalls versammelten sich regionale Republikaner an einem Ort ca.100 Meilen nordwestlich von New Orleans in der Nähe einer Plantage, der Meredith Calhoun Plantage, um dort ihren Sheriff zu wählen (Lane, 2008). Die Plantage war die größte in Louisiana und hatte zuvor an die 700 Sklaven besessen. Mithin war der Ort auch günstig gewählt, weil hier, am Rande der Plantage der kleine Ort Colfax lag, wo man die lokale Macht zu übernehmen gedachte. In einem Versammlungshaus, das die wohlwollenden Besitzer der Plantage zur Verfügung gestellt hatten, sollte der wichtige Akt demokratischer Selbstbestimmung
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für nunmehr freie schwarze Bürger erfolgen. Die in der näheren Umgebung beheimateten Weißen missachteten die Republikanische Deutung der Wahl und gingen von ihrem Sieg aus. Somit war für sie das Zusammentreffen der vielen Schwarzen eher ein Akt der Zusammenrottung. Aber auch ohne sich viele staatspolitische Gedanken gemacht zu haben, waren sie gewillt, in Ku-Klux-Klan Manier die Versammlung zu sprengen. Zu diesem Zweck mobilisierten sie auch so viel an weißem Mob, wie sie konnten. Davon kamen viele aus Entfernungen von über 100 Meilen. Zu ihrem Pech glaubten sich die Schwarzen in ihrem Recht und ergriffen keine Verteidigungsmaßnahmen. Erst als das Gebäude umzingelt war, eine Kanone auf selbiges feuerte und der Bau auch zu brennen anfing, brachen sie aus dem Gebäude aus, wehrten sich auch mit eigenen Gewehrschüssen und riefen damit die geballte Feuerkraft der Gegenseite hervor. Es kam zu vielen Toten – auf der schwarzen Seite. Einige schwarze Bürger entkamen, viele jedoch wurden als Gefangene genommen. Bis hierher könnte man den Vorgang noch als ein tragisches Missverständnis ansehen, freilich mit gravierenden Folgen. Am kommenden Tag jedoch berieten sich die Weißen und meinten, man solle alle Schwarzen hinrichten. Dies geschah, zum Teil mit sadistischen Methoden: ein Führer der Weißen wollte bei dieser Gelegenheit ausprobieren, durch wie viel Schädel seine Gewehrkugel ging, wenn man Schwarze in Reihe stellte. Die Justizbehörde, in Gang gesetzt durch einen Bundesanwalt in Louisiana aufgrund des gegen den Klan gerichteten „Enforcement Act“ von 1870 kam zu dem Ergebnis, dass zwischen 60 und 250 Schwarze hier ihr Leben gelassen hatten. Andere Zahlen differierten gewaltig, nach unten und sogar nach oben. Der weiße Mob hatte 2 Tote zu beklagen. Anfang der 1920er Jahren stand plötzlich ein Gedenkstein, ein Monument, auf dem Platz zum Gedenken an den historischen „Colfax Riot“ vom April 1873. Heute heißt es auch im Internet, dass das „Commerce Committee“ von Louisiana das 79
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Denkmal aufgestellt hätte. Der Begriff „riot“ gibt deutliche Hinweise auf die Haltung der historisch bewussten Erbauer. Wenn es ein „riot“ gewesen wäre, dann hätten die Schwarzen ja wohl in der Sicht von damals und der von heute einen Aufstand provoziert, indem, so könnte man konzedieren, „unglücklicherweise“ über 250 Menschen ums Leben gekommen sind. Hier wollten geschichtsbewusste Fälscher der Wahrheit vorbeugen. Immerhin hatten sie das Bewusstsein, dass der Fall nicht dem Dunkel der Geschichte anheimfallen würde. Und dass dazu noch einiges zu sagen bleibt. Das ist deshalb der Fall, weil das Massaker ein juristisches Nachspiel hatte. Der ermittelnde „progressive“ Republikanische Bundesanwalt ging natürlich selbstverständlich davon aus, dass die schwarzen Bürger unter dem Schutz sowohl des „Enforcement Acts“ als auch unter den berühmten Zusicherungen des 14. Amendements stehen würden. Der Fall landete vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten. Dort wurde er am 27. März 1876 mit einem abenteuerlichen aber dennoch Bahn brechenden Ergebnis zum Abschluss gebracht. Das Gericht im Verfahren „U.S. v. Cruikshank“ befand Folgendes: • Das 14. Verfassungsamendement der Vereinigten Staaten von Amerika sei auf den Fall nicht anwendbar, weil das Amendement nur auf Straftaten zutreffe, die von der Regierung des Einzelstaates Louisiana begangen worden seien. Dies aber sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. • Straftatverfolgungen sind Angelegenheit der jeweiligen Einzelstaaten; in diesem Falle aber sei die zuständige Regierungsstelle die Kommune, in der die Betroffenen lebten. • Da die Verbrechen des weißen Mobs nicht ausdrücklich erwähnt wurden, wurde Cruikshank, der einer der Anführer der Weißen war, frei gesprochen.
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Damit hatte der „Supreme Court“ das 14. Amendement acht Jahre nach seinem Entstehen bezüglich Straftatbeständen für wirkungslos erklärt. Man konnte und kann es wahrscheinlich auch heute nicht allgemein benutzen, um Vergehen gegen grundlegende Bürgerrechte einzuklagen. Die berühmte Formel, kein Einzelstaat „shall … deprive any person of life, liberty, or property without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws“, wurde für alle Fälle negiert, in denen eine zivile Auseinandersetzung vorlag, in deren Verlauf es zu einem Verbrechen gekommen war. Wie solche Fälle im Verhältnis von Weißen untereinander zu verstehen sind, kann hier nicht näher untersucht werden. Die Vermutung besteht, dass die „due process“ Klausel auch nicht bei armen Weißen in Ansatz gebracht werden kann. Zumindest gibt es in der Praxis, wie im Folgenden noch näher dargelegt werden wird, viele Diskriminierungen – auch in der Behandlung der weißen Unterschichten –, die die These erlauben, dass es bei dieser Entscheidung, die kriminelle Akte generell nur der Behandlung der Einzelstaaten überließ, nicht nur um eine Rassen-, sondern auch um eine Klassenjustiz handelt. Die Rechtsprechung hat hiermit auch indirekt die Gründung von Bürgerwehren erlaubt, die sozusagen das Recht in die eigenen Hände nehmen und vor Strafverfolgung geschützt sind. Das Lynchsystem war somit rechtlich in den USA auch nicht abgeschafft. Sollte es bei solchen Straftaten zu Prozessen kommen, dann ist ein Geschworenengericht – eine grand jury – erforderlich, um festzustellen, ob eine zu verfolgende Straftat vorliegt. Deren Ergebnis ist wiederum vom „District Attorney“ interpretierbar und bleibt geheim. Was dabei herauskommt, konnte man bei den Verfahren des Jahres 2014 in Ferguson/Missouri und anderswo erleben, wo die „grand jury“ die betroffenen Polizisten zumeist freisprach (Robertson/Goldstein 2014). Wenn man die Materie, so wie hier erörtert, versteht, macht man auch Präsident Obama 81
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keine Vorwürfe, dass er sich nicht autoritativ in diese Verfahren – vornehmlich im Süden – eingemischt hat. Er wäre schlecht beraten gewesen, dies zu tun. Immer noch haben über Strafprozesse die Einzelstaaten die Souveränität. Sollten da Zweifel aufkommen, dann ist es der US-amerikanische Justizminister, der „Attorney General“, der hier als die federführende Behörde auftreten „kann“. Präsident Obama hat, politisch völlig klug, die Kongressakten über die Folterungen der CIA veröffentlicht, um zu „zeigen“, wie das Strafsystem im Argen liegt. Dass Obama schwarz ist, verschärfte das Problem der Gerechtigkeit unter den Rassen natürlich erheblich, aber nicht durch die Schuld des ehemaligen Präsidenten, sondern durch die Spannungen, die die Tatsache eines schwarzen Präsidenten in der Gesellschaft auslöste. Schon als der Präsident gewählt worden war, gab es im Süden Bewegung in Richtung einer Neugründung des Ku Klux Klans. Es bildeten sich in den Südstaaten so genannte „Milizen“, die an die 100.000 Mitglieder umfasst haben sollen (Pease 2009, S. 129ff.). Einige aus diesem Mobpersonal trugen offen Waffen. Und ganz clevere Republikaner fragten scheinheilig, warum der Präsident dagegen nichts unternehme. Auch hierbei wäre der Präsident schlecht beraten gewesen, selbst aktiv zu werden. Er hat alle Anspielungen auf sich selbst und auf solche Materien einfach zu Recht ignoriert. Hätte er sich eingemischt, wäre dies keine „win“Situation gewesen. So wie die Strafkompetenz, man könnte auch sagen Strafsouveränität, in den USA liegt, fällt da das Meiste in die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Zu entwickeln wären Kompetenzen der Zivilgesellschaft, die Affinität von Polizei zu Mob zu brechen, den komplizierten Wahlmechanismus, etwa im Staate Missouri, zu unterbinden und von Seiten der Schwarzen nicht in die von der anderen Seite gewünschte Lethargie zu verfallen. An diesen Lokalitäten geht es ohne ein „Empowerment“ der lokalen
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Bürger nicht voran. Die weiße Polizei in Ferguson – und anderswo – müsste schleunigst ein Relikt der Vergangenheit werden. Wir werden im Folgenden noch thematisieren, warum dies so ist. Juristische Fragen dieser Art zu beurteilen ist schwierig, weil das Recht ambivalent bleibt. Im Gegensatz zu seinem Image regelt es gar nichts, sondern es legt Pfade an, aufgrund derer Richter – oder das gesamte System – eine Entscheidung treffen werden, welch selbige wiederum „manchmal“ angefochten werden kann. Hätte ein Gericht des Staates Louisiana diese Entscheidung zum colfax massacre getroffen, dann wäre dies eine exzellente Gelegenheit gewesen, die Substanz des 14. Amendements durch den „Supreme Court“ klären zu lassen. Abstrakt gesehen hätte dann die Chance bestanden, eine Rechtssicherheit für alle Amerikaner in allen Situationen – zumindest als Norm – herzustellen. Aber so war die damalige Situation nicht beschaffen. Wir haben es nicht nur damit zu tun, dass es kein normales Gericht war, dass diese Entscheidung fällte, sondern dass es bereits das oberste Gericht der USA war, dass sich auf diese Konstruktion versteifte und damit dem Süden nach einem sozusagen „sinnlosen“ Krieg die Macht zuerteilte mit „seinen Schwarzen“ umzuspringen, wie gewisse Kräfte in den Einzelstaaten es gerade wollten. Der einzige wirkliche Schutz, den die Schwarzen hatten, bestand darin, dass sie als Arbeitskräfte auf den Baumwoll- und Tabakplantagen dringend benötigt wurden. Aber sie waren dabei rechtlich dem „black code“ unterworfen, der für Fernbleiben bei der Arbeit Strafen vorsah (Foner 1998, S. 104). Das hatte zur Folge, dass viele Schwarze auf „ihren“ ehemaligen Plantagen weiter arbeiten konnten, wo sie sicherlich auch den gewohnten paternalistischen Schutz erhielten. Freigesetzte Schwarze, die durch das Land zogen, hatten es da schon schwerer, bis hin zur Lebensgefährdung. Aber in den meisten Fällen wurden sie von den „Ordnungsbehörden“ (Sheriffs u. a.) eingesammelt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Später entwickelte sich rapide das 83
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„sharegroping system“ und darauf folgend u. U. auch ein Pächteroder Eigentümerverhältnis. D. h. vieles an Großgrundbesitz wurde in neuer Weise kapitalisiert. Der Plantagenbesitzer, so er seinen Ruin im Bürgerkrieg irgendwie verkraftet hatte – siehe Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ – reihte sich allmählich in die Klasse der Finanzkapitalisten ein; seine Baumwolle wurde ohne sein Kommando erstellt und er erhielt seine Anteile, welchselbige in den Verkauf gingen. Andererseits hatte das wuchtige Verdikt des obersten Verfassungsgerichtes nach Dogmen geurteilt und nicht die sozialen Menschen berücksichtigt, denn es gab auch produktive Kontakte zwischen Schwarzen und Weißen, wenn auch nicht in einem entscheidenden, die Verhältnisse komplett verändernden Sinne. So waren z. B. in New Orleans durchaus die schwarzen Mädchen begehrt und dies nicht nur zur Prostitution (VanWoodward 2002). Gute wirtschaftliche Kontakte entwickelten sich freilich auch im kriminellen Sektor. Als das Pachtsystem stand und die Eisenbahntarife den Farmern alles was möglich war abpresste, standen „manchmal“ weiße Farmer ihren schwarzen Schicksalsgenossen gegen Sheriffs und Klanmitglieder bei. Ein „Vorteil“ aus der Sklaverei ging für schwarze Frauen verloren. Während der Sklaverei und der harten Arbeit auf entfernten Plantagen, legte sich der weiße „master“ gern eine schwarze Frau zu; d. h. Frauen mit Durchblick zogen es vor, gemischt rassische Kinder groß zu ziehen, statt in der sengenden Sonne brutaler Feldarbeit ausgesetzt zu sein. Die Perle des ganzen Verfahrens habe ich mir jedoch für das Ende aufgehoben. Das oberste Verfassungsgericht entschied im Fall „U.S. v. Cruikshank“ mit damals 6 Richtern. Fünf dieser Richter kamen aus dem Norden und waren parteimäßig Republikaner, der sechste war ein Demokrat. Die fünf Richter aus dem Norden waren es, die die Zustimmung zur Souveränität der Einzelstaaten in Sachen persönliche Freiheitsrechte gaben. Es waren Richter,
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die noch von den Republikanischen Präsidenten Lincoln und Grant ernannt worden waren. Die einzige Gegenstimme kam von dem Demokraten, der aus dem Süden stammte. Wäre die Sache nicht so tragisch, könnte man ein solches Ergebnis hohnlachend kommentieren. Jedoch wurden mit dieser Entscheidung und einigen vorhergehenden Entscheidungen, die noch in die Zeit der Rekonstruktion fielen, andere historische Pfade gelegt als Lincoln dies beabsichtigt hatte. Diese Richter aus dem Norden repräsentierten eine neue Koalition der Republikaner, in der die Abolitionisten keine Rolle mehr spielten. Denn auch im Norden wurden die Ideen der Rassentrennung zunehmend populär. Die Zeit der romantischen Verbrüderung war vorbei. Den Schwarzen winkte eine liberale Freiheit, die anders war als die romantisch verbrämte. Die Freiheit bestand, wie für weiße Arbeiter, in harter „Lohnsklaverei“ – wie der Ausdruck der Zeit lautete – die aufgrund der Verfolgung durch den weißen Mob für die Schwarzen natürlich wesentlich gravierender ausfiel als für die weißen Arbeiter. Zudem gab es zwischen den Arbeitern keine Solidarität. Diese waren in der Mitte und am Ende des 19. Jahrhunderts sowie zumeist im 20. und auch im jetzigen 21. Jahrhundert ethnisch entfremdet und rassisch gespalten. Das war auch von den Unternehmern her gewünscht. Oft setzte man schwarze Arbeiter in der nun kommenden Geschichte der „freien Lohnarbeit“ als Streikbrecher ein. Wie oben bezüglich der „Interstate Commerce Commission“ schon betont, bestand die „heimliche“ Bedeutung des 14. Amendements und seiner Garantie eines „due process of law“ darin, die Einzelstaaten davon abzuhalten, die großen Vermögen und Industrien etwa mit Verweis auf Einzelstaatssouveränität zu zerlegen, sich und anderen kleineren Unternehmern zuzuteilen und damit die nun von Ozean zu Ozean reichende große USA nach dem Ideal von Jefferson für kleines und mittleres Kapital, resp. Eigentum, – in einer „sittlichen Republik“ – zu bewahren. 85
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Mit ihren Schutzzöllen war ab 1861 die Großindustrie im Durchbruch, vor allem auch im Eisenbahnbau, und hier sorgten dann nach dem Urteil von Wabash (1884) Gerichte dafür, dass Systeme höherwertiger waren als Einzelfirmen und dass „Corporations“ mit besonderem Status als „Personen“ zu sehen sind. Hier, in der Tat, griff der Individualschutz des 14. Amendements; und das war auch die Absicht hinter diesem Amendement und nicht eine vage Zusicherung von Bürgerrechten für Schwarze. Mit diesen Illusionen hat das Urteil U.S. v. Cruikshank aufgeräumt. Die wirkliche Befreiung der schwarzen Amerikaner wartet immer noch auf gelungene Ergebnisse. Sie kann nur gelingen, wenn die Union die Teilsouveränität der Einzelstaaten bricht und eine egalitäre Behandlung vor den Gerichten stattfindet und als Chancengleichheit das Ausbildungs- und Arbeitssystem durchzieht, wenn, in der Tat, die Verfassung farbenblind wird. Meine Einschätzung: Das kann noch ewig dauern. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben viel mit Machtgestaltung und Machterhalt in einem Großflächenstaat zu tun.
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Die Struktur der US-amerikanischen Bürgerrechte
3.2 Die Struktur der US-amerikanischen Bürgerrechte Ich habe kurz und nur fokussiert auf unsere Zwecke das 14. Amendement herangezogen. In ihm sind, wie oben zu sehen, auch die Worte von Jefferson aus der Unabhängigkeitserklärung von 1776 enthalten. Keinem amerikanischen Bürger dürfen „Leben, Freiheit und Eigentum“ vorenthalten, bzw. ohne gesetzliche Grundlage, entwendet werden. Nun, wir haben gesehen, dass dies realiter nicht ganz stimmt. Vielen wurde das Leben genommen, ohne dass dies je gerächt wurde; die amerikanische Freiheit ist sehr abgestuft. Theodore Lowi und seine Mitautoren sprechen den Sachverhalt
3.2 Die Struktur der US-amerikanischen Bürgerrechte
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deutlich an. Sie meinen, dass nur das Eigentum geschützt worden sei, nicht jedoch Leben und Freiheit (Lowi u. a. 2004, S. 121f.). Da kann man durchaus anderer Meinung sein; denn da wo die Freiheit nicht geschützt ist, ist auch das Eigentum bedroht. Die Krux liegt darin, wie weit man amerikanischen Gerichten auch bei Eigentumsfragen trauen kann. Sicherlich sind in dem oben analysierten Prozess der Eisenbahnfusionen bestimmte kleinere Eigentümer „beraubt“ worden, denn ihre Anteile an den Eisenbahnen wurden im Interesse des Überlebens des Systems reduziert. Indianer wurden laufend ihres Bodens beraubt, aber sie galten nicht als Bürger, usw. Vieles im gesellschaftlichen Leben der USA ist seit der Geltung des 14. Amendements gewissermaßen unter der Leitlinie dieses Verfassungselements gestaltet worden. Der entscheidende Punkt bei dieser Aussage ist jedoch, dass dem 14. Amendement die Kriterien der „Bill of Rights“ beigeordnet wurden. Diese sind formaler Art, bestehen in Schutzrechten vor Gericht, in Prozessverfahren, in Anerkennung wer wie und wo rechtlich behandelt werden kann und soll. Damit hat die Verzahnung solcher prozeduraler Regeln mit dem idealistischen und inhaltlichen Versprechen, dass keinem Amerikaner Leben, Freiheit und Eigentum beeinträchtigt werden soll, zu tatsächlich produktiven Ergebnissen geführt. Natürlich ist auch die Formel „due process of law“ sehr hilfreich. Und vieles andere, was auf diesen beiden Schienen der Zusammenführung von Verfahren und Idealen noch alles ausgedacht werden kann. Um das Ergebnis jedoch sogleich vorwegzunehmen: Diese „Art“ (engl. Kunst) der juristischen Praxis führt nicht dazu, dass Einzelnen oder Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft politisches, kulturelles oder moralisches „Kapital“ zuwächst, das ihren Status aufgrund dieser Rechtsprechung verbessert. Die Leistung der juristischen Verfahren zielt – entgegen jeglicher Rhetorik – nicht darauf ab, Gerechtigkeit zu liefern. Vielmehr besteht das Resultat in immer neuen Anpassungen an gesellschaftliche Realitäten – wie Richter 87
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sie sehen -, in einer Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach offenbar werdenden neuen Anforderungen (Shapiro 1986, S. 91ff.). So hat etwa die berühmte Entscheidung des Verfassungsgerichtes von 1954 im Fall „Brown v. Board of Education Topeka“, die die Segregation in den Schulen aufheben sollte, im Endresultat dazu gerade nicht geführt. Gleichwohl haben einige Schulen die Segregation aufgehoben, das Verhältnis unter den Rassen wurde verändert, durch größere Akzeptanz der Rassen untereinander und durch verschärfte Rassenkonflikte andererseits. Mithin wurde eine neue Stufe der „Modernität“ des Verhaltens unter den Rassen erreicht, in der der politische Konflikt nunmehr zum zentralen Motor der Auseinandersetzungen wurde. Einen rechtlichen oder ideellen Fortschritt kann man dabei nicht ausmachen, jedoch einen gesellschaftlichen. Und darauf will ich abheben. Unter der Entkrampfung konnten sich auch wirtschaftliche Dynamiken besser entfalten. Unter der späteren „affirmative action“ wurden Sperren im Beschäftigungssystem des „öffentlichen Dienstes“ gelockert. Mit besserem Schulzugang wurden in der Folge Zugänge zu qualifizierteren Berufen erreicht. Und Schwarze fanden in der wirtschaftlichen Dynamik neue Möglichkeiten. Auch diesen Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung bewerte ich hier in keiner Weise nach unseren geistig-moralischen Urteilen als Fortschritt. Meine Behauptung ist vielmehr: Es gibt keine Emanzipation, weder von schwarzen noch von weißen Unterschichten in den USA. Es gibt individuellen Aufstieg, den man aber der Bewertung der Individuen überlassen kann. Neben vielen Aufstiegs- gibt es auch Abstiegsprozesse – z. B. die der „blue-collar-worker“. Die Verbesserung der Lage der abhängig Beschäftigten in den USA, wie auch in der Bundesrepublik, ist nicht ausmachbar (Pinkney 1984). Den Regierungen kann man nur zugutehalten, dass sie den Prozess der ökonomischen und gesellschaftlichen Dynamik nicht zu sehr verpatzt haben. Das Rechtssystem hat dabei eine große Rolle gespielt,
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weil es einerseits Veränderungen ermöglichte, andererseits die ungeheuer wichtige Rolle der Illusion von Gerechtigkeit glaubhaft machen konnte. Wir gehen im Folgenden darauf konkreter ein. Ich benutze für den Fortgang der Argumentation das College-Lehrbuch von Irish und Prothro, „The Politics of American Democracy“. Es hat den großen Vorteil, über die „civil rights“ in recht kritischer und distanzierter Weise zu berichten. Die Autoren heben hervor, dass die meisten universitären Lehrbücher nur das Ideal amerikanischer Verfassungswirklichkeit anbieten würden, wovon sie abwichen. An anderer Stelle und losgelöst von dieser kritischen Sichtweise, liefern sie selbst ideale Bilder, weil, wie sie listig bemerken, ohne dieselben das Lehrbuch von den Schulen nicht akzeptiert werden würde. Amerikanische College Studenten kommen mit diesem Verständnis klar, weil sie einerseits im amerikanischen Idealismus sozialisiert sind und in der englischamerikanischen Tradition seit Beginn der Republik gleichzeitig die zynischen Kontexte alle selbst schon beherrschen. Wozu in ganz ausgemachtem Sinne auch die feinen ethnischen und rassischen Unterscheidungen gehören. Zu Recht führen Irish/Prothro ihren Abschnitt über die „civil rights“ damit ein, dass sie selbige in den idealen Kontext der Zeit stellen. Diese Zeit stellt sich dar als die Jahre zwischen 1959 und 1964, der Edition der vorliegenden Fassung ihrer Studie. Nach dem Ideal der „Civic Culture“ gelten die USA in jenen Jahren als ein Maßstab zivilgesellschaftlicher Ausprägung. Die Verfasser starten das Kapitel über „individual rights and liberties“ damit, dass sie betonen “public policy is the output of the whole political process. We entrust our official decision-makers … with authority and power to determine and implement the public policy. But decision-making always occurs within the environment which conditions the official actors. …Public policies are never permanent, they must continuously reflect changes in the social 89
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environment and also react to changing demands and supports for governmental action within the community“ (Irish/Prothro 1964, S. 505f.). Die Abstraktion, dass Politik auf den Wandel im „social environment“ reagiere, ist zwar richtig aber ohne viel informativen Wert, denn es ist ja nicht gesagt, wer was im „social environment“ zu sagen hat. Aber die Richtung der Argumentation der beiden Autoren ist korrekt. Sie betonen, dass die „Verfassungsväter“ eine absolut hohe Meinung von den genannten bürgerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum hatten, aber getreu unserer methodischen Einschränkungen im Vorhergehenden ist es völlig gleichgültig, welche Meinungen Jefferson und Kollegen um 1789 (Verfassung) hatten. Viel wichtiger ist es zu wissen, welche konkreten Einschränkungen ihnen vorschwebten, denn diese sollten ja die US-amerikanische Gesellschaft prägen. So war sehr zentral im ersten Verfassungszusatz, dass der neu etablierte Kongress keine Macht haben sollte, eine Religion zu etablieren. Das heißt im Klartext, dass die Kirchen- und Religionsfragen Angelegenheit der Einzelstaaten zu bleiben hätten. Das muss man wissen, um sich nicht im Dschungel der dann bis auf den heutigen Tag folgenden Exegesen über den berühmten ersten Verfassungszusatz die Köpfe heiß zu reden (Cox 1986, S. 8ff. und Crushman/Crushman 1968). Sowohl Religionsfreiheit als auch Meinungsfreiheit als auch andere Freiheiten, die historisch erst noch erfahren und entdeckt wurden, sind allesamt wichtig für die Gesellschaft; und es muss einen Regulator geben, der die Reichweite solcher Konzepte auslotet. Das ist, wie unsere Autoren gerade anmerkten, die gesamte Gesellschaft, unterstützt dabei von ihrem obersten Gericht. Die Gesellschaft hat Meinungen, könnte man frei nach Friedrich Wilhelm Hegel, dem deutschen Rechtsphilosophen, formulieren, aber das oberste Gericht legt eine bestimmte Lesart fest. Weit gefehlt: Das Gericht legt eine Prozedur vor, nach der Streitfälle von den Richtern entschieden werden.
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Aber die Illusion ist wichtig, dass das Gericht etwas Endgültiges von sich gegeben habe. Dabei konnte es im Laufe der Rechtsentwicklung, je mehr sich die Richter von irgendwelchen religiösen Meinungen lösten, nicht ausbleiben, dass es nicht darauf ankommt, feste Normen zu postulieren, sondern nur die Illusion derselben. Richterliche Festlegungen mussten eine Ambivalenz festlegen nach der unter geschicktem Diskurs die einen bestraft und die anderen frei gesprochen werden konnten. Die Meinungsfreiheit der Zeitgenossen von Jefferson und Kollegen bestand darin, viele Meinungen von anderen zu unterdrücken. Das geschah mit ruhigem Gewissen, war man doch im 18. Jahrhundert noch religiös erzogen worden, d. h. man wusste viel über die „verkehrten“ Ansichten der anderen, die es füglich im Interesse der Wahrheit auch zu unterdrücken galt. Insbesondere auch die sexuelle Sphäre war bis in unsere Zeit hinein ein Feld, wo man „unsittliche“ Meinungen und Handlungen zu unterdrücken hatte. Man lese dazu die unglaubliche Geschichte des Kinsey-Reports bei David Halberstam, The Fifties, S. 272ff. Da gab und gibt es Tabus, die man besser nicht anrühren sollte, weil man damit Gefahr lief, angezeigt zu werden. An dem Tatbestand von Grenzen für bestimmte ideelle Konstrukte soll hier auch nicht gerüttelt werden, denn sonst könnten wir, wie dauernd geschehen, nicht von Gesellschaft oder von „social environment“ reden. Natürlich gibt es absolute Freiheiten nicht.
3.3
Ordered liberties
3.3 Ordered liberties Zwar mag es keine absoluten Freiheiten geben, aber es ist vorstellbar, all die gewünschten Freiheiten in ein geordnetes System zu bringen. Das hat die US-Amerikaner in dem tagtäglichen Chaos ihrer Gesellschaft immer inspiriert, bis hin zu John Rawls, der ein „System 91
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sozialer Gerechtigkeit“ erfand. Wir wollen der Einfachheit halber die schönen Ausführungen von Irish/Prothro paraphrasieren: Der Mensch in der sozialen Gemeinschaft wird als ein ethisches Wesen gesehen, das seine Gewissensfreiheit verantwortlich einsetzt. Das Recht auf vollständige und freie Diskussion ist durch die moralische Maxime gemäßigt, dass vernünftige Menschen, in Grenzen, auch n i c h t übereinstimmen können. Das Recht, Bücher, Zeitschriften usw. ohne Zensur zu publizieren, beinhaltet, die öffentliche Meinung zu informieren, nicht aufzuputschen. Das Recht des Individuums, zu lesen, was es will, beinhaltet die Verpflichtung klug auszuwählen, zu lesen, um sich zu informieren und zu beraten, oder zur Entspannung und Abwechslung (Pornos?). Wenn wir daran glauben, dass der „Marktplatz der Ideen“ für alle geöffnet sein sollte, dann müssen wir an das Gewissen und den „common sense“ der Bürger glauben können, das Schäbige und Falsche zurückzuweisen und nach dem Guten und Wahren zu suchen. Damit hängt der „demokratische Glaube“ (democratic creed) von der Intelligenz und dem moralischen Charakter der Bürger ab – so jedenfalls in der Bewertung von Irish/Prothro. Ist das nicht wunderbar gesagt? Es ist kaum anzunehmen, dass die beiden Autoren so naiv sind, diese „textbook-wisdoms“ wirklich ernst zu nehmen. Vielmehr ist es didaktisch sehr erhellend, den demokratischen Glauben so idealistisch in den Raum zu stellen, um sodann die Wirklichkeit besser konstruieren zu können. Denn selbstverständlich sind Bürger in der hier festgelegten Struktur nicht wirklich; sie sind rational, intelligent und moralisch, aber nicht ausschließlich. Sie sind nutzenmaximierend, auch wenn sie dadurch anderen Schaden zufügen können. Deshalb kann ihre Freiheit aufgrund hoher Tugendwerte nicht als Element der Wirklichkeit angesetzt werden, sondern die Eingrenzung muss da erfolgen, wo der Nachbar Schaden nimmt. Das hatten schon die Erzväter des Liberalismus, wie John Stuart Mill, erkannt. Eine Lösung für das
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Problem der Bösartigkeit des Menschen wurde nicht gefunden; und wie wir oben bei der Behandlung des „Grundgesetzes“ der USA feststellten, wurde eine Lösung auch gar nicht gesucht, weil der böse Mensch neben dem guten als ein Produkt der Natur gilt und als wichtig für den Überlebenskampf angesehen wird (von den Sozialdarwinisten, den Konkurrenzunternehmern und heutzutage von den Neoliberalen). Insofern arbeiten die amerikanischen Gerichte auch gar nicht an dem Projekt einer Besserung des Menschen, sondern an der „Gestaltung“ seiner Benachteiligungen – was immer das sein mag. Das macht auch eine der Schwierigkeiten aus, die Bürgerrechte in einer systematischen, logischen und abgestuften Folge zu behandeln. Vielmehr muss man dem historischen Gang der Dinge folgen und sich das Sammelsurium von Entscheidungen des Obersten Verfassungsgerichts der USA ansehen, um zu einem „Eindruck“ seiner Tätigkeit zu kommen.
3.4
Historische Entwicklung der Bürgerrechte
3.4 Historische Entwicklung der Bürgerrechte Wir verzichten auch hier wieder darauf, allzu weit zurückzugehen. Die „Bill of Rights“ hatten wir schon in den Blick bekommen, sie sind eher als prozedural anzusehen (aber nicht nur) und dann hatten wir die (Nicht-)Bedeutung des 14. Verfassungszusatzes beschrieben, der den großen „Corporations“ den schnellen Weg über den Kontinent freimachte und die Schwarzen frei, nackt und angstschlotternd an die Baumwollfelder band. Im Vergleich zu dem Colfax Massaker und der daraus folgenden Gerichtsentscheidung zu „U.S. v. Cruikshank“ sind einige der nächsten Schritte gar nicht mehr so spektakulär. Normalerweise setzt die Behandlung der modernen Rassenthematik mit dem Jahr 1896 „Plessy v. Ferguson“ ein. Das erfüllt natürlich auch den nützlichen Zweck, auf das Colfax Massaker gar nicht mehr eingehen zu müssen. Nach „Colfax“ hatte 93
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es in den Nord- und Südstaaten diverse Gesetze zur Rassentrennung in öffentlichen Institutionen gegeben, im Transportwesen, in Restaurants und öffentlichen Toiletten sowie im Schulwesen. Auch die Teilnahme an politischen Wahlen wurde durch erfindungsreiche Qualifikationen nahezu unmöglich gemacht. Es war das Zeitalter des Imperialismus und alles, was dunkelhäutiger war als die nordischen „Rassen“ wurde abgewertet. Gleichzeitig damit wurden Weiße aus der Unterschicht und aus dem Mob aufgewertet – solche, die bisher noch nicht wussten, dass sie zu einer „Herrenrasse“ gehörten. „Plessy“ war ein Mensch, der etwas „schwarzes“ Blut in seinen Adern hatte und der nicht einsehen wollte, dass er sich Toiletten mit Schwarzen teilen sollte. Das Gericht ließ ihm freilich keine Chance. (Das gab es natürlich auch, dass sich jemand darüber beschwerte, dass man ihm nicht einen privilegierten Platz einräumte. Später, nach dem ersten Weltkrieg, bei den Versailler Friedensverhandlungen, waren es die Japaner, die forderten, in den Rang einer Herrennation befördert zu werden. Die europäischen Großmächte und der US-amerikanische Präsident Wilson verweigerten dies und machten damit den Japanern klar, dass sie sich „ihr Recht“ selbst in imperialistischer Weise suchen müssten. Insofern war der japanische Vorstoß im 2. Weltkrieg nach Pearl Harbor und in Richtung australische Küste durchaus ein Racheakt, um es der „Herrennation Australien“ zu zeigen, dass die gelbe Rasse auch gleichberechtigt war im Rat der imperialistischen Mächte. Aus alledem wurde aber nichts. Nur die anderen asiatischen Nationen „erwachten“ und waren, sofern sie von Japan nicht in ihrer Existenz bedroht wurden, Bewunderer dieses Vorstoßes. Die angeblich „weißen Herrennationen“ machten eine schlechte Figur; und insbesondere Inder sahen voller Freude die englischen Niederlagen entlang der asiatischen Küste.) (Shannon, S. 3ff.).
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Das Gericht fasste alles, was an Rassentrennungsgesetzen bereits vorhanden war, zusammen und legte die Lage so fest, dass beide Rassen als gleichwertig bewertet wurden, jedoch sollten sie historisch getrennt marschieren. „Equal but Separate“ lautete die berüchtigte Formel. Von hier aus also können wir unseren Ausgangspunkt wählen, um auf die moderne Bürgerrechtspolitik zu kommen. Natürlich wurde es dem Verfassungsgericht im Laufe der Zeit klar, dass es sich aus Gründen der Bequemlichkeit eine Zeitbombe eingehandelt hatte, denn die amerikanische Nation wurde, indem sie allmählich zur Weltmacht mutierte, immer moderner. Und da machte es sich schlecht, als Vorbild vor anderen Nationen auftauchen zu wollen, die allmählich die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle Bürger ins Auge fassten. Es dauerte aber bis zum 2. Weltkrieg bis das Gericht anmerkte, dass die Formel nur dann gelte, wenn in der Realität auch wirklich gelte, dass getrennt nicht ungleich sei, etwa in der Besoldung von schwarzen und weißen Lehrern oder etwa in der Ausstattung der Schulen durch staatliche Mittelzuweisung. Das brachte natürlich keine Veränderung, aber es war ein Warnschuss. Die nächste Stufe im Fortgang der „Freiheit“ entwickelte sich jedoch im Bereich der Sozialgesetzgebung für den „weißen Mann“. Es war im Jahre 1935 und in der Amtszeit des großen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der zwar noch nicht der große war, aber es u. a. auch mit diesen Gesetzgebungen werden sollte. Der so genannte „New Deal“ war der Versuch, die amerikanische Gesellschaft dahingehend zu modernisieren, dass neben der Geltung der Regeln der „freien Marktwirtschaft“ auch das korporative Amerika Regelungen unterworfen wurde, die insgesamt zu einer stärkeren Flexibilisierung und vor allem einer verstärkten Integration großer sozialer Gruppen in das versicherte und abgesicherte Netzwerk einer modernen nationalen Gemeinschaft führten. Einfach ge95
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sagt, neben der Unternehmerwirtschaft und ihrem Finanzsystem musste vor allem der Agrarsektor gegen die Unbilden der Zyklen der agrarischen Produktion gesichert werden, und es musste für die weißen Teile der Arbeiterschaft ein Boden unter den Füßen (der 8-Stunden-Tag) und ein Dach über dem Kopf (Kranken- und Rentenversicherung) geschaffen werden. Das war alles nicht neu, die großen anderen Staaten wie England oder das Deutsche Reich hatten solche Netzwerke bereits. Wer nicht mitmachen wollte in den USA war das Oberste Verfassungsgericht; und Roosevelt musste zu dem Mittel greifen, dem Gericht eine Personalerweiterung anzudrohen, um Richter seiner Couleur auf die Bank zu bringen, damit seine „fortschrittlichen“ Gesetze durchkamen. Das Wunder geschah, das Gericht wurde einsichtig und hat von da ab für viele Jahrzehnte, bis Ende der 1960er Jahre, relativ viele fortschrittliche Gesetze in der Sozialgesetzgebung zustande gebracht, bzw. hat die Regierungen Roosevelt, Truman, Eisenhower, Kennedy und Johnson nicht in ihrer bescheidenen Reformpolitik behindert.
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Liberty oder „die Staatsbürgerschaft“
3.5 Liberty oder „die Staatsbürgerschaft“ Die Vereinigten Staaten halten sich viel dafür zugute, dass ein amerikanischer Staatsbürger einen besonderen Status hat. Amerikaner zu sein sei etwas Besonderes. Die vor einiger Zeit noch mit viel öffentlicher Inszenierung veranstalteten Verleihungen der Staatsbürgerschaft demonstrierten dies deutlich. Im Moment herrscht aus politischen Gründen eine Flaute, weil die Republikanische Partei auf Stimmenfang im Süden ist und lautstark gegen die Immigration zu Felde zieht. Hier sieht man aber, dass die Republikaner zwar alle auf eine bestimmte Machtposition hinarbeiten, dass aber auch ihre Netzwerke nicht alle gleich gepolt sind. Es herrscht gewissermaßen demokratischer Pluralismus. In
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diesem Fall gibt es starke Opposition gegenüber der Immigration, obwohl gerade die Wirtschaft gern den Niedriglohneinwanderer favorisiert und man diesen heutzutage vor allem aus Lateinamerika als Zuwanderer bekommen kann. Das hat zur unbeabsichtigten Folge, dass die lateinamerikanischen Staatsbürger der USA als Wähler abgeschreckt werden. Von einem Land, in dem die Staatsbürgerschaft so glorifiziert wird, sollte man annehmen, dass deren Status unumstritten ist. Das ist jedoch weit gefehlt. Und gerade an der Kompliziertheit dieser Institution zeigen sich viele der Unwägbarkeiten in der Ausprägung der Bürgerrechte. Der Fall, mit dem das alles klar und deutlich wurde, spielte sich 1937 im Staat Connecticut ab und widerfuhr einem Mörder/Totschläger mit Namen Palko. Palko hatte jemanden umgebracht und war vom Staat wegen Mordes angeklagt worden; ein niederes Gericht verurteilte ihn jedoch nur wegen Totschlags zu lebenslanger Haft. Der Staat Connecticut war mit dem Urteil unzufrieden und ging in Revision. Diesmal siegte der Staat, aber Palko hatte jetzt anscheinend ein leichtes Spiel, denn man kann in den USA und wahrscheinlich auch in vielen anderen Staaten nicht wegen einer Sache zweimal verurteilt werden. Palkos Fall beinhaltete anscheinend „double jeopardy“. Das oberste Verfassungsgericht sah die Sachlage genauso, aber es sah nicht, dass die „doppelte Gefährdung“ irgendetwas mit den „Bill of Rights“ im Rahmen des 14. Amendments zu tun hatte und damit den Staat Connecticut in seinen Rechtsfindungen einengte. So diffizil kann Rechtsfindung sein! Palkos Anwalt glaubte sich auf sicherem Boden als er argumentierte, „whatever is forbidden by the Fifth Amendment is forbidden bei the Fourteenth also“ (Lowi u. a. 2004, S. 122). Der Verfassungsrichter Cardozo konterte: „There is no such general rule“. Zusammenhänge beständen nur insofern als sie „implicit in the concept of ordered liberty“ enthalten sein müssten. Cardozo sagt mithin, dass der Staat Connecticut hier Handlungsfreiheit 97
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hätte, ob er die „Bill of Rights“ mit dem 14. Amendment zusammenbringen wolle. Für Palko braut sich mithin ein gravierendes Unheil zusammen! Richter Cardozo argumentiert weiter in aller Unerschrockenheit: Unterwirft die „double jeopardy“ Palko „to a hardship so acute and shocking that our polity will not endure it? Does it violate ‘those fundamental principles of liberty and justice which lie at the base of all our civil and political institutions?’ … The answer must surely be ‘no’“. Palko wurde hingerichtet, weil er im Staate Connecticut lebte, der keine Garantie gegen „doppelte Gefährdung“ offerierte. In einem anderen Staat der Union wäre er mit dem Leben davongekommen. Die Argumentation von Richter Cardozo ist atemberaubend. Er fragt nicht danach, was die Rechtslage für Palko bedeutet, sondern was sie für den Erhalt des Gemeinwesens bedeutet. Das ist eine seltsame Sichtweise auf ein Gemeinwesen, das persönliche Freiheit garantieren möchte. Mögen zwar die Werte Leben, Freiheit und Eigentum einen hohen Wert in einer liberalen Verfassung haben, so sind doch die historischen Sichtweisen darauf von einer nahezu unendlichen Varianz. Nach der Sichtweise Cardozos waren den Staaten damit Tür und Tor geöffnet, einen beliebigen Umgang mit „ihren Bürgern“ zu pflegen, einschließlich der polizeilichen Maßnahmen. Dieses „Patchwork“ an Zusicherungen und Negierungen von allgemeinen Geltungsmustern rechtfertigte Cardozo mit Prinzipien „so rooted in the tradition and conscience of our people as to be ranked as fundamental“. Eigentlich soll das „common law“, dem solche Weisheiten entnommen sind, nur in den Staatsgesetzen gelten und nicht die Gesetzgebung des Bundes prägen. Auch Irish und Prothro folgern: „When we search for some clear guide to the line of division between what is basic and what is not in court procedures, however, we are bound to be frustrated.“ Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass man unter „common law“ nicht etwas versteht, was in früheren Zeiten dem „Volksgeist“ ent-
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sprungen ist; sondern es handelt sich um Erfindungen der Richter, gewissermaßen um Schwachstellen ihrer eigenen Dogmatik zu überbrücken, bzw. zu kaschieren. Dem dient auch die Beschreibung dessen, was der „due process of law“ beinhaltet, durch den bekannten Verfassungsrichter aus der Zeit der Roosevelt-Ära, Felix Frankfurter: “Representing a profound attitude of fairness between man and man, and more particularly, between the individual and the government, ‘due process’ is compounded of history, reason, the past course of decisions, and stout confidence in the strength of the democratic faith which we profess“. Diese Weisheit stammt aus dem Jahre 1951 als die McCarthy Anhörungen vielen Amerikanern die „faire“ Behandlung entzogen (Irish/Prothro, S. 512f.).
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Der Übergang in die Moderne
3.6 Der Übergang in die Moderne Das 14. Amendment konnte dennoch seine volle Kraft am Ende des 19. Jahrhunderts entwickeln, als der Hochkapitalismus in den USA weder durch die Einzelstaaten noch durch die überseeische Expansion behindert wurde. Die USA wuchsen rasant zu einer imperialistischen Macht auf, die noch vor 1900 sowohl das Deutsche Reich als auch das abgeschlagene England wirtschaftlich überholten (Hobsbawn und Paul Kennedy). Obwohl 1894 noch einmal ein erbitterter Streik tobte, erholte sich die Wirtschaft ab 1895 schnell und bewirkte auch Änderungen im politischen Prozess, die weder von dem Verfassungsgericht noch von der Legislative antizipiert worden waren. Der Auslöser für eine progressive Modernität war diesmal eine soziale Bewegung, die eher von den Bildungsschichten ausging, aber vor allem auch die Ideen der agrarischen Produzenten aufnahm. Letztere waren lose im so genannten Populismus organisiert. Die neue politische Bewegung wurde als „progressivism“ bezeichnet. Sie war auf eine 99
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bessere Nationalisierung der USA hin orientiert, verfolgte mithin das Programm, das auch implizit im 14. Amendment enthalten war: Mehr Uniformität in der ganzen Union. Der herausragende Politiker dieser Bewegung sollte Präsident Theodore (Teddy) Roosevelt werden. Von 1901 bis 1908 vertrat Roosevelt eine Politik, die auf eine (moralische) Regulierung der großen Konzerne hinauslief und dabei auch einen gewissen Schutz der Arbeitermassen erzielen wollte. Diese Arbeitermassen waren gewaltig. Sie waren aus der Einwanderung nach 1880 entstanden und wurden vom amerikanischen Arbeitsmarkt aufgesogen (Degler 1959, S. 238ff.). Wir hatten sie bisher schon am Rande erwähnt. Für diese Massen war der Arbeitsschutz das allerwichtigste, der angemessene Lohn das zweitwichtigste und die Regelung der Arbeitszeit ebenfalls dringend. Wie nicht anders zu erwarten erreichte Roosevelt wenige Fortschritte aber auch viele Rückschläge durch die Gerichte. Aber er hatte das moderne Thema der Organisation der Wirtschaft auf die Tagesordnung gesetzt, von wo es nicht mehr verschwinden sollte. Roosevelts Orientierung fand am Deutschen Reich statt, das mit den Bismarckschen Reformen zu einem Vorreiter in der Sozialpolitik werden sollte. Auch der Umweltschutz war für die Zeit ein vorrangiges Thema; die Gründung der Nationalparks fiel in seine Regierungszeit. Am wichtigsten erscheint mir jedoch der Verweis auf die Regulierungen in der Wirtschaft und Gesellschaft. Nachdem Skandale die Lebensmittelindustrie erschüttert hatten, wurde nach 1905 der Lebensmittelschutz zu einem heiß umstrittenen Thema, das letztlich auch zur Gründung der FDA (Food and Drug Administration) führte, die in der Folge die Menschen vor den übelsten Gefährdungen ihrer Gesundheit schützte. Die regulatorischen Kommissionen innerhalb der Regierung wurden generell in dieser Epoche zu einem wichtigen Zweig einer „demokratischen Verfasstheit“; denn diese Kommissionen schützten die Menschen
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– so paradox das klingen mag – vor den (gewählten) Politikern. Die Kommissionen hatten einen Lebenslauf, der unabhängig von Wahlen war. Ihre Präsidenten wurden für lange Perioden gewählt und konnten häufig eigenständige Standards setzen, die einem Expertenwissen und nicht dem korrupten Wissen der Abgeordneten und Senatoren ausgesetzt war. So entstand auch eine „Federal Trade Commission“ sowie eine „Federal Exchange Commission“, also eine nationale Bankenaufsicht und -organisation und später noch mehr Kommissionen, die wir im Folgenden noch kennen lernen werden. Wichtig wurde auch das Verlangen in der Politik nach erhöhten Einkommensteuern, nach einer Direktwahl der Senatoren der Einzelstaaten, sowie die Forderung nach Vorwahlen, wodurch die „Bürger“ ein eigenes Gewicht gegen die (korrupten) Parteien erlangen sollten. All diese Reformen waren kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges durchgeführt, und zwar durch den zweiten „progressiven“ Präsidenten, Woodrow Wilson (Sanders 1986, S. 142ff). Die Gesetzgebungen folgten eher den Notwendigkeiten einer wirtschaftlichen Modernisierung. Aber ich hatte oben schon betont, dass in den USA rechtliche Schritte zur Emanzipation häufig durch die Blockade zwischen Einzelstaaten und der Bundesebene auf rein prozedurale Mechanismen reduziert wurden, wenn nicht überhaupt null und nichtig gemacht, jedoch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben wurden. Letzteres muss als ein äußerst wichtiger Faktor der amerikanischen Entwicklung angesehen werden. So geschah 1905 gar nichts als eine Textilfabrik in New York abbrannte und mit ihr mehr als 100 Frauen verkohlten. Dennoch blieb dieses Ereignis in der Öffentlichkeit virulent und erleichterte den Arbeitsschutz später im New Deal und darüber hinaus. Die USA waren bei solchen Modernisierungen zumeist ein Spätkömmling, bei anderen wiederum nicht. Der bedeutendste „Emanzipationsschritt“ nach der Jahrhundertwende von 1900 bestand darin, dass Henry Ford 101
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die Löhne seiner Fließbandarbeiter – das Fließband selbst ein Wunderwerk der Moderne, wenn nicht gar „die“ Moderne – so erhöhte, dass damit die industrielle Arbeitswelt auf einen Schlag epochal aufgewertet wurde (Halberstam 1986, S. 91f.). Die Maßnahme der Einführung von „Vorwahlen“ erwies sich allerdings, wie noch heute zu sehen, als ein gewaltiger Fehler. Mit den Vorwahlen werden nicht durch das Volk die besseren Kandidaten gegen die Parteien profiliert, sondern die Vorwahlen dienen dazu, Kandidaten zu demontieren, sie persönlich zu schädigen, wie wir es laufend noch sehen können, ohne dass da eine Abhilfe möglich wäre. Die Vorwahlen lieferten zudem den Südstaaten den Mechanismus, wie man die Schwarzen von der Wahl fernhalten konnte, nämlich dadurch, dass die einzige Partei des Südens, die Demokraten, für die Vorwahlen durch die weiße Parteiführung nur weiße Kandidaten aufstellten, die dann natürlich bei der Wahl auch von Schwarzen gewählt werden durften, was freilich deren Wahlbegeisterung recht dämpfte. So sieht man, dass durch progressive Maßnahmen manchmal auch die Strategien der Reaktion befördert werden können, ohne dass dies zu bremsen wäre. Der Weltkrieg brachte keine fortschrittlichen Entwicklungen, außer denen vielleicht, die in der Organisation der Kriegswirtschaft implizit mit enthalten waren, weil hier Organisatoren herangebildet wurden, die direkt oder indirekt später im New Deal und auch im zweiten Weltkrieg Verwendung fanden (Shannon 1965, S. 35ff.). Schwarze hatten zwar im 1. Weltkrieg für ihr Land mitgekämpft, aber als sie wieder zu Hause aus Übersee landeten, wurden sie mit brutaler Unterdrückung empfangen, genauso wie linke Gewerkschaftler, die nunmehr verdächtigt werden konnten, Kommunisten zu sein, weil es ja 1918 bereits die Sowjetunion gab. Diese traditionalen Gerechtigkeitsbewegungen zeitigten allerdings Folgen. So konnte mit dem Verweis auf eine Renaissance „guter, alter amerikanischer Werte“ der Feldzug gegen den Alkoholismus
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(ein neuer Abolitionismus) gestartet werden und der für das Wahlrecht der Frauen, der schon lange seine Vorläufer gehabt hatte. Das Wahlrecht für Frauen kam, wie auch in Deutschland, durch. Und das Alkoholverbot wurde ein Riesenerfolg für das entstehende organisierte Verbrechen. 1933 wurde das Alkoholverbotsgesetz von der Roosevelt Administration auf Bundesebene abgeschafft. Hinsichtlich einer emanzipatorischen Zielrichtung kann man die 1920er Jahre vergessen – es sei denn man zählt das Kino dazu. Aber sie waren bis 1929 eine Zeit der kapitalistischen Hochkonjunktur, in der sich für einige Schichten die Lebensverhältnisse verbesserten. Insbesondere für die Büroberufe in den hoch arbeitsteiligen Aktiengesellschaften. Ein reaktionäres Nebenprodukt verhalf der Arbeitnehmerschaft zu höheren Löhnen. 1924 wurde nämlich drastisch die Immigration eingeschränkt – und erst 1964 von Präsident Lyndon Johnson wieder belebt. Dadurch erreichten die Löhne ein etwas verbessertes Niveau, weil das Angebot an Lohnarbeitern stagnierte. Wir umgehen hier den New Deal, der die Grundlagen für ein soziales Sicherungssystem schuf und vor allem die Landwirtschaft aus den Zyklen der Natur herausnahm – dies alles, wie wir wissen, unter dramatischen Rahmenbedingungen. Ausgeschlossen aus dem Rentensystem der Roosevelt Administration blieben die Landarbeiter (schwarz) und große Teile des Dienstpersonals (schwarz). Der Krieg brachte eine Emanzipation insoweit als die amerikanischen GI’s sich nunmehr als vollwertige Mitglieder einer Weltnation fühlten und nach dem Krieg mit Fördermaßnahmen für ganz neue Berufe im tertiären Sektor ausgebildet wurden (Weinberg 2012). Die Kriegswirtschaft in der Zeit des Kalten Krieges verlangte nach Technikern und Ingenieuren und nach immer neuen Lehrern und Forschern an den akademischen Ausbildungsstätten und im Kriegsforschungsbereich. Dennoch waren die Jahre nach dem 2. Weltkrieg auch eine Zeit, in der die amerikanische Gesellschaft sich grundlegend veränderte, 103
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und zwar durch die rasante wirtschaftliche Entwicklung, die die Automobil-, Eigenheim- und Konsumgesellschaft erbrachte. Die Massen der heimkehrenden weißen Soldaten wurden in Bildungsprogrammen aufgefangen, die aus „blue collar“ Arbeitern „white collar“ Angestellte machten. Die großen Firmen und der neue Staatsapparat benötigten den „organization man“, dessen Stand als Konsument/Bürger in einer soliden Mittelstandsgesellschaft fest gefügt schien.
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Aufhebung der Rassengesetze und Emanzipation: Auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft
3.7 Aufhebung der Rassengesetze und Emanzipation Vieles von dem was die neue US-amerikanische Gesellschaft ausmachte und ihr weltweite Bewunderung eintrug, war ihr offensichtlicher Konsumreichtum sowie das selbstbewusste Auftreten von Individuen. Dabei gab es 1938 noch 8 Mio. Arbeitslose, und es starben Menschen auf den Straßen. Den Wandel hatte der Krieg gebracht und die Einsicht der Wirtschaft, dass man in der Nachkriegsordnung die USA als das Schaufenster der Welt darstellen müsse, um den Kampf gegen den Weltkommunismus nicht zu verlieren. Die Täuschung für die Außenwelt bestand darin, dass die überwiegende Werthaltung in der amerikanischen Bevölkerung christlich war, Familienwerte in prüder Weise beinhaltete; dass man diese Haltungen aber als liberal und progressiv verkaufen konnte. Insbesondere aber waren es die Konsumprodukte, die unwiderstehlich auf den Rest der Welt wirkten und die als „Reichtum“ einer ganz neuen Art alles Bisherige in den Schatten stellten. Der Koreakrieg vereinte ab 1950 die „Freie Welt“ gegen den Kommunismus und beförderte den Siegeszug amerikanischer Waren und Kulturprodukte, wie z. B. derjenigen von Hollywood.
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Ab 1953 regierte nach 20 Jahren erstmals wieder ein Republikanischer Präsident, Dwight D. Eisenhower, ein schwacher, eingebundener Präsident, der gesteuert wurde von einer sogenannten „konservativen Koalition“ aus Wirtschaftspolitikern und den Traditionalisten aus dem Süden. In dieser Situation entschied sich das nun weiterhin recht liberale oberste Gericht dazu über seinen Schatten zu springen. Die Rassengesetze wurden langsam aufgelöst. Was sich Roosevelt nicht getraut hatte, sein Nachfolger Harry S. Truman aber propagierte, nämlich ein „Civil Rights Committee“ (Bernstein 1971, S. 537ff.), nahm unter Eisenhower allmählich Gestalt an, ohne dass der Präsident die treibende Kraft war. Dies war diesmal das Gericht. Seit ca. 1950 experimentierte das Gericht mit Entscheidungen zur Rassengleichheit. Erst 1954 jedoch mit „Brown v. Board of Education“ ergab sich eine Lage, die wesentliche Veränderungen erbringen sollte (wollte). Mit „Brown v. Board“, wurde die Segregation an den amerikanischen Schulen „virtuell“ aufgehoben. 1950 hatte es den Fall eines schwarzen Studenten gegeben, der an der Universität von Oklahoma Rechtswissenschaft studieren wollte (Irish/Prothro 1965, S. 538). Die Universität nahm ihn jedoch nicht in den Pulk der Weißen mit auf, sondern schuf ihm einen gesonderten Platz in der Bibliothek, im Seminarraum und in der Cafeteria. Formal sei das wohl in Ordnung meinte der „Supreme Court“, aber zu einem Studium zählten ja noch Diskussion und Zusammenarbeit mit anderen Studenten. Damit war der Fall gegeben, dass „Equal but Separate“ unter sozialer Sicht nicht haltbar war. Die Universität von Texas wollte eine eigene schwarze Rechtsfakultät aufbauen, aber auch da war das Gericht der Meinung, dass das Soziale zu kurz käme, und „separate“ – egal, wie man es drehte und wendete – eben nicht „equal“ war. Damit lief alles auf die Entscheidung von 1954 hinaus, auf eine grundsätzliche Aufhebung der Rassentrennung im Bildungssys105
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tem. Die schwarze Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) brachte ihre Klage im Namen eines schwarzen Studenten „Brown“ gegen den „Board of Education“ von Topeca, Kansas ein. Das war ein wohlüberlegter Schritt, denn von hier hatte einstmals die Emanzipationsbewegung vor dem Bürgerkrieg ihren Ausgang genommen. Das oberste Verfassungsgericht nahm sich der Sache an und hob mit der Begründung, dass „separate“ nicht „equal“ sein könne, die Rassentrennung für das Bildungssystem der Vereinigten Staaten von Nordamerika auf. (In den Restaurants und den Toiletten war die Aufhebung schon vorher erfolgt. Außerdem hatte Präsident Truman schon im Koreakrieg in brenzliger Lage die Integration in gemischten Kompanien der Armee (nicht Luftwaffe oder Marine wo es sowieso nur wenige Schwarze gab) angeordnet. Der Sturm, der nun im Lande losbrach, insbesondere im Süden, war dann doch wohl stärker als erwartet. Dabei spielten weiße Politiker eine nicht unbedeutende Rolle. Wie weit die Richter und jene liberale Öffentlichkeit von Intellektuellen sich in illusionären Sphären befanden zeigt die Tatsache, dass sie mit wissenschaftlichen Expertisen zu begründen suchten, dass Rassentrennung schädlich sei. Auch die Studie Gunnar Myrdals aus Schweden über „The American Negro“ wurde als Beispiel für weiter entwickelte Erziehungswissenschaft mit angeführt, und die Ford Foundation stand mit Rat und Tat zur Verfügung. Das war allerdings eine Art der Unterstützung, die der Süden immer schon gehasst hatte. Ihr „they want to tell us?“ war nicht nur gegen liberale Meinungen gerichtet, sondern auch gegen den Versuch, eine „ausländische Expertise“ (outlandish, foreign) gegen den Süden einzusetzen. Dies kam einem erneuten Bürgerkrieg gleich. Der Süden war in Aufruhr für einige Jahre, die Integration ging nur schleppend voran (siehe „Mississippi Burning“ mit Gene Hackman). Präsident Eisenhower musste sogar Militär einsetzen, um an bestimmten Punkten schwarze Bürger zu
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schützen. Dennoch gab es Tote und eine Lösung ist bis heute noch nicht gefunden. Besonders prekär war es, dass wieder die Armee des Nordens im Süden stationiert war, wo man doch gerade erst Schulter an Schulter den Koreakrieg bewältigt hatte. Die in der Folge viel gefeierte Entscheidung des obersten Gerichtes war in der Tat eher eine problematische Hilfe. Ihre Verfasser müssen dies selbst bemerkt haben. Im folgenden Jahr, 1955, ordnete das Gericht einen „prompten Start“ zur Umsetzung an, überließ selbigen jedoch den zuständigen Bundesgerichten mit der Auflage „with all deliberate speed“ zu verfahren. Irish/Prothro kommentieren dies so, dass diese „Arbeitsanweisung“ eher „deliberation“ als „speed“ hervorgerufen hat. Eine solch offensichtlich zögerliche Haltung führt dazu, das Gericht nicht ernst zu nehmen. Insofern ist das Gericht selbst schuld daran, dass der Süden sich wirklich empörte, dass jedoch auch von den beteiligten Politikern ein ihren Zwecken dienendes politisches Spektakel abgezogen wurde. 1964 waren in desegregierten Einzelstaaten 2 % der schwarzen Kinder „integriert“, das klingt nach wenig, macht aber an Zahl 58.000 aus. In 17 Einzelstaaten waren 1964 von 5.973 Schuldistrikten 1.282 desegregiert. Viel oder wenig? (Irish/Prothro 1965, S. 539). In Mississippi hatte sich kaum etwas geändert. Im Staat Virginia waren 62 % der Distrikte desegregiert. Das Urteil des Verfassungsgerichtes war zum Teil in einem Klima geboren, in dem eine positive Stimmung für eine irgendwie geartete Lösung des Rassenproblems vorhanden war. Allerdings war die gegenteilige Stimmung – und ist sie in den USA nach wie vor – recht sperrig. Je nachdem, wie man mithin das Gewicht der sozialen Veränderungen bewertet, kann man von Fortschritten oder von einem Versagen des Gerichts ausgehen. Das Gericht hat nicht versucht, ein bestimmtes Ziel zu erzwingen. Mehr noch und wesentlich problematischer, es hat in vielem die Entscheidung Zwang anzuwenden, nämlich die Integration „anzuordnen“, tapfe107
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ren Bundesrichtern überantwortet, die sich damit in Lebensgefahr brachten. Wenn man von Fortschritt oder von Rückschritt, wie bei den heutigen ethnischen, religiösen und Rassenproblemen in den USA, aber auch weltweit, spricht, muss man immer berücksichtigen, dass es vielleicht den klar sichtbaren Fortschritt nicht gibt, sondern dass das Verhältnis von Freiheitsrechten zu sozio-ökonomischen Verhältnissen ein gespanntes bleibt, in dem keine endgültigen Resultate zu erzwingen sind. Die Lehrbuchautoren Irish/Prothro beschreiben und analysieren die Sachverhalte kritisch, bewerten aber in erwartbarer Weise das Resultat positiv. Wenn man in historisch-politischer Analyse positive Ergebnisse an positive Ergebnisse aneinanderreiht entsteht leicht der Eindruck des Fortschritts. Wir haben dies hier auch getan; das Gegenteil muss aber auch erlaubt sein (Pinkney 1984). Zudem muss berücksichtigt werden, dass die 1950er Jahre gleichzeitig Jahre der Verfolgung von Liberalen waren, dass es also eine große Leistung des amerikanischen Liberalismus darstellt, das Klima für die Rassenintegration zu schaffen, wo man doch unter Druck stand beweisen zu müssen, dass man nicht kommunistenfreundlich sei. Andererseits waren dieses Jahrzehnt und auch das folgende eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs für den Süden. Im Kalten Krieg wurde eine massive Rüstungs-, vor allem Flugzeugindustrie, in Kalifornien aus dem Boden gestampft, so dass viele schwarze Arbeiter die Dumpfheit des Südens hinter sich lassen konnten und in besseren wirtschaftlichen Verhältnissen im Großraum Los Angeles landeten. Dort aber fanden viele von ihnen sich wieder in den Ghettos von Watts und damit in den Zentren der Rassenunruhen von 1965. Dennoch wirkten gerade im 1960er Jahrzehnt große Kräfte mit- und gegeneinander in Fragen sozialer Veränderung und Emanzipation (Brogan 1996, S. 151ff.). Die Präsidentschaft Kennedys symbolisierte einen „Stil der Liberalität“, der wiederum eine neue
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Ära an Befreiung von protestantischer Enge versprach. Aber erst Kennedys Tod im November 1963 ermöglichte es seinem Nachfolger, Lyndon Johnson, als „Vermächtnis“ des toten Präsidenten 1964 die „Civil Rights“ durch den Kongress zu peitschen und 1965 die „Political Rights“. Beide Gesetze stellten die erste wirklich substanzielle rechtliche Verbesserung der schwarzen Bevölkerung dar. In Analogie zu den Rentengesetzen aus den 1930ern könnte man sagen, dass hier „ein Dach“ für die schwarzen Unterschichten geschaffen wurde (versucht wurde zu schaffen). Mindestens gleich bedeutsam sollten die Regelungen aus den gleichen Jahren sein, mit denen Präsident Johnson und die Demokratische Partei die Krankenversicherung „Medicare“ für die älteren Bürger über 65 Jahre schuf, also eine staatliche Krankenversicherung für Rentner, die eine solche Absicherung benötigten. Gleich wichtig war dabei, dass diese Versicherung auch den Älteren aus der Unterschicht den Gang in eine „Clinic“ nicht verwehrte. Konkret war das Ganze mit Problemen behaftet, aber es war eine gesetzliche Regelung. Als daraufhin die Republikaner den Präsidenten beschuldigten, dass er die nicht abgesicherte Unterschicht „vergessen“ habe, entschuldigte sich Präsident Johnson für seine Vergesslichkeit und rief auch noch „medicaid“ ins Leben, die Krankenversicherung für nicht Beschäftigte. Man sieht, die USA hatten und haben sowohl Renten- wie auch Krankenversicherungen. Wer regelrecht nicht versichert war, das waren im „Empire of Liberty“ diejenigen Beschäftigten, die als zum Teil hochbezahlte Wanderarbeiter hohe Löhne bezogen, aber lieber unversichert blieben und damit mit hohem Risiko – auch für ihre Familien – lebten. Diese Gruppe, die in den letzten Jahrzehnten wegen vieler Firmenpleiten und der Beschäftigung nach Mindestlohn anwuchs, deckt nunmehr „gesetzlich“ „Obama Care“ ab. Es sollte nicht wundern, wenn „Obama Care“ genauso zögerlich und unvollkommen umgesetzt wird wie seinerzeit die Schulintegration 109
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von 1954. Alle Demokratischen Präsidenten wollten eine solche allgemeine Krankenversicherung seit Präsident Trumans Zeiten schaffen, aber es war ihnen wegen mangelnder Kongressmehrheiten nicht möglich. Obama hat dies bewerkstelligen können, es wird sein großer historischer Triumph bleiben. Viele naive Weiße dachten nach 1965/66, dass nunmehr mit den Gleichstellungsgesetzen alles getan sei, was man füglicherweise als gut meinender Liberaler für eine Unterschicht machen kann. Als parallel zu diesen Gesetzen die Rassenunruhen in vielen Städten der USA ausbrachen, fühlten sich die Liberalen hintergangen. Die Konservativen waren sowieso überzeugt, dass es sich um Fehlentscheidungen handele und dass man das Rassenproblem einfach der Zeit überlassen müsse. „Benign neglect“, wie die konservativen Amerikaner zu sagen pflegen. Eher wird man vermuten dürfen, dass die Gleichstellungsgesetze das schwarze Selbstbewusstsein hoben und die Gewissheit unter Schwarzen stärkten, dass man benachteiligt war und blieb. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King versuchte mit der Brechstange eine Rassenintegration zu erreichen. Er marschierte nach Washington und verkündete seinen Traum; und er versuchte in weiße Arbeiterviertel in Chicago einzudringen, um Solidarität mit den „blue collar“-Kameraden herzustellen. Das Ziel konnte so nicht erreicht werden. Die weißen Arbeiter in Detroit, Chicago und anderswo sind selbst auf Defensive eingestellt. Den in den öffentlichen Geschichten dargestellten kosmopolitischen Amerikaner gibt es nur unter den Liberalen und zumeist in der Filmindustrie Hollywoods (Jane Fonda); er ist keine Gestalt aus dem realen Leben. Iren in Boston lehnen nicht nur Schwarze ab, sondern auch Italiener und Polen. Die Rassenunruhen haben zu einer Stagnation der ethnischen und rassischen Bemühungen um Anerkennung beigetragen. Im Gefolge der Unruhen kam es zu Ausschreitungen weißer Nationalgarden, z. B. in Newark/New Jersey (Perlstein 2008, S. 189ff.), die durch
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Straßen marschierten und einfach in Wohnungen schossen, wo Schwarze lebten, die an Unruhen überhaupt nicht beteiligt waren. Der Gouverneur konnte kaum seine Empörung unterdrücken; er konnte aber auch nicht dem weißen Mob in den Rücken fallen. Schwarze konnten in jenen Jahren dadurch Punkte machen, dass sie für die „Freiheit“ in Vietnam ihr Leben einsetzten. Sie taten dies, aber sie desertierten auch, mit Vorliebe nach Kanada. Sie kämpften für ihr Vaterland, das den weißen Studenten zusicherte, sie müssten keinen Kriegsdienst ableisten, sofern sie studierten. Mithin wurde dies der erste Krieg, den vor allem schwarze Soldaten für die USA fochten. Sie waren tapfer, aber ihr Oberbefehl wusste nicht warum und wie er den Krieg führen sollte. So kamen die schwarzen GI’s diesmal nach Hause und wurden beschuldigt, sie hätten den Krieg verloren. Die weißen Studenten wollten lieber protestieren als studieren, weil sie einen Überdruss an den kulturellen Verhärtungen empfanden. Ende der 1960er Jahre gab es die Blumenkinder von Kalifornien, Drogen und „Woodstock“, das Festival mit Janis Joplin. Es gab aber auch den Parteitag der Demokraten in Chicago, wo es beinahe zu Massakern zwischen konservativen und liberalen Demokraten gekommen wäre. Hier fand 1968 endgültig der Abschied vom „politischen System des Südens“ statt, wenngleich dessen Ableben, wie üblich, sich noch um Jahre verzögerte. Es starb weiterhin ab unter Ronald Reagan, um dann in den 1990er Jahren endgültig als neue Partei der Republikaner des Südens geschaffen zu werden. 1968 wurde Hubert Humphrey, der liberale Vizepräsident unter Johnson, Kandidat der Demokratischen Partei. Unter George Wallace, dem Gouverneur aus Alabama, leitete eine unabhängige Partei die Wählertrennung innerhalb der Demokraten ein. Wallace drang mit seinen Anhängern bis weit in den Norden vor und spaltete konservative Arbeiterwähler vom liberalen Spektrum ab. Die Republikaner, und vor allem ihr Führer Richard Nixon, sahen 111
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dies mit Wohlwollen und hofften auf Wählerzuwachs. Die Wahl ging trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen für die Demokraten – vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges in Vietnam – sehr knapp zugunsten Nixons aus. Das heißt, die Demokratische Partei hielt zusammen und erweiterte sich aufgrund des „Political Rights Acts“ um erkleckliche schwarze Stimmen aus dem Norden. Ab 1968 war die Demokratische Partei eine soziale Bewegung von Minoritäten und Emanzipationsgruppen, wie etwa der Frauenbewegung (Schissler 2019, S. 193ff.). Damit war aber nicht ein Aufbruch in Sachen „civil rights“ verbunden, sondern der neue Zustand bezeichnete das Ende der Reformbewegung. Der „Civil Rights Act“ von 1966, der der Forderung nach „Fair Housing“ nachkam, war bereits eine sinnlose Reformabsicht. Denn gerade das Thema der Nichtdiskriminierung in Wohnungsfragen – so wichtig es theoretisch und praktisch war – hatte nicht länger Chancen auf Umsetzung. Vielmehr ergab sich aus Schulreform und den Bürgerrechten von 1964/65 eine Reaktion, die die konservative weiße Bevölkerung verstärkt in die Vorstädte trieb. Die Zentren der großen Städte wurden zunehmend der einströmenden schwarzen Bevölkerung zur Verfügung gestellt, weil unmittelbar an solchen Orten die beste Sozialversorgung zu haben war. Natürlich verschlechterte sich die Lage mit der fortschreitenden Ghettobildung ebenfalls rapide. Der Studentenprotest gegen den Vietnamkrieg, der allmählich weltweite Züge angenommen hatte, schaffte eine kulturelle Erweiterung, indem neue Verhaltensformen, „psychische Erweiterungen“ und antiprotestantische Lebensweisen auch zu ihrem Recht kamen. Von rechter und konservativer Seite wurde dieses Experimentieren als „counter culture“ diffamiert und sollte genauso verfolgt werden, wie zuvor der New Deal-Liberalismus während der McCarthy Periode (ca. 1944–1958). Die Studentenbewegung lieferte noch einiges an liberalem Gedankengut, weil sowohl der Vietnamkrieg als auch die Nixon Administration
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sich gut als Angriffsfläche für liberale Einstellungen eigneten. Im Grunde aber lief sich diese Bewegung tot. Sichtbarstes Zeichen war der Wahlkampf von 1972, in dem Richard Nixon einen überwältigenden Sieg gegen die „liberale, postmaterialistische“ Demokratische Partei unter ihrem Kandidaten George McGovern erzielte. Der Wahlkampf war mit allem Schmutz geführt worden, der zumeist in den USA Wahlkämpfe auszeichnet. Präsident Nixon hatte zwar noch in seiner ersten Administration, aber auch zu Beginn der zweiten, mit Hilfe der Demokratischen Kongressmehrheit reformerische Maßnahmen umsetzen können, aber diese liefen schnell auf eine baldige Blockade hin. Nixon tat dies, um die Wählerbasis der Republikaner mit neuen Schichten zu erweitern. So wurden progressive Arbeitsschutzgesetze beschlossen. Die OSHA, die Arbeitsschutzverwaltung, wurde ausgebaut und eine einheitliche Umweltschutzbehörde, die EPA, „Environmental Protection Agency“, wurde durch Nixon geschaffen – wie gesagt im Verbund mit einer Demokratischen Kongressmehrheit und in der Absicht, selbst für Progressive wählbar zu werden. In der Folge nahmen dann die Republikaner gegen beide Organisationen bevorzugt den Kampf auf, um ihrer Klientel zu zeigen, was sie tatsächlich von Arbeitsschutz und Umweltschutz hielten. All dies besagt, dass soziale Freiheit in den USA wieder enger gesehen wurde als in den beiden Jahrzehnten zuvor. Eine der letzten großen Reformmaßnahmen stellte noch die Entscheidung des obersten Verfassungsgerichtes zur Abtreibungsfrage von 1973 dar. Der Kongress hatte es nicht gewagt, auf diesem Feld gesetzgeberisch tätig zu werden. Das Thema Abtreibung sollte mithelfen, die fundamentalistischen Kirchen in den USA, insbesondere im Süden, stark zu aktivieren und den Sieg der Konservativen und Rechten unter Ronald Reagan ab 1981 in die Wege zu leiten. Danach waren die USA wiederum etwas anderes als zuvor.
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Insbesondere aber sollte sich die Drogenproblematik als ein schwerer Rückschlag für weitere Reformen erweisen. Das Drogenproblem, aus dem Vietnamkrieg und aus den neuen Ghettos resultierend, sollte fast gänzlich Teilen der schwarzen Bevölkerung zugeschoben werden, obwohl rein mengenmäßig, die „weiße Nachfrage“ ebenfalls als eine Hauptursache dingfest gemacht werden kann. Politisch gesehen ist das Drogenproblem ein „Law and Order“-Problem. Wer das Thema politisch besetzt kann sicher sein, die kriminalitätsbewusste Bevölkerung – also wieder eine „Ideenpolitik“ – auf seiner politischen Seite zu haben. Das traurige Verdienst, diese Politik aktiviert zu haben, kam 1973 dem Gouverneur von New York zu, Nelson Rockefeller. Seitdem spricht man von den „Rockefeller laws“. Rockefeller galt in der Republikanischen Partei als ein Liberaler, wie häufig die Milliardäre und ihre Stiftungen sehr kosmopolitisch und humanistisch eingestellt waren. Gerade deshalb wählte sich Rockefeller ein zusätzliches reaktionäres Thema, um seine politische Basis zu erweitern. Die Rockefeller Gesetzgebung von New York wurde im Lande kopiert und erbrachte ein Ende der Rehabilitationsphase, in der nach liberalen Techniken versucht wurde, den Drogenkonsum mit Rückgliederungspraktiken in die Gesellschaft einzudämmen. Die neuen Gesetze sahen strenge Strafen für Drogenbesitz vor und führten bei Rückfall zu erheblich erweiterten, bis hin zu lebenslangen Strafen. Wir kommen darauf zurück. Bei alledem gilt, dass sich vieles an der Integration von „Minderheiten“ in den USA geändert hat, vieles aber ist auch gleich geblieben oder hat sich verschärft, wie z. B. bei der Wohnungsfrage. Die Sozialgesetzgebung hat gegen Ende der 1960er Jahre auch dazu geführt, dass Ehen zwischen schwarz und weiß nicht länger verboten sind. Obwohl man nicht gerade von einem „run“ nach „gemischtrassischen“ Familien ausgehen kann. Dennoch ist dieser Bereich, gewissermaßen oberhalb der „Stillen Revolution“, vielleicht wichtiger als der ideologisch ausgefochtene
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über Rechtsnormen und „Ideen“. Im neuen Jahrhundert, dem 21., kommt es häufiger zu Ehen aus unterschiedlichen Ethnien – weiße Männer heiraten gern asiatische Frauen. In der weiteren Verwandtschaft der Familienclans findet man dann häufig auch Paare und „Verwandte“, die eine dunklere Hautfarbe aufweisen. Dies verstärkt gelebte Toleranz, und zwar nicht von Prinzipien her, sondern vom Zwang diktiert, verwandtschaftliche Konformität als Höflichkeit zu demonstrieren (Hochschild 2005, S. 70ff.).
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3.8 Das Strafsystem In all den erwähnten Jahrzehnten einer liberalen Lockerung der gesellschaftlichen Beziehungen im weitesten Sinne in den USA hat das einzelstaatliche und auch das bundesstaatliche Polizeisystem nicht geschlafen. Es hat sich nicht einmal nach den neuen Vorstellungen von Zusammenleben gewandelt. Wer in den USA reist, weiß, was ich meine. Sheriffs und Polizisten sind mit großer Vorsicht zu behandeln. Sie sind hilfreiche Amerikaner, wie fast alle Bürger aus ihrer alten Tradition heraus. Sie verfahren aber auch strikt nach Normen, die wir als Europäer manchmal nicht unmittelbar verstehen können. Man sollte mit Polizisten nicht diskutieren wollen. Folge leisten und „Yes, sir!“ sagen kann nicht schaden. Bei aller Freundlichkeit geht das Polizei- und Justizsystem davon aus, dass es in der Gesellschaft von Kriminellen nur so wimmelt. Die quantitative Produktion von Kriminellen in den USA ist beachtlich. Schon Kinder, die auf dem Schulhof einem frechen Nachbarn eine Ohrfeige verabreichen, können für einige Zeit in eine Besserungsanstalt überwiesen werden (The Economist, Febr. 28, 2009, S. 46). Eine der letzten großen Leistungen in der Rechtsprechung der 1960er Jahre war der Fall Miranda vs. Arizona von 1966. Diese 115
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Gerichtsentscheidung brachte einen Durchbruch für den Schutz vor Polizeiwillkür. Ab dann hatte die Polizei bei einer Verhaftung oder Beschuldigung „die Rechte“ des „Beschuldigten“ selbigem vorzulesen. Das beinhaltet einen Meilenstein in der Entwicklung hin zu einem Rechtsstaat ohne Polizeiwillkür. Aus dem was wir bisher wissen resultiert jedoch, dass „Miranda“ nicht immer die gesetzlich festgelegte Beachtung fand. Der bekannte Kriminalautor John Grisham hat einen „wahren Thriller“ „The Innocent Man“ geschrieben, in dem er eine Fülle von Rechtsverletzungen aus der Gegenwart „dokumentiert“ (ohne Analyse und ohne Bewertung), die schockierend sind. In ihm wird auch die Miranda-Regel krass verletzt, indem der Richter erst im Berufungsfall die Regel im Anschluss an seine Beweisaufnahme anführt. Es handelt sich dabei um eine wohl offensichtliche Verunglimpfung dieser Regelung durch einen Provinzrichter des Staates Oklahoma. Anfang der 1970er Jahre, also zur Amtszeit von Präsident Nixon, war das goldene Zeitalter nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der gesellschaftlichen Entwicklung in den USA beendet. Das neue oberste Gericht (der so genannte Burger Court) nahm sukzessiv Teile der fortschrittlichen Rechtsprechung wieder zurück (Parenti 1977, S. 306ff.). So wurde insbesondere das Polizeirecht, an dessen verfassungsmäßiger Qualität Zweifel angebracht waren, wieder aus der Diskussion genommen und als völlig adäquat behauptet (Chemerynski 2015, S. 8f. und Simon 2014, S. 62ff.). In den Strafprozessen fand eine Verlagerung vom Richter hin zum Staatsanwalt (prosecutor, District Attorney, DA) statt. Dabei wurde vom „Burger Court“ auch die Kompetenz der Juries beschnitten (Parenti 1977, S. 308). Hintergrund für diese Maßnahmen bildete die Zunahme der Straftaten nach dem 2. Weltkrieg, die, wie schon gesagt, mit dem Vietnamkrieg und dem erhöhten Drogenkonsum zusammenhing. Man kann sagen, durch die Verkürzung des Rechtsweges und dessen Zentrierung auf die Staatsanwälte, wurden
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Juries und Richter an den Rand gedrängt Ausgerechnet während der Trump Administration hat der Kongress versucht, Verbesserungen anzubringen – man wird sehen! Die Staatsanwälte haben zudem ein robustes System entwickelt, durch das sie schnell auf ihr Ziel hinstreben können. Um eine langwierige Beweisaufnahme zu verkürzen, schlagen sie dem Angeklagten – mehr oder minder mit Einverständnis von dessen Rechtsbeistand/Verteidiger – vor, ohne seine Schuld zu beweisen, für ein Schuldbekenntnis einer geringeren Art auf das Gerichtsverfahren zu verzichten. Statt lebenslänglich können damit manche Angeklagte mit 4 Jahren davonkommen. Viele Angeklagte stimmen dem zu, weil es ihnen sicherer erscheint als die Unwägbarkeit eines Gerichtsverfahrens. So ist es heute eine Tatsache, dass von den 2 Mio. Insassen in amerikanischen Gefängnissen 97 % ihr Schuldeingeständnis ohne Gerichtsverfahren abgegeben haben. Es gibt Schätzungen, dass 4 bis 8 % der so Bestraften ganz unschuldig waren, aber lieber Schuld bekannten als den Unwägbarkeiten des ordentlichen Verfahrens ausgesetzt zu sein. Hier liegt ein „Civil Rights“-Problem von einer Größenordnung von 80.000 bis 160.000 Betroffenen vor, das in Zukunft seiner Therapie harrt (Rakoff 2014, S. 26f.). In den „Bill of Rights“ wird den amerikanischen Bürgern garantiert, dass sie von einer Jury an ihrem Wohnplatz schuldig oder unschuldig gesprochen werden müssen. Von diesem Brauch ist das moderne Justizsystem – im Unterschied zu Hollywood – weitgehend abgewichen. Im 18. Jahrhundert hatte man die Mitbürger noch als die Garanten einer „gerechten Rechtsprechung“ angesehen, so suggerieren es auch die Filme. Das sind alles Gewissensträger, die sich da abquälen, die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten herauszufinden. Den Erkenntnissen der Psychologie entspricht dies nicht länger. Wer will heutzutage schon im Angesicht seiner Nachbarn auf seine trüben Seiten hin abgeklopft werden? Wenn schon Juries, dann im modernen Sinne solche, die „neutral“ sind, 117
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die einen nicht kennen und auch keine „Vorurteile“ haben. Wir kommen auf eine Bewertung des Jetzt-Zustandes noch zurück! Zuerst einmal: Wer kommt denn in die amerikanischen Gefängnisse und warum sind es im internationalen Vergleich so viele? Da ist zum einen die schon erwähnte „Keine Toleranz“-Sichtweise, die seit 1973 als sogenanntes „Rockefeller law“ – siehe Internet – die Gesetzgebung bestimmte. Wer in bestimmten Zeiträumen rückfällig wird, der geht u. U. lebenslänglich ins Gefängnis. Dem Augenschein nach müssen dies insbesondere Schwarze in den USA sein, vor allem schwarze Männer. Eine Million davon sitzen in den Gefängnissen oder sind auf Bewährung; das macht die Hälfte aller Gefängnisinsassen (Basis: 2 Mio.) aus. Den Tatbestand muss man allerdings näher beleuchten. In einem Urteil von 1976 bereits (Washington v. Davis) wurde die Hypothese, dass Gesetze eine Neigung zu Rassismus haben könnten, dahingehend relativiert, dass man diese Neigung nur annehmen dürfe, wenn ein „Motiv“ zu selbiger vorläge. Sollte ein Gesetz lediglich unterschiedliche Gewichtungen auf ethnische Bevölkerungsgruppen aufweisen, müsse man nicht automatisch von einer Verletzung der „equal protection clause“ ausgehen. Daraus folgte dann in der Zukunft die richterliche Entscheidung, dass eine Regelung unterschiedlicher Art zwischen dem Besitz von „Crack“ und dem von „Cocaine“ nicht den Gleichheitsgrundsatz von Zusatzartikel 14 verletze. So ist z. B. immer noch gültig, dass, wenn Delinquenten mit 5 Gramm Crack ertappt werden, sie verurteilt werden können, und dass sie nicht über 500 Gramm Kokain bei sich haben dürfen. Es stellte sich heraus, dass 90 % der Crackbesitzer Schwarze waren, während 75 % der Kokainbesitzer weiß waren (Klarmann 2011, S. 101ff.). Da zudem so viele Schwarze in den Gefängnissen sitzen ist wohl leicht zu beweisen, dass die (weiße) Polizei unfair kontrolliert. Sie kontrolliert und verhaftet an den Plätzen, wo Schwarze ihre Parties feiern stärker und intensiver als bei weißen (Jugendlichen).
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Festzuhalten ist auch, dass, wenn Gerichte als Beweis „das Motiv“ verlangen, es sich dabei um einen juristischen Trick handelt, denn Motive sind schlecht nachzuweisen. Insofern ist Vorsicht geboten: Immer wenn ein Motiv verlangt wird, kann es sich um eine rassistische Rechtsprechung handeln oder um eine schichtenspezifische, denn auch bei Betrug sind die Rechtsbrecher häufig solche der kommerziellen Oberschicht, die einen Kunden betrügen, was im Falle einer Motivfindung natürlich schwer bis gar nicht nachzuweisen ist. Oklahoma City leutete durch einen „Fall“ 1991 das Ende der Schulintegration nach „Brown v. Board of Education“ ein. Das Gericht entschied, dass, wenn die Schulen in „gutem Glauben“ für eine „reasonable period of time“ Integration betrieben hätten und Desegregation „to the extent practicable“ abgeschafft worden sei, dann sei mithin die Auflage, noch weiter Integration betreiben zu müssen, aufgehoben (Klarmann 2011, S. 101ff.). Mit dem Trick „Motiv“ haben die Gerichte auch die Ausgleichsversuche durch Programme mit dem Namen „Affirmative Action“ torpediert. Wenn es Ungleichheit in der Gesellschaft gibt, dass müsste man, um den Tatbestand „verfassungswidrig“ zu belegen, als „Motiv“ nachweisen können. Das wurde 1995 dann auch für „Busing“ so vom obersten Gericht begründet. Damit wurde der Transport weißer Schüler in städtische „integrierte Schulen“ aus den Vororten gestoppt. Die Vororte in die städtischen Schuldistrikte einzubeziehen war bereits 1974 (Milliken v. Bradley) untersagt worden, obwohl das Gericht nicht überprüfte, ob die Abgrenzung des Schuldistrikts nicht bereits aus rassistischen Gründen erfolgt war. Seit der Zeit der konservativen Reagan Administration (1981 – 1988) wurden viele Barrieren, die das Gericht vielleicht perzipieren konnte, gar nicht länger wahrgenommen. Klarman kann berichten, dass 1987 eine Beschwerde zurückgewiesen wurde, nach der in Georgia mehr Schwarze als Weiße für gleiche Mordverurteilungen hingerichtet wurden, und zwar 4,3-mal mehr. Der Nachweis der 119
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rassistischen Schlagseite des Gerichtssystems kann sogar bis zur Lächerlichkeit gesteigert werden, ohne dass es die Betreiber dieses Systems stört: So wurde mit dem Fall (United States v. Armstrong) 1996 entschieden, dass schwarze Angeklagte keinen Zugang zu den Akten verurteilter Weißer haben dürften, um zu beweisen, dass weiße Täter bevorzugt worden waren. Gerade dies ist aber nicht anders als durch Akteneinsicht zu belegen. Und um den Zynismus vollkommen zu machen, urteilte das Gericht 2007 – schnell noch vor dem Ende von George W. Bushs Amtszeit – dass die „Brown Entscheidung“ von 1954 eine rassistische Entscheidung gewesen sei, weil sie den Rassenaspekt überhaupt thematisiert habe. Das schlägt nun allerdings dem Fass den Boden aus. Begründet wurde dies damit, dass Gesetze „farbenblind“ sein sollten. Dieser Begriff hatte sich zwischenzeitlich durchgesetzt für die Beurteilung bei Einstellungen unter „affirmative action“. Die klagende Bürgerrechtsorganisation von 1954, die NAACP, hatte den Begriff „farbenblind“ gebraucht, um zu signalisieren, dass man nicht blind sein dürfe gegenüber rassischer Bevorzugung. Im Laufe der Jahre war der Begriff dahingehend verfälscht worden, dass man „benign neglect“ mit „farbenblind“ synonym setzte. Die großen Fakten bleiben zwar, aber ihre Bewertung ist keinesfalls eindeutig: So gibt es in den USA (The Economist 2014, S. 41) auf 100.000 Personen 4,7 Morde oder Tötungen. Das ist die niedrigste Rate seit 50 Jahren. Dennoch im Vergleich: Im nahegelegenen Kanada sind es 1,6 Morde und in Europa 1 Mord per 100.000 Personen. Nimmt man nur die Gruppe der 18–24jährigen Schwarzen, dann gibt es über 100 Morde auf 100.000 Personen. Das ist extrem und zeigt eine Verzerrung an, die in sich schon eine andere als eine verallgemeinerte Antwort verlangt. 90 Prozent der „Mörder“ sind Männer. 13 Prozent der Bevölkerung sind schwarz, aber 50 % aller Mordfälle finden an Schwarzen statt. Auch bei den Morden bleiben die Rassen somit weitgehend unter sich. Nur 20 %
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aller Morde werden von „anders Rassischen“ begangen, d. h. 80 % aller Morde lassen sich säuberlich in weiß gegen weiß und schwarz gegen schwarz auffächern. Es wäre also verkehrt zu vermuten, wie manche Weiße dies tun, dass schwarze Mörder losgelassen seien um Weiße zu ermorden. Nur in einem sind die Rassen wiederum gleich: Weiße Männer oder schwarze Männer töten ihre Ehefrauen 5-mal häufiger als umgekehrt. Die hohe Rate an Tötungen bei den 18–24jährigen deutet darauf, dass hier die Jugendbetreuung nicht richtig organisiert ist und dass Therapie und Rehabilitation seit den Verschärfungen des Strafrechts von 1973 eine kausale Schuld am Ergebnis tragen. Dass 50 % der Toten Schwarze sind, verweist auf den Zustand der Lebenslage, nämlich die Existenz der Slums in den Großstädten, wie Detroit oder New Orleans. Mit dem „white flight“ gehen Flucht von Steuergeldern und Betrieben und Geschäften einher, damit zieht große Arbeitslosigkeit, ökonomische Not und Kriminalität an solche Plätze. Das konservative Amerika, vor allem das rassistische, hat immer darauf bestanden, dass solche Verhältnisse (naturbedingt) vorliegen und hat daran gearbeitet, dass seine Argumente mit den Realitäten übereinstimmen. Eine „self-fulfilling prophecy“ mithin! Die Staatsanwälte (prosecutors) können in vielem für die Verschärfung der Strafverfolgung und für die problematische Urteilsfindung verantwortlich gemacht werden (Oppel 2014, S. 10 und McKinley/Baker 2014, S. 7). Da wo sie Juries oder Grand Juries einsetzen, die von der Bevölkerung nach wie vor geliebt werden, tun die Staatsanwälte (DA) dies sehr gezielt. Sie bereiten die Beweislage so vor, dass sie die Jury mit Informationen versorgen, die ihren Schlussfolgerungen entspricht. Die DA’s und ihre Geschworenen sind eine Gemeinschaft für sich. Der DA wird in seinem Distrikt gewählt. Er nimmt sich seine Geschworenen aus diesem Wählerpotenzial. Und er kann sicher sein, dass seine Wähler ihn unterstützen. Nur in einem hängt der DA dann auch von den Wählern 121
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ab. Diese verlangen nämlich eine schnelle Erfassung des Täters, d. h. der Staatsanwalt steht unter Zeitzwang. Ein trauriges Kapitel dieser ganzen Sache kam auch durch den Polizistenmord in Ferguson/Missouri ans Licht. Die weiße Polizei bestreitet einen Teil ihrer Unterhaltskosten durch die Vergabe von Strafen wegen geringfügiger Vergehen, z. B. kaputte Verkehrslichter an Autos. Die „Verurteilten“ werden elektronisch verfolgt wenn sie nicht zahlen können, so dass allmählich eine feste Zinsknechtschaft entsteht, die immer wieder erneut zu Gefängnisstrafen führt. Wo hier Verwarnungen und soziale Hilfe angebracht wären, wird bewusst eine kriminelle Subkultur produziert, die den Betroffenen auch die Chancen zu einem spärlichen Berufsleben nimmt (Robertson/Goldstein 2014, S. 8 sowie The Economist, 2013 a, S. 40). Die größte Absurdität hat wahrscheinlich Gouverneur Rockefeller zu verantworten. Seine Strafverschärfung im Falle von Wiederholungstätern hat eine neue Klasse von Gefangenen produziert, die lebenslänglich im Gefängnis sitzen, ohne ein Schwerverbrechen verübt zu haben. 2013 sollen es 3.278 gewesen sein (The Economist, 2013 b, S. 39)) – von den 2 Mio. Insassen. Das ist eine gewaltige Zahl, hinter der sich Schicksale von vernichtetem Leben verbergen. Weil jemand zu unklug war und in seiner Bewährungszeit schon wieder mit Crack angetroffen wurde, wird er bei der soundso vielten Wiederholung (vielleicht nur 3-mal innerhalb weniger Jahre) zeitlebens weggesperrt. Aberwitziger ist vielleicht nur noch die Tatsache, dass das System wirkt. Es gibt weniger Straftaten in den USA. Wenn man so viele Menschen wegsperrt kann es statistisch durchaus einleuchtend erscheinen, dass der Zuwachs an Verbrechern „abbricht“. Ehemaligen Richtern wie Rakoff – siehe Literaturverzeichnis –, die das System verändern wollen, wird damit der Boden unter den Füßen weggezogen, denn im konservativen Amerika wird kein Reformer Erfolg haben, der ein ungerechtes und aberwitziges System ändern möchte „solange es wirkt“.
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In den USA wirken Gesellschaft und Recht, sowie Politik und Gesetz in einem sehr vermittelten Verfahren miteinander. Das soll im Klartext heißen, dass man ein Rechtssystem kaum von einer Vorstellung von sozialem Wandel trennen kann. Die progressiven Richter von 1954, die das Schulsystem desegregieren wollten, hatten wahrscheinlich eine leise Ahnung davon, dass die amerikanische Gesellschaft den alten Rassismus eigentlich nicht mehr verkörperte. Zuviel an wirtschaftlicher und politischer Veränderung war erfolgt. Schwarze Soldaten hatten genauso wie weiße Schulter an Schulter gegen Japaner und Deutsche gekämpft und gesiegt. Und der egalitär sich gebende Weltkommunismus verhöhnte die USA wegen ihrer vorsintflutlichen gesellschaftlichen Ordnung. Die Richter konnten nicht wissen, ob man den Rassismus überwinden kann oder nicht. Insofern sind sie nicht schuld an dessen Weiterbestehen. Sie sind aber auch nicht aufgrund der seitdem stattgefundenen Veränderungen mit Lorbeeren zu überhäufen. Es dürfte schwierig sein, die Leistung der Gerichte bei diesem schwergewichtigen gesellschaftlichen Problem genau dingfest zu machen. Hätte die Gesellschaft ohne die Brown-Entscheidung sich genauso entwickelt? Man darf vermuten, dass auch dies nicht ganz so der Fall gewesen wäre. Es fand eine Durchdringung von neuer Rechtslage und gesellschaftlicher Verfasstheit statt, die mithalf, den Hebel für Neues umzulegen. Die alten geifernden Rassisten repräsentierten nicht mehr den Süden, zunehmend kamen die Gentlemen-Rassisten ins Blickfeld der Öffentlichkeit, die den Wandel akzeptierten, aber das Thema auf „Law & Order“ verschoben. Das Wegziehen aus den großen Städten und die Suburbanisierung wurden zum Thema des Ausweichens vor ethnischen und Rassenfragen. Denn nebenbei geht es nicht nur um die schwarze Bevölkerung sondern auch um weiße Unterschichten, die man auch nicht unbedingt als Nachbarn haben möchte. Asiaten und Südeuropäer stellen insofern
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keine Probleme dar, weil sie, wenn reich, sowieso auch in eigenen Enklaven wohnen können und auch wollen. Der Mechanismus, dass Täter unter Zeitdruck bei Straftaten zu finden sind, verführt die Staatsanwälte dazu, vorwiegend in den armen Nachbarschaften fündig zu werden. Sie üben mithin für die Mittelstandsgesellschaft einen Klassenkampf. Der Verdächtige wird so lange gequält, bis er die Tat zugibt, bzw. sich von dem Angebot des DA überzeugen lässt, eine mindere Tat zuzugeben mit einem „überschaubaren“ Strafmaß. Beschuldigte, die nicht bekennen, werden durch Indizienbeweise festgenagelt und u. U. durch Zeugenaussagen von Gefängnisinsassen „überführt“. Das heißt, dem DA verpflichtete Gefangene lügen, indem sie behaupten, „mir gegenüber hat er/sie die Tat gestanden“. Oftmals werden dabei näher liegende Verdächtige erst gar nicht überprüft (Rich, 2013, S. 32). Polizei und Staatsanwälte haben in den letzten Jahren nahezu des Status der absoluten Straffreiheit erreicht. Gegen Polizisten kann im Prinzip nur das Kollektiv der Polizisten etwas Negatives aussagen. (Das ändert sich gerade aufgrund der Vorfälle in Minnesota.) Staatsanwälte können für fehlerhafte Verurteilungen nicht belangt werden. Schlimmer noch: Sie können bei offensichtlichen Fehlurteilen weiterhin darauf beharren, dass sie Recht hatten. Die Gerichte haben mithin seit dem Sieg des Konservatismus in den 1980er Jahren die gesellschaftliche Entwicklung durch die Stärkung einer behaupteten „Ordnungsdimension“ geprägt. Diese Ordnungsdimension hat eine eindeutige Schlagseite gegen die Bürgerrechtsdimension. Der Tatbestand wird noch dadurch verschärft, dass für wirtschaftliche Vergehen zunehmend das Instrument der Kompensation eingesetzt wird, d. h. betrügerische Manager müssen nicht unbedingt vor Gericht erscheinen, sondern können einen Vergleich anstreben. Statistisch sieht das dann so aus, dass Verbrechen massiv in der Unterschicht begangen werden. Ein
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„Wissenschaftler“ vom „American Enterprise Institute“, Charles Murray, hat aufgrund dieser Befunde eine Studie geschrieben, mit der behauptet wird, dass die Kriminalität und der „Werteverfall“ in den USA vornehmlich eine Sache der Unterschichten sei. Zu der Schmähung gesellt sich mithin der Hohn (Hacker 20102. Die Bürgerrechtsgesetzgebung in den USA war und blieb Teil einer Gesellschaftspolitik, die zum Ziel hatte, gesellschaftlichen Aufstieg nicht über das „politische System“ entstehen zu lassen. Das Recht in den USA wirkt nicht von oben nach unten, sondern es liegt parallel zu den Problemlagen sowie zu den gesellschaftlichen Kräften. Das Gericht mag zwar nicht „farbenblind“ sein, es ist aber blind was „Life and Liberty“ angeht. Lediglich die Dimension „property“, wie schon weiter oben erfahren (Lowi u. a. S. 122), wird nahezu geheiligt, auch von den Gerichten respektiert. Small wonder, wo die Gerichte doch massiv an der Etablierung von „pursuit of happiness“ mit gearbeitet haben. Spätestens seit dem Urteil von U.S. v. Cruikshank – wie oben dargelegt – hat das oberste Verfassungsgericht mit dem 14. Amendement so experimentiert, dass dessen Geltung zumeist nur hinsichtlich der Dimension „freie Bewegung von Kapital“ funktionierte. Der Großraum der USA sollte hinsichtlich von Kapitalbewegungen vom Kleingeist befreit werden. Dies gelang den Richtern hervorragend. Dieser Dimension wurde selbst das Problem „Eigentum“ unter- und beigeordnet. Insofern verteidigten die Richter nicht blank eine Kategorie Eigentum, sondern sie spezifizierten sie. Mit dem Entstehen der „Corporations“ und dem Aktienkapital wurde es sehr schwer, die Eigentumskategorie zu stabilisieren. Bis in die Krise von 2008 und bis heute ist dies auch nicht gelungen (Strange). Gerichtliche Entscheidungen sind mithin in den USA eher Teil einer Gesellschaftspolitik, in die das Recht verwoben ist mit den gesellschaftlichen Kräften und den Trends der Entwicklung. Die Trends der Entwicklung seit den 1950er Jahren gingen dahin, 125
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einem dumpfen Rassismus den Stachel zu nehmen. Den dummen Rassisten wurde die Definitionsmacht genommen. Rassismus ist einerseits subtiler geworden, andererseits ist er auch wieder stärker in eine gemeinsame Unterschichtenpolitik eingebunden. Ziel dieser Politik war und ist es, den Wohlfahrtsstaat zu verkrüppeln und die Bedeutung der Gewerkschaften zu brechen. Beide Strategien sind in den USA – und nicht nur dort – sehr erfolgreich. Sozialer Aufstieg oder soziale Sicherung qua Bürgerrechte verlaufen im EU-Rahmen anders als in den USA. Bei uns, soweit ich es recht sehe, wirkt das Gesetz von oben nach unten als Gesetz, weil auch die Politik von oben nach unten wirkt, als Parlamentarismus. Rechte stehen den Bürgern individuell und kollektiv zu. Sie werden nicht wie ein Nordlicht quer in die Atmosphäre eingeschossen, um zu sehen, wohin sie wie wirken. Und nach dem Motto: Hauptsache, sie leuchten in den schillerndsten Farben, auch wenn nichts dabei herauskommt. Die generelle Strategie unter Bedingungen des Neoliberalismus, wie Aufstieg machbar ist, folgt freilich der Linie, dass bestimmte Berufe als hoch qualifiziert gelten und entsprechend entlohnt werden. Damit schafft man ein „Bürger/ Konsumentenpotenzial“ („public relations“ Personal) das als das Polster gegen die „lower classes“ wirkt. Unter letzteren befinden sich allerdings noch beachtliche Mengen an Hoffnungsträgern in Sachen Aufstieg. Das Neue an der US-amerikanischen Situation besteht darin, dass man das Entstehen von Klassengesellschaft ermöglicht, um das Phänomen Rassengesellschaft zu überdecken.
Der vergesellschaftete Kapitalismus
4
4 Der vergesellschaftete Kapitalismus
4.1
Die Entwicklung
4.1 Die Entwicklung Es mutet seltsam an, vom Kapitalismus als einem vergesellschafteten Teil der Gesellschaft zu sprechen. Leichter fällt es, vom Unternehmertum in der Gesellschaft zu schreiben. Dennoch ist der Begriff Vergesellschaftung der richtigere, und dies deshalb, weil es verkehrt ist, sich Kapitalismus als einen Handlungszusammenhang von Unternehmern als Personen vorzustellen. Unter soziologischer Perspektive handeln auch Unternehmer in erster Linie zuerst einmal als Mitglieder der Gesellschaft. Sie haben abends auf einer Party davon gehört, dass die neu aufgelegten Aktien einer IT-Gesellschaft ein guter Anlagetipp sein sollen. Also fährt der Unternehmer am nächsten Morgen mit diesem sozialen Kenntnisstand in sein Büro, um dort in Ruhe mit Freunden und seinem Schwiegersohn zu telefonieren, selbige zu informieren resp. ihren Rat einzuholen. Wenn dies alles positiv verläuft, sucht er einen Termin mit seinem Bankberater. Im Normalfall kommt dieser im Eiltempo zu seinem Kunden, Man kann sich aber auch sicherheitshalber im Börsenkeller zu einem zweiten Frühstück verabreden, wobei die Möglichkeit besteht, mit der Kellnerin zu flirten. So fängt der Tag gut an. Der Bankberater ist mit seinem Kunden einer Meinung, dass die neue Ausschüttung der IT-Firma gute Profitmöglichkeiten enthält und drängt selbigem sogar einen günstigen Überziehungskredit auf. 127 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_4
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4 Der vergesellschaftete Kapitalismus
Beides wird vertragsmäßig kodifiziert! Und erst jetzt sind wir im Bereich des geschäftlichen Verkehrs, sprich: in der kapitalistischen Wirtschaft, gelandet. Das Vorhergehende und die gesamte Lebenslage des Unternehmers spielt sich ansonsten in ganz anderen Lebensumständen ab als den wirtschaftlichen – Lebensumstände, die für die meisten Menschen ganz ähnlich sind und von sozialen Mechanismen geprägt und gesteuert werden, Denn auch Unternehmer werden geboren und sterben eines Tages einen menschlichen und keinen kapitalistischen Tod. Der Kapitalismus fängt also mit einem geschäftlichen Vertragsakt an, der Unterzeichnung eines Kreditvertrages, sowie dem Auftrag zum Aktienkauf. Beides ist ohne die Vorstellung des Staates nicht denkbar. Nur steht neben dem Unternehmer und dem Bankangestellten nunmehr nicht das im vorherigen Kapitel erwähnte Strafrecht, resp. der Ordnungsstaat, sondern vielmehr ein elaboriertes Wirtschaftsrecht, das unendlich viele Voraussetzungen geschaffen hat, bevor man seine Unterschrift unter einen Kreditvertrag oder eine Urkunde über einen Aktienkauf setzen kann. Auch hier kann es eines Tages notwendig sein, dass die Polizei die Geltung dieser beiden Akte durchsetzt, aber diese Drohung des Strafgesetzbuches ist nicht unmittelbar der Gegenstand dieser wirtschaftlichen Transaktionen. Was hier unmittelbar Dynamik erzeugt ist der Tatbestand von Aktien. Diese Stücke von Papier können schwerer wiegen als die materiellen Anlagen der IT-Firma, deren Anteile gerade erworben wurden. Damit nähern wir uns der Sache. Vor 1850 gab es in den USA eine Fülle von Handwerkerunternehmern, die mit zwei Gesellen und einem Lehrling harte Arbeit als Steinmetze, Kanalbauer, Holzfäller oder Eisenschmelzer leisteten. Ihre Auftraggeber waren selbst reiche Leute oder seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts öffentliche Körperschaften wie die englische Krone oder Parlamente. Deren Aufseher, nämlich Richter, gehörten auch zum Spiel.
4.1 Die Entwicklung
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Was diese Obrigkeiten umtrieb war der selbst auferlegte Zwang zum Landesausbau. Der Merkantilismus, wie die Wirtschaftsform seit der frühen Neuzeit genannt wurde, lieferte auch in den neuen Vereinigten Staaten die Grundlage für wirtschaftliches Verhalten. Fürsten und Parlamente wollten die Wirtschaftskraft „ihrer“ Länder stärken und brauchten dazu die Infrastruktur, um den Verkehr und damit den Austausch ihrer Wirtschaftssubjekte zu verstärken. Dazu gab es im britischen Königreich eine altbekannte Institution, nämlich die „charter“. Das war die Urkunde mit der eine „Körperschaft“ – der Begriff ist gut gewählt – geschaffen wurde, die einen bestimmten Zweck zur Steigerung von wirtschaftlicher Wohlfahrt, z. B. des Königs, erfüllen sollte. So wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts erste Kolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent in der Nähe des heutigen Boston sowie im heutigen Virginia gebildet. Beide Kolonien waren aus religiösen bzw. wirtschaftlichen Gründen geschaffen wurden. Bei Boston landeten die aus anglikanischer Sicht religiösen Querulanten, die späteren Puritaner, und in Virginia, in der Gegend von Jamestown, sollten die in jeder Hinsicht überforderten Kolonisten Gold finden. Trotz ihrer Handicaps bildete sich im Laufe der Jahrhunderte eine Erfolgsgeschichte aus – wenn man die heutigen USA als eine solche bezeichnen möchte. Der Merkantilismus des englischen Königs James und seiner Nachfahren erwies sich für Kolonien als wenig erfolgreich und wurde später, im 19. Jahrhundert, in den Laissezfaire- Kapitalismus (Williams 1988, S. 227ff.) umgeformt. Die Untertanen der englischen Krone in Nordamerika waren im 18. Jahrhundert schon so erfolgreich, dass sie meinten, sie könnten auf den englischen Staat als Oberhoheit verzichten und selbst ein Gemeinwesen bilden, das von den reichen Bürgern als eine freie Republik, als ein „empire of liberty“, betrieben werden konnte. In ihrer Revolution von 1776–1783 konnten sie die englische Oberhoheit abschütteln und einen losen Verband von 13 Einzelrepubliken 129
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4 Der vergesellschaftete Kapitalismus
bilden. Die Weitsichtigeren in diesen Republiken bemerkten, dass ein solches Gemeinwesen viel zu schwach war, um gegen innere und äußere Gefahren gewappnet zu sein. Also plädierten sie mit viel Sinn für Camouflage, dem Ganzen eine bessere Struktur zu geben, „a more perfekt Union“, wie es im Vorspann zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika hieß, zu schaffen. Und in der Tat ab 1789 gab es eine neue Regierungsorganisation, über die im nächsten Kapitel gehandelt wird. Für diese „more perfect union“ musste vor allem der innere Zusammenhalt in einer auch ganz materialistisch gesehenen Hinsicht gestärkt werden. Der Weg war durch die englische Entwicklung vorgezeichnet. Der inneramerikanische Handel musste wesentlich erweitert und gestärkt werden. Dazu benötigte man ein Verkehrssystem, dass das weite Gebiet der 13 Kolonien sinnvoll verband. In England war man schon längst dabei, Straßen und Kanäle auszubauen. Ganz zu schweigen von der englischen Hochseemarine, die auf dem Weg war, England zur Weltmacht zu befördern. Ähnliches imitierten auch die USA: Theoretisch können wir das Konstrukt eine „mimetische Isomorphie“ nennen: Nachahmung mithin! In der sogenannten „Neuen Institutionstheorie“ (new institutionalism) spielt der Begriff Isomorphie eine große Rolle. Er steht für eine Institutionentheorie, die die rein juristische und mechanische „alte“ Institutionentheorie überwunden hat und einer reflexiven Moderne das Wort redet (Roy 1997, S. 14–16). Nachahmung Englands war die Forderung der Zeit. Man tat dies, indem man dem bekannten Institut „corporation“ neue Formen und Inhalte zuwies. Vieles war in der Kolonialzeit bereits in der Form von corporations in Angriff genommen worden. Dieses Institut wurde nunmehr in den amerikanischen Einzelstaaten dazu benutzt, die Landesentwicklung voranzubringen. Wie in England baute man Straßen und Kanäle. Zu diesem Zweck wurden von den Einzelstaatslegislativen bestimmte Aufgaben „ausgeschrie-
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ben“ und qua Konzession an geeignet erscheinende Unternehmer vergeben. Bei der allseits vorhandenen Kapitalknappheit schufen diese Ausschreibungen Monopole und schützten ihre Betreiber vor einer Konkurrenz. Dass dieses Verfahren Zustimmung und viel Kritik hervorrief, liegt auf der Hand. Natürlich wurden vorab auch Banken konzessioniert; und selbige widmeten Geldmittel für den Bau von Überlandstraßen (turnpikes, also Schlagbaumstraßen) und Kanälen. Ich bin darauf in meiner anderen Studie (Schissler, 2019) bereits eingegangen und verweise hiermit auf selbige. Man kann jedenfalls festhalten, dass nicht jede Konzession erfolgreich war. Der Witz dabei war aber, dass die Handwerksunternehmer scheitern konnten, nicht jedoch der Staat oder die Bank, denen das erstellte Produkt ja quasi in die Hand fiel. Dass bei der Vergabe von Krediten im Erfolgsfall natürlich neuer, wenn auch bescheidener, Reichtum anfiel, störte die nicht berücksichtigten Handwerkerunternehmer und andere durch Intrigen oder sonstige soziale Aktionen vom Prozess Ausgeschlossenen. So altehrwürdig die Vergabe von Korporationsrechten auch war, sie galt als ein nicht immer erlaubter Eingriff in das Wirtschaftsgeschehen und wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend kritisch gesehen (Hartz 1948), änderte aber nur an Verfahren und Gebrauchsform einiges bis hin zum Übergang der „öffentlichen Charter“ hin zur „privaten Charter“. Die private Charter, so kann man sagen, schuf den Durchbruch des Privatkapitalismus, der zwar sehr stark von staatlicher Konzessionierung und Strukturierung abhängig war, der aber Geld und Kapital in solchen Dimensionen erwirtschaftete, dass er in seinem Status dem Staat ebenbürtig wurde, ihn hin und wieder überflügelte, ihn aber bis auf die heutige Zeit nie los wurde, auch gar nicht los werden konnte. Denn das Funktionieren dieses teilautonomen Kapitalismus war einem komplexen und sensiblen wirtschaftlichen Austauschprozess geschuldet, der ohne staatliche Aufsicht nicht funktionieren kann 131
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(Kaufman 2008, S. 402ff.) – was selbst ein Präsident Trump zugestehen müsste. Der Beginn des teilautonomen Privatkapitalismus fing in den USA, aber auch anderswo, mit einer Niederlage des Staates an. Dieser hatte ganz gute Figur gemacht so lange es um den Ausbau des Überlandstraßensystems ging, danach kamen aber die Kanäle. Die US-amerikanischen Einzelstaaten übernahmen sich mit dem Kanalbau oft in jeglicher Hinsicht. Die Probleme des Geländes und diejenigen der Finanzierung waren oft so sperrig, dass die Projekte häufig ins Stocken gerieten. Aber in dieser nicht vorhergesehenen schwierigen Lage stand plötzlich der Bau der Eisenbahnen auf der Tagesordnung. Selbige war historisch mithin für die Kanäle zu früh gekommen. England ist geografisch gesehen schmal und konnte mit dem Problem leicht fertig werden. Aber Pennsylvania und Ohio sind große Flächenstaaten mit Bergrücken, die bewältigt werden mussten. Und außerdem waren die US-amerikanischen Einzelstaaten nicht so reich wie England. Kurzum: Um auch in den USA dem Eisenbahnverkehr zum Durchbruch zu verhelfen, musste man auf neue Formen der Geldbeschaffung ausweichen. Dazu bot sich nur der private Sektor an, also die Bereitschaft der reichen und wohlhabenden Bürger war gefragt. Charter zum Eisenbahnbau wurden in dieser Weise vergeben, dass sowohl Mittel des Staates wie auch solche von privater Seite in die Konzession eingingen und die „corporation“ entsprechend ausgewiesen war. Mit Planung war da aber wenig zu machen. Interessiert waren vor allem die vorhandenen Städte wie Pittsburgh oder Philadelphia, oder auch kleinere Flecken, die man „interessieren“ konnte – unter der Drohung, dass die Eisenbahn andernfalls dann an ihnen vorbeigehen würde. Die Bürger und ihre Banken ließen sich auf das Spiel ein; der Staat hatte immer noch die Möglichkeiten, Land beizusteuern, bzw. den „Baufirmen“ Waldland zu schenken, dass sie zu Geld machen konnten. Und Spekulanten und selbsternannte Informanten (confidence men)
4.1 Die Entwicklung
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waren zuhauf vorhanden, um Ratschläge zu erteilen bzw. „Wissen“ zu verbreiten, wo die Linien entlanglaufen sollten. Im Laufe der Zeit wuchs sich das Eisenbahnwesen zu einem Riesenunternehmen aus. Die „Pennsylvania Railrod“ wurde wohl das größte Unternehmen in ihrer Zeit im späten 19. Jahrhundert; sie beschäftigte mehr als 100.000 Angestellte und übertraf die Beschäftigtenzahl der Union bei weitem. Hinzu kam, dass das Eisenbahnsystem eine strategische Bedeutung erhielt als die Vereinigten Staaten 1861 auseinander brachen und der Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd für vier Jahre seinen unheilvollen Lauf nahm. An dessen Ende 1865 war das US-amerikanische Eisenbahnsystem das größte der Welt mit ungeheuren Reichweiten im östlichen Teil der USA. Seine Strecken waren in privater Hand, waren ausufernden Spekulationen ausgesetzt und korrumpierten in beachtlicher Stärke das politische Gemeinwesen (Degler u. a. S. 324ff. und Roy, S. 78ff.). Finanzielle Zusammenbrüche von Linien waren dennoch auf der Tagesordnung und die geballte Kraft des Rechtssystems war erforderlich, um hier Klarheit der Verhältnisse zu schaffen. Dabei wurde auch üblich, dass kühne Investoren nach Linien ausgriffen, die jenseits der Staatsgrenzen lagen. Das schuf ganz neuartige Probleme aber auch Chancen. Als die 13 Republiken sich 1789 eine „Constitution“ gaben, um eine „more perfect union“ zu schaffen, hatten die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung in Philadelphia durchaus daran gedacht, die Wirtschaftskompetenzen der Union zu stärken – gegenüber den Einzelstaaten. Das war nunmehr der Fall. Bundesrichter, die es in allen Einzelstaaten gab, traten auf den Plan, wenn es darum ging, Eisenbahngesellschaften über einzelne Staatsgrenzen hinweg zuzulassen. Des Weiteren wurde in den 1880er Jahren die Geltung des 14. Amendments in die Richtung orientiert, den „due process of law“ für Bürger zu reklamieren, die Besitzrechte an einem „System“ der Eisenbahnen hatten, das über Staatsgrenzen hinausging. „Das System ist wichtiger 133
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als seine Einzelteile“ urteilten die Richter der Vereinigten Staaten (Berk),- wie oben schon angeführt – mit deutlicher Drohgebärde in Richtung auf die Einzelstaaten und deren Legislativen und Rechtssysteme. Die Vereinigten Staaten waren dabei, einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit Hilfe der Eisenbahnen (und Schifffahrtswege muss man sagen) zu schaffen. Die großen kontinentalen Eisenbahnlinien (Northern Pacific, Union Pacific und Southern Pacific) wurden gerade gebaut. (Die letztere im Süden wegen Bestrafung des Südens zuletzt!) Ach ja, was noch fehlt: Es wurde vom Kongress die erste Regulierungsbehörde, die „Interstate Commerce Commission“ (ICC) der Union geschaffen, die zur Aufgabe hatte, die Frachtraten der Eisenbahnen zu regulieren. Das tat besagte Behörde recht zögerlich, ohne die reichen Betreiber irgendwie zu schädigen. Auch hier muss man anmerken, dass es ohne den Staat nicht ging; in diesem Fall ist der Staat „United States of America“ gemeint – nicht Ohio oder Arkansas. Das alles umfassende Eisenbahnsystem hatte natürlich auch das geändert, was man unter Eigentum verstand. Um die Eisenbahnen zu bauen mussten häufig Enteignungen (eminent domain) vorgenommen werden. Und es musste jenes Eigentum geschaffen werden, das von privater Seite die großen Investitionen ermöglichte. Damit bewegen wir uns auf die systemische Seite des Kapitalismus, denn dieser besteht ja keinesfalls aus Eisen oder Holz, die man zum Bau der Eisenbahnen benötigt hatte.
4.2
Das System
4.2 Das System Obenan im System des Kapitalismus, wie er in seiner modernen Variante in den USA geschaffen worden war, steht ein Papier, dessen Aufgabe es ist, Eisen und Holz und überhaupt alles Materielle zu repräsentieren: die Aktie.
4.2 Das System
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Ich fühle mich freilich überfordert, den Entstehungszusammenhang der Aktie genauer zu thematisieren. (s. Kocka, 2014, S. 49ff. und S. 92ff.) Das ist hier auch nicht nötig. Als die erste industrielle Revolution mit dem Eisenbahnbau ihr Ende fand, hatte die Aktie sich längst schon als die magische Kraft der Repräsentation durchgesetzt. Wir können ihren Stand in ihrem Gewicht jeden Abend bei den Fernsehnachrichten wie ein Damoklesschwert über uns schweben sehen. Ihren Siegeszug in den USA trat sie um die Mitte des 19. Jh. an. Sie wurde dort „stock“ genannt; das war eigentlich die Bezeichnung für die Rindviecher, die immer frühmorgens nach New York auf die Schlachtmärkte getrieben wurden. Unter den Händlern gab es einen raffinierten Viehbesitzer, der seine Rinder am Abend nicht trinken ließ, sondern erst frühmorgens, wenn er mit ihnen die Stadtgrenze überschritt, damit sie recht schwer waren auf der Waage (Fraser 2006, S. 112ff. und S. 254ff.). Als man ihm auf die Schliche kam, war er schon längst in einen anderen Staat der USA entwichen. Aber er sollte den Ruhm behalten, dass er für den Begriff „watered stock“ verantwortlich war. So nennt man seitdem Aktien, die von Gesellschaften ausgegeben werden, hinter denen kein zusätzlicher Wert steht. Unter Umständen waren die Aktien der deutschen Telekom „watered stock“. Das ist aber kaum nachweisbar. Eine Aktie, die u. U. nicht durch Firmenvermögen gedeckt ist, kann es auch zum Zwecke geben, dass die Firma auf neue Gebiete ausgreifen will oder Konkurrenten sich einzuverleiben sucht. Doch das kommt im Verlauf dieses Kapitels zur Sprache; und zwar in der Form der großen evolutionären Leistung, die die Aktie für die moderne hochkomplexe und hochspekulative Welt geschaffen hat. Ohne Aktien wäre es nicht möglich gewesen, der industriellen und kaufmännischen Dynamik eine solche Wendung zu geben, wie sie sie entfaltet hat. Was war das Problem, das von der Aktie und den so genannten von ihr geschaffenen Aktiengesellschaften ausging? Selbige löste 135
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eine Dynamik in der Wirtschaft, insbesondere im Eisenbahnbau aus, dass wirtschaftliche Voraussicht und Planung äußerst behindert wurden. Die Aktien der „Corporations“ wurden an der Börse, vor allem an der „New York Stock Exchange“, NYSE, gehandelt und einige Börsenspekulanten konnten über die so genannten „confidence men“ den Aktienwert anzweifeln lassen: Selbiger sei zu hoch oder zu niedrig, je nachdem mit welcher Strategie man sich der Aktie oder ihrem Besitzer näherte. Auf diese Weise konnten in kürzesten Zeitintervallen Vermögen gewonnen oder verloren werden. Der Vorgang als solcher entfaltete seinen eigenen Reiz. Und es kam zu beachtlichen Firmenzusammenbrüchen. Man sieht daran, dass wirtschaftliches Handeln instabil ist – auch heute noch – und dass nicht jede Konkurrenz zum wirtschaftlichen Erfolg führen muss. Es gab freilich einige große Spieler im Börsengeschäft, die es auch zu beachtlichen Durchbrüchen, also zu großen Vermögen brachten, und die als verrucht galten. Namen findet man bei William Roy und Steve Fraser. Nur zur Erinnerung: Wir bewegen uns auf einem Feld, wo es um die Eisenbahngesellschaften ging; sie waren in erster Linie die Objekte der Begierden. Die industriellen Wirtschaftsfirmen waren da noch außen vor. Ihr Wert war im Vergleich zu den Eisenbahnen noch so gering, dass es kaum Anreize gab, sich ihrer bemächtigen zu wollen. Jedoch hatte der Bürgerkrieg bis 1865 einen solchen wirtschaftlichen Schub erbracht, dass auch der industrielle Sektor zunehmend an Bedeutung gewann. Was lag näher als den Versuch zu wagen, die Produktion ähnlich wie die Eisenbahnen zu konzentrieren und ihren Wert zu steigern – durch die Aktie, versteht sich! Dem standen aber Schwierigkeiten entgegen, denn Industriefirmen waren zumeist in der Hand von einzelnen Unternehmern, vorwiegend von Handwerksunternehmern. Diese schauten der neuen Welt der Aktiengesellschaften mit Entsetzen entgegen. Veränderungen ergaben sich nur langsam. Schwierig war es auch,
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über die Grenzen des Einzelstaates hinaus zu planen. Die Staaten wachten eifersüchtig darüber, dass ihre Ressourcen auch in ihrer Hand blieben. Sie waren vor allem die Träger der Modernisierung, indem sie ihre Verfassungen permanent dem Gebot der Stunde anpassten (North u. a. 2011, S. 245ff.). Dies betraf auch die politische Verfasstheit. Das Wahlrecht wurde beständig von den Staaten an jene Vorreiter angepasst, die aufgrund guter Wirtschaftserfolge als Gewinner anstanden. Natürlich wehrten sich die dortigen herrschenden Parteien, Ressourcen wohlfeil zu nationalisieren, da doch das eigene Auskommen der Politiker häufig von der Korruption durch Unternehmer abhing. Vielen Staaten sagte man nach, dass sie unter der Herrschaft großer Konzerne oder Plutokraten ständen, wie auch z. B. der Staat New York. Die Legislative des Staates hatte nichts zu sagen (Commager 1951, S. 312ff.). Politische „broker“ erfüllten, so weit möglich, die Wünsche Rockefellers in anderen Staaten. Staatsgrenzen standen mithin der wirtschaftlichen Expansion im Wege. Zum anderen schützten die Staaten die einzelnen Sektoren ihrer Industrie: trotz Laissez faire gab es immer noch Bedenken, Industrien in andere Bereiche ausgreifen zu lassen, resp. auf andere Firmen. Dies fand auch große Zustimmung bei Unternehmern, der Öffentlichkeit, vor allem dem Zeitungsbetrieb sowie einschlägigen Juristen. Eisenproduzierende Firmen, z. B. im Bereich der Schienen oder zunehmend auch für Baustahl und den Schiffsbau, konnten nicht einfach Kohleproduzenten oder andere Eisenhütten erwerben. Es war ein langwieriger Weg – und auch hier war die Aktie letztendlich sehr erfolgreich. Die Legislativen wurden zunehmend einsichtiger, dass große Firmen das Recht haben müssten, immer größer zu werden. Auch bei den Industrieunternehmern wurde die Konkurrenz zu einem beachtlichen Problem, und zwar in negativer Hinsicht. Der Ruf danach, ruinöse Konkurrenz endlich
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zu unterbinden, wurde deutlich lauter. Und er kam an (wohl noch nicht an den ökonomischen Fakultäten?). Die Firmen von sich aus bildeten zunehmend in den 1890er Jahren „pools“ und „trusts“ – die freilich nicht in der Lage waren „trust“ zu verbreiten. Erst als die Rechtsform von Holdings entwickelt worden war, gelang dies. Eine Holding ist ein Dach über zwei oder mehreren Firmen, bei denen die Firmen selbstständig bleiben, aber sich geregelt über ihre nächsten Ziele austauschen können. Dies war mithin die Stunde der Wirtschaftsjuristen – sie waren die eigentlichen Helden dieses Vorgangs. Und im Hintergrund stand der Staat, der Wirtschaftsgesetze zu erlassen und anzupassen hatte, die mit Strafen drohten. William Roy, dem ich diese Einsichten verdanke, sieht wohl zu Recht den gesamten Prozess in erster Linie als einen sozialen und nicht als einen wirtschaftlichen an. Er kritisiert somit den Theoretiker der funktionalen Modernisierung der modernen Korporation, Alfred Chandler. Nicht von der ökonomisch handelnden Firma sondern von der sozial handelnden Gesellschaft ging der Wandel zu modernen Industrieformationen vonstatten. Was eine moderne Firmenstruktur brauchte, war eine Trennung von Vermögen und Eigentum. Die „Holdings“ waren Eigentum der Firmen. Diese konnten unter der Holding auch Aktien von anderen Firmen erwerben. Die bisherigen Firmeninhaber blieben je nach Belieben und Sachlage weiterhin die Betreiber der Firma, konnten sich aber auch mit ihrem Aktienpaket aus der Firma herausziehen und selbst in andere Firmen „investieren“ um auf „dem Markt“ abgesichert zu sein – jedenfalls nicht „auf einem Bein“ stehen zu müssen. Es musste aber auch geregelt sein, dass die Firmen andere Firmen, die zu ihrem Produktionsablauf Positives beitrugen, erwerben konnten. Nachdem dies geregelt war, konnte man auch den Erwerb von beliebigen anderen Firmen erlauben – war es doch nicht Sache der Regierungen zu definieren was sinnvolles
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oder nicht so sinnvolles Eigentum war. Das wurde aber sehr wohl die Sache von Gerichten. Da nun dem Geld in Form von Aktien eine zunehmend wichtige Funktion zuwuchs, verstand es sich von selbst, dass die die Finanzen sichernden Banken in die Firmen eindrangen (Morison/Commager 1950, S. 654ff.). Aktiengesellschaften hatten mithin nach Statut nicht nur Aktionäre, die auf Versammlungen über den Zustand der Firma abstimmen durften, sondern sie hatten zudem einen „Board of Directors“, – zu Deutsch einen Aufsichtsrat – der die Reißleine ziehen konnte. Je stärker aber die Aktionäre sich aus der unmittelbaren Arbeit der Firma herauszogen, wurde das Problem überdeutlich: Wer führt eigentlich die Firma? Das konnte vor allem jemand aus dem „Board of Directors“ sein. Eher per Zufall erwies es sich aber, dass die Praxis nach anderen Lösungen verlangte. Die schon genannte „Pennsylvania Railroad“ bekam durch einen eher glücklichen Zufall einen ihrer Ingenieure an die oberste Produktionsposition, Edgar J. Thomson, der energisch die Bahn von Pennsylvania in die Nachbarstaaten vorantrieb. Sein Verhalten bildete die Grundlage, nach entsprechenden Unternehmern in den Firmenleitungen zu suchen. Das wurden die neuen Unternehmer und mit ihnen wurde im Gefüge der rechtlichen Netze die Positionen der Exekutive recht deutlich: Es geht nicht nur mit Aufsichtsrat und Aktionärsversammlung, sondern es musste auch Kräfte geben, die die Firma erfolgreich am Laufen hielten. Nicht umsonst heißt der Chef einer großen Aktiengesellschaft „Central Executive Officer“ (CEO). Mit der Institutionalisierung dieser Führung – sei sie nun aus Inhabern bestehend oder durch Angestellte gebildet – ging eine deutliche Abwertung von Aufsichtsrat und Aktionärsversammlung einher. Dies wurde (und wird) allerdings nicht an die große Glocke gehängt, sondern es gehörte nunmehr zum latenten Wissen (Strange 1996, S. 91ff.). Die ganze Entwicklung der großen Firmen war nunmehr auf Expansion angelegt und ragte zunehmend in den 139
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Hoheitsbereich der Union hinein. Eine Vorstufe dazu bildete allerdings eine Rechtsfigur, die es den Firmen erlaubte, sich in einem Einzelstaat – nach freier Wahl – registrieren zu lassen. Eine Firma aus Alabama konnte sich mithin, ohne Angabe von Gründen, in Ohio registrieren. Das hatte zur Folge, dass den Einzelstaaten die Oberhoheit über die Existenz von Firmen erhalten blieb, wenngleich nicht dem Einzelstaat über „seine Firmen“. Die Gesetzgebung in diesem Stadium anerkannte nunmehr schon den Wirtschaftsraum der USA als einen einheitlichen an. Die Einzelstaaten hatten die Möglichkeit nach ihrer Rechtsprechung verschiedene Qualifikationen für die Firmen anzubieten. Eine der wichtigsten war das Problem der Haftung (liability) aber auch das Know-how. Letzteres wurde zu einer Spezialität des Staates New Jersey. Haftung (liability) war am Ende des 19. Jahrhunderts ein extrem wichtiges Problem. Denn die Techniken der Industrie waren weit entwickelt; ihre Beherrschung hinkte hinterher: In Schiffen konnte der Kessel explodieren. Beim Eisenverhütten konnte man sich leicht verbrennen u. ä. Die Regelungen der Einzelstaaten wurden eingestuft nach: liberale, strikte oder moderate Haftungsregeln. Firmen wollten möglichst liberale, also schwache Verantwortlichkeit eingehen, während ihre Kunden aus verständlichen Gründen lieber umfassende Verantwortlichkeiten bevorzugten. New Jersey hatte liberale Regelungen, Ohio recht strikte – das hing auch von den Erfahrungen der Wirtschaft mit diesen Regelungen in den Einzelstaaten ab. Damit war der Wirtschaftsraum USA in seinen Grundzügen erschlossen. Er war sowohl vereinheitlicht als auch verfassungskonform der Regelungskompetenz der Einzelstaaten untergeordnet. Als besonders pfiffig erwies sich dabei der Staat Delaware, der solch liberale „Liability“-Regelungen hatte, dass sich die Mehrzahl der Firmen von New Jersey (Problem Korruption) abwandte und sich
4.3 Das Ergebnis
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dort registrierte (Mitchell 2007, S. 30ff.). Der kleine Staat Delaware lebt ganz von den Gebühren.
4.3
Das Ergebnis
4.3 Das Ergebnis Der Prozess der Firmenkonsolidierung als Aktiengesellschaften war überwiegend gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Die anderen großen Industriestaaten dürften ähnliche Entwicklungen durchlaufen haben. Alle haben dabei von allen gelernt. Viele dieser Firmen blieben im Besitz der ehemaligen Inhaber, wenngleich sie jetzt in etwas besser gesicherten Verhältnissen lebten. Ohne die massive Verrechtlichung ihrer Angelegenheiten wären sie im Wirtschaftsdschungel so gefährdet gewesen wie Thomas Hobbes es dem Naturzustand unterstellte. Es wäre der Kampf aller gegen alle gewesen. Zumindest nach dieser Phase der Verrechtlichung waren die großen Firmen wesentlich sicherer geworden. Die Trennung von Privatvermögen und Aktienbesitz erwies sich als ein Meilenstein an Sicherheit. Die kleineren Firmen in dieser Epoche, von denen es der Zahl nach natürlich viel mehr gab als von den großen und die auch immer noch eine beachtliche Produktion vorlegten, hafteten mit all ihrem Vermögen. Gingen sie Pleite, wie in den großen Krisen von 1873 und ca. 1893, dann war alles verloren. Deshalb tat sich wiederum im Stillen etwas. Die großen amerikanischen Banken, allen voran die von J. Pierpont Morgan, Wall Street, New York, gingen daran, Teile des Industriesektors zu konsolidieren. Sie wollten dem alten Problem der „sinnlosen“ Konkurrenz erneut zu Leibe rücken. Denn immer noch, wenngleich geringer als zuvor, wurde an der Stock Exchange in der Wall Street spekuliert und Instabilität produziert. Dies war auf dem neuen Kontinent sicherlich heftiger als etwa in London oder Berlin, aber
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dennoch: Nach Sicht von Morgan trieben sich an der Börse zu viele Leute herum, die da nicht hingehörten (Fraser 2006, S. 157ff.). Diese von Morgan und anderen Bankiers beeinflussten Prozesse der Fusion oder der „mergers“ fanden so oder ähnlich sicherlich auch in den anderen Industriegesellschaften oder –Staaten statt. Dennoch war das schiere Volumen in den USA ein anderes als irgendwo sonst. Die Banken waren darauf bedacht, den Konzentrationsprozess sehr sinnvoll zu strukturieren. Da passte nicht alles zu allem und manchmal erwies es sich als sinnvoll – aus welchen Gründen auch immer – auch Ungleiches zusammen zu bringen. In diesen letzten Jahren des 19. Jahrhunderts waren die großen Firmen zudem darauf bedacht, kleinere Firmen zu akquirieren. Der Markt wurde gewissermaßen „gereinigt“. Das war vielen kleineren Unternehmern gar nicht recht, wussten sie doch genau, dass die großen ihnen gegenüber in vielfältiger Weise im Vorteil waren, insbesondere was die finanzielle Seite betraf. Denn zwischen 1898 und 1903 gingen an die 400 amerikanische Corporations an die Börse – mit Hilfe und auf Anraten der Bankiers – und wurden zu Aktiengesellschaften. Damit waren sie finanziell und auch rechtlich den kleineren Personalgesellschaften unendlich überlegen. Deren Groll steigerte sich zudem, als solche Unternehmer bemerkten, dass der Vorgang als solcher mit kleinen Notizen in den einschlägigen Börsenzeitungen abgehandelt wurde. Dennoch waren die Einzelunternehmer in ihrem Selbstbewusstsein kaum zu treffen. Sahen sie sich doch als die von Gott berufenen Wirtschaftsführer an. Waren sie doch diejenigen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer Berufung es an die Spitze wirtschaftlicher Deutungshoheit gebracht hatten; sie als die „natürlichen“ Menschen, von Gott geschaffen; während die Aktiengesellschaften „künstliche“ Personen waren, die über die Lebensdauer eines Unternehmens hinausragten – also nicht gottgewollt waren. Bis heute ist das amerikanische Unternehmertum in diese beiden
4.3 Das Ergebnis
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Gruppierungen gespalten, in die natürlichen und in die künstlichen. Die Legitimation der „Natürlichen“ wird gegenwärtig von Donald Trump betrieben, obwohl dieser von der Sache her viel stärker als gewollt mit den anderen zusammenarbeiten muss. Die USA wurden nämlich nach 1900 in eine Finanzwirtschaft umgewandelt; sie sind es bis heute in verstärktem Maße geblieben, und sind seit 2008 die Treuhänder des Weltkapitalismus (Lee 2019, S. 53ff.). Die welthistorische Bedeutung der Umwandlung der „corporations“ zwischen 1898 bis 1903 zeigt sich auch daran, das bis 1913 nur noch wenige Gesellschaften gegründet wurden (Roy 1997, S. 144ff.). Es war mithin in hinreichender Weise erreicht worden, dass die Industriefirmen – nach den Eisenbahnen – in Kapitalgesellschaften transformiert worden waren. Damit war eine gewisse Sicherheit erreicht worden, dass Abenteurer nicht länger die Produktionsprozesse beeinflussen konnten. In den 1890er Jahren waren aufgrund der Wirtschaftskrise in New York z. B. hunderte von Babys auf einen Schlag verhungert, weil ihre Eltern von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden waren (Fraser 2006, S. 162). Allerdings ergab es sich, dass 1907 doch noch eine Liquiditätskrise auftrat, die die Kräfte aller größeren Banken mobilisierte – mit dem Bankhaus Pierpont Morgan an der Spitze. Morgan funktionierte quasi als die nicht vorhandene Bundesbank (Federal Reserve). Und da diese riskante und nicht erkannte Krise bewältigt wurde, war Morgan auch davon überzeugt, dass die USA keine staatlich-private Bankaufsicht benötigten, wie z. B. die anderen großen kapitalistischen Staaten (mit England mit seiner „eher privaten“ Bankaufsicht an der Spitze). Erst 1913 wurde die „Federal Reserve“ gegen Morgan und Bankkollegen von Präsident Woodrow Wilson geschaffen. Einsichten von „kapitalistischer Seite“ in solche Notwendigkeiten institutioneller Stabilität sind in den USA nach wie vor nicht wirklich gegeben. Sie werden immer noch von den „großen Kapitänen“ als ein notwendiges Übel angesehen. 143
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Die von den Banken, insbesondere von der Morganbank, vorangetriebene Reorganisation der US-amerikanischen Industrie, führte aber auch dazu, dass ein Teil der Dynamik dieser einzigartigen Kontinentalwirtschaft verloren ging. Die Knappheitstheorie (scarcity) erlangte strukturelle Wirklichkeit; allerdings taten sich in den USA und nunmehr auch auf dem Kontinent so viele neue Möglichkeiten für Investitionen auf, dass von einer wirklichen Stagnation nicht die Rede sein konnte. Mit ihrer Dominanz auf dem amerikanischen Kontinent (Andrew Carnegie, der Stahlmagnat formulierte: „We take this continent under our controll!“) griffen die Banken von da an auch auf die gesamte Weltwirtschaft über. Das Bankhaus Morgan hatte nunmehr Filialen und Vertretungen an allen wesentlichen Punkten der Welt, nicht nur im obligatorischen London sondern auch in Berlin, in Japan und in China. Präsident in den USA war Theodore Roosevelt, der sich zwar anfänglich nicht mit Morgan verstand, weil Roosevelt eine übergreifende nationale Vision pflegte und die großen Unternehmen deshalb in moralisch „gute“ und „schlechte“ gruppierte, der aber seine Stunde nutzte und eine neue und moderne Kriegsflotte für die USA erschuf, an der auch das „Haus Morgan“ beteiligt war, weil Morgan inzwischen die Stahlwerke von Andrew Carnegie erworben hatte: „American Steel“, die größte Stahlfirma der Welt. Roosevelt ließ zur Demonstration US-amerikanischer Macht seine so genannte „weiße Flotte“ einmal um die Welt dampfen. Zentral- und Südamerika waren unter den massiven US-amerikanischen Einfluss geraten und sind seitdem vor allem in finanzieller Hinsicht Anhängsel der USA geblieben. Auch der Bau des Panamakanals fand unter Roosevelt statt. 1913 verfügten die USA über ein Bruttosozialprodukt von 36 Milliarden USD, die zweitgrößte Wirtschaft, die des Deutschen Reiches, nur über 12 Mia USD und England auf Platz 3 verfügte über 11 Mia. USD. (Kennedy 1987, S. 242ff.) Ein Jahr später fing der so genannte 1.
4.3 Das Ergebnis
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Weltkrieg an und gegen diesen waren auch die Finanzinstitute der USA machtlos. Dennoch lohnt sich ein kleiner Blick auf die US-Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Selbige war so reich, dass sie bei Bedarf die Kunstschätze des „alten Kontinents“ aufkaufen konnte. US-Millionäre bauten sich Schlösser aus Beton, verzierten diese aber mit Wandbekleidungen europäischer Adelshäuser. Auch das Heiraten über den Atlantik hinweg kam in Mode: arme Prinzessin für reichen Kupferindustriellen. Die alte vornehme Kaufmannsschicht von New York zierte sich zwar etwas und lehnte es ab, die Morgans u. a. in ihr Theater zu lassen, aber als die Neureichen und einfach sehr Reichen die Metropolitan Opera in New York erbauten, dauerte es nur knapp 4 Jahre bevor die eingesessenen Häuser der Stadt aus den sogenannten „Knickerbockerkreisen“, den holländischen Schuylers, den deutschen und deutsch-jüdischen Bankhäusern sich dem neuen und im Zweifelsfall größeren Reichtum eingliederten. Damit kann man genau datieren, dass Verfallszeiten von Vornehmheit mit ca. 4 Jahren zu veranschlagen sind. Im Resümee aber zusammenzutragen, was denn nach den umfänglichen strukturellen Änderungen von Eigentum selbiges war, ist dennoch sehr reizvoll. Zuvor musste der Einzelunternehmer vor sein Firmentor treten und sagen: „Das gehört mir!“ Nunmehr ist er nicht länger ein Industrieller sondern ein Geschäftsmann (Mitchell 2007, S. 271ff.) und kann sagen: In meinem Bankhaus lagern für mich Aktienpakete von 20 verschiedenen Unternehmen im Wert von 30 Millionen USD. Und das wäre noch eine kleine Summe. Der ehemalige Unternehmer oder seine Erben sind nunmehr losgelöst von der ehemals vom Unternehmer oder vom Vater geschaffenen Firma. Er hat nichts mehr mit den Krisen und der „verflixten“ Konkurrenz zu tun. Natürlich bleiben viele Unternehmer nach wie vor die Chefs in ihren Firmen; das dauert bis in die 1960er Jahre an, dass ca. die Hälfte der Unternehmerfamilien aus „ihrem“ 145
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Unternehmen ausgeschieden sind (Mitchell 2007, S. 272)). Große Unternehmer, wie z. B. Carnegie, die Rockefellers, die Fords gründen Stiftungen, durch die ihre Angehörigen mit mäßigen Salären abgefunden werden, die aber gegen Spekulation abgesichert sind. Wer aber nicht länger aktiver Kapitalist bleiben will, der entscheidet sich für Aktien, die der Allgemeinheit gegenüber im Zweifelsfall unbekannt bleiben können. Zu den Sitzungen der Aktionärsversammlungen kann der Inhaber seine Bank beauftragen. Diese stellt auch häufig die Mitglieder des Aufsichtsrates, der nunmehr die Kontrolle über Firmenkapitale ausübt. Bankdirektoren der Bankfirma Morgan saßen zuhauf in den Aufsichtsräten (board of directors) und übten mehr oder minder gut ihre Aufpasserrolle aus. Den wirklich großen Job übten die Vorstände jener Firmen aus, die Präsidenten oder CEO’s. An sie hatte man anfänglich gar nicht so sehr gedacht. Immerhin waren die Konstrukte der neuen Institution Aktiengesellschaft ja Kopfgeburten von Juristen und nicht von Produzenten. Mit J. Edward Thomson von der Pennsylvania Railroad hatte sich das geändert (Roy 1997, S. 102). Heute verdienen die „executive officers“ Unternehmergehälter und werden als die agierenden Unternehmer auch rechtlich angesehen, denn sie brauchen einen ausreichenden Entscheidungsspielraum, nicht nur gegenüber den Aktionären, die auf der Verliererseite rangieren (Strange 1996, S. 147ff.), sondern auch gegenüber den Aufsichtsräten. Und sie sind deshalb auch mit ihren Gehältern gegenüber der Firma abgesichert. Selbst wenn sie der Firma „objektiv“ schaden und gehen müssen, können sie noch vertragsgemäß große Abfindungen beanspruchen. So sehr die Konstruktionen der Aktiengesellschaft dem juristischen Denken in der Absicherung von Eigentumstiteln verpflichtet sind, so überraschend ähnelt ihr Modell dem in der Politik so überaus geschätzten Modell der „Republik“: Alle Interessen sind „repräsentiert“, die Plebejer sind ausgeschlossen und vornehmer Reichtum ist höherwertiger als nur geringer.
4.3 Das Ergebnis
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Die Spitzen dieser 400 großen Aktiengesellschaften empfanden sich deshalb auch nicht zu Unrecht als die wahren Besitzer „Amerikas“. Man war nicht nur im provinziellen Amerika zu Hause sondern vor allem im aristokratischen, aber ärmeren Europa oder im warmen Ägypten, wo der alte Morgan sich gerne aufhielt. Man ging auf Löwenjagd in Afrika, wie Theodore Roosevelt nach seiner Regierungszeit. Auch die Liebe zu asiatischer Kunst und zu asiatischen Aristokraten wurde gepflegt. Mit der kleingeistigen „demokratischen“ Politik in den USA wollten die meisten nichts zu schaffen haben. Die dortigen Repräsentanten der Demokratie wurden nicht ganz zu Unrecht als die Plebejer der Republik betrachtet, die man zu lenken trachtete. Dies konnte allerdings zur Folge haben, dass man „die Realitäten der Politik“ falsch einschätzte. Bankhäuser z. B. hatten ihr Geld in Japan angelegt und hatten Kontakt zu den kultivierten Führern des japanischen Kaiserreiches. Dass Japan auf dem Sprung war, die asiatische Festlandküste in eigene Regie zu nehmen und bis tief nach britisch Indien vorzustoßen, war bei den „Geldleihern“ nicht recht angekommen. Umso stärker ihr Erwachen als sie in den 1930er Jahren sich dem Diktat der Politik beugen mussten, weil eine massive Gegnerschaft sich zwischen den USA und Japan auftat (Chernow 2003, S. 338ff.), die später auf China übergehen sollte. Damit war der geheimen Herrschaft der Wirtschaft in den USA auch auf diesem Sektor ein Ende gesetzt. Wirtschaftspolitisch war nach 1932 sowieso die Macht aufgrund des Zusammenbruchs der amerikanischen Geldwirtschaft auf die Partei der untersten Plebejer, die Demokratische Partei, übergegangen. Es sollte gut 40 Jahre dauern, bis der Zyklus wieder zugunsten der Wirtschaft umschlug.
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Was heißt in den Vereinigten Staaten Regierung? 5 Was heißt in den Vereinigten Staaten Regierung?
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Die Anfänge
5.1 Die Anfänge Das „Werden der Republik“ wurde weiter oben schon behandelt. Hier einige Ausführungen, die verstehen helfen, die jetzige politische „Landschaft“ der Analyse zugänglich zu machen. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von England wurde im Jahre 1776 verkündet. Sie war schon Teil einer Revolution. Denn militärische Auseinandersetzungen hatte es bereits zuvor gegeben. 1783 war die Sache soweit entschieden, dass es zu einem Friedensvertrag mit England kam (Adams 2000, S. 45ff). Die bisherigen Kolonien widmeten sich um: in souveräne Staaten nämlich. Und sie gründeten eine „Konföderation“: die „Vereinigten Staaten von Nordamerika“. Dieser wurde durch einen „Kongress“ regiert, dessen Kompetenzen relativ gering waren – aber man dachte, dass die einzelnen Staaten das meiste an Regierung selbst bewältigen konnten. Außenpolitik hielt man nicht mehr für so wichtig, nachdem der Vertrag mit England unter Dach und Fach war. Und für die Verteidigung (vor allem gegen die Indianer) hatte jeder Staat seine Milizen – also Bürgerwehren. Geld zu drucken war damals und noch für fast ein Jahrhundert eine recht phantasievolle Angelegenheit – ähnlich wie heute im Euroraum. Mächtige „Bürgerkreise“ waren jedoch der Meinung, dass ein solcher Bund zu schwach sei, um mit anstehenden Gefahren fertig zu werden. „Man“ traf sich 149 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_5
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deshalb, um über die Notwendigkeit einer perfekteren Verfassung zu beraten. Dieses Treffen führte zu dem Entschluss, eine Verfassungsgebende Versammlung in die damals bedeutsamste Stadt der Konföderation, nämlich nach Philadelphia, einzuberufen, die die Aufgabe hatte, die alte Verfassung „zu verbessern“. Dies war 1787 der Fall. Merkwürdiges geschah: diese verfassungsgebende Versammlung bestand aus 57 Mitgliedern, den Vorsitz hatte der legendäre General des Revolutionskrieges, George Washington. Es gab kein (offizielles) Protokoll dieser Versammlung, die im Sommer 1787 tagte. Der Vorsitzende sprach kein Wort, war also unparteiisch; und es wurde eine neue Verfassung produziert, die dann unter viel öffentlicher Kritik von den Einzelstaaten 1788 angenommen wurde. Und dies, obwohl die Versammlung ihre Kompetenzen überschritten hatte. In der kritischen Phase der amerikanischen Geschichtsschreibung, als die Nation noch zu freiem Denken ermuntert war, gab es nunmehr Sichtweisen, dass die Verfassung von reichen Personen für reiche Personen gemacht worden sei. Das ist jedoch schwer nachzuweisen, da die Verfassung wirtschaftliche Fragen natürlich nach Regeln ordnet und nicht nach Vorlieben. In den 1950er Jahren, als die USA das freie Denken einer neuen „moralischen“ Ordnung unterwarfen, wurde es unfein, die nordamerikanische Gesellschaft nach reich und nichtreich zu klassifizieren: Es gab nur noch Amerikaner; und die hatten auch bereits 1788 entschieden, und zwar nach „demokratischen Regeln“. Wer hätte das gedacht! Wie dem auch sei, die Verfassung mutet seltsam steif an, wie vielleicht alle Verfassungen. Sie ist langweilig zu lesen, und ihre Untiefen sind nicht leicht zu erkennen. An ihr wird jedoch klar, dass die USA eine Regierung haben sollen, die unter „dem Gesetz“ (government by law) steht. Zwei Dinge stechen jedoch klar hervor: Die USA hatten nunmehr ein Regierungssystem, in dem ein Teil der Kompetenzen der Bundesebene zugeteilt war; und ein zweiter Teil von genauer
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spezifizierten Kompetenzen bei den Einzelstaaten verblieb. Im Vergleich dazu ist die Bundesrepublik Deutschland anders geordnet. Hier sind die Länder nicht unabhängig vom Bund, sondern sie sind auch Teil des Zentralstaates, insofern wir eine zweite Kammer, den Bundesrat, haben, dessen Kompetenz eine zentralstaatliche ist. Auch bei uns herrscht das Gesetz, aber so, dass in den wichtigsten Fällen Bundesrecht das Landesrecht bricht. Dass das im Detail „rechtmäßig“ zugeht, dafür haben wir ein Bundesverfassungsgericht, dass sich nicht über das Parlament stellt, sondern höchstens selbiges darauf hinweist, dass da in der Gesetzgebung Ungereimtheiten vorliegen. Jedenfalls ist das so ungefähr die allgemein angepeilte Zielrichtung staatlicher Daseinsphilosophie. Das wahrscheinlich mit dieser Aussage zugedeckte normale Chaos ist bisher von den Verfassungsjuristen recht gut verwaltet worden. Eine solche staatliche Ordnung wie die in der Bundesrepublik ist recht weit von dem entfernt, was in den USA Regierung heißt. Es ist schwierig, überhaupt einen Anfangspunkt zu finden, wie man das Regierungshandeln (nicht Regierungssystem, das es wahrscheinlich gar nicht gibt) „systematisieren“ könnte. Man könnte mit Parteien und Wahlen anfangen, weil man diese braucht, um überhaupt die Regierungsmaschinerie einer Republik (oder Demokratie?) aufzubauen. Jedoch verzichten wir erst einmal auf diesen Zugang, aus dem einfachen Grund, weil nach der Verfassung die USA keiner Parteien bedurfte. Die „Verfassungsväter“ ahnten zwar, dass es Cliquen geben würde (siehe oben), aber sie hielten Konsenspotenziale für überwiegend. Dies sollte sich recht schnell als ein Irrtum erweisen! Aber eins ist im Vorgriff schon wichtig festzuhalten. Die USA „wählten“ von Anfang an nach dem k. o.-Prinzip. Wer in einer zu wählenden Einheit die Mehrheit der Stimmen hatte, der hatte auch gewonnen, die anderen Stimmen fielen unten durch. Unser System ist parlamentarisch, wir haben Regeln eingeführt, nach denen auch der Unterlegene parlamentarisch entsprechend 151
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als Minderheit vertreten ist. Auch das Mutterland England hat das Mehrheitswahlsystem, aber England ist ein Zentralstaat, und zwar unter dem Parlament. Die USA sind, wie schon gesagt, kein Zentralstaat, sondern sie haben eine geteilte Souveränität zwischen Einzelstaaten und dem Bund, genannt „Federal System“. Die Aufgaben sind soweit wie möglich auf diese beiden Größen verteilt. Jedoch waren sich die Verfassungsväter darüber im Klaren, dass nicht alles erfasst ist, wenn man einmal anfängt zu spezifizieren, was dem Bund und was den Einzelstaaten an Kompetenzen zufällt. Deshalb haben sie in weiser Voraussicht in der Verfassung verankert, dass alles was in der Verfassung nicht geregelt ist, dem „Volk“ vorbehalten bleibt. Kluge Leute – oder ist dies das Einfallstor für die Herrschaft der Reichen? Jedenfalls sind nach der Verfassung neben dem Bund nur die Einzelstaaten politisch legitimiert. Was auf der Ebene des „Volkes“ passiert, könnte theoretisch auch kassiert und dem Staat zugeordnet werden. Jedoch haben sich die Bürger der Vereinigten Staaten mit Duldung ihrer jeweils demokratisch gewählten Vertreter dazu entschlossen, die Selbstverwaltung in weiten Bereichen blühen zu lassen. So können Schuldistrikte sich selbst verwalten. Auch die Sheriffs werden von Bürgern gewählt. Ebenfalls sehr viele Richter der untersten Ebene, die manchmal nicht einmal Juristen zu sein brauchen. Natürlich waren bei der Gründung von Einzelstaaten die Kreise (sinnigerweise „counties“, Grafschaften, genannt) sehr wichtig und Gemeinden und Städte sowieso. Gerade die großen Städte sollten zu mächtigen politischen Gebilden heranwachsen. All diese lokalen Einheiten erfüllen die Verfassungsidee, dass das Volk sich in bestimmten Belangen selbst regiert. Dieses Volk ist also politisch in der Regierung anwesend, wenngleich ihm kein Verfassungsrang zukommt. Das kann in bestimmten Fällen bedeutsam werden, oder auch nicht! Die USA sind zwar „quasi“
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geordnet „unter dem Gesetz“, aber wo das Gesetz nichts sagt, da bleiben die Spielräume. Auch die 10 Zusatzartikel der „Bill of Rights“ sind Teil der Verfassung, wenngleich sie den Schutz der Individuen nur formal regeln und in einer Weise wirken, wie das oberste Verfassungsgericht dies in jeweiligen Fällen entscheidet. Jedenfalls gibt es, wie wir oben gesehen haben, keine Automatik in der Wirkungsweise der „Bill of Rights“. Und die Spielräume an direkter Demokratie sind natürlich in ihrer Ausrichtung klar erkennbar. Wenn Eltern ihre Schuldistrikte selbst kontrollieren dürfen, dann führt das dazu, dass man mit befreundeten und „gleich gearteten“ Eltern in gemeinsame Wohnbezirke zieht und andere „Bürger“, die man nicht mag, daraus fernhält. Ich hoffe, dies deutlich ausgedrückt zu haben. Auch beliebte Richter der unteren lokalen Stufe, müssen nicht immer von einem fairen Rechtsempfinden geprägt sein. Und Polizei und Sheriffs gewählt zu haben, führte immer schon zu Verhältnissen, die den Namen Rechtsstaat nicht verdienten und verdienen. Wir können mithin festhalten, dass die amerikanischen Regierungen ein komplexes Miteinander von lokalen, einzelstaatlichen und bundesstaatlichen Einrichtungen darstellen, in denen die Macht recht dezentralisiert sein kann. Auch diese Komplexität, obwohl sie trotz politischer Schöpfung eher technisch als Verwaltung wirkt, bezeichnen Amerikaner als Demokratie. Wegen der nicht genau geregelten Hierarchien kann man davon ausgehen, dass alle Körperschaften, die gewählt werden, Anteil an einer hybriden Souveränität haben und sich mithin als sperrig erweisen können, gegebenenfalls gekauft werden können, resp. auch für Korruption anfällig sind, usw. Aber, so wie der Staat (federal government und states) Straßen baut, Verkehrsregeln erlässt und die Beschaffenheit von Autos in groben Zügen festlegt (Bremsen und Schadstoffausstoß), so können auch viele andere Aktivitäten wirtschaftlicher oder 153
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gesellschaftlicher Art geordnet werden, und zwar durch inhaltliche Gesetzgebung einerseits und Regulierungen andererseits.
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Die Auffächerung
5.2 Die Auffächerung In den politikwissenschaftlichen Analysen ist zumeist ein Modell vorherrschend, das politischen Prozessen Gestaltungskraft unterstellt, die aber im Resultat wieder ein so genanntes Gleichgewicht – ein Equilibrium – erbringen. Vor diesem Modell ist zu warnen. Es gibt wohl keine empirischen Hinweise darauf, dass für irgendwelche Veränderungen auf einer Seite Kompensationen auf der anderen erfolgen. Man kommt weiter in der Analyse, wenn man historisch verfährt, also lineare Veränderungen annimmt. Diese erbringen u. U. Erfolge für bestimmte Individuen, die dann zusammen als eine kritische Masse auch so etwas wie einen sozialen Fortschritt als Resultat nahe legen können. Eine solche Bewertung kann gemacht werden, sie ist aber mit Vorsicht zu betrachten. Die Zeit des Weltkrieges und des Kalten Krieges unterlagen Bedingungen, die heutzutage nicht mehr als normal betrachtet werden können. So sind die sogenannten Erfolge, etwa der Arbeiterschaft, heute nicht mehr ausmachbar. Das amerikanische Kapital arbeitet im Ausland – vornehmlich in Asien – um Massengüter zu produzieren. Den Arbeitern ist damit viel an Entfaltungsmöglichkeit genommen worden. Diese Veränderung setzte nach den sogenannten Ölschocks und der sogenannten „Stagflation“ – also einer angenommenen Stagnation der Produktion bei gleichzeitiger Inflation – ein. Der Befund selbst entspringt eher einem Wunschdenken als einer irgendwie ausmachbaren Realität. Die Währungsungleichgewichte seit den späten 1960er Jahren, verbunden mit dem Opec-Kartell, reichen aus, um den entstehenden „Niedergang“ des industriellen Sektors in der Weltwirtschaft der hoch indust-
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rialisierten Länder „zu verstehen“. Die Erklärungen für die neue Wirtschaft sollten berücksichtigen, dass die von dem englischen Ökonomen John Maynard Keynes vorgeschlagenen ökonomischen Mechanismen, sich als „falsch“ erwiesen hätten. Die ökonomische Zunft stürzte sich auf diese Vorgabe und diente nicht länger dem „Staat“ sondern dem „Markt“. Falsches Verhalten von Ökonomen wurde sanktioniert und führte zu einem sehr baldigen angepassten Verhalten. (Auf Konferenzen, bei Vorträgen in den Medien sowie auf Parties in den 1970er Jahren hörte man bald nichts mehr von staatlicher Steuerung, sondern davon, dass die Märkte dies und jenes regeln würden). „Die Wirtschaft“ funktioniert seitdem nach Modellen der Knappheit. Insbesondere wurde das Arbeitsangebot knapp gemacht und eine neue Reservearmee an Arbeitern im eigenen Land und weltweit produziert. Die gleichzeitig verlaufende Technikrevolution im Mikroelektronikbereich schuf viele neue Berufe für hochqualifizierte Arbeiter, Techniker und Ingenieure, womit der Eindruck erweckt werden konnte, dass nur die schlecht Ausgebildeten ihre Chancen versäumten. Dass Politikern aber die Macht entrissen wurde, ihre gesamtgesellschaftlichen Planungen des Ausgleichs vorzunehmen, wurde in keinem Modell gesagt. Vielmehr wurde, wie oben schon in den Dogmen des „Grundgesetzes“ betont, auch den Politikern bescheinigt, dass sie, ähnlich wie Arbeiter, unfähig seien. Wir haben zuvor bereits gesehen, dass in den USA die Gerichte häufig das letzte Wort haben, insbesondere das oberste Verfassungsgericht. Bis auf die Jahre 1935 bis 1969 erwies sich das Gericht als durchgängig wirtschaftsfreundlich bis hin zu repressiven Maßnahmen gegenüber den Lohnabhängigen. Verfassungspolitisch sollte es sich als zentral erweisen, dass das Gericht sich bei seiner Entstehung – in der Verfassung war es lediglich abstrakt festgeschrieben worden – als oberste Instanz zur Verfassungsmäßigkeit legislativer oder exekutiver Akte stilisierte, und damit die Ober155
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hoheit über das politische Geschehen übernahm. Mit seinen Entscheidungen suggeriert das oberste Gericht, dass es eine Ordnung in dem nationalen Gerichtswesen gäbe. Dies ist aber mitnichten der Fall, wie wir oben bei der Behandlung der „civil rights“ in den Aussagen der Verfassungsrichter Cordoza und Frankfurter gesehen haben. Das Gericht behandelt von den eingebrachten 200 Fällen pro Jahr ca. 20. Die Entscheidungen haben häufig eine sehr begrenzte Reichweite. (So konnte etwa Präsident Eisenhower 1954 Kritiker der „Brown v. Board of Education-Entscheidung“ damit beruhigen, dass er ihnen versicherte, es ginge hier nur um „Rassengleichheit in den Schulen“. Weltweit aber wurde der Eindruck erweckt, dass die USA nunmehr die Rassengleichheit eingeführt hätten. Wir wissen, dass es dieselbe nach wie vor nicht gibt, und zwar in den „Rechtsverhältnissen nicht gibt“). Diese 20 Entscheidungen des „Supreme Court“ pro Jahr bewegen das Gesamtsystem kaum, vielmehr bestätigen sie so nebenbei auch die anderen 180 nicht behandelten Fälle, obwohl da Betroffene der Meinung waren, dass diese von ihnen für wichtig gehaltenen Fälle allesamt nicht als „gerecht“ zu bewerten seien. So ergibt sich ein Rechtssystem, in dem zwar das „law“ herrscht, aber mit Ordnungsvorstellungen, die von den Bürgern kaum nachvollzogen oder gar „verstanden“ werden können, und die die unteren Klassen benachteiligen. Wer arm und ungebildet ist, wird, wie im 18. Jahrhundert, auch als (moralisch) defekt kategorisiert. Eines jedoch leistet diese Privilegierung des obersten Verfassungsgerichts vor den anderen verfassungsmäßigen Gewalten. Durch sie werden demokratische Prozesse von Präsidenten oder von Legislativen gebremst. Nach staatsrechtlichen Vorstellungen sind die USA damit eher eine Republik als eine Demokratie. Aber ich habe oben schon betont, dass der Begriff Demokratie nicht genau zu präzisieren ist – zum Glück – und damit jedem Menschen das Recht belässt, sich in einer Demokratie zu Hause zu wähnen.
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Viel Aufhebens wird von der Tatsache gemacht, dass die lokale Politik immer stärker von Washington aus reglementiert wird. Auch die Einzelstaaten beschweren sich über mangelnde Kompetenzen und darüber, dass Washington ihnen Aufgaben wegnehmen würde. Einem solchen Vorwurf ist mit Augenmaß zu begegnen. Überall auf der Welt setzen Staaten darauf, Standardisierungen und Vereinheitlichungen durchzusetzen. Das hat damit zu tun, dass man massenhafte Bedürfnisse nur dann auch befriedigen kann, wenn sie einer „economy of scale“ gehorchen. Die Großindustrie – und hier ist einmal die Stelle, auch deren Wert hervorzuheben – arbeitet am besten, wenn sie große Stückzahlen produzieren kann. Wenn man schon für die Wirtschaft plädiert, dann sollte man auch die Vorteile der großen Unternehmen hervorheben. Wir in der Bundesrepublik wissen, dass es einen guten Mix zwischen großen, mittleren und kleinen Unternehmungen geben sollte; in den USA ist es anders. Die Entscheidungen am Ende des 19. Jahrhunderts – siehe oben – haben in den USA dazu geführt, dass die Großindustrie – auch wegen der Größe des Landes – bevorzugt wurde. Jedoch, nach wie vor sind die Einzelstaaten in den USA nicht gehindert, eine eigene Industriepolitik zu machen, was sie wohl auch gerne tun – aber sinnvoller Weise „in Konsultation“ mit den großen Firmen an ihrem Standort. Insofern ist das Gerede von der Einflussminderung der Einzelstaaten eine rhetorische Floskel, um „Stimmung gegen Washington“ zu machen. Die durch den Kongress in Washington gemachten „Programme“ unterschiedlichster Art, haben es an sich, dass ihre Mittel (etwa Straßenbau oder Ausbildungen und Schulbeeinflussung) meist pauschal an die Staaten, Kreise oder Städte überwiesen werden und dort eigenständig verwaltet und gewidmet werden können. Da herrscht kein Zwang, und zumeist zu wenig an Kontrolle. Im Johnsonschen Programm im „War on Poverty“ in den 1960er Jahren wurden in Kalifornien Mittel abgezweigt, um in Los Angeles brutale Durchgangsstraßen durch 157
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das Ghetto von Watts zu schlagen, mit dem zynischen Verweis darauf, dass diese Straßen es den Ghettobewohnern erleichtern sollen, schneller an ihren Arbeitsplatz zu kommen. Der Verteidigungsetat enthielt früher viele Mittelwidmungen an einzelne Wahlkreise von Abgeordneten, die sich damit vor ihren Wählern profilieren konnten. Auch hier war die Hand von Washington eher zögerlich. Staaten oder ihre Unterkörperschaften können natürlich auch Mittelzuweisungen ablehnen – was jedoch selten geschieht, weil es bei den Bürgern unpopulär ist. Manche Programme, bei denen Washington die Oberhoheit hat und behält, sind der Beeinflussung durch andere als zentralstaatliche Behörden entzogen, weil sie zu Missbrauch führen würden. Das betrifft insbesondere die Krankenversicherungen und die Rentenangelegenheiten (Lammert 2015) sowie Arbeitslosenhilfe. Aber auch bei solchen Politikfeldern herrscht eine bestimmte Weisheit vor, die seit den Zeiten von Präsident Franklin D. Roosevelt in den USA erhalten geblieben ist, nämlich dass zentrale Politiken zur dezentralen Implementation in die Hände der Einzelstaaten gelegt werden. Seitdem haben Bürger und Politiker ein waches Auge darauf, wie die Wohlfahrtsleistungen zwischen den Staaten variieren. Es gibt Staaten wo „welfare“ (etwas) lukrativer gewährt wird als anderswo, womit Anwärter auf solche Mittel gerne den Staat wechseln, was von den Reaktionären in den „positiv“ betroffenen Staaten gern gesehen wird, während die zahlenden Staaten aufpassen müssen, dass ihre Mittel nicht erschöpft werden. Der Bundesstaat hat also durchaus Einflussmöglichkeiten, wenngleich selbige weniger durch Druck und eher durch Überzeugungsarbeit sowie durch Werben erfolgreich sein können. Letztere Strategie verweist darauf, dass „Ideen“ als kulturellen Mustern eine große Bedeutung zukommen kann. Noch immer kommt der Region, die einst die „Abolitionisten“ hervorbrachte, also dem Nordosten der USA, genannt auch die Neuenglandstaaten,
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eine große Bedeutung in der Erzeugung universalistischer Ideen zu. Heute sind es die Ideen des Umweltschutzes (Schissler 2012, S. 91ff.), die vor allem in Neuengland (aber auch in Kalifornien) auf große Resonanz stoßen. Das Thema Sklavenbefreiung brachte diese (alten) Staaten in feste Verankerung mit der Republikanischen Partei. Heutzutage sind diese Staaten mit knapper Mehrheit eher der Demokratischen Partei zuzurechnen, und zwar deren liberaler Ausrichtung, soll heißen: einer gewissen „sozialliberalen“ moralisch gemeinschaftlichen Orientierung zugetan. Sie bilden damit ein Gegengewicht zu dem nationalistischen, wirtschaftskonservativen Süden, der nunmehr ganz seine Beziehungen zur Demokratischen Partei aufgegeben hat. Eine neue Hegemonie der Demokraten muss sich im Süden erst wieder entwickeln. Neben die funktionalen Aufgaben von „Federal Government“, die wir gerade gestreift haben, nämlich diejenigen der Haushaltsaufteilung, treten spezifische, regionale Politiken, die häufig mit den geographischen oder gesellschaftlichen Bedingungen bestimmter Regionen etwas zu tun haben. Es ist z. B. noch nicht so lange her, dass der Staat Montana – „blue sky state“, ganz im Norden gelegen – der reichste Staat der Union war, weil in ihm ein intensiver Erzbergbau betrieben wurde. Zwischenzeitlich war Montana so ziemlich der ärmste Staat mit nur knapp 1 Mio. Einwohnern – weil die Bergwerksfirmen wieder abgezogen sind. Zurzeit soll er aufgrund von „fracking“ wieder eine aufsteigende Tendenz vorweisen. Ein zweiter armer Staat ist West Virginia, der ehemalige „Kohlenstaat“ der Union. Regionalförderung durch den Bund wird weniger als in Deutschland betrieben, jedoch ähneln sich alle industriellen Staaten in gewissen Grundzügen. In den USA wird wirtschaftliche Entwicklung stärker als anderswo der Wirtschaft zugewiesen. Diese „tiefe Regierung“ in jeder modernen Nation entwickelte wenig an Wirtschaftstätigkeit in den letzten Jahrzehnten in den USA, sondern war vor allem global tätig, etwa 159
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mit 1 Mio. Beschäftigten im Großraum Shanghai durch Apple. In Kalifornien dominiert immer noch die Flugzeugindustrie und Silicon Valley – neben der eher privatwirtschaftlichen Filmindustrie – und prägt dadurch den besonderen Charme Kaliforniens als Verbindung von Hightech und Verrücktheit aus. In groben Zügen argumentiert: Der Eisenbahnbau einte die USA geographisch, wodurch aber eine Bevölkerungsballung vor allem an den beiden Ozeanküsten erfolgte sowie um das Zentrum Chicago an den großen Seen herum. Das Land dazwischen ist eher dünn besiedelt und dient der Landwirtschaft. Das „weite Land“ war einst fest in Demokratischer Hand, in populistischen Händen sogar. Seit den 1970er Jahren hat es einen Wandel gegeben und der „Agrarblock“ ist in Organisation und Bewusstsein zu den Republikanern übergewechselt (Sanders 1986). Das flache Land ist „rot“ (Republikanisch) geworden. Durch die oben schon skizzierten Krisen der Landwirtschaft verschwand zunehmend der „freie Farmer“ und machte dem angestellten Farmer Platz, der Teil der großen Aktiengesellschaften ist, die nunmehr das meiste an Land in Besitz nahmen, nachdem der Farmer es hinreichend zu Farm- oder Weideland geformt hatte. „Agrobusiness“ ist in den USA wie in Europa zu einem hybriden Teil von Wirtschaft mutiert, eigentlich Teil der Chemiewirtschaft unter dem Untertitel: Lebensmittelproduzent. Aus den Produktionen von Hollywood wissen wir, dass der Bundesstaat vor allem dann in die Kompetenzen der Einzelstaaten eindringt, wenn es sich um Gesetzeswidrigkeiten oder kriminelle Akte handelt, die über die Einzelstaatsgrenzen hinweg begangen werden. Jedem Leser sei hiermit der Film „Bonny und Clyde“ empfohlen. Das FBI wurde gegründet, um als Zweig des Justizministeriums solche überstaatlichen Verbrechen schnell und effektiv verfolgen zu können. In manchen Filmen werden dann sogar Konflikte zwischen der Staatspolizei, resp. den Sheriffs,
5.2 Die Auffächerung
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und den Beamten – „agents“ – des FBI ausgetragen. Diese ganze Entwicklung der Kompetenzzunahme des Bundes begann mit der Gründung der „Interstate Commerce Commission“ im Jahre 1887. Danach folgten weitere „Commissions“, deren Aufgabe es ist, neben den Verwaltungen der Staaten und des Bundes bestimmte Materien „fachlich“ zu verwalten. Zu diesem Zweck werden Chefs dieser Verwaltungen zumeist in Übereinstimmung von Kongress und Präsident auf viele Jahre berufen, die sich dann aufgrund der Errichtungsgesetze dieser Behörden ihr Personal beschaffen und ihre so genannte „regulatorische“ Tätigkeit aufnehmen. Am leichtesten ist für die Bürger immer noch die segensreiche Arbeit der „Food and Drug Commission“ FDA zu verstehen. Bei ihr handelt es sich um eine Riesenbehörde, die neu zuzulassende Produkte auf ihre Wirksamkeit, resp. Schädlichkeit für die Bürger/Verbraucher untersucht. Auf den Fachleuten dieser Behörden liegt denn auch die Riesenlast der Beweisführung für Zulassungen von Produkten. Es gab eine Beamtin, die sich nicht sicher war, ob ein bestimmtes Schlafmittel nicht genetische Schäden bei schwangeren Frauen bewirken kann – das Mittel hieß Contergan. Die amerikanische Pharmaindustrie verteufelte diese Abteilungsleiterin, aber sie ließ sich nicht davon abbringen, alle nötigen Tests gewissenhaft durchzuführen (Carpenter/Moore 2007, S. 340 ff.). Der amerikanischen Wirtschaft ging das Patent verloren – aber zum Glück. In Deutschland war man etwas mutiger und industriefreundlicher und ließ Contergan zu, mit den bekannten Schädigungen bei Geburten. Die FDA hatte Glück in den USA, weil die Skandale der dortigen Fleischindustrie in den Schlachthöfen von Chicago Intellektuelle auf den Plan riefen, z. B. den Schriftsteller Upton Sinclair, der das Gammelfleisch der Schlachthöfe – man ließ Fleisch im Freien liegen, es von Ratten anfressen und es sodann für große Garküchen der Stadt durchkochen – anprangerte. Während der Reagan Administration, wo erstmals eine wirklich konservative Regierung in den 161
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5 Was heißt in den Vereinigten Staaten Regierung?
USA ins Amt rückte – unter Nixon herrschten zwar Konservative, aber immer noch mit dem Impetus aus dem „liberalen Zeitalter“, dass Politik progressive Sozialtechniken befördern solle – wurde die FDA um die Hälfte ihres Personals gekürzt und an die entscheidenden Stellen rückten die Abteilungsleiter von Monsanto und andere Feinde des Lebensmittel- und Umweltschutzes ein (Klein 2010, S. 428ff.). Der gesamte Politikbereich der Regulierung steht seit den 1970er Jahren unter einer permanenten Attacke seitens der Banken- und Wirtschaftskräfte. Deren Ziel ist eine weit gehende Deregulierung bei Erhalt der Regulierungsbehörden. Das hat den Zweck, diese Behörden dann für Fehler als Sündenböcke zu benutzen, um augenfällig zu demonstrieren, dass „der Staat“ unfähig ist, ordentliche Ordnungspolitik zu betreiben. Die Bürger selbst konnten durch langjährige Kampagnen „überzeugt“ werden, dass Regierungen und Politik Versager sind und dass nur „the free enterprise“ Kompetenzen für nahezu alles besitzt. Gleichzeitig mit dieser Kampagne verbunden ist die Agitation gegen Einkommensteuer, die es geschafft hat, Steuern so madig zu machen, dass Mehrheiten in den USA nunmehr für die niedrigen Steuersätze des obersten einen Prozentes der Vermögenden zu schaffen sind. Das Politikfeld „Deregulierung“ ist so wichtig, dass wir ihm im Kommenden einen Abschnitt widmen werden, weil es nämlich die Struktur unserer Epoche bestimmt. So wie im 19. Jahrhundert der Schutzzoll „die Grammatik“ des Politischen bestimmte, so bestimmt heute die „Deregulierung“, vor allem der Banken, die Substanz der jetzigen Politik der „marktkonformen Demokratie“. Ich hatte oben aber nicht ganz Recht, als ich den Beginn der Regulierung mit der „Interstate Commerce Commission“ ansetzte. Der wirkliche Akt der zentralstaatlichen Oberhoheit als Regulierung fing mit dem Gesetz zur einheitlichen nationalen Währung 1863 an, das Präsident Lincoln autoritär setzte (Degler 1959, S. 194ff.). Die
5.3 Einfluss von Politik und Regulierung auf Alltag
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Schutzzollgesetze des Nordstaatengesetzes bildeten dann den weiteren Schritt. Die aufgrund des Bürgerkrieges durchgesetzten „Amendments“ wurden, wie wir oben gesehen haben, durch das oberste Verfassungsgericht soweit verkrüppelt, dass ihre Wirkung häufig nur der Bestätigung der Oberhoheit der (Süd)-Staaten diente. Ausnahme bildet der 14. Zusatzartikel mit seinem „due process of law“ für die (große) Geschäftswelt. Schauen wir uns aber an zwei Beispielen etwas genauer an, wie sowohl die Komplexität staatlicher Ordnung als auch Regulierungen den Alltag der amerikanischen Bürger konkret prägen.
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Der Einfluss von Politik und Regulierung auf den Alltag: Zwei Beispiele
5.3 Einfluss von Politik und Regulierung auf Alltag Das Beispiel in der Studie von Gerston u. a. in „The Deregulated Society“,S. 6, ist zu schön, um es neu zu erfinden: Ich paraphrasiere es deshalb im Folgenden: Der amerikanische Student „Roger Regel“ erwacht am frühen Morgen und sputet sich, seinen ersten Kurs an der „Regulations Universität“ zu erreichen. Es war so kalt an diesem Morgen, dass sogar seine elektrische Bettdecke (genehmigt durch die Consumer product safety Commission) ihn nicht richtig warm halten konnte, deshalb dreht Roger schleunigst das Thermostat an seinem Gas Heizer an (nicht länger – 1988 – reguliert durch die Federal Energy Regulatory Commission). An diesem Morgen fühlte Roger sich besonders gequält durch Allergien. Er nimmt eine Medizin ein (genehmigt durch die Food and Drug Administration) während er die Nachrichten im Frühstücksfernsehen anschaut (genehmigt durch die Federal Communications Commission). Während er sein Auto zur Fahrt an die Uni benutzt (unter der Kontrolle der Zulassung durch die National Highway Traffic Safety Administration), 163
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entscheidet sich Roger für ein Frühstück in einem Uni-nahen Fast Food Restaurant (wo die Speisen durch das U.S. Department of Agriculture genehmigt sind). Da fällt ihm noch rechtzeitig ein, dass er kein Geld bei sich hat, so dass er noch schnell am Automaten seiner Bank stoppt (reguliert durch die Federal Deposit Insurance Corporation). Rechtzeitig jedoch erreicht er den frisch renovierten Seminarraum (Renovierung erforderlich aufgrund von Vorgaben der Occupational Safety and Health Administration). Das Seminarthema: Leben in einer „free market“ economy. Gerston und seine Mitautoren sind eher Anhänger von Deregulierung, deshalb können sie auch den Gegensatz von frei und reguliert so deutlich formulieren. In Wirklichkeit hat es eine solch freie Ökonomie nie gegeben. Diese selbst erwuchs aus dem Merkantilismus, wo die Beamten des Königs ein Auge darauf hatten, dass Produktion und Gewerbe gute Produkte erstellten und dass eine brutale Marine (England) die Freiheit der Meere für den Handel sicherte. Als ca. 1828 in den USA sich die „Marktwirtschaft“ durchsetzte, herrschte einerseits noch religiöse Anständigkeit, andererseits wurde auf das Leben der Arbeiter auch keine Rücksicht mehr genommen. Eine „Health Safety“ gab es nicht mehr, allerdings aber schon Gesetze, nach denen ein Verschulden ambivalent durch die Gerichte betrachtet werden konnte. Wer seine Züge in gefährlicher Weise übers Land fahren ließ, konnte durch Richter auch empfindlich zur Verantwortung gezogen werden. Wenn man sich vorstellt, dass in der heutigen Zeit jede Firma Farben nach ihren Vorstellungen produzieren dürfte, dann wäre das nicht mehr lustig. Insofern müssen geringere Kontrollen durch zunehmende Haftpflichten ausgeglichen werden, was zumeist in der Gesetzgebung auch der Fall ist (Bredford de Long 1997). (Während der Clinton Administration – nach de Long – scheint dies ein Ansatz gewesen zu sein, dem modischen Verlangen nach
5.3 Einfluss von Politik und Regulierung auf Alltag
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Deregulierung einerseits und der Verschärfung von Haftpflichtregelungen andererseits zu entsprechen). Nehmen wir als zweiten Fall das Beschäftigungsverhältnis eines Angestellten im Gesundheitsdienst in einem ländlichen Kreis (Irish/Prothro 1965, S. 150). Das Beispiel soll uns die Art der Verschränkung von „Regierungen“ innerhalb der USA verdeutlichen: Der Gesundheitsbeamte (health officer) wird „sanitarian“ genannt. Eingestellt wird er vom Einzelstaat, nach Richtlinien der Qualifikation, die von der Bundesregierung (federal government) erlassen worden sind. Sein Grundgehalt empfängt er aus staatlichen und aus Bundesmitteln. Der Kreis stellt ihm ein Büro sowie dessen Ausstattung zur Verfügung und zahlt einen Teil seiner Ausgaben. Aber auch die größte Stadt im Kreis bezahlt einen Teil seines Gehaltes und seines Büros, weil er als Inspektor des Abwässerwesens angestellt ist. Es ist unmöglich genau zu sagen unter welchem Hut der Sanitarian von Moment zu Moment arbeitet. Seine Arbeit als Kontrolleur der Lebensmittelhygiene wird unter bundesstaatlichen Standards ausgeführt, aber er arbeitet unter seinen staatlichen Gesetzen, wenn er Güter inspiziert, die unter „interstate commerce“ stehen: Und etwas „pervers“ agiert er auch als „Staatsbeamter“, wenn er die Milchkontrolle in seinem Kreis vornimmt, für Milch die aus dem Nachbarkreis kommt. Er ist ein „federal officer“, wenn er unreine Lebensmittelchemikalien aus dem Nachbarstaat verortet. Bei der Festlegung industrieller Hygiene arbeitet er sowohl für seinen Staat wie auch für den Bund, hingegen ist er ein staatlich-lokaler Angestellter, wenn er in der Stadt die Wasserversorgung überprüft und, um der Zirkel voll zu machen, er ist ein lokaler Bevollmächtigter, wenn er die städtischen Metzger anweist, sorgfältiger mit ihrem Abfall umzugehen. Aber er kann nicht, und tut es auch nicht, so handeln, als würde er jeweils in diesen getrennten Eigenschaften tätig sein. Alle Tätigkeiten im Kreis, die mit öffentlicher Gesundheit und dem Sanitärwesen zu 165
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tun haben, betrachtet er als „his business“. Obwohl er überwiegend vom Bund bezahlt wird, findet er es nicht seltsam, die Sitzungen der Stadtverordneten zu besuchen, um seinen Expertenrat in Fragen von überreifen Äpfeln bis hin zur Kaninchenkontrolle zu geben. Es kann sogar passieren, dass er in bestimmten Funktionen Teil der Stadt- und der Kreispolizei ist. In der Bundesrepublik sind diese Funktionen eindeutiger den jeweiligen Gebietskörperschaften zugewiesen. Der Kreis mag auf Bundes- und auf Ländergesetzen aufbauend Pflichten wahrnehmen, aber er handelt als eine Einheit. Wenn der Kreisgesundheitsinspektor seine Aufgaben wahrnimmt, dann ist er kein Länder- oder Bundesbeamter. Wie dem auch sei, es erscheint eher faszinierend, diesen barocken Aufbau amerikanischer Staatlichkeit im Mikrobereich einmal nachzuvollziehen. Er wird (fast) genauso wirksam sein wie in anderen voll entwickelten Zivilisationen, dennoch kämen Bedenken hinsichtlich der Kontrollen. Die politischen Kräfte in einem Kreis können so oder so gelagert sein. Stärkere Umweltschutzinteressen beißen sich zumeist mit den Vorstellungen der Geschäftswelt. Metzger zahlen nicht gern viel Geld für Fettabscheidegeräte, sondern lassen lieber ihre Abwässer in die Kanalisation laufen. Die Frage ist, ob es noch richtige Metzger in den USA gibt – und nicht nur dort (Frank 2005, S. 56ff.). („Amerikanische Interessen“ konnten lediglich verhindern, dass das Schlachtvieh bereits in Südamerika zerlegt worden wäre; das erschien dem Kongress dann doch zu abenteuerlich als Problem der Hygiene. Zugleich natürlich auch ein Problem von Gringo-Arroganz).
5.4 Einfluss der Politik auf gesamte Gemeinschaft
5.4
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Der Einfluss der Politik auf die gesamte Gemeinschaft
5.4 Einfluss der Politik auf gesamte Gemeinschaft Gleichsam als Gegengewicht zu der gerade eingenommenen Sichtweise bietet es sich an, Politik im Kontrast auf die Großwetterlage zu beziehen. Es ist ja nicht so, als würde US-amerikanische Politik in den Details verschwinden und versinken. Vieles an wesentlichen Entscheidungen spielt sich in den großen Blöcken der Politik ab. Sozialpolitik v. Verteidigung, Wirtschaftspolitik v. staatlicher Zurückhaltung. Außenpolitik spielt eine geringere Rolle als man denkt. Auch in diesem Bereich sind private Aktivitäten häufig die Regel. Das „State Department“ ist für Verträge zuständig und diese sind zumeist bilateral gelagert. Allgemeine Verpflichtungen nehmen die USA ungern auf sich. (Der Große ist am stärksten allein!) Aber hier geht es nicht um makroökonomische, geschichtslose Kräfte, sondern konkret um die historische Situation nach 1945. Schon in den Jahren zuvor wussten die USA ziemlich sicher, dass sie die Weltmacht Nr. 1 werden würden. Daraus resultierte zuerst einmal, dass der „amerikanische Staat“, diesmal vorrangig vertreten durch seinen Präsidenten (wie im „Bürgerkrieg“ 1861), eine privilegierte Stellung beim Gestalten der Nachkriegswelt hatte. Dem diente die Bretton Woods-Konferenz von 1944. Die amerikanische Wirtschaft, insbesondere die Bankenwelt, erwartete, dass nach dem Krieg wieder „normale Verhältnisse“ einkehren würden (Dezalay/Garth 2002, S. 73ff. und 261–268). Dass also der dominanten amerikanischen Wirtschaft die Zügel freigegeben würden, um den militärischen Sieg in einen ökonomischen Beutezug verwandeln zu können. Während der 1930er Jahre hatten die amerikanischen Banken, gerade noch gerettet durch Präsident Roosevelt, aus den Kapitalfluchten in Europa Vorteile gezogen, weil dieses „Fluchtgeld“ in den sicheren „Häfen“ der USA landete. Dieser Mechanismus, nämlich schwächelndes Finanzkapital aus Europa durch Flucht in 167
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5 Was heißt in den Vereinigten Staaten Regierung?
die USA zu bekommen, wurde auch jetzt als natürliche Reaktion erwartet. Der amerikanischen Regierung kamen bei dieser Erwartung jedoch große Zweifel. Sie sah den Zerfall Westeuropas voraus – nach dem Verlust Osteuropas an die Rote Armee – und zog die Reißleine. Mit dem Marshallplan wurde eine ganz andere Wirtschaftspolitik eingeleitet, nämlich eine Stabilisierung der Produktionen, also eine materiale Wirtschaft, und eine Ablehnung der finanzpolitischen Vorteilsnahmen. Hatten schon große Teile der Wirtschaft 1933 in Opposition zu Roosevelts Anspruch, nunmehr die „Stunde der Exekutive“ einzuleiten, protestiert, so wurde auch diese Entscheidung, „die Europäer zu schonen“ von den Banken nicht wirklich akzeptiert. Es blieb ihnen jedoch vorläufig nichts anderes übrig als dem Sieger der Gestaltung ab 1933 den Vortritt zu lassen. Jedoch war diese Anerkennung der „staatlichen“ Hegemonie qua Exekutive eine Stundung auf Zeit. Die Banken setzten darauf, dass die staatliche Gestaltung der Wirtschaft ihre Schwächen hätte, dass der Staat nicht alle Parameter wirtschaftlicher Tätigkeit kannte, geschweige denn beherrschte. Auch ein kleiner Kern der Produzenten des Materiellen verharrte in geistiger Opposition. Jedoch ging die Mehrheit der Unternehmer auf das staatliche Angebot ein, den Konsum- und Wohlfahrtsstaat aus dem Boden zu stampfen, ideologisch inspiriert durch den Kampf gegen den Weltkommunismus, der dann Arbeiter und Unternehmer im Rahmen der pluralistischen Demokratien „der Freien Welt“ einte. Die Banken sollten mit ihrer Skepsis Recht behalten (Madrick 2011, S. 14ff.). Als Ende der 1960er Jahre zu viele inflationäre Dollars die Weltmärkte heimsuchten, weil Präsident Johnson sich seinen Vietnamkrieg damit durch die Alliierten mit finanzieren ließ, entstanden Phänomene wie der Eurodollar sowie ein „Offshore banking“. (Sie hatten natürlich schon frühzeitig damit angefangen nach Schlupflöchern zu suchen. Sich mit geringen Zinssätzen und mäßigen Gebühren abzufinden, also aus der unternehmerischen
5.4 Einfluss der Politik auf gesamte Gemeinschaft
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Wirtschaft ausgeschaltet zu sein, war nicht ihre Sache. Die Aufweichung der strengen Regeln von 1933 begann nach Madrick recht bald nach dem Krieg.. Einer der Helfer war der griechische Reeder Onassis.) Große Versicherungen in den USA, sogenannte „institutionelle Anleger“, wie z. B. die Rentenfonds, suchten nach neuen Anlagemöglichkeiten. Die bisherigen Festlegungen der wichtigen Weltwährungen auf den Dollar gerieten bei dessen Schwächeln ins Wanken. Wichtiger noch: die bisherigen Verwalter des Produktions- und Wohlfahrtsstaates sahen auch Möglichkeiten, durch „abweichendes Verhalten“ Vorteile einzufahren. Präsident Nixon, seit 1969 amerikanischer Präsident, gab Anfang der 1970er Jahre die Dollarbindung auf und inspirierte europäische „Wirtschaftsdenker“, wie den deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und den französischen Präsidenten Giscard d’Estaing, flexible Währungskurse bei gleichzeitiger Tolerierung von Schwankungen zu erfinden. Es half alles nichts. Die Welt geriet in Bewegung. Mit dem Jom-Kippur Krieg von 1973 halfen die arabischen Staaten unbewusst der amerikanischen und englischen Bankenwelt vollends auf die Beine. Mit ihren Ölpreiserhöhungen im Rahmen einer neuen Organisation, der OPEC, die Vereinigung der ölproduzierenden Länder, schafften sie zusätzlich zum Eurodollar den „free floating“ Petrodollar, den es in alter Tradition an die Londoner Börse drängte. Dort erwachten die englischen Banker, die lange Zeit beschäftigungslos geblieben waren und regten die alten Phantasien an Begehrlichkeit und Unsittlichkeit an. Eine neue Welt wurde geboren, nur, sie wusste es noch nicht. Das System von Bretton Woods war am Ende. Nunmehr herrschte wieder die Dominanz des Kapitals vor den Staaten, und zwar nicht des produktiven, sondern des spekulativen Kapitals. (Anfang 1974, kurz vor seinem Rücktritt als Finanzminister der Nixon Administration, beendete George Shultz, der spätere Außenminister unter Reagan, die Begrenzungen für privates Kapital, an andere Länder in 169
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beliebiger Höhe Darlehen zu vergeben. Dies öffnete nach Madrick (S. 102), alle Schleusen. Ich glaube nicht, dass Nixon, der eher ein Etatist war als ein gläubiger Anhänger von „free enterprise“, diesen Schritt gebilligt hätte. Madrick legt diesen Zweifel nahe. Von da an fand man, so Madrick, die Banker kaum noch zu Hause, sondern sie bereisten die Welt. Auch Rick Perlstein, „The Invisible Bridge“ (New York 2014, S. 182ff.), neigt ebenfalls dazu in George Shultz einen radikalen Marktanhänger zu vermuten, der dem Nixon’schen Keynesianismus kritisch gegenüberstand und die Schwäche des Präsidenten, der von seiner Amtsenthebung bedroht war, nutzte, um seine eigene Marktstrategie durchzusetzen. Die Deutschen und die von ihnen beeinflussten Europäer mussten aufpassen, denn die alten Fähigkeiten des englischen und amerikanischen Finanzkapitals waren nicht zu unterschätzen. Jedoch gerieten vorerst rapide die alten Produktionsgesellschaften, wie die USA und die Bundesrepublik Deutschland, in die Krise. Die Ölverteuerungen führten zu Inflation und, wie man verkürzt sagte, zu „Stagflation“, also Inflation plus Stagnation. Es wurde nicht mehr überstark investiert, und dennoch hielt die Inflation an. Keynesianisch, also „wohlfahrtsstaatlich“, ließ sich das anscheinend nicht mehr erklären. Es war auch kaum jemand an Wirtschaftswissenschaftlern noch daran interessiert, dies erklären zu wollen. Ende der 1960er Jahre wurden die Antennen in den Wirtschaftswissenschaften allmählich von „Staatlicher Globalsteuerung“ auf die „heilenden Kräfte der Konkurrenz auf den Märkten“ umgestellt. Wenn man sich in den 1970er Jahren in Washington, D.C. aufhielt, hörte man nichts mehr von staatlicher „Wirtschaftssteuerung“; aber gebetsmühlenartig wurden die Slogans: „ Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ oder: „der Markt wird das ausgleichen“ herunter gebetet. Besonders klug waren diese Slogans nicht; und in erschreckender Weise offenbarten sie die
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Hohlheit der „inhaltlichen“ Wahrheiten der Wirtschaftstheorien. Wer waren „wir“ und drohte uns „der Markt“? Die so genannten Nobelpreise am Ende der 1960er Jahre gingen an Markttheoretiker, die allerdings keine wohlfeilen Sprüche mehr produzierten, sondern eine zunehmend mathematisierte Wirtschaftswissenschaft, entstanden aus der Ökonometrie, genannt „economics“. Dies war eine US-amerikanische Wirtschaftstheorie, die mit einem ausgefeilten Modell arbeitet und damit immun ist gegen Meinungen. Wissenschaftstheoretisch kann man Modelle nur durch „bessere Modelle“ ersetzen. Die Laien waren damit außen vor und die bisherigen Keynesianer, also die „Wohlfahrtsökonomen“ waren in Bedrängnis. In Bedrängnis waren die „feinen“ Ökonomen, wie James Tobin oder Robert Solow und Paul Samuelson von der Ostküste, die allesamt mal für die aktivistische Kennedyadministration gearbeitet hatten. Sie waren die anerkannten Wirtschaftsprofessoren von Harvard und anderen Yvy League-Unis, während die neuen „underdogs“ sich in Chicago konzentriert hatten (z. B. Milton Friedman) und dort ihre Theorie von Konkurrenz nicht nur theoretisch sondern auch praktisch untereinander austrugen. Außerdem waren sie alle firm in Mathematik und Statistik vor allem, besaßen also alle die gleiche „Sprache“ (in Zahlen), während Tobin z. B. noch in Mathematik aufrüsten musste (Dezalay/Garth 2002, S. 261ff.) Der Riesenvorteil für die Friedmanianer in dieser Situation bestand darin, dass sie immer schon für den Markt plädiert hatten. Im Verbund mit den anderen Österreichern der Wiener Schule, waren diese Emigranten nie der Meinung, eine staatlich gelenkte Wirtschaft sei das Ziel, sondern die aus dem nicht sonderlich industrialisierten Österreich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme kommenden brillanten Wissenschaftler waren noch rührende Bewunderer des „Geistes des Kapitalismus“ und dessen heroischer Aufgabe der „produktiven Zerstörung“ bisheriger 171
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Produktionsmethoden. In der „Mont Pelegrin“ Gesellschaft z. B. fanden sich viele von ihnen zusammen; finanziert durch Unternehmer (Fourcade 2006). So waren sie noch in schwerer Zeit dem Unternehmertum verbunden, als für dieses die Welt noch düster aussah. Jetzt rückten sie mit jenen Unternehmern in den strahlenden Mittelpunkt einer neu sich artikulierenden Unternehmerschaft, in der nicht immer die Banker das laute Wort führten, aber sicherlich eher mit Verachtung auf die produzierenden Gewerbe herunterschauten. Man könnte nun argumentieren, dass ca. seit Mitte der 1970er Jahre diese Symbiose von „economics“ und marktwirtschaftlichem Unternehmertum „spill over“-Effekte produzierte und die Öffentlichkeiten – nicht nur im „Westen“ – mit sich riss. Das wäre aber eine sehr spekulative und idealistische Sichtweise. Nur vermittelt über verschiedene andere Schienen ließe sich ein solcher Verlauf konstruieren. Man kann eine viel plausiblere Kausalkette anführen: Präsident Nixon hatte aufgrund der galoppierenden Wirtschaft einen Lohn-Preis-Stopp verfügt. Als dieser in den 1970er Jahren aufgehoben wurde, hielten sich überraschenderweise die Löhne auf dem niedrigen festgefrorenen Niveau, während die Preise (mäßig) davon rannten. In dieser Situation sahen viele Arbeitnehmer und Rentner eine Zunahme ihrer Kaufkraft nur noch dadurch ermöglicht, dass sie auch dem Staat den Rücken zuwandten, d. h. sie wollten weniger Steuern zahlen. Nur so war es noch möglich, sein privates Einkommen zu verbessern – und sei es um den Preis der Abschaffung öffentlicher Leistungen. Damit war dann umfassend die moderne Welt, in der wir heute existieren, erschaffen. Nur für die gut verdienenden Arbeitnehmer der Mikroelektronikbranchen sowie die Banker der Finanztransaktionen sind gute Einkommen noch garantiert, der Rest muss seine „Steuerlasten“ manipulieren. Auch die „gut Verdienenden“ schließen sich dem an, so dass gesamtgesellschaftlich ein hoher Konsens darüber herrscht, dem Staat
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nicht mehr zu geben, als was entbehrlich ist. Steuern hängen nicht mehr von Leistungsfähigkeit sondern von Konsumneigungen ab. Beweisen lässt sich die These leicht. Es gab Anfang der 1970er Jahre einen Bürgerentscheid in Kalifornien unter ihrem Gouverneur Ronald Reagan, die Steuern nicht zu kürzen. Als eine ähnliche Initiative Ende der 1970er Jahre in Kalifornien zur Abstimmung stand, wurde die Steuerkürzung von der Bevölkerung akzeptiert. Diese Entscheidung wurde in der Folge öffentlichkeitswirksam, und zwar auch weltweit. Damit war die Grundlage gelegt für die weiteren Steuerkürzungen während der Reagan und der George W. Bush Administrationen, die sowohl die Milliardäre wie auch die „kleinen Leute“ in eine angebliche Gesinnungsgemeinschaft brachte (Madrick 2011, S. 155ff. und Hacker/Pierson 2005, S. 13f.). Am Verlauf der Machtverschiebungen bei den internationalen Entwicklungsorganisationen und bei der Frage, wie Entwicklung gesehen wurde, lässt sich der Gestaltwandel unserer modernen Welt recht gut verdeutlichen. Man kann im Grunde drei Phasen unterscheiden. Phase 1 wäre die Zeit bis weit in die 1960er Jahre hinein, wo Entwicklungshilfe angesetzt war als eine Leistung der fortschrittlichen Produktionsindustrie, die den nachholenden und sich vom Kolonialismus befreienden Ländern „sinnvolle“ Anlagen der Produktion und Energieherstellung aufbaute. Zweite Phase: Diesen Ländern wurden ab Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre vermehrt Investitionsmittel aus den überreichlich vorhandenen Euro- und Petrodollars zur Verfügung gestellt, damit sie in der „freien Welt“ so viel einkaufen konnten, dass ihr Schuldenberg von einem Boom genauso aufgezehrt würde wie die Neuverschuldung. Die Absurdität dieser letzten, staatlich zu verantwortenden, Strategie rief die sich unter Globalisierungsbedingungen frei schwimmenden Wirtschaftswelten auf den Plan, die nunmehr lautstark verlangten, solche Dinge und viele andere
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mehr (z. B. innerstaatliche – „der Markt kann alles besser“) in eigene Regie zu nehmen. In der Phase 1 wurden hochmoderne Anlagen in unentwickelte Gebiete gestellt, in der Hoffnung, sie würden einen ähnlichen „spill over“-Effekt auslösen wie die von der „Tennessee Valley Authority“ (TVA) unter Roosevelt erzielte Initiative. Ein Erfolg dieser Strategie war kaum zu verzeichnen, höchstens als eine Entwicklungshilfe für die Großindustrie. Die Phase 2 war schon von dem angekränkelten Bewusstsein geprägt, dass der Staat selbst seine Handlungsabläufe nicht mehr kontrollierte, sondern sich als Finanzmanipulator bewähren musste. Dabei lief er in allerlei Gefahren. Als die Blase der überzogenen Kredite für die dritte Welt ca. 1987 platzte und während der Reagan Administration 1987 mit dem „Plaza Abkommen“ (Kuttner 1991, S. 93ff.) ein Schlussstrich gezogen wurde, war die Bahn frei für die neue Lösung. Während auch die Phase 2 noch darauf baute, die Staaten der Dritten Welt so zu belassen wie sie waren und massiv Geld nach Problemen zu werfen, wurde die Phase 3 in der Tat zu einer neuen Strategie. Die unter Präsident Reagan eingesetzte Chefin der Weltbank (1982–1986), Anne Krueger, (Dezalay/Garth 2002, S. 267, Anm. 48) forderte, dass die Länder der Dritten Welt, bevor Entwicklung zu einer sinnvollen Strategie werden könne, „Strukturanpassungen“ (structural adjustment) vornehmen müssten. Hiermit wurde in die Innenverhältnisse der nachholenden Staaten mit Programmen eingegriffen, die recht bald den Namen „Washingtoner Konsens“ erhalten sollten. Es wurde von den Ländern verlangt, dass sie ihren eigenen staatlichen Sektor soweit wie möglich privatisieren und der Weltwirtschaft öffnen sollten. Anders sei eine sinnvolle Wirtschaftsdynamik nicht zu erreichen. Ob dieses Modell sinnvoll ist oder nicht lässt sich schwer prognostizieren. Eins aber bestätigt es: Die vorherigen Entwicklungsstrategien ließen sich nicht aufrechterhalten. Heißt dies auch im Umkehrschluss, dass die west-
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lichen Wohlfahrtsstaaten „Fehlentwicklungen“ waren? Haben wir „über unsere Verhältnisse“ gelebt? „Strukturanpassungen“ – d. h. Offenbarungseide – können immer mal nützliche Veränderungen erbringen. Aber genauso, wie es schwer zu belegen sein dürfte, dass die Errungenschaften der westlichen Länder allesamt auf Sand aufsaßen, dürfte sich schwerlich beweisen lassen, dass die neuen Strukturanpassungen für die Länder der „ehemals“ Dritten Welt, diesen allen und in umfassender Hinsicht zum Vorteil gereichen werden. Beweise für die Richtigkeit von Modellen hängen davon ab, wie man mit ihren drei Seiten fertig wird: der technischen, der wirtschaftlichen und der ideologischen Seite (Rodrik 2007). Die Entwicklungspolitik der 1950er Jahre hatte vielleicht gar nicht zum Ziel, die Länder der Dritten Welt zu entwickeln, sondern für Firmen wie Siemens u. a. permanente Anlagemöglichkeiten zu schaffen – also eine staatliche Subvention zu gewähren. Die neue, nicht-keynesianische Welt bietet ein sehr schwer zu beurteilendes Objekt. In allen Staaten, nicht nur in der so genannten „Dritten Welt“ wurde die Deregulierung weiter verschärft und es wurden „Marktanpassungen“ vorgenommen, die die Bedeutung sozialdemokratischer oder staatlicher Regulierungen weiter schwächten. In den USA verlor George H. Bush 1992 die Wahl an den charismatischen Bill Clinton. Der „alte“ Bush hat zwar in Kontinuität zu den Reaganschen Reformen weiterhin auf Marktkräfte gesetzt. Wichtige Entscheidungen und Weichenstellungen wurden vorgenommen. (Wilentz 2008, S. 288ff.) Es gab ab 1993 einen radikalen Kongress, der versuchte, die Parolen vom „entbehrlichen“ Staat in die Praxis umzusetzen. Der neue Präsident, Bill Clinton, wehrte sich nur begrenzt; er selbst verkündete sogar 1995, dass es „Welfare“ in der bisherigen Weise nicht mehr gebe und setzte an dessen Stelle ein Mischsystem von „Fördern und Fordern“, dessen Erfolg man nicht eindeutig nachweisen (aber auch nicht leugnen) kann (Jencks 2015, S. 33ff.). Die USA boomten in 175
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diesen Jahren aufgrund der hohen Gewinne auf den Aktienmärkten, insbesondere denen mit den Immobilienanleihen, die dann 2008 den Einbruch der Finanzinstitutionen hervorrufen sollten. Die Welt – und insbesondere auch die deutsche Öffentlichkeit – bewunderte die Dynamik auf den USA Märkten und diese Dynamik inspirierte sicherlich auch den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder zu der Agenda 2010, die das Ende sozialdemokratischer Hegemonie einläutete. Da in den USA nahezu Vollbeschäftigung herrschte, kümmerte sich auch niemand um die Gefährdungen des Wirtschaftsprozesses. Im Gegenteil: 1999 wurden noch die Reste des Bankengesetzes von 1933 aufgehoben und die beiden dafür verantwortlichen Senatoren, der eine von New York (Schumer) und der andere von Texas (Gramm) waren sicherlich auf dem Zenit ihrer Macht. Die gute Wirtschaftslage half Bill Clinton zu seiner Wiederwahl 1996 und verhinderte sicherlich auch die Machenschaften, die seine Amtsenthebung hätten einleiten sollen. Allerdings war der vorherrschende Optimismus nicht geeignet, die Kontrollinstitutionen des Bankenwesens zu aktivieren, obwohl es bereits in den 1980er Jahren zu Bankversagen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar genauso wie zum Börsenkrach von 1998 gekommen war. Die Deregulierung trieb ihre Auswüchse. Die Firma Enron hatte kapitalmäßig die Elektrizitätsindustrie übernommen und fuhr selbige in den Abgrund. Aber es offenbarte sich dabei die Hilflosigkeit der Politik, die seit 2001 noch dadurch behindert war, dass ein radikaler Republikaner, der Sohn des „alten Bush“, George W., zum Präsidenten „bestimmt“ worden war und die Macht hatte, den „privaten Markt“ abzuschirmen. Mit dem Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 trat dann noch die Situation ein, dass das Land erneut auf einen umfassenden Kriegszustand hinsteuerte. Ab dann gab es Gewinnzuwächse für die Zivilgesellschaft nur in der Form von Partizipation an den Erweiterungen des Sicherheitsstaates sowie
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durch die Naturkatastrophe, den Sturm „Katharina“ in New Orleans. Beide Situationen waren ertragreich für jene Industrien, die seit den 1980er Jahren gewachsen waren und die allesamt nicht in Abhängigkeit von sozialen Entwicklungsmustern geschaffen worden waren. Sie repräsentierten einen Sozialismus eigener Art, nämlich den der Ausbeutung des Budgets durch Private, wie z. B. über die Firma Haliburton usw. (Klein 2010, S. 439ff.) Trotz der boomenden Börsenwirtschaft der 1990er Jahre liefen die Gewinne in erster Linie auf die Konten der reichen Anleger. Verdienste konnten auch all die Berufe einstreichen, die gewissermaßen die Händler und IT-Spezialisten der Banken und der Börse waren sowie ein steigender Anteil an Ingenieuren und Professoren der wichtigen Wirtschaftsberufe und des internationalen Anlagegeschäfts. Verlierer der Dynamiken waren vor allem die Arbeiter in den Manufakturbetrieben. Die Herstellungsindustrie in den USA wurde auch geschädigt durch die Freihandelsabkommen, etwa NAFTA, in denen südlich der Grenze der USA zu Mexiko neue Herstellungsfirmen entstanden, die für US-amerikanische Firmen im Herstellungssektor arbeiteten. Die oben bereits erwähnten 2 Milliarden USD, die in die chinesischen Manufakturen gingen (Fukuyama 2006), schädigten ebenfalls die amerikanische Arbeiterschaft genauso wie die Schaffung von 1 Mio. Jobs für chinesische Billiglöhner um Shanghai herum, die für Apple arbeiteten. Demgegenüber standen, wie erwähnt, die Aufsteiger, vor allem auch Frauen, so dass das oberflächliche Bild der amerikanischen Gesellschaft in den Jahren der Reagan Epoche, dem Nachfolger Bush Sr. und Bill Clinton sowie die ersten Jahre von George W. Bush – also ca. die Zeit von 1981 bis 2002 – als eine Zeit der Umstrukturierung, jedoch nicht als eine solche des Niedergangs empfunden werden konnte. Der Niedergang zeichnete sich besonders bei den älteren weißen männlichen Arbeitern ab, die,
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einmal entlassen, nur noch schwer Wiederverwendung fanden, schon gar nicht zu den früheren Bedingungen. Nach der Krise in der Automobilbranche in den 1970er Jahren aufgrund der „Ölschocks“ war dies nunmehr die zweite Phase der Abwertung von industrieller Arbeit. Die USA hatten bereits seit den 1970er Jahren sich Südkorea und Malaysia als Standorte auserwählt, um zum einen den asiatischen Markt vor Ort zu bedienen, andererseits, um eine Zulieferindustrie zu billigen Löhnen für den amerikanischen Markt zu schaffen (Halberstam 1986, S. 80 und Lovett 1999, S. 87ff.). Auch diese Ausweitung als Vorstufe von Globalisierung gelang. Mithin auch ein wichtiger Zugang zu Indonesien, das eine ähnliche neoliberale Revolution wie Chile inszenierte und im Nachhinein das Unternehmen des Vietnamkrieges als eines Kampfes gegen den Kommunismus rechtfertigte. Francis Fukuyama, der Erfinder der These vom „Ende der Geschichte“ hat nicht nur im Nachhinein seine Mitgliedschaft im Club der „neoconservatives“ aufgekündigt (Fukuyama 2006), sondern sich auch kritisch zu den US-amerikanischen Innenverhältnissen (Fukuyama 2014) geäussert. Er findet, dass die USA im Niedergang begriffen sei, weil die öffentliche Verwaltung und auch das Gerichtswesen – wir haben oben kleinere Einblicke in die Civil Rights-Gestaltung geliefert – Zustände schaffen, bei denen die Bürger zunehmend das Nachsehen haben. Als ein gravierendes Merkmal erscheint ihm, dass die Gerichte allgemeine Entscheidungen mehr und mehr umwandeln in Einzelfälle, bei denen der Kläger alleine seinen Anspruch durchsetzen muss, obgleich der zugrunde liegende Präzedenzfall Grund gäbe für eine allgemeine Rechtsprechung. Diese Wegentwicklung der amerikanischen Zivilgesellschaft von einer fairen Vertretung genereller Mittelstandsinteressen und einer hinreichenden Berücksichtigung der benachteiligten Schichten erregt Teile der amerikanischen Öffentlichkeit schon des längeren, ohne dass daraus politische Konsequenzen gezogen
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werden (können). Fukuyamas Kritik läuft darauf hinaus, dass eine kompetentere Administration benötigt würde. Aber was will er damit sagen? Soll deren Ausbildung verbessert werden? Oder soll die Auswahl der Politiker neuen Regeln folgen? In jedem Fall ist eine solche Kritik zu kurz gegriffen. Man muss schon klipp und klar sagen, dass hier der „Backlash“, also die Reaktion des Marktkapitalismus, der von 1933–1975 in die Minderheit innerhalb der Republikanischen Partei gedrückt worden war, seinen Durchbruch mit der so genannten Stagflation erzielte und in Etappen, die z. T. hier geschildert, aber auch benannt worden sind, sich die Macht wieder eroberte. Das Kürzel „Neoliberalismus“ gibt diese Machteroberung nur verkürzt wieder, falls unter Machteroberung nur ein politisch-philosophischer Aspekt verstanden wird. Die Umstrukturierung der amerikanischen Verhältnisse erfolgt an vielen Orten, ist eine tiefgreifende Revolution, und findet häufig natürlich auch nur „versteckt“ statt, so dass für die Sichtweise der Verschwörung hinreichende Vermutungen vorliegen. Dies ist auch das Manko der Studien von Jacob Hacker und Paul Pierson, so verdienstvoll sie auch sind. Pierson und Hacker benennen zwar den Aufstieg der Republikaner in überzeugender Weise, aber sie hakten an einer Perspektive fest, dass „eigentlich“ die amerikanische Politik der Schaffung und Erhaltung der „großen und großartigen“ Mittelschicht (einschließlich der Arbeiter-“Mittelschichten“) zu dienen habe. Dies ist, mit Verlaub gesagt, ein Mythos. Wie wir aus dem oben dargelegten „Grundgesetz“ wissen, wird die Arbeiterschaft „in“ der Gesellschaft gebraucht, ist aber nicht Teil „der Gesellschaft“. Arbeiter sind im Modell Gesellschaft per Definition die „loser“ der Gesellschaft, die zweimal ihre Chance gehabt haben und dabei versagten und denen man zu untersagen habe, ihr Los politisch zu verbessern. Fukuyama, der für einige Zeit im „Policy Planing Staff“ des „State Department“ tätig war, also in der hauseigenen Denk179
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fabrik des Außenministeriums, beißt sich in seiner Kritik der Neokonservativen unter der George W. Bush Administration an den rigiden und schlechten Strategien in der Außen- und besonders der Entwicklungspolitik fest. Weder er noch Hacker/ Pierson kritisieren das politische System als ganzes dafür, dass es nicht für Mittel- oder gar Unterschichtinteressen funktioniert. Selbige sind zwar im System mit vertreten, aber nur, um nach ihrer Anerkennung kleingearbeitet, negiert und verkrüppelt zu werden. Um danach zu folgern: Wir haben doch alle Interessen berücksichtigt und wir leben in der besten aller Gesellschaften. So kritisiert Fukuyama auch die Entwicklungspolitik mit völlig verkehrter Perspektive. Sein gesamtes Kapitel, das die Beschränkungen neokonservativer Strategien aufzeigt, geht davon aus, dass man dieselben auswechseln könne zugunsten einer Synopse von fachlich haltbaren Strategien. Das wäre neu in der amerikanischen Politik, nicht nur mit Bezug auf das Außenministerium, sondern auch mit Bezug auf alle anderen Politikbereiche. Selbst in der so hoch immunisierten Verteidigungspolitik, wo der größte Konsensus der Nation vorherrscht, werden die Entscheidungen nicht nur aufgrund strategischer Überlegungen getroffen, sondern sie werden aus innenpolitisch notwendigen Überlegungen und mit Blick auf Machtpotenziale und Einfluss getroffen. Mit dem „Office of Budget Management“ ist dem gesamten Apparat eine Institution übergestülpt, die Sachrationalität suggerieren soll, wo eigentlich nur Machtspiele versteckt sind. Aus der Tradition des 2 Weltkrieges heraus waren die Republikaner immer die Partei der Luftwaffe und Marine, natürlich auch der Marineinfanterie, aber nicht der Armee. Die Armee besaß sehr viele Waffen, die für eine große Infanterie und Panzerwaffengattung gebraucht wurden. Das heißt, diese Soldaten und ihre Waffen ragten soziologisch in den Komplex „arbeitende Bevölkerung“ hinein, einschließlich der Fabriken, die z. B. für Panzerherstellung zuständig waren.
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Wenn es also gelang, den „Panzern“ das Geld wegzunehmen und es für die Luftfahrtindustrie, sagen wir, in Texas, umzuwidmen, dann hatte man damit die HighTech-Klientel positiv bedient, sodann auch den Süden, außerdem den Gewerkschaften geschadet, die im Süden kaum bis gar nicht vertreten sind und zusätzlich zudem den Schwarzen, die weder in der Luftwaffe noch in der High-Tech-Industrie in Texas vorrangig beschäftigt sind. So subtil und primitiv zugleich ist Politik in den USA – und nicht nur dort – zu verstehen; und ich gehe davon aus, dass Fukuyama eigentlich noch mehr von amerikanischer Politik versteht als ich. Aber warum sagt er dann nicht. was er weiß? Eine Erklärung dafür ist relativ leicht zu geben. Wissenschaftliche Politik in den USA soll nicht die Interessenkonstellation auf einer Ebene der konkreten Entscheider durchleuchten, sondern soll abstrakte Mechanismen der Zuordnung bevorzugen (Weinberg 2012). Außerdem gibt es das leidige System der „trustees“ in den Universitäten, also der gesellschaftlichen Aufsichtsräte sowie der weit verbreiteten Institution der gestifteten Professuren. Jeder Professor in den USA sucht danach, ein Donald-Duck Prof. an der „University of Southern California“ oder anderswo zu werden. So erwähnt Fukuyama, dass aus dem Etat für Entwicklungshilfe das Programm „Millennium Challenge Account“, das gewisse Benachteiligungen ausbügeln soll, die aufgrund der „structuraladjustment“ Regeln des Washingtoner Konsenses auftauchen, kompensiert werden soll. Er erwähnt zudem, dass der Kongress nur 1.75 Milliarden Dollar dafür zur Verfügung stellte, und zwar für Honduras und Madagaskar. Da bleibt der Leser alleine mit seiner Frage, warum gerade für diese beiden Staaten und für sonst nichts. Das letztere zuerst: Eine Hilfe für die Entwicklung reizt konservative Abgeordnete und Senatoren nur zu Wutausbrüchen. Entwicklungshilfe, wenn sie im Kongress beraten wird (vor allem im „Haus“), ist immer Teil von irgendwelchen Entrüstungen über 181
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„Steuerverschwendung“ (tax payers’ money), mit denen sich die Hinterbänkler profilieren. Und warum sind Honduras und Madagaskar davon ausgenommen? Nun, man will Madagaskar dafür gewinnen, als neuer Stützpunkt im Indischen Ozean zu fungieren. Damit direkt natürlich Frankreich, die frühere Kolonialmacht, ärgern. Zugleich ist eine Hilfe für diesen armen Staat eine Belohnung für eine Staatsführung, die seit 1990 eine der ersten war, die das neue Regime der Weltbank hofierten und von daher als Held der Bewegung für „structural adjustment“ gilt. Außerdem bemühen sich die neoliberalen Kräfte in Madagaskar darum, eine „Charter City“ ins Leben zu rufen, durch die eine Zone ökonomischer Autonomie geschaffen würde, innerhalb deren Grenzen sich die Arbeiter verpflichten, keine weiteren Bürgerrechte einzufordern. Das wäre mithin ein Bereich der Lohnsklaverei zu Niedriglöhnen ohne rechtsstaatliche Absicherung. Honduras plant Ähnliches (Berger/ Weber, ed. 2014)). Dort soll auf einem Gebiet, das jetzt noch kleinen Farmern gehört, eine Charterstadt für Textilproduktion entstehen, die China und Indien den Rang ablaufen könnte, und zugleich fest in amerikanischer Hand – und unter US-amerikanischem „Grundgesetz“ – wäre. Fukuyamas Kritik an den USA und seine These von deren Niedergang berücksichtigt nicht, dass eine Seite der Globalisierung darin besteht, das „Heimatland“ nicht länger zu unterstützen, sondern alles Gewicht auf die finanzielle Machtübernahme in anderen Gebieten der Welt zu legen. Die politischen Kräfte, insbesondere im Kongress und lokalisiert bei den Republikanern, kennen die Mission und sind gefordert, selbige zu unterstützen. Damit haben auch die Steuersenkungen der letzten Jahrzehnte zu tun, denn sie stärken seit Reagans Zeiten die großen Unternehmen darin, sich neu zu erfinden und ihr massives Finanzvermögen zur Kontrolle wichtiger Anlagevermögen im Ausland einzusetzen. Deshalb das Verlangen nach Vernachlässigung des inländischen Sektors und
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der verstärkten Kapitalschöpfung durch Steuersenkungen. Es ist nicht abzusehen, dass die Politik von rechts wieder in die Mitte rückt – wo sie nie richtig war. Vielmehr wird die so genannte Mitte eher gezwungen sein, sich als Nation zu erfinden, ohne die obersten Prozente, und für notwendig erachtete Infrastrukturinvestitionen die erforderlichen Steuereinnahmen zu beschaffen. Dies dürfte, wenn überhaupt, ein langer Weg werden. Trotz aller Komplexität des „politischen Systems“ der USA, die uns William J. Novak im Folgenden dankenswerterweise verdeutlicht, gibt es dennoch Prozesse, die sehr genau auf den Punkt gebracht werden und die zentrierte Macht der USA verdeutlichen. Selbige ohne die „tiefe Regierung“ sich vorzustellen, wäre naiv. Umgekehrt argumentiert sind freilich nicht alle Prozesse in der Politik nur aus der Tiefe bestimmt. Im allgemeinen herrscht die Komplexität und das Chaos der „normalen Politik“, die in vielen Details gefordert ist, keine sozialen Vorteile zu ermöglichen, die die Statusverteilungen innerhalb der Gesellschaft aus dem Markt heraus „korrigieren“. Selbstverständlich korrigiert auch manchmal der Markt von sich aus gesellschaftliche Verteilungen, sehr zum Erstaunen der „tiefen Regierung“, die wohl nicht vorausgesehen hat, dass einer der ihren, Bushs Finanzminister als ehemaliger Angestellter der Sachs & Brothers Bank, den Konkurrenten, die „Lehman Bank“, öffentlich so denunzieren würde, dass die ausgeklügelte Architektur der internationalen Immobilienblase ins Platzen geriet, wie es 2008 geschah, und zu weltweiten Verwerfungen führte, die die naiven Europäer heute noch austragen müssen. Auch dies eine wichtige Lehre aus der Globalisierung: Wer naiv ist, den bestraft das Leben (frei nach Gobatschow). 2008 verkürzte das Gesamtvermögen der USA-Bürger um 4 Billionen (amerikanisch: Trillionen) USD. Das ist eine gewaltige Summe, nämlich 4.000 Milliarden USD. Andererseits ist zu bedenken, dass das Gesamtvermögen in den USA 183
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„nur“ von 56 auf 52 Billionen USD sank. Obwohl viele „Akteure“ der internationalen Finanzmärkte ihre Yachten und noch mehr verloren, blieb doch die Struktur amerikanischer Dominanz in der Weltwirtschaft erhalten; und diese Dominanz konnte nach kurzer Zeit wieder wie vorher ausgespielt werden. Dabei half pflichtschuldigst der Staat mit. Die neue Obama Administration hatte in dieser Situation kaum Spielräume. Die Aufgabe stand fest und nur bei ihrer Durchführung gab es Variationen, die aber letztendlich nur in geringe Kontrollen des Banken- und Investitionskapitals mündeten (Schissler 2012, S. 107ff.). Nach wenigen Monaten nahm die amerikanische Wirtschaft wieder Fahrt auf – jenseits ihrer internationalen Aktivitäten –; aber erst mit der neuen Technologie des „Fracking“ kam eine Dynamik ins Spiel, die den historischen Ruf der Obama Administration retten konnte. Auch die Arbeitslosigkeit ging von 10 auf ca. 5 bis 6 % zurück, wenngleich das Lohnniveau stagniert, bzw. eher nach unten tendiert. Die sozialen und zivilgesellschaftlichen Mißstände in den USA wurden dabei keineswegs verringert, wie alle vorhergehenden Analysen zeigten. Die Obama Administration knüpfte auch wieder an alle vorhergehenden Regierungen an und versuchte, die internationalen Handelsabkommen mit den USA zu verbessern, was heisst, dass unter Freihandelsabkommen immer der stärkste Partner, nämlich der US-amerikanische, siegen wird. In diesen „Runden“ geht es nunmehr darum, die Ausbeutung der bestehenden Staaten auch im Interesse US-amerikanischer Firmen zu stärken und die Möglichkeiten der Streitschlichtung zugunsten der ökonomischen Kräfte zu strukturieren (auch hier: „structural adjustment“). Im Rückblick auf diese Epoche, die 1945 begann und ab 1975 ihren neoliberalen Einbruch verzeichnete, kann man festhalten, dass bei allem Dank für die amerikanische Leistung bei der Niederringung der euopäischen Faschismen – in Wirklichkeit trug die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges – der deutsche Dank
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für diese Befreiung immer im Hinterkopf behalten sollte, dass „eigentlich“ ein Raubzug gegen das besiegte Deutschland erfolgen sollte. Dieser Raubzug wurde aufgeschoben, aber ist er damit auch für alle Zeiten aufgehoben?
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Das „amerikanische System“ in seiner vollen Komplexität
5.5 „Amerikanisches System“ in voller Komplexität William J. Novak hat einen für unsere Zwecke bemerkenswert informativen Beitrag geliefert: „The Myth of the ’weak’American State“. Ob der Beitrag jenseits seines informativen Werts auch für Erklärungen zur amerikanischen Politik hilfreich ist, müssen die Leser entscheiden. Ich denke, der Beitrag ist häufig gegen seine Intention erklärungskräftig. Man kann aus ihm oft das Gegenteil der Ansichten des Verfassers ableiten. Auch so etwas ist hilfreich; denn Novak ist ein Kenner der Materie. Aus seinen Fußnoten ist ersichtlich, dass er sich dem Thema des „verkehrt“ eingeschätzten US-Staates schon des längeren verschrieben hat. Wir kommen darauf zurück. Novak geht es darum zu beweisen, dass Annahmen über den „schwachen“ US-amerikanischen Staat allesamt auf falschen Prämissen beruhen. Der amerikanische Staat ist komplex – wovon wir bisher auch ausgingen – und erscheint von daher häufig kompliziert, was mit Sicherheit stimmt, und ist insofern schwerfällig und nicht leicht beweglich. All dies zusammen genommen verführt einige Forscher dazu, diesen Staat für schwach zu halten. Aber unser Verfasser meint, dass die gegebene Komplexität eher das Gegenteil beweist. Ein Staat der so komplex ist, ist omnipräsent und damit in gewisser Weise „omnipotent“. Einer solchen Sichtweise, sollte sie denn diejenige von Novak sein, könnten wir uns anschließen. Sicherlich ist, so gesehen, der amerikanische Staat stark. Doch ist 185
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dies das wirkliche Problem derjenigen, die behaupten, der amerikanische Staat sei schwach? Wir wollen das im Folgenden und am Ende dieser Bewertung eines sehr informativen Beitrages zur Diskussion stellen. Novak lässt in seinem Beitrag in groben Zügen die Historie des amerikanischen Staates Revue passieren, bis er in der neuesten Zeit Anzeichen für eine Neubewertung des amerikanischen Staates im Sinne seiner These vom starken Staat findet. Für diese Bewertung schlägt er eine Betrachtung und Ordnung seines Materials auf fünf Ebenen vor: 1) die überraschende Bewertung von vorher als schwach angesehenen Staaten als recht robuste, flexible starke Staaten; 2) der pragmatische Anspruch, sich dem Problem Macht zu nähern; 3) die Anerkennung der Bedeutung der Verteilung von Macht bei der amerikanischen Staatsbildung; 4) eine realistische Anerkennung der Macht des amerikanischen „rule of law“ und 5) eine kritische Befragung der „public-privat distinction“. In der Tat ergeben diese fünf Ebenen eine Sichtweise, die es uns erlaubt, das Monster „amerikanischer Staat“ in fünf dicke Scheiben zu sezieren und analytisch zu bewerten. Die Scheibe 1) erhellt, was wir bereits ansatzweise wissen und ebenfalls ansatzweise gesagt haben, dass die US-amerikanische Demokratie nach 1945 als eine Großmacht wie Phoenix aus der Asche stieg und sich als die neue Weltmacht Nr. 1 positionierte. Der Erfolg wurde dem demokratischen Charakter der Nation zugeschrieben. Was aber die Substanzen dieses Erfolges ausmachten, ob materiale oder ideelle Macht, haben wir eher im Sinne der materialen Macht bewertet – ganz im Unterschied zur amerikanischen Selbstdeutung oder auch der Deutung durch Novak. Seine zweite Analyseebene, nämlich den Pragmatismus im Umgang mit der Macht für die USA zu reklamieren, trifft auf eine sicherlich überwältigende Zustimmung bei den wissenschaftlichen Eliten des Landes, aber auch bei Teilen der Weltöffentlichkeit. Dieser Erfolg hängt wohl
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auch damit zusammen, dass die Kategorie „Pragmatismus“ recht dehnbar ist. Pragmatisch war vieles im Umgang mit der Macht. Aber wollen wir die Entscheidung von 1884, Unternehmen als Person zu sehen, oder die Errichtung der „Interstate Commerce Commission“ als pragmatisch ansehen oder eher als reflektiert strategisch (d. h. nicht pragmatisch, sondern geplant nach der Idee, dass das System mehr ist als seine Teile)? Vieles an amerikanischer Staatsentwicklung folgte pragmatischen Schritten, d. h. es wurde erprobt, obwohl das Erprobte recht häufig innerhalb eines sehr langfristigen Planes sich durchsetzte und lediglich bei der Umsetzung des Planes sich als zwingend erwies. So stand die Besiedlung des Kontinents durch die 13 Kolonien an der Ostküste schon von Anfang an fest. Wie das aber vonstattengehen sollte, das wurde geplant; und die Pläne wurden Realität aufgrund von pragmatischen Gegebenheiten; man könnte auch sagen: aufgrund historischer Bedingungen. Das wäre dann nichts anderes als das Voranschreiten bei der Gründung anderer Staaten auch. Die USA weisen nur einen Unterschied zu anderen Staaten auf, indem ihre Geistesbildung sich dazu verstieg, das amerikanische Denken als andersartig im Vergleich zu den zurückgelassenen Zivilisationen zu deuten, nämlich als antimetaphysisch. Zu diesem Punkt versteigt Novak – geleitet durch das Beispiel anderer – sich dazu, den metaphysischen Weg als langwierig, zögerlich und wenig effektiv zu bezeichnen, während pragmatisch mit „zupackend“ zu vergleichen ist. Philosophisch ist diese Sichtweise nicht sonderlich ertragreich, aber für die politische Analyse eines Autors, der gleichzeitig ein konservativer „Triumphalist“ in der Beurteilung des amerikanischen Weges ist, sehr hilfreich. Denn wenn der amerikanische Machtweg pragmatisch war, dann war wohl auch Präsident Lincoln pragmatisch, der von den zwei gegensätzlichen Prinzipien sprach, die nicht gleichzeitig existieren sollten oder durften? Überhaupt taucht der Begriff Prinzip häufig in den 187
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politischen Argumenten in den USA auf – von den Anfängen bis in die Gegenwart. War die Unabhängigkeitserklärung mit ihrer Garantie der Prinzipien „Life, Liberty and the Persuit of Happiness“ pragmatisch? Ist die Verfasssung pragmatisch oder folgt sie den Ideen des Liberalismus? Kurzum, ein allumfassender Begriff des Pragmatismus und die Behauptung seiner Geltung ist wenig hilfreich. Das religiöse Eiferertum in den USA entzieht sich einer „pragmatischen Vernunft“ vollends. Das schrille Verlangen, dass Werte die Politik anleiten – oder anleiten sollen? – verdeckt wesentliche Interessen hinter den Werten. Die „Macht“ bestimmter „Werte“ unterdrückt andere Werte und mithin deren materiale Interessen, usw. Hingegen erweist sich die dritte Analyseebene, nämlich die der Verteilung von Macht innerhalb des „state-building“ als sehr ergiebig. Wir kommen in einem Moment auf sie zurück. Zur vierten Ebene, nämlich der des „rule of law“ haben wir bereits einiges in den Anfangsteilen dieser Arbeit ausgesagt. Das zentrale Argument, dass nämlich „das Gesetz“ in den USA über der Politik steht, wird auch von Novak, wie von vielen anderen Autoren, nicht weiter thematisiert. Obwohl durch diesen Mechanismus, den der oberste Verfassungsrichter, John Marshall, unwidersprochen einrichten durfte, die Demokratie rückgestuft und eingebunden (embedded) wurde. Dies bleibt festzuhalten; genauso die Tatsache, die nicht gern erwähnt wird, dass das oberste Verfassungsgericht nach dem Bürgerkrieg die rechtliche Gleichstellung von Schwarzen (und von Unterschichten und Indianern?) nach dem 14. Amendement zurücknahm und die Strafgesetzgebung zur Staatensache erklärte. Einschließlich der Mordmilizen in den Südstaaten. An der Art und Weise, wie das Recht in den USA wirkt, haben viele Amerikaner etwas auszusetzen. Jedoch ist hier die Komplexität sowie die Ambivalenz so erfolgreich implementiert, dass selbst kundige Amerikaner nicht wissen, wo denn die Grenzen der Meinungsfreiheit nach
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dem ersten Verfassungszusatz liegen. Das leitet über zum fünften Punkt, nämlich dem der „public-privat distinction“. Mit diesem Unbegriff ist gemeint, dass manche hoheitlichen Rechte, die die Freiheiten von Bürgern betreffen, von Bürgern ausgeübt werden können, sozusagen von „private attorneys general“. In ihm wird den Mitgliedern der Zivilgesellschaft das Recht gegeben, selbst die Macht gegen andere auszuüben, selbst zum Sheriff oder gar zum „privaten Staatsanwalt“ zu mutieren. Eine solche Ausweitung der Macht von Privaten hätte in den europäischen Staaten – zugegeben erst richtig nach dem Ende der faschistischen Epoche in Europa – keine Chancen. Zu Recht sollte man in Europa schärfstens darauf hinweisen, dass eine Vermischung von privater gesellschaftlicher Sphäre und politisch rechtlicher nicht zulässig ist. Vergehen im Rahmen der Gesellschaft sind Sache der politischen Staatsanwälte und der Polizeigesetzgebung und dürfen nicht von Privaten vorgenommen werden. Außerdem widerspricht es der Vorstellung von der parlamentarischen Demokratie, dass nach einer Verfassung „Individuen oder das Volk“ eigenständige politische Rechte hätten. In der Gesellschaft der USA haben die Individuen oder auch das Volk nicht nur Stimmrechte, sondern auch ein soziales Kapital, das sie in die Waagschale legen können, und das die Möglichkeit des Handelns für andere behindern kann. Wir kommen auch auf diesen Punkt nochmals zurück. Für die Analyseebene Nr. 1 bezieht sich Novak auf einen Beitrag von Michael Mann, in dem dieser die Unterscheidung von „despotic power“ und „infrastructural power“ macht: eine Unterscheidung mithin zwischen Diktatur und Demokratie. Natürlich verankert Novak die „Despotic Power“ in ihren Anfängen vor allem in Europa, während eine „Infrastructural Power“ den evolutionären Weg auf dem nordamerikanischen Kontinent bezeichnen soll. Diese infrastrukturelle Macht wirkt sich nicht nur horizontal aus, sondern auch dadurch, dass sie in Bereiche der Zivilgesellschaft 189
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vordringt und dort Regelungen veranlasst, die das Ende von Staat und den Anfang von Gesellschaft sehr nebulös machen. Dies ist sicherlich eine der beachtlichen Schwierigkeiten, die wir haben, amerikanische Politik zu verstehen. Denn nicht nur in Washington, D.C., also bei der Bundesregierung, hat man das Dauerphänomen der strukturell zerteilenden Macht, sondern auch auf der Staatenebene und auf all den Ebenen wo sowohl die Staaten als auch die lokalen Einheiten und „federal government“ Einfluss nehmen. Dabei bleibt häufig unausgemacht, ob die politische Macht nunmehr als hierarchisch oder als selbstverwalterisch anzusehen ist (Spragia 2006). Wir haben oben unter den zwei Beispielen der Betrachtung über Regulierung und das Beschäftigungsverhältnis des Kreisgesundheitsinspektors Aspekte dieser Differenzierung erkannt. Hier sollten sich die Studierenden der amerikanischen Verhältnisse keine Gedanken machen. Will man etwas näher verstehen ist es sowieso nötig, sich den einzelnen Bereich wegen „seiner Besonderheiten“ näher anzusehen. Festzuhalten bleibt freilich, dass „hierarchisches“ Verwalten in den USA häufig als despotisch angesehen wird, wie auch von Novak. Das gehört mit zur Lebenslüge der Vereinigten Staaten, die ja die Legitimation zu ihrer Revolution aus dem „Tatbestand“ ableiteten, dass sie despotisch beherrscht würden – was den Tatsachen nicht entsprach. In diesen Komplex der Betrachtung sind auch die allseits bekannten Kategorien wie „checks and balances“ eingeordnet, die belegen sollen, dass Machtverteilung in den USA der Kontrolle unterliegt und dass eine Macht durch eine andere gebändigt wird. Die Interessenverbände der Wirtschaft werden nicht durch Interessenverbände der Arbeitnehmer oder Konsumenten „gebändigt“. Und die Regulierungsbehörden werden unter Republikanischen Präsidenten verkrüppelt und von Demokratischen wieder aufgebaut. Soll heißen: Obwohl der Begriff der infrastrukturellen Macht eine sehr hilfreiche Analysekategorie
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darstellt, sind die Begriffe „checks and balances“ ideologische und harmonisierende Begriffe. Die Leistungsfähigkeit der pragmatischen Analyseebene hatten wir bereits abgewertet. Sie hat natürlich unter einer kontrollierten Sichtweise ebenfalls eine gewisse Bedeutung. So ist ein Großteil der amerikanischen Rechtsentwicklung aus dem „common law“ abzuleiten, das aus Rechtsfindungen von Richtern besteht, die damit ihren Sanktionsapparat der dynamischen Entwicklung der Wirtschaft angepasst haben. Enteignungen zum Wohle der Öffentlichkeit, etwa durch die Notwendigkeit Straßen und Eisenbahnen zu bauen, waren durch juristische Erfindungen abgestützt (Boorstin 1965), bei denen man sicher sein konnte, dass ein Gefälle von oben nach unten verlief. Soll heißen, die Richter sorgten dafür, dass die großen Kapitalien besser bedient werden als die kleinen. Deshalb gibt es auch die entgegengesetzten Urteile, wo der Kleine gegen die große Versicherungsgesellschaft gewinnt, um zu zeigen, wie „gerecht“ das System wirkt. Die pragmatische Argumentationsebene durchzieht zudem die gesamte amerikanische Gesellschaft und wird als ein selbst produziertes Denkmuster der Amerikaner ausgegeben. Nicht nur der Begriff „common law“ ist hoch im Ansehen – obwohl er absolut verdächtig sein sollte -, sondern auch die Begriffe „common sense“, sowie „plain speaking“ (wie einem der Schnabel gewachsen ist) finden den Beifall der Öffentlichkeit. Hollywood unterstützt diese Kategorien mit seinen Traumwelten; und andere Organisationen der Werbewirtschaft geben viel Geld für deren Erhalt aus. Wenden wir uns der Kategorie drei, d. h. der Verteilung der politischen Macht zu. Der Hauptgrund, so Novak, warum der amerikanische „Staat“ so verborgen (hidden) ist, liegt darin, dass er so zerstreut ist in Institutionen, Rechtszuständigkeiten, Zweigen, Büros, Programmen, Regeln, Gewohnheiten, Gesetzen und Regulierungen. Dies ist in der Tat eine bereits in sich uferlose 191
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Komplexität. Aber eine solche liegt auch im Rahmen von Zentralstaaten oder bei der Organisation der EU vor, allerdings gibt es in den parlamentarischen Systemen einen Halt im hierarchischen Prinzip, den wir in den USA nicht haben. Die Komplexität der politischen Institutionen verteilt sich auf sage und schreibe 89.000 getrennte Einheiten des Regierens. Unterhalb der nationalen Regierung (federal government) und den 50 Staaten gibt es 3.033 Kreise, 19.492 lokale Regierungen (Gemeinden), 16.519 Stadtregierungen und 37.381 Bezirksregierungen. 13.051 Schuldistrikte haben ihre eigenständige Macht der Selbstregierung und weisen offizielle Unterteilungen auf. Selbst innerhalb der nationalen Regierung kann die Teilung, Trennung und Verteilung von Macht überwältigend sein. Die so genannte Legislative besteht aus den beiden Häusern (Repräsentantenhaus und Senat), 435 Wahlkreisen und mehr als 200 Komitees und Subkomitees. Die Judikative umfasst 94 getrennte Distrikte wie auch eine ganze Anzahl von Spezialgerichten. Die exekutive Bürokratie teilt sich in 15 Ministerien (departments) und in mehr als 137 „federal agencies“ und „commissions“ auf, die in 2006 alleine beinahe 80.000 Seiten an Regeln, Regulierungen und Anordnungen in das „Federal Register“ (also die Gesetzessammlung des Bundes) stellten. Letztere Leistung könnte innerhalb der Kombination Bundesrepublik/Europa auch leicht erbracht werden. Voller Stolz geht Novak nun auf die Zellteilung innerhalb des Systems „criminal law enforcement“ ein. In 2004 beschäftigten ca. 18.000 lokale und staatliche Polizeistationen 731.903 vollzeitbeschäftigte Polizeikräfte. Weitere 106.000 Beamte waren in den Bundesbehörden, wie z. B. dem FBI, dem U.S. Zoll- und Immigrationsbüro sowie der zentralstaatlichen Gefängnisverwaltung beschäftigt. Die Statistik von 1995 und 1999 belegt, dass das Wegsperrsystem im Wachsen begriffen ist. In 3.365 lokalen Gefängnissen (jails) hausen 605.943 Insassen, 1.345 Staatsgefängnisse beherbergen 941.462 Insassen und 125 Bundesgefängnisse noch einmal 81.930.
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Mehr als eine halbe Million Arbeitskräfte finden in diesem riesigen Netzwerk ihr Auskommen. Ein besonders instruktives Beispiel: Das Staatsanwaltsbüro in Cook County/Illinois beschäftigt mehr als 900 Anwälte. Und dieser ganze beeindruckende Apparat wird, nach Novak, noch von dem militärischen Apparat in den Schatten gestellt. Hier nennt Novak nun keine Zahlen, aber er gibt seine Quellen an und gesteht, dies „is something of a behemoth“ (ein Ungeheuer nach der Bibel). Dass dieses ganze Netzwerk staatlicher Organisation „horizontal“ organisiert ist, im Unterschied zum europäisch hierarchischen System, ist ihm nochmals wichtig zu betonen. Fazit: „Power is separated and divided rather then integrated“ (Novak, S. 766). Novak erwähnt nicht explizit, aber er meint implizit sicherlich, dass diese Art der Organisation als „demokratisch“ zu bezeichnen ist. Wir haben hiermit ein wichtiges Merkmal amerikanischer Selbstbeurteilung entdeckt, nämlich die Machtzerstreuung (nicht die Machtkontrolle) als ein Merkmal von Demokratie. Machtzerstreuung, wie gleich zu sehen, lässt natürlich alle möglichen Machtverteilungen und Machtausübungen als legitim erscheinen. Das ist mit den europäischen Vorstellungen der Machtkontrolle nicht in eine Übereinstimmung zu bringen. Die vierte Analyseebene besteht aus dem „rule of law“. Wir haben uns mit dem amerikanischen Gesetzesstaat schon oben beschäftigt. Wir wissen bereits, dass er „über allem“ steht. Das wird nicht oft gesagt. Die Judikative ist nicht nur einfach ein Zweig in der Gewaltenteilung, sondern sie ist der Zweig, der über den beiden anderen, der Exekutive und der Legislative steht (oder stehen kann). Hinsichtlich der Überschaubarkeit juristischer Entscheidungen, so brillant sie im Einzelfall begründet sein mögen, kann ich kein „System der Gerechtigkeit“ erkennen, außer dem, dass Zuteilungen von Positionen in der Gesellschaft durch die Gesellschaft erfolgen sollen und nicht durch Politik. Hier wäre nochmals Politik von Regierung zu trennen, denn die diversen Förderungen, etwa von 193
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Wirtschaftsunternehmen durch „den Staat“, fallen aus dieser Begründung heraus. Staatliche Zwecke können den generellen „laissez-faire“-Standpunkt übertrumpfen. Mithin geht es in erster Linie darum, die Sozialgesetzgebung als politisch zu betrachten und deren Einschätzung zu neutralisieren. Die Argumentation Novaks über die außerordentliche Bedeutung des Rechts ist uns bekannt. Sie geht bei ihm folgerichtig in die Analyse des sogenannten „private attorney general“ über. Dieser ist eine Rechtsfigur, durch die bestehende Missstände auf dem Rechtssektor zu Ungunsten der Bevölkerung (des Volkes) aufgehoben werden können. Das ist somit die letzte Analyseebene in Novaks Modell. Ein „private attorney general“ kann sich für eine Rechtsmaterie stark machen, und wenn er darin vor Gericht Anerkennung findet, steht ihm eine öffentliche Bezahlung zu. Die Tätigkeit eines solchen selbst ernannten Akteurs in Rahmen der vielen Akteure des Regierungshandelns fällt in die Analyseebene „public-private partnership“. Analog zur Tätigkeit des „privat attorney generals“ findet auch diese Symbiose zwischen öffentlicher Gewalt und privaten Interessen bei Novak sehr gezielt und abstrakt im Bereich des „Law- & Order“-Bereiches statt. Also, wer kann wen legitim unterwerfen, oder den Sozialbereich ausweiten, wo es vielfältige Möglichkeiten gibt, Gesetze „legitim“ auf weitere Betroffene anzuwenden. Mithin bleibt Novak in der Organisation seiner Kategorien im Mikrobereich der Gesellschaft hängen. Allerdings ist der Bereich „private-public-partnership“ nicht so geordnet, dass in ihm riesige Erfolge für Betroffene oder Unterschichten einzufahren wären. Es ist vielmehr ein Bereich, der von den Gerichten sowieso auf „berechtigte“ Klagen zugerichtet ist. D. h. in vielen Fällen muss jeder Einzelne sein Recht einklagen; es steht ihm also nicht automatisch nach der positiven Entscheidung in einem bestimmten Fall zu (Fukuyama 2014, S. 5ff.). Gerichte machen dies bewusst, um den Zugang zu Rechten (oder Privilegien?) zu erschweren. Hier sind
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Richter mithin die Bremser in der Gesellschaft; die sich freilich hinter Urteilen verstecken können, die weitaus „progressiver“ sind als ihre Durchführung. Dennoch ist diese Analyseebene zentral wichtig für die Betrachtung amerikanischer Politik, denn sie erhöht die Komplexität von Regierungszuständigkeit bis in eine Unendlichkeit, schafft aber auch den klaren Zugang zur Politik, so dass private Interessen sich der öffentlichen Hand bedienen können und dürfen. Ich erweitere diese Analyseebene im Folgenden zu einer neuen Dimension, nämlich der Analyse der großen Korporationen in der amerikanischen Politik. Auch sie sind in gewisser Weise „private attorneys general“, egal ob aus eigenem Antrieb oder „vom Staat“ gerufen. Zugleich nähern wir uns durch diesen Schritt den Theorien von den „Verschwörungen“. Ich nenne den Bereich lieber „Verschweigen und Verstecken“. Bevor wir uns diesem Unterfangen zuwenden, ein abschließendes Wort zur Leistung von William J. Novak. Er ist ein guter Kenner der USA-Regierungsmaterie. Ich verdanke ihm die Einsicht in die Analyseebenen, wie zuvor gerade dargelegt. Dennoch ist seine Stoßrichtung etwas aus der Luft gegriffen. Natürlich beschweren sich viele Amerikaner über den „schwachen“ amerikanischen Staat (Hacker/Pierson 2005), aber sie meinen damit, dass dieser Staat nicht länger die Mittel- und Unterschichten gegen die Oberschichten schützt. Das hat aber damit zu tun, dass viele Wähler konservative Republikaner durch Lebensstil und aus Überzeugung sind, die sehr viele politische Bereiche kontrollieren und damit den politischen Willen der obersten Eliten widerspiegeln. Das ist durchaus noch Demokratie. Wenn die Demokratische Partei sich als unfähig erweist, in vielen Einzelstaaten die Regierung zu stellen, muss sie mit solchen Nachteilen rechnen. Umgekehrt gilt ebenfalls: Seit den Steuerprotesten am Ende der 1970er Jahre haben die Republikaner sich zu gut geführten Einheiten auf allen 195
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Ebenen der Politik entwickelt (Frank 2008, S. 49ff. sowie Hacker/ Pierson 2010, S. 163ff.), die neben vielem in der Lage waren, Steuerkürzungen durchzusetzen, aber auch die Wahlmöglichkeiten für „Demokraten“ einzuschränken. Nur für diese Bürgerschaft gilt, dass „ihr“ Staat schwach ist. Etwas anderes ist die Propaganda von Republikanischer Seite, dass der Staat alles verkehrt mache und deshalb zu einem „schwachen“ Staat reduziert werden sollte. Dies ist Zweckpropaganda nicht für den schwachen Staat sondern für die Republikanische Politik der Oberhoheit der Wirtschaft vor den zivilgesellschaftlichen Kräften. Letzteren wird bescheinigt, dass sie den Staat verkehrt führen würden. Novak hingegen versucht, den Staat überparteilich von jeder Anklage der Schwäche frei zu sprechen und ihm in seiner (beeindruckenden) Komplexität große Kraft zu bescheinigen. Wenn man allerdings seine Analyseebenen zusammen addiert, kommt eine monströse Komplexität zum Vorschein. Diese kann man zwar nicht als Schwäche, aber doch als gewollte Unbestimmtheit des Monsters charakterisieren. Novak addiert gewissermaßen jede einzelne politische Einheit mit allen anderen zusammen. Dabei entsteht der Eindruck einer geballten Einheit, die historisch einmalig in ihrer strukturierenden Fähigkeit ist. In Wirklichkeit arbeiten die meisten dieser politischen Einheiten jedoch gegeneinander. Nur als einfaches Beispiel: Wenn der Bund (federal government) ein Programm favorisiert, wollen dies die Staaten in eigener Regie umsetzen. Sie wollen kaum die Kreise oder die Städte davon profitieren lassen. Letztere jedoch wollen unbedingt, u. U. gegen ihre Einzelstaaten, beteiligt werden (Soja/ Scott 2006, S. 283ff. und Gräser 2006, S. 27ff.) usw. Es ist mithin ein Regime entstanden, das bei bestimmter politischer Konstellation, z. B. so wie jetzt durch die Ausschaltung der Demokraten aus vielen politischen Einheiten, die Destruktion des gesamten Regimes anstrebt. Die Destruktion oder die Verkrüppelung befördert die Vorteile der privaten Kapital- und Finanzbesitzer, ihre
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organisatorischen Vorstellungen der Gesamtgesellschaft besser umzusetzen. Beziehungsweise, die großen Kapitalien sind nicht nur an Allokationen – oder deren Verhinderung – in den USA interessiert, sondern haben ein weltweites Betätigungsfeld, genannt Globalisierung. Dieses Feld teilen sie mit anderen großen Finanzorganisationen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dies ist der Ist-Zustand, dem die Republikanische Partei in den USA als Serviceleister zuarbeitet. Im Folgenden versuchen wir zu „verstehen“, wie man diese Konstellation strukturell erfassen kann.
5.6
Verschweigen und Verstecken. Die Erschaffung des „welfare capitalism“
5.6 Verschweigen und Verstecken Bei der „public-private partnership“ geht es nicht um irgendeine nette Partnerschaft, sondern im Kern um das Verhältnis der wirtschaftlichen zur politischen Macht. Es geht um den Einfluss der „tiefen Regierung“ auf die demokratische Oberflächenregierung, die sichtbare, die dennoch, wie soeben dargelegt, so komplex ist, dass sie ebenfalls nicht klar erscheint. Es ist nun schwierig das Verhältnis von zwei Größen zueinander zu bestimmen, die man nicht klar erkennen kann. Das Wesen wirtschaftlicher Handlungen hat aber viel mit Geheimniskrämerei zu tun, weil eine Strategie wirtschaftlicher Tätigkeit darin besteht, den „Gegner“ oder Konkurrenten so lange wie möglich über die eigenen Absichten im Unklaren zu lassen. Daraus resultiert bereits, dass in der Öffentlichkeit häufig Aussagen gemacht oder Informationen gestreut werden, die bewusst in die Irre leiten sollen. Andere Interessierte versuchen jedoch, dies zu hintertreiben und selbst Vernebelungen zu inszenieren, woraus eine Strategie des „Verschweigens und Versteckens“ entsteht. Dennoch ist empirisch hinreichendes Material vorhanden, um die Grundzüge der wirtschaftlichen zur politischen Macht 197
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zu erkennen. Die wirtschaftliche Macht ist seit über 100 Jahren vor allem in den großen Korporationen angesiedelt, die seit dem Bau der transkontinentalen Eisenbahnen in den USA fest etabliert waren. Robert H. Wiebe schlägt eine Sichtweise vor, bei der von der Seite der großen Firmen aus die Regierung betrachtet wird. Dies ist insofern interessant, als durch diese Blickrichtung eine Vorstellung kreiert wird, die zugleich die Selbstbetrachtung der großen wirtschaftlichen Unternehmung ermöglicht. Zentral ist für Wiebe, dass die Wirtschaft die Politik neben sich als einen großen „Block“ betrachtet (Wiebe 1971, S. 192ff.). Die Wirtschaft selbst zerfällt ebenfalls in Blöcke. Blöcke bestehen dann, wenn man über seine eigenen Grenzen hinaus andere nicht kontrollieren kann. Das Bankhaus Morgan, um das es Wiebe geht, und das er im Zeitraum der Regulierungsstreitigkeiten um 1900 herum analysiert, ist ein Block; der Rockefeller Ölkonzern ist ein anderer, die Regierung selbst ist ebenfalls ein Block, den man nach zwei Richtungen hin deuten kann: zum einen als gleichwertig, zum anderen als untergeordnet. Wir hatten oben schon erörtert, dass nach dem „Grundgesetz“ die Politiker einen untergeordneten Platz in der Gesellschaft einnehmen, weil ihnen die unternehmerischen „Fähigkeiten“ abgingen. Zur Zeit von Präsident Theodore Roosevelt, als die Regulierungen der Wirtschaft in vollem Gange waren, erwies sich die Regierung für kurze Zeit als gleichwertig. In den 1920er Jahren rückte sie wieder auf den Platz einer Dienerin – was sie auch zuvor im „gilded age“ gewesen war. Unter dem zweiten Roosevelt, 1933 bis 1945, war der Staat wiederum in der Vorhand. Aber schon zu dieser Zeit tobte der Kampf um Hegemonie, der erst von der Sache her, nämlich dem Ende des Steuerstaates, ca. 1978, wiederum zugunsten der Wirtschaft entschieden wurde (Es ist interessant festzuhalten, dass in der Epoche des real existierenden Sozialismus eine Sichtweise auf den „sataatsmonopolistischen Kapitalismus“ vorherrschte, die ebenfalls von „Blöcken“ sowohl in der Wirtschaft wie auch in der
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Politik ausging. „Wir“ in der „freien Welt“ gingen davon aus, dass selbstverständlich die „politische Demokratie“ dominant war. Nach 1989 und nach der Studie von Francis Fukuyama über das „Ende der Geschichte“ gerieten die Sichtweisen der „freien Welt“ etwas ins Abseits, obwohl der Glaube an die demokratischen Institutionen gerade von Seiten der Politikwissenschaft nicht aufgegeben wurde, sondern gewissermaßen zu deren Kernbestand gehört – oder zu ihrer Lebenslüge. Es ist inspirierend zu reflektieren, dass die Ironien der Geschichte immer auch dem Verlierer der Geschichte eine Chance eröffnen, doch noch im Recht gewesen zu sein. Der bittere Nachgeschmack besteht darin, sich zu erinnern, wie „wir“ die Kollegen aus der DDR damals kurz nach 1990 von der hohen Warte aus belehrt hatten, die westliche Demokratie als „offen und pluralistisch“ zu sehen. Deren Eingeständnis, sie hätten die USA Politik immer nach Blöcken von Wirtschaftsmacht unterschieden, wobei die Kennzeichnung von progressiv und reaktionär eine große Rolle spielte, wirkt heute nicht unbedingt altmodisch. Unter dem Diktum, dass Theorie eindeutige Thesen enthalten solle, war diese Sichtweise so verkehrt ja nicht). In dieser Epoche, die nunmehr mit der Übernahme der weltwirtschaftlichen Verflechtungen durch die Agenturen der Globalisierung, wie z. B. Wall Street, erfolgte, führen die großen wirtschaftlichen Zusammenballungen den Wettbewerb um wirtschaftliche Dominanz in den Bereichen Rohstoffe und Finanzen, bzw. deren Allokationen (Madrick 2011, S. 125ff.). Nach Wiebes Analyse wurden die Blöcke von Seiten des Finanzimperiums des Hauses Morgan als relativ souverän angesehen und der Verkehr etwa mit dem Block Politik als der von Gleichberechtigten gedeutet. Man traf sich in großen Hotels und die Unterhändler legten Pläne für die Aufhebung von Konflikten vor, die „einvernehmlich“ zu regeln seien. Der politische Stil dabei war der von „gentlemen“. In einer bestimmten Situation war J.P. 199
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Morgan enttäuscht vom Präsidenten, weil er meinte, dieser hätte sich ihm gegenüber nicht als „Gentleman“ verhalten. Dass der politische Staat eine Oberhoheit besitzen könnte, der gegenüber auch der reiche Staatsbürger eine Unterordnungspflicht (unter die Gesetze) habe, war in diesem Modell nicht vorgesehen. Entsprechend linkisch war auch das Verhalten der Großunternehmer, auch von Morgan, als sie 1933 vor den Untersuchungsausschuss des Justizministeriums geladen wurden, um eventuelle Verfehlungen beim Zusammenbruch des Bankensystems zu ermitteln. Der befragende „attorney“, ein intellektueller „Südländer“, stach schon durch seine Physiognomie von den protestantischen „Herren“ der Wall Street ab. Morgan musste zugeben, dass er keine Steuern in den USA bezahlte, sondern nur eine ganz geringe Steuer in England (Schlesinger, 1958, S. 434ff.). Die Zeiten haben sich seitdem nicht sonderlich geändert. Vorübergehend jedoch hatte sich das Verhalten der großen Konzerne gegenüber der Politik geändert, als der New Deal-Staat noch seine Hegemonie besaß. Das Angebot seitens der Politik, den Verteidigungs- und Sicherheitsstaat nach 1945 weiter zu führen, wurde von „der Wirtschaft“ mit großer Zustimmung, gerade der in Wall Street vertretenen Wirtschaft, also der großen Konzerne des Ostens, aufgenommen. Damals, zwischen 1945 und 1953 tobte der Kampf um Hegemonie zwischen den Kräften der Republikanischen Partei des Ostens mit der des mittleren Westens mit Schwerpunkt im Staate Ohio und dem dortigen Parteiführer Robert Taft. Deren Kampf gegen die Liberalen, gegen „Washington“ und gegen das Ostküstenestablishment – auch mit Hilfe des McCarthyismus – wurde 1952 mit der Wahl von General Eisenhower zum Präsidenten für das Ostküstenestablishment entschieden. Also für Wall Street, für den Verteidigungsstaat und letzten Endes auch für einen Wohlfahrtsstaat für die breite Masse der weißen männlichen Arbeiter. Die Epoche der Massendemokratie mit ihrer Gallionsfigur dem
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Konsumenten/Bürger, brach an und sollte bis in die Mitte der 1970er Jahre reichen als eine neue politische Formation, genannt „die Konservativen“, die politische Macht in den USA als eine Koalition des mittleren Westens mit dem Süden übernahm. Diese seit 1964 durch Senator Goldwater geschaffene Schiene in der amerikanischen Politik wurde 1980 durch Ronald Reagan zum Sieg geführt und erbrachte den gegenwärtigen entregulierten Staat, auch als Neoliberalismus bezeichnet. Nach nur wenigen Jahren übernahm diese Formation auch die internationalen Wirtschaftsorganisationen, wie Weltbank und Internationalen Währungsfond. Und seitdem liegt die Definitionsmacht für die Existenz dieser beiden Institutionen nicht länger in Washington, sondern beim Block Wall Street. Das Zauberwort dieses Herrschaftssystems heißt „structural adjustment“ und besagt, dass Entwicklung in der Welt nicht länger Sache des politischen Washington ist, sondern Sache der Allokationsentscheidungen von wirtschaftlichen „Blöcken“. Diese Strukturveränderung der politisch-wirtschaftlichen Symbiose verändert auch etwas das vorherige System der Zusammenarbeit, bei der in der New-Deal-Struktur die Zusammenarbeit so organisiert war, dass der Staat zumindest den Ordnungsrahmen und damit die formelle Oberhoheit behielt. Der Deregulierungsstaat hat in einigen Bereichen selbst die Oberhoheit an wirtschaftliche Einheiten abgegeben. Noch während des II. Weltkrieges hatten sich Strukturen herausgebildet, die die Macht der großen Konzerne enorm stärkten; sie aber formell der staatlichen Ordnung eingliederten und unterordneten. McQuaid analysiert dies am Beispiel der Ölindustrie (McQuaid, 1994, S. 50ff.). Die Formel für das neue Herrschaftssystem wird von McQuaid wie folgt festgelegt: “the federal government ought to do more but it ought not to accumulate more power in the process. It solved this paradox by sponsoring solutions created by the private sector.“ Während des Krieges wurde der „Petroleum Industry War Council (PIWC) gegründet. 201
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Er war einer der vielen „Business Councils“ (BC), die in dieser Zeit gegründet wurden. Diese „War“ oder „Business Councils“ waren „in the government but not of it.“ Sie stellten das Personal nicht nur für die Führung ihrer BC’s, sondern auch für die Verbindung zur Regierung. Das heißt, hier „wirkten“ Personen in der Regierung mit, die nicht von gewählten Politikern, wie etwa dem Präsidenten oder dem Kongress berufen wurden, sondern von selbst unbekannten, aber nicht unbedeutenden Persönlichkeiten des Geschäftslebens. Der bekannte Rüstungskontrollexperte der USA, Paul Nitze, entstammte diesem Netzwerk der Petroleum BC’s. Nur um sich das Ausmaß zu vergegenwärtigen: Der BC für die Petroleumindustrie bestand aus 83 Komitees, die allesamt in die Regierung einwirkten. Man kann dieser Struktur schon eine grundsätzliche Bedeutung für die Moderne zusprechen – gleichzeitig auch ihrer Ableitung aus den Forderungen des USA Grundgesetzes (s. oben). Der Krieg und auch die Nachkriegszeit waren zentral vom Öl abhängig. Die großen amerikanischen Multis kümmerten sich vornehmlich um das internationale Öl, d. h. besonders wichtig wurde ARAMCO (Arabisch-amerikanische Ölgesellschaft). Die Multis besaßen aber auch amerikanische Ölquellen. Und außerdem gab es mittelgroße Gesellschaften, die über viel Macht in den Einzelstaaten der USA verfügten. Diese mittelgroßen Gesellschaften, um nicht von den ganz großen an die Wand gedrückt zu werden, suchten nach neuen Lizenzen überall auf der Welt und setzten zu diesem Zweck den außenpolitischen Apparat des Zentralstaates ein. Die kleinen Ölgesellschaften blieben eher im Lande, vermehrten aber ihren Einfluss in den Staaten, wo sie präsent waren und wurden zu Lobbyisten bei den staatlichen Funktionsträgern (den „departments“) und den Kongressabgeordneten und Senatoren, deren Wiederwahl sie sorgfältig stützten. Das war insgesamt ein recht kompetitives System, das Machtstrukturen schuf, die die komplexe Vielfalt, wie sie Novak darstellt, doch in größere Machtblöcke
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einband. Nicht jeder Minisouverän war gleich bedeutend in dem großen, komplexen und kompetitiven Rahmen der Unternehmung genannt „Vereinigte Staaten“. Öl war natürlich auch die Basis für das Entstehen des so genannten „militärisch-industriellen Komplexes“, wie ihn Präsident Eisenhower kritisch bezeichnete. Dieser „Komplex“ entstand nicht ganz aufgrund der politischen Führung des früheren Generals, sondern wurde dem Präsidenten in vielem durch eine Koalition im Kongress aus den Wirtschaftsinteressen (BC’s) und den Abgeordneten aus dem Süden – der so genannten „conservative coalition“ – aufgezwungen. Der Koreakrieg lieferte den Anlass dazu, die Republikanische Partei des mittleren Westens zu übertrumpfen und gegen deren Tradition die „Notwendigkeit“ einer „sowjetischen Eindämmung“ zu behaupten. Damit begann eine bisher unbekannte Epoche von „big is beautifull“, in der die Konstruktion von öffnender Politik und ausfüllender Wirtschaft eine Struktur schuf, bei der man nicht mehr von einer Autonomie der Wirtschaft und des Marktes sprechen konnte. Vorübergehend blieben auch die Befürworter einer unternehmenszentrierten Wirtschaftsanalyse auf der Strecke. Es herrschte die Makroökonomie vor, die die Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes von einer von oben gesteuerten Wirtschaft vertrat. Dies war durchaus auch als Fortsetzung der New Deal-Wirtschaft zu verstehen, wenngleich nunmehr in den 1950/60er Jahren die ökonomische Globalsteuerung effektiv und konsensual zwischen den Parteien in einem bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaß betrieben wurde. Die Kritik der Marktkräfte blieb, wurde jedoch zu einem Nischenunternehmen, in dem Milton Friedman die Kräfte der österreichischen ökonomischen Schule um Friedrich von Hayek bündelte. Deren Durchbruch dann Mitte der 1970er Jahre stellte wiederum eine neue Formation vor, in der nicht der produzierende sondern der finanzkapitalistische Kapitalismus die Oberhohheit 203
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übernahm. In Symbiose freilich mit der Mikroelektronik, die als IT-Technologie dominant wurde. Dennoch hat die Petroleumindustrie kaum an Macht eingebüßt. Mit dem „Kalten Krieg“ ab 1947, dem Ölgeschäft im Nahen Osten sowie dem Marshallplan für den Wiederaufbau Westeuropas trat die Welt in eine Phase der globalen Konkurrenz der großen politischen Systeme ein, die für die Westeuropäer wirtschaftlichen Wohlstand in einem nicht für möglich gehaltenen Ausmaß brachte. Dieser setzte unter Präsident Truman ein und wurde unter seinen Nachfolgern, den Präsidenten Eisenhower und Kennedy, beschleunigt. Neben die Kriegswirtschaft trat ein Programm der zivilen Entwicklung, das den Weltkommunismus ausstechen wollte; und dies auch bewerkstelligte. Unter Eisenhower, diesmal auch mit seinem Einverständnis, wurde das Straßennetz der USA mit Hilfe von 30 Mia. Dollar perfektioniert, so dass man nahezu von jedem Punkt zu jedem anderen fahren konnte. (Unter Präsident Roosevelt gab es keinen staatlichen Aufbauplan, der die Wirtschaft in dieser Weise durch staatliche Zielplanung und privatwirtschaftliche Ausgestaltung hätte voranbringen können. Roosevelt musste auf den Krieg warten, um einen gesamtgesellschaftlichen Wohlstand und Vollbeschäftigung anzuvisieren.) Entsprechend nahm die Anzahl der Automobile im Straßenverkehr zu, was für die Ballungszentren zu den bekannten „Ballungen“ von Autos am frühen Morgen und am späten Nachmittag führte. Die Macht von Wall Street kann man daran erkennen, dass ohne Protest das Eisenbahnsystem, das im 19. Jahrhundert am Anfang des Siegeszugs des amerikanischen Großkapitals gestanden hatte, nunmehr einem raschen Austrocknungsprozess ausgesetzt war. Längst war ökonomisches Kapital nicht an materiale Festkörper gebunden, sondern bestand in flüssigem Kontrollkapital. Was nach 1945 zu regulieren war, das waren die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und den großen Industrien. 1945
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entstand der Begriff „industrial relations“ an Stelle von „class relations“. Die Industrieproduktion selbst änderte sich, zum einen in dem Sinne, wie oben von Chandler beschrieben, zum andern durch weitere Abschaffung von Hierarchie. Es entstanden gewissermaßen „Generalstäbe“ für Firmen, in denen die Chefs saßen, die strategisch ihre Firmen in die Zukunft dachten und deren Finanzen kontrollierten. Die Produktion wurde zunehmend, wie in der „guten alten Zeit der Unternehmerherrschaft“ an Direktoren delegiert, die zwar angestellt, aber dennoch dem Produktionsprozess sehr verbunden blieben. Hier wurde von oben verordnet, dass man mit dem so genannten „scientific management“ gegen die Arbeiter vorgehen sollte. D. h. der „Human Relations“ -Ansatz zog in die Fabriken ein. Neben Arbeitsschutz rückte Kommunikation mit den Arbeitervertretern (Gewerkschaften) als eine Unternehmensstrategie in den Produktionsprozeß ein. Psychologen wurden eingestellt, die die Unternehmensführung darin bestärken konnten, dass Kommunikation mit den Arbeitern von diesen nicht nur geliebt wurde, sondern sich auch in erhöhter Produktivität auszahlte (McQuaid 1994, S. 13ff.). Von politischer Seite aus sah die Führung der Republikaner unter Senator Taft – also noch in den 1940er Jahren – zumindest ein, dass nunmehr auch solche, „die es nicht verdienten“ (Schlesinger 1949/1962, S. 29) in den neuen „Sozialstaat“ integriert werden mussten, und dass die „industrial relations“ an die Stelle von Klassenkonfrontation treten müssten. (Vorübergehend sahen die Republikaner dies ein. Sie kooperierten, um aber nach Eisenhower und teilweise bereits unter Präsident Nixon zu den „Lehren des Grundgesetzes“ wieder zurückzukehren. Der Groll gegen Eisenhower, den Anpasser, blieb bestehen). Dies wurde in der Folge besonders an der Gestaltung der Rentenversicherung in den USA deutlich. Die Erscheinung der Rentenversicherung nach dem 2. Weltkrieg war die eines kümmerlichen Randphänomens im neuen 205
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Sozialstaat der Roosevelt-Ära. Es dominierte „Welfare“. Und welfare war eine staatliche Leistung, die Bedürftige vor dem Verhungern retten sollte und damit von Steuergeldern, „tax payers money“, zu bezahlen war. Dies war mithin ein Politikbereich, der gar zu leicht bei den Mittelschichtwählern unbeliebt gemacht werden konnte. Sukzessive wurde in der Folge ein System der Alterssicherung entwickelt (McQuaid 1994, S. 84ff.) bei dem „Welfare“ mehr und mehr verschwand und an seine Stelle eine Versicherung trat, die der Staat und die großen Firmen entrichteten, und die als Leistung der Arbeitnehmer galt, auf die sie nach Erreichen der Altersgrenze Anspruch hatten. Der Anteil des Staates an diesem System wurde verschleiert und der der Firmen ganz in den Vordergrund gestellt. Damit war dem Mechanismus „Ermöglichung ohne Machtzuwachs“ Genüge getan. Noch heute dürften Arbeiter bei dem komplizierten System von Alterssicherung der festen Meinung sein, in einem leistungsfähigen System von „Free Enterprise“ aufgefangen zu sein, in dem der Staat keine – und wenn, eine schlechte – Rolle spielt. Bis heute kommt dem Bereich von „Welfare Capitalism“ in den USA eine zentrale Rolle zu. Was ganz entscheidend werden sollte, war der soziale Wohnungsbau. Denn bis nach dem Krieg hatten die Banken Kredite nur dann vergeben, wenn die Rückzahlungszeit recht begrenzt war. Nunmehr gaben sie Kredite mit Laufzeiten von 30 Jahren und ermöglichten es, immer besser verdienenden Arbeitern sich den „Traum“ vom eigenen Haus mit 2 Garagen zu erfüllen (Schissler 2019, S. 19–54). Und von einer Zukunft zu träumen, in der die eigenen Kinder studieren konnten. Dass solche „Realitäten“ nicht gerade die gewerkschaftliche Macht stärkten, versteht sich von selbst. Schon ab den 1950er Jahren wurden die Gewerkschaften behindert und behinderten sich selbst am meisten. Stabilisiert wurden diese Prozesse durch staatliche Garantieversicherungen, die dem privaten Bankensystem das Risiko abnahmen. Darüber waren die Banken froh, aber ihr Dank an die Regierung
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blieb gering, denn die Banken, wie wir schon sahen, hatten es nie aufgegeben, von den größeren Renditen aus der Zeit vor der 1930er Depression zu träumen. Banken verstanden sich nicht als preiswerte Serviceleister, sondern als der eigentlich aggressivste Teil von „Free Enterprise“ – dem Finanzkapital (Madrick 2011, S. 86–109). Der Sozialstaat war von Roosevelt 1935 eingeführt worden, weil er im Unternehmerstaat auch den Arbeitern ein Dach über dem Kopf und einen Boden unter den Füßen, so gut wie möglich, schaffen wollte. Als begnadeter Politiker dachte er daran, in die Leitungspositionen des Rentensystems einen liberalen Demokraten zu nehmen sowie einen fortschrittlichen Unternehmer, nämlich den Chef der Kodakfilmefabrik, Marion B. Folson. Präsident Eisenhower musste den Demokraten selbstverständlich entlassen, aber nach kurzem Zögern holte er Folsom wieder in seine alte Position. Zuvor hatte eine Frau aus der Republikanischen Partei den Posten des Ministeriums für Gesundheit geführt, die die umfassenden Reformen der Alterssicherung mit dem Staat als letztem Garanten, als „socialism“ – wie anders? – denunzierte. Folsom, von Kodak, war nunmehr der Garant einer überparteilichen Führung des verdeckten Welfare Capitalism. So gelang es, dieses Gebilde bis in die Neuzeit zu führen. Wie wir oben sahen, hat Präsident Johnson noch 1964/66 einen Teil der Krankenversicherung dieser Alterssicherung nachgeschoben – Medicare für die Alten und Medicaid für die Bedürftigen. Roosevelt hatte nach dem Gelingen seiner bescheidenen Rentengesetzgebung diese in einer Weise abgesichert, dass er voller Genugtuung folgern konnte, „no damned politician can change that“. Bis jetzt hat der Präsident sich noch nicht geirrt, wenngleich eine Änderung durchaus kommen kann, wenn die Republikaner sich mit ihren libertären Ideen durchsetzen können, die Rentenversicherung zu privatisieren. Bisher waren die Rentner klug genug den Braten zu riechen und gegen die Privatisierung zu votieren. Doch die Stimmen der Verführer sind gut geschult; 207
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es muss nur noch der richtige Hebel gefunden werden. Seltsam freilich mutet es schon an, dass der Präsident die demokratisch gewählte Legislative als die „damned politicians“ bezeichnete. Er tat dies zu Recht, genauso wie Präsident Obama das Recht hätte, eine solche Sprache zu benutzen. In der Gemengelage „amerikanische Politik“ gibt es an allen Stellen und in vielen Situationen gewählte Politiker, die den Willen ihrer Wähler u. U. recht dehnbar interpretieren. Insofern kann man schon davon sprechen, dass die Legislative – also der Kongress in den USA – nur bedingt den Wählerwillen repräsentiert. Insofern hat auch der Präsident und haben die von ihm geschaffenen Regulierungsbehörden oder gar Teile der Verwaltung das Recht, sich als wählerkonform zu verstehen. Bedingt trifft dies sogar auf das oberste Verfassungsgericht zu. Mithin versickern nicht nur die Entscheidungsbefugnisse in der Politik sondern auch die Wählerpräferenzen in einem Gewirr von Pluralismus, den man aus der Sicht eines parlamentarischen Systems kaum noch als „demokratisch“ wahrnehmen kann. Eine allumfassende Ideologie des „Amerikanismus“ sichert dieses System ab, d. h. man braucht einen generalisierten Code vom „American way“, dem man folgen kann. Dieser code kann von beliebigen Stellen gesendet werden: Manchmal sind es die Geheimdienste, manchmal das Militär, in starker Weise der Kongress, übergeordnet freilich der Präsident, der ja zumindest eine Hälfte des Kongresses mehr oder minder „hinter sich“ hat. Aus dem Untergrund von New York, von der „tieferen Regierung“, können ebenfalls Signale kommen. Diese Codes und Signale rufen dann allesamt zu Loyalität auf, d. h. der einzelne Bürger soll sich amerikanisiert und opportunistisch positiv verhalten. Deshalb ist in die US-amerikanische Sprache das nahezu allumfassende „We“ eingekehrt. „Americans“ mögen dies und das, „we“ support our government, „wir“ sind alle Individualisten – alle in den gleichen blue Jeans. Freilich gibt es in häufig großartiger Form auch die Dissidenten, die
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in bestimmten Situationen das gesamte Schiff auf Kursänderung bringen können – zum Preis, danach dann als Vaterlandsverräter denunziert zu werden. Auch die Kursänderung hält nicht lange vor, danach pendelt sich die Richtung der Fahrt wieder ein. Auf einem „Republikanischen Equilibrium“. Fassen wir aber den Kern des Ganzen zusammen. Er scheint mir in Novaks Fazit über Macht zu bestehen: „Power is separated and divided, rather then integrated“ (Novak, S. 766). Das bedeutet, Macht ist horizontal gestreut und nur im Ausnahmefall hierarchisch abrufbar (Spragia). Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu den europäischen politischen Gebilden. Hier herrscht die gegensätzliche Organisationsform: Macht ist parlamentarisch hierarchisch strukturiert und in der Horizontalen nur vorübergehend delegiert. Es kann in parlamentarischen Demokratien keine sozial unabhängigen Mächte geben, die sich politischen Regelungen auch entziehen können und dürfen. Das betrifft auch Wirtschaftskräfte. In den USA besitzt die Wirtschaft Freiheitspotenziale, und zwar nach dem 10. Verfassungszusatz, der das Volk als autonomen Träger von Rechten ansieht. Die Vorstellung von Autonomien oder Teilautonomien haben die USA als Erbschaft des englischen Feudalismus mit in die neue Heimat gebracht. Selbiger, muss man sogar folgern, passt nicht einmal in das Modell der Republik, die in den USA noch relativ große Gestaltungskraft besitzt. Machtzerstreuung, so muss man folgern, ist in den USA ein zentrales Prinzip der gemeinschaftlichen Organisation, während im parlamentarischen Europa Machtkontrolle das Prinzip ist. Dieses Machtprinzip existiert auch in Diktaturen, deshalb müssen wir uns von unbedarften US-Amerikanern den Vorwurf gefallen lassen, wir würden „diktatorisch“ bevormundet. Lassen wir es darauf ankommen, dass sie versuchen werden – was sie natürlich immer schon getan haben – „uns“ ihrem berüchtigten „structural adjustment“ – dem „Washington Consensus“ – zu unterwerfen, 209
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wodurch uns die Freiheit der Ausbeutung durch amerikanische Großkonzerne geschenkt würde.
US-amerikanische Hegemonie unter Präsident Trump 6 US-amerikanische Hegemonie unter Präsident Trump
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Die Wende
6.1 Die Wende Dass ein „Equilibrium“ sowieso nur eine theoretisches Konstrukt darstellt, hat sich unter der Trump-Präsidentschaft, die seit Januar 2017 existiert, recht beeindruckend erwiesen. Der jetzige Präsident experimentiert mit einer neuen Rolle der Weltmacht USA. Diese folgt alten Regeln, in denen dem Medium Macht mehr Bedeutung zukommt als dem Medium Kooperation, dass die „Pax Americana“ nach 1945 angeblich beherrschte. Trump provoziert mit Machtspielen eine bestimmte Situation oder eine gegebene Regelung und betrachtet sich das von ihm erzielte Ergebnis. Das entspricht nicht dem seit dem Entstehen der „Freien Welt“ üblichen Verfahren. Der Kandidat für die Präsidentschaftswahl in den USA 2016 betrat im Sommer 2016 mit einem Paukenschlag die politische Bühne und behauptete, dass unter Präsident Barack Obama das Land in dramatischer Weise im Niedergang begriffen sei: Terroristen bedrohten die USA weltweit und Verbrecher trieben ganz offen ihr Unwesen. Die Wirtschaft sei im Niedergang begriffen, die Produktion von Gütern sei rückläufig, die Staatsverschuldung hätte ungeheure Dimensionen erreicht usw. Schuld sei die jetzige Obama-Administration (Toozie 2018 (b), S. 568). Aber Schuld seien auch die großen Konzerne, vor allem von der Ostküste, sowie das Bankenuniversum der Wall Street, das für die Neuwahl des 211 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_6
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Präsidenten sich eine Attrappe aufgebaut hätten, nämlich Hillary Clinton, die, obwohl nur Puppe, eine ungeheure Gefahr für „Amerika“ darstelle, usw. Dieser Paukenschlag zum Schlussspurt des Rennens um die Präsidentschaft des Jahres 2016 war so schlecht nicht, obwohl er sich monströs anhört. In treuer Nachahmung amerikanischer Berichterstattung werden in Deutschland die dortigen Wahlen als die Konkurrenz zwischen zwei gleichstarken Giganten angesehen, die in ihrer Rhetorik häufig danebengreifen, die aber dennoch als Partner im Machtwettbewerb gesehen werden sollten. Das sind Lehren einer Politikwissenschaft als Dienerin der Macht, die von der Wirklichkeit ablenken. Kein Demokratischer Bewerber um das Präsidentenamt in den USA hat jemals eine solche Rhetorik und eine solche Verschwörungsperspektive gebraucht, aber auch nicht benötigt. Die Demokraten als die Partei des kleineren Kapitals der ethnischen und religiösen Minderheiten sowie zunehmend der Unterschichten, wie z. B. der Schwarzen, ist seit langem die Partei der Mehrheit. Die Republikaner haben es nötig mit monströsen Rhetorikangeboten aufzufahren, um eine zusätzliche Kategorie von Wählern zu mobilisieren: die Ressentimentgeladenen und Rassisten. Dazu müssen die Republikaner aber zusätzlich die Mechanismen der Wahlen beeinflussen, um auch als knappe Minderheitenpartei die Wahl zu gewinnen. Dies alles ist komplex und gibt viel an Information zur Erzählung von Lügen preis. Toozie bezieht sich auf den jüngeren Trump, der die 1970er Jahre und das damals herrschende Chaos um Deindustrialisierung, Ölpreiserhöhung und Jom Kippur- Krieg sowie den Wandel der Demokratischen Partei von einer Partei der weißen Arbeiter hin zu einer Minderheitenkoalition von diversen Ethnien zum Anlass nimmt, die USA als ein Land darzustellen, das dabei sei, im Chaos zu versinken. Zudem verbindet er zumeist diesen fiktiven
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Zustand des Landes mit der Präsidentschaft Obamas, dem „nicht wirklichen“ US-Amerikaner. Aber solche Konstruktionen sind in der US-amerikanischen Politik die Regel (Gould). Was in der Regel in Deutschland nicht bekannt ist, ist der Tatbestand, daß die beiden Parteien von ganz unterschiedlichen Traditionen geprägt sind. Keinesfalls sind sie formal als im Wettbewerb stehend nach ökonomistischer Theorie zu verstehen. Nach dem Bürgerkrieg, 1865, traten die Republikaner als die nationale Partei an, – kurzfristig nannten sie sich auch so – als die Partei, die die Union gerettet habe. Damit waren die Demokraten als die Partei der Verräter gebrandmarkt (Gould 2012). Inzwischen vertreten die Demokraten längst andere Wählerschichten als im 19. Jahrhundert. Aber der Mechanismus, dass sie „illegitim“ seien, wird immer noch benutzt.
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Die politischen Inhalte
6.2 Die politischen Inhalte Die Republikaner sind strikt die Partei, die nach der Festlegung, dass das „freie Unternehmertum“ die zentrale Bedeutung in der US-Gesellschaft zu haben hat, handelt (siehe Grundgesetz oben). Das bedeutet, dass nur in seltenen Fällen Republikaner als die Partei der „Staatsräson“ zu verstehen sind. Sie waren dies unter Lincoln, der die Zentralbank etablierte und die Sklaverei abschaffte, um 1900 waren sie es als wichtige Regulierungen, z. B. im Bankwesen anstanden und die Regierung als gesellschaftlicher Schlichter unter Theodore Roosevelt auftrat. Dann kam der „Sündenfall“ mit Franklin D. Roosevelt, der den modernen Interventionsstaat ab 1933 rudimentär etablierte. Diese Regierung wurde von Anfang an als illegitim und als „sozialistisch“ angesehen – generell gilt bis heute autonomes staatliches Handeln, insbesondere das von „Liberalen“, als sozialistisch. Damit galt auch die Republikanische 213
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Regierung unter Präsident Eisenhower (1953–1960) als im Kern sozialistisch, weil Eisenhower den „administrative state“ weiter entwickeln „musste“. In den Phasen dazwischen waren der Staat der Union und die Einzelstaaten nicht sonderlich aktiv, außer, dass sie das zuvor Geschaffene verwalten mussten. Und hierbei ist zentral zu berücksichtigen, dass die Republikanische Partei an der Macht versucht, das geschaffene Institutionengefüge des „administrative state“ herunterzuwirtschaften. Diese Strategie geht sogar soweit, dass die Nationalparks verkommen und schlecht funktionieren. Im Kern aber werden die „Food and Drug Administration“ (FDA) sowie die „Environmentel Protection Agency“ (EPA) heruntergewirtschaftet. Zu dem von den Republikanern geschaffenen Ergebnis bemerken diese, dass man sehen kann, wie schlecht der „liberal state“ funktioniere und dass es an der Zeit sei, die schlecht funktionierenden Bereiche staatlicher Daseinsvorsorge dem „free enterprise system“ unterzuordnen. Nur als notwendige Lebenslüge kann man die Sichtweise von Republikanischen Wählern oder Mitgliedern verstehen, die diese „Theorie“ legitimieren. Zumeist kommen dann auch logischerweise nach abgewirtschafteten Phasen, wie nach 2008, auch wieder Demokratische Regierungen zum Zuge, die mit dem Aufräumen beginnen können. Im Kern also die Lebensmittelkontrolle und den Umweltschutz wieder mit ausreichend Personal ausstatten, damit die Aufgaben dieser umfangreichen Behörden erfüllt werden können. Die Behinderung staatlicher Behörden durch ihre eigene Republikanische Führung besteht auch darin, dass die regelhafte Erledigung der Aufgaben dieser Verwaltungen durch Brechung der hierarchischen Führungsstruktur erreicht werden kann. Diese Art der Reetablierung von unternehmerischer Führungsstruktur ist in den US-amerikanischen Behörden nicht neu, unter Trump scheint sie aber eine neue Qualität zu gewinnen. Der Chef führt als „Boss“, andere Behördenleiter können Teil einer neuen Führungsstruktur von „Bossismus“ werden. Allerdings kann
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Trump nicht darauf verzichten, das gesamte produzierte Charisma des „Bossismus“ für sich zu vereinnahmen.
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Regierungshandeln unter Präsident Trump
6.3 Regierungshandeln unter Präsident Trump Aus dem Vorhergesagten ergibt sich, das die politische und politökonomische Landschaft der USA als in hohem Maße gefährdet angesehen wird – nur ein Retter kann helfen. Der Retter kann nur von der Republikanischen Partei kommen. Freilich kann die Rettung nur von einem Boss kommen, der selbst nicht von der Partei geschaffen wurde sondern jene mit seiner Energie ausfüllt. Adam Toozie folgt dieser Linie der Argumentation, die ich auch teile. Er greift nicht sonderlich auf die Erklärungskraft psychologischer Präformierungen zurück, wie z. B. auf die narzistische Persönlichkeitsstruktur des Präsidenten, obwohl jene wohl unbezweifelbar vorliegt. Aber psychologische Erklärungen haben keine eindeutige Zielrichtung. Jemand, der sehr ängstlich ist, kann sehr tapfer werden und über sich hinauswachsen und umgekehrt. Trump ist von seiner Erfahrung und seinem Wissen geprägt, dass die USA immer im Argen liegt, falls nicht das „free enterprise system“ das Sagen hat. Das ist die Standardannahme, die nicht auf Wirklichkeiten bezogen ist, sondern mittelalterlicher Dogmatik folgt. In solch angenommener Wirklichkeit hilft nur der Boss, der wieder Struktur in die Realität bringt. Allerdings ist die Struktur in hohem Maße dynamisch, denn sie soll nicht dazu dienen, wie nach dem 2. Weltkrieg von den „Liberalen“ geschaffen, eine neue Form der „nation building“ zu schaffen – jene Ordnung Westeuropas, die die „goldenen Jahre“ der Wohlfahrtsgesellschaften europäischer – aber teilweise auch US-amerikanischer – Prägung ermöglichten. Die Wohlfahrtsgesellschaften lassen sich bei einem 215
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bestimmten Sättigungsgrad nicht mehr formen – zum Negativen hin versteht sich. Sie verweigern eine Dynamik in eine bestimmte pro-unternehmerische Richtung hin und müssen deshalb in neoliberale Bahnen gezwungen werden. Dieser Prozess setzte in den 1970er Jahren bereits ein. Trump hat sich jedoch den internationalen Handel als Steckenpferd ausgesucht. Er will auf diesem Feld die eingefahrenen Gleise unterbrechen und neue Regeln etablieren. Sein Schlagwort kennen wir: „America first“. Die Technik aber zu dieser Strategie benennt man neuerdings als „disruption“, d. h. als „aufbrechen“. Auch hierbei werden bekannte Pfade – bekannt als die sogenannte „open economy“ (Lake 2009) – der Regelung unterbrochen und neue dynamische Hierarchien geschaffen – im Kern also wird ein Mehr an „Boss“-Herrschaft etabliert. Eine weitere Strategie ist die bilaterale Vertragsgestaltung; man schließt wieder Handelsverträge mit einzelnen Ländern. Dabei werden nach der Regelung „America first“ günstigere Bedingungen für amerikanische Interessen gesucht. Mit dieser Strategie sind sicherlich Fortschritte zu erzielen, aber zu dem Preis, dass auch die USA ihren Partnern weniger bieten. Generell hat Trump schon signalisiert, dass Sicherheitsgarantieren nicht mehr so leicht zu haben sind – es sei denn, man ist so idealistisch USA-begeistert wie Polen und zudem so religiös. Dabei ist der Nato-Vertrag kein Musterstück einer festen Sicherheitsgarantie; er wurde seinerzeit nach dem 2. Weltkrieg analog zu dem Pakt mit den südamerikanischen Staaten geformt. Seine Garantien nach Artikel 5 des Natovertrages für Hilfe sind allgemein gehalten und unterliegen in concreto US-amerikanischen Entscheidungen. Dass man eine umfassende kulturelle Hegemonie produziert, wie das die liberalen Internationalisten nach 1945 intendierten und z. T. auch implementieren konnten, ist in Trumps Gedankenwelt nicht mehr vorgesehen. Schon im Wahlkampf bemerkte er, daß es eigentlich ein soziales Gesetz sei, „the spoil belongs to the victor“
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– die Beute gehört dem Sieger (Coole 2015, S. 22ff.)! Er will mithin den Stil amerikanischer Diplomatie auf direkte Konfrontationen hintrimmen, bei denen der Mächtige seine Bedingungen diktiert. Diese Regel gilt unter Diplomaten als höchst zweifelhaft! Aber sie entspricht dem Verhandlungsstil New Yorker Bauunternehmer, wie Toozie wohl zu Recht annimmt. Dieser Stil wird von Trumps Nachfolgern sicherlich modifiziert werden; aber es wird hinreichend viel von ihm übrigbleiben, um die liberale Hegemonie, gerade in Fragen des Handels, zu unterminieren, bzw. zu ergänzen mit einem Herrschaftsstil wie er in Imperien gehandhabt wird (Tuschhoff 2019). Anders kann man auch die direkten Beleidigungen, die der amerikanische Präsident in umfassender Weise gestreut hat, nicht verstehen. Davon wird genug übrigbleiben, um tatsächlich eine neue Form von „US-amerikanischer Weltherrschaft“ zu etablieren. Selbige steht nämlich sowieso – also unabhängig vom Trumpschen Stil – auf der Tagesordnung. Bedingt ist dieser Wandel dadurch, dass nicht mehr die Warenströme der Maßstab von internationalem Einfluss sein werden, sondern die Finanzialisierung der Welt. Mit mehr oder minder großer Schadenfreue hatte man in den 1970er Jahren darauf verwiesen, dass die USA eine Weltmacht „in decline“ – also im Abstieg – seien, weil sie durch die Ölkrisen dieses Jahrzehnts in ihrer industriellen Basis getroffen worden waren (Kennedy 1987). Manufakturprodukte der USA waren auf dem Weltmarkt nicht mehr so präsent; die Deutschen und die Japaner brachen in das Automobilgeschäft ein, usw. (Halberstam 1986). Was man nicht beachtete, jedenfalls nicht von wissenschaftlicher Seite, war, dass in den USA Alternativen zur Industrialisierung gesucht wurden (Seabrooke 2007). Industrieprodukte wurden seitdem in beachtlichem Umfang in Asien hergestellt, vor allem in Südkorea, Malaysia und Indonesien – später dann in großem Stil in China. Die USA verlangten im Austausch Zugang zu den Börsen asiatischer Länder – der Neoliberalismus brach an (Dezaley/Garth 217
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2002, S. 73ff.). Präsident Nixon hatte bereits Anfang der 1970er Jahren die Weichen für normale diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China gestellt und ein Großteil US-amerikanischer Geschäfte entwickelte sich mit Darlehen und Kreditfinanzierungen durch den „International Monetary Fond“ (IMF), den Internationalen Währungsfond, zu deutsch IWF. Kreditgewährung und Währungsstabilisierungen, resp. deren Destabilisierung wurden zu den bedeutendsten wirtschaftlichen Transaktionen (Chinn/ Frieden 2011 und Tuschhoff 2019). Dabei spielten die Petrodollars, die mit dem Aufstieg der Öl fördernden Nationen vor allem am Persischen Golf angefallen waren, eine herausragende Rolle. Die Industrialisierung ging mithin ihren Gang; aber auf anderen Ebenen ereigneten sich die nunmehr strukturell wichtigen Wirtschaftsabläufe. Toozie weist zu Recht daraufhin, dass die USA mithin durch die Ölkrise sowie durch andere Krisen keinesfalls an Macht eingebüßt hatten, sondern im Gegenteil gestärkt aus diesen Umbrüchen hervorgegangen waren. Ein zentraler Punkt dabei war der Schulterschluss vor allem mit Saudi-Arabien, dem größten Ölförderer der Welt, sowie mit den anderen Ölförderstaaten gerade am Golf – außer mit Iran, das am Ende der 1970er Jahre eine neue religiös-politische Identität anstrebte und sich in direkten Gegensatz zu den USA brachte. Auch dieser „Abfall“ des Irans aus dem „westlichen“ Lager wurde als Schwächung der USA perzipiert – wobei langfristig gesehen der Iran sich selbst schwächte. Verkehrte Sichtweisen auf die Gestaltungsmöglichkeiten der USA im internationalen Geschehen hielten auch weiterhin an. Der internationale Terrorismus sowie der misslungene Irakkrieg wurden weltweit abschätzig als Zeichen US-amerikanischen Niedergangs wahrgenommen. Dabei kommt den Kriegsführungen der USA eher die Funktion einer Informationsbeschaffung, resp. einer Destabilisierung zu. „Nation building“ ist „out“, wenngleich
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nicht in den inneramerikanischen ideologischen Gefechten. Seit dem Staatsstreich in Indonesien in 1967 – parallel zum Vietnamkrieg – und in Chile, 1973, destabilisieren die USA Staaten oder Regionen – und beobachten, was dabei herauskommt (Klein 2010, S. 364ff.). Mit Blick aber auf die Möglichkeiten finanzieller Beteiligung am Nachkriegsgeschehen. Die Sichtweise auf die USamerikanischen Aktivitäten von Westeuropa aus waren getrübt durch die Perzeption einer Fülle von Fehlern im Detail, wodurch aber der größere Zusammenhang nicht erkannt wurde. Das prägte auch die Wahrnehmungen zur Immobilienkrise von 2008. Auch hierbei war das Hauptaugenmerk auf die massiven Trillionen Dollarverluste durch den Zusammenbruch des Schwindelmarktes an Immobilien, vor allem in den USA, gerichtet. Toozie weist in seiner bahnbrechenden und atemberaubenden Studie „Crash“ nach, dass der Zusammenbruch von Krediten nur ein Teilaspekt dieser Finanzkrise war. Zentral wurde der Aspekt, dass der internationale Austausch nicht ins Stocken kommen durfte und durch die Krise nicht „strukturell“ getroffen wurde. Trillionen an Dollar gingen verloren, so kann man folgern, ohne dass dies großen Schaden anrichtete, denn die großen Besitzer jener faulen Immobilien konnten dies verkraften. Der neue US-Präsident Obama war in der Lage, die Situation zu verstehen, und reagierte mit TARP (Troubled Asset Relief Program) adäquat, während der Präsident der Federal Reserve, Bernanke, die wirklichen Gefahren bannte, nämlich das Stocken des Weltzahlungsverkehrs. Die große Gefahr bildeten nach Toozie die „swaps“, also die getauschten Währungen. Es war üblich geworden im Handels- und Finanzverkehr, ausländische Währungen im großen Stil zu halten oder abzustoßen. Man machte Geld mit Geld. Reichtum wurde damit ohne Produktion geschaffen oder verloren. Dieser Prozess stoppte nunmehr, und darin lag nach Toozie eine große Gefahr. Denn ein solcher Stopp hätte den Wirtschaftsablauf weltweit durch Kettenreaktionen zu219
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sammenbrechen lassen können. Bernanke und sein Stab erkannten diese Gefahr unmittelbar und reagierten auch ohne Rückkopplung zur Regierung. Zentralbanken sind autonom (souverän?)! Die Banker der Federal Reserve statteten im Eilverfahren sämtliche ausländischen Zentralbanken mit frisch geschaffenen Dollars aus, so dass der Dollar momentan zur Währung of „last resort“ wurde. Der Dollar wurde zur Weltwährung und alle betroffenen Nationen reagierten darauf höchst erleichtert. Soweit ich es verstehe war Putins Russland die einzige Nation, die über genügend Dollar verfügte, um keine Zahlungsschwierigkeiten zu haben. Damit wurden die USA zu etwas, das sie von der Sache her schon längst waren: zur Garantiemacht für die Stabilität der Weltwirtschaft als einer Finanzwirtschaft. Was wird Trump daraus machen? Er wird sicherlich diese Funktion seiner Nation nicht brechen wollen; aber er könnte behindernd eingreifen. Denn hätte Bernanke Dollars nur geliehen an solche Nationen, die USA-freundlich waren, wäre dies ein Fiasko geworden. Trump rüttelt schon seit Beginn seiner Präsidentschaft an der Autonomie der Federal Reserve. Ist „America first“ eine Gefahr für die USA oder die Weltwirtschaft? Bei näherem Hinsehen wohl nicht. Denn America first, bedeutet ja nicht, das es nicht auch „second“ oder „third“ geben kann. Second z. B. Großbritannien nach dem Brexit – Heimkehr in das alte anglo-amerikanische Großreich? Third: Natopartner wie Polen, usw. Auch ohne eine Kultur der Hegemonie kann es internationale Zusammenarbeit geben. Trump wird dies in begrenzter Weise auch machen, allerdings immer im gleichen Atemzug mit seiner Vorliebe für „disruption“ (Lake 2018). Demokratische Präsidenten werden „disruption“ nicht favorisieren, allerdings sind ihre Handlungsspielräume begrenzt, weil sie immer in einer Festung eingeschlossen sind. Aber „normale“ Republikaner können auch wieder die Vorteile einer „open economy“ schätzen lernen.
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Insgesamt ist mit dieser eher beruhigenden Sichtweise aber nicht garantiert, dass die Weltpolitik stabil ist. Finanzialisierung ist, wie die Immobilienkrise angezeigt hat, nicht stabil. Die Offshore-Konten bedeuten für Investitionen und stabile Wirtschaftsentwicklung nichts Beruhigendes (Ziegler 2016). Gleichermaßen wird der technologische Wandel durch Digitalisierung und das Ende der bisherigen Automobilgesellschaft ohne Brüche auch nicht abgehen. Diese Perspektive wird durch die kühnen Unternehmerphantasien a la USA, die ihre Banken nur minimal abgesichert haben (Ziegler u. a. 2016 und Scherrer 2015, S. 257ff.), noch untermauert. Eine Stabilisierung des „administrative state“ der USA, im Sinne einer professionellen Führung, wäre in hohem Maße ein Erfordernis der Zeit.
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Forschungsdesiderate bleiben: Ist meine Rekonstruktion amerikanischer „Weltherrschaft“ haltbar? Gibt es Alternativen zur „last resort“-Rolle des anglo-amerikanischen Weltsystems? Nicht erwähnt wurde bisher, ob die Coronakrise nicht Vorteile für eine partiell entglobalisierte Welt haben könnte (Globalisierung so viel wie nötig; Entglobalisierung so viel wie erforderlich! verbleibender Rest ist open economy?) Das amerikanisch-englische Weltsystem besteht lediglich als eine empirische Anhäufung; die innere Logik zu einem Imperativ einer absoluten Einheit gibt es wohl nicht. Aber auch die empirische Konstruktion der Einheit der englischsprachigen Welt ist in sich selbst beeindruckend und beängstigend, denn nicht nur die Kernstaaten USA und Brexit-England gehören dazu sondern auch – in ihrer Wichtigkeit – Saudi-Arabien, Indien, Australien, die Golfstaaten, Südkorea, Indonesien, Malaysia, Kanada, Neuseeland, Südafrika, zwangsweise wohl auch das meiste von Südamerika, sicherlich auch Polen. Außerdem die Plätze wo die Hedgefonds lagern. Damit bleiben als weitere Zentren (in ihrer Wichtigkeit:) China, Russland sowie die EU. Letztere besteht aus einer Koalition der Willigen, die sich eng an die Achse Frankreich/Deutschland/Japan/ Italien anschließen. –Vor allem aus Angst vor den gar zu Großen. Dazu könnten gehören z. B. Kuba, Venezuela und Brasilien. 223 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Schissler, Strukturen und Prozesse US-amerikanischer Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31729-4_7
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Damit käme der EU die Aufgabe zu, die sie jetzt schon hat. Sie würde das Empire der multilateralen Friedfertigkeit auf jeden Fall halten und bewahren wollen. Dem könnten sich Neutrale zuordnen – wenn ihnen von den anderen drei (oder vier) Zentren dies erlaubt würde. Sie könnten auf der Venus siedeln und versuchen einen Transport auf den Mars hinauszuschieben. Dem US-Herrschaftsraum käme die größte Bedeutung zu. Er gibt neben seiner brutalen militärischen Macht zugleich auch eine Reichtumsgarantie. Alle Reichen der Welt wären dort Dollar-Staatsbürger – sofern sie wollen. Ihre Einlagen in Dollars auf all den Plätzen, die derzeit bekannt sind, einschließlich Brexit-Britanniens (ohne Schottland). Man kann leicht zu solchen Prognosen kommen, wenn man dem Gang der atemberaubenden kapitalistischen Industrialisierung, vor allem auf dem nordamerikanischen Kontinent, folgt bis zu seinem rasanten Ergebnis: der Landung in einem finanzkapitalistischen System. US-amerikanische Großunternehmer wie Rockefeller und Carnegie haben das recht schnell begriffen und in die Tat umgesetzt. Das Bankhaus Morgan hatte den Weitblick, über die anstehende Organisierung dieser einzigartigen kapitalistischen Zusammenballungen die weltpolitische Bedeutung seiner Aktionen zu begreifen. Dabei blieb es notwendig, dem „basic law“ der US-amerikanischen Entwicklung, nämlich der liberalkapitalistischen Form dieser Entwicklung treu zu bleiben, sich immer erneut den Wandlungsprozessen anzupassen. Dazu gehörte, dass, wie auch immer der Wandel vonstatten ging, am Ende musste die Regel gelten, dass nur der wirtschaftliche Erfolg zu einem Status in der Gesellschaft befähige. Die Sklavenhaltergesellschaft des Südens wäre in diesen Wandel mit eingepasst worden. Eine Evolution hin zu einer liberalen Gesellschaft wäre wohl genauso möglich gewesen wie die Abschaffung der großen Kolonialreiche, die auch Systeme der Zwangsarbeit
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darstellten. Möglicherweise wäre den USA damit das Übel erspart worden, dass sie mit der Abschaffung der Sklaverei in der Folge mit einem immer wieder erneut zu kreierenden Rassismus belastet würden. Sie hat sich damit der Möglichkeit beraubt, eine nach dem Bild des Liberalismus „freie Gesellschaft“ zu werden. Wie krass ihr „law and order“-System damit über die Jahrzehnte dahinkroch und immer wieder neue Nuancen der Diskriminierung schuf, ist in der Geschichte nach dem Bürgerkrieg deutlich geworden. Die Erweiterungen der Gesellschaft auf dem nordamerikanischen Kontinent haben eine imposante Mittelstandsgesellschaft geschaffen, die sowohl mittels Demokratie wie auch mittels Konsum Lebenschancen verbessern half, haben aber keine befriedigende Zivilgesellschaft geschaffen. So groß auch die Vergesellschaftung des Kapitals in Aktien zu dem Mythos der einzigartigen US-amerikanischen Partizipationsgesellschaft beitrug, nach allen glänzenden Errungenschaften der Entwicklung tauchte immer wieder der Strukturzwang auf: Alles ändert sich und alles bleibt das Gleiche! Es gibt reiche Schwarze – aber es gab immer erneut, nicht nur in den Südstaaten, bewusste Ausgrenzungen: in der Gesellschaft (weiße und schwarze Lokale und Toiletten; Housing, also schwarze Ghettos, Ausbildung in Schule, Beruf und Hochschulen, Heiratsverhalten, Strafsysteme – siehe oben Kapitel 3). Nicht einmal im Militär gab es die Chancengleichheit, obwohl dort die Möglichkeit geschaffen war, für die USA zu sterben. Seit Jahrzehnten gibt es das System, dass die Polizei in einem regelrechten Mobverhalten vor allem schwarze Männer und Jugendliche so verfolgt, dass deren Chancen auf einen normalen Beruf äußerst eingegrenzt werden. Die „disruption“ (Verkrüppelung) von Institutionen wurde seitens der Republikanischen Partei zu einer Kunstfertigkeit ausgebildet, die letztlich die für das Funktionieren des Sozialstaates notwendigen Institutionen zu verkümmern erlaubte. Dies geschah systematisch seit der Deindustrialiserung der 1970er Jahren und wurde beson225
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ders seit Präsident Reagan zu einer Regelmäßigkeit. Diese bewußte Funktionsstörung einer wesentlichen Daseinsvorsorge wurde zynisch inszeniert mit dem Ziel die Lebenschancen der unteren Schichten (weiß und schwarz) einzugrenzen. In der Opioid- sowie in der Coronakrise ist dieser geschaffene Mangel ganz offenbar geworden – obwohl natürlich keine kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Krisen und der Republikanischen Partei bestehen. So paradox es klingen mag – die beiden Gesundheitskrisen, zugleich Krisen des Gesundheitssystems in Zusammenhang mit den offenbar gewordenen rassistischen Praktiken der Polizeibehörden und der Drogenkontrolle und deren Strafverfolgungsbehörden, eröffnen Chancen für eine Reformbewegung gegen diese unwürdigen Zustände bei unserer bedeutsamsten Zivilisationsmacht der letzten 200 Jahre. Jedoch, meine Ausführungen in Kapitel 5 zeigen auch auf, dass die amerikanische Demokratie in Sachen öffentliche Meinungsbildung sehr horizontal gegliedert ist. Das heißt, es wird für die Reformbewegung schwierig werden, große durchschlagende Erfolge, gleichsam in einem „Durchmarsch durch die Institutionen“ zu erzielen. Hilfreich wäre vielleicht auch eine Unterstützung, die von dem Oberwächter der amerikanischen Demokratie, nämlich dem Supreme Court und von einem Präsidenten der Demokratischen Partei ausgehen würde. Aber auch in diesem Falle legt meine Analyse nahe, dass Politik in den USA die Grenzen der Einzelstaaten überwinden muss und zudem auch noch die Spezifika der Regionen zu berücksichtigen hat. Der alte Nordosten (New England) der Union, der früher die verhängnisvolle protestantische Politik des Abolitionismus initiierte, könnte jetzt durchaus hilfreich sein, einen Schub an Reform in den Rassenfragen mit zu erzielen. Jedoch ist bei solchen Prognosen Vorsicht geboten, denn Aktionen von Regionen lösen häufig Gegenreaktionen aus. In diesem Fall wäre wieder der Süden mit im Spiel. Diese regionalen Aktions- und
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Reaktionsspiele in den USA verhindern z. B. (im Zusammenspiel mit dem Mehrheitswahlprinzip), dass soziale Bewegungen sich in großem Stil durchsetzen können. Es gibt nur die zwei Parteien in den USA, die gezwungen sind sich in kreuzzugsartigen Kämpfen zu duellieren. Das ist Lincoln und seiner Strategie zu verdanken, dass es keine „zwei Prinzipien“ geben dürfe (Gould 2014). Bei geschicktem Kooperations- und Diskursverhalten der Reformbewegung – den fortschrittlichen Kräften in den USA – kann es sicherlich gelingen, „diesmal“ wirklich Veränderungen zu erreichen. Jedoch hat bei einigen Wortführern, wie seinerzeit bei den Abolitionisten und den radikalen Republikanern die Reinheit der eigenen Moral einen solchen Vorrang, dass sie in entscheidenden Momenten nicht auch mal schweigen können. Es ist menschlich zu verständlich, dass man der eigenen Moral endlich auch zum Ausdruck verhelfen will und opportunistischer Pragmatismus (Novak 2008) den Kürzeren zieht. Insofern sind im Moment die Reformer nicht nur auf der siegreichen Schiene der Geschichte sondern unter Umständen auch ihre größten Feinde. Bei alledem spielen die Manöver und kurzweiligen Einlassungen von Präsident Trump hinsichtlich dieser Reformen sowie hinsichtlich des Welthandels eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil, Trumps Überzeugungen können helfen, eigene Positionen klarer zu sehen und zu formulieren. Dass dieser Präsident aber auch in gewissen Situationen ein gefährliches Spiel spielen kann, steht außer Zweifel. Er ist ein Gewinnertyp, der mit Bluff aber auch mit hohem Einsatz sein Ziel einer Wiederwahl erzwingen will. Langfristig werden die USA sich überlegen müssen, ob sie win/ win-Spiele oder „the winner takes it all“-Spiele spielen wollen (Lee 2019 und Phillips 1990, S. 154ff.).
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