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German Pages 382 Year 2021
Alexander Pionteck Stärkung der Tarifautonomie
Alexander Pionteck
Stärkung der Tarifautonomie
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen hat diese Arbeit im Wintersemester 2020/2021 als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-11-073952-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073611-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073613-7 Library of Congress Control Number: 2021933486 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorwort Die Stärkung der Tarifautonomie beschäftigt die Arbeitsrechtswissenschaft schon seit etlichen Jahren. Auch nach Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes 2014 blieb die Stärkung der Tarifautonomie stets ein arbeitsrechtlicher Dauerbrenner und ein rechtspolitisch wünschenswertes Ziel. Zu nennen sind etwa die Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentags in Hannover 2014. Zuletzt haben sich namhafte Vertreter der Arbeitsrechtswissenschaft anlässlich des 27. Kolloquiums der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände mit möglichen Ansätzen zur Gestaltung des Tarifsystems auseinandergesetzt. Die Debatte währt gleichwohl fort. Die Stärkung der Tarifautonomie hat sich als ein schwieriges Unterfangen erwiesen. Zielkonflikte prägen den Diskurs. Ungeachtet dessen fasziniert das Thema angesichts seiner multitheoretischen Komplexität, weil es dem Wissenschaftler vielfach die Einnahme interdisziplinärer Perspektiven abverlangt. Die Berücksichtigung historischer, soziologischer, juristischer sowie rechtsetzungstheoretischer Implikationen haben sich als unerlässlich erwiesen. Die vorliegende Arbeit soll in diesem Sinne einen Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie leisten. Die Arbeit wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen im Wintersemester 2020/2021 als Dissertation angenommen. Rechtsprechungs- und Schrifttumsnachweise konnten bis einschließlich Januar 2021 berücksichtigt werden. Dank gebührt all jenen, die mich auf so vielfältige Weise unterstützt haben: Zunächst gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Wolf-Dietrich Walker, der mir zu jedem Zeitpunkt der Bearbeitung mit Rat zur Seite gestanden hat, ohne mir dabei den nötigen Freiraum zur eigenen wissenschaftlichen Entfaltung zu nehmen. Auf diese Weise hat er maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Frau Professorin Dr. Lena Rudkowski danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Dank gebührt aber auch Herrn Professor Dr. Stefan Greiner, der mich während meiner Beschäftigung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wissenschaftlich gefördert und die Entstehung dieser Arbeit durch anregende Gespräche unterstützt hat. Mein Dank gilt dabei auch meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für die gute Zusammenarbeit und ihre ebenso hilfreichen Anregungen. Herrn Hagen Trübenbach bin ich in Dank für eine langjährige Freundschaft, konstruktive Fachgespräche und seine wertvolle Korrekturarbeit sowie gewissenhafte Durchsicht des Manuskripts verbunden.
https://doi.org/10.1515/9783110736113-001
VIII
Vorwort
Die Drucklegung dieser Arbeit wurde von renommierten Sozietäten gefördert und unter anderem seitens der Rechtsanwaltskanzlei Pinsent Masons LLP (Düsseldorf) großzügig bezuschusst. Der letzte Dank gilt meiner ganzen Familie. Hervorzuheben sind dabei zunächst meine Großeltern, die mit Zuspruch und Zuversicht zum Gelingen dieser Arbeit entscheidend beigetragen haben. Der größte Dank aber gebührt meinen Eltern, ohne die das Entstehen dieser Arbeit in keiner Weise denkbar gewesen wäre. Sie haben mich auf meinem bisherigen Weg in jeder Lebenslage unermüdlich unterstützt und gefördert. Diese Arbeit ist ihnen von ganzem Herzen gewidmet. Gießen, im Februar 2021
Alexander Pionteck
Inhaltsübersicht Abkürzungsverzeichnis
XXI
Kapitel 1: Einführung 1 § Rechtspolitische Ausgangslage 1 § Gegenstand und Gang der Untersuchung
4
Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen § Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung § Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische 16 Skizzierung § Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen § Zusammenfassung von Kapitel 2 und Schlussfolgerungen
9 9
27 53
Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie 55 § Weichenstellung: der Ursprung der normativen Wirkung des 56 Tarifvertrags § Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen 81 Tarifautonomie § Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 3
116
Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz 119 § Differenzierung: empirischer und rechtlicher Zustand der 120 Tarifautonomie § Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OTMitgliedschaften? 122 § Einordnung und Bewertung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes 176 § Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 4
250
Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie 253 § Gesetzlicher Spanneneffekt 255 § Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft 273 § Differenzierung auf Arbeitgeberseite und tarifdispositives Gesetzesrecht 294 § Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung? 318 Kapitel 6: Zusammenfassende Thesen und Empfehlungen
337
X
Inhaltsübersicht
Literaturverzeichnis
343
Inhalt Abkürzungsverzeichnis
XXI
Kapitel 1: Einführung 1 § Rechtspolitische Ausgangslage 1 4 § Gegenstand und Gang der Untersuchung I. Ein dreigeteilter Untersuchungsgegenstand II. Methodisches Vorgehen und Verortung des Untersuchungsgegenstandes 5 5 . Rechtsdogmatik . Rechtssoziologie und Rechtspolitik 6 III. Gang der Untersuchung 6
4
Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen 9 § Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung 9 9 I. Begriff und Funktionen der Tarifautonomie . Schutz- und Verteilungsfunktion 11 . Ordnungs- und Befriedungsfunktion 12 13 . Faktische Kartellwirkung des Flächentarifvertrags II. Tarifautonomie als Verfassungswert 14 . Tarifautonomie als Ausfluss kollektiver Betätigungsfreiheit 14 . Tarifautonomie zwischen Ausgestaltung und Eingriff 14 15 . Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit § Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische Skizzierung 16 I. Die Entwicklungslinien der Tarifautonomie bis 1871 16 . Der Beginn kapitalistischer Produktionsweise als Ausgangspunkt 17 . Preußische Koalitionsverbote 17 II. Tarifautonomie im Deutschen Kaiserreich 19 . Bismarcksche Sozialistengesetzgebung 19 . Tarifautonomie im Aufschwung 20 III. Tarifautonomie in der Weimarer Republik 20 . Hugo Sinzheimer als Architekt des Tarifvertragssystems 21 . Die erste „Blütezeit“ der deutschen Tarifautonomie 22 a) Tarifvertragsverordnung 22 b) Verfassungsrechtliche Verankerung 23 IV. Tarifautonomie in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus 23
XII
Inhalt
V.
§
Tarifautonomie im Nachkriegsdeutschland (seit 1945) 24 24 . Der Neuaufbau der Gewerkschaften . Erneute Kodifizierungen 25 . Tarifpolitische Erfolge 26 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen 27 27 I. Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften . Mitgliederentwicklung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 28 . Mitgliederzahlen bei sonstigen Gewerkschaften: DBB und Marburger Bund 29 30 . Mögliche Ursache: fehlende ökonomische Anreize? . Sinkende Tarifbindung der Arbeitnehmer 31 II. Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge 32 . Motivation: Ordnungswirkung und Schwächung der 33 Gewerkschaften? . Empirie und Relevanz für die Untersuchung 34 34 III. Differenzierungsklauseln im Tarifvertrag . Motivation: Lösung der Trittbrettfahrerproblematik? 35 . Empirie und Relevanz für die Untersuchung 35 IV. Mitgliederschwund bei den Arbeitgeberverbänden? 36 . Anhaltspunkt: Mitgliederentwicklung des Arbeitgeberverbands 37 Gesamtmetall . Mögliche Ursachen: Flexibilisierung und Tarifflucht 37 38 . Sinkende Tarifbindung der Arbeitgeber V. OT-Mitgliedschaften 39 . Motivation 40 . Empirie und Relevanz für die Untersuchung 40 VI. Die zunehmende Bildung von Spartengewerkschaften 41 VII. Die Reaktionen des Bundesgesetzgebers 43 . Das Tarifautonomiestärkungsgesetz 43 a) Erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung 43 b) Erweiterte Gestaltungsfreiheit für Rechtsverordnungen nach dem AEntG 45 c) Flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn 47 48 . Das Tarifeinheitsgesetz a) Die Einführung des § 4a TVG 48 b) Motivation: Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie 50 c) Die Entscheidung des BVerfG vom 11. Juli 2017 50
Inhalt
§
VIII. Quintessenz: Tarifbindung im Fadenkreuz 52 Zusammenfassung von Kapitel 2 und Schlussfolgerungen
XIII
53
Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie 55 § Weichenstellung: der Ursprung der normativen Wirkung des 56 Tarifvertrags I. Staatlich-delegatorische Ansätze 57 57 . „Klassische“ Delegationstheorie . Integrationstheorie 58 II. Autonomietheoretische Ansätze 59 59 . Die vorstaatliche Autonomietheorie . Legitimations- und Anerkennungstheorie 59 . Rechtsgeschäftliche Ansätze 61 63 III. Synergetische Ansätze . Die Sanktionstheorie 63 . Der „dynamische“ Kombinationsansatz 64 IV. Die normativen Wirkung des Tarifvertrags im Spiegel der 64 Rechtsprechung . Die Rechtsprechung des BVerfG 64 . Die Rechtsprechung des BAG 66 66 a) Delegationstheorie b) Paradigmenwechsel: die Akzeptanz der Legitimationstheorie 66 67 V. Stellungnahme . Erklärungsdefizite der rechtsgeschäftlichen Ansätze 68 . Möglichkeit privater Normsetzung 69 . Erklärungsdefizite der staatlich-delegatorischen Ansätze 71 . Erklärungsdefizite der autonomietheoretischen Ansätze 72 . Erklärungsdefizite der synergetischen Ansätze 73 . Ein Plädoyer für die Legitimationstheorie – Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie 74 VI. Folgen für die Grundausrichtung des Tarifsystems 77 . Auf Mitgliedschaft basierende Tarifautonomie 78 . Begrenzte Ordnungsfunktion der Tarifautonomie 79 . Keine Legitimation zur Regelung von AußenseiterArbeitsverhältnissen 80 . Privatautonomer Koalitionspluralismus 80 . Mittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien 81
XIV
§
Inhalt
Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie 81 82 I. Faktor 1: die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers . Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags 82 . Verfassungsrechtliche Implikationen 83 . Einfachgesetzlicher Ausdruck gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 84 TVG . Das Erfordernis der Tariffähigkeit 85 86 a) Die Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition b) Stellenwert der Gewerkschaftsmitgliedschaft im Spiegel der Rechtsprechung 87 c) Erkenntnisse und Rückschlüsse für eine funktionsfähige 89 Tarifautonomie d) Tariffähigkeit und Tarifautonomie – ein Widerspruch? 89 90 . Die Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags II. Faktor 2: die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers 92 . Rechtsdogmatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur 92 Mitgliedschaft der Arbeitnehmer . Einwand: der einzelne Arbeitgeber als Tarifakteur i.S.d. § 2 Abs. 1 TVG 93 a) Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers 93 94 b) Der idealtypische Vorrang des Flächentarifvertrags III. Faktor 3: Interessenpluralität durch repräsentative Tarifverträge 96 97 . Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags . Ausgangspunkt: Koalitionspluralismus aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG 98 . Vom Koalitionspluralismus zum Gewerkschaftspluralismus 99 . Vom Gewerkschaftspluralismus zur Tarifpluralität 100 IV. Faktor 4: der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs 101 . Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags 102 . Verfassungsrechtliche Verankerung 102 . Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs nach § 77 Abs. 3 BetrVG 103 V. Faktor 5: Vorrang der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormgeltung 104 105 . Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags . Außenseiterwirkung von Tarifnormen und gegenläufige Verfassungsprinzipien 106 a) Demokratieprinzip 106 b) Arbeitsvertragsfreiheit 107
Inhalt
§
XV
c) Koalitionsfreiheit und negative Tarifvertragsfreiheit 108 . Einfachgesetzliche Verankerung des Regel-Ausnahme111 Verhältnisses a) Regelfall: Tarifnormgeltung gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG 111 111 b) Ausnahmetatbestände c) Systematische Erwägungen 114 114 VI. Das Verhältnis der Faktoren zueinander . Zusammenhänge 114 . Hierarchisierung 116 116 Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 3
Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz 119 § Differenzierung: empirischer und rechtlicher Zustand der 120 Tarifautonomie I. „Empirischer“ Zustand der Tarifautonomie 120 121 II. „Rechtlicher“ Zustand der Tarifautonomie § Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OTMitgliedschaften? 122 I. Einordnung und Bewertung der Differenzierungsklausel 123 124 . Erscheinungsformen der Differenzierungsklausel a) Die einfache Differenzierungsklausel 124 b) Die Spannenklausel 125 125 c) Die Tarifausschlussklausel d) Die Stichtagsklausel 126 . Differenzierungsklauseln im System der Tarifautonomie – perspektivische Betrachtungsweisen 127 . Differenzierungsklauseln im Spiegel der Rechtsprechung des BAG 128 a) Die einfache Differenzierungsklausel 129 b) Die Spannenklausel 132 c) Die Tarifausschlussklausel 133 d) Die Stichtagsklausel 133 . Stellungnahme 134 a) Zum Prüfungsmaßstab der Koalitionsfreiheit 136 b) Zum Prüfungsmaßstab einer negativen Tarifvertragsfreiheit 144 c) Zum Prüfungsmaßstab der Arbeitsvertragsfreiheit 145 d) Zum Prüfungsmaßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes 147
XVI
Inhalt
e) Rechtspolitische Folgerungen 148 149 II. Einordnung und Bewertung der OT-Mitgliedschaft . Rechtliche Konstruktion und Abgrenzung 150 . Die OT-Mitgliedschaft im System der Tarifautonomie 151 . Die OT-Mitgliedschaft im Spiegel der Rechtsprechung des 152 BAG a) Ausgangspunkt: Die Entscheidung des BAG vom 23. Februar 2005 152 b) Bestätigung und Fortführung: Die Entscheidung des BAG vom 18. Juli 2006 153 c) „Blitzwechsel“-Rechtsprechung: Die Entscheidung des BAG 154 vom 4. Juni 2008 d) Bestätigung und weitere Ausdifferenzierung der 155 Blitzwechselrechtsprechung e) Quintessenz 156 . Stellungnahme 157 157 a) Einfachrechtliche Grenzen b) Das Gebot der Verhandlungsparität als verfassungsrechtliche Grenze 163 c) Zur Rechtsfolge eines unwirksamen Wechsels in die OT168 Mitgliedschaft d) Rechtspolitische Bewertung: Dysfunktionalität der OTMitgliedschaft 173 175 III. Stärkung der Tarifautonomie als Aufgabe des Gesetzgebers § Einordnung und Bewertung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes 176 I. Die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung 177 . Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung 177 a) Schutzfunktion: Gewährleistung angemessener Mindestarbeitsbedingungen 178 b) Finanzierungsfunktion: Sicherung gemeinsamer Einrichtungen 178 c) Kartell- und Wettbewerbsfunktion? 179 d) Stärkung der Tarifautonomie? 180 . Dogmatische Probleme der Neuregelung von § 5 TVG 182 a) Zum Begriff des öffentlichen Interesses in § 5 Abs. 1 TVG 182 b) Zur Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über gemeinsame Einrichtungen 189 c) Schlussfolgerung 193
Inhalt
XVII
. Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Maßstäbe 194 a) Tarifnormerstreckung im Spiegel der Rechtsprechung des 194 BVerfG b) Verschärfter Konflikt mit verfassungsrechtlichen Wertungen? 202 211 c) Rechtfertigung und verfassungskonforme Auslegung . Rechtspolitische Bewertung: Schwächung der Tarifautonomie 225 II. Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns 226 . Zur tarifverdrängenden Wirkung des Mindestlohns, § 3 Satz 1 227 MiLoG a) Verfassungsrechtlicher Eingriff in die 227 Tarifautonomie? b) Rechtfertigung? 229 c) Rechtspolitische Kritik: Begrenzung des tarifautonomen 234 Regelungsbereichs . Zum Anpassungsverfahren, §§ 4 ff. MiLoG 234 a) Dogmatische Skizze 234 b) Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip? 236 241 c) Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitstheorie? d) Alternativvorschlag: der Gesetzesentwurf des Bundesrats 242 III. Die erweiterte Tarifnormerstreckung nach den Regeln des 243 AEntG . Zur Genese des AEntG 243 . Dogmatische Skizzierung des Rechtsverordnungsverfahrens für die Tarifnormerstreckung in anderen Branchen, §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG 245 . Verfassungsrechtliche Kritikpunkte 246 a) Verschärfter Konflikt mit dem Demokratieprinzip? 246 b) Kompensation durch zusätzliche Voraussetzungen? 247 . Rechtspolitische Kritik 249 § Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 4 250 Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie § Gesetzlicher Spanneneffekt 255 I. Vorschlag: Gesetzliche Absicherung des „Spanneneffekts“ II. Anforderungen an die gesetzliche Formulierung 258
253 256
XVIII
Inhalt
III. Kommentierung 259 259 . Abs. 1: Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln . Abs. 2: Gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts 260 . Abs. 3: Verantwortung der Gewerkschaften zur praktischen Umsetzung 261 261 IV. Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte . Die negative Koalitionsfreiheit als Prüfungsmaßstab 261 263 . Die Arbeitsvertragsfreiheit als Prüfungsmaßstab a) „Gemeinwohlbelang“ als maßgebliche Rechtfertigungshürde 264 265 b) Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie c) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 268 d) Keine Überschreitung der Tarifmacht 268 269 V. Praktische Abwicklung . Die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit als rechtspraktische Hürde 269 271 . Durchführungsmöglichkeit VI. Ergebnis 272 § Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft 273 I. Rechtstatsachen: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad im 273 europäischen Vergleich II. Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft 275 . Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen 275 277 . Einbindung in die Systeme der sozialen Sicherheit . Beteiligung an wirtschaftspolitischen Entscheidungen 278 III. Zentrale Erkenntnisse 278 IV. Das Genter-System als Möglichkeit zur Stärkung der Tarifautonomie? 279 . Das „historische“ Genter-System 280 a) Hinweise zur gesetzgebungstechnischen Implementierung 282 b) Verfassungsmäßigkeit 283 c) Rechtspolitische Kritik 288 d) Ergebnis 288 . Spielarten des Genter-Systems 289 a) Spielart 1: Differenzierung hinsichtlich der Beitragshöhe 289 b) Spielart 2: Ohne Differenzierung hinsichtlich der Beitragshöhe 292 V. Ergebnis 294
Inhalt
XIX
§ Differenzierung auf Arbeitgeberseite und tarifdispositives 294 Gesetzesrecht I. Mögliche Anknüpfungspunkte für eine Differenzierung 296 . Steuer- und Beitragslast 296 . Tarifdispositives Gesetzesrecht 297 II. Fokussierung: Tarifdispositives Gesetzesrecht als Maßnahme zur 298 Stärkung der Tarifautonomie? 298 . Wirkungsweise: Licht und Schatten a) Relativierung: Kompensationsgeschäfte und Richtigkeitsvermutung 300 302 b) Stärkung der Tarifautonomie? . Das „Trittbrettfahrerproblem“ auf Arbeitgeberseite 303 . Lösungskonzepte 305 a) Bisherige Vorschläge: Verknüpfung der Bezugnahme mit 305 Tarifbindung b) Eigener Vorschlag: Verknüpfung der Bezugnahme mit 310 Verbandsmitgliedschaft . Verfassungsrechtliche Grenzen 311 a) Negative Koalitionsfreiheit 312 b) Berufs- bzw. Unternehmensfreiheit und allgemeiner 316 Gleichheitssatz III. Ergebnis 318 § Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung? 318 319 I. Ewigkeitsbindung an Tarifverträge? . Phase 1: Die Nachbindung an Tarifverträge, § 3 Abs. 3 TVG 320 a) Reichweite und Grenzen der Nachbindung 320 b) Keine zeitliche Begrenzung de lege lata 322 . Phase 2: Die Nachwirkung von Tarifverträgen, § 4 Abs. 5 TVG 323 a) „Ablauf des Tarifvertrags“ 324 b) „Andere Abmachung“ 324 . Bewertung 326 a) Zur Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG 327 b) Zur Nachbindung gem. § 3 Abs. 3 TVG 328 329 II. Vorschlag: Gesetzliche Begrenzung der Nachbindungsdauer . Kriterien der Begrenzungsdauer 330 a) Ausgangspunkt: regelmäßige Dauer von Tarifverträgen 330
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Inhalt
b) Die ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG als zeitliche 331 Untergrenze c) § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Vergleichsgrundlage? d) Schlussfolgerung 334 . Fristbeginn und Jahresdauer als Maximalgrenze 334 335 . Formulierungsvorschlag III. Ergebnis 335 Kapitel 6: Zusammenfassende Thesen und Empfehlungen Literaturverzeichnis
343
337
332
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. Abs. AcP ADGB AEntG AGB Anm. AOG AP ArbG ArbGG ArbR ArbRAktuell ArbZG Art. Aufl. AÜG AuR AVE BAG BAGE BB Bd. BDA BDI BeckOK Beil. BetrVG BGB BGBl. BGH BRD bspw. BT-Drs. BUrlG BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG bzw. CDU CGB
anderer Ansicht alte Fassung Absatz Archiv für civilistische Praxis (Zeitschrift) Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Arbeitnehmer-Entsendegesetz Allgemeine Geschäftsbedingungen Anmerkung Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit Arbeitsrechtliche Praxis (Entscheidungssammlung) Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrecht Arbeitsrecht Aktuell (Zeitschrift) Arbeitszeitgesetz Artikel Auflage Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeit und Recht (Zeitschrift) Allgemeinverbindlicherklärung Bundesarbeitsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Bundesvereinigung der deutschen Industrie Beck′scher Online-Kommentar Beilage Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesrepublik Deutschland beispielsweise Bundestagsdrucksache Bundesurlaubsgesetz Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise Christlich Demokratische Union Christlicher Gewerkschaftsbund
https://doi.org/10.1515/9783110736113-002
XXII
CGM CGZP CSU d.h. DAG DB DBB DGB DSGVO e.V. EFZG EG EGMR EMRK EntgTranspG ErfK ESS etc. EU EuGH EuZA f. ff. Fn. FRV FS gem. GG ggf. GmbH GMG GRUR GS GTB HAG HK Hrsg. HSI i.S.d. i.V.m. IG IW jM JZ KJ LAG
Abkürzungsverzeichnis
Christliche Gewerkschaft Metall Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PersonalService-Agenturen Christlich Soziale Union das heißt Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Der Betrieb (Zeitschrift) Deutscher Beamtenbund Deutscher Gewerkschaftsbund Datenschutz-Grundverordnung eingetragener Verein Entgeltfortzahlungsgesetz Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Erklärung der Menschenrechte Entgelttransparenzgesetz Erfurter Kommentar European Social Survey et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht folgende fortfolgende Fußnote Frankfurter Reichsverfassung Festschrift gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Großer Senat Gewerkschaft Textil-Bekleidung Heimarbeitsgesetz Handkommentar Herausgeber Hugo Sinzheimer Institut im Sinne des (der) in Verbindung mit Industriegewerkschaft Institut der deutschen Wirtschaft juris – Die Monatszeitschrift Juristenzeitung Kritische Justiz (Zeitschrift) Landesarbeitsgericht
Abkürzungsverzeichnis
m.w.N. MiLoG MüHdB ArbR n.F. NJW NJW-RR NK-GA Nr. NZA NZA-RR NZS OT-Mitgliedschaft RAG RdA RG RGBl. Rn. S. s.o. s.u. SAE SGB SozialR SPD SR TVG TVVO TzBfG u.a. UrhG vgl. WRV WSI-Mitteilungen z.B. ZESAR ZfA ZIP ZPO ZRP ZSR ZTR
XXIII
mit weiteren Nachweisen Mindestlohngesetz Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport Nomos Kommentar – Gesamtes Arbeitsrecht Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Sozialrecht Mitgliedschaft ohne Tarifbindung Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit (Zeitschrift) Reichsgericht Reichsgesetzblatt Randnummer Seite siehe oben siehe unten Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sozialgesetzbuch Sozialrecht Sozialdemokratische Partei Deutschland Soziales Recht (Zeitschrift) Tarifvertragsgesetz Tarifvertragsverordnung Teilzeit- und Befristungsgesetz unter anderem Urheberrechtsgesetz vergleiche Weimarer Reichsverfassung Monatszeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans Böckler-Stiftung zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Sozialreform Zeitschrift für Tarifrecht
Kapitel 1: Einführung § 1 Rechtspolitische Ausgangslage Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949¹ und des Tarifvertragsgesetzes am 22. April 1949² erlebte die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland ihre Geburtsstunde. Sie bezeichnet das Recht der Tarifvertragsparteien, namentlich der Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Arbeitgeber, selbstständig die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen normativ zu regeln.³ Der Tarifautonomie geht jedoch eine lange und hart umkämpfte Geschichte voraus. Sie ist ein unter schwierigen Bedingungen historisch gewachsenes Recht, welches sich in der Vergangenheit stets aufs Neue behaupten musste. Sie hat maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Herstellung eines sozialen Friedens beigetragen. Besonders treffend und pointiert hat Jürgen Habermas, einer der wohl wirkungsvollsten deutschen Philosophen des 21. Jahrhunderts, die gesellschaftliche Bedeutung der Tarifautonomie beschrieben: „Die rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonflikts ist zur Grundlage einer reformistischen Politik geworden, die eine sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts herbeigeführt hat.“⁴ Heute ist die Tarifautonomie längst ein fester Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung und zudem in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verfassungsrechtlich verankert.⁵ Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen für das deutsche Tarifvertragssystem in den letzten Jahren und Jahrzehnten erheblich verändert: sinkende Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften⁶ und Arbeitgeberverbänden⁷, die häufige
BGBl. 1949, S. 1. WiGBl. 1949, S. 55 ff., 68.; siehe auch zur Neubekanntmachung am 25.08.1969, BGBl. I, S. 1323. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 47; Junker, ArbR, Rn. 21; vgl. ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 51. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 510. BVerfG, 09.05.1972 (1 BvR 518/72), BVerfGE 33, S. 125, 126 f. Siehe hierzu die statistische Darstellung des DGB, abrufbar unter http://www.dgb.de/uber-uns/ dgb-heute/gewerkschaften-im-dgb; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020; vgl. auch Biebeler/Haas, IW-Gewerkschaftsspiegel Nr. 3/2011 („Zukunft ohne Mitglieder?“), S. 1 und Schönhoven, Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme, in: Schröder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, S. 59, 71 f. Silvia, Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Unternehmerverbände, in Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, S. 249, 257 ff.; vgl. auch Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473 ff. https://doi.org/10.1515/9783110736113-003
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Kapitel 1: Einführung
Verwendung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen auf Tarifverträge⁸, die steigende Attraktivität von Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (sogenannte OT-Mitgliedschaften)⁹, der stetige Dualismus zwischen Tarifeinheit und Tarifpluralität¹⁰ sowie die zunehmende höchstrichterliche Akzeptanz von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen¹¹. Daher verwundert es nicht, dass sich Politik und Wissenschaft in den letzten Jahren wieder vermehrt mit dem Zustand der Tarifautonomie auseinandersetzten. In einem Punkt jedenfalls scheint weitestgehend Einigkeit zu bestehen: Die Tarifautonomie muss eine Stärkung erfahren. Dieser rechtspolitischen Ausgangslage hat sich insbesondere die Bundesregierung gewidmet und das „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ (Tarifautonomiestärkungsgesetz) auf den Weg gebracht, welches nun seit dem 16. August 2014 in Kraft ist.¹² Hierzu zählt die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die erweiterte Gestaltungsfreiheit für Rechtsverordnungen im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) sowie die Schaffung eines Mindestlohngesetzes (MiLoG). Folgt man der Programmatik des Bundesgesetzgebers, bezwecken ebendiese einzelnen Maßnahmen eine „Stärkung der Tarifautonomie“. Auch das am 10. Juli 2015 in Kraft getretene „Gesetz zur Tarifeinheit“ (Tarifeinheitsgesetz) verfolgt nach Angaben der Bundesregierung das Ziel, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ zu sichern.¹³ Darüber hinaus wurde die rechtspolitische Ausgangslage der „Stärkung der Tarifautonomie“ auch auf dem 70. Deutschen Juristentag (16.09.-19.09. 2014) von der arbeitsrechtlichen Fachabteilung mit dem Thema „Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?“ in den Fokus genommen. Der ehemalige vorsitzende Richter am BAG Klaus Bepler präsentierte im Rahmen seines Gutachtens zahlreiche Vorschläge, die aus seiner Sicht zu einer Stabilisierung des Tarifsystems
ErfK/Preis, BGB, § 310 Rn. 80a; siehe zur näheren empirischen Untersuchung Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 17 ff., 22 ff., 25. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 3; vgl. auch Behrens/Helfen, WSI-Mitteilungen 2016, S. 452, 453. Insbesondere die Aufhebung des richterrechtlichen Grundsatzes der Tarifeinheit durch BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), BAGE 135, S. 80 ff. und die daran anknüpfende gesetzgeberische Wiederherstellung durch das Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes (§ 4a TVG) am 10.07. 2015, BGBl. I, S. 1130. Mittlerweile hat das BVerfG festgestellt, dass das „Tarifeinheitsgesetz weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar“ ist, BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915 ff. Zu einfachen Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.; zu Stichtagsklauseln jüngst BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388 ff. BGBl. I, S. 1348. BT-Drs. 18/4062, S. 1.
§ 1 Rechtspolitische Ausgangslage
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beitragen werden.¹⁴ Aber auch andere rechtswissenschaftliche Autoren griffen in den letzten Jahren immer wieder aufs Neue die Frage nach der Stärkung bzw. der Schwächung der Tarifautonomie auf.¹⁵ So groß die Einigkeit in der Frage nach dem „Ob“ der Stärkung der Tarifautonomie auch ist, so uneinig ist man sich bei der Frage, „wie“ dieses hehre Ziel erreicht werden kann. Die Vorstellungen über geeignete Maßnahmen zur Stabilisierung des Tarifsystems gehen weit auseinander. Diese Uneinigkeit zeigt sich zunächst daran, dass sich die arbeitsrechtliche Fachabteilung des 70. Deutschen Juristentags nicht auf einen gemeinsamen Beschluss mit Empfehlungen zur Stärkung der Tarifautonomie verständigen konnte. Genau das ist jedoch die satzungsgemäße Aufgabe des Deutschen Juristentags e.V.¹⁶ In der Regel unterbreitet jede Fachabteilung dem Gesetzgeber ganz konkrete Gesetzesvorschläge. So bedauerte der Vorsitzende der arbeitsrechtlichen Fachabteilung Martin Henssler stattdessen: „Die Abteilung hat auf diese Weise auf die Chance verzichtet, die künftige tarifrechtliche Entwicklung mitzugestalten.“¹⁷ Aber auch die immer lauter werdende rechtswissenschaftliche Kritik am Tarifautonomiestärkungsgesetz¹⁸ und am Tarifeinheitsgesetz¹⁹ offenbart in besonderer Weise die rechtspolitische Kontroverse rund um die Frage, wovon Stärke und Schwäche der Tarifautonomie im Einzelnen abhängen. Nicht zuletzt wird das Tarifautonomiestärkungsgesetz von seinen Kritikern kurzer Hand sogar in ein „Tarifautonomieschwächungsgesetz“ umbenannt.²⁰ Manch einer spricht im Zusammenhang mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz sogar von „Propaganda“.²¹ Andere wiederum halten dem entgegen, dass der Titel des Tarifautonomiestärkungsgesetzes „alles andere als ein Re-
Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 9 ff. Zuletzt: Hartmann, ZfA 2020, S. 152; Höpfner, ZfA 2020, S. 178 und Waltermann, ZfA 2020, S. 211. Siehe aber auch: Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27; Reichold, NJW 2014, S. 2534 ff.; Seiwerth, RdA 2014, S. 358 ff.; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, insbesondere S. 19 ff. Siehe hierzu § 22 Abs. 2 der Satzung des Deutschen Juristentags; abrufbar unter https:// www.djt.de/wp-content/uploads/2020/03/djt_satzung.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Sitzungsberichte – Referate und Beschlüsse zum 70. Deutschen Juristentag, Bd. II/1, K 109. Henssler, RdA 2015, S. 43; Lobinger, JZ 2014, S. 810; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 1 ff. Siehe kritisch zum Tarifeinheitsgesetz (insbesondere zu § 4a TVG) und zur diesbezüglichen Entscheidung des BVerfG nur Rieble, NZA 2017, S. 1157 ff. und Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, S. 1149 ff. Zurückzuführen auf eine Aussage von Roland Wolf von der BDA auf dem 70. Deutschen Juristentag, Sitzungsberichte – Referate und Beschlüsse zum 70. Deutschen Juristentag, Bd. II/1, K 173; diesen Begriff verwenden auch: Forst, RdA 2015, S. 25 f. und Henssler, RdA 2015, S. 43. Forst, RdA 2015, S. 25, 26.
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Kapitel 1: Einführung
daktionsversehen“ sei, da staatliche Tariferstreckungsmaßnahmen schließlich zu einer höheren Tarifbindung führten.²²
§ 2 Gegenstand und Gang der Untersuchung Diese Missverständnisse rund um die Programmatik der Tarifautonomiestärkung bilden den Ausgangspunkt der gegenwärtigen Arbeit. Fokussiert man näher auf diese Debatte, so ergibt sich ein dreigliedriger Untersuchungsgegenstand.
I. Ein dreigeteilter Untersuchungsgegenstand In einer ersten Untersuchung muss der Versuch unternommen werden, die Programmatik der „Stärkung der Tarifautonomie“ zu übersetzen. Wovon Stärke und Schwäche der Tarifautonomie im Einzelnen abhängt, bedarf der Klärung.²³ Dazu müssen Faktoren entwickelt werden, anhand derer beurteilt werden kann, was die „Stärke“ der Tarifautonomie im Wesentlichen auszeichnet. Diese sind aus der bestehenden Arbeitsrechtsordnung und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuleiten. Dabei bildet das Tarifvertragssystem nach dem Vorbild des TVG in seiner ursprünglichen Fassung²⁴ den dogmatischen Ausgangspunkt. Die zu entwickelnden Fakoren müssen rechtsdogmatisch im TVG verankert und gleichzeitig empirisch rückgekoppelt sein. Nur so können sie die für eine derart rechtspolitische Fragestellung („Stärkung der Tarifautonomie“?) notwendige Orientierung stiften. Sie sollen als vermittelndes Bindeglied zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik fungieren. Mit den entwickelten Faktoren wird in einem zweiten Schritt der status quo der Tarifautonomie analysiert. Hier sollen die verschiedenen Einflüsse auf den Zustand der Tarifautonomie konkret als stärkend oder schwächend eingeordnet werden. Dabei gilt es gleichzeitig auch sämtliche Rechtsfragen rund um die Programmatik der „Stärkung der Tarifautonomie“ aufzugreifen. Gegenstand der Untersuchung ist dabei vor allem auch die Beurteilung der Frage, ob die verschiedenen Einflüsse auf den Zustand der Tarifautonomie verfassungs- und systemkonform sind. Insbesondere muss in diesem Zusammenhang das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ auf den Prüfstand gestellt werden. Vor dem Hintergrund
Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7. Diese Frage ebenfalls ausdrücklich aufwerfend Lobinger, JZ 2014, S. 810, 811. In seiner Konzeption vom 22. April 1949, WiGBl. 1949, S. 55 ff., 68.
§ 2 Gegenstand und Gang der Untersuchung
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einer verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Bewertung stellt sich die Frage, ob dieses Gesetz tatsächlich einen Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie leisten kann. Bei alledem wird stets der jeweils aktuelle Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung berücksichtigt. Komplettiert wird der Untersuchungsgegenstand durch die Betrachtung ausgewählter Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie. In diesem Zusammenhang werden Vorschläge herausgearbeitet, die im Hinblick auf Verfassungsmäßigkeit und Praktikabilität untersucht werden. Dabei stehen vor allem solche Stärkungsmaßnahmen im Vordergrund, die den Zustand der Tarifautonomie im Kontext der entwickelten und hierarchisierten Faktoren besonders effektiv verbessern können.
II. Methodisches Vorgehen und Verortung des Untersuchungsgegenstandes Dem skizzierten Untersuchungsgegenstand wird man nur hinreichend gerecht, wenn man das methodische Arsenal der Rechtswissenschaft vollends ausschöpft. Das Anliegen, die Tarifautonomie zu stärken, ist nämlich nicht nur ein juristisches Thema, das allein mit der Methode der Rechtsdogmatik hinreichend erschlossen werden kann.Vielmehr tritt die Stärkung der Tarifautonomie als interdisziplinäres Vorhaben in Erscheinung, das vor allem die Einbeziehung rechtssoziologischer und -tatsächlicher Befunde erforderlich macht. Vor diesem Hintergrund muss der dreigliedrige Untersuchungsgegenstand innerhalb der Rechtswissenschaft verortet werden:
1. Rechtsdogmatik Zunächst erfolgt die gegenwärtige Untersuchung überwiegend unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten.²⁵ Die geltende Rechtsordnung bildet insoweit stets die Grundlage. So werden insbesondere die Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie aus dem derzeit geltenden Arbeits- und Tarifvertragsrecht abgeleitet. Dafür ist auch die rechtsdogmatische Konkretisierung der bestehenden Arbeitsrechtsordnung unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung unerlässlich. Ebenso werden auch die auf den Zustand der Tarifautonomie Einfluss nehmenden Maßnahmen unter verfassungsdogmatischen Ge-
Zur Abgrenzung der Rechtsdogmatik von anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen (Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Rechtspolitik etc.) Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 1 Rn. 23.
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Kapitel 1: Einführung
sichtspunkten bewertet. Insbesondere das Tarifautonomiestärkungsgesetz wird einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Schließlich wird auch die Verfassungsmäßigkeit der zur Stärkung der Tarifautonomie unterbreiteten Vorschläge untersucht. Die Konkretisierung der bestehenden Arbeitsrechtsordnung unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BAG und des BVerfG bildet auch insoweit die Untersuchungsgrundlage.
2. Rechtssoziologie und Rechtspolitik Flankiert wird die gegenwärtige Untersuchung in methodischer Hinsicht von rechtssoziologischen und rechtspolitischen Implikationen. Insbesondere müssen empirisch belegte Rechtstatsachen berücksichtigt werden, wenn über die Stärkung der Tarifautonomie nachgedacht wird. So erfordert es der Untersuchungsgegenstand, die aktuellen Zahlen zum Mitgliederbestand der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zugrunde zu legen. Ebenso müssen Erhebungen zum Grad der Tarifbindung Berücksichtigung finden. An diese Rechtstatsachen knüpfen rechtspolitische Überlegungen zur Stärkung der Tarifautonomie notwendigerweise an. Die Symbiose zwischen Arbeitsrecht und Rechtssoziologie ist aber nicht neu. Bereits Hugo Sinzheimer befand: „Wer nur in den Gesetzen das Arbeitsrecht sucht, wird es niemals finden. Die Gesetze spiegeln nur die allgemeinsten Tatbestände des Arbeitswesens wider, die Fülle seiner wirklichen Gestaltungen lässt sich daraus nicht erkennen.“²⁶ Diesen besonders hohen Ansprüchen an die (Arbeits‐)Rechtswissenschaft versucht die gegenwärtige Untersuchung zumindest ansatzweise gerecht zu werden. So soll die rechtsdogmatische Erkenntnisgewinnung stets mit rechtstatsächlichen Befunden und rechtspolitischen Erwägungen befruchtet werden: „Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind.“²⁷
III. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt damit, der Bedeutungskraft der Tarifautonomie im Spannungsfeld veränderter Rahmenbedingungen nachzuspüren (Kapitel 2). Die Bedeutungskraft der Tarifautonomie wird dabei zum einen aus ihrer Stellung innerhalb der Arbeitsrechtsordnung erschlossen. Zum anderen wird die Bedeu-
Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, S. 217. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, abgedruckt in: Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, S. 139.
§ 2 Gegenstand und Gang der Untersuchung
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tungskraft der Tarifautonomie durch eine Betrachtung ihrer historischen Entwicklung nachvollzogen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die nachfolgenden Untersuchungen nur dann gelingen können, wenn ausreichend herausgearbeitet wurde, aus welchem Bedürfnis heraus das Verfassungsgut der Tarifautonomie entstanden ist. Die Bedeutungskraft der Tarifautonomie soll jedoch dann in Kontrast zu zahlreichen veränderten Rahmenbedingungen gestellt werden. Hieran anschließend wird mit der rechtsdogmatischen Entwicklung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie begonnen (Kapitel 3). Dieser Abschnitt der Untersuchung bildet gewissermaßen das Herzstück der vorliegenden Arbeit. Die Entwicklung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist für den weiteren Verlauf der Untersuchung weichenstellend. So hängt sowohl die Beurteilung des status quo der Tarifautonomie als auch die in Betracht zu ziehenden Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie entscheidend von den entwickelten Faktoren ab. Das gegenwärtige Tarifsystem bildet insofern den Ausgangspunkt. Als besonders zentral wird hierbei die Frage nach dem Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags erachtet. Im Anschluss erfolgt eine Beurteilung des Zustands der Tarifautonomie mithilfe der entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie (Kapitel 4). Hier werden die verschiedenen „veränderten Rahmenbedingungen“ basierend auf den entwickelten Faktoren umfassend evaluiert. In diesem Zusammenhang wird zwischen einem empirischen und einem rechtlichen Zustand der Tarifautonomie differenziert.²⁸ Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf das am 16. August 2014 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie²⁹ gelegt. Es wird sowohl unter verfassungsdogmatischen als auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten bewertet. Dieses Kapitel endet mit einer abschließenden Beurteilung des status quo der Tarifautonomie. Aufbauend auf dem bewerteten empirischen und rechtlichen Zustand der Tarifautonomie werden Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie in Betracht gezogen (Kapitel 5). Sie adressieren ganz gezielt die entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Jeder Vorschlag endet mit einem konkreten Gesetzes- bzw. Formulierungsvorschlag, der dem Gesetzgeber unterbreitet wird. Die Arbeit schließt mit einem Resümee und präsentiert die wesentlichen Untersuchungsergebnisse in zusammenfassenden Thesen und Empfehlungen an den Gesetzgeber (Kapitel 6).
Siehe grundlegend zu dieser Unterscheidung Kapitel 4, § 10. BGBl. I, S. 1348.
Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen Hinsichtlich der rechtspolitischen Ausgangslage scheint Einigkeit zu herrschen: Die Tarifautonomie in Deutschland muss eine Stärkung erfahren. So konstatiert insbesondere Bepler bereits zu Beginn seines Gutachtens für den 70. Deutschen Juristentag: „Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut, das Stärkung verdient, und ihre aktuelle Lage ist so, dass sie der Stärkung bedarf.“¹ Bevor in der nachfolgenden Untersuchung dem ambitionierten Ziel der Stärkung der Tarifautonomie nachgegangen werden kann, sollen die zitierten Grundannahmen von Bepler zunächst aufgegriffen werden.² Es ist aufzuzeigen, was die Bedeutungskraft der Tarifautonomie im Einzelnen auszeichnet (§ 3. und § 4.), d. h., inwiefern sie tatsächlich ein „hohes Gut“ darstellt. Angesichts veränderter Rahmenbedingungen muss sich die Tarifautonomie in diesen Tagen allerdings neuen Herausforderungen stellen. Die sich im Wandel befindende Tariflandschaft soll skizziert und empirisch aufgearbeitet werden (§ 5.). Dieses Kapitel schließt sodann mit einer zusammenfassenden Betrachtung (§ 6.).
§ 3 Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung Will man der Bedeutungskraft der Tarifautonomie nachspüren, ist zunächst eine Betrachtung ihrer Stellung innerhalb der Arbeitsrechtsordnung erforderlich. Der Bezug zur Frage, wovon die Stärke der Tarifautonomie im Einzelnen abhängt, steht bereits in Ansätzen bei der Darstellung ebendieser Grundlagen im Vordergrund. Insofern erfolgen erste Weichenstellungen für den weiteren Verlauf der Untersuchung:
I. Begriff und Funktionen der Tarifautonomie Ausgangspunkt für die Einordnung der Tarifautonomie in das System der Arbeitsrechtsordnung ist ihre Begriffsbestimmung sowie eine Betrachtung ihrer Funktionen. Tarifautonomie bezeichnet per definitionem das Recht der Tarifver Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 9. Die Frage, ob die Tarifautonomie tatsächlich der Stärkung bedarf, wird in Kapitel 4 erörtert. https://doi.org/10.1515/9783110736113-004
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
tragsparteien, namentlich der Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Arbeitgeber, im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme Tarifverträge abzuschließen.³ Zum einen artikuliert der Begriff der Tarifautonomie damit ein positives Element⁴: die Möglichkeit der Tarifparteien zur normativen Rechtsetzung für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien (vgl. § 4 Abs. 1 TVG).⁵ Damit fungiert der Tarifvertrag als eigenständige Rechtsquelle innerhalb der Arbeitsrechtsordnung. Der Tarifvertrag ist also gewissermaßen die praktisch gewordene Verkörperung bzw. das Ergebnis gelebter Tarifautonomie durch die Tarifvertragsparteien. Zum anderen beinhaltet der Begriff der Tarifautonomie auch eine negative Komponente. Sie wird durch den Begriffsbestandteil der „Autonomie“⁶ zum Ausdruck gebracht. Der Abschluss von Tarifverträgen durch die Tarifvertragsparteien soll im Wesentlichen frei von staatlichem Einfluss möglich sein. Hierüber wird die Tarifautonomie schon begrifflich zu einem an sich „staatsfernem Reservat“ erklärt.⁷ Gleichwohl ist die Tarifautonomie abhängig von ihrer gesetzgeberischen Ausgestaltung im Einzelnen.⁸ Sie ist einem ständigen Spannungsverhältnis zu entsprechenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ausgesetzt, mit denen der Staat Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie nimmt.⁹ Einleitend hervorzuheben sind ferner die verschiedenen Funktionen, die der Tarifautonomie (bzw. dem Tarifvertrag als ihre Verkörperung¹⁰) zugeschrieben werden.¹¹ Sie geben Auskunft über die Bedeutungskraft der Tarifautonomie. Ihren gesetzlichen Niederschlag finden die Funktionen der Tarifautonomie seit Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes am 10. Juli 2015¹² unmittelbar in § 4a Abs. 1 TVG. Danach wird die Tarifautonomie mit vier Funtkionen verknüpft: Schutz BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 47; Junker, ArbR, Rn. 21. Siehe grundlegend zu dieser Zweiteilung des Begriffs der Tarifautonomie: NK-GA/Hanau, GG, Art. 9 Rn. 52, 53. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 8; JKOS/Jacobs, § 7 Rn. 1; Junker, ArbR, Rn. 504; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 2. Kritisch zum Begriff der „Autonomie“ innerhalb der Arbeitsrechtsordnung Picker, NZA 2002, S. 761 ff. NK-GA/Hanau, GG, Art. 9 Rn. 53. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 48. Siehe zu diesem Spannungsverhältnis m.w.N. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 4 f., 157 ff. Es besteht keine einheitliche Terminologie: Teilweise ist von den Funktionen des Tarifvertrags oder aber von den Funktionen der Tarifautonomie die Rede. Kritisch zur Typisierung von Funktionen der Tarifautonomie DHSW-ArbR/Hensche, GG, Art. 9 Rn. 77. BGBl. I, S. 1130.
§ 3 Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung
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funktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion und Ordnungsfunktion. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Bundesgesetzgeber diese vier Funktionen auch vor Augen hat, wenn er Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie in Erwägung zieht.
1. Schutz- und Verteilungsfunktion Zum einen entfaltet die Tarifautonomie eine besondere Relevanz für den Arbeitnehmerschutz – die sogenannte Schutzfunktion.¹³ Sie wird in § 4a Abs. 1 TVG zuvorderst aufgeführt. Die Tarifautonomie ist demzufolge integraler Bestandteil eines umfassenden Arbeitnehmerschutzprogramms. Der Schutzfunktion der Tarifautonomie liegt die Annahme zugrunde, dass der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeit strukturell unterlegen ist.¹⁴ Demzufolge zielt die Tarifautonomie nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich darauf ab, „die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen“.¹⁵ Das BVerfG geht also dem Grunde nach von einer gestörten Vertragsparität aus, die zum Schutze der Arbeitnehmer durch tarifautonome Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften aufzulösen ist.¹⁶ Die Schutzfunktion der Tarifautonomie verwirklicht sich insbesondere darin, dass durch Tarifverträge zwingende Mindestarbeitsbedingungen geschaffen werden, die zum Nachteil des Arbeitnehmers unabdingbar sind.¹⁷ Damit lässt sich festhalten, dass der Zustand der Tarifautonomie gleichzeitig auch Auskunft über die Qualität des Arbeitnehmerschutzes gibt. Neben der Schutzfunktion führt § 4a Abs. 1 TVG auch die Verteilungsfunktion des Tarifvertrags an und räumt der Vergütung als Gegenstand tariflicher Normsetzung eine besonders exponierte Stellung ein. Der Tarifvertrag soll demnach zum einen die Teilhabe der Arbeitnehmer (über die Vertretung durch Gewerkschaften) am wirtschaftlichen Erfolg des Arbeitgebers sicherstellen. Zum anderen gibt der Tarifvertrag auch eine Einkommensverteilung vor, nach der die Tätigkeit der Arbeitnehmer einer bestimmten Entgeltgruppe zugeordnet wird.¹⁸ Die Ge-
Im Einzelnen wird die Bedeutungskraft der Tarifautonomie für den Arbeitnehmerschutz unter historischen Gesichtspunkten in Kapitel 2, § 4 noch genauer herausgearbeitet. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 225. BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809, 811. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 225; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 3. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 43. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 44; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 4.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
währleistung einer „überbetrieblichen Lohngerechtigkeit“ ist damit das erklärte Ziel.¹⁹ Die Verteilungsfunktion knüpft insofern konkretisierend an die beschriebene Schutzfunktion der Tarifautonomie an.
2. Ordnungs- und Befriedungsfunktion Darüber hinaus wird der Tarifautonomie auch eine ordnende Funktion zugeschrieben. Sie soll einen Beitrag zur „Ordnung des Arbeitslebens“ leisten.²⁰ Durch den Abschluss eines Tarifvertrags wird eine überbetriebliche Typisierung und Vereinheitlichung der Individualarbeitsverhältnisse angestrebt.²¹ Damit wird gleichzeitig auch ein gewisses Maß an Rechtssicherheit gewährleistet. Unklarheit besteht jedoch hinsichtlich der Frage, für welche Arbeitnehmer der Tarifvertrag seine ordnende Funktion wahrnehmen soll. Diese Frage wird von einem folgenreichen Dualismus beherrscht²²: Zum einen wird der Standunkt eingenommen, der Tarifvertrag müsse das Arbeitsleben aller Arbeitnehmer im Betrieb ordnen.²³ Demgegenüber wird teilweise auch die Position vertreten, dass die ordnende Funktion des Tarifvertrags grundsätzlich nur für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bestehe.²⁴ Diese Frage ist eng verzahnt mit den Sichtweisen auf den Ursprung der normativen Wirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) von Tarifverträgen. Im Wesentlichen stehen sich dabei zwei Denkrichtungen gegenüber, die sich grobschlächtig in staatlich-delegatorische Ansätze einerseits und autonomietheoretische Ansätze andererseits kategorisieren lassen.²⁵ Je nach Erklärungsansatz liegt entweder die Annahme einer umfassenden Ordnungsfunktion der Tarifautonomie oder aber die Annahme einer auf Verbandsmitglieder begrenzten Ordnungs-
Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 230. Bereits BVerfG, 18.11.1954 (1 BvR 629/52), BVerfGE 4, S. 96, 107; auch BAG, 15.08. 2012 (7 AZR 184/11), NZA 2013, S. 45 Rn. 27; DHSW-ArbR/Hensche, GG, Art. 9 Rn. 77; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 45. NK-GA/Frieling, TVG, § 1 Rn. 4; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 4. Siehe grundlegend zu dieser Betrachtung m.w.N. Greiner, NZA 2016, S. 10. Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff.; Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593; vgl. auch Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 291 f. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 237 f.; Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 51 ff.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 4; vgl. BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068. Siehe zunächst nur Greiner, NZA 2016, S. 10.
§ 3 Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung
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funktion der Tarifautonomie nahe. Hierauf wird im weiteren Verlauf der Untersuchung noch einzugehen sein.²⁶ Eine Konkretisierung erfährt die Ordnungsfunktion ferner durch die befriedende Wirkung des Tarifvertrags für das Arbeitsleben.²⁷ Mit dem Abschluss eines Tarifvertrags erwächst grundsätzlich eine schuldrechtliche (relative) Friedenspflicht der Tarifvertragsparteien. Danach ist es den Tarifvertragsparteien untersagt, den abgeschlossenen Tarifvertrag während seiner Laufzeit durch etwaige Arbeitskampfmaßnahmen in Frage zu stellen.²⁸ Diese Befriedungsfunktion kommt vor allem dem Arbeitgeber zugute, da sie ihm für die Laufzeit des Tarifvertrags einen von Arbeitskampfmaßnahmen verschonten Betriebsablauf garantiert.
3. Faktische Kartellwirkung des Flächentarifvertrags Nicht in § 4a Abs. 1 TVG aufgeführt, aber teilweise vertreten, wird ferner die sogenannte Kartellfunktion des Flächentarifvertrags.²⁹ Unbestreitbar ist jedenfalls, dass Flächentarifverträge eine kartellierende Wirkung entfalten, indem sie branchenspezifische Mindeststandards statuieren.³⁰ Sie vereinheitlichen die Arbeitsbedingungen damit in einer Weise, dass ein freier Markt im Geltungsbereich der jeweiligen Branche de facto nicht mehr existiert. Es besteht insofern eine faktische Absprache zur Wettbewerbsbeschränkung, was die Herstellung einheitlicher Mindestarbeitsbedingungen zur Folge hat.³¹ Alleine der vom Günstigkeitsprinzip (vgl. § 4 Abs. 3 TVG) reservierte Bereich der übertariflichen Regelung bleibt dem freien Wettbewerb noch zugänglich.³²
Diese Problematik wird in den nachfolgenden Untersuchungen als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie erörtert; siehe daher im Einzelnen Kapitel 3, § 7. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 46; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 5; kritisch zur Existenz der Befriedungsfunktion DHSW-ArbR/Hensche, GG Art. 9 Rn. 77; Befriedungsund Ordnungsfunktion des Tarifvertrags bilden zugunsten des Arbeitgebers also eine Art Gegenpol zur Schutz- und Verteilungsfunktion zugunsten des Arbeitnehmers. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 225; JKOS/Krause, § 4 Rn. 140. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 231 f.; etwas kritischer zur Kartellfunktion als „Aufgabe“ der Tarifautonomie, aber gleichwohl die faktische Kartellwirkung des Flächentarifvertrags bejahend Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 44 ff. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 44. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 231 f. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 44.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
II. Tarifautonomie als Verfassungswert Die Bedeutungskraft der Tarifautonomie erwächst ferner aus ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung. Die Tarifautonomie ist Bestandteil der in Art. 9 Abs. 3 GG festgeschriebenen Koalitionsfreiheit.
1. Tarifautonomie als Ausfluss kollektiver Betätigungsfreiheit Dogmatischer Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Verankerung der Tarifautonomie ist Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG. Danach hat jedermann das Recht, eine Vereinigung zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Dem Wortlaut zufolge gewährleistet Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG also zunächst die individuelle (positive) Koalitionsfreiheit. Mit der individuellen Koalitionsfreiheit ist die Gründung einer Koalition, der Beitritt zu einer bereits bestehenden Koalition, der Verbleib in einer Koalition sowie jede sonstige koalitionsmäßige Tätigkeit als Verbandsmitglied geschützt.³³ Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist die Koalitionsfreiheit darüber hinaus aber als Doppelgrundrecht zu begreifen.³⁴ Danach ist von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich auch die kollektive Koalitionsfreiheit gewährleistet, die die Koalition selbst zunächst in ihrem Bestand und in ihrer Betätigung schützt. Nachdem das BVerfG die sogenannte Kernbereichslehre aufgegeben hat, ist die kollektive Koalitionsfreiheit – in ihrer Ausprägung als Betätigungsfreiheit – umfassend zu verstehen, sodass sämtliche „koalitionsspezifische Betätigungen“ vom Schutzumfang mitinbegriffen sind.³⁵ Zu dieser kollektiven Betätigungsfreiheit zählt auch das Recht der Tarifvertragsparteien, weitestgehend ohne staatliche Einflussnahme, Tarifverträge abschließen zu können.³⁶
2. Tarifautonomie zwischen Ausgestaltung und Eingriff Grundsätzlich ist es Aufgabe der Tarifvertragsparteien, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regeln. Insoweit haben die Tarifvertragsparteien zwar ein
BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 30.11.1965 (2 BvR 54/62), NJW 1966, S. 491; BVerfG, 18.11.1954 (1 BvR 629/52), NJW 1954, S. 1881; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 30. BVerfG, 06.02. 2007 (1 BvR 978/05), NZA 2007, S. 394, 395; BVerfG, 04.07.1995 (1 BvF 2/86), BVerfGE 92, S. 365, 393; BVerfG, 01.03.1979 (1 BvR 532/77), BVerfGE 50, S. 290, 373 f. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. Siehe nur BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778.
§ 3 Tarifautonomie als Bestandteil der Arbeitsrechtsordnung
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Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol.³⁷ Der Staat wird aus seiner Regelungsverantwortung nicht vollends entlassen. Ihm obliegt einerseits die Pflicht, ein an sich funktionsfähiges Tarifvertragssystem bereitzustellen und es entsprechend auszugestalten.³⁸ Erst dann können die Tarifvertragsparteien von der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie Gebrauch machen. Dieser Bereitstellungs- und Ausgestaltungspflicht ist der Staat mit der Schaffung des TVG zunächst gerecht geworden.³⁹ Andererseits hat er das Wirken der Tarifvertragsparteien im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu respektieren.⁴⁰ Die Tarifautonomie darf nicht in einem Maße ausgehöhlt werden, dass es für die Tarifvertragsparteien de facto nichts mehr zu regeln gibt.⁴¹ Damit ist gleichzeitig auch die Abgrenzung zwischen Ausgestaltung und Eingriff angezeigt. Häufig ist es jedoch ein schmaler Grat zwischen einer Ausgestaltungsmaßnahme zur „Sicherstellung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems“ einerseits und verfassungsrechtlichen Eingriffen in den Schutzbereich der Tarifautonomie andererseits. Die Abgrenzung kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten.⁴² Hierauf wird noch an anderer Stelle zurückzukommen sein.⁴³
3. Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit Mit dem Verfassungswert der Tarifautonomie untrennbar verbunden ist ferner die Arbeitskampffreiheit der Tarifvertragsparteien. Auch sie ist als Ausfluss der kollektiven Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verfassungsrechtlich verankert.⁴⁴ Danach steht es den Tarifvertragsparteien grundsätzlich frei, bestimmte tarifpolitische Ziele mit dem Einsatz kollektiver Arbeitskampfmaßnahmen anzustreben, die die Arbeitsbeziehungen zu stören versuchen.⁴⁵ Ihren verkörperten Ausdruck findet die Arbeitskampffreiheit schließlich im konkreten Einsatz etwaiger Kampfmittel wie Streik, Flashmob,⁴⁶ Aussperrung⁴⁷ etc. Die Arbeits-
BVerfG, 24.04.1996 (1 BvR 712/86), NZA 1996, S. 1157, 1158. BVerfG, 01.03.1979 (1 BvL 21/78 u. a.), NJW 1979, S. 699, 709; BVerfG, 18.11.1954 (1 BvR 629/52), BVerfGE 4, S. 96, 106. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 161, 163; vgl. auch JKOS/Krause, § 1 Rn. 36. ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 82. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 50. Siehe hierzu m.w.N. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 121 ff. Siehe etwa unten Kapitel 4, § 12.II.1.a). BAG, 18.02. 2003 (1 AZR 142/02), NZA 2003, S. 866, 867; BVerfG, 04.07.1995 (1 BvF 2/86 u. a.), NJW 1996, S. 185, 186; BAG, 21.04.1971 (GS 1/68), BAGE 23, S. 292, 294. Vgl. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 14 Rn. 14. BAG, 22.09. 2009 (1 AZR 972/08), NJW 2010, S. 631; siehe zum Streitstand Bertke, NJW 2014, S. 1852 und ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 277b.
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kampffreiheit dient insoweit der Absicherung und der Effektivität der Tarifautonomie. Ihre Bedeutung für ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem pointiert das BAG dabei wie folgt: „In der bisherigen Sozialgeschichte waren die Gewerkschaften fast immer gehalten, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu fordern und durchzusetzen. (…). Hingegen konnten die Arbeitgeber als ihre Tarifvertragspartner kein unmittelbares Interesse daran haben, z. B. die Löhne stärker anzuheben, die Arbeitszeit zu verkürzen, die Rationalisierung durch Schutzvorschriften zu erschweren. Bei diesem Interessengegensatz wären Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik im allgemeinen nicht mehr als ‚kollektives Betteln‘.“⁴⁸
§ 4 Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische Skizzierung Die Bedeutungskraft der Tarifautonomie erschließt sich ferner nur auf Grundlage ihrer historischen Entwicklung. Insbesondere um die bereits angedeutete Relevanz der Tarifautonomie für den Arbeitnehmerschutz⁴⁹ vollends begreifen zu können, ist ein historischer Rückblick notwendig. Ein Verständnis darüber, aus welchem Bedürfnis heraus die Tarifautonomie in Deutschland historisch gewachsen ist, ist unerlässlich: „Nur die Kenntnis der Vergangenheit verhindert, dass man unbedacht preisgibt, was in schwerer Zeit erstritten wurde.“⁵⁰ Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Geschichte der Tarifautonomie zugleich auch eine Geschichte der tarifvertragsschließenden Parteien, namentlich der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, ist.
I. Die Entwicklungslinien der Tarifautonomie bis 1871 Ausgehend von den Auswirkungen der industriellen Revolution ist die Entwicklung der Tarifautonomie bis 1871 geprägt von einem stetigen Kampf der Arbeiterbewegungen um das Recht auf Koalitionsfreiheit. Koalitionsfreiheit kann in diesem Zusammenhang gewissermaßen als Grundvoraussetzung für die Gewährleistung von Tarifautonomie verstanden werden. BAG, 27.06.1995 (1 AZR 1016/94), NJW 1996, S. 1428; BAG, 06.12.1963 (1 AZR 223/63), NJW 1964, S. 941; siehe zum Streitstand ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 237 ff. BAG, 10.06.1980 (1 AZR 822/79), NJW 1980, S. 1642, 1643. Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 3.I.2.a). Richardi, FS Dieterich, S. 497.
§ 4 Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische Skizzierung
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1. Der Beginn kapitalistischer Produktionsweise als Ausgangspunkt An der Veränderung der Arbeitswelt hatte die sogenannte industrielle Revolution⁵¹ maßgeblichen Anteil, deren Auswirkungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Deutschland erreichten.⁵² Durch neue technische Errungenschaften war fortan vor allem die Massenproduktion (insbesondere durch Fließbandarbeit) von Ware möglich.⁵³ Abhängige Beschäftigung avancierte zur notwendigen Lebensgrundlage. So entstanden im Zuge der Industrialisierung auch in Deutschland Massenarbeitsverhältnisse. Durch die wirtschaftliche Überlegenheit des Arbeitgebers und der nahezu einseitigen Ausgestaltungsmöglichkeit der Arbeitsverhältnisse bildete sich ein naturgemäßer Kräfteunterschied zwischen den Arbeitsvertragsparteien zulasten der abhängig beschäftigten Arbeiter heraus.⁵⁴ Dieser Kräfteunterschied drückte sich insbesondere in langen Arbeitszeiten, geringem Arbeitsschutz, Kinderarbeit sowie in Form einer geringen Vergütung aus.⁵⁵ Hierdurch entstand erstmals das Bedürfnis der Arbeiter dieser gestörten (Arbeits‐) Vertragsparität durch Zusammenschlüsse entgegenzuwirken, um gegenüber dem Arbeitgeber einen starken Verhandlungspartner positionieren zu können.⁵⁶ Hierin wurzelt schließlich die Schutzfunktion der Tarifautonomie.⁵⁷
2. Preußische Koalitionsverbote Gleichwohl hatten Arbeitnehmerkoalitionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor einen schweren Stand. Koalitionsverbote wirkten der Entstehung von Arbeitervereinigungen entgegen, wodurch jeder Ansatz von Tarifautonomie bereits im Keim erstickt wurde. So heißt es bspw. in den §§ 396, 397 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten: „Die Gesellen machen unter sich
Hierbei ist die sogenannte zweite industrielle Revolution gemeint, nämlich die technische Errungenschaft der Massenproduktion mit Hilfe von Fließbändern und der Verwendung von elektrischer Energie; das Schlagwort Industrie 4.0 steht derzeit für eine aktuelle arbeitsrechtliche Debatte, bei der es um die Analyse der Auswirkungen der sogenannten vierten industriellen Revolution auf das deutsche Arbeitsrecht geht, siehe hierzu insbesondere m.w.N. Krause, Gutachten B zum 71. Deutschen Juristentag. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 10; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 188 Rn. 1; vgl. hierzu auch Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 2. Siehe hierzu insbesondere m.w.N. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. II, S. 67 ff. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 225; Waltermann, ArbR, Rn. 27. Siehe dazu Adler, Der internationale Schutz der Arbeiter, in: Annalen des Deutschen Reiches, S. 465 ff. Vgl. Preis/Greiner, Kollektivarbeitsrecht, Rn. 225; Waltermann, ArbR, Rn. 30. Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 3.I.2.a).
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keine Commune oder privilegierte Gesellschaft aus. Sie sind nicht berechtigt, eigenmächtiger Weise Versammlungen zu halten.“⁵⁸ Zwar adressierte diese Norm in erster Linie (Handwerker‐)Gesellen. Allerdings weiteten die §§ 182, 183 „der neuen allgemeinen Gewerbe-Ordnung für die preußische Monarchie“ von 1845 den Adressatenkreis ausdrücklich auch auf jegliche Industriearbeiter („Fabrikarbeiter“) aus.⁵⁹ Die preußischen Koalitionsverbote mussten sich jedoch zunehmend an den Leitgedanken der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit messen lassen, die inzwischen auch die deutsche Bevölkerung erreichten. Diese Dynamik gipfelte letztlich in der sogenannten „Deutschen Revolution“ (oder auch „März-Revolution“ genannt) von 1848. Ebendiese revolutionäre Bewegung wurde von weiten Teilen der arbeitenden Bevölkerung unterstützt.⁶⁰ Ihren Höhepunkt erreichte sie als am 27. Dezember 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung die „Grundrechte des deutschen Volkes“ im Rahmen der Frankfurter Reichsverfassung („Paulskirchenverfassung“) verkündet wurden, zu denen schließlich auch die in § 162 FRV geregelte Vereinigungsfreiheit gehörte.⁶¹ Damit brachen die preußischen Koalitionsverbote faktisch zusammen. Im Gegenzug erlebten Arbeiterkoalitionen einen enormen Aufwind: Zahlreiche Arbeitnehmervereinigungen entstanden, deren Mitgliederzahlen stetig anwuchsen. Auch ein Zusammenschluss mehrerer Arbeitnehmervereinigungen in der sogenannten „Arbeiterverbrüderung“ ging aus dieser revolutionären Bewegung in Deutschland hervor,⁶² die allerdings bis Ende des Jahres 1849 vom preußischen und österreichischen Militär zerschlagen wurde. Mit dem Scheitern der Deutschen Revolution, erlebte auch die deutsche Arbeiterbewegung einen Rückschlag. Die Wirksamkeit der preußischen Koalitionsverbote wurde infolgedessen wiederhergestellt.⁶³ Die Industrialisierung schritt allerdings unaufhaltsam voran. So haben die Koalitionsverbote zwar zunächst rechtlich fortbestanden. Informell existierten jedoch zahlreiche Arbeitervereine.⁶⁴ Der preußische Gesetzgeber sah sich zu-
Abgedruckte Gesetzestextausgabe bei Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 1 f. Abgedruckte Gesetzesausgabe bei Blanke/Erd/Mückenberfer/Stascheit, Kollektives Arbeitsrecht, Quellentexte zur Geschichte des Arbeitsrechts in Deutschland, Bd. 1, S. 33 f. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 3; Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 11. Zu den Hintergründen der Paulskirchenverfassung siehe Maunz/Dürig/Walter, GG, Art. 93 Rn. 21 ff. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 3; Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 11. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 4. Siehe m.w.N. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 5.
§ 4 Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische Skizzierung
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nehmend gezwungen, der Arbeiterbewegung ein höheres Maß an Akzeptanz entgegenzubringen. Daher wurden zwar einerseits die bestehenden Koalitionsverbote durch § 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 aufgehoben.⁶⁵ Andererseits bestimmte Abs. 2 der Vorschrift gleichwohl, dass Rechte aus entsprechenden Koalitionsabreden nicht einklagbar sind. Arbeitnehmer durften sich allerdings fortan legal in Koalitionen zusammenschließen. Der aufkeimende Tarifgedanke innerhalb der Arbeiterbewegungen wird jedoch durch den Ausschluss der Einklagbarkeit von Ansprüchen aus Koalitionsabreden maßgeblich in die Schranken gewiesen. Lotmar bewertete diese Gesetzgebung für die deutsche Arbeiterbewegung seinerzeit wie folgt: „Die Koalition ist frei, nämlich vogelfrei, und ein Koalitionsrecht ist erst noch zu schaffen.“⁶⁶
II. Tarifautonomie im Deutschen Kaiserreich Auch im Deutschen Kaiserreich setzte sich der Kampf um die koalitionsmäßige Vereinigungs- und Betätigungsfreiheit der Arbeiterbewegung in einem ständigen Auf und Ab fort.
1. Bismarcksche Sozialistengesetzgebung Bereits in der Anfangsgphase des Deutschen Kaiserreichs gelang es der Arbeiterbewegung einen historischen Erfolg zu verzeichnen: 1873 schloss die zuständige Arbeitervereinigung (deutscher Buchdruckerverband) den ersten bedeutenden Tarifvertrag ab, der die Arbeitsbedingungen für das Buchdruckergewerbe regelte.⁶⁷ Damit ließ sich erstmals ein nennenswertes Ergebnis von gelebter Tarifautonomie in Deutschland konstatieren. Erfolg und Misserfolg der Tarifautonomie liegen in ihrer historischen Entwicklung allerdings nach wie vor eng zusammen: So erlebte die Arbeiterbewegung im Deutschen Kaiserreich durch das Inkrafttreten des sogenannten Sozialistengesetzes („Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) am 22. Oktober 1878 einen erneuten Rückschlag.⁶⁸ Dieses Gesetz ermöglichte es der Reichsregierung solche Vereinigungen aufzulösen und zu verbieten, denen „sozialdemokratische Be-
BGBl. NO Nr. 26, S. 245. Lotmar, abgedruckt in: Rückert (Hrsg.), Philipp Lotmar, Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, S. 495. Der Tarifvertrag ist abrufbar unter http://www.zaar.uni-muenchen.de/download/doku/histori sche_gesetze/1_________________tarifvertrag.pdf; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020. RGBl. 1878, S. 351.
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strebungen“ nachgewiesen werden konnten. Infolgedessen wurden zahlreiche Arbeitervereinigungen (insbesondere die sogenannten freien Gewerkschaften) wegen ihrer sozialdemokratischen Nähe aufgelöst. Arbeitervereinigungen konnten im Deutschen Kaiserreich meist nur noch inoffiziell in lokalen Fachvereinigungen fortexistieren.⁶⁹
2. Tarifautonomie im Aufschwung Auch die Sozialistengesetzgebung im Deutschen Kaiserreich vermochte es jedoch nicht die deutsche Arbeiterbewegung aufzuhalten; ebenso nicht der später unternommene Versuch einer weiteren Beschränkung der koalitionsmäßigen Organisation und Betätigung durch die sogenannte Zuchthausvorlage.⁷⁰ Die Mitgliederzahlen der fortexistierenden lokalen Fachvereinigungen stieg den gesetzlichen Einschränkungen zum Trotz von ursprünglich 50.000 – bis zum Auslaufen des Sozialistengesetzes am 30. September 1890 – auf bis zu 300.000 Mitglieder an.⁷¹ Auch in den kommenden Jahren wuchsen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften immer weiter an: 1913 waren über 2,5 Millionen Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisiert.⁷² Auch der Tarifgedanke als solcher verfestigte sich. Bis 1913 wurden im Deutschen Kaiserreich über 13.000 Tarifverträge geschlossen, die für ca. 218.000 Betriebe mit über zwei Millionen Arbeitnehmern fortan die Arbeitsbedingungen bestimmten.⁷³
III. Tarifautonomie in der Weimarer Republik Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie haben im Deutschen Kaiserreich lediglich informell Eingang in die Arbeitsrechtswirklichkeit gefunden. In der Weimarer Republik haben diese Grundfreiheiten erstmals auch eine verfassungsrechtliche Kodifizierung und einfachgesetzliche Ausgestaltung erfahren.
Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 12. Siehe hierzu m.w.N. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 18 f. Umbreit, 25 Jahre deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 3. Umbreit, 25 Jahre deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 172. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 103; vgl. auch mit etwas anderen Zahlen Küppers, Gerechtigkeit in der modernen Arbeitsgesellschaft und Tarifautonomie, S. 228.
§ 4 Die Entwicklung der Tarifautonomie – eine historische Skizzierung
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1. Hugo Sinzheimer als Architekt des Tarifvertragssystems Daran war insbesondere der Rechtswissenschaftler und Politiker Hugo Sinzheimer maßgeblich beteiligt, weshalb er teilweise sogar als „Vater des deutschen Arbeitsrechts“⁷⁴ bezeichnet wird. Ausgangspunkt seiner Konzeption des Tarifvertragssystems ist die „Würde des arbeitenden Menschen“ in abhängiger Beschäftigung. Dabei geht er von der folgenden Prämisse aus: „Arbeit ist ein besonderer Saft. Wer Arbeit leistet, gibt keinen Vermögensgegenstand, sondern sich selbst hin.“⁷⁵ Dem werde die zivilrechtliche Vertragsfreiheit insofern nicht gerecht, als dass sie nur formal existiere. Tatsächlich diktiere der wirtschaftlich überlegene Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen, ein Aushandeln „auf Augenhöhe“ sei so nicht möglich.⁷⁶ Demzufolge könne ein Arbeitsrechtssystem der „Würde des arbeitenden Menschen“ nur gerecht werden, wenn es dem Arbeiter in Ausübung sozialer Selbstbestimmung ermöglicht werde, die für ihn geltenden Arbeitsbedingungen mitzugestalten. Die Lösung hierfür erblickt Sinzheimer in einem Kollektivvertrag, der durch eine Arbeitervereinigung mit dem Arbeitgeber ausgehandelt werden soll. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass ein Zusammenschluss von Arbeitern eine bessere Verhandlungsposition als der einzelne Arbeitnehmer einnehmen könne.⁷⁷ Diese Überlegungen waren weichenstellend für die Schaffung eines kollektiven Arbeitsrechts. Aufbauend auf diesen Grundannahmen beschäftigte sich Sinzheimer mit der rechtswissenschaftlichen Konstruktion des Tarifvertrags und versuchte erstmals seine normative Wirkung zu begründen.⁷⁸ Vornehmlich ging es ihm dabei um die Frage, wie der Tarifvertrag rechtswissenschaftlich ausgestaltet werden muss, damit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer aus ihm auch einklagbare Rechte ableiten können. Er geht dabei davon aus, dass das Recht nicht nur vom Staat, sondern auch durch gesellschaftliche Kräfte und ihre Verbände verbindlich begründet werden kann und muss.⁷⁹ Dieser Ansatz führt damit erstmals zur Begründung der normativen
Diese Bezeichnung beruht auf der in deutscher Übersetzung erschienenen Biographie des Japaners Kubo, Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrechts. Sinzheimer, Das Wesen des Arbeitsrechts, nachgedruckt in Kahn-Freund/Ramm (Hrsg.), Arbeitsrecht und Rechtssoziologie, Bd. 1, S. 110. Siehe zur Erläuterung der wirtschaftlichen Überlegenheit des Arbeitgebers Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Teil 1, S. 1 ff.; vgl. auch Kempen, AuR 2015, S. G 13. Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Teil 1, S. 23. Im Einzelnen siehe zur dogmatischen Begründung der normativen Wirkung des Tarifvertrags Kapitel 3, § 8. Sinzheimer, Theorie der Gesetzgebung, Die Idee der Evolution im Recht, insbesondere S. 93; vgl. Kempen, AuR 2015, S. G 13, G 14; siehe zu Sinzheimers sogenannter Verbandstheorie in diesem Zusammenhang, Waltermann, ArbR, Rn. 542, der zugleich auch darlegt, warum sie heute –
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Wirkung tarifvertraglicher Regelungen für Verbandsmitglieder.⁸⁰ Damit konzipierte Sinzheimer den Tarifvertrag, welcher die Arbeitsbedingungen fortan verbindlich regelte, erstmals als eigenständige Rechtsquelle.⁸¹
2. Die erste „Blütezeit“ der deutschen Tarifautonomie Diese rechtswissenschaftlichen Arbeiten Sinzheimers waren Grundlage für entsprechende Kodifizierungen in der Weimarer Republik und leiteten damit die erste „Blütezeit“ der deutschen Tarifautonomie ein. Initialzündend für künftige Kodifizierungen war dabei vor allem das am 15. November 1918 zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden abgeschlossene Zentralarbeitsabkommen.⁸² Ebenso kann das Stinnes-Legien-Abkommen als wichtiger tarifpolitischer Erfolg in der Weimarer Zeit verzeichnet werden.⁸³
a) Tarifvertragsverordnung Am 23. Dezember 1918 trat ein kodifiziertes Tarifvertragsrecht in Gestalt der Tarifvertragsverordnung (TVVO) in Kraft⁸⁴, die erstmals die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Abschluss eines Tarifvertrags gesetzlich festhielt. Die TVVO beruhte im Wesentlichen auf den rechtswissenschaftlichen Konstruktionen Sinzheimers. ⁸⁵ Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die TVVO auch eine normative Wirkung des Tarifvertrags für Verbandsmitglieder vorsah (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 TVVO). In vergleichbarer Weise ist die normative Wirkung des Tarifvertrags für Verbandsmitglieder heute in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG verortet.⁸⁶ Beachtenswert ist zudem, dass die TVVO auch bereits die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags in § 2 Abs. 1 Satz 1 sowie das Günstigkeitsprinzip in § 1 Abs. 1 Satz 2 enthielt. Mit dem Inkrafttreten der TVVO emanzipierte sich das Kollektivarbeitsrecht gegenüber dem individuellen Ar-
richtigerweise – nicht mehr vertreten wird; siehe zur heute vorherrschenden Debatte rund um die normative Begründung des Tarifvertrags im Einzelnen Kapitel 3, § 7. Siehe zur Begründung der normativen Wirkung ausführlich Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Teil 2, S. 4 ff. Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Teil 2, S. 1 f. Abgedruckt bei Blanke/Erd/Mückenberfer/Stascheit, Kollektives Arbeitsrecht, Quellentexte zur Geschichte des Arbeitsrechts in Deutschland, Bd. 1, S. 181 ff. RAVl. 874; dazu m.w.N. Wiedemann/Oetker, Geschichte Rn. 7. RGBl. 1918 I, S. 1456. Vgl. Kempen, AuR 2015, S. G 13, G 15; Zachert, RdA 2001, S. 104, 107. Vgl. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 8; JKOS/Jacobs, § 7 Rn. 1; Junker, ArbR, Rn. 504; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 2.
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beitsrecht und etablierte sich damit als selbstständiger Bestandteil der deutschen Arbeitsrechtsordnung.
b) Verfassungsrechtliche Verankerung Die am 14. August 1919 in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung (WRV)⁸⁷ sah ferner entsprechende verfassungsrechtliche Verankerungen vor. Auch bei der Erarbeitung der WRV war Sinzheimer maßgeblich beteiligt. Er war Mitglied des Ausschusses zur Beratung der Grundrechte (Art. 109 – 165 WRV) und gehörte dabei zum Kreis der Redaktionskommission.⁸⁸ Zum einen gewährleistete die WRV gem. Art. 159 WRV „die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Diese Regelung entspricht – fast wortlautgetreu – der heute in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit. Zum anderen stellte Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV klar, dass „die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen anerkannt werden“. Gemeint waren hiermit etwaige Zusammenschlüsse von Arbeitnehmer oder Arbeitgebern sowie deren Vereinbarungen in Form von Tarifverträgen. Damit wurde die Tarifautonomie erstmals auch verfassungsrechtlich verankert. Diese Kodifizierungen brachten einen weiteren Mitgliederzuwachs bei den Gewerkschaften mit sich: Der sogenannte freigewerkschaftliche ADGB konnte 1922 sogar einen Mitgliederbestand von 7,9 Millionen Arbeitnehmer verzeichnen.⁸⁹ Insgesamt waren in diesem Jahr 14,6 Millionen Beschäftigte in etwa 900.000 verschiedenen Betrieben von der normativen Wirkung geltender Tarifverträge erfasst.⁹⁰
IV. Tarifautonomie in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus Die Herrschaft der Nationalsozialisten gehört zu den düstersten Kapiteln der Geschichte deutscher Tarifautonomie. Durch die Wirtschaftskrise von 1922/1923 stieg sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosigkeit in Deutschland massiv an. Die Gewerkschaften vermochten es nicht, durch den Abschluss von Tarifverträgen diesem Trend entgegenzuwirken. Infolge praktischer Wirkungslosigkeit sank die
RGBl. 1919 I, S. 1383. Martiny, Integration oder Konfrontation?, S. 91 f.; siehe auch Zachert, RdA 2001, S. 104, 107. Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 5, S. 243. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 50; siehe auch Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 27; vgl. auch Wiedemann/Oetker, Geschichte Rn. 11.
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Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer im Jahr 1924 auf 4,7 Millionen.⁹¹ Der desaströse Zustand der deutschen Wirtschaft erleichterte den Nationalsozialisten die am 30. Januar 1933 erfolgte Machtergreifung. Noch im selben Jahr begannen die Nationalsozialisten mit der systematischen Zerschlagung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. So wurde bspw. die Mitgliederzeitung „Gewerkschaft“ am 18. Februar 1933 von den Nationalsozialisten verboten.⁹² Die nationalsozialistische Unterdrückung der Arbeiterbewegung gipfelte schließlich in der gewaltsamen Zerschlagung der freien Gewerkschaften am 2. Mai 1933. Dabei wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, das Vermögen konfisziert und etliche Gewerkschaftsfunktionäre verhaftet.⁹³ Auch das Vermögen der übrigen Gewerkschaften wurde beschlagnahmt, wodurch sie de facto zur Selbstauflösung gezwungen waren.⁹⁴ Als Surrogat gründeten die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 die Deutsche Arbeitsfront (DAF). Damit wurden Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen vollständig gleichgeschaltet und unterlagen nunmehr der nationalsozialistischen Programmatik. Gem. § 65 Nr. 6 des am 20. Januar 1934 erlassenen Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG)⁹⁵ wurde zudem die „Tarifvertragsverordnung samt den auf Grund dieser Verordnung erlassen Bestimmungen“ außer Kraft gesetzt. Von echter Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie konnte keine Rede mehr sein.
V. Tarifautonomie im Nachkriegsdeutschland (seit 1945) Mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft galt es dort wieder anzuknüpfen, wo bei der rechtlichen Ausgestaltung der Tarifautonomie in der Weimarer Republik aufgehört wurde.
1. Der Neuaufbau der Gewerkschaften Zunächst musste jedoch der Neuaufbau der Gewerkschaften vorangetrieben werden, deren gewachsene Strukturen in der Zeit des Nationalsozialismus zerschlagen wurden. Dabei erfuhr die Organisation der Gewerkschaften jedoch im Vergleich zur Weimarer Republik zwei weichenstellende Veränderungen: Zum
Schneider, Aussperrung: Ihre Geschichte und Funktion vom Kaiserreich bis heute, S. 86. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 31. Beier, Das Lehrstück vom 1. und 2. Mai 1933, S. 82; Perels, Blätter 2008, S. 87 ff. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 124. RGBl. I, S. 45.
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einen bestand große Einigkeit innerhalb der Arbeiterbewegung, sich fortan nicht mehr in sogenannten Richtungsgewerkschaften zu organisieren. Stattdessen wurde der Zusammenschluss in Einheitsgewerkschaften propagiert.⁹⁶ Damit wurde das Ziel der Sicherstellung von weltanschaulicher und parteipolitischer Neutralität im Gewerkschaftswesen verfolgt, um drohenden Zersplitterungen vorzubeugen.⁹⁷ So sieht sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seit seiner Gründung 1949 bis heute „dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft“ verpflichtet.⁹⁸ Als konkurrierende Richtungsgewerkschaft lässt sich dagegen der am 27. Juni 1959 (neu‐)gegründete Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) anführen, der dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft nicht entspricht. Zum anderen einigte man sich innerhalb der Arbeiterbewegung auf die Abkehr vom Berufsverbandsprinzip und wollte die Gewerkschaften fortan vielmehr nach dem Industrieverbandsprinzip organisieren.⁹⁹ Danach erfolgte die Zuordnung des betrieblichen Geltungsbereichs einer Gewerkschaft nicht mehr nach der jeweiligen Berufsgruppe des Arbeitnehmers (so nach dem Berufsverbandsprinzip), sondern anhand der jeweils einschlägigen Branche (bspw. Metallindustrie, Chemieindustrie etc.).¹⁰⁰ Gleichwohl bildeten sich etwa um die Jahrtausendwende zahlreiche Spartengewerkschaften heraus, die – nach dem Vorbild des Berufsverbandsprinzips – Tarifpolitik ausschließlich für eine bestimmte Berufsgruppe betrieben.¹⁰¹ Hiermit versprach man sich eine größere Durchschlagskraft und ein höheres Maß an Repräsentativität bei der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen.¹⁰²
2. Erneute Kodifizierungen Um für die Weiterentwicklung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie wieder an den Errungenschaften in der Weimarer Republik anknüpfen zu können, bedurfte es erneut entsprechenden Kodifizierungen. Dabei gelang es, sich auf die (einfach‐)gesetzliche Ausdifferenzierung der Tarifautonomie in Form des – bis heute nur wenig veränderten – TVG zu verständigen, welches am 22. April 1949 in
Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 34. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 34. https://www.dgb.de/themen/++co++d115de56 – 23ee-11df-7af2– 001ec9b03e44, zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 34. JKOS/Jacobs, § 5 Rn. 49. Vgl. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 73; siehe auch Kapitel 2, § 5.VI. Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 34.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
Kraft trat.¹⁰³ Inhaltlich entspricht das TVG in großen Teilen der TVVO der Weimarer Republik.¹⁰⁴ Auch auf eine den Art. 159, 165 Abs. 1 Satz 2 WRV inhaltlich vergleichbare verfassungsrechtliche Kodifizierung der Koalitionsfreiheit konnte sich in Form von Art. 9 Abs. 3 GG geeinigt werden.¹⁰⁵ Sogar in einzelnen Landesverfassungen der Bundesländer wurden entsprechende Kodifizierungen vorgenommen, die teilweise sogar über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung im GG hinausgehen. Beispielhaft kann hierfür die Hessische Verfassung angeführt werden, die neben der Garantie von Gewerkschaften, der Tarifautonomie und des Streikrechts auch ein ausdrückliches Verbot des arbeitgeberseitigen Arbeitskampfmittels der Aussperrung in Art. 29 Abs. 5 HV enthält.
3. Tarifpolitische Erfolge Aufbauend auf diesen organisatorischen und gesetzlichen Restaurationen gelang es den Sozialpartnern einige nennenswerte tarifpolitische Erfolge zu erzielen: So betrieben die Gewerkschaften in erster Linie eine Tarifpolitik, die darauf gerichtet war, die Löhne ihrer Mitglieder zu erhöhen. Dies führte schließlich dazu, dass sich die Reallöhne (unter Berücksichtigung von Preisanstiegen) der tarifgebundenen Arbeitnehmer bis zum Jahr 1973 in etwa verdreifachten.¹⁰⁶ Damit erfuhr die arbeitende Bevölkerung in Deutschland eine erhebliche Steigerung ihrer Lebensqualität. Hervorzuheben sind ferner tarifpolitische Erfolge bei der Arbeitszeit. Die 48-Stunden Woche wurde bis zum Jahr 1970 fast vollständig durch tarifvertragliche Vereinbarungen abgelöst, die eine Arbeitswoche von 40 Stunden vorsahen.¹⁰⁷ Hierdurch konnte die Arbeitsbelastung der arbeitenden Bevölkerung erheblich reduziert werden. Mit dieser Tarifpolitik ging schließlich auch ein Rückgang der Arbeitslosigkeit¹⁰⁸ und eine stetig zunehmende Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt)¹⁰⁹ in Deutschland einher.
WiGBl. 1949, S. 55 ff., 68. So auch Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 53; siehe zum Vergleich von TVG und TVVO bereits Kapitel 2, § 4.III.2.a). BGBl 1949 I, S. 1 ff.; im Übrigen siehe zur verfassungsrechtlichen Ausgestaltung von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie gem. Art. 9 Abs. 3 GG bereits Kapitel 2, § 3.II. WSI-Mitteilungen 1973, S. 422. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 45; Jansen, Der Einfluss staatlicher Arbeitsmarktpolitik auf die Entwicklung der Tarifautonomie, S. 56. Siehe hierzu die Angaben des Statistischen Bundesamtes: https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrarb003.html; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Siehe hierzu die folgenden Angaben des Statistischen Bundesamtes: https://service.destatis. de/DE/vgr_dashboard/bip.html; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020.
§ 5 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen
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§ 5 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen Auch in diesen Tagen muss sich die Tarifautonomie neuen Herausforderungen stellen. So haben zum einen die turbulenten Entwicklungen bei den Mitgliederstrukturen in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie genommen. Zum anderen haben die Sozialpartner aber bereits auf diese veränderten Rahmenbedingungen mit tarifpolitischen Maßnahmen reagiert. Zu nennen sind hier vor allem Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen und „Mitgliedschaften ohne Tarifbindung“ (OTMitgliedschaft). Schließlich hat aber auch der Bundesgesetzgeber mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie genommen. In diesem Zusammenhang sind die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die Schaffung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns sowie die erweiterte Gestaltungsfreiheit für Rechtsverordnungen nach dem AEntG hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund ist eine zunehmend unübersichtlicher werdende Gemengelage rund um die Tarifautonomie und das Tarifvertragssystem entstanden. Im Folgenden werden daher wesentliche veränderte Rahmenbedingungen für die Tarifauotnomie dargestellt und systematisiert, ohne aber zunächst eine rechtspolitische oder verfassungsdogmatische Bewertung vornehmen zu wollen.¹¹⁰
I. Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften Angesichts der historisch gewachsenen Bedeutung der Gewerkschaften für die Tarifautonomie in Deutschland erscheint ihr rechtstatsächlicher Zustand geradezu besorgniserregend. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer sinkt schon seit Jahren kontinuierlich. Immer weniger Arbeitnehmer entscheiden sich für die Mitgliedschaft in einer gewerkschaftlichen Organisation. Dieser Trend lässt sich anhand der nachfolgenden Tabelle statistisch nachvollziehen, die den gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer abbildet:¹¹¹
Derartige Erwägungen sind Gegenstand von Kapitel 4. Die angegebenen Zahlen zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer in Deutschland beruhen auf der Darstellung bei Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 12 Rn. 4; siehe hierzu ergänzend auch Biebeler/Haas, IW-Gewerkschaftsspiegel 3/2011, S. 1 („Zukunft ohne Mitglieder“), Hellmich, IW-Gewerkschaftsspiegel 1/2016, S. 1 („Drei im Plus“) und Schmid, IWGewerkschaftsspiegel 1/2013, S. 1 („Trendwende steht bevor“).
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Jahr
Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
Beschäftigte Gewerkschaftsmitglieder in %¹¹²
Tabelle 1: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Deutschland
Waren im Jahr 1951 noch ca. 45 % aller Arbeitnehmer in Deutschland in Gewerkschaften organisiert, so sank der Organisationsgrad über die Jahre hinweg kontinuierlich. So konnte im Jahr 1996 nur noch ein Organisationsgrad der Arbeitnehmer in Gewerkschaften von ca. 34 % verzeichnet werden, ehe er bis 2016 auf ca. 19 % sogar noch deutlicher herabfiel. Damit sank der Organisationsgrad in den letzten 60 Jahren insgesamt um ca. 26 %.
1. Mitgliederentwicklung des Deutschen Gewerkschaftsbundes Der DGB ist der größte deutsche gewerkschaftliche Dachverband und unterteilt sich in zahlreiche weitere Einzelgewerkschaften: IG Metall (IGM), Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), IG Bauen-Agrar-Umwelt (BAU), Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Gewerkschaft Nahrung-GenussGaststätten sowie die Gewerkschaft der Polizei.¹¹³ Die Entwicklung seines Mitgliederbestandes kann daher repräsentativ für den Zustand der Gewerkschaftslandschaft in Deutschland herangezogen werden, wodurch der oben beschriebene sinkende Organisationsgrad der Arbeitnehmer noch präziser nachvollzogen
Berücksichtigt wird hierbei die Organisation der Arbeitnehmer in den folgenden gewerkschaftlichen Dachverbänden: DGB, DAG (seit 2001 gehört sie zu ver.di und damit zum DGB), DBB, CGB. Die Angaben beziehen sich nur auf aktive Arbeitnehmer, d. h., Gewerkschaftsmitgliedschaften von Rentnern, Arbeitslosen und Studenten werden in der Darstellung nicht berücksichtigt. Siehe http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/gewerkschaften-im-dgb; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020.
§ 5 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen
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werden kann. Die Mitgliederentwicklung des DGB in den letzten Jahren und Jahrzehnten veranschaulicht die folgende Tabelle:¹¹⁴ Jahr /
Mitglieder des DGB¹¹⁵ .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
Tabelle 2: Mitgliederentwicklung des DGB
Parallel zum dargestellten sinkenden Organisationsgrad der Arbeitnehmer in Deutschland ist auch beim DGB seit den 90er-Jahren ein signifikanter und kontinuierlicher Rückgang seines Mitgliederbestandes zu erkennen. Zwar konnte der DGB noch 1991 seinen organisationspolitischen Höhepunkt mit über 11 Millionen Mitgliedern verzeichnen. Das sollte sich jedoch die darauffolgenden Jahre dramatisch ändern. Bereits bis zum Jahr 1999 sank sein Mitgliederbestand auf ca. 8 Millionen, ehe er bis 2008 mit ungefähr 6,3 Millionen Mitgliedern noch deutlicher einbrach. Aktuelle Angaben des DGB zu seinem Mitgliederbestand betreffen das Jahr 2018 und beziffern einen Mitgliederumfang von 5.974.950. Die Differenz zum Mitgliederhöhepunkt von 1991 ist beträchtlich und beträgt nunmehr fast 6 Millionen.
2. Mitgliederzahlen bei sonstigen Gewerkschaften: DBB und Marburger Bund Der allgemeine Trend des oben beschriebenen Mitgliederschwundes scheint widerlegt, wenn man auf die Mitgliederentwicklung in den sonstigen Gewerk-
Die aufgeführten Zahlen zur Mitgliederentwicklung basieren auf den eigenen Angaben des DGB, abrufbar unter: http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020. Aufgeführt ist hier die Addition der Mitglieder der o.g. verschiedenen Einzelgewerkschaften des DGB.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
schaften fokussiert.¹¹⁶ So kann der Marburger Bund, eine Gewerkschaft für angestellte und verbeamtete Ärzte, einen Mitgliederzuwachs in den letzten Jahren verzeichnen. Sein Mitgliederbestand stieg kontinuierlich um ca. 40.000 Mitglieder an. Mittlerweile verfügt der Marburger Bund über ungefähr 114.000 Mitglieder.¹¹⁷ Ebenso gibt auch der Deutsche Beamtenbund (DBB; eigene Bezeichnung: „DBB Beamtenbund und Tarifunion“) einen Mitgliederzuwachs an und verfügt nach eigenen Angaben über derzeit etwa 1,3 Millionen Mitglieder.¹¹⁸ Gleichwohl sind diese Entwicklungen nicht imstande den oben beschriebenen Trend des Mitgliederschwundes in Frage zu stellen. Ihre Entwicklungen stehen nicht repräsentativ für die Entwicklungen des Mitgliederbestandes der gesamten Gewerkschaftslandschaft. Insbesondere die Mitgliederentwicklungen des Marburger Bundes als Spartengewerkschaft für Ärzte eignet sich nicht für die Abbildung der Mitgliederentwicklung in den deutschen Gewerkschaften.Viel aussagekräftiger ist dagegen der Mitgliederbestand des DGB als größter deutscher Gewerkschaftsdachverband.
3. Mögliche Ursache: fehlende ökonomische Anreize? Der erhebliche Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften (insbesondere also beim DGB) hat Ursachen. Es stellt sich also die Frage, woran es liegt, dass sich Arbeitnehmer in Deutschland zunehmend weniger in Gewerkschaften organisieren. Überwiegend werden fehlende ökonomische Anreize als Ursache ausgemacht.¹¹⁹ Die Gewerkschaftsmitgliedschaft samt Beitragszahlung rechne sich in finanzieller Hinsicht nicht. Das leuchtet auch ein, wenn man bedenkt, dass viele Arbeitsverträge Bezugnahmeklauseln enthalten. Tarifverträge gelten vielfach
Zur Entwicklung des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB) sind keine verlässlichen Angaben vorhanden. Der CGB gibt selbst an über ca. 280.000 Mitglieder zu verfügen, abrufbar unter http://www.cgb.info/aktuell/aktuelles.html; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020. Eine konkrete Offenlegung ist hingegen nicht erfolgt; vielmehr weigerte sich eine Einzelgewerkschaft des CGB vor Gericht entsprechende Mitgliederzahlen offenzulegen, BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), becklink 1005714. Die dargestellten Zahlen zur Mitgliederentwicklung beruhen auf eigenen Angaben des Marburger Bundes, abrufbar unter https://www.marburger-bund.de/vorteile; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020. Abrufbar unter http://dbb.de/teaserdetail/artikel/dbb-erneut-mit-kraeftigem-anstieg-dermitgliederzahlen.html; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 360 f.; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 21 f.; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878; etwas differenzierender Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 48 f.; zuzugeben ist jedoch, dass ökonomische Anreize wohl einen positiven Einfluss auf die Mitgliederentwicklung haben „könnten“; siehe hierzu auch Kapitel 2, § 5.III.
§ 5 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen
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unabhängig von einer entsprechenden Verbandsmitgliedschaft kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme. Weshalb sollte man sich gewerkschaftlich organisieren und den Mitgliedsbeitrag zahlen, wenn man ohnehin in den Genuss tarifvertraglicher Leistungen kommt? Dass fehlende ökonomische Anreize damit eine – wenn auch nicht abschließende – Erklärung für den zunehmenden Mitgliederschwund sind, liegt insoweit auf der Hand. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass über die fehlenden ökonomischen Anreize hinaus noch weitere Ursachen für den rückläufigen Organisationsgrad verantwortlich sind. Vielleicht hat auch schlicht die intrinsische Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Organisation in Gewerkschaften abgenommen. Dass die Kollektivierungsbereitschaft bei Arbeitnehmern nicht Hoch im Kurs steht, ist schließlich kein Phänomen, dass nur die Gewerkschaften betrifft. Individualisierungstendenzen sind auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher Zusammenschlüsse zu erkennen, die ebenso in sinkenden Mitgliederzahlen anderer Organisationen (Kirchen, Parteien, Vereine etc.) ihren Ausdruck finden.¹²⁰ Diese Frage, die einen genuin soziologischen Untersuchungsgegenstand¹²¹ betrifft, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden.¹²²
4. Sinkende Tarifbindung der Arbeitnehmer Gem. § 3 Abs. 1 TVG sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien tarifgebunden. Tarifbindung und Verbandsmitgliedschaft werden hierdurch miteinander verknüpft. Daraus folgt aber, dass sinkende Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften (und bei den Arbeitgeberverbänden) immer auch Auswirkungen auf den Umfang tarifgebundener Arbeitnehmer zeitigen. Daher verwundert es nicht, dass auch die Tarifbindung der Arbeitnehmer in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Diese Entwicklung veranschaulicht die folgende Übersicht:¹²³
Siehe beispielhaft die Mitgliederentwicklung bei den Kirchen Willems, Kirchen in: Winter/ Willems (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland, S. 316, 317 f. Siehe hierzu ausführlich Zimmer, Gewerkschaften und die Trittbrettfahrer-Problematik, S. 35 ff. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird allerdings der Frage nachgegangen, inwiefern die derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen geeignet sind, die Mitgliedschaft in Gewerkschaften zu fördern; siehe hierzu insbesondere Kapitel 4. Die dargestellte Entwicklung der Tarifbindung entstammt aus Angaben des WSI-Tarifarchivs zur Tarifpolitik 2019, beruhend auf einem IAB-Betriebspanel, abgedruckt unter 1.6 im Statistischen Taschenbuch zur Tarifpolitik 2019, abrufbar unter https://www.boeckler.de/pdf/p_ta_tariftaschenbuch_2019.pdf; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020.
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Jahr
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West
Ost
Tabelle 3: Tarifbindung der Arbeitnehmer in Deutschland in %
Dieser Darstellung lässt sich entnehmen, dass – parallel zur Entwicklung der Mitgliederzahlen beim DGB – die Tarifbindung der Arbeitnehmer in West- und Ostdeutschland in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken ist. Mit der Jahrtausendwende sank die Tarifbindung bis 2002 in Ostdeutschland auf 55 % und in Westdeutschland auf 70 %. Diese Entwicklung setzte sich die kommenden Jahre fort. Im Jahr 2014 waren in Westdeutschland lediglich noch 60 % der Arbeitnehmer tarifgebunden, währenddessen in Ost-Deutschland nicht einmal mehr jeder zweite Arbeitnehmer. Dieser Trend sinkender Tarifbindung setzt sich bis heute fort. Auch für das Jahr 2018 konnte sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland ein erneuter Rückgang tarifgebundener Arbeitnehmer verzeichnet werden.
II. Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge Als eine besondere Gestaltungsform innerhalb der beschriebenen Gemengelage von sinkenden Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften, tritt auch die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge im Umfeld veränderter Rahmenbedingungen in Erscheinung. Bei ihr handelt es sich per definitionem um eine individualvertragliche Vereinbarung über die Geltung tarifvertraglicher Regelungen für das jeweilige Arbeitsverhältnis.¹²⁴ Mit der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel können dem Arbeitsverhältnis also tarifvertragliche Regelungen zugrunde gelegt werden, ohne dass es einer entsprechenden mitgliedschaftlichen Tarifbindung des Arbeitnehmers gem. § 3 Abs. 1 TVG bedarf. Die Bezugnahmeklausel
Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn. 297; siehe differenzierend zur Terminologie Ebeling, Die Bezugnahme auf Tarifverträge im Arbeitsvertrag, S. 3 f. und m.w.N. zu aktuellen Rechtsentwicklungen Greiner/Pionteck, SR 2019, S. 45 ff.
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bewirkt damit, dass die Geltung tarifvertraglicher Regelungen nicht normativ i.S.d. § 4 Abs. 1 TVG erfolgt, sondern allein schuldrechtlich kraft Arbeitsvertrag.¹²⁵
1. Motivation: Ordnungswirkung und Schwächung der Gewerkschaften? Die arbeitsvertragliche Regelung derartiger Bezugnahmen auf Tarifverträge werden in der Regel vom Arbeitgeber forciert und klauselartig¹²⁶ dem Arbeitsvertrag zugrunde gelegt.¹²⁷ Die Motive des Arbeitgebers für ihre Verwendung können gleichwohl mannigfaltig sein:¹²⁸ So kann der Arbeitgeber zum einen ein Interesse daran haben, die Arbeitsbedingungen in seinem Betrieb zu vereinheitlichen, um so den Betriebsfrieden sicherzustellen.¹²⁹ Die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel dient ihm dann als Ordnungsinstrument. Will der Arbeitgeber die reibungslose und vollständige Gleichstellung seiner Arbeitnehmer im Betrieb erreichen, muss er ferner auch bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag vorsehen, da ihm die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei der Einstellung eines Arbeitnehmers auch nach der Rechtsprechung des BAG nicht gestattet ist.¹³⁰ Zum anderen wird dem Arbeitgeber häufig die Motivation unterstellt, mit der Verwendung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln eine – zumindest mittelbare – Schwächung der Gewerkschaften zu intendieren. Schließlich besteht für den Arbeitnehmer kein Anreiz mehr, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wenn er ohnehin qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme in den Genuss tarifvertraglicher Normen gelangt.¹³¹ Insoweit erweist sich die arbeitsvertragliche Bezugnahme auch für die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer als nützliche Vertragsklausel. Sie profitieren von tariflichen Normen, ohne einen mit der Verbandsmitgliedschaft verbundenen Gewerkschaftsbeitrag zahlen zu müssen.¹³² Mit Söllners
BAG, 19.03. 2003 (4 AZR 331/02), NZA 2003, S. 1207, 1208; Thüsing/Braun/Reufels, Tarifrecht, 8. Kapitel Rn. 24; a.A. v. Hoyningen-Huene, RdA 1974, S. 138, 140 ff. Vgl. Eich, NZA 2006, S. 1014, 1019. Vgl. Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Änderungen der Tarifgeltung, S. 88. Siehe eine besonders detaillierte Erörterung der Motivationslage bei Eich, NZA 2006, S. 1014, 1019 f. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 21; Thüsing/Braun/Reufels, Tarifrecht, 8. Kapitel Rn. 15. BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306; BAG, 28.03. 2000 (1 ABR 16/99), NZA 2000, S. 1294. Vgl. dazu Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 21; Greiner, ZfA 2017, S. 309, 330; Däubler TVG/ Lorenz, TVG, § 3 Rn. 217; Thüsing/Braun/Reufels, Tarifrecht, 8. Kapitel Rn. 16; Waltermann, HSISchrift, Bd. 15, S. 22. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 22.
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Worten gesprochen: Nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer „ernten, wo sich nicht säen“.¹³³
2. Empirie und Relevanz für die Untersuchung Auch in quantitativer Hinsicht ist die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel eine Erscheinungsform, die auf die tariflichen Rahmenbedingungen einen beachtlichen Einfluss hat. So hat eine empirische Untersuchung von Preis ergeben, dass ca. 90 % aller Arbeitsverträge – meistens in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB)¹³⁴ – eine Bezugnahme auf Tarifverträge enthalten.¹³⁵ Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung von 1988/1989 erklärt Preis vor dem Hintergrund neuer Publikationen von Vertragsmustern auch heute noch für aktuell.¹³⁶ In Anbetracht des oben beschriebenen sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades wird deutlich, dass für einen großen Teil der Arbeitnehmer in Deutschland tarifvertragliche Regelungen nicht normativ nach Maßgabe von § 4 Abs. 1 TVG kraft Tarifbindung, sondern schuldrechtlich qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme gelten.¹³⁷
III. Differenzierungsklauseln im Tarifvertrag Die häufige Verwendung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln ruft – gewissermaßen als eine Art gewerkschaftlicher Gegenreaktion – die Differenzierungsklausel im Tarifvertrag auf den Plan. Hierunter sind alle tarifvertraglichen Vereinbarungen zu verstehen, die bestimmte Leistungen exklusiv für diejenigen Arbeitnehmer vorsehen, die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind.¹³⁸ Damit zielt die Differenzierungsklausel grundsätzlich darauf ab, die Gleichstellung der Arbeitnehmer im Betrieb, die jedoch gerade mit der Verwendung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln forciert werden soll, zumindest
Söllner/Waltermann, Grundriss des Arbeitsrechts, Rn. 194. Vgl. Eich, NZA 2006, S. 1014, 1019. Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 17 ff., 22 ff., 25. Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 1. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 563; Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 4; Richardi, NZA 2013, S. 408, 409; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 22; kritisch zum Verhältnis von normativer und schuldrechtlicher Tarifregelungen siehe Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Änderungen der Tarifgeltung, S. 141 f. Siehe vor allem Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 26; siehe auch Thüsing/ Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kapitel, 170 Differenzierungsklauseln, Rn. 1.
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punktuell zu vereiteln. Insofern sind Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen auf die Absicherung der (exklusiv) mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormgeltung gerichtet, um die in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG angelegte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit¹³⁹ jedenfalls teilweise wiederherzustellen. Die tarifvertragliche Geltung bleibt in Bezug auf „Tarifboni“ und ähnliche (nach der Gewerkschaftszugehörigkeit) differenzierende Leistungen damit – jedenfalls vorerst¹⁴⁰ – ein exklusives Gut für Gewerkschaftsmitglieder.
1. Motivation: Lösung der Trittbrettfahrerproblematik? Die Motivation der Gewerkschaften zur Durchsetzung von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen liegt auf der Hand: Sie verstehen die Differenzierungsklausel als ein Mittel, die Gewerkschaftsmitgliedschaft für Arbeitnehmer wieder attraktiver zu machen. Mit ihr versuchen sie dem anhaltenden Trend sinkender Mitgliederzahlen entgegenzuwirken. Intendiert wird also die Wiederherstellung der – durch die häufige Verwendung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen auf Tarifverträge weitestgehend aufgehobene – exklusive Wirkung tarifvertraglicher Regelungen, wie sie im gesetzlichen „Normalfall“ der Tarifnormwirkung in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG ihren Ausdruck findet.¹⁴¹ Die Differenzierungsklausel soll insofern auch der Bekämpfung des sogenannten „Trittbrettfahrertums“¹⁴² dienen, wonach tarifvertragliche Regelungen auf gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeitnehmer erstreckt werden, die damit – um es wieder mit den Worten Söllners auszudrücken – „ernten, wo sie nicht säen“¹⁴³.
2. Empirie und Relevanz für die Untersuchung Einige Beispiele aus der Tarifpraxis weisen zumindest stark darauf hin, dass die Differenzierungsklausel im Tarifvertrag ein durchaus probates Mittel ist, um die Attraktivität der Gewerkschaftsmitgliedschaft zu erhöhen. So soll eine Vorteilsregelung für Mitglieder der Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) aus dem Jahr
Vgl. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 21. Nicht alle Typen der Differenzierungsklausel sind imstande, die mit der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel bezweckte Gleichstellung zu verhindern. Zu den verschiedenen Typen der Differenzierungsklauseln und ihrer jeweiligen Wirkungsweise siehe im Einzelnen Kapitel 4, § 11.I. Vgl. Creutzfeld, AuR 2019, S. 354, 357. So insbesondere bezeichnet von Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147 und von Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2113; siehe auch Greiner, NZA 2016, S. 10 und Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 360. Söllner/Waltermann, Grundriss des Arbeitsrechts, Rn. 194.
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1964 dazu geführt haben, dass sich ihr Mitgliederbestand um 40 % erhöht hat.¹⁴⁴ Ebenso soll die Differenzierungsklausel, die damals der berühmten Entscheidung des Großen Senats des BAG aus dem Jahr 1967 zugrunde lag, entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Organisationsgrad im Bereich der Metallindustrie von ursprünglich 20 % auf 90 % angestiegen ist.¹⁴⁵ Seitdem der Große Senat aber erklärt hat, dass „Differenzierungsklauseln jedweder Art“ unzulässig seien, ist es um die Differenzierungsklausel in der Tarifpolitik lange Zeit still geworden.¹⁴⁶ Erst 2004 wagte die IG-Metall erste Schritte in Richtung einer Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, indem sie zunehmend begann, Tarifverträge abzuschließen, die eine Vorteilsregelung für ihre eigenen Mitglieder beinhalteten.¹⁴⁷ An tarifpolitischen Gewicht gewann die Differenzierungsklausel nicht zuletzt durch eine Entscheidung des BAG vom 18. März 2009, in der jedenfalls die sogenannte einfache Differenzierungsklausel für zulässig erklärt wurde.¹⁴⁸ Ebenso hat das BAG in einer Entscheidung vom 15. April 2015 sogar eine Differenzierungsklausel in Form der sogenannten Stichtagsklausel für zulässig erklärt.¹⁴⁹ Durch diesen Rechtsprechungswechsel erlebte die Differenzierungsklausel einen echten Aufschwung und zunehmende tarifpolitische Relevanz. Auch künftig dürfte sie zunehmend weiter an Bedeutung für die Tarifpraxis gewinnen.
IV. Mitgliederschwund bei den Arbeitgeberverbänden? Parallel zu den Gewerkschaften ist auch die Mitgliederentwicklung bei den Arbeitgeberverbänden zu betrachten. Die Darstellung ihres Mitgliederbestandes gestaltet sich jedoch deutlich schwieriger als bei den Gewerkschaften. Zumeist veröffentlichen die Arbeitgeberverbände in diesem Zusammenhang keine aussagekräftigen Zahlen.¹⁵⁰ Ein eindeutiges und abschließendes Bild über die Mitgliederentwicklung bei den Arbeitgeberverbänden in Deutschland kann daher nicht gezeichnet werden.
Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, S. 83. Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, S. 32. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 218. Giesen, NZA 2004, S. 1317. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388. Teilweise wird daher für die Untersuchung der Mitgliederentwicklung bei den Arbeitgeberverbänden auf die Tarifbindung der Arbeitgeber an Verbandstarifverträge abgestellt, siehe bspw. Völkl, Industrielle Beziehungen, 1998, S. 165 ff.
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1. Anhaltspunkt: Mitgliederentwicklung des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall Zumindest der Arbeitgeberverband Gesamtmetall¹⁵¹ veröffentlicht seit einigen Jahren Angaben zur Entwicklung seines Mitgliederbestands.¹⁵² Sie können zumindest für den weiteren Verlauf der Untersuchung als wichtige Anhaltspunkte herangezogen werden: Den Angaben des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall lässt sich entnehmen, dass der Organisationsgrad der westlichen Metallindustrie bis 1990 konstant bei ca. 75 % verblieb. Anfang der 1990er Jahre beginnt jedoch eine Talfahrt des Mitgliederbestandes beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Der Organisationsgrad sank sodann um bis zu ca. 25 %.¹⁵³ 2016 betrug der Organisationsgrad der westlichen Metallindustrie beim Arbeitgeberverband Metallindustrie nur noch 53 %. Diese Mitgliederentwicklung beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall wird vielfach dahingehend generalisiert, dass auch insgesamt bei den Arbeitgeberverbänden in Deutschland auf sinkende Mitgliederzahlen geschlossen wird.¹⁵⁴ Dafür spricht, dass der Arbeitgeberverband Gesamtmetall das zahlenmäßig größte Mitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) ist und damit jedenfalls einen großen Teil der organisierten Arbeitgeber in Deutschland repräsentiert. Hierfür spricht auch, dass Arbeitgeberverbände zunehmend OT-Mitgliedschaften anbieten – wohl um die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband wieder attraktiver zu gestalten.¹⁵⁵ Teilweise wird jedoch auch davon ausgegangen, dass sich die Mitgliederzahlen bei den Arbeitgeberverbänden mittlerweile wieder etwas stabilisiert haben.¹⁵⁶
2. Mögliche Ursachen: Flexibilisierung und Tarifflucht Auch der sinkende Organisationsgrad in Arbeitgeberverbänden hat Ursachen: Der Mitgliedschaft des Arbeitgebers in einem Arbeitgeberverband fehlt es offenbar an Attraktivität. Häufig wird in diesem Zusammenhang auf die fehlende Flexibilität
Genaue Bezeichnung: Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie e.V. Die Angaben sind abrufbar unter https://www.gesamtmetall.de/branche/me-zahlen/zahlenheft/mitgliedsfirmen-und-beschaeftigte-den-verbaenden-von-0; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020; gestützt wird sich ferner auf die Analyse bei Silvia, Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Unternehmerverbände, in Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, S. 249, 257 ff.; vgl. auch Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473 ff. Siehe hierzu auch Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473, 474. Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386; siehe besonders ausführlich Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 21 ff.; vgl. auch Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473, 474 f. Siehe hierzu Kapitel 2, § 5.V. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 46.
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des Tarifvertragssystems für die Arbeitgeberseite verwiesen.¹⁵⁷ Zudem seien die mit der Mitgliedschaft verbundenen internen Vorteile (Rechtsberatung, Prozessvertretung etc.) nicht ausreichend, die Übertragung der Tarifbindungsmacht zu kompensieren. Schließlich gehen mit einer Tarifbindung regelmäßig auch höhere Personalkosten für Arbeitgeber einher. Andere verweisen auf die aus Arbeitgebersicht bestehende „Endlosbindung“ an Tarifverträge, die ihren Ausdruck in den Instituten der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) finde. Daher sei es nicht verwunderlich, wenn Arbeitgeber – angesicht der (vermeintlich) ewigen Bindung an Tarifverträge – von vornherein von einer Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband absehen.¹⁵⁸ In diesem Zusammenhang wird den Arbeitgebern auch häufig das Motiv der „Tarifflucht“ unterstellt.¹⁵⁹
3. Sinkende Tarifbindung der Arbeitgeber Die in § 3 Abs. 1 TVG verankerte Verknüpfung von Verbandsmitgliedschaft und Tarifbindung führt dazu, dass die Anzahl tarifgebundener Arbeitgeber rückläufig ist. Zu beachten ist allerdings, dass auch der Arbeitgeber selbst einen (Firmen‐) Tarifvertrag abschließen kann (vgl. § 2 Abs. 1 TVG), an den er dann gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist.¹⁶⁰ Insofern wirken sich sinkende Mitgliederzahlen bei den Arbeitgeberverbänden unmittelbar nur auf die (mitgliedschaftlich legitimierte) Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an Verbandstarifverträge aus. Die Entwicklung der Tarifbindung auf Arbeitgeberseite für West- und Ostdeutschland veranschaulicht die nachfolgende Übersicht:¹⁶¹
So bspw. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 48. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 46; Deinert, SR 2017, S. 24, 26. Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 96 ff.; vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87; siehe hierzu auch Walser, SR 2017, S. 41. ErfK/Franzen, TVG, § 2 Rn. 15, 20. Die dargestellte Entwicklung der Tarifbindung entstammt aus Angaben des WSI-Tarifarchivs zur Tarifpolitik 2019, beruhend auf einem IAB-Betriebspanel, abgedruckt unter 1.9 und 1.10 im Statistischen Taschenbuch zur Tarifpolitik 2019, abrufbar unter https://www.boeckler.de/pdf/ p_ta_tariftaschenbuch_2019.pdf; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020.
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Tabelle 4: Tarifbindung der Arbeitgeber in Deutschland in %
Aus dieser Darstellung geht deutlich hervor, dass in West- und Ostdeutschland die Tarifbindung der Arbeitgeber in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken ist. Waren in Westdeutschland 1998 noch 53 % der Arbeitgeber an Tarifverträge gebunden, so sank die Tarifbindung bis 2006 auf 39 %. Im Jahr 2014 waren nur noch 33 % der Arbeitgeber in Westdeutschland tarifgebunden. Auch der Trend sinkender Tarifbindung auf Arbeitgeberseite setzt sich bis heute fort. So konnte für das Jahr 2018 sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland ein erneuter Rückgang tarifgebundener Arbeitgeber verzeichnet werden. Auffällig ist dabei, dass insbesondere die Tarifbindung der Arbeitgeber an weiträumige Verbandstarifverträge erheblich gesunken ist.¹⁶² Hierin finden sinkende Mitgliederzahlen bei den Arbeitgeberverbänden ihren unmittelbaren Niederschlag.¹⁶³
V. OT-Mitgliedschaften Vor dem Hintergrund rückläufiger Mitgliederzahlen und sinkender Tarifbindung auf Arbeitgeberseite ist die OT-Mitgliedschaft eine beachtenswerte Erscheinungsund Reaktionsform der Arbeitgeberverbände. Die OT-Mitgliedschaft ist eine besondere Mitgliedschaftsform in den Arbeitgeberverbänden, die dem Arbeitgeber einerseits weiterhin die internen Vorteile (Rechtsberatung, Prozessvertretung etc.) zugesteht, andererseits aber garantiert, nicht einer Bindung an abgeschlossene Verbandstarifverträge zu unterliegen.¹⁶⁴ Charakteristisch für die OT-Mitgliedschaft ist demnach vor allem der Umstand, dass der Arbeitgeber dem Verband – anders als bei der Vollmitgliedschaft – nicht die Legitimation bzw. Rechtsetzungsmacht erteilt, verbindliche Tarifverträge abschließen zu können. Damit forcieren die Arbeitgeberverbände zunehmend ein duales Mitgliedschaftssystem,
Vgl. Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386. Dazu ausführlich Walser, SR 2017, S. 41 ff. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 58; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 204 Rn. 11.
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wonach der einzelne Arbeitgeber zwischen Vollmitgliedschaft und OT-Mitgliedschaft frei wählen kann.¹⁶⁵ Die OT-Mitgliedschaft stellt damit die Weichen für ein Tarifsystem, in dem die mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 TVG zunehmend an Bedeutung verliert.¹⁶⁶
1. Motivation Gewissermaßen ist die OT-Mitgliedschaft eine Reaktion der Arbeitgeberverbände auf die negative Mitgliederentwicklung. Damit gehen die Arbeitgeberverbände offensichtlich davon aus, dass sich der Mitgliederschwund der letzten Jahre aus dem Wunsch der Arbeitgeber nach „Tarifflucht“ speist. Mit der Mitgliedschaftsform der OT-Mitgliedschaft versprechen sich die Arbeitgeberverbände daher, den Bedürfnissen von Arbeitgebern gerecht zu werden, um so ihre Mitgliederzahlen künftig wieder zu erhöhen.¹⁶⁷ Nicht zuletzt sind die Arbeitgeberverbände auf die Mitgliedschaftsbeiträge der Arbeitgeber auch angewiesen. Sie sind wesentlicher Bestandteil ihrer Finanzierungsgrundlage. Die Tarifpraxis zeigt dabei, dass OTMitglieder regelmäßig Beiträge in derselben Höhe entrichten wie Vollmitglieder.¹⁶⁸ Vor diesem Hintergrund fällt es den Arbeitgeberverbänden leicht, sich mit dieser Mitgliedschaftsform zu arrangieren.
2. Empirie und Relevanz für die Untersuchung Erstmalig eingeführt wurde die OT-Mitgliedschaft wohl in einer Satzung des Verbandes der Holz- und Kunststoff verarbeitenden Industrie Rheinland-Pfalz e.V. in der Fassung vom 29. Juni 1990.¹⁶⁹ Nachdem das BAG in zwei Grundsatzentscheidungen die satzungsmäßige OT-Mitgliedschaft (ausgestaltet nach dem „Stufenmodell“)¹⁷⁰ für zulässig erklärt hat¹⁷¹, dürfte diese Mitgliedschaftsform bei
Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 59; Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 467. Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386. Behrens,WSI-Mitteilungen 2013, S. 473, 477; Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 467; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 28 ff.; Dieterich, NZA-Beil. 2011, S. 84, 86; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 58; besonders differenzierend Behrens/ Helfen, WSI-Mitteilungen 2016, S. 452, 455 ff. Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 472 f.; siehe dazu auch Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 20 ff. Diese Satzung war sodann Gegenstand von LAG Rheinland-Pfalz, 17.02.1995 (10 Sa 1092/94), NZA 1995, S. 802 ff.; vgl. hierzu auch Buchner, RdA 2006, S. 308. Siehe zu den rechtlichen Konstruktionsformen in Gestalt der internen („Stufenmodell“) und externen („Aufteilungsmodell“) OT-Mitgliedschaft Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 76 ff.
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den Arbeitgebern zunehmend an Beliebtheit gewonnen haben. Einen Anhaltspunkt hierfür liefert die Studie „Wirtschaftsverbände in Deutschland 2012/2013“ des Lehrstuhls für Unternehmenskooperation im Management-Department der Freien Universität Berlin.¹⁷² Hierbei wurden in den Jahren 2012/2013 insgesamt 240 Wirtschaftsverbände zur Mitgliedergewinnung und -bindung befragt. Danach sollen ca. 61 % der befragten Arbeitgeberverbände eine OT-Mitgliedschaft anbieten. Davon gaben wiederum ca. 48 % der befragten Arbeitgeberverbände an, eine satzungsmäßige OT-Mitgliedschaft zu ermöglichen.¹⁷³ Aus der Studie geht jedoch nicht hervor, ob die OT-Mitgliedschaft von Arbeitgebern auch tatsächlich genutzt wird. Hier dienen als Anhaltspunkt wiederum veröffentlichte Angaben des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, demzufolge ca. 48 % seiner Mitglieder eine OTMitgliedschaft besitzen.¹⁷⁴ Die Erscheinungsform der OT-Mitgliedschaft ist damit Ausdruck einer neuen Verbandspolitik der Arbeitgeberverbände. In Anbetracht der aufgezeigten empirischen und rechtlichen Entwicklung und vor dem Hintergrund der beschriebenen Interessenlage ist auch künftig davon auszugehen, dass die OT-Mitgliedschaft eine beliebte Mitgliedschaftsform bleiben wird.
VI. Die zunehmende Bildung von Spartengewerkschaften Obwohl das BAG mit dem richterrechtlichen Grundsatz der Tarifeinheit jahrzehntelang dem Prinzip „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ die Treue hielt,¹⁷⁵ gründeten sich um die Jahrtausendwende zunehmend sogenannte Spartengewerkschaften. Spartengewerkschaften sind darin bestrebt, ausschließlich für bestimmte Berufsgruppen, wie bspw. Ärzte (Marburger Bund), Piloten (Vereinigung Cockpit), Flugbegleiter (Unabhängige Flugbegleiter Organisation), Lokführer (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer), Kraftfahrer (Kraftfahrergewerkschaft) oder Journalisten (Deutscher Journalisten-Verband), Tarifpolitik zu betreiben. Ziel ist der Abschluss eines Tarifvertrags nur für die eigenen Mitglie-
BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225; BAG, 23.02. 2005 (4 AZR/186/04), DB 2005, S. 2305. Nicklich/Helfen, Wirtschaftsverbände in Deutschland 2012/2013, abrufbar unter https:// www.wiwiss.fu-berlin.de/fachbereich/bwl/management/sydow/media/pdf/Wirtschaftsverbaende-2013_Nicklich_Helfen.pdf; zuletzt abgerufen am 02.10. 2020. Entsprechend ausgewertet durch Behrens/Helfen, WSI-Mitteilungen 2016, S. 452, 453. https://www.gesamtmetall.de/branche/me-zahlen/zahlenheft/mitgliedsfirmen-und-beschaeftigte-den-verbaenden-von-0; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020; im Übrigen wird sich bezogen auf die Auswertung durch Behrens/Helfen, WSI-Mitteilungen 2016, S. 452, 454. BAG, 29.03.1957 (1 AZR 208/55), BAGE 4, S. 37, 40.
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der.¹⁷⁶ Dabei verweisen die Mitglieder von Spartengewerkschaften häufig darauf, dass sie sich durch die Einzelgewerkschaften des DGB nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen.¹⁷⁷ So haben zahlreiche Spartengewerkschaften mit der Jahrtausendwende begonnen, Tarifverträge für ihre eigenen Mitglieder abzuschließen, obwohl zu diesem Zeitpunkt der richterrechtliche Grundsatz der Tarifeinheit vom BAG noch praktiziert wurde. Damit wurde der gewerkschaftspolitische Konsens des Industrieverbandsprinzips, der seit der Nachkriegszeit die Gewerkschaftsorganisation bestimmte, aufgebrochen.¹⁷⁸ Dies offenbart eindrucksvoll die das Arbeits- und Tarifrecht nicht selten prägende „normative Kraft des Faktischen“.¹⁷⁹ Die von den Spartengewerkschaften damit forcierte Geltung von Tarifpluralität im Betrieb, wonach der Arbeitgeber an mindestens zwei Tarifverträge gebunden ist, der Arbeitnehmer dagegen lediglich an einen,¹⁸⁰ wurde letztlich durch die Aufgabe des richterrechtlichen Grundsatzes der Tarifeinheit im Jahre 2010 zusätzlich bekräftigt und legitimiert.¹⁸¹ Tarifpluralität im Betrieb beunruhigt jedoch insbesondere die Arbeitgeberseite, die dadurch fürchtet, fortan häufiger in Tarifauseinandersetzungen verwickelt zu werden.¹⁸² Aber auch der DGB begegnet einer im Betrieb bestehenden Tarifpluralität mit Skepsis, da die Spartengewerkschaften damit zunehmend in Konkurrenz zu den Einzelgewerkschaften des DGB treten.¹⁸³ Das vermehrte Aufbegehren von Spartengewerkschaften prägt das deutsche Tarifvertragssystem erheblich. Jahrzehntelang wurde das Tarifvertragssystem durch das Prinzip „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ beherrscht. Indem dieses Prinzip zunehmend in Frage gestellt wird, tritt der Dualismus zwischen Tarifpluralität und Tarifeinheit auf den Plan.¹⁸⁴
Vgl. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 73. Siehe dazu m.w.N. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 85. Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 15 ff. Greiner, NZA 2015, S. 769, 775. JKOS/Jacobs, § 7 Rn. 236; Löwisch/Rieble, TVG, § 4a Rn. 1 f. BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068; BAG, 23.06. 2010 (10 AS 2/10), NZA 2010, S. 778; BAG, 27.01. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 645. Vgl. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 74. Siehe etwa die Forderung des DGB gemeinsam mit der BDA, RdA 2010, S. 315; vgl. auch Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 84. Zur Bedeutung für die Tarifautonomie siehe Faktor 3, Kapitel 3, § 8.III.
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VII. Die Reaktionen des Bundesgesetzgebers Auf die vorstehenden veränderten Rahmenbedingungen hat der Gesetzgeber mit der Programmatik der „Stärkung der Tarifautonomie“ reagiert und verschiedene Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Auch diese bundesgesetzgeberischen Reaktionen nehmen einen – wie auch immer gearteten – Einfluss auf den Zustand der Tarifautonomie und werden somit selbst Bestandteil „veränderter Rahmenbedingungen“. Daher werden sie in den Untersuchungsgegenstand aufgenommen und im Folgenden einer ersten (lediglich vorstellenden, nicht jedoch evaluierenden¹⁸⁵) Betrachtung unterzogen:
1. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz Zunächst hat der Gesetzgeber das „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ (Tarifautonomiestärkungsgesetz) auf den Weg gebracht, welches nunmehr seitdem 16. August 2014 in Kraft ist.¹⁸⁶ Hierbei handelt es sich um ein Artikelgesetz, welches gleich mehrere Maßnahmen zur „Stärkung der Tarifautonomie“ beinhaltet. Teilweise wurden dabei bestehende Gesetze punktuell geändert, teilweise aber auch ganze Gesetze neu geschaffen. Im Folgenden sollen jedoch nur jene gesetzgeberischen Maßnahmen vorgestellt werden, die in Anbetracht der oben aufgezeigten veränderten Rahmenbedingungen als besonders beachtlich für den Zustand der Tarifautonomie erscheinen:
a) Erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung Zunächst ist die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gem. § 5 TVG aus Sicht des Gesetzgebers ein wichtiges Instrument, um den Zustand der Tarifautonomie zu verbessern. Um es effektiver nutzen zu können, zielte der Gesetzgeber mit der Änderung des § 5 TVG im Wesentlichen darauf ab, die tatbestandsmäßigen Anforderungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung deutlich herabzusenken.¹⁸⁷
Siehe dazu Kapitel 4, § 12. BGBl. I, S. 1348. BT-Drs. 18/1558, S. 26.
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aa) Konkretisiertes öffentliches Interesse anstelle des 50-Prozent-Quorums Bis zum in Kraft treten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes konnte ein Tarifvertrag gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG a.F. grundsätzlich nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben und dieses Vorhaben im öffentlichen Interesse geboten war. Von diesem Grundsatz konnte nur unter den strengen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG a.F. abgewichen werden. Danach musste die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich sein. Vor diesem Hintergrund wurden im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes die Anforderungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gesenkt. Gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG n.F. ist für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags fortan lediglich die Begründung erforderlich, dass sie im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Konkretisiert wird die „Gebotenheit im öffentlichen Interesse“ näher durch die in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG n.F. genannten Tatbestände. Auf das 50-Prozent-Quorum des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG a.F. kommt es damit nicht mehr an. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags wurden damit spürbar abgesenkt. Durch die Einführung des § 5 Abs. 1a TVG n.F. können hinzukommend auch Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen fortan unter erleichterten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklärt werden. Gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG n.F. geht mit den nach § 5 Abs. 1a TVG n.F. für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen künftig zudem eine besondere Verdrängungswirkung einher. Diese Gesetzesänderung zeitigt Auswirkungen im Tarifvertragssystem: Die Tarifbindung kraft Verbandsmitgliedschaft aus § 3 Abs. 1 TVG kann mit der vorstehenden Novellierung des § 5 TVG zunehmend überwunden werden. Auf die Verbandsmitgliedschaft kommt es damit immer weniger an.¹⁸⁸ Mit der Allgemeinverbindlicherklärung werden die Regelungen eines Tarifvertrags gem. § 5 Abs. 4 TVG schließlich auch auf nicht bzw. anders gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber erstreckt.¹⁸⁹ Mit der geschaffenen Möglichkeit der erleichterten Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (und von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen) kann aber fortan die normative Wirkung des Tarifvertrags effektiver auf Außenseiter erstreckt werden. Daher ist jedenfalls tendenziell mit einer Zunahme der (nicht mitgliedschaftlich legitimierten) Tarifbindung zu rechnen. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 4 f., 6, 10. Besonders kritisch hierzu Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 131; siehe auch Forst, RdA 2015, S. 25 und Höpfner, RdA 2015, S. 94, 98.
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bb) Motivation Hauptbeweggrund ist die gesetzgeberische Diagnose, dass die „Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist“.¹⁹⁰ Insbesondere die Gewerkschaften seien dadurch nicht mehr in der Lage, ihre originäre Aufgabe hinreichend zu erfüllen: die Aufhebung der strukturellen Ungleichheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.¹⁹¹ Die sinkende Tarifbindung der Arbeitnehmer in Deutschland hat den Gesetzgeber letztlich veranlasst, die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern. Insbesondere das „starre 50-Prozent-Quorum“ hemme „in Zeiten sinkender Tarifbindung“ die Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung.¹⁹² Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Bundesgesetzgeber mit der erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags eine Antwort auf die Erosion des tariflichen Geltungsbereichs kraft Mitgliedschaft geben wollte.
b) Erweiterte Gestaltungsfreiheit für Rechtsverordnungen nach dem AEntG Ferner hat der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt der „Stärkung der Tarifautonomie“ einige Änderung am AEntG vorgenommen. Hierbei stand die Schaffung einer erweiterten Gestaltungsfreiheit für die Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnungserlass im Vordergrund.¹⁹³
aa) Rechtsverordnungsverfahren für sonstige Branchen, §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG Grundsätzlich bestimmt § 3 Satz 1 AEntG, dass Tarifverträge unter den Voraussetzungen der §§ 4 ff. AEntG auch auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und jenen Arbeitnehmern Anwendung findet, die dem räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags unterfallen. Dies gilt gem. § 4 Abs. 1 AEntG dem Grunde nach für die dort aufgezählten Branchen. Ausgangspunkt der Novellierung ist der neu geschaffene § 4 Abs. 2 AEntG, wonach das AEntG fortan auch für alle anderen, nicht in § 4 Abs. 1 AEntG aufgeführten, Branchen geöffnet ist. Hieran knüpft das neu geschaffene Rechtsverordnungsverfahren aus § 7a AEntG unmittelbar an. Damit schafft der Gesetzgeber auch für die nicht in § 4 Abs. 1 AEntG aufgeführten Branchen die Möglichkeit der exekutiven Rechtsetzung in Form des Rechtsverordnungserlasses. Damit kann die
BT-Drs. 18/1558, S. 26. BT-Drs. 18/1558, S. 26. BT-Drs. 18/1558, S. 27. BT-Drs. 18/1558, S. 27, 51 f.
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Geltung eines Tarifvertrags mit dem Erlass einer Rechtsverordnung nach Maßgabe des § 7a i.V.m. § 4 Abs. 2 i.V.m. § 3 Satz 1 Alt. 2 AEntG auch auf diejenigen Arbeitsverhältnisse erstreckt werden, die sonstigen Branchen i.S.d. § 4 Abs. 2 AEntG unterfallen. Im Gegensatz zum Rechtsverordnungsverfahren nach § 7 AEntG unterliegt das Rechtsverordnungsverfahren aus § 7a AEntG jedoch strengeren Voraussetzungen.¹⁹⁴ Neben der erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gem. § 5 TVG¹⁹⁵ forciert der Gesetzgeber auch mit der Gewährleistung einer erweiterten Gestaltungsfreiheit für den Rechtsverordnungserlass nach §§ 4 Abs. 2, 7a AEntG die Stärkung eines Instrumentes, welches die Geltung tarifvertraglicher Regelungen auf nicht bzw. anders gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erstreckt.¹⁹⁶ Auch die Novellierung des AEntG führt in der Tendenz zu einer zunehmenden Vernachlässigung der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung aus § 3 Abs. 1 TVG.¹⁹⁷ Jedoch erreicht der Gesetzgeber mit der Schaffung einer erweiterten Gestaltungsfreiheit für den Rechtsverordnungserlass womöglich, dass fortan mehr Arbeitnehmer vom Geltungsbereich eines Tarifvertrags erfasst werden können.
bb) Motivation Der Bundesgesetzgeber konstatiert in der Gesetzesbegründung, dass sich die Branchenmindestlöhne nach dem AEntG bewährt haben und der Geltungsbereich des AEntG daher auf alle anderen Branchen erweitert werden soll.¹⁹⁸ Auch die Arbeitnehmer sonstiger Branchen i.S.d. § 4 Abs. 2 AEntG sollen daher von einem branchenspezifischen Mindestschutzniveau profitieren. Zudem könne mit der geschaffenen Möglichkeit der Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen auf alle Branchen sichergestellt werden, „dass Unternehmen im Wettbewerb mit Konkurrenten nicht deshalb benachteiligt sind, weil sie zur Vergütung ihrer Arbeitnehmer nach Tarif verpflichtet sind.“¹⁹⁹ Schließlich ist auch die dargestellte Änderung des AEntG eine Antwort des Gesetzgebers auf die sinkende Tarifbindung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Deutschland.²⁰⁰
Vgl. ErfK/Schlachter, AEntG, § 7a Rn. 1. Zu den Parallelen beider Instrumente siehe Stiebert/Pötters, RdA 2013, S. 101, 105 f. Kritisch gegenüber der weiteren Verlagerung des Entscheidungsprozesses in den Bereich der Exekutive Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 110 f. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 4 f., 6, 10. BT-Drs. 18/1558, S. 27. BT-Drs. 18/1558, S. 27. So auch die Einschätzung bei Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 1.
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c) Flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn Die Schaffung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns soll nach der Intention des Gesetzgebers ferner die bereits dargestellten Maßnahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes flankieren.
aa) Das Mindestlohngesetz Kodifiziert ist die Gewährleistung eines flächendeckenden Mindestlohns im Mindestlohngesetz (MiLoG). Ausgangspunkt der Konzeption des MiLoG ist dabei § 1 Abs. 1 MiLoG. Danach wird jedem Arbeitnehmer ein individualrechtlicher Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Zahlung eines Arbeitsentgeltes in Höhe des Mindestlohns garantiert. § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG legt den Mindestlohn dabei zunächst auf 8,50 EUR fest. Für die gegenwärtige Untersuchung besonders hervorzuheben ist ferner die Regelung in § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG. Danach ist die Änderung der Höhe des Mindestlohns stets abhängig von einem Vorschlag der ständigen Kommission der Tarifpartner (sogenannte Mindestlohnkommission). Erst auf Grundlage eines Vorschlags durch die Mindestlohnkommission kann die Bundesregierung die Höhe des Mindestlohns durch Rechtsverordnung ändern.²⁰¹ Die Zusammensetzung und das Verfahren der Mindestlohnkommission sind im Einzelnen in den §§ 4 ff. MiLoG geregelt. Die Mindestlohnkommission besteht nach Maßgabe von § 5 Abs. 1 MiLoG paritätisch aus Mitgliedern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände. Der Mindestlohn wirkt gem. § 1 Abs. 1 MiLoG allgemeingeltend und erstreckt sich demnach auf sämtliche Arbeitsverhältnisse (abgesehen von den Einschränkungen des § 22 MiLoG). Eine Unterscheidung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern wird nicht vorgenommen.²⁰² Der gesetzlich festgesetzte Mindestlohn kann zudem gem. § 3 Abs. 1 MiLoG – auch tarifvertraglich – nicht unterschritten werden. Damit wird der durch die Sozialpartner tarifautonom regelbare Bereich unterhalb des gesetzlich festgesetzten Mindestlohns gesperrt.
bb) Motivation: Ersatzgesetzgebung im Niedriglohnsektor Hintergrund der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns ist die gesetzgeberische Diagnose, dass „die Beschäftigung zu niedrigen Löhnen
Barczak, RdA 2014, S. 290, 292. Siehe hierzu die Tabelle bei Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 6.
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in Deutschland in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat.“²⁰³ Die Tarifvertragsparteien seien nicht (mehr) in der Lage diesem Trend entscheidend entgegenzuwirken.²⁰⁴ Insbesondere in Branchen mit einem besonders niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad zeige sich, dass Tarifverträge häufig Löhne vorsehen, die weitere staatliche Unterstützung erforderlich mache.²⁰⁵ Forciert wird eine Ersatzgesetzgebung im Niedriglohnsektor. Damit ist aber letztlich auch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns eine Antwort auf den Befund sinkender Tarifbindung.²⁰⁶
2. Das Tarifeinheitsgesetz In die bereits dargestellten bundesgesetzgeberischen Maßnahmen reiht sich ferner das Tarifeinheitsgesetz ein, welches seit dem 10. Juli 2015 in Kraft ist.²⁰⁷ Vergleichbar mit der Programmatik der „Stärkung der Tarifautonomie“ verfolgt der Bundesgesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz das Ziel, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ zu sichern.²⁰⁸
a) Die Einführung des § 4a TVG Der Gesetzgeber hat die Tarifeinheit in dem neu geschaffenen § 4a TVG kodifiziert. Ausgangspunkt der Tarifeinheitsregelung ist § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG, wonach anerkannt wird, dass der Arbeitgeber im Grundsatz an verschiedene Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden sein kann. Dahinter steht also die prinzipielle Anerkennung von Tarifpluralität durch den Bundesgesetzgeber.²⁰⁹ Im Mittelpunkt der Tarifeinheitsregelung steht jedoch die Kollisionsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, wonach gewissermaßen eine Ausnahme von der grundsätzlichen Anerkennung der Tarifpluralität nach § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG postuliert wird: Überschneiden sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften, so sind innerhalb eines Betriebs nur die Regelungen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anzuwenden, die im Betrieb die meisten Mitglieder zählen kann. Damit geht die
BT-Drs. 18/1558, S. 27. BT-Drs. 18/1558, S. 27, 28. BT-Drs. 18/1558, S. 28. So auch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 1. Zur Frage, ob dies einen Beitrag zu Stärkung der Tarifautonomie leistet, siehe Kapitel 4, § 12.II.1.c). BGBl. I, S. 1130. BT-Drs. 18/4062, S. 1. Löwisch/Rieble, TVG, § 4a Rn. 52.
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neu geschaffene Kollisionsregelung vom Mehrheitsprinzip und nicht etwa – wie noch nach dem richterrechtlichen Grundsatz der Tarifeinheit²¹⁰ – vom Spezialitätsprinzip aus. Rechtsfolge ist nach § 4 Abs. 2 Satz 1 TVG nicht etwa die Unwirksamkeit des verdrängten Tarifvertrags, sondern lediglich seine Nichtanwendbarkeit.²¹¹ Flankiert wird diese Kollisionsregelung durch ein Nachzeichnungsrecht der unterlegenen Gewerkschaft gem. § 4a Abs. 4 Satz 1 TVG. Mit diesem Recht kann die unterlegene Gewerkschaft vom Arbeitgeber oder vom Arbeitgeberverband die Nachzeichnung der Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags verlangen. Damit können die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft auch von den tarifvertraglichen Regelungen des vorherrschenden Mehrheitstarifvertrags erfasst werden. Die neue Tarifeinheitsregelung zeitigt beachtliche Auswirkungen. Zum einen setzt die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG die Tarifbindung derjenigen Arbeitnehmer, die Mitglieder der unterlegenen Gewerkschaft sind, zwar nicht rechtlich, aber de facto außer Kraft.²¹² Obwohl sie eigentlich tarifgebunden sind, finden danach die entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen, jedenfalls soweit sie mit denen des Mehrheitstarifvertrags kollidieren, keine Anwendung auf ihr Arbeitsverhältnis. Damit führt das Tarifeinheitsgesetz zur Einschränkung der tarifpolitischen Interessen derjenigen Arbeitnehmer, die Mitglieder der unterlegenen Gewerkschaft sind. Darüber hinaus muss die Auswirkung der Nachzeichnungsmöglichkeit aus § 4a Abs. 4 Satz 1 TVG im System des TVG besonders hervorgehoben werden. Mit diesem Recht kann die unterlegene Gewerkschaft verhindern, dass ihre Mitglieder auf den Status von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zurückfallen, indem sie mit dem Instrument der Nachzeichnung die Erstreckung der Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags auf ihre Mitglieder anordnet. Tarifpolitische Partizipation erfolgt dann zwar nicht über den Abschluss eines eigenen Tarifvertrags, aber zumindest über die Teilhabe an einem fremden Tarifvertrag. Damit wird der Geltungsbereich eines Tarifvertrags – vergleichbar mit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags und der tarifvertraglichen Erstreckungsmöglichkeiten nach dem AEntG – auch auf anders gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erstreckt. Damit setzt der Bundesgesetzgeber die bereits mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz eingeschlagene tarifpolitische Richtung konsequent fort.
Siehe nur BAG, 20.03.1991 (4 AZR 455/90), NZA 1991, S. 736. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 4a Rn. 6. Hanau, SR 2011, S. 3, 6; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rn. 54; Walser, SR 2016, S. 109, 112.
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b) Motivation: Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie Zuvorderst stellt die Kodifizierung der Tarifeinheit eine Antwort des Gesetzgebers auf den mit der Aufgabe des richterrechtlichen Grundsatzes der Tarifeinheit eingeleiteten Paradigmenwechsel²¹³ dar.²¹⁴ Daneben ist die Kodifizierung gleichzeitig auch eine Antwort auf das zunehmende Aufbegehren von Spartengewerkschaften seit der Jahrtausendwende. Der Gesetzgeber will also Tarifpluralität im Betrieb weitestgehend verhindern. Tarifpluralität beeinträchtige insofern die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“.²¹⁵ Zum einen stehe Tarifpluralität der Schaffung einer widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb entgegen.²¹⁶ Zum anderen werde durch Tarifpluralität die Friedensfunktion des Tarifvertrags beeinträchtigt.²¹⁷ Der Betriebsfrieden sei durch zahlreiche innerbetriebliche Verteilungskämpfe gefährdet, die in zunehmenden Arbeitskämpfen ihren Ausdruck finden. Letztlich soll mit der Tarifeinheitsregelung eine „Entsolidarisierung der Belegschaften“ für Arbeitnehmer verhindert werden, die am Ende auf eine „Entwertung der Schutzfunktion des Tarifvertrags“ hinauslaufen könne.²¹⁸
c) Die Entscheidung des BVerfG vom 11. Juli 2017 Gleich mehrere Berufsgruppengewerkschaften erhoben jedoch gegen das Tarifeinheitsgesetz Verfassungsbeschwerde. Mit der Entscheidung vom 11. Juli 2017²¹⁹ hat das BVerfG jedoch klargestellt, dass das in § 4a TVG kodifizierte Tarifeinheitsgesetz „in der gebotenen Auslegung und Handhabung weitgehend mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar“ ist.²²⁰ Zwar verdränge die Tarifeinheitsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG das Ergebnis tarifautonomer Betätigung, was mit einem erheblichen Eingriff in die kollektive Betätigungsfreiheit der unterlegenen Gewerkschaft einhergehe. In diesem Zusammenhang betont das BVerfG allerdings ausdrücklich, dass die Herstellung von Tarifeinheit grundsätzlich ein zulässiges und gewichtiges gesetzgeberisches Regelungsziel ist: „Der Gesetzgeber kann zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie jedoch nicht nur Regelungen in Kraft setzen, die zwischen den Tarifvertragsparteien Parität herstellen.
Siehe BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068 ff. BT-Drs. 18/4062, S. 1; vgl. Walser, SR 2016, S. 109, 112. BT-Drs. 18/4062, S. 8. BT-Drs. 18/4062, S. 8. BT-Drs. 18/4062, S. 8. BT-Drs. 18/4062, S. 9. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915 ff. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 916 Rn. 124.
§ 5 Tarifautonomie heute: veränderte Rahmenbedingungen
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Art. 9 Abs. 3 GG berechtigt den Gesetzgeber auch, Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf einer der beiden Seiten zu treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.“²²¹ Der Gesetzgeber verfüge also in diesem Zusammenhang über eine umfangreiche Einschätzungsprärogative und einen besonders weiten Handlungsspielraum.²²² Darüber hinaus sei die Regelung des § 4a Abs. 2 TVG auch verhältnismäßig, sofern ihr die „Schärfen genommen werden“. Dafür sei eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung der Regelung geboten. Allerdings sei die tarifeinheitsherstellende Kollisionsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG „insoweit unverhältnismäßig, als die angegriffenen Regelungen keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen.“²²³ Damit bemängelt das BVerfG das Fehlen von Regelungen, die die Minderheitsgewerkschaft und ihre spezifischen tarifpolitischen Interessen „mit ins Boot“ holt. Bis zum 31. Dezember 2018 hatte das BVerfG dem Gesetzgeber die Aufgabe erteilt, hier Abhilfe zu schaffen und die verfassungsrechtlichen Bedenken an dieser Stelle aus dem Weg zu räumen.²²⁴Allerdings hat das BVerfG darauf verzichtet die Nichtigkeit der Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG festzustellen. Es hat die Regelung gem. §§ 31 Abs. 2 Satz 2, 79 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG lediglich für nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt. Bis der Gesetzgeber seiner Pflicht zur gesetzlichen Nachbesserung nachgekommen ist, hat § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG daher nur mit der Maßgabe Anwendung gefunden, „dass eine Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.“²²⁵ Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber nunmehr mit in Kraft treten des Qualifizierungschancengesetzes am 18. Dezember 2018 nachgekommen.²²⁶ Die Entscheidung des BVerfG zeigt aber einmal mehr, dass der tarifpolitische Diskurs und Dualismus zwischen Tarifeinheit und Tarifpluralität noch weiter fortwähren dürfte.
BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 919 Rn. 148. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 929 Rn. 157. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 925 Rn. 200. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 925 Rn. 205, 927 Rn. 218. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 927 Rn. 215. BGBl. I, S. 2651.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
VIII. Quintessenz: Tarifbindung im Fadenkreuz Sicherlich ließen sich auch noch weitere Einflüsse anführen, die den Zustand der Tarifautonomie in den zurückliegenden Jahren beeinträchtigt haben.²²⁷ Zu denken wäre bspw. daran, dass das tarifvertragliche Lohnniveau in den letzten Jahren und Jahrzehnten bemerkbar gesunken ist.²²⁸ Ebenso kann ins Feld geführt werden, dass der tarifvertragliche Regelungsbereich durch die Verwendung sogenannter Tariföffnungsklauseln häufig für entsprechende Regelungen der Betriebsparteien zugänglich gemacht wird, die dann miteinander in Konkurrenz treten.²²⁹ Es wurden jedoch nur jene Umstände und Maßnahmen gesondert betrachtet, die nach ihrer Wirkungsweise und nach ihrer empirischen Relevanz als besonders signifikante Einflussnahme auf den Zustand der Tarifautonomie eingestuft wurden. Der Untersuchungsgegenstand erschöpft sich daher in den oben aufgeführten veränderten Rahmenbedingungen für das deutsche Tarifvertragssystem. Die vorstehenden veränderten Rahmenbedingungen sind zwar in ihren Erscheinungsformen mannigfaltig. Im Wesentlichen ist ihnen jedoch eines gemeinsam: der Kampf „um“ bzw. „gegen“ die mitgliedschaftlich legitimierte Normgeltung des Tarifvertrags: Die Tarifbindung steht im Fadenkreuz tarifpolitischer Interessen der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und nicht zuletzt der Arbeitgeber. So haben sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände einen Mitgliederschwund zu verzeichnen, der jeweils seinen Niederschlag in sinkender Tarifbindung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber findet. Gleichwohl werden häufig arbeitsvertragliche Bezugnahmen auf Tarifverträge vereinbart, um auch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer mit Gewerkschaftsmitgliedern gleichzustellen. Nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer avancieren damit zu de facto-Tarifgebundenen. Mithilfe von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen versuchen die Gewerkschaften im Gegenzug ein Alleinstellungsmerkmal der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung aus § 3 Abs. 1 TVG zu begründen. Auf Arbeitgeberseite wird stattdessen mit der neuen Mitgliedschaftsform der OT-Mitgliedschaft versucht, sich der Tarifbindung aus § 3 Abs. 1 TVG zu entledigen. Schließlich hat die Frage der Tarifbindung aber bereits auch die bundespolitische Bühne erreicht: So hat ebenso der Gesetzgeber die Tarifbindung ins Visier genommen und forciert mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz den Verbreitungsgrad von Tarifverträgen zu erhöhen. Damit setzt er Siehe hierzu weitere „Krisenerscheinungen“ der Tarifautonomie bei Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 58 ff. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 62. Däubler TVG/Däubler, TVG, Einleitung Rn. 58 ff.
§ 6 Zusammenfassung von Kapitel 2 und Schlussfolgerungen
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im Wesentlichen auf eine Tarifpolitik, die darauf ausgerichtet ist, die mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung durch die Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu überwinden (vgl. § 5 TVG). Summa sumarum kreisen damit alle diese Phänomene, die als veränderte Rahmenbedingungen der nachfolgenden Untersuchung zugrundegelegt werden, zuvorderst um die Frage der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung.
§ 6 Zusammenfassung von Kapitel 2 und Schlussfolgerungen Die Tarifautonomie in Deutschland ist ein historisch gewachsenes und verfassungsrechtlich garantiertes hohes Gut. Sie hat maßgeblichen Anteil am Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung. Sie hat der dem Individualarbeitsverhältnis inhärenten gestörten Vertragsparität entgegengewirkt und damit dazu beigetragen, die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in Deutschland zu verbessern. Eine Betrachtung der historischen Entwicklung hat zudem ergeben, dass autoritäre Regierungen stets versucht haben, tarifautonome Bestrebungen gewaltsam zu unterbinden. In diesem Sinne steht eine funktionsfähige Tarifautonomie im Dienste der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Demgegenüber sieht sich die Tarifautonomie zahlreichen Veränderungen ausgesetzt. Die mannigfaltig veränderten Rahmenbedingungen zeitigen allesamt Auswirkungen im Tarifvertragssystem. Angesichts der mit der Tarifautonomie verzeichneten Erfolge sollte jedoch am gegenwärtigen System des TVG und an der Tarifautonomie als solcher festgehalten werden. Die folgende Untersuchung forciert daher – trotz zahlreicher veränderter Rahmenbedingungen – keinen Systemwechsel.Vielmehr wird sich an den Grundstrukturen des Tarifvertragssystems in seiner ursprünglichen Konzeption vom 22. April 1949²³⁰ orientiert. In Anbetracht der dargestellten unübersichtlichen Gemengelage erscheint es gleichwohl schwierig, konkret auszumachen, welche Maßnahmen die Tarifautonomie im Einzelnen stärken oder aber schwächen. Diese Annahme wird dadurch illustriert, dass vor allem das Tarifautonomiestärkungsgesetz verbreitet auch als „Tarifautonomieschwächungsgesetz“ bewertet wird.²³¹ Vor dem Hintergrund der dargestellten veränderten Rahmenbedingungen lässt sich die Frage der Stärkung der Tarifautonomie auf die
WiGBl. 1949, S. 55 ff., 68.; siehe auch zur Neubekanntmachung am 25.08.1969, BGBl. I, S. 1323. Forst, RdA 2015, S. 25 f.; Henssler, RdA 2015, S. 43.
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Kapitel 2: Tarifautonomie – Bedeutungskraft und Herausforderungen
alles entscheidende Weichenstellung zuspitzen: hohe – ggf. auch nicht durch Mitgliedschaft vermittelte – Tarifbindung oder mitgliedschaftsstarke Verbände?
Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie Bevor die aufgeführten veränderten Rahmenbedingungen bewertet oder Möglichkeiten zur Stärkung der Tarifautonomie erörtert werden können, ist zunächst zu klären, wovon die „Stärke“ der Tarifautonomie im Einzelnen abhängt. Dafür müssen Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie entwickelt werden, die das Fundament der weiteren Untersuchung bilden. Dieser Schritt ist notwendig, um die veränderten Rahmenbedingungen konsistent evaluieren zu können. Erst wenn festgestellt ist, von welchen Faktoren eine funktionsfähige Tarifautonomie abhängt, kann beurteilt werden, ob die dargestellten veränderten Rahmenbedingungen ihren Zustand verschlechtert haben. Ferner kann nur mithilfe derartiger Faktoren ermittelt werden, welche Maßnahmen de lege ferenda zur Stärkung der Tarifautonomie beitragen können. Gleichwohl muss eingestanden werden, dass eine derartige Faktorenanalyse auch an Grenzen stößt. Es gibt keinen numerus clausus von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Sicherlich sind zahlreiche weitere Aspekte denkbar, von denen der Zustand des Tarifvertragssystems – in einer wie auch immer gearteten Weise – geprägt wird. Daher kann die folgende Untersuchung lediglich den Anspruch erheben, die „wesentlichen“ Faktoren zu benennen. Letztlich können Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie nur in idealtypischer Weise abbilden, wovon Stärke und Schwäche der Tarifautonomie abhängen. Gegenläufige verfassungsrechtliche Wertungen, die mit Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie einhergehen können, werden nämlich nicht unmittelbar von den zu entwickelnden idealtypischen Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie berücksichtigt. Insoweit bedarf es stets einer flankierenden Überprüfung mit höherrangigem Recht. Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie dienen in erster Linie als Orientierungshilfe für die Bewertung veränderter Rahmenbedingungen und als Wegweiser für in Betracht zu ziehende Stärkungsmöglichkeiten. Ausgangspunkt der Entwicklung von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist die dogmatische Grundstruktur des Tarifsystems.¹ Dabei ist zunächst dem Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags nachzuspüren (§ 7.). Hierauf aufbauend werden sodann die Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie entwickelt (§ 8.), ehe die Ergebnisse dieses Kapitels zusammengefasst werden (§ 9.).
So auch Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 12. https://doi.org/10.1515/9783110736113-005
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
§ 7 Weichenstellung: der Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags Die gegenwärtige Untersuchung forciert keinen Systemwechsel. Die Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie sollen demzufolge aus den dogmatischen Strukturen des Tarifvertragssystems abgeleitet werden. Das gegenwärtige Tarifvertragssystem bildet stets den Ausgangspunkt für die Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Die zentrale Vorschrift im TVG ist § 4 Abs. 1. Danach gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrags unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Tarifvertragliche Bestimmungen wirken demzufolge normativ auf die Arbeitsverhältnisse der beiderseits Tarifgebundenen.² Auf die Herbeiführung der normativen Wirkung des Tarifvertrags aus § 4 Abs. 1 TVG ist das gesamte Tarifvertragssystem gewissermaßen zugeschnitten und regelt die dafür notwendigen Modalitäten. Dabei erscheint es für die rechtsdogmatische Entwicklung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie unerlässlich, die Frage zu klären, für „wen“ die normative Wirkung des Tarifvertrags a priori bestimmt ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der bereits aufgeführten veränderten Rahmenbedingungen, die im Wesentlichen die Gemeinsamkeit aufweisen, dass sie in unterschiedlicher Weise Einfluss auf die mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) nehmen. Sie kreisen nämlich um die Frage, wer eigentlich von der normative Wirkung des Tarifvertrags erfasst werden soll: nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer oder auch die sogenannten „Außenseiter“³? Für die Beantwortung der Frage, für „wen“ die normative Wirkung des Tarifvertrags primär bestimmt ist, muss geklärt werden, wo sie ihren Ursprung findet.⁴ Die Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags bildet gewissermaßen das dogmatische Fundament für die Ableitung entsprechender Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie und zeitigt je nach Er-
Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 8; JKOS/Jacobs, § 7 Rn. 1; Junker, ArbR, Rn. 504; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 2; vgl. auch Waltermann, ArbR, Rn. 82. Dieser Begriff erfasst gewerkschaftlich anders organisierte Arbeitnehmer und gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeitnehmer; siehe zum Begriff des „Außenseiters“ im Einzelnen Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 31. Vgl. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, S. 101; insbesondere eng verzahnt ist mit dieser Frage die Deutung der Ordnungsfunktion der Tarifautonomie, die im Folgenden u. a. als Anhaltspunkt für die Entwicklung von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie dienen soll; siehe im Übrigen bereits zur Ordnungsfunktion Kapitel 2, § 3.II.4.
§ 7 Weichenstellung: der Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags
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klärungsansatz verschiedene Auswirkungen innerhalb der Systematik des TVG.⁵ Dabei lassen sich jedoch ganz unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Diese lassen sich grobschlächtig in staatlich-delegatorische Ansätze einerseits und autonomietheoretische Ansätze andererseits kategorisieren.
I. Staatlich-delegatorische Ansätze Die staatlich-delegatorischen Ansätze zur Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags sind mannigfaltig. Gemeinsam beruhen sie aber auf der Annahme, dass die Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien auf einen staatlichen Übertragungsakt zurückzuführen ist.⁶ Diese Ansätze gehen demzufolge von einem umfassenden Rechtsetzungsmonopol des Staates aus. Darüber hinaus divergieren jedoch die Erklärungsversuche der staatlich-delegatorischen Ansätze:
1. „Klassische“ Delegationstheorie Die Grundform der staatlich-delegatorischen Ansätze stellt die „klassische“ Delegationstheorie dar. Die Vertreter dieses Erklärungsansatzes gehen davon aus, dass das durch die Tarifvertragsparteien gesetzte Recht allein auf eine Übertragung der staatlichen Rechtsetzungsmacht zurückführbar ist.⁷ Die Übertragung staatlicher Rechtsetzungsmacht auf die Tarifvertragsparteien sei durch die Schaffung der Regelungen des TVG vorgenommen worden.⁸ Demzufolge geht die Delegationstheorie von einem einfachgesetzlichen Übertragungsakt aus. Insofern werde gewissermaßen staatliche Kompetenz „von oben nach unten“ delegiert.⁹
So vor allem Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 52 f.; vgl. Denecke, Das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG, S. 49; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 93 f.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, S. 101; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 8. Denecke, Das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG, S. 51. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 64/56), BAGE 4, S. 133, 136; BAG, 23.03.1957 (1 ZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 251; BAG, 15.01.1955 (1 AZR 305/54), BAGE 1, S. 258, 264; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II/1, S. 347; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 216 ff., 217; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 265 ff., 267; vgl. auch Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff. und Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 64/56), BAGE 4, S. 133, 136; BAG, 23.03.1957 (1 AZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 251; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II/1, S. 347 f.; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 267. So beschreibend Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 43; vgl. auch Rieble, ZfA 2000, S. 5, 8.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
Daher handele es sich bei den tarifvertraglichen Normen um materielle Gesetze und demzufolge auch um objektives Recht.¹⁰ Besonders nahe steht der klassichen Ausformung der Delegationstheorie eine modifizierende Variante, die zwar anerkennt, dass ein einfachgesetzlicher Übertragungsakt erforderlich sei. Allerdings beinhalte Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG bereits einen unmittelbaren Anspruch der Tarifvertragsparteien gegenüber dem Staat. Inhalt dieses verfassungsrechtlichen Anspruchs sei sowohl die Schaffung als auch die Erhaltung einer entsprechenden einfachgesetzlichen Grundlage für den wirksamen Abschluss von Tarifverträgen mit normativer Wirkung.¹¹
2. Integrationstheorie Eine Modifikation erfährt die klassische Delegationstheorie durch den Ansatz der sogenannten Integrationstheorie. Zwar gehen auch die Vertreter der Integrationstheorie davon aus, dass die Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien grundsätzlich auf einer staatlichen Legitimation beruht. Sie bestreiten jedoch die Erforderlichkeit einer einfachgesetzlichen Delegation der staatlichen Rechtsetzungsmacht auf die Tarifvertragsparteien.¹² Vielmehr sei die Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien bereits unmittelbar durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistet und somit von staatlicher Seite durch den Verfassungsgeber „übertragen“ worden.¹³ Nach diesem Ansatz ist die Legitimation zur tariflichen Normsetzung bereits verfassungsrechtlich unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG „integriert“. Ein einfachgesetzlicher Übertragungsakt sei für die Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags überhaupt nicht erforderlich.¹⁴ Der Gesetzgeber habe durch das TVG lediglich die Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien ausgestaltet.
Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II/1, S. 346, 350. Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 96; so wohl auch Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 103 ff., 293; Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 558; Misera, Tarifmacht und Individualbereich unter Berücksichtigung der Sparklausel, S. 20 f. Besonders deutlich Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 558; siehe aber auch Misera, Tarifmacht und Individualbereich unter Berücksichtigung der Sparklausel, S. 20 und Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 104. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 104.
§ 7 Weichenstellung: der Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags
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II. Autonomietheoretische Ansätze Den staatlich-delegatorischen Ansätzen zur Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags stehen diejenigen Begründungsversuche gegenüber, die auf eine umfassende Autonomie der Tarifvertragsparteien verweisen. Die Möglichkeit der Tarifvertragsparteien zur Rechtsetzung muss nach diesen Ansätzen nicht vom Staat delegiert werden. Gemeinsam verneinen diese Ansätze demzufolge (weitestgehend¹⁵) ein staatliches Monopol zur Rechtsetzung.¹⁶
1. Die vorstaatliche Autonomietheorie Als autonomietheoretischer Ansatz lässt sich zunächst die Theorie von der vorstaatlichen Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien anführen. Hiernach sind die Tarifvertragsparteien aufgrund einer bereits vorstaatlich bzw. „vorpositiv“ bestehenden und demzufolge „natürlichen“ Autonomie befugt, tarifliche Normen zu setzen.¹⁷ Im Unterschied zu den staatlich-delegatorischen Ansätzen ist danach ein zusätzlicher Delegationsakt bzw. eine Bereitstellung durch den Staat nicht notwendig. Insbesondere der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG oder der einfachgesetzlichen Ausgestaltung gem. §§ 1 ff. TVG bedürfe es zur Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags grundsätzlich nicht.¹⁸ Vielmehr sei der Tarifvertrag eine „eigenständige und tief im organischen Denken verwurzelte, eine naturrechtlich begründete Lebensbetätigung und Lebensform der sozialen Autonomie“.¹⁹
2. Legitimations- und Anerkennungstheorie Ferner begründet auch die Legitimationstheorie die normative Wirkung des Tarifvertrags mit einem autonomietheoretischen Ansatz. Danach beruht die nor-
Nicht die rechtsgeschäftlichen Ansätze. Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, S. 116; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 9; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 122 ff.; Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1262; grundlegend hierzu Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 124; schwierig einzuordnen Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 178 f., 230. Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, S. 113 ff., 118; Herschel, FS Bogs, S. 125, 130 f. Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, S. 113 ff., 118 f. Herschel, FS Bogs, S. 125, 130.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
mative Wirkung des Tarifvertrags auf der originären Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien als privaten Parteien.²⁰ Die tarifliche Normgeltung sei allein auf die privatautonome Entscheidung des Einzelnen zurückführbar, Mitglied im tarifvertragsschließenden Verband zu werden.²¹ Die Mitglieder der Tarifvertragsparteien unterwürfen sich mit dem Verbandseintritt – in Ausübung ihres Grundrechts auf individuelle Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG – den bestehenden und künftigen Regelungen des Tarifvertrags.²² Der Tarifvertrag sei demzufolge ein privater Rechtsnormenvertrag und verkörpere das Ergebnis „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“.²³ Die Tarifautonomie sei Ausdruck von Selbst- und nicht von Fremdbestimmung, sodass die tarifliche Rechtsetzung „von unten nach oben“ legitimiert werde.²⁴ Mit der Rückführung der Rechtsetzungsmacht auf die privatautonom-mitgliedschaftliche Legitimation grenzt sich die Legitimationstheorie einerseits von der vorstaatlichen Autonomietheorie ab und steht andererseits diametral den staatlich-delegatorischen Ansätzen gegenüber. Teilweise wird als eine besondere Nuancierung der Legitimationstheorie auch die Anerkennungstheorie vertreten.²⁵ In autonomietheoretischer Tradition gehen zunächst auch die Vertreter der Anerkennungstheorie davon aus, dass kein staatliches Rechtsetzungsmonopol besteht.²⁶ Auch sie erblicken im privatauto Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 169 ff., insbesondere S. 230; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 175; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1 ff; vgl. auch Richardi, NZA 2013, S. 408 ff. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121, 133; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1, 3; Picker, FS 50 Jahre BAG, S. 795, 821 f. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121, 133; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1; siehe hierzu auch BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1393; BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), BAGE 95, S. 277, 283; BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, passim, insbesondere aber S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 3; Richardi, NZA 2013, S. 408, 411, 412; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 6; etwas skeptischer zum Terminus der „kollektiv ausgeübten Privatautonomie“ in Bezug auf Ableitungen etwaiger Rechtsfolgen, aber im Ergebnis zustimmend Waltermann, RdA 2014, S. 86, 88; siehe hierzu auch Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 916 f. So beschreibend Rieble, ZfA 2000, S. 5, 8 und Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 43; vgl. auch Picker, FS 50 Jahre BAG, S. 795, 821. Auf die Einordnung der Anerkennungstheorie als „Variante“ der Legitimationstheorie verweisen zutreffend Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 168 und Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 50; vgl. auch Denecke, Das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG, S. 54; sicherlich kann die Anerkennungstheorie aber auch zu den synergetischen Ansätzen gezählt werden. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 117 f., 119 f.; vgl. Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1262.
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nom gefassten Entschluss, Mitglied im tarifvertragsschließenden Verband zu werden, die Quelle der Legitimation für die tarifliche Normsetzung. Um die normative Wirkung des Tarifvertrags rechtstechnisch konsistend erklären zu können, bedürfe es aber eines zusätzlichen Rückgriffs auf flankierendes Gesetzesrechts.²⁷ So bestehe zwar kein staatliches Rechtsetzungsmonopol, jedenfalls aber ein staatliches Rechtsnormenanerkennungsmonopol.²⁸ Die Anerkennung der privatautonom gesetzten Tarifnormen müsse durch einen gesonderten staatlichen Geltungsbefehl erfolgen.²⁹ Dem Erfordernis eines Geltungsbefehls sei der Gesetzgeber mit der Schaffung der §§ 1, 4 TVG nachgekommen.³⁰ Letztlich „flankiere“ dieser staatliche Anerkennungsakt lediglich die privatautonome Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien, er „konstituiere“ sie jedoch nicht, sodass dies an der autonomen Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien nichts ändere.³¹ Insoweit kann die Anerkennungstheorie als rechtstechnische Ergänzung und Fortführung der Legitimationstheorie verstanden werden.
3. Rechtsgeschäftliche Ansätze Schließlich lassen sich auch die rechtsgeschäftlichen Ansätze zur Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags im weiteren Sinne der Autonomietheorie zuordnen.³² So versuchte zuvorderst Lotmar die Konstruktion des Tarifvertrags über das zivilrechtliche Institut der Stellvertretung gem. §§ 164 ff. BGB zu erklä-
Auf ein Zusammenspiel von Mitgliedschaft und staatlicher Anerkennung verweist insbesondere Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 117 ff.; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 88; siehe hierzu auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 229 f.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 170; Kirchhof; Private Rechtsetzung, S. 163 ff., 171. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 122 ff., 124; Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1263; vgl. Kirchhof; Private Rechtsetzung, S. 133 ff. Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 914 f.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 118, 124; Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1263; vgl. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 175 ff.; so letztlich auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 202 ff., 229 f., 232; vgl. auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 168 f., 175, der von „Flankierung“ spricht. Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 914 f.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 118, 124; Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1263; vgl. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 178. Siehe für eine zutreffende Einordnung der Anerkennungstheorie Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 169, 171; siehe im Übrigen Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 914 f. So auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 158.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
ren.³³ Danach seien die Tarifvertragsparteien rechtsgeschäftliche Vertreter ihrer Mitglieder.³⁴ Der Tarifvertrag werde dadurch abgeschlossen, dass die Tarifvertragsparteien eine Willenserklärung im fremden Namen für ihre eigenen Verbandsmitglieder abgeben. Demzufolge treffe die vertretenen Verbandsmitglieder die Rechtsfolgen des Tarifvertrags nach § 164 Abs. 1 BGB. Für nachträglich in den Verband eintretende Mitglieder wird die Tarifbindung über das Institut der nachträglichen Zustimmung (Genehmigung) konstruiert.³⁵ Ebenso griff Jacobi auf die Grundsätze der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre zurück, um die Konstruktion des Tarifvertrags zu erklären.³⁶ Danach sei der Tarifvertrag ein „kollektiver Schuldvertrag“. Dieser sei das Ergebnis einer „kollektiv rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“, die grundsätzlich neben der individuellen Privatautonomie bestehe.³⁷ Er komme dadurch zustande, dass mit dem Verbandseintritt auch gleichzeitig die Erklärung verbunden sei, sich den Rechtsfolgen des Tarifvertrags zu fügen.³⁸ Hierin wurzele die privatrechtliche Legitimation des Verbands, eine „kollektive Willenserklärung“ für den Abschluss des Tarifvertrags als „kollektiven Schuldvertrag“ abgeben zu können.³⁹ Schließlich lässt sich auch Böttichers Theorie von der Unterwerfung auf die Grundsätze der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre zurückführen.⁴⁰ Danach finde der Tarifvertrag seinen Geltungsgrund in einer privatrechtlichen Unterwerfung der Verbandsmitglieder nach § 317 BGB. Der Unterwerfungsakt als „Dauergestaltungsrecht“ sei dabei im jeweiligen Verbandseintritt zu sehen.⁴¹ In diesem Zusammenhang seien „Dritte“ i.S.d. § 317 BGB diejenigen, die kraft Unterwerfung zur Bestimmung der Leistung berechtigt wurden.⁴² Genau genommen sind die rechtsgeschäftlichen Ansätze hier jedoch fehl am Platz, da sie die normative Wirkung des Tarifvertrags als solche negieren. Sie sprechen dem Tarifvertrag den Normencharakter insgesamt ab und tragen daher
Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrechtrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 797 ff. Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrechtrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 798; vgl. auch Waltermann, ArbR, Rn. 541. Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrechtrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 798 f. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 272 ff. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 276 f., 283. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 273, 277. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 274. Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 18 ff. Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 19 ff. Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 20.
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konstruktiv nichts dazu bei, den „Ursprung der normativen Wirkung“ zu klären.⁴³ Ihr Augenmerk ist stattdessen darauf gerichtet, die „unmittelbare und zwingende Wirkung“ des Tarifvertrags mit rechtsgeschäftlichen Mitteln jenseits der Zuschreibung eines Normencharakters zu erklären. Vielmehr stellen sie also, im Gegensatz zu den anderen autonomietheoretischen Ansätzen, ein Rechtsetzungsmonopol des Staates gar nicht in Frage. Um den Diskurs allerdings möglichst kritisch und vollständig zu führen, sollen auch diese Ansätze in die weitere Betrachtung miteinbezogen werden.
III. Synergetische Ansätze Zur Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags lassen sich ferner auch Standpunkte einnehmen, die die staatlich-delegatorischen Ansätze mit den autonomietheoretischen Ansätzen verbinden:
1. Die Sanktionstheorie Zunächst propagiert die Sanktionstheorie einen Ansatz zur Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags, der Elemente aus beiden Denkrichtungen verbindet. Zwar geht die Sanktionstheorie – ähnlich den staatlich-delegatorischen Ansätzen – von einem staatlichen Rechtsetzungsmonopol aus.⁴⁴ Gleichwohl stützt sie die Herleitung der normativen Wirkung auf ein Zusammenspiel des Gesetzgebers mit den Tarifvertragsparteien. So unterscheidet diese Sichtweise zwischen der Kompetenz der Tarifvertragsparteien zum Abschluss eines Tarifvertrags einerseits und der Begründung der normativen Wirkung des Tarifvertrags durch den Gesetzgeber andererseits.⁴⁵ Die staatliche Rechtsetzungsmacht wird danach gar nicht auf die Tarifvertragsparteien übertragen.Vielmehr werde mit der Schaffung des TVG den Regelungen des Tarifvertrags die normative Wirkung erst verliehen.⁴⁶ Insofern liege der normativen Wirkung des Tarifvertrags stets eine „verweisungsrechtliche Autorisierung“ durch die Schaffung des TVG zugrunde.⁴⁷
Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 158 f.; Hirschmann, Die Begrenzung tarifvertraglicher Normsetzung durch die Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Art. 12 GG, S. 26. Hierin unterscheidet sich die Sanktionstheorie von der ansonsten sehr ähnlichen Anerkennungstheorie. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 59; vgl. auch Scholz, FS Müller, S. 509, 528 ff. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 59.
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2. Der „dynamische“ Kombinationsansatz Ferner zielt auch der von Greiner als „Kombinationsthese“ ⁴⁸ bezeichnete Ansatz darauf ab, die staatlich-delegatorischen Ansätze mit den autonomietheoretischen Ansätzen zusammenzuführen. Die normative Wirkung des Tarifvertrags könne danach nur zusammen mit beiden Denkrichtungen konsistent erklärt werden. Insofern sei sowohl die Übertragung staatlicher Normsetzungskompetenz als auch die mitgliedschaftliche Legitimation durch den Verbandseintritt erforderlich, um die normative Wirkung des Tarifvertrags zu konstituieren.⁴⁹ Hierbei betont Greiner, dass „mal das eine, mal das andere Element“ stärker hervortreten könne.⁵⁰ Insofern kann die Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags mit der Kombinationsthese auch als „dynamischer“ Ansatz charakterisiert werden.
IV. Die normativen Wirkung des Tarifvertrags im Spiegel der Rechtsprechung Auch die Rechtsprechung hat sich seit jeher mit den verschiedenen Ansätzen beschäftigt, um die normative Wirkung des Tarifvertrags zu erklären. Eine Analyse der Rechtsprechung des BVerfG und des BAG soll im Folgenden die bereits aufgeführten Literaturansätze ergänzen:
1. Die Rechtsprechung des BVerfG Bereits früh bezog das BVerfG zur Normbegründungsdebatte des Tarifvertrags Stellung und sprach sich zunächst in der Tendenz für die Delegationstheorie aus: So wurde das BVerfG in einer Entscheidung vom 18. November 1954 mit der Frage konfrontiert, ob nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG jede Koalition notwendigerweise zum Abschluss von Tarifverträgen befähigt ist oder ob die Statuierung besonderer Tariffähigkeitsvoraussetzungen zulässig und ggf. sogar erforderlich ist.⁵¹ Dabei
Scholz, FS Müller, S. 509, 529; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 59. Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 99. Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 99, 103; ähnlich wohl auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 229 f., der jedoch stärker den kollektiv-privatautonomen Charakter der Tarifautonomie betont, passim, insbesondere S. 230; ähnlich auch Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 54 f., wobei hier die Unterschiede von Anerkennungstheorie und Kombinationsthese kaum noch sichtbar sind, er aber gleichwohl betont, dass ein staatliches Normsetzungsmonopol jedenfalls nicht bestehe. Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 99. BVerfG, 18.11.1954 (1 BvR 629/52), BVerfGE 4, S. 96, 106.
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führte es aus, dass es vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers ist, die Reichweite und Grenzen der Tariffähigkeit zu bestimmen: „Da der Tarifvertrag das Gebiet des privaten Vertragsrechts verlässt und als unabdingbarer Kollektivvertrag normative Wirkung äußert, kann es dem Gesetzgeber nicht gleichgültig sein, zu wessen Gunsten er sich durch die Verleihung der Tariffähigkeit seines Normsetzungsrechts begibt.“⁵² Mit dieser Äußerung impliziert das BVerfG, dass die originär staatliche Rechtsetzungsmacht auf die Tarifvertragsparteien delegiert wurde. Noch deutlicher wurde das BVerfG in einer Entscheidung vom 15. Juli 1980. Hier hatte es über die Verfassungsmäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags zu befinden.⁵³ In diesem Zusammenhang stellte das BVerfG fest: „Die Tarifvertragsparteien haben mit der Vereinbarung der Tarifnormen über die gemeinsamen Einrichtungen ihre aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Normsetzungsbefugnis nicht überschritten.“⁵⁴ Die Koalitionen seien mit der Schaffung von Tarifnormen imstande, die „ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe (…) zu gestalten“.⁵⁵ Auch mit dieser Formulierung bekennt sich das BVerfG zur Delegationstheorie, insbesondere wenn es von einer „abgeleiteten Normsetzungsbefugnis“ und einer „zugewiesenen öffentlichen Aufgabe“ spricht. Ferner untermauert auch eine Formulierung des BVerfG aus einer Entscheidung vom 27. Februar 1973 die dogmatische Nähe zur Delegationstheorie: „Das grundlegend Besondere in diesem Bereich ist, dass der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung, soweit es sich um den Inhalt von Arbeitsverträgen handelt, weit zurückgenommen hat.“⁵⁶ Ähnlich führt das BVerfG schließlich auch in einer Entscheidung vom 24. Mai 1977 an: „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet eine Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit weit zurückgenommen hat.“⁵⁷
BVerfG, 18.11.1954 (1 BvR 629/52), BVerfGE 4, S. 96, 108. BVerfG, 15.06.1980 (1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79), BVerfGE 55, S. 7 ff. BVerfG, 15.06.1980 (1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79), BVerfGE 55, S. 7, 23. BVerfG, 15.06.1980 (1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79), BVerfGE 55, S. 7, 23 f. Vor allem BVerfG, 27.02.1973 (2 BvL 27/69), BVerfGE 34, S. 307, 316; siehe auch BVerfG, 24.05. 1977 (2 BvL 11/74), BVerfGE 44, S. 322, 340; teilweise wird darauf verwiesen, dass sich innerhalb dieser Entscheidung gleichzeitig auch staatlich-delegatorische Ansätze finden; so insbesondere Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 145 Fn. 71. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), BVerfGE 44, S. 322, 340; teilweise wird erkannt, dass sich innerhalb derselben Entscheidung gleichzeitig auch staatlich-delegatorische Ansätze finden, so insbesondere Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 145 Fn. 71.
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2. Die Rechtsprechung des BAG Auch das BAG hat sich in seiner Rechtsprechungsgeschichte schon mehrfach mit dem Ursprung der normativen Wirkung des Tarifvertrags auseinandergesetzt. Bei der nachfolgenden Analyse der Rechtsprechung des BAG gilt es zu berücksichtigen, dass die Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags stets im Zusammenhang mit der Frage der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien virulent wurde.
a) Delegationstheorie Das BAG sprach sich zunächst für die Delegationstheorie aus. So führte das BAG in einer Entscheidung vom 15. Januar 1955 an: „Die normative Wirkung der Regeln des Tarifvertrags geht also letztlich doch auf hoheitliche Gewalt zurück. Ist diese an die Verfassung gebunden, so muss das Gleiche für diejenigen gelten, die auf Grund staatlicher Delegation Rechtsetzungsbefugnisse haben.“⁵⁸ Diesen Ansatz fortführend stellte das BAG auch in einer Entscheidung vom 23. März 1957 fest, dass die Tarifvertragsparteien „ihre Befugnis zur Rechtsetzung aus der Ermächtigung des Tarifvertragsgesetzes“ herleiten.⁵⁹ Demzufolge seien die Tarifvertragsparteien zur normativen Rechtsetzung zwar nicht befugt, leiten sie aber „aus der ihnen durch Gesetz erteilten, aber auch durch Gesetz entziehbaren Ermächtigung her“.⁶⁰ Damit stand das BAG zunächst eindeutig auf dem Boden der Delegationstheorie. Schließlich geht es von der originären Rechtsetzungsmacht des Staates aus, die den Tarifvertragsparteien übertragen werden kann. Zudem stellte das BAG bei der Bestimmung des Übertragungsakts auf die einfachgesetzliche Schaffung des TVG ab. Präzisierend lässt sich diese Sichtweise des BAG zudem als privatrechtliche Delegationstheorie einordnen, wenn nämlich festgestellt wurde, der Tarifvertrag sei „seinem Wesen nach ein privatrechtlicher Vertrag“.⁶¹ Mit diesem Ansatz begründete das BAG früher auch die unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nach Art. 1 Abs. 3 GG.
b) Paradigmenwechsel: die Akzeptanz der Legitimationstheorie Nach über 40 Jahren gefestigter Rechtsprechung leitete der siebte Senat des BAG in einer Entscheidung vom 25. Februar 1998 den Paradigmenwechsel hin zur BAG, 15.01.1955 (1 AZR 305/54), BAGE 1, S. 258, 264. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 251; so auch BAG, 23.03.1957 (1 AZR 64/56), S. 133, 136. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 251. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 64/56), S. 133, 135.
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Legitimationstheorie ein.⁶² Das BAG verneinte zunächst die unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Regelung von Altersgrenzen. Zugrunde legte es die Annahme, dass Tarifnormen „auf kollektiv ausgeübte Privatautonomie“ zurückführbar sind, „nachdem die Tarifvertragsparteien ihr Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG wahrgenommen und Regelungen (…) geschaffen haben.“⁶³ In autonomietheoretischer Tradition geht das BAG davon aus, dass die normative Geltung von Tarifverträgen auf dem „privatautonomen Verbandsbeitritt ihrer Mitglieder“ beruhe, wodurch diese sich – in Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG – bestehenden und künftigen Regelungen unterwürfen.⁶⁴ Diese Sichtweise bestätigte ferner der vierte Senat in einer Entscheidung vom 30. August 2000.⁶⁵ In diesem Zusammenhang stellte das BAG erneut ausdrücklich fest, dass „Tarifverträge das Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ seien.⁶⁶ Nach der Entscheidung des sechsten Senats vom 27. Mai 2004 kann die Legitimationstheorie als Ansatz zur Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags als gefestigte Rechtsprechung angesehen werden.⁶⁷ Das BAG unternahm in dieser Entscheidung den Versuch einer Präzisierung des Umfangs der autonomen Tarifmacht der Sozialpartner. Hierbei führt es an, dass die Tarifvertragsparteien zwar „ein Normsetzungsrecht, jedoch kein Normsetzungsmonopol“ haben.⁶⁸ Gleichwohl erkennt das BAG damit abermals ein Normsetzungsrecht der Tarifvertragsparteien an, das auf der privatautonomen Unterwerfung durch Verbandsbeitritt beruht.
V. Stellungnahme Die verschiedenen Ansätze zur Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags werden im Folgenden auf den Prüfstand gestellt. Ausgehend von ihren jeweils spezifischen Erklärungsdefiziten soll ein eigener Erklärungsansatz für die normative Wirkung des Tarifvertrags gefunden werden:
BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118 ff. BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123. BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123. BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), BAGE 95, S. 277 ff. BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), BAGE 95, S. 277, 283. BAG, 27.05. 2004 (6 AZR 129/03), BAGE 111, S. 8 ff. BAG, 27.05. 2004 (6 AZR 129/03), BAGE 111, S. 8, 15.
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1. Erklärungsdefizite der rechtsgeschäftlichen Ansätze Die rechtsgeschäftlichen Erklärungsansätze stehen im Widerspruch zur Systematik des TVG, zur Entstehungsgeschichte und zur tatsächlichen Ausgestaltung von Tarifverträgen. So verneinen die rechtsgeschäftlichen Theorien mit ihren jeweiligen zivilrechtlichen Konstruktionen die normative Wirkung des Tarifvertrags als solche. Demgegenüber geht das TVG jedoch an mehreren Stellen davon aus, dass der Tarifvertrag Rechtsnormen enthält. So ist sowohl in § 1 Abs. 1 TVG als auch in § 3 Abs. 2 TVG ausdrücklich von „Rechtsnormen“ die Rede. Zudem ordnet § 4 Abs. 1 TVG die „unmittelbare und zwingende“ Wirkung der „Rechtsnormen“ des Tarifvertrags an. Diese rechtsdogmatische Ausgestaltung von Tarifautonomie im TVG lässt sich mit den rechtsgeschäftlichen Ansätzen, die jede Normwirkung von Tarifverträgen verneinen, nicht zusammenbringen. Zudem spricht die rechtshistorische Entwicklung des Tarifvertrags und des TVG⁶⁹ gegen die rechtsgeschäftliche Begründung seiner unmittelbaren und zwingenden Wirkung und der damit verbundenen Verneinung seines Normcharakters. Die normative Wirkung des Tarifvertrags ist vom historischen Gesetzgeber gewollt.⁷⁰ Das TVG wurde nach dem Vorbild der TVVO⁷¹ der Weimarer Republik konstruiert, in der gem. § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 TVVO bereits eine normative Wirkung des Tarifvertrags für Verbandsmitglieder vorgesehen war. Hieran war Sinzheimer mit seiner rechtswissenschaftlichen Konstruktion des Tarifvertrags maßgeblich beteiligt.⁷² Letztlich sind die Tarifverträge auch in rechtstatsächlicher Hinsicht wie Gesetze aufgebaut. Sie enthalten zahlreiche abstrakt-generelle Regelungen.⁷³ Auch darüber hinaus weisen die rechtsgeschäftlichen Ansätze Erklärungsdefizite auf: Die Vertretungstheorie vermag nicht, die eigene schuldrechtliche Stellung der Tarifvertragsparteien konsistent zu erklären.⁷⁴ Zudem kann sie nicht die „zwingende“ Wirkung des Tarifvertrags erklären, denn der Vertretene kann in Ausübung seiner Privatautonomie jederzeit abweichende Vereinbarungen treffen.⁷⁵ Diese Erklärungsdefizite betreffen alle rechtsgeschäftlichen Ansätze zur
Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 4. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 179; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 128; siehe zur Bedeutung der rechtshistorischen Disziplin für das kollektive Arbeitsrecht insbesondere Picker, FS 50 Jahre BAG, S. 795, 801 ff. RGBl. 1918 I, S. 1456. Siehe hierzu Zachert, RdA 2001, S. 104, 107; vgl. Kempen, AuR 2015, S. G 13, G 15; siehe hierzu im Einzelnen Kapitel 2, § 4.III.2.a). Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 128. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 180. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 181; Waltermann, ArbR, Rn. 541; vgl. Hirschmann, Die Begrenzung tarifvertraglicher Normsetzung durch die Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Art. 12 GG, S. 31.
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Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags gleichermaßen.⁷⁶ Insgesamt erscheinen die rechtsgeschäftlichen Ansätze zur Erklärung des Tarifvertrags damit eher „konstruiert“.⁷⁷ Sie vermögen heute⁷⁸ nicht mehr zu überzeugen und sind im Ergebnis zu verwerfen. Der Normcharakter des Tarifvertrags ist demnach anzuerkennen.
2. Möglichkeit privater Normsetzung Aus der Ablehnung der rechtsgeschäftlichen Ansätze folgt noch nicht notwendigerweise, dass die Tarifvertragsparteien als Private potentiell auch Rechtsnormen setzen können. Wie Kirchhof in seiner monographischen Untersuchung „Private Rechtsetzung“ gezeigt hat, lässt sich die potentielle Möglichkeit privater Normsetzung aber sowohl verfassungs- als auch einfachrechtlich begründen⁷⁹: Zunächst ist ein staatliches Rechtsetzungsmonopol in der Verfassung nicht unmittelbar angeordnet.⁸⁰ Auch mittelbar lässt sich ein staatliches Rechtsetzungsmonopol weder aus dem Demokratieprinzip noch aus der Menschenwürdegarantie ableiten.⁸¹ Die freiheitlich demokratische Grundordnung beinhaltet schließlich auch eine „freiheitliche“ Komponente, die die Legitimation von Rechtsnormen durch privatautonome Selbstbestimmung grundsätzlich ermöglicht.⁸² Darüber hinaus erteilt das GG dem Bundesstaat gem. Art. 70 ff. GG zwar einzelne Gesetzgebungskompetenzen und verweist subsidiär über Art. 70 Abs. 1 GG auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Damit ist jedoch die private Normsetzung keinesfalls ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil zeigt gerade das in Art. 28 Abs. 2 GG verankerte Prinzip kommunaler Selbstverwaltung, dass eine
Siehe mit weiteren Kritikpunkten insbesondere Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 181. Vgl. Hirschmann, Die Begrenzung tarifvertraglicher Normsetzung durch die Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Art. 12 GG, S. 30. Allerdings sahen sich die rechtsgeschäftlichen Ansätze auch früher schon einer enormen Kritik ausgesetzt und wurden größtenteils abgelehnt; siehe hierzu etwa Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, Teil 1, S. 104 ff. Siehe zum Ganzen eindrucksvoll Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 107 ff. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 112; vgl. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 123. Siehe zu diesen Argumentationsgängen überzeugend und m.w.N. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 112 ff.; siehe auch kritisch hierzu Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 178 f. Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 162; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 113; so auch Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 123.
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„ausgelagerte“ Normsetzung dem GG nicht fremd ist.⁸³ Vielmehr gibt es zu erkennen, dass es kein Rechtsetzungsmonopol des Staates gewährleistet, indem es in zahlreichen weiteren Fällen nichtstaatliche Rechtsnormen ausdrücklich anerkennt⁸⁴: So werden allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts über Art. 25 GG anerkannt. Aber auch gem. Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 WRV wird denjenigen Kirchen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts darstellen, ein Selbstorganisationsrecht verliehen, welches auch die eigenständige Normsetzung beinhaltet.⁸⁵ Eine ausschließlich staatliche Gestaltungsmacht durch Rechtsetzung entspricht nicht der Konzeption der Verfassung.⁸⁶ Vielmehr ist im GG ein pluralistisches Gesellschaftssystem angelegt, in der die Individualfreiheit „das schlechthin Ursprüngliche“⁸⁷ ist.⁸⁸ Die Gestaltungsmacht des Einzelnen bildet das Fundament der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie ist Ausdruck der in Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Privatautonomie.⁸⁹ Dem GG ist demzufolge ein duales Normsetzungssystem inhärent, dem das Spannungsverhältnis zwischen privatautonom-legitimierter Selbstbestimmung einerseits und demokratisch-legitimierter Fremdbestimmung andererseits zugrunde liegt.⁹⁰ Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche einfachrechtliche Indizien für die potentielle Möglichkeit der Normsetzung durch Private. Das Paradebeispiel privater Normsetzung ist das Satzungsrecht eines Vereins gem. §§ 25, 33 BGB.⁹¹ Ebenso erkennt § 293 ZPO sogenannte „Statuten“ ausdrücklich an und setzt diese – im Rahmen des gerichtlichen Prüfumfangs – mit dem originär vom Staat gesetzten Recht gleich.⁹² Letztlich ist auch die Anerkennung von Gewohnheitsrecht ein Indiz dafür, dass private Rechtsetzung potentiell möglich ist.⁹³ Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 138 f.; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 112. Siehe zu diesem Argumentationsgang Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 124 ff. So auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 139. Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 139. Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 162. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 122, 123. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 123; ständige Rechtsprechung, siehe nur BVerfG, 03.03. 2001 (1 BvR 2014/95), NJW 2001, S. 1709 ff. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 139; Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 162. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 142; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 266 ff., 276; siehe hierzu auch Rieble, ZfA 2000, S. 5, 9 f. Denecke, Das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG, S. 61; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, S. 114. Giesen, Tarifvertragliche Gestaltung für den Betrieb, S. 141.
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3. Erklärungsdefizite der staatlich-delegatorischen Ansätze Die staatlich-delegatorischen Ansätze gehen allesamt von einem staatlichen Rechtsetzungsmonopol aus und begründen damit ihre Ablehnung gegenüber den autonomietheoretischen Ansätzen. Den staatlich-delegatorischen Ansätzen muss aber entgegengehalten werden, dass – wie oben gesehen – kein staatliches Rechtsetzungsmonopol existiert. Die Möglichkeit privater Normsetzung ist potentiell gegeben. Aus der potentiellen Möglichkeit privater Normsetzung folgt jedoch nicht notwendigerweise, dass die normative Wirkung des Tarifvertrags nicht dennoch auf einer staatlich delegierten Rechtsetzungsmacht beruht.⁹⁴ Darüber hinaus müsste die staatliche Delegation von Rechtsetzungsmacht eine verfassungsrechtlich vorgegebene Konkretisierung mit sich ziehen, wie sie grundsätzlich Art. 80 Abs. 1 GG für die Übertragung von Rechtsetzungsmacht vorsieht. Danach muss das ermächtigende Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß regeln. Diesen besonderen Bestimmtheitsanforderungen genügt jedenfalls das TVG nicht.⁹⁵ Daneben wäre die Folge einer staatlichen Delegation von Rechtsetzungsmacht auch eine entsprechende Kontrolle im Sinne einer Staatsaufsicht.⁹⁶ Tatsächlich unterliegen Tarifverträge jedoch nicht der staatlichen Kontrolle, sodass auch diesbezüglich Erklärungsdefizite der staatlich-delegatorischen Ansätze vorherrschen. Soweit die Integrationstheorie diese Defizite imstande ist zu beheben⁹⁷, muss jedoch gegen sie wiederum eingewendet werden, dass Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG für eine unmittelbare Ableitung staatlicher Normsetzungsbefugnis zu unbestimmt ist.⁹⁸ Vielmehr bleibt nach der Integrationstheorie ungeklärt, wie die gesetzgeberischen „Ergänzungen“ in Form der Normen des TVG zu erklären sind, wenn doch schon Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG die unmittelbare Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien beinhalte.⁹⁹ Ganz im Gegenteil folgt aus Art. 9 Abs. 3
Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Gestaltung für den Betrieb, S. 143. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 558; Schneider, FS Möhring, S. 521, 534; vgl. auch Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 116. Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), S. 81; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 121. So nämlich i.S.d. Integrationstheorie Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 558. Vgl. Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), S. 80. Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), S. 80; vgl. auch Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 95; letztlich bestätigt auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung die Erforderlichkeit einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG: BVerfG, 02.03.1993 (1 BvR 1213/85), BVerfGE 88, S. 103, 115; BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), BVerfGE 84, S. 212, 228.
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Satz 1 GG, dass es vorrangig Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regeln.¹⁰⁰ Mit dem Rechtsgrundsatz „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“ muss also gegen die staatlich-delegatorischen Ansätze eingewendet werden, dass der Staat den Tarifvertragsparteien nicht ein Recht übertragen kann, welches ihm die Verfassung gar nicht originär zugewiesen hat.¹⁰¹
4. Erklärungsdefizite der autonomietheoretischen Ansätze Allerdings weisen auch die autonomietheoretischen Ansätze einige Erklärungsdefizite auf. So widerspricht insbesondere die Theorie von der vorstaatlichen Normsetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien dem dualen Normsetzungssystem des GG. Eine dritte, „quasi naturrechtliche“ Normsetzungskategorie, neben der demokratisch-legitimierten und der privatautonom-legitimierten Normsetzungsmöglichkeit, ist nicht vorgesehen.¹⁰² Aber auch gegen die Legitimationstheorie lassen sich Erklärungsdefizite ins Feld führen: Sofern tarifliche Regelungen ausschließlich für die Verbandsmitglieder der tarifvertragsschließenden Parteien normativ wirken, kann die Legitimationstheorie mit der Konstruktion eines privatautonomen Unterwerfungsaktes durch den jeweiligen Verbandseintritt zwar eine dogmatische Berechtigung der Normwirkung nachweisen. Allerdings sieht das TVG in zahlreichen Fällen auch die normative Wirkung des Tarifvertrags für Außenseiter vor: So ordnet § 3 Abs. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG die normative Wirkung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen des Tarifvertrags für diejenigen Betriebe an, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind. Auf die Tarifgebundenheit der Arbeitnehmer kommt es dabei nicht an, sodass auch Außenseiter von der normativen Wirkung des Tarifvertrags (im Hinblick auf die betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen) erfasst werden, weshalb eine autonomietheoretische Erklärung besonders schwer fällt.¹⁰³ Daneben erstreckt sich ein Tarifvertrag auch gem. § 5 Abs. 4 Satz 1 Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, S. 175 ff.; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 179 f.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 117. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 120 f.; Waltermann, FS Söllner, S. 1251, 1257 f. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 247; Picker, NZA 2002, S. 761, 762; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1135 f.; Rieble, ZfA 2004, S. 5, 11. Vgl. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 563; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 245.
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TVG auf Außenseiter, wenn ihn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt. Ebenfalls problematisch erscheint das Erklärungsmodell der Legitimationstheorie, wenn ein Arbeitnehmer oder Arbeitgeber aus dem jeweiligen Verband austritt, die Tarifgebundenheit gem. § 3 Abs. 3 TVG dennoch bis zum Ende des Tarifvertrags bestehen bleibt.¹⁰⁴ Ähnlich ist die Wirkung des § 4 Abs. 5 TVG. In all diesen gesetzlich vorgesehenen Konstellationen der (teilweise aber nur vermeintlichen¹⁰⁵) Außenseiterwirkung des Tarifvertrags fehlt es – i.S.d. Legitimationstheorie – an einem privatautonomen Unterwerfungsakt unter bestehende und künftige tarifvertragliche Regelungen und damit an einer entsprechenden Legitimation für seine normative Wirkung.¹⁰⁶ Darüber hinaus kann die Legitimationstheorie für sich genommen nicht die Existenz von § 4 Abs. 1 TVG erklären, der dem Tarifvertrag schließlich die unmittelbare und zwingende Wirkung erst verleiht.¹⁰⁷ Diese Vorschrift hat nach der Legitimationstheorie insoweit lediglich deklaratorische Bedeutung.
5. Erklärungsdefizite der synergetischen Ansätze Letztlich weisen auch die synergetischen Ansätze Erklärungsdefizite auf, die es besonders hervorzuheben gilt: Die Sanktionstheorie geht zunächst – in staatlichdelegatorischer Tradition – davon aus, dass ein staatliches Rechtsetzungsmonopol besteht. Wie bereits gezeigt wurde, ist diese Annahme nicht haltbar. Vielmehr sind auch Private potentiell imstande, Normen zu setzen. Daneben ist der Sanktionstheorie – wie auch den staatlich-delegatorischen Ansätzen insgesamt – der Vorwurf zu machen, dass eine staatliche Kontrolle der abgeschlossenen Tarifverträge die Folge der abgeleiteten Rechtsetzungsmacht sein müsste.¹⁰⁸ Der dynamische Kombinationsansatz ist insofern zu kritisieren, als dass er das dogmatische Fundament der Tarifautonomie nicht hinreichend bestimmt. Er geht
Prominentester Vertreter dieses Arguments ist Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 562, der darauf verweist, dass es einen „stärkeren Entzug der Legitimation“ nicht geben könne. Zur Relativierung dieser (vermeintlichen) Begründungsdefizite der Legitimationstheorie siehe Kapitel 3, § 7.V.5. Giesen, Tarifvertragliche Gestaltung für den Betrieb, S. 176 ff.; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 100; Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 920; Waltermann, ArbR, Rn. 546; vgl. hierzu auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 242 f.; Pionteck, AuR 2019, S. 67, 70 und Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 57. Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Gestaltung für den Betrieb, S. 172. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 237.
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vielmehr der entscheidenden Frage, ob die Rechtsetzungsmacht auf einen privatautonomen oder auf einen staatlichen Ursprung zurückführbar ist, aus dem Weg. Die Annahme, dass „mal das eine, mal das andere Element stärker hervortreten kann“¹⁰⁹ führt zu einer gewissen Beliebigkeit¹¹⁰ und verwechselt die rechtstechnische Konstruktion der normativen Wirkung mit der Frage ihrer Legitimation.¹¹¹ Schließlich lassen sich gegen beide synergetischen Konzepte sowohl die Erklärungsdefizite der staatlich-delegatorischen Ansätze als auch die der autonomietheoretischen ins Feld führen.
6. Ein Plädoyer für die Legitimationstheorie – Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie Ein staatliches Normsetzungsmonopol besteht grundsätzlich nicht. Die Normsetzung durch Private ist potentiell möglich.¹¹² Diese Erkenntnis nimmt den staatlich-delegatorischen Ansätzen den Wind aus den Segeln. Der Konzeption des GG liegt ein duales Normsetzungssystem zugrunde, welches die privatautonomlegitimierte Selbstbestimmung einerseits und die demokratisch-legitimierte Fremdbestimmung andererseits gewährleistet.¹¹³ In diesem Sinne ist die Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags immer vorrangig auf der Grundlage der privatautonomen Selbstbestimmung zu erklären, sofern die bestehenden Regelungen des TVG nicht dagegensprechen.¹¹⁴ Indem das GG die „freiheitlich“demokratische Grundordnung zum Leitprinzip erhebt,¹¹⁵ avanciert die Individualfreiheit zum „schlechthin Ursprünglichen“.¹¹⁶ Solange die normative Wirkung des Tarifvertrags demnach auf privatautonome Selbstbestimmung zurückgeführt werden kann, bleibt für die staatlich-delegatorischen Erklärungsansätze kein Raum. Insoweit kann die tarifliche Normsetzung immer nur subsidiär auf die demokratisch-legitimierte Fremdbestimmung durch den Staat zurückgeführt werden. Eine solche – vorrangige – Rückführung der normativen Wirkung des Tarifvertrags auf die privatautonome Selbstbestimmung eines jeden Einzelnen (i.S.d.
Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 99. Denecke, Das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG, S. 64. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 339. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.1.b). Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 139; Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 162; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 13. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 158. BVerfG, 27.02.1973 (2 BvL 27/69), BVerfGE 34, S. 307, 317. Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 162.
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„freiheitlichen“ Komponente einer freiheitlich demokratischen Grundordnung) ist mithilfe der Legitimationstheorie möglich: Danach findet die tarifvertragliche Normwirkung ihren Ursprung in dem privatautonom gefassten Entschluss eines Einzelnen, in einen Verband einzutreten.¹¹⁷ Der Verbandseintritt ist dabei gerade als Ausübung der verfassungsrechtlich gewährleisteten individuellen Koalitionsfreiheit zu verstehen. Gleichzeitig ist damit auch die Unterwerfung unter bestehendes und künftiges Tarifrecht verbunden.¹¹⁸ Hierdurch erhalten die Verbände die privatautonome Legitimation zum Abschluss von Tarifverträgen, die für ihre Mitglieder Normwirkung entfalten. Ohne einen Rückgriff auf das bestehende Gesetzesrecht in Form des TVG, kann die Legitimationstheorie nicht vollends die „unmittelbare und zwingende“ Wirkung des Tarifvertrags erklären.¹¹⁹ Sie ist um entsprechende Aspekte der Anerkennungstheorie zu erweitern. Die Tarifvertragsparteien sind danach zwar grundsätzlich aufgrund der privatautonomen Legitimation durch ihre Verbandsmitglieder dazu legitimiert, Tarifverträge abzuschließen, die auch normativ wirken.¹²⁰ Der Staat erteilt jedoch durch die Regelungen der §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG seinen Geltungsbefehl, der insoweit jedoch nicht konstitutiv für die Normwirkung ist, sondern diese nur abschließend anerkennt („flankiert“) bzw. ausgestaltet.¹²¹ Insofern stellen die Regelungen des TVG nur eine Ausgestaltung der normativen Wirkung des Tarifvertrags dar und begleiten damit gewissermaßen nur die Normsetzung durch Private.¹²² Dieser normanerkennende Geltungsbefehl durch den Staat ändert also nichts am Legitimationsursprung der privatautonomen Selbstbestimmung. Insofern ist die Legitimationsquelle von der normanerkennenden Ausgestaltung durch den Staat zu unterscheiden.¹²³ Hieraus ergibt sich die Vergleichbarkeit der Tarifautonomie mit der Privatautonomie: Beide Autonomien sind zurückzuführen auf die Selbstbe-
Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121, 133; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1, 3; Picker, FS 50 Jahre BAG, S. 795, 821 f. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121, 133; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 229 f.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 170; Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 163 ff., 171; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 117 ff.; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 88. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 172. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 171, führt in diesem Zusammenhang die besonders treffliche Unterscheidung zwischen „Begründung“ und „Regelung“ der normativen Wirkung des Tarifvertrags an. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 175. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 339 f.; Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 237.
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stimmung eines jeden Einzelnen, wodurch ein grundsätzlich staatsfernes Reservat begründet wird. Genauso wie die Tarifautonomie aber den staatlich festgelegten Rahmenbedingungen des TVG unterliegt, so setzt auch das BGB der Privatautonomie entsprechende Schranken. Die tarifliche Normsetzung durch Private und die gesetzgeberische Ausgestaltung der Tarifautonomie durch staatliche Anerkennung gehen insofern „Hand in Hand“.¹²⁴ Die Erklärung der normativen Wirkung kann also vorrangig auf einen Ansatz der privatautonomen Selbstbestimmung i.S.d. Legitimationstheorie zurückgeführt werden. Dieser Konzeption stehen darüber hinaus auch die Regelungen des TVG nicht entgegen. Ihre (vermeintlichen) Erklärungsdefizite lassen sich relativieren und teilweise als „Scheinprobleme“¹²⁵ entlarven. Prima facie scheint sowohl die Nachbindung an den Tarifvertrag gem. § 3 Abs. 3 TVG als auch dessen Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG mit der privatautonomen Legitimation kraft Unterwerfung zu brechen. Insbesondere Gamillscheg sieht die Nachbindung an einen Tarifvertrag trotz Verbandsaustritt als Widerlegung der Legitimationstheorie, denn „ein stärkerer Entzug der Legitimation“ könne es schlichtweg gar nicht geben.¹²⁶ Auf den zweiten Blick entpuppen sich die §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG jedoch als Formen privatautonom-legitimierter Weitergeltung der normativen Wirkung des Tarifvertrags.¹²⁷ Mit dem Verbandseintritt hat der einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber gleichzeitig auch die Ermächtigung erteilt, bis zum Ende des Tarifvertrags an diesen gebunden zu sein.¹²⁸ Die Nachbindung aus § 3 Abs. 3 TVG ist damit bereits Bestandteil der privatautonomen Unterwerfung durch den Verbandseintritt, gerichtet auf Weitergeltung des Tarifvertrags durch Nachbindung für den Fall des Verbandsaustritts.¹²⁹ Aus demselben Grund ist auch die Weitergeltung eines bereits abgelaufenen Tarifvertrags gem. § 4 Abs. 5 TVG privatautonom legitimiert. Denn auch die Weitergeltung eines abgelaufenen Tarifvertrags ist bereits Bestandteil der privatautonomen Unterwerfungserklärung in Form des Verbandseintritts, wonach die Regulierung des Arbeitsverhältnisses nicht bereits mit dem Ablauf des Tarifvertrags entfallen soll.¹³⁰ Anders verhält es
Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 55. Rieble, ZfA 2000, S. 5, 15. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 562. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 11 f., 243, § 4 Rn. 750. BAG, 04.08.1993 (4 AZR 49/92), NZA 1994, S. 34, 35; Giesen, ZfA 2016, S. 153, 161 f.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 389 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 243; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 15 f. Giesen, ZfA 2016, S. 153, 161 ff. Giesen, ZfA 2016, S. 153, 162 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 750; a.A. insbesondere Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 414 ff.
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sich jedoch mit der Geltung betriebsverfassungsrechtlicher und betrieblicher Normen für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind (vgl. § 3 Abs. 2 TVG) sowie im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gem. § 5 TVG. In beiden Konstellationen werden tarifvertragliche Regelungen auch auf Außenseiter erstreckt. Dies stellt zweifelsfrei einen Bruch mit dem Prinzip der vorrangig privatautonomen Legitimation der Tarifgeltung dar.¹³¹ Die normative Wirkung des Tarifvertrags kann in diesen Fällen der Außenseiterwirkung nur auf Grundlage der demokratisch-legitimierten Fremdbestimmung durch den Staat erklärt werden.¹³² In diesem Zusammenhang hat der Staat die Verantwortung für die tarifliche Normgeltung übernommen und einen Geltungsbefehl erteilt¹³³, der dann aber nicht nur „flankierend“¹³⁴, sondern „konstituierend“ wirkt. Das ändert jedoch nichts an dem „vorrangig“ privatautonomen Legitimationsursprung der tariflichen Normwirkung. Erstreckt sich die normative Wirkung des Tarifvertrags damit auf Außenseiter, kann vielmehr gar nicht von dem Ergebnis „echter“, gelebter Tarifautonomie die Rede sein. Die normative Wirkung des Tarifvertrags im engeren Sinne ist stets das Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie.
VI. Folgen für die Grundausrichtung des Tarifsystems Mit der Widerlegung der staatlich-delegatorischen Ansätze wurde, um es mit Rieble zu sagen, ein „ganzes Ideengebäude“¹³⁵ zum Einsturz gebracht. Gleichzeitig geht mit der Rückführung der tariflichen Normgeltung auf die privatautonome Unterwerfung kraft Verbandseintritts und dem damit verbundenen Verständnis der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie die Errichtung eines neuen dogmatischen Fundaments einher. Dieses hat Folgen für das Tarifsystem und ist damit auch weichenstellend für die rechtsdogmatische Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie:
Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 223; Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 243 f.; vgl. Löwisch/ Rieble, TVG, § 3 Rn. 3. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 243; vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 223. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 3, der jedoch hinsichtlich des § 3 Abs. 1 TVG nochmals differenziert, siehe hierzu Rn. 34 f.; JKOS/Oetker, § 6 Rn. 3. Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 171. Rieble, ZfA 2000, S. 5, 24.
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1. Auf Mitgliedschaft basierende Tarifautonomie Wenn also die tarifliche Normgeltung vorrangig auf die privatautonome Unterwerfung kraft Verbandseintritt zurückzuführen ist, führt das zwangsläufig zu einem mitgliedschaftlichen Tarifsystem.¹³⁶ Dem gegenwärtigen Tarifsystem ist also eine auf Mitgliedschaft aufbauende Tarifautonomie inhärent.¹³⁷ Das ist die logische Konsequenz aus der Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags mithilfe der Legitimationstheorie. Seinen konkretisierten Niederschlag im TVG findet das vorrangig mitgliedschaftliche Tarifsystem in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG, wonach ein Tarifvertrag grundsätzlich nur für die beiderseits Tarifgebundenen gilt. Tarifgebunden sind danach die Mitglieder der Tarifvertragsparteien, die durch ihren Verbandseintritt eine privatautonome Legitimation zum Abschluss von Tarifverträgen erteilt haben.¹³⁸ Damit kann bereits an dieser Stelle solchen Bestrebungen eine Absage erteilt werden, die für eine generelle „Erga-Omnes-Wirkung“ des Tarifvertrags eintreten.¹³⁹ Mit einem solchen Tarifsystem soll die normative Wirkung des Tarifvertrags von vornherein dem Arbeitnehmer zugutekommen, dessen Arbeitgeber tarifgebunden ist. Eine solche Erga-Omnes-Wirkung des Tarifvertrags ist bislang hauptsächlich für den Fall betriebsverfassungsrechtlicher und betrieblicher Normen gem. § 3 Abs. 2 TVG und für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gem. § 5 Abs. 1, Abs. 4 TVG vorgesehen. Ein solcher Ansatz bricht jedoch fundamental mit der auf Mitgliedschaft beruhenden Tarifautonomie und einem Verständnis von Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie.¹⁴⁰ Die generelle Erga-Omnes-Wirkung des Tarifvertrags würde also einen (Tarif‐)Systemwechsel bedeuten.¹⁴¹ Wie bereits mehrfach betont, forciert die vorliegende Untersuchung jedoch keinen solchen Systemwechsel.¹⁴² Vielmehr stehen der Zustand und die Stärkung der Tarifautonomie des bestehenden Tarifsystems im Vordergrund.¹⁴³ Eine generelle Erga-Omnes-Wirkung des Tarifvertrags bedeutet jedenfalls keine Stärkung der Tarifautonomie „dieses“ Tarifsystems.¹⁴⁴
Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 38 ff., 44; Waltermann, HSI, Bd. 15, S. 17; vgl. auch Rieble, ZfA 2000, S. 5, 24. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, passim. Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 38. Besonders prominenter Vertreter: Kamanabrou, Erga-Omnes-Wirkung bei Tarifverträgen, passim; zu Gestaltungmöglichkeiten einer Erga-Omnes-Wirkung des Tarifvertrags im Einzelnen siehe S. 108 ff. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 10. Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 40. Für ein Festhalten am gegenwärtigen System der Tarifautonomie plädiert auch Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 42. So auch Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 12.
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2. Begrenzte Ordnungsfunktion der Tarifautonomie Die Herleitung der normativen Wirkung des Tarifvertrags mithilfe der Legitimationstheorie wirkt sich konsequenterweise auch auf das Verständnis der (umfassenden) Ordnungsfunktion¹⁴⁵ der Tarifautonomie aus, die ihr weitverbreitet zugeschrieben wird.¹⁴⁶ Danach komme der Tarifautonomie die Funktion der „Ordnung des Arbeitslebens“ insgesamt zu, ohne Rücksicht auf die Verbandsmitgliedschaft.¹⁴⁷ In diesem Zusammenhang muss jedoch scharf zwischen der Ordnungswirkung des Tarifvertrags einerseits und der Ordnungsaufgabe der Tarifautonomie andererseits unterschieden werden¹⁴⁸: So ist die tatsächlich umfassende Ordnungs-„Wirkung“ des Tarifvertrags unbestreitbar.¹⁴⁹ Tarifverträge gelten auch jenseits der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifwirkung für eine Vielzahl von Arbeitnehmern, sei es über arbeitsvertragliche Bezugnahmen, sei es über allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge.¹⁵⁰ Eine umfassende Ordnungs„Aufgabe“ der Tarifautonomie besteht allerdings nicht. Die Aufgabe der Tarifautonomie zur „Ordnung des Arbeitslebens“ ist vorrangig auf die Regelung der Arbeitsbedingungen der Verbandsmitglieder begrenzt.¹⁵¹ Den Tarifvertragsparteien fehlt es an einer hinreichenden Legitimation zur Regelung der Arbeitsbedingungen von Außenseitern.¹⁵² Das ergibt sich zwingend aus der Rückführung der tariflichen Normsetzung auf die privatautonome Unterwerfung kraft Verbandsmitgliedschaft i.S.d. Legitimationstheorie. Darüber hinaus ist eine umfassende Ordnungsfunktion mit einem Verständnis der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie nicht kompatibel. Einfachgesetzlicher Ausdruck der begrenzten Ordnungsfunktion der Tarifautonomie ist die vorrangig an die einzelne Verbandsmitgliedschaft geknüpfte tarifliche Normwirkung gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG.
Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 40. Siehe hierzu bereits einführend Kapitel 2, § 3.I.2.d). DHSW-ArbR/Hensche, GG, Art. 9 Rn. 77; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 45; siehe auch Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 291 f. und Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff. Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff.; Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593; vgl. auch Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 291 f. Siehe zu dieser Unterscheidung grundlegend Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 235 ff. Vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 235 f. Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 39; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 236. So ausdrücklich Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 196 Rn. 4; vgl. auch BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068, 1076 Rn. 62. So vor allem auch Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 51 ff.; vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 237 f.
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3. Keine Legitimation zur Regelung von Außenseiter-Arbeitsverhältnissen Hieraus folgt wiederum, dass die Tarifvertragsparteien grundsätzlich über keine Legitimation zur Regelung von Außenseiter-Arbeitsverhältnissen verfügen.¹⁵³ Denn wenn der Geltungsgrund des Tarifvertrags in der privatautonomen-mitgliedschaftlichen Legitimation der Koalitionen seinen Ursprung findet, so führt das konsequenterweise zu einer begrenzten personellen Reichweite der tariflichen Normsetzungsmacht.¹⁵⁴ Diese Erwägung folgt auch unmittelbar aus der nur begrenzten Ordnungsfunktion der Tarifautonomie. Eine Erstreckung tariflicher Normen auf die Arbeitsverhältnisse von Außenseiter ist – wie bereits oben festgestellt – nur ausnahmsweise mithilfe eines staatlichen Geltungsbefehls möglich, wie er etwa für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach Maßgabe des § 5 TVG vorgesehen ist. In diesem Fall besteht allerdings für den erstreckten Tarifvertrag keine privatautonom-mitgliedschaftliche Legitimation mehr, sondern eine staatlich-demokratische. Hieraus ergibt sich ein eindeutiges Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der privatautonom-mitgliedschaftlichen Legitimation des Tarifvertrags.¹⁵⁵
4. Privatautonomer Koalitionspluralismus Ferner führt der privatautonom-mitgliedschaftliche Geltungsgrund des Tarifvertrags zu einer weiteren Prämisse, die der Entwicklung von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie zugrunde gelegt werden muss: Das Tarifsystem steht grundsätzlich auf einem koalitionspluralistischen Fundament.¹⁵⁶ Die Arbeitnehmer können sich im Wege der Privatautonomie selbstbestimmt einen Verband aussuchen, in dem sie Mitglied werden.¹⁵⁷ Dieser Verband erhält dann durch die privatautonome Unterwerfung kraft Verbandseintritt die Legitimation, Tarifverträge für seine Mitglieder abzuschließen. Dieser privatautonome Ansatz gebietet es, dass zwischen den verschiedenen Verbänden grundsätzlich kein Unterschied gemacht werden darf. Das „Leitbild der Tarifautonomie“ geht damit von einem
So ausdrücklich auch Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 2. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 33; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1 ff. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 33. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 248, 252 f.; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 177 f.; vgl. hierzu auch Rieble, ZfA 2000, S. 5, 25. Siehe hierzu Rieble, ZfA 2000, S. 5, 25, der aus dem Ursprung der Tarifautonomie sogar ein Recht des Arbeitnehmers auf Geltung seines „eigenen“ Tarifvertrags schlussfolgert.
§ 8 Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
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privatautonomen Koalitionspluralismus aus und negiert daher tendenziell etwaige koalitionsmonopolistische Bestrebungen durch den Staat.¹⁵⁸
5. Mittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien Die Frage nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien war früher das prominenteste Beispiel für die Folgen des Ursprungs der tariflichen Normsetzungsmacht.¹⁵⁹ In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG verträgt sich die nunmehr vertretene Legitimationstheorie nicht mit der Annahme einer unmittelbaren Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG. Während das BAG mithilfe der Delegationstheorie früher eine unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte begründete¹⁶⁰, geht es heute lediglich von einer mittelbaren Grundrechtsbindung aus. Allerdings hat das BAG in diesem Zusammenhang klargestellt, dass dem Staat die Schutzpflicht trifft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor grundrechtlichen Beeinträchtigungen durch tarifvertragliche Regelungen zu schützen.¹⁶¹ Den nachfolgenden Untersuchungen ist daher die Annahme zugrunde zu legen, dass die Tarifvertragsparteien einer „nur“ mittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen.
§ 8 Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie Aufbauend auf den bis hierhin erarbeiteten rechtshistorischen, -tatsächlichen und -dogmatischen Prämissen kann nunmehr gewährleistet werden, dass die Entwicklung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie nicht etwa „geschichtslos und systemfrei“¹⁶² erfolgt. Ausgangspunkt der Entwicklung der Faktoren ist die Architektur des bestehenden Tarifsystems. Dabei werden die verschiedenen Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie zunächst thesenartig dargestellt, ehe sie mit rechtsdogmatischen Indizien untermauert wer-
Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 252 f. Siehe hierzu vertiefend und jeweils m.w.N. Burkiczak, RdA 2007, S. 17 ff.; Gornik, NZA 2012, S. 1300 ff. Siehe nur BAG, 23.03.1957 (1 AZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 250 ff. und BAG, 15.01.1955 (1 AZR 305/54), BAGE 1, S. 258, 262. Erstmals BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123 f.; fortführend BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), BAGE 95, S. 277 ff. Vgl. Rieble, ZfA 2000, S. 5, 7.
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den. Diese rechtsdogmatischen Indizien ergeben sich dabei jeweils aus dem Geltungsgrund der normativen Wirkung des Tarifvertrags, aus den der Tarifautonomie zugeschriebenen Funktionen sowie aus etwaigen verfassungs- und einfachgesetzlichen Regelungen.
I. Faktor 1: die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers Der erste Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist der Organisationsgrad der Arbeitnehmer bzw. die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften. Besonders trefflich und metaphorisch bringt dies Richardi zum Ausdruck, der die Tarifautonomie ohne hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage mit einem „Baum ohne Wurzeln“ vergleicht.¹⁶³ Insofern lässt sich der folgende komparative Satz aufstellen: Je höher der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer ist (bzw. je mehr Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisiert sind), desto besser ist der Zustand der Tarifautonomie. Die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ lässt sich dabei auf zahlreiche rechtsdogmatische Indizien stützen, die eine entsprechende Verknüpfung mit ihr zu erkennen geben:
1. Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags Wie bereits festgestellt, ist die tarifliche Normwirkung vorrangig auf die privatautonome Unterwerfung kraft Verbandseintritt zurückzuführen.¹⁶⁴ Tarifautonomie ist also als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu verstehen. Die Tarifautonomie (bzw. der Tarifvertag) legitimiert sich „von unten nach oben“. Aus der Erklärung der normativen Wirkung des Tarifvertrags mithilfe der Legitimationstheorie folgt insofern ein mitgliedschaftliches Tarifsystem bzw. eine auf Mitgliedschaft aufbauende Tarifautonomie.¹⁶⁵ Die Verbandsmitgliedschaft wird damit zum (Grund‐)Prinzip der Tarifautonomie erhoben.¹⁶⁶ Denn ohne mitgliedschaftliche Legitimation verlässt die tarifliche Normgeltung den Boden
Richardi, NZA 2013, S. 408; vgl. im Übrigen auch Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 13 f. und Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 21, die den starken mitgliedschaftlichen Bezug der deutschen Koalitionsfreiheit als Funktionsbedingung der Tarifautonomie betonen. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.VI.1. Siehe hierzu insbesondere Richardi, der ausdrücklich die Verbandsmitgliedschaft zum Grundprinzip erhebt, nachdem er feststellt, dass Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu verstehen ist, NZA 2013, S. 408; Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 13 f.
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der Tarifautonomie im engeren Sinne. Eine Legitimation der tariflichen Normgeltung jenseits der Verbandsmitgliedschaft erfordert dann einen darüber hinausgehenden staatlich-demokratisch legitimierten Geltungsbefehl.¹⁶⁷ In diesem Sinne ist auch die (nur) begrenzte Ordnungsfunktion der Tarifautonomie zu begreifen, die die notwendige Konsequenz aus dem privatautonomen Geltungsgrund ist.¹⁶⁸ Danach ist dem Tarifvertrag lediglich die Aufgabe zuzuschreiben, die Arbeitsbedingungen der Verbandsmitglieder zu regeln. Auch die Ordnungsfunktion der Tarifautonomie bezieht sich daher auf die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers und erschöpft sich gleichzeitig in dieser. Der privatautonome Geltungsgrund der normativen Wirkung des Tarifvertrags verweist insofern auch auf die Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitnehmer als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“.
2. Verfassungsrechtliche Implikationen Die besondere Bedeutung der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers erfährt auch eine verfassungsrechtliche Anerkennung. Dabei umfasst Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG zunächst das Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers Mitglied einer Gewerkschaft zu werden.¹⁶⁹ Aber auch darüber hinaus schützt die kollektive Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG sowohl den Mitgliederbestand als auch die Mitgliederwerbung einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberkoalition.¹⁷⁰ Dabei erkennt auch das BVerfG die besondere Bedeutung der Verbandsmitgliedschaft an und führt aus: „Zu den geschützten Tätigkeiten gehört auch die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst. Diese schaffen damit das Fundament für die Erfüllung ihrer in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Aufgaben. Durch die Werbung neuer Mitglieder sichern sie ihren Fortbestand. Von der Mitgliederzahl hängt ihre Verhandlungsstärke ab.“¹⁷¹ Auch das BAG führt das Recht der Koalitionen zur Mitgliederwerbung aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG ins Feld, um die Zulässigkeit einer (einfachen) Differenzierungsklausel zu begründen.¹⁷² In diesem Zusammenhang betont es die Bedeutung der Verbandsmitglieder einer Koalition, um den „objektiven Funktionen von Tarifverträgen“ gerecht
Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.VI.2. Grundlegend BVerfG, 11.06. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42 ff. und BVerfG, 01.03.1979 (1 BvL 21/78 u. a.), BVerfGE 50, S. 290, 367. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 75, 76; BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381; vgl. BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809; siehe auch bereits BAG, 11.11.1968 (1 AZR 16/68), BAGE 21, S. 201. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.
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zu werden.¹⁷³ Gerade in Zeiten eines abnehmenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades gewinne das Recht der Koalitionen zur Mitgliederwerbung aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG eine herausragende Bedeutung.¹⁷⁴ Diese verfassungsrechtlichen Gewährleistungen und Konkretisierungen durch die Rechtsprechung stützen die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers als Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie.
3. Einfachgesetzlicher Ausdruck gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG Aber auch einfachgesetzlich ist die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers in der Tarifrechtsordnung tief verwurzelt, wodurch ihre besondere Bedeutung für eine funktionsfähige Tarifautonomie zusätzlich hervorgehoben wird. So erfährt der vorrangig privatautonome Erklärungsansatz der tariflichen Normgeltung in § 3 Abs. 1 TVG seine einfachgesetzliche Konkretisierung.¹⁷⁵ Tarifgebunden sind danach die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Arbeitsvertrags ist. § 4 Abs. 1 TVG knüpft hieran an und begrenzt die normative Wirkung des Tarifvertrags auf die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Der Begriff der Tarifgebundenheit bestimmt also gewissermaßen den Personenkreis, für den die Tarifvertragsparteien berechtigt sind, normativ geltende Regelungen zu schaffen.¹⁷⁶ Die gesetzliche Verknüpfung der Verbandsmitgliedschaft mit der Tarifnormgeltung gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG zeigt insofern den hohen Stellenwert der Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften für eine funktionsfähige Tarifautonomie.¹⁷⁷ Denn ohne einen entsprechenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer würde eine Erosion des tariflichen Geltungsbereiches drohen.¹⁷⁸ Und ohne ein gewisses Maß an gewerkschaftlichem Organisationsgrad der Arbeitnehmer würde der Tarifvertrag, als Ergebnis gelebter Tarifautonomie, seine Wirkungskraft weitgehend verlieren. Auch die Verknüpfung von Verbandsmitgliedschaft und Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1 TVG verweist demzufolge auf die Gewerkschaftsmitgliedschaft als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“.
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 f. Rn. 73. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 f. Rn. 73 ff., 75. Vor allem Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1; vgl. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 1; vgl. Hanau, NZA 2012, S. 825. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 1; ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 1. So ausdrücklich Richardi, NZA 2013, S. 408 ff.; vgl. auch etwas kritischer Hanau, NZA 2012, S. 825 ff. Bepler spricht insofern treffend von der „Tarifwirkung in der Breite“, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 12, 38 ff.
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4. Das Erfordernis der Tariffähigkeit Als weiteres Beispiel für die Verknüpfung von tarifrechtlicher Dogmatik mit der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers kann das Erfordernis der Tariffähigkeit ins Feld geführt werden. Eine Legaldefinition der Tariffähigkeit enthält das TVG nicht.¹⁷⁹ Allein § 2 Abs. 1 TVG zählt die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und die einzelnen Arbeitgeber als (potentielle) Tarifvertragsparteien auf. Das BVerfG hat bereits früh einen Versuch unternommen, den Begriff der Tariffähigkeit zu definieren: „Die Tariffähigkeit bedeutet die Fähigkeit, durch Vereinbarung mit dem sozialen Gegenspieler u. a. die Arbeitsbedingungen des Einzelarbeitsvertrags mit der Wirkung zu regeln, daß sie für die tarifgebundenen Personen unmittelbar und unabdingbar wie Rechtsnormen gelten.“¹⁸⁰ Die Tariffähigkeit bezeichnet also die rechtliche Eignung zum Abschluss von normativ wirkenden Tarifverträgen.¹⁸¹ Insofern ist sie eine spezifische Form der Geschäftsfähigkeit.¹⁸² Ebenso wenig wie eine Legaldefinition enthält das TVG eine darüber hinausgehende Konkretisierung der Anforderungen, die an das Vorliegen der Tariffähigkeit zu stellen sind. Für die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition hat das BAG jedoch die Anforderungen richterrechtlich wie folgt konkretisiert: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats muss eine Arbeitnehmervereinigung bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllen, um tariffähig zu sein. (…) Danach muss eine Arbeitnehmervereinigung sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt haben und willens sein, Tarifverträge abzuschließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen.Weiterhin ist Voraussetzung, dass die Arbeitnehmervereinigung ihre Aufgabe als Tarifpartnerin sinnvoll erfüllen kann. Dazu gehört einmal die Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler, zum anderen eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation.“¹⁸³ Einige der vom BAG aufgeführten Merkmale werden teilweise bereits als grundlegende Voraussetzung für die Koalitionsfähigkeit angesehen. Als Wesensmerkmale der Tariffähigkeit werden jedoch überwiegend die Tarif-
Allerdings nehmen zahlreiche Vorschriften außerhalb des TVG Bezug auf den Begriff der Tariffähigkeit; siehe hierzu §§ 2 Abs. 1 Nr. 2, 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG und § 74 Abs. 2 Satz 1 BetrVG. BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), BVerfGE 20, S. 312. Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 141; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 8; JKOS/Schubert, § 2 Rn. 1; vgl. Richardi, NZA 2013, S. 408, 412. Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 8. Vor allem BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1114 Rn. 34; siehe auch BAG, 14.12. 2004 (1 ABR 51/03), NZA 2005, S. 697.
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willigkeit, die Durchsetzungskraft (teilweise auch als „soziale Mächtigkeit“¹⁸⁴ oder als „Durchsetzungsmacht“¹⁸⁵ bezeichnet) sowie die Anerkennung des geltenden Tarifrechts ausgemacht.¹⁸⁶
a) Die Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition Insbesondere mit dem Merkmal der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition weist die Tariffähigkeit eine beachtliche Verknüpfung zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer auf. Durchsetzungskräftig ist eine Arbeitnehmerkoalition dann, wenn sie in der Lage ist den sozialen Gegenspieler soweit unter Druck zu setzen, dass dieser dazu bewegt werden kann, sich auf Tarifverhandlungen einzulassen.¹⁸⁷ Das Merkmal der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition rechtfertigt sich aus der Schutzfunktion der Tarifautonomie, die darauf gerichtet ist, die „strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen“¹⁸⁸ auszugleichen.¹⁸⁹ Ob also Arbeitnehmerkoalitionen imstande sind, diese strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber zu beseitigen, wird anhand verschiedener Kriterien beurteilt, die allesamt eine empirische Rückkoppelung aufweisen¹⁹⁰: die Mitgliederzahl¹⁹¹, die Anzahl der bisherigen Tarifabschlüsse¹⁹², die
Vgl. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 12 Rn. 24 und Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 178 ff. Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 142 ff. So insbesondere Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/ Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 142 und Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 12 Rn. 23 ff.; teilweise ist jedoch umstritten, ob die genannten Merkmale bereits Voraussetzung für die Koalitionsfähigkeit oder aber erst für die Tariffähigkeit im Besonderen sind: dazu Löwisch/ Rieble, TVG, § 2 Rn. 112 ff.; vgl. auch JKOS/Schubert, § 2 Rn. 7 ff. BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1115 Rn. 39; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 12 Rn. 24. BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809, 811. Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 143; Ulber, RdA 2011, S. 353. Für eine systematische Auflistung der in der Rechtsprechung verwandten Kriterien zur Bestimmung der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition siehe Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 143 ff. und Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 179. BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300; BAG, 14.12. 2004 (1 ABR 51/03), NZA 2005, S. 697; BAG, 06.06. 2000 (1 ABR 10/99), NZA 2001, S. 160, 162; BAG, 09.07.1968 (1 ABR 2/67), BAGE 28, S. 98. BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1118 Rn. 61; BAG, 06.06. 2000 (1 ABR 10/ 99), NZA 2001, S. 160, 162 f.; BAG, 10.09.1985 (1 ABR 32/83), NZA 1986, S. 332.
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Finanzlage¹⁹³ sowie die Wirkungskraft der Mitglieder im Arbeitskampf (sogenannte „Kampfstärke“; etwa wenn bestimmte Gewerkschaftsmitglieder eine Schlüsselfunktion im Arbeits- und Wirtschaftsleben einnehmen)¹⁹⁴. Für die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ spricht also insbesondere das Kriterium der Mitgliederzahl zur Bestimmung der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition. Von der Mitgliederzahl hängt schließlich entscheidend ab, inwieweit die Arbeitnehmerkoalition in der Lage ist auf den sozialen Gegenspieler Druck auszuüben, wie es um ihre Finanzlage bestellt ist (diese hängt schließlich wiederum entscheidend von der Höhe der Gewerkschaftsbeiträge ab) und wie ihre organisatorische Leistungsfähigkeit zu beurteilen ist.¹⁹⁵
b) Stellenwert der Gewerkschaftsmitgliedschaft im Spiegel der Rechtsprechung Den hohen Stellenwert der Gewerkschaftsmitgliedschaft für eine funktionsfähige Tarifautonomie bekräftigen also vor allem diejenigen Entscheidungen, in denen die Frage der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition von der Anzahl ihrer Verbandsmitglieder abhängig gemacht wurde: Exemplarisch verdeutlicht der „GKH-Beschluss“ des BAG vom 5. Oktober 2010 die Verknüpfung von Gewerkschaftsmitgliedschaft mit dem Vorliegen der Tariffähigkeit.¹⁹⁶ Streitgegenständlich war die Frage der Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung (GKH). Im Einzelnen ging es dabei um die Frage, ob die GKH über die für die Tariffähigkeit notwendige Durchsetzungskraft verfügt. Die GKH verweigerte jedoch entsprechende Angaben über ihren Mitgliederbestand und stellte sich auf den Standpunkt, dass es für die Tariffähigkeitsvoraussetzung der Durchsetzungskraft ausreichend sei, dass sie in der Vergangenheit bereits in großem Umfang Tarifverträge abgeschlossen habe (120 Tarifverträge).¹⁹⁷ Mit dem Verweis auf eine weitere erforderliche Sachverhaltsaufklärung hob das BAG die Entscheidung auf und verwies sie an das LAG Hamm zurück. Allein die Anzahl der bereits abgeschlossenen Tarifverträge ge-
BAG, 15.03.1977 (1 ABR 16/75), BAGE 29, S. 72, 73, 80. BAG, 14.12. 2004 (1 ABR 51/03), NZA 2005, S. 697; BAG, 15.03.1977 (1 ABR 16/75), BAGE 29, S. 72, 86. BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300, 303 Rn. 39; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 12 Rn. 25. BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300 ff. BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300, 301.
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nüge für das Vorliegen der Tariffähigkeit nicht.¹⁹⁸ In diesem Zusammenhang betonte das BAG vielmehr die entscheidende Bedeutung der Mitgliederzahl für die Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition.¹⁹⁹ Das LAG Hamm verneinte die Tariffähigkeit der GKH und verwies darauf, dass selbst aus der von der GKH angegebenen Mitgliederzahl von 1.653 (= Organisationsgrad von etwa 0,87 %) noch nicht ihre Durchsetzungskraft folge.²⁰⁰ Das LAG Hamburg hatte die Frage zu beurteilen, ob die Vereinigung medsonet tariffähig ist.²⁰¹ Auch hierbei stand die Frage ihrer Durchsetzungskraft im Vordergrund. Dabei betonte auch das LAG Hamburg die herausragende Bedeutung der Mitgliedschaftsstärke einer Arbeitnehmerkoalition. Die Vereinigung medsonet verfügte am 31. Dezember 2011 nach eigenen Angaben über 7.439 Mitglieder (= Organisationsgrad von etwa 1 %). Dieser Mitgliederbestand genügte dem LAG Hamburg jedoch nicht, um von einer hinreichenden Durchsetzungskraft von medsonet auszugehen und verneinte im Ergebnis die Tariffähigkeit. Vielmehr könne bei einem Organisationsgrad von 1 % nicht davon ausgegangen werden, dass medsonet vom sozialen Gegenspieler ernst genommen werde. Vielmehr drohe ein „Diktat der Arbeitgeberseite“.²⁰² Diese Entscheidung des LAG Hamburg wurde darüber hinaus vom ersten Senat des BAG bestätigt.²⁰³ Zuletzt hatte das BAG sich mit der Tariffähigkeit der DHV, einer Gewerkschaft die zum Dachverband des CGB gehört, auseinandergesetzt.²⁰⁴ Es äußerte große Zweifel an der Durchsetzungskraft der DHV und rückte erneut die Mitgliedschaft als zentrales Element der Tariffähigkeit in den Vordergrund.²⁰⁵ Aber auch in zahlreichen weiteren (unterinstanzlichen) Entscheidungen wurde die Tariffähigkeit respektive die Durchsetzungskraft in Anbetracht nicht ausreichender (bzw. nicht nachgewiesener) Mitgliederzahlen immer wieder verneint. So hat das LAG Hessen jüngst die Tariffähigkeit der Vereinigung „Neue Assekuranz Gewerkschaft“ (NAG) verneint, nachdem diese nicht nachweisen konnte, bereits Tarifverträge abgeschlossen zu haben und sich darüber hinaus weigerte ihre Mitgliederzahl zu nennen.²⁰⁶ Darüber hinaus verneinte bspw. auch das ArbG Duisburg die Tariffähigkeit der Vereinigung „Beschäftigtenverband Industrie, Gewerbe,
BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300, 304 Rn. 45. BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300, 303 Rn. 38. LAG Hamm, 23.09. 2011 (10 TaBV 14/11), NZA-RR 2012, S. 25 ff., 27. LAG Hamburg, 21.03. 2012 (3 TaBV 7/11), BeckRS 2013, 72934. LAG Hamburg, 21.03. 2012 (3 TaBV 7/11), juris Rn. 113 = BeckRS 2013, 72934. BAG, 11.06. 2013 (1 ABR 33/12), NZA-RR 2013, S. 641 ff. BAG, 26.06. 2018 (1 ABR 37/16), AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 10 m. Anm. Greiner/Pionteck. Dazu Greiner/Pionteck, AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 10, unter III. LAG Hessen, 09.04. 2015 (9 TaBV 225/14), NZA-RR 2015, S. 482 ff.
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Dienstleistungen“ (BIGD), da aufgrund eines zu geringen Mitgliederbestands nicht von der erforderlichen Durchsetzungskraft ausgegangen werden könne.²⁰⁷
c) Erkenntnisse und Rückschlüsse für eine funktionsfähige Tarifautonomie Aus der rechtsdogmatischen Konstruktion der Tariffähigkeit und aus den angeführten Entscheidungen zur Frage der Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition lassen sich Rückschlüsse auf eine funktionsfähige Tarifautonomie ziehen. Eine funktionsfähige Tarifautonomie setzt demnach mitgliedschaftsstarke Arbeitnehmerkoalitionen voraus. Ansonsten fehlt es ihnen an der für den Abschluss von Tarifverträgen notwendigen Tariffähigkeit. Dies würde zu einer Abnahme von tariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen führen, was zu einer zunehmenden Erosion des tariflichen Geltungsbereiches beitragen würde.²⁰⁸ Darüber hinaus führt ein Rückgang an tariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen zu weniger Tarifpluralität²⁰⁹ und damit auch zu einer erschwerten tarifvertraglichen Abbildung von Interessenpluralität.²¹⁰ Das Erfordernis der Tariffähigkeit respektive das Erfordernis der Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmerkoalition spricht daher ebenfalls für die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“.
d) Tariffähigkeit und Tarifautonomie – ein Widerspruch? Prima facie scheint es so, als würde das Erfordernis der Tariffähigkeit im Widerspruch zur Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie stehen. So wird teilweise angeführt, dass die Tarifautonomie ihre Entstehung dem „Prinzip privatautonomer Vereinigung“ verdanke und das Erfordernis der Tariffähigkeit sich insofern systemwidrig verhalte.²¹¹ Gegen das Erfordernis der Tariffähigkeit wird in diesem Zusammenhang eingewendet, dass die Tarifautonomie damit einer fremdbestimmten (staatlichen) Ordnung unterworfen werde, was jedoch dem freiheitlichen Charakter der in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Tarifautonomie widerspreche.²¹² Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch die Kompatibilität des Erfordernisses der Tariffähigkeit mit einer Tarifautonomie, die ihren Ursprung in der privatautonomen Vereinigung findet. Gerade weil die Tarifautonomie als
ArbG Duisburg, 22.08. 2012 (4 BV 29/12), BeckRS 2012, 74630. Vgl. Richardi, NZA 2004, S. 1025, 1029. Greiner, NZA 2011, S. 825, 826; vgl. Richardi, NZA 2004, S. 1025, 1028. Siehe zum Faktor der Repräsentativität des Tarifvertrags Kapitel 3, § 8.III. Richardi, NZA 2004, S. 1025, 1029. Richardi, NZA 2004, S. 1025, 1027 f.
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„kollektiv ausgeübte Privatautonomie“ zu verstehen ist, erscheint das Erfordernis der Tariffähigkeit kompatibel und sogar geboten.²¹³ Denn nur so kann sichergestellt werden, dass ein „Kollektiv“ besteht, welches in Ausübung seiner Privatautonomie tatsächlich imstande ist, die „strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen“²¹⁴ auszugleichen.²¹⁵ Damit ist das Erfordernis der Tariffähigkeit gerade nicht Ausdruck staatlich delegierter Rechtsetzungsmacht, sondern entspringt lediglich dem in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten „Prinzip gebündelter Arbeitnehmermacht“.²¹⁶ Zudem widerspricht es nicht der Rückführung der Tarifautonomie auf die privatautonome Vereinigung, wenn ihr mit der Tariffähigkeit Ausübungsgrenzen gesetzt werden. So wie die Tariffähigkeit die Ausübung der Tarifautonomie in die Schranken weist, so knüpft das BGB auch an die Ausübung der Privatautonomie etwaige Voraussetzungen (bspw. das Erfordernis der Geschäftsfähigkeit gem. §§ 104 ff. BGB als Parallele zur Tariffähigkeit).²¹⁷ Das Erfordernis der Tariffähigkeit harmonisiert daher auch mit einer auf die privatautonome Vereinigung zurückführbaren Tarifautonomie und einem damit verbundenen Verständnis als kollektiv ausgeübte Privatautonomie.²¹⁸
5. Die Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags Für die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ streitet ferner das mit dem Erfordernis der Tariffähigkeit verzahnte und vom BAG entwickelte Postulat von der Richtigkeitsvermutung²¹⁹
So auch Ulber, RdA 2011, S. 353, 357 f.; vgl. Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 144 f. BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809, 811. Ulber, RdA 2011, S. 353, 357. Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 145. Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 8. So auch Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 145; so auch im Ergebnis, aber teilweise mit abweichender Begründung Ulber, RdA 2011, S. 353, 357 f.; soweit es um die „Anerkennung als Vertrag“ geht im Ergebnis ebenfalls zustimmend Richardi, NZA 2013, S. 408, 412. Kritisch zum Begriff der „Richtigkeitsgewähr“ des Tarifvertrags Waltermann, RdA 2014, S. 86, 88 f.; Bepler verwendet den Begriff der „Angemessenheitsvermutung“, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 44; teilweise wird aber auch der Begriff der „Ausgewogenheitsgewähr“ verwendet, JKOS/Krause, § 1 Rn. 147; seinen Ursprung findet der Begriff der „Richtigkeitsgewähr“ eines (allgemeinen) Vertrags wohl bei Schmidt-Rimpler, AcP 1941, S. 130 ff.
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des Tarifvertrags.²²⁰ Mit ihm begründet das BAG vielfach in seinen Entscheidungen einen großzügigeren Beurteilungsmaßstab bei der verfassungs- und einfachrechtlichen Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen, mit der Folge, dass dabei eine Angemessenheits- bzw. Billigkeitskontrolle nicht stattfindet.²²¹ Das gilt selbst dann, wenn der Tarifvertrag bloß kraft individualvertraglicher Bezugnahme eine schuldrechtliche Geltung entfaltet (vgl. § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB i.V.m. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB).²²² Der Schutz der Tarifautonomie wird auf diese Weise bewirkt, indem der einzelne Tarifvertrag gegen eine Inhaltskontrolle „immunisiert“ wird. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass dem einzelnen Arbeitsverhältnis grundsätzlich eine gestörte Vertragsparität zulasten des Arbeitnehmers inhärent ist, die durch den Abschluss eines Tarifvertrags beseitigt werde.²²³ Daraus folge eine materielle Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags dahingehend, dass eine angemessene Berücksichtigung der Interessen beider Arbeitsvertragsparteien unterstellt wird.²²⁴ Sie wird selbst dann unterstellt, wenn ein Arbeitnehmer nur kraft Bezugnahme in den Genuss tarifvertraglicher Regelungen kommt.²²⁵ Die Annahme der materiellen Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags setzt allerdings eine hinreichende Repräsentativität der Tarifvertragsparteien voraus.²²⁶ Jedenfalls muss sichergestellt sein, dass genügend Arbeitnehmer hinreichend an der tarifvertraglichen Willensbildung – jedenfalls mittelbar über die tarifvertragsschließenden Verbände als ihre Repräsentanten – beteiligt sind. Erst dann kann von dem Verhandlungsgleichgewicht ausgegangen werden, aus der die Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags abgeleitet wird. Erforderlich ist demzufolge ein gewisser gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Arbeitnehmer bzw. hinreichend „mitgliedschaftsstarke Gewerkschaften“.²²⁷ Ohne einen hinreichend hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitnehmer kann das Postulat von der
Von einer „Angemessenheitsvermutung“ sprechend: BAG, 21.11. 2012 (4 AZR 27/11), AP TVG Verbandsaustritt § 3 Nr. 16, Rn. 14; BAG, 19.06. 2012 (1 AZR 775/10), AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 177, Rn. 16; BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1372. Von einer „Richtigkeitsgewähr“ sprechend BAG, 24.09. 2008 (6 AZR 76/07), AP BGB § 305 c Nr. 11, Rn. 49; BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1116. So folgernd JKOS/Krause, § 1 Rn. 147 und BeckOK ArbR/Waas, TVG, § 1 Rn. 13. BAG, 18.09. 2012 (9 AZR 1/11), NZA 2013, S. 216; BAG, 06.11.1996 (5 AZR 334/95), NZA 1997, S. 778, 779; ErfK/Preis, BGB, § 611a Rn. 231. JKOS/Krause, § 1 Rn. 147. BAG, 24.09. 2008 (6 AZR 76/07), AP BGB § 305 c Nr. 11, Rn. 49; vgl. JKOS/Krause, § 1 Rn. 147. Siehe hierzu insbesondere auch Schüren, FS 50 Jahre BAG, S. 877, 879 ff. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 44; Reichold, NJW 2014, S. 2534, 2536. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 44; siehe kritisch zum Rechtsgedanken der Richtigkeitsgewähr in der Leiharbeitsbranche Waltermann, NZA 2010, S. 482, 487.
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Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags keinen Bestand mehr haben.²²⁸ Auch das zeigt eindringlich die Verzahnung der tarifrechtlichen Dogmatik mit der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers. Hierdurch wird der besondere Stellenwert eines hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades verdeutlicht.
II. Faktor 2: die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers Spiegelbildlich ist auch der Organisationsgrad der Arbeitgeber bzw. die Mitgliedschaft der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden ein Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Auch insofern gilt: Je höher der Organisationsgrad der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden ist, desto besser ist der Zustand der Tarifautonomie.²²⁹ Die bereits im Rahmen der Mitgliedschaft der Arbeitnehmer beschriebenen Anhaltspunkte streiten überwiegend ebenso für die Mitgliedschaft des Arbeitgebers als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“. Allerdings lassen sich nicht alle rechtsdogmatischen Indizien für die Mitgliedschaft des Arbeitgebers als Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie übertragen. Insofern ist ein zusätzlicher Erklärungsaufwand notwendig.
1. Rechtsdogmatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Mitgliedschaft der Arbeitnehmer Ist der einzelne Arbeitgeber Mitglied in einem Arbeitgeberverband und wird von einem entsprechenden Tarifvertrag erfasst, lässt sich der Ursprung seiner normativen Wirkung ebenso (wie bei der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers) auf die privatautonome Vereinigung i.S.d. Legitimationstheorie zurückführen.²³⁰ Ebenso streiten sowohl die in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verbürgten Rechte als auch die grundsätzlich an die Mitgliedschaft anknüpfende Geltungsbedingung eines Tarifvertrags gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG für die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“.²³¹ Insoweit lassen sich die zur Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers gemachten Ausführungen übertragen. Das Erfordernis der Tariffähigkeit kann hingegen nicht für die Mitgliedschaft des Arbeitgebers als Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie ins Feld ge Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 44. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 19 ff. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. und Kapitel 3, § 8.I.1. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.I.2.; zur Tariffähigkeit des Arbeitgebers als Einwand siehe Kapitel 3, § 8.II.2.
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führt werden. Zwar muss grundsätzlich auch ein Arbeitgeberverband tariffähig sein, um wirksam einen Tarifvertrag abschließen zu können. Das BAG verzichtet jedoch bei der Tariffähigkeitsbeurteilung eines Arbeitgeberverbands auf das Merkmal der Durchsetzungskraft²³², welches jedoch gerade die besondere Bedeutung der Verbandsmitgliedschaft für eine funktionsfähige Tarifautonomie betont. Wenn schon der einzelne Arbeitgeber für sich genommen tariffähig sei, könne für die Tariffähigkeitsbeurteilung eines Arbeitgeberverbands argumentum e contrario kein strengerer Maßstab gelten.²³³ Gleichwohl betonen die übrigen (und insofern übertragbaren) Indizien die Verwurzelung der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers im gegenwärtigen Tarifsystem.
2. Einwand: der einzelne Arbeitgeber als Tarifakteur i.S.d. § 2 Abs. 1 TVG Gegen die Erhebung der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers zum „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ lässt sich jedoch § 2 Abs. 1 TVG anführen, wonach auch der einzelne Arbeitgeber für sich genommen als Tarifakteur vorgesehen ist.
a) Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers Der einzelne Arbeitgeber ist nach § 2 Abs. 1 TVG ebenfalls als Tarifvertragspartei denkbar. Als grundsätzlich tariffähige Partei kann auch der einzelne Arbeitgeber mit der Gewerkschaft einen (Firmen‐)Tarifvertrag abschließen, an den er dann gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist.²³⁴ Für das Vorliegen der Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers bedarf es insofern auch keiner Begründung seiner Durchsetzungskraft.²³⁵ Insofern ließe sich anführen, dass die Gewerkschaft in jedem Fall einen tariffähigen Vertragspartner finden könne, sodass es auf die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers nicht mehr ankomme.²³⁶ Das streitet grundsätzlich gegen die Erhebung der Verbandsmitgliedschaft zum Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Augenscheinlich „funktioniert“ die Tarifauto-
BAG, 20.11.1990 (1 ABR 62/89), NZA 1991, S. 428; kritisch hierzu Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 201 ff. BAG, 20.11.1990 (1 ABR 62/89), NZA 1991, S. 428. ErfK/Franzen, TVG, § 2 Rn. 20 f. BAG, 20.11.1990 (1 ABR 62/89), NZA 1991, S. 428; teilweise wird sogar von einer unbeschränkten Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers ausgegangen, sodass nicht einmal seine Tarifwilligkeit vorausgesetzt wird, Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 8. Vgl. ErfK/Franzen, TVG, § 2 Rn. 20.
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nomie in diesem Punkt schließlich auch ohne einen hohen Organisationsgrad der Arbeitgeber. Ein zusätzlicher Begründungsaufwand ist daher notwendig.
b) Der idealtypische Vorrang des Flächentarifvertrags Der Abschluss eines Flächentarifvertrags setzt zwingend die Mitgliedschaft des Arbeitgebers in einem Arbeitgeberverband voraus. Ist der Arbeitgeber hingegen nicht in einem Arbeitgeberverband organisiert, verbleibt immerhin die Möglichkeit zum Abschluss eines Firmentarifvertrags. Der Einwand, dass die Tarifautonomie auch ohne einen hinreichenden Organisationsgrad der Arbeitgeber „funktioniert“ (nämlich indem der Arbeitgeber Firmentarifverträge abschließt), lässt sich jedoch dann relativieren, wenn sich ein idealtypischer Vorrang des Flächentarifvertrags für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erklären lässt. Die Folge wäre dann eine privilegierte Stellung der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers.
aa) Keine verfassungs- und einfachgesetzlichen Anhaltspunkte Weder in verfassungsrechtlicher Hinsicht noch aufgrund einfachrechtlicher Regelungen des Tarifrechts ergeben sich allerdings Anhaltspunkte für einen Vorrang des Flächentarifvertrags gegenüber dem Firmentarifvertrag.²³⁷ Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert dem Arbeitgeber sowohl positiv die Freiheit einem entsprechenden Arbeitgeberverband beizutreten als auch in negativer Hinsicht einer solchen Vereinigung fernzubleiben.²³⁸ Beide freiheitlichen Ausprägungen der Koalitionsfreiheit stehen einander dabei grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber, sodass hieraus eine Privilegierung der Verbandsmitgliedschaft und damit verbunden eine Privilegierung des Flächentarifvertrags nicht gefolgert werden kann.²³⁹ Auch eine Betrachtung der einfachgesetzlichen Regelungen führt zu keinem Unterschied zwischen beiden Tarifvertragstypen. Schließlich nennt § 2 Abs. 1 TVG den Arbeitgeber ebenso wie den Arbeitgeberverband als potentielle Partei eines Tarifvertrags.²⁴⁰ Der Flächentarifvertrag (und damit verbunden auch die Ver-
Vgl. Wiedemann/Oetker, TVG, § 2 Rn. 230, der jedenfalls konstatiert, dass ein Firmentarifvertrag „sich in seinem rechtlich möglichen Inhalt und in seinen Rechtswirkungen“ nicht vom Flächentarifvertrag unterscheidet. Siehe nur BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 177. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 177.
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bandsmitgliedschaft des Arbeitgebers) erfährt insofern nach den bestehenden verfassungs- und einfachgesetzlichen Regelungen keine Privilegierung.²⁴¹
bb) Aber: funktionsbegründeter Vorrang des Flächentarifvertrags Betrachtet man jedoch Flächen- und Firmentarifvertrag vor dem Hintergrund der Funktionen der Tarifautonomie, ergibt sich ein anderes Bild:²⁴² Die Tarifautonomie muss grundsätzlich der Aufgabe gerecht werden, eine möglichst weitreichende Typisierung und Vereinheitlichung der Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten.²⁴³ Der Flächentarifvertrag genügt diesen Anforderungen, indem er weitreichend die Arbeitsbedingungen einer bestimmten Branche einheitlich regelt. Er gewährleistet damit ein hohes Maß an Rechts- und Planungssicherheit.²⁴⁴ Diese Ordnungsfunktion erfüllt der Firmentarifvertrag nur sehr begrenzt. Im Vergleich zum Flächentarifvertrag erfasst der Firmentarifvertrag regelmäßig eine deutlich geringere Zahl an Arbeitsverhältnissen.²⁴⁵ Darüber hinaus orientiert sich ein Firmentarifvertrag überwiegend an den spezifischen Gegebenheiten des Unternehmens des tarifvertragsschließenden Arbeitgebers.²⁴⁶ Damit entfällt auch gleichzeitig die Kartellwirkung des Tarifvertrags. Sie geht grundsätzlich nur vom Flächentarifvertrag aus, der innerhalb einer bestimmten Branche die Personalkosten einheitlich festlegt.²⁴⁷ Der Flächentarifvertrag verhindert damit einen destruktiven Preiswettbewerb „nach unten“ und wirkt sich damit „marktmachtbegrenzend“ aus.²⁴⁸ Gerade hierin manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied zum Firmentarifvertrag, der einen vergleichbaren Effekt nicht mit sich bringt. So im Ergebnis auch Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 177 f. Bereits Mayer-Maly, DB 1965, S. 32 betonte die herausragende Bedeutung einer Funktionsbetrachtung der Tarifautonomie für die rechtsdogmatische Erkenntnisgewinnung: „Dabei soll aber nicht verkannt werden, daß teleologisch verfahrende Jurisprudenz im Tarifrecht den wirtschafts- und sozialpolitischen Funktionen des Tarifvertrags ein gewisses Maß an Rechtserheblichkeit zubilligen muß.“ Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 3.I.2.d), Kapitel 3, § 7.VI.2. Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 27 f. Wiedemann/Oetker, TVG, § 2 Rn. 230 f. führt dieses Argument jedenfalls für den firmenbezogenen Verbandstarifvertrag an. Dieses Argument gilt insofern erst recht für den Firmentarifvertrag; vgl. Mayer-Maly, DB 1965, S. 32, 33. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 178. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 178; Stein, RdA 2000, S. 129, 132; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 45; siehe zur Kartellfunktion bzw. -wirkung des Tarifvertrags auch bereits Kapitel 2, § 3.I.2.e). Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 45; Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 28.
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Diese ordnungspolitischen Defizite des Firmentarifvertrags gegenüber dem Flächentarifvertrag gehen zudem Hand in Hand mit einer nur begrenzten Erfüllung der Schutzfunktion.²⁴⁹ Die mit einem Firmentarifvertrag verbundene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse dürfte nicht selten mit einem Absinken der Arbeitsstandards – zulasten der Arbeitnehmerseite – einhergehen.²⁵⁰ Letztlich geht mit dem Flächentarifvertrag ein höheres Maß an Befriedung einher.²⁵¹ Tarifauseinandersetzungen um den Abschluss eines Firmentarifvertrags werden auf quasi-betrieblicher Ebene ausgetragen. Mit dem Flächentarifvertrag werden Arbeitskonflikte dagegen auf eine übergeordnete Ebene verlagert. Das stellt ein höheres Maß an sozialen Frieden sicher und schafft eine größere Akzeptanz des erzielten Tarifabschlusses. Der Flächentarifvertrag wird damit den Funktionen der Tarifautonomie eher gerecht als der Firmentarifvertrag. Insofern ergibt sich ein funktionsbegründeter Vorrang des Flächentarifvertrags, aus dem sich eine grundsätzliche Privilegierung der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers ableiten lässt. Jedenfalls „funktionsfähiger“ ist die Tarifautonomie also – angesichts der der Tarifautonomie zugeschriebenen Funktionen – mit einem hinreichenden Organisationsgrad der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden. Die Mitgliedschaft der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden lässt sich damit als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ begründen.
III. Faktor 3: Interessenpluralität durch repräsentative Tarifverträge Funktionsfähig ist die Tarifautonomie ferner nur dann, wenn das Tarifsystem so beschaffen ist, dass die verschiedenen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit dem Abschluss von Tarifverträgen hinreichend kanalisiert und abgebildet werden können. Die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Parteien müssen von dem für sie geltenden Tarifvertrag repräsentiert werden.²⁵² Im Bewusstsein der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie handelt es sich dabei um „autonom herbeigeführte Repräsentativität“²⁵³, welcher das Tarif-
Vgl. Schnabel, NZA-Beil. 2011, S. 56, 58, 61, der die besondere Bedeutung des Flächentarifvertrags für die Erfüllung der Schutzfunktion betont. Im Umkehrschluss muss konstatiert werden, dass der Firmentarifvertrag dieser jedenfalls nicht in vollem Umfang gerecht werden kann. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 181. Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 28. Vgl. Rieble, ZfA 2000, S. 5, 25. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 98; vgl. auch Richardi, NZA 2014, S. 1233, 1235.
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system Rechnung tragen muss. So leuchtet es ein, dass die tarifpolitischen Interessen eines Arztes nicht zwangsläufig im vollen Umfang mit denen einer Krankenschwester übereinstimmen.²⁵⁴ Ganz im Gegenteil sind die Interessen der Arbeitnehmerschaft derart plural, dass sie sogar gegenläufig sein können. Auch die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft hängt letztendlich davon ab, ob Gewerkschaften zur Auswahl stehen, die die Interessen des jeweiligen Arbeitnehmers hinreichend abdecken.²⁵⁵ Die Tarifautonomie ist nur dann funktionsfähig, wenn das Tarifsystem plurale Strukturen der Interessenvertretung zulässt. Darauf aufbauend lässt sich insofern der folgende komparative Satz aufstellen: Je repräsentativer Tarifverträge für die Tarifgebundenen sind, desto besser ist der Zustand der Tarifautonomie. Die Repräsentativität des Tarifvertrags als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ ist an mehreren Stellen rechtsdogmatisch verwurzelt:
1. Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags Für die Repräsentativität des Tarifvertrags als Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie streitet zunächst der Geltungsgrund des Tarifvertrags i.S.d. Legitimationstheorie.²⁵⁶ Denn wie bereits festgestellt, findet die normative Wirkung des Tarifvertrags ihren Ursprung im privatautonom gefassten Entschluss, Mitglied einer Koalition zu werden.²⁵⁷ Die Tarifvertragsparteien erhalten eine durch Mitgliedschaft vermittelte privatautonome Legitimation zur tariflichen Normsetzung. Insofern haben die Tarifvertragsparteien ein durch die Mitgliedschaft vermitteltes Mandat zur Normsetzung erhalten. Wenn also ein privatautonomer Entschluss bzw. ein privatautonom erteiltes Mandat für die normative Wirkung des Tarifvertrags verantwortlich ist, so müssen die Interessen der jeweiligen Verbandsmitglieder auch hinreichend abgebildet werden. Der Tarifvertrag muss die verschiedenen Interessen der Verbandsmitglieder hinreichend repräsentieren.²⁵⁸ Dies gebietet eine vollumfängliche Wahrnehmung des erhaltenen Mandats, welches den Geltungsgrund des Tarifvertrags schließlich erst legitimiert. Diese Überlegungen führen grundsätzlich zu einem Tarifsystem, welches auf die Wahrnehmung pluraler Interessen durch das Nebeneinander verschiedenster
Vgl. BAG, 27.01. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 645 ff. Franzen, Betriebsweite Verbindlichkeit von Tarifverträgen als Lösung der Tarifeinheit?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 31, 42; vgl. Lobinger, JZ 2014, S. 810, 818. Vgl. Lobinger, JZ 2014, S. 810, 818; vgl. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 177. Siehe Kapitel 3, § 7.V.5. Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 98; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 818; Richardi, NZA 2014, S. 1233, 1234 ff.
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Koalitionen angelegt ist.²⁵⁹ Mit dieser „autonom herbeigeführten Repräsentativität“²⁶⁰ harmonisiert ferner auch der Rechtsgedanke der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie.²⁶¹
2. Ausgangspunkt: Koalitionspluralismus aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG Darüber hinaus weisen verschiedene gesetzliche Implikationen auf die Repräsentativität des Tarifvertrags als Erfordernis für eine funktionsfähige Tarifautonomie hin. Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang der Koalitionspluralismus. Er folgt nicht nur aus der Rückführung der normativen Wirkung des Tarifvertrags auf die privatautonome Vereinigung, sondern lässt sich auch unmittelbar gesetzlich begründen. Erster Anknüpfungspunkt ist hierfür Art. 9 Abs. 3 GG. Die (positive) Koalitionsfreiheit ist in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verfassungsrechtlich verankert und garantiert als „Doppelgrundrecht“ neben der individuellen Koalitionsfreiheit eines jeden Einzelnen auch in kollektiver Hinsicht einen Grundrechtsschutz der bereits bestehenden Koalitionen selbst.²⁶² Die individuelle Koalitionsfreiheit garantiert zunächst die Freiheit des Einzelnen, eine neue Koalition zu gründen, einer bereits bestehenden Koalition beizutreten oder aber in einer Koalition als Mitglied zu verweilen.²⁶³ Die kollektive Koalitionsfreiheit schützt darüber hinaus die bereits bestehenden Koalitionen sowohl in ihrem Bestand als auch in ihrer freien Betätigung.²⁶⁴ Aus dem Zusammenspiel individueller und kollektiver Koalitionsfreiheiten ergibt sich konsequenterweise auch die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines Koalitionspluralismus.²⁶⁵ Denn Vgl. Franzen, Betriebsweite Verbindlichkeit von Tarifverträgen als Lösung der Tarifeinheit?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 31, 37; siehe hierzu auch bereits Kapitel 3, § 7.VI.3. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 98. So ausdrücklich auch Dieterich, AuR 2011, S. 46, 49. Wohl zuletzt ausdrücklich BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068, 1075 Rn. 55; siehe hierzu auch grundlegend Hufen, Grundrechte, § 37 Rn. 5 ff. und Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 69 ff. Grundlegend BVerfG, 01.03.1979 (1 BvL 21/78 u. a.), BVerfGE 50, S. 290, 367; zuletzt BVerfG, 11.06. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42 ff. Siehe BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), BVerfGE 84, S. 212, 224. BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 und 439/79), BVerfGE 55, S. 7, 24; BAG, 11.11.1968 (1 AZR 16/ 68), BAGE 21, S. 201, 206 ff.; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 177 f.; Dieterich, AuR 2011, S. 46, 48 ff.; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 125 ff.; Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 42 ff.; Koopmann, Gewerkschaftsfusion und Tarifautonomie, S. 196; vgl. hierzu auch Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/Preis/Rebhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, S. 72.
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genauso, wie der Bestand einer bereits gebildeten Koalition verfassungsrechtlich geschützt ist, besteht in individueller Hinsicht stets die Freiheit, eine neue Koalition zu gründen. Das Nebeneinander verschiedener Koalitionen ist die Folge. Einem Koalitionspluralismus steht Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG also nicht entgegen. Vielmehr wird er vom GG als natürlich vorausgesetzt.²⁶⁶ Der verfassungsrechtlich angelegte Koalitionspluralismus führt insofern zu einem echten Koalitionswettbewerb bzw. zu einer -konkurrenz.²⁶⁷ Fühlen sich die Mitglieder einer Koalition durch die betriebene Tarifpolitik nicht hinreichend repräsentiert, so steht es ihnen grundsätzlich frei, aus dieser auszutreten und eine neue Koalition zu gründen oder einer anderen Koalition beizutreten, die die jeweiligen Interessen umfassender abbildet.²⁶⁸ Dieser aus dem Koalitionspluralismus folgende Wettbewerb der Koalitionen zeigt bereits, dass das Tarifsystem in seinen Grundsätzen darauf angelegt ist, die verschiedenen Interessen der Arbeitnehmerschaft zu kanalisieren. Der Faktor der Repräsentativität des Tarifvertrags findet daher seinen gesetzlichen Ursprung im grundsätzlich verfassungsrechtlich garantierten Koalitionspluralismus aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.²⁶⁹
3. Vom Koalitionspluralismus zum Gewerkschaftspluralismus Die Gewerkschaft ist eine tariffähige Arbeitnehmerkoalition.²⁷⁰ Wenn also ein Koalitionspluralismus gewährleistet ist, folgt daraus konsequenterweise auch ein
Dieterich, AuR 2011, S. 46, 49; vgl. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1778 ff.; siehe ebenso Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 126, der zutreffend „die Chance zur pluralen Auffächerung des Koalitionssystems bereits in der natürlichen Gründungsfreiheit angelegt“ sieht. Gleichwohl verneint Greiner eine darüber hinausgehende Pflicht des Staates zur Schaffung pluraler Strukturen. Franzen, Betriebsweite Verbindlichkeit von Tarifverträgen als Lösung der Tarifeinheit?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 31, 37; Henssler, RdA 2015, S. 222; Koopmann, Gewerkschaftsfusion und Tarifautonomie, S. 196; vgl. dazu auch Dieterich, AuR 2011, S. 46, 48 ff.; Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 43 ff. und Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1778 ff. Bereits früh erkennt auch die Rechtsprechung die Möglichkeit eines Koalitionswettbewerbs an: BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 und 439/79), BVerfGE 55, S. 7, 24; BVerfG, 30.11.1965 (2 BvR 54/62), BVerfGE 19, S. 303, 321; BVerfG, 06.05.1964 (1 BvR 79/62), BVerfGE 18, S. 18, 33; BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068, 1077 Rn. 68 f.; BAG, 11.11.1968 (1 AZR 16/68), BAGE 21, S. 201, 206 ff. Vgl. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 43. Siehe hierzu auch Franzen, RdA 2008, S. 193, 199, der sogar ausdrücklich von einem „Leitbild des Koalitionspluralismus“ spricht. Siehe nur BAG, 15.03.1977 (1 ABR 16/75), BAGE 29, S. 72.
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Gewerkschaftspluralismus, der mit dem Erfordernis der Tariffähigkeit²⁷¹ lediglich reguliert wird.²⁷² In gewerkschaftsorganisatorischer Hinsicht lässt sich demzufolge das Einheits- und Industrieverbandsprinzip vielleicht rechtstatsächlich beobachten²⁷³, nicht aber als rechtsdogmatisch zwingend begründen.²⁷⁴ Aus dem Koalitionswettbewerb folgt also zwangsläufig auch ein Gewerkschaftswettbewerb. So können sich die Verbände für die verschiedensten Arbeitnehmergruppen einsetzen und ihre jeweiligen tarifpolitischen Interessen aufnehmen, kanalisieren und letztlich repräsentieren. Auf diese Weise kann gewährleistet werden, dass auch „Randgruppen“ der Arbeitnehmerschaft in tarifpolitischer Hinsicht nicht unberücksichtigt bleiben.²⁷⁵ Dasselbe gilt grundsätzlich auch auf Seiten der Arbeitgeberverbände.
4. Vom Gewerkschaftspluralismus zur Tarifpluralität Die Repräsentation der Verbandsmitglieder findet schließlich seine Vollendung in dem Abschluss eines Tarifvertrags. Dass es dabei zur Tarifpluralität²⁷⁶ im Betrieb kommt, wenn sich verschiedene Gewerkschaften herausgebildet haben und mit dem Arbeitgeber einen Tarifvertrag abschließen, ist ebenfalls sowohl in verfassungs- als auch in einfachrechtlicher Hinsicht konsequent.²⁷⁷ In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist die Entstehung von Tarifpluralität gerade das Ergebnis gelebter Tarifautonomie. Denn jede Gewerkschaft kann sich zunächst grundsätzlich auf die kollektive Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG berufen, von der das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen umfasst ist.²⁷⁸ Da für die Ableitung von Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie eine idealtypsierende Perspektive eingenommen wird, steht die grundsätzlich koalitions- und tarifplurale Tarifrechtsordnung einer unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten intendierten Tarifeinheit in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zwangsläufig entgegen. Auf derartige Erwägungen hat sich der Gesetzgeber im Zuge der ge-
Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 8.I.5. Vgl. Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/Preis/Rebhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, S. 80; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 179. Siehe zur historischen Entwicklung bereits Kapitel 2, § 4.V.1.; siehe zu den Tendenzen einer rechtstatsächlichen Abkehr vom Industrieverbandsprinzip bereits Kapitel 2, § 5.VI. Koop, Das Tarifvertragssystem zwischen Koalitionsmonopolismus und Koalitionspluralismus, S. 43 f.; Koopmann, Gewerkschaftsfusion und Tarifautonomie, S. 196 f. Rieble, DB 2010, S. 77, 78. Siehe zum Begriff der Tarifpluralität (in Abgrenzung zum Begriff der Tarifkonkurrenz) ErfK/ Franzen, TVG, § 4a Rn. 34. So im Ergebnis auch Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 179. Siehe nur BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778.
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setzlichen Verankerung der Tarifeinheit in § 4a TVG auch ausdrücklich berufen.²⁷⁹ Allerdings hat der Gesetzgeber die in ihren Grundfesten tarifplural ausgerichtete Tarifrechtsordnung in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG konsequenterweise ausdrücklich anerkannt, indem er in dieser Vorschrift klarstellend festgehalten hat, dass der Arbeitgeber an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein kann. Aber auch darüber hinaus gibt es einfachgesetzliche Indizien, die auf ein tarifplurales System hinweisen. So ist die Entstehung von Tarifpluralität ferner logische Konsequenz aus § 4 Abs. 1 TVG.²⁸⁰ Danach erstreckt sich die normative Wirkung des Tarifvertrags grundsätzlich auf die Arbeitsverhältnisse der beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Sind die Arbeitnehmer eines Betriebes in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert (ggf. aus dem Bedürfnis einer möglichst effektiven tarifpolitischen Repräsentation), die jeweils einen eigenen Tarifvertrag abgeschlossen haben, so ordnet § 4 Abs. 1 TVG die Tarifpluralität geradezu einfachgesetzlich an. Die Entstehung von Tarifpluralität ist damit die folgerichtige Konsequenz aus der verfassungs- und einfachgesetzlichen Systematik des Tarifrechts. Dadurch wird die dogmatische Verwurzelung der Repräsentativität des Tarifvertrags für die Tarifgebundenen als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ deutlich.
IV. Faktor 4: der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs Viertens ist die Tarifautonomie nur dann funktionsfähig, wenn der tarifautonome Regelungsbereich den Tarifvertragsparteien möglichst umfassend vorbehalten bleibt. Ihre Bedeutungskraft verliert die Tarifautonomie im Umkehrschluss dann, wenn ihr Regelungsbereich konkurrierenden Normsetzungsregimen zugänglich gemacht wird oder gar der Gesetzgeber in diesen Bereich regulierend eingreift. Insbesondere dürfte die Verbandsmitgliedschaft für Arbeitnehmer an Attraktivität verlieren, wenn der tarifautonome Regelungsbereich vor konkurrierenden Regelungen nicht geschützt wird.²⁸¹ Die Relevanz dieses Faktors für eine funktionsfähige Tarifautonomie lässt sich wie folgt konkretisieren: Je umfassender der tarifautonome Regelungsbereich den Tarifvertragsparteien zur Normsetzung vorbehalten ist, desto besser ist der Zustand der Tarifautonomie. Auch dieser Faktor lässt sich dabei auf verschiedene rechtsdogmatische Indizien stützen: BT-Drs. 18/4062, S. 8 f. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 179; Buchner, FS 50 Jahre BAG, S. 631; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1801. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; vgl. BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 1 Rn. 19; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
1. Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags i.S.d. Legitimationstheorie streitet auch hier grundsätzlich für einen umfassenden Schutz des tarifautonomen Regelungsbereiches. Mit einem Verständnis von Tarifautonomie als staatlich delegierte Rechtsetzungsmacht wäre es leichter zu akzeptieren, dass der tarifautonome Regelungsbereich der Konkurrenz anderer (insbesondere staatlicher) Regelungen in dem Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausgesetzt ist. Mit dem Rechtsgedanken der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie und einer Legitimation des Tarifvertrags „von unten nach oben“ stellt der Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dagegen grundsätzlich ein staatsfernes Reservat dar.²⁸² Der Geltungsgrund des Tarifvertrags i.S.d. Legitimationstheorie und der Rechtsgedanke der kollektiv ausgeübten Privatautonomie harmonisieren insofern mit dem Schutz des tarifautonomen Regelungsbereiches als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“.
2. Verfassungsrechtliche Verankerung Für die verfassungsrechtliche Begründung des Faktors ist Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG maßgebend. Danach ist der Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen grundsätzlich den Tarifvertragsparteien zur tarifautonomen Normsetzung vorbehalten.²⁸³ Das Begriffspaar der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beschränkt sich dabei nicht nur auf Inhalt, Begründung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern ist umfassend zu verstehen. Der tarifautonome Regelungsbereich i.S.d. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG erfasst vielmehr die Gesamtheit der Rahmenbedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird.²⁸⁴ Zum Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs hat das BVerfG zudem festgestellt, dass – mit Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung²⁸⁵ – Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG die tariffähigen Koalitionen auch vor konkurrierenden (staatlichen) Regelungen schützt, die im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Geltung beanspruchen.²⁸⁶ Dieser verfassungsrechtliche Schutz des tarifautonomen Rege-
Siehe hierzu Lobinger, JZ 2014, S. 810, 821, der ausdrücklich davon spricht, dass die Befugnis der Koalitionen zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen „von unten“ legitimiert wird und dadurch zutreffend staatliche Konkurrenz in diesem Bereich negiert. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44 Rn. 71. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 116. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778; dabei wird jedoch gleichzeitig auch betont, dass dies (nur) „grundsätzlich“ gelte, den Tarifvertragsparteien aber gerade kein umfas-
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lungsbereichs betont zugleich auch seine Relevanz für eine funktionsfähige Tarifautonomie.
3. Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs nach § 77 Abs. 3 BetrVG Neben der verfassungsrechtlichen Verankerung weisen auch einfachgesetzliche Regelungen darauf hin, dass der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs für eine funktionsfähige Tarifautonomie erheblich ist: In einfachgesetzlicher Hinsicht bildet den Ausgangspunkt die Regelung in § 1 Abs. 1 TVG, worin der tarifautonome Regelungsbereich im Einzelnen beschrieben wird. Danach kann der Tarifvertrag Rechtsnormen über den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie in Bezug auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen enthalten. Der tarifautonome Regelungsbereich wird in einfachgesetzlicher Hinsicht darüber hinaus durch die Regelung in § 77 Abs. 3 BetrVG vor konkurrierenden Betriebsvereinbarungen geschützt. Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen können dann nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn sie bereits durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise tarifvertraglich geregelt werden. Der Begriff der „sonstigen Arbeitsbedingungen“ ist nach der Rechtsprechung des BAG besonders weit zu verstehen, sodass darunter nahezu alle Arbeitsbedingungen gefasst werden können.²⁸⁷ Der tarifautonome Regelungsbereich wird damit besonders umfassend gegenüber der Betriebsvereinbarung geschützt, indem den Tarifvertragsparteien mit § 77 Abs. 3 BetrVG grundsätzlich ein Vorrang zur Regelung der Arbeitsbedingungen eingeräumt wird. Gegenüber der Betriebsvereinbarung entfaltet § 77 Abs. 3 BetrVG insofern eine Sperrwirkung. Das Günstigkeitsprinzip i.S.d. § 4 Abs. 3 TVG findet in diesem Zusammenhang keine Anwendung.²⁸⁸ Inwieweit der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereiches für eine funktionsfähige Tarifautonomie erforderlich ist, belegt darüber hinaus eine Betrachtung der ratio legis des § 77 Abs. 3 BetrVG. Die Regelung des § 77 Abs. 3 BetrVG dient primär der „Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie“.²⁸⁹ Dadurch, dass der tarifautonome Regelungsbereich für konkurrierende Betriebsvereinbarungen gesperrt ist, können die Tarifvertragsparteien ungestört –
sendes Normsetzungsmonopol auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zustehe, S. 779. BAG, 09.04.1991 (1 AZR 406/90), NZA 1991, S. 734, 735. BeckOK ArbR/Giesen, BetrVG, § 77 Rn. 45; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 16 Rn. 364; ErfK/Kania, BetrVG, § 77 Rn. 43. BAG, 30.05. 2006 (1 AZR 111/05), NZA 2006, S. 1170, 1171; BAG, 09.04.1991 (1 AZR 406/90), NZA 1991, S. 734, 735.
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also ohne eine betriebsverfassungsrechtliche Konkurrenz fürchten zu müssen – ihre Tarifpolitik betreiben. Ihnen wird damit eine exklusive Stellung im System der Arbeitsrechtsordnung zuteil, wodurch auch die Verbandsmitgliedschaft potentiell an Attraktivität gewinnt. Die „Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie“ stärkt letztendlich auch die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Tarifvertragsparteien und am Ende auch die Tarifautonomie.²⁹⁰ Dass der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs für eine funktionsfähige Tarifautonomie unerlässlich ist, wird damit sowohl vom Gesetzgeber als auch von der Rechtsprechung aus den genannten Gründen (zutreffend) anerkannt.²⁹¹
V. Faktor 5: Vorrang der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormgeltung Fünftens ist eine funktionsfähige Tarifautonomie von der Absicherung des Vorrangs der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormgeltung nach Maßgabe der §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG abhängig. Die nicht-mitgliedschaftlich legitimierte Geltung von Tarifverträgen darf im Verhältnis zur mitgliedschaftlich legitimierten Geltung von Tarifverträgen nicht wesentlich überwiegen. Sie muss die Ausnahme bleiben.²⁹² Dieser Faktor knüpft unmittelbar an die Bedeutung der Verbandsmitgliedschaft für eine funktionsfähige Tarifautonomie an. So behält die Verbandsmitgliedschaft ihre Attraktivität für den Arbeitnehmer nur dann, wenn den Gewerkschaften ihre ureigene Aufgabe nicht streitig gemacht wird: der Abschluss von Tarifverträgen für diejenigen Arbeitnehmer, die auch Verbandsmitglieder sind.²⁹³ Wirkungsweisen, die dieses gewerkschaftliche Charakteristikum konterkarieren, schwächen damit schon aus diesem Grund die Tarifautonomie.²⁹⁴ Darüber hinaus erfolgt die Durchbrechung der exklusiv mitgliedschaftlichen Normgeltung des Tarifvertrags – also die Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter – immer auch auf Kosten der Repräsentativität eines Tarifvertrags.²⁹⁵
BAG, 30.05. 2006 (1 AZR 111/05), NZA 2006, S. 1170, 1171. Siehe zur ratio des § 77 Abs. 3 BetrVG auch Richardi BetrVG/Richardi, BetrVG, § 77 Rn. 244 ff. So bereits auch Zachert, NZA 2003, S. 132, 139, der die Einhaltung einer „Grenzlinie zwischen tarifautonomem und staatlichem Recht“ betont. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812; vgl. Waltermann, RdA 2018, S. 137, 138; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10; vgl. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 98; vgl. Junker, ZfA 2016, S. 81, 90; vgl. Giesen, FS Kempen, S. 216, 218. So ausdrücklich auch Junker, ZfA 2016, S. 81, 87. Vgl. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 75.
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Denn gerade die Mitgliedschaft in einer (im Idealfall den eigenen Interessen entsprechenden) Arbeitnehmerkoalitionen, sichert die Repräsentativität tarifvertraglicher Regelungen ab. Demnach gilt: Je häufiger die tarifliche Normgeltung auf die Tarifbindung kraft Mitgliedschaft zurückgeführt werden kann, desto besser ist der Zustand der Tarifautonomie. Mitgliedschaft und Tarifgeltung gehören nach dem gegenwärtigen Tarifsystem also zusammen.²⁹⁶ Hierfür streiten schon die bereits aufgezeigten Verschränkungen der Verbandsmitgliedschaft mit dem gegenwärtigen Tarifsystem.²⁹⁷ Zwar sieht das Tarifsystem auch eine Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter vor. Zu nennen ist hier etwa die umfassende Geltung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Normen gem. § 3 Abs. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG, die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gem. § 5 TVG oder aber die Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter gem. §§ 3 ff. AEntG. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die exklusiv mitgliedschaftliche Normgeltung des Tarifvertrags die Regel und die Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter die Ausnahme sein soll.²⁹⁸
1. Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ergibt sich zunächst aus der grundsätzlichen Rückführung der normativen Wirkung des Tarifvertrags auf die privatautonommitgliedschaftliche Legitimation der Tarifvertragsparteien.²⁹⁹ Der Vorrang der privatautonom-mitgliedschaftlichen Legitimation des Tarifvertrags gegenüber der – fremdbestimmten – staatlich-demokratischen Erklärung ergibt sich aus der durch Mitgliedschaft vermittelten Tarifgeltung. Das folgt bereits aus der freiheitlich demokratischen Konzeption des GG. Danach haben die Tarifvertragsparteien keine Kompetenz zur Regelung von Außenseiter-Arbeitsverhältnissen.³⁰⁰ Die Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter ist demnach (unter legitimationsrechtlichen Gesichtspunkten) nur ausnahmsweise mithilfe eines staatlichen
So ausdrücklich Richardi, NZA 2013, S. 408 ff.; vgl. auch Hanau, NZA 2012, S. 825 ff., der jedoch ausführt, dass die Verknüpfung von Tarifgeltung und Verbandsmitgliedschaft „zwar theoretisch begründet, aber selten praktikabel“ sei. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 8.I. So im Ergebnis auch Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67 ff., 84 ff.; vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 111. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.VI.3.
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Geltungsbefehls möglich.³⁰¹ Eine solche Fremdherrschaft ist daher zusätzlich (verfassungsrechtlich) rechtfertigungsbedürftig.³⁰² Aus dieser vorrangig privatautonomen Erklärung der Geltung des Tarifvertrags ergibt sich ein eindeutiges Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der exklusiv mitgliedschaftlichen Normgeltung des Tarifvertrags.³⁰³ Eine übermäßige Tariferstreckung auf Außenseiter wird der privatautonomen Bodenhaftung der Tarifautonomie und dem Rechtsgedanken der kollektiv ausgeübten Privatautonomie nicht gerecht. Schließlich speist sich die Tarifmacht der Tarifvertragsparteien aus der privatautonomen Legitimation ihrer Verbandsmitglieder. Der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags weist daher darauf hin, dass für eine funktionsfähige Tarifautonomie dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht übermäßig verkehrt werden darf.³⁰⁴
2. Außenseiterwirkung von Tarifnormen und gegenläufige Verfassungsprinzipien Der Ausnahmecharakter der Erstreckungstatbestände ergibt sich ferner aus den mit der Außenseiterwirkung von Tarifnormen potentiell verbundenen gegenläufigen Wertungen der Verfassung. Sie bestehen bei einer privatautonom-mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormsetzung grundsätzlich nicht.
a) Demokratieprinzip Zunächst werden der staatlich veranlassten Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter in verfassungsrechtlicher Hinsicht formale Schranken gesetzt. Nach dem in Art. 20 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Demokratieprinzip muss jedwede Ausübung von hoheitlicher Rechtsetzungsmacht durch den Staat vom Normunterworfenen bzw. -adressaten hinreichend legitimiert sein.³⁰⁵ Die Geltung tariflicher Normen kann und muss damit grundsätzlich entweder auf einer privatautonom-mitgliedschaftlichen Legitimation oder aber auf einer staatlich-demokratischen Legitimation beruhen.³⁰⁶ Sobald tarifliche Normen auf
Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 34; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1 ff., 3. Siehe insbes. mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit und die Vertragsfreiheit der Außenseiter Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 34. Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, S. 158, der ausdrücklich vom „Vorrang der ausschließlich privaten Rechtsetzungsmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien“ gegenüber staatlich angeordneter Erstreckung spricht. So bereits auch Zachert, NZA 2003, S. 132, 139. BeckOK GG/Huster/Rux, GG, Art. 20 Rn. 62 f. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5.
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Außenseiter erstreckt werden, wird das Fundament der privatautonom-mitgliedschaftlichen Legitimation allerdings verlassen.³⁰⁷ Der Staat ist dann in der Pflicht, gegenüber den Außenseitern die Verantwortung für die Geltung der tarifvertraglichen Normen zu übernehmen. Erforderlich ist in diesem Zusammenhang damit stets eine hinreichende staatlich-demokratische Legitimation, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 2 GG genügt.³⁰⁸ Insofern sind der staatlichen Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter jedenfalls in formaler Hinsicht verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.³⁰⁹
b) Arbeitsvertragsfreiheit Neben dem Demokratieprinzip als formale Grenze ist in materieller Hinsicht die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter aus Art. 12 Abs. 1 GG³¹⁰ ins Feld zu führen. Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet zunächst für alle Deutschen das Recht, einen Beruf frei zu wählen und diesen dann auch frei ausüben zu können. Zur Berufsausübungsfreiheit gehört ferner auch das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Arbeitsbedingungen durch den Abschluss eines Arbeitsvertrags selbstbestimmt zu regeln (Arbeitsvertragsfreiheit).³¹¹ Beansprucht ein Tarifvertrag (etwa im Wege seiner Allgemeinverbindlicherklärung) Geltung auf ein Außenseiter-Arbeitsverhältnis, entsteht ein Konflikt mit der Arbeitsvertragsfreiheit. Der Inhalt des Arbeitsverhältnisses wird durch den Tarifvertrag fremdbestimmt. Freie Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ist nur noch eingeschränkt möglich. Die Arbeitsvertragsfreiheit bietet damit einen potentiellen Schutz vor Tarifnormerstreckung.³¹² Die staatlich veranlasste Erstreckung von Tarifnormen kann einen
Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 130. In Bezug auf § 5 TVG a.F. hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit gerade mit Blick auf das Demokratieprinzip jedoch ausdrücklich bejaht, siehe grundlegend BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/ 74), NJW 1977, S. 2255, 2257 ff. Siehe hierzu im Einzelnen m.w.N. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 81 ff. Die Verortung der Arbeitsvertragsfreiheit ist im Einzelnen umstritten; siehe hierzu im Einzelnen m.w.N. Deinert, RdA 2014, S. 129, 132 ff. und Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 74 ff. Das BVerfG sieht die Arbeitsvertragsfreiheit wohl mittlerweile nicht (mehr) in Art. 2 Abs. 1 GG, sondern in Art. 12 Abs. 1 GG verortet: BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 46 Rn. 100. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44 Rn. 71; vgl. BAG, 16.03.1994 (5 AZR 339/ 92), NZA 1994, S. 937, 939; vgl. Dieterich, RdA 1995, S. 129, 134; Schubert, RdA 2001, S. 199, 206. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 73; vgl. auch Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 16; Schubert, RdA 2001, S. 199, 206 f.
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verfassungsrechtlichen Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit begründen, der dann zusätzlich rechtfertigungsbedürftig ist.³¹³
c) Koalitionsfreiheit und negative Tarifvertragsfreiheit Als gegenläufige verfassungsrechtliche Wertung kommen potentiell auch die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG und ihre verschiedenen Ausprägungen in Betracht. Zunächst werden durch staatlich veranlasste Tarifnormerstreckung Anreize vermindert, einer bereits bestehenden Koalition beizutreten oder eine neue Koalition zu gründen. Insoweit ist die positive Koalitionsfreiheit tangiert. Als weitere gegenläufige Wertung der Verfassung muss die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG³¹⁴ angeführt werden. Unstreitig gewährleistet Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG mit der negativen Koalitionsfreiheit das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, einer Koalition fernzubleiben oder aus einer Koalition wieder auszutreten.³¹⁵ Soweit mit der Erstreckung tarifvertraglicher Rechtsnormen ein unzumutbarer Beitrittsdruck bzw. -zwang auf Außenseiter ausgeübt wird, stellt die negative Koalitionsfreiheit in ihrer Ausprägung als Fernbleiberecht zumindest „mittelbar“ eine gegenläufige Wertung der Verfassung dar.³¹⁶ Das gilt insbesondere im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung. Wenn ein Außenseiter-Arbeitgeber danach ohnehin an einen Tarifvertrag gebunden ist, steht der Begründung einer Verbandsmitgliedschaft nichts mehr im Wege, bedenkt man, dass er sich dann jedenfalls eine Einflussnahme auf die Modalitäten der gemeinsamen Einrichtung sichern kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG auch „unmittelbar“ ein Abwehrrecht gegenüber der Er-
So im Ergebnis auch Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 16 und Schubert, RdA 2001, S. 199, 207; siehe im Einzelnen zur Frage der Rechtfertigung Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 77 f. Die Verortung der negativen Koalitionsfreiheit ist im Einzelnen umstritten. Insbesondere die Rechtsprechung sieht sie als von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG erfasst: BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42 ff.; BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 213; a.A.: siehe nur Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, 1997, S. 382, der die negative Koalitionsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG verortet sieht; siehe eine Darstellung dieser Problematik m.w.N. bei Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 51 ff. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), BVerfGE 31, S. 297, 302; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 68. Vgl. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44; BVerfG, 03.07. 2000 (1 BvR 945/00), NZA 2000, S. 947, 948. In diesen Entscheidungen wurde die negative Koalitionsfreiheit zumindest als gegenläufige Wertung der Verfassung diskutiert.
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streckung von tarifvertraglichen Normen (sogenannte „negative Tarifvertragsfreiheit“³¹⁷) gewährleistet. In diesem Zusammenhang wird jedoch häufig die Sichtweise vertreten, dass die negative Koalitionsfreiheit sich allein auf die Gewährleistung eines Fernbleiberechts beschränkt.³¹⁸ Hauptsächlich wird diese Rechtsauffassung auf das sogenannte Spiegelbildlichkeitsargument gestützt: Danach könne die negative Koalitionsfreiheit qualitativ keinen anderen Schutz garantieren als die positive (individuelle) Koalitionsfreiheit. Da die positive Koalitionsfreiheit lediglich die Gründung und den Beitritt gewährleiste, könne die negative Koalitionsfreiheit – also „spiegelbildlich“ – nur ein Fernbleibe- bzw. ein Austrittsrecht garantieren.³¹⁹ Diese Sichtweise ist jedoch nur schlüssig, wenn es wirklich als gesichert angesehen werden kann, dass die positive (individuelle) Koalitionsfreiheit nicht etwa auch ein Recht umfasst, sich der Geltung eines Tarifvertrags zu unterwerfen.³²⁰ Denn dann würde das Spiegelbildlichkeitsargument gerade umgekehrt dazu führen, dass die negative Koalitionsfreiheit auch ein Abwehrrecht gegenüber der Erstreckung tariflicher Normen gewährleistet. Mit Blick auf den Umfang der positiven (individuellen) Koalitionsfreiheit muss konstatiert werden, dass der einzelne Arbeitnehmer mit dem Verbandseintritt auch sein Einverständnis erteilt hat, sich der Normgeltung des Tarifvertrags zu unterwerfen.³²¹ Wenn der Arbeitnehmer also schon – in Ausübung seiner positiven (individuellen) Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG – der Koalition durch den Verbandseintritt das Einverständnis bzw. die Legitimation zur Tarifnormsetzung erteilt und sich also freiwillig der Geltung eines Tarifvertrags unterwirft, weshalb soll dann nicht konsequenterweise auch die Tarifnormunterwerfung von der positiven (individuellen) Koalitionsfreiheit gedeckt sein? Hierfür spricht jedenfalls der privatautonome Geltungsgrund des Tarifvertrags i.S.d. Legitimationstheorie und das Verständnis von Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie.³²² Dadurch, dass der von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte
Der Begriff der negativen Tarifvertragsfreiheit wurde wohl erstmalig von Hanau/Adomeit, ArbR, Rn. 194 verwendet. Grundlegend behandelt von Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, passim. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 376; Heuschmid, KJ 2014, S. 384 ff.; Schubert, RdA 2001, S. 199 ff., 207; so häufig auch die Rechtsprechung: siehe nur BVerfG, 29.12. 2004 (1 BvR 2582/ 03 u. a.), NZA 2005, S. 153, 155. Besonders ausführlich in diese Richtung argumentierend Schubert, RdA 2001, S. 199, 201 ff. Ebenso folgert auch Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 63. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 65. So ausdrücklich auch Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 388; siehe im Einzelnen zur Synthese von privatautonomen Geltungsgrund des Tarifvertrags und der Frage eines Tarifabwehrrechts („negative Tarifvertragsfreiheit“) des Außenseiters Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 169 ff.; im Ergebnis begründet Hartmann die Existenz der negativen Tarifver-
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Verbandseintritt – nach dem Verständnis der Legitimationstheorie – im Wesentlichen darauf abzielt, eine Ermächtigung bzw. Legitimation zur Tarifnormsetzung zu erteilen, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die negative Koalitionsfreiheit – also „spiegelbildlich“ – auf die Abwehr tariflicher Normen gerichtet sein muss.³²³ Mit diesem Verständnis kompatibel ist darüber hinaus die Entscheidung des BAG vom 4. Juli 2008 zur Zulässigkeit einer OT-Mitgliedschaft im Zusammenhang mit einem sogenannten „Blitzwechsel“. Hierbei hat das BAG sogar unmittelbar an die Bestimmung des Schutzbereichs der negativen Koalitionsfreiheit angeknüpft.³²⁴ Es hat ausdrücklich klargestellt, dass der Wechsel des Arbeitgebers von der Vollmitgliedschaft zu einer OT-Mitgliedschaft vom Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt ist.³²⁵ Konsequenterweise folgt daraus, dass die negative Koalitionsfreiheit ebenso die Lossagung von der Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1 TVG und damit auch ein Recht beinhaltet, einem Tarifvertrag nicht unterworfen zu werden.³²⁶ Letztlich führt die Beschränkung der negativen Koalitionsfreiheit auf ein bloßes Fernbleiberecht zu einem widersprüchlichen Ergebnis: So würde die negative Koalitionsfreiheit nach diesem Verständnis zwar vor einem Beitrittsdruck bzw. -zwang schützen. Jedoch wird verkannt, dass das Belastende eines solchen Beitrittsdrucks nicht die bloße Verbandsmitgliedschaft als solche, sondern gerade die Unterwerfung unter den geltenden Tarifvertrag ist.³²⁷ Die negative Koalitionsfreiheit würde so zur Fassade verkommen und sich in einem bloßem „nudum ius“ erschöpfen.³²⁸ Ein derart restriktives Verständnis von der negativen Koalitionsfreiheit (als bloßes Fernbleiberecht) lässt sich damit rechtsdogmatisch nicht konsistent belegen. Es spricht daher vieles dafür, den Gewährleistungsgehalt der negativen Koalitionsfreiheit zu erweitern und eine negative Tarifvertragsfreiheit anzuerkennen. Das bekräftigt das Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifnormsetzung zusätzlich. Aufgrund des freiwilligen Beitrittsakts gehen mit der ausschließlich mitgliedschaftlichen Tarifnormwirkung nach Maßgabe der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG keine gegenläufigen verfassungsrechtlichen Wertungen einher.
tragsfreiheit jedoch aus einem Konglomerat aus Demokratieprinzip, Arbeitsvertragsfreiheit und negativer Koalitionsfreiheit; kritisch hierzu Heuschmid, Kritische Justiz 2014, S. 384, 385 f. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 18; Rieble, EuZA 2017, S. 228, 231. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366 ff. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1371 Rn. 59. Höpfner, ZfA 2009, S. 541, 571. Hanau, FS Scholz, S. 1035, 1045; diese Argumentationsweise geht soweit ersichtlich auf Zöllner, RdA 1962, S. 453, 458 zurück. Hanau, FS Scholz, S. 1035, 1045.
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3. Einfachgesetzliche Verankerung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses Die tarifrechtliche „Zweiteilung der Belegschaft“ und damit die Sicherung der vorrangig mitgliedschaftlichen Normgeltung des Tarifvertrags ist darüber hinaus einfachgesetzlich verwurzelt.³²⁹
a) Regelfall: Tarifnormgeltung gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG So bildet die an die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers anknüpfende Geltungsbedingung des Tarifvertrags gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG den Regelfall. Danach erstreckt sich die normative Wirkung des Tarifvertrags auf die Arbeitsverhältnisse der beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Die Tarifgebundenheit wird auf Arbeitnehmerseite grundsätzlich durch die Verbandsmitgliedschaft vermittelt. Demnach gehören die Geltung des Tarifvertrags und die durch Verbandsmitgliedschaft vermittelte Legitimationsgrundlage nach dem Vorbild des durch das TVG verkörperten Tarifsystems eng zusammen.³³⁰ Berücksichtigt man zudem die mit der Außenseitererstreckung verbundenen gegenläufigen Wertungen des GG, ist eine an Mitgliedschaft geknüpfte Tarifnormgeltung in verfassungsrechtlicher Hinsicht stets schonender.
b) Ausnahmetatbestände Vom Grundsatz der mitgliedschaftlichen Normgeltung des Tarifvertrags weicht das Tarifsystem teilweise auch ab und erstreckt die tarifliche Normwirkung – jenseits einer durch Verbandsmitgliedschaft vermittelten Legitimation – auch auf Außenseiter. Eine genauere Betrachtung dieser Erstreckungsregelungen zeigt jedoch, dass es sich bei ihnen um eng begrenzte Ausnahmetatbestände handelt:
aa) Erstreckung betrieblicher Normen gem. § 3 Abs. 2 TVG Abweichend vom Regelfall der mitgliedschaftlich legitimierten Normwirkung gem. §§ 4 Abs.1, 3 Abs. 1 TVG, sieht § 3 Abs. 2 TVG (i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG) die Erstreckung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Normen eines Tarifvertrags auch auf Außenseiter-Arbeitsverhältnisse vor. Die in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG programmierte Zweiteilung der Belegschaft findet ihre Grenzen dort,
Siehe zum Ganzen Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 24 ff. Gerade diese Verknüpfung prägt das deutsche Tarifsystem (siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.VI.1.); zur Betrachtung dieses Grundprinzips aus rechtsvergleichender Perspektive siehe Rebhahn, EuZA 2010, S. 62 ff.
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wo betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragestellungen tangiert sind. Nach § 3 Abs. 2 TVG genügt es für die Tarifgeltung bereits, wenn nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Auf die Tarifbindung des Arbeitnehmers – und eine entsprechende Verbandsmitgliedschaft – kommt es also nicht an. Das Begriffspaar der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen wird gemeinhin unter dem Oberbegriff der „Betriebsnormen“ zusammengefasst.³³¹ Darunter sind jene tariflichen Regelungen zu verstehen, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich für alle Arbeitnehmer in einem Betrieb gelten können.³³² Dabei ist nach der Rechtsprechung des BAG für das Vorliegen einer Betriebsnorm maßgebend, dass „eine individualvertragliche Regelung wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet.³³³ Diese Anforderungen hat das BAG weiter präzisiert und verlangt für das Vorliegen einer Betriebsnorm zusätzlich, dass die in Rede stehende Regelung „unmittelbar die Organisation und die Gestaltung des Betriebs“ betrifft.³³⁴ So wirkt das BAG der Beliebigkeit des Betriebsnormenbegriffs richtigerweise entgegen und verhindert eine uferlose Durchbrechung der mitgliedschaftlich legitimierten Normwirkung des Tarifvertrags.³³⁵ Schließlich muss sich die von § 3 Abs. 2 TVG angeordnete Erstreckung tariflicher Regelungen am Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG sowie an den Freiheitsrechten von Außenseitern messen lassen.³³⁶ Der Ausnahmecharakter des Erstreckungstatbestands aus § 3 Abs. 2 TVG ergibt sich damit sowohl aus dem vom Gesetzgeber begrenzten Normgegenstand („betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen“) als auch aus den Konkretisierungen durch das BAG, mit der Folge erhöhter Anforderungen an das Vorliegen einer Betriebsnorm.³³⁷
bb) Erstreckung qua Allgemeinverbindlicherklärung und nach §§ 3 ff. AEntG Als weiterer Erstreckungstatbestand sieht das Tarifsystem die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gem. § 5 TVG vor. Mit diesem Instrument kann der Staat den Geltungsbereich eines Tarifvertrags auch auf Außenseiter er-
BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 14; Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 23. Grundlegend BAG, 26.04.1990 (1 ABR 84/87), NZA 1990, S. 850 ff. BAG, 17.06.1997 (1 ABR 3/97), NZA 1998, S. 213, 214. BAG, 08.12. 2010 (7 ABR 98/09), NZA 2011, S. 751, 755. So vor allem auch Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 26 f.; vgl. auch BeckOK ArbR/ Giesen, TVG, § 3 Rn. 14 f. und ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 45 ff. Vgl. Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 26a. Im Ergebnis auch Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 430, der der Rechtsprechung zum Betriebsnormenbegriff aus Legitimationsgesichtspunkten gleichwohl kritisch gegenübersteht und die konkretisierten Anforderungen des BAG für nicht ausreichend erachtet.
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strecken (vgl. § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG). Eine fehlende Verbandsmitgliedschaft wird auf diese Weise überwunden. Das ändert jedoch nichts an der klassischen Rollenverteilung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Es ist grundsätzlich Aufgabe der Tarifvertragsparteien, mit privatautonomer Bodenhaftung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen regulierend tätig zu werden. Dem Staat kommt insofern nur subsidiär und unter hohen Voraussetzungen die Regelungskompetenz auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu.³³⁸ Dem trug insbesondere § 5 Abs. 1 (Nr. 1 und 2) TVG a.F.³³⁹ Rechnung, wonach für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags notwendig war, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigten und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erschien. Damit war die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags an hohe Voraussetzungen geknüpft. Gerade das 50-Prozent-Quorum stellte die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags vor vergleichsweise hohe Hürden. Diese im Grundsatz hohen Anforderungen belegen ebenfalls den Ausnahmecharakter der Allgemeinverbindlicherklärung. Sie dienen der Wahrung des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 2 GG und dem Schutz der verfassungsrechtlichen Freiheiten der Außenseiter.³⁴⁰ Ebenso hält das AEntG verschiedene Instrumente der Tarifnormerstreckung bereit. Auch hierbei handelt es sich jedoch um eng begrenzte Ausnahmen von der grundsätzlich exklusiv mitgliedschaftlichen Normwirkung des Tarifvertrags, die von einem zusätzlichen – und subsidiären – staatlichen Geltungsbefehl (in Form eines Rechtsverordnungserlasses nach §§ 7, 7a AEntG) abhängig sind.³⁴¹ Neben der Notwendigkeit eines zusätzlichen staatlichen Geltungsbefehls wird der Ausnahmecharakter dieser Erstreckungsmöglichkeiten auch dadurch hervorgehoben, dass die Erstreckung tariflicher Normen nur für ganz bestimmte Branchen in § 4
Siehe nur Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 35. Die Voraussetzung des 50-Prozent-Quorums wurde im Wege des Tarifautonomiestärkungsgesetzes mittlerweile gestrichen. Bei der Betrachtung der Grundstrukturen des TVG bleiben die vorgenommenen Änderungen des Bundesgesetzgebers zunächst jedoch außen vor. Gerade die mit der Änderung des § 5 TVG bezweckte erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags soll in Kapitel 4 schließlich eingehend bewertet werden. Siehe zur Änderung des § 5 TVG bereits Kapitel 2, § 5.VII.1.a). Die Verfassungsmäßigkeit des § 5 TVG a.F. wurde jedoch vom BVerfG mehrfach bestätigt: BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), BVerfGE 55, S. 7, 18 f.; BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), BVerfGE 44, S. 322, 334. Vgl. JKOS/Oetker, § 6 Rn. 135.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
AEntG a.F. vorgesehen war³⁴² und der notwendige Rechtsverordnungserlass (vgl. § 7 AEntG) darüber hinaus von der Gebotenheit im öffentlichen Interessen abhing.
c) Systematische Erwägungen Letztlich ergibt sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der mitgliedschaftlich legitimierten Normwirkung des Tarifvertrags auch aus systematischen Erwägungen zur Stellung der verschiedenen Vorschriften innerhalb bzw. außerhalb des TVG. So ist die Verknüpfung der Tarifbindung mit der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers in § 3 Abs. 1 TVG geregelt und damit den (besonderen) Erstreckungstatbeständen des TVG (§§ 3 Abs. 2, 5 TVG) vorangestellt. Ebenso sind die Erstreckungstatbestände nach den §§ 3 ff. AEntG als Abweichung vom Grundprinzip des § 3 Abs. 1 TVG sogar außerhalb des TVG geregelt. Diese systematischen Erwägungen belegen die gesetzliche Privilegierung der mitgliedschaftlich legitimierten Normwirkung des Tarifvertrags und betonen zugleich den Ausnahmecharakter der Erstreckungstatbestände.
VI. Das Verhältnis der Faktoren zueinander Die entwickelten Faktoren können ferner auch im Verhältnis zueinander betrachtet werden. Sie wirken nicht nur isoliert auf den Zustand der Tarifautonomie ein, sondern sind vielmehr unter verschiedenen Gesichtspunkten systematisch miteinander verknüpft:
1. Zusammenhänge Wie bereits vereinzelt angedeutet, ergibt eine genauere Betrachtung der entwickelten Faktoren, dass diese miteinander zusammenhängen: So dürfte die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers auch einen Einfluss auf den Organisationsgrad der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden haben. Denn durch mitgliedschaftsstarke Gewerkschaften werden sich Arbeitgeber zunehmend veranlasst sehen, sich ebenfalls in Verbänden zu organisieren.³⁴³ Umgekehrt be-
Auch hier wird sich zur Begründung des Ausnahmecharakters der Erstreckungsmöglichkeiten nach dem AEntG nur auf die alte Rechtslage bezogen. Die Änderungen sollen schließlich in Kapitel 4 erst vor diesem Hintergrund evaluiert werden. Siehe zur Änderung des AEntG bereits Kapitel 2, § 5.VII.1.b). So auch Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, die ausdrücklich eine „starke Gewerkschaftsbewegung“ als einen wesentlichen Faktor für eine „Stärkung der Arbeitgeberverbände“ ausmachen.
§ 8 Ableitung der Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
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günstigt die Abbildung von Interessenpluralität durch repräsentative Tarifverträge die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers und damit den gewerkschaftlichen Organisationsgrad.³⁴⁴ Warum sollte ein Arbeitnehmer sich tarifpolitisch organisieren, wenn er seine Interessen von keiner der existierenden Gewerkschaften repräsentiert sieht? Ebenfalls mit der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers (bzw. mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad) korreliert der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs. Wird der tarifautonome Regelungsbereich dem Staat oder den Betriebsparteien zugänglich gemacht, so verlieren die Tarifvertragsparteien ihr ureigenes Alleinstellungsmerkmal: die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Wird ihnen dieses streitig gemacht, verliert die Verbandsmitgliedschaft zunehmend an Attraktivität.³⁴⁵ Denn warum sollte sich ein Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisieren, wenn auch der Staat oder die Betriebsparteien die Arbeitsbedingungen regeln? Darüber hinaus wird die Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades auch davon abhängen, ob es gelingt, die exklusiv mitgliedschaftliche Normwirkung des Tarifvertrags gem. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG abzusichern. Maßnahmen, die diese Regelwirkung des Tarifvertrags konterkarieren, machen ebenfalls die Verbandsmitgliedschaft für den Arbeitnehmer unattraktiver.³⁴⁶ Warum sollte sich ein Arbeitnehmer noch gewerkschaftlich organisieren, wenn er ohnehin, sei es über eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel oder eine staatlich veranlasste Erstreckung von Tarifnormen, in den Genuss tarifvertraglicher Regelungen kommt?
Franzen, Betriebsweite Verbindlichkeit von Tarifverträgen als Lösung der Tarifeinheit?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 31, 42; vgl. Lobinger, JZ 2014, S. 810, 818. Vgl. in Bezug auf das MiLoG als Beispiel staatlicher Arbeitsmarktpolitik Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812; siehe auch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10 und Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 75. Siehe insbesondere Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; Giesen, FS Kempen, S. 216, 218; Junker, ZfA 2016, S. 81, 90; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812, 817 in Bezug auf die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen; vgl. auch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10, die allgemein festhalten, dass staatlicher Tarifersatz die Attraktivität einer Verbandsmitgliedschaft schmälert; ähnlich wieder Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 98, wobei er hier zusätzlich auch Auswirkungen der Tarifnormerstreckung in Bezug auf den Organisationsgrad der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden erörtert; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 138; a.A.: Preis/ Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 17, 19; Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7 f.
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Kapitel 3: Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie
2. Hierarchisierung Die entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie lassen sich darüber hinaus auch hierarchisieren. So kann festgestellt werden, dass die Verbandsmitgliedschaft der Arbeitnehmer (Faktor 1) und Arbeitgeber (Faktor 2) als „Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ die häufigsten und innigsten rechtsdogmatischen Verwurzelungen aufweisen. Ohne eine hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage fällt das Tarifsystem in sich zusammen. Das zeigt insbesondere die gesetzliche Verknüpfung der Tarifbindung mit der Verbandsmitgliedschaft nach § 3 Abs. 1 TVG. Aber auch die Tariffähigkeitsvoraussetzung der sozialen Mächtigkeit einer Gewerkschaft sowie das Postulat von der Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags knüpfen unmittelbar an die Verbandsmitgliedschaft an und unterstreichen damit ihre herausragende Bedeutung für eine funktionsfähige Tarifautonomie. Die Verbandsmitgliedschaft der Arbeitnehmer bildet ferner geradezu die legitimationstheoretische Grundlage des Tarifsystems. Mit der Legitimationstheorie ist die Geltung des Tarifvertrags schließlich vorrangig auf die privatautonom-mitgliedschaftliche Legitimation zurückzuführen. Die anderen Faktoren verlieren zudem ohne eine hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage ihre eigenständige Bedeutung. Sie beeinflussen vielmehr ihrerseits den gewerkschaftlichen Organisationsgrad positiv, indem sie die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft für den Arbeitnehmer absichern. Danach ist die Verbandsmitgliedschaft die unentbehrliche Grundlage für eine funktionsfähige Tarifautonomie und entsprechend den anderen entwickelten Faktoren übergeordnet. Ein Tarifsystem ohne hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage gleicht damit, wie Richardi richtig erkannt hat, einem „Baum ohne Wurzeln“.³⁴⁷
§ 9 Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 3 Damit steht fest, was die Tarifautonomie „im Innersten zusammenhält“³⁴⁸. Eine funktionsfähige Tarifautonomie hängt im Wesentlichen von den entwickelten Faktoren ab: die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften (Faktor 1), die Mitgliedschaft der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden (Faktor 2), die Abbildung von Interessenpluralität durch repräsentative Tarifverträge (Faktor 3), der Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs (Faktor 4) und die Sicherung der
Richardi, NZA 2013, S. 408. Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil in: Schöne, Albrecht (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe, Texte; Frankfurt am Main 1999, S. 34.
§ 9 Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 3
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exklusiv mitgliedschaftlichen Wirkung des Tarifvertrags (Faktor 5). Sie sind die tragenden Säulen des gegenwärtigen Tarifvertragssystems und Garanten für eine funktionsfähige Tarifautonomie.Von ihnen hängt der Zustand der Tarifautonomie im Einzelnen ab. „Stärkung“ bedeutet in diesem Zusammenhang mehr Privatautonomie und weniger Verstaatlichung der Tarifautonomie sowie mitgliedschaftsstarke Verbände anstelle „starker Tarifverträge“ (im Sinne eines möglichst hohen Verbreitungsgrades durch Außenseitererstreckung).³⁴⁹ Gemeinsam sind die entwickelten Faktoren an den vorrangig privatautonomen Ursprung der Tarifautonomie rückgekoppelt. Insofern sind sie mit dem Rechtsgedanken der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie kompatibel. Darüber hinaus sind sie allesamt verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich verwurzelt und von der Rechtsprechung als solche – jedenfalls implizit – anerkannt. Neben der rechtsdogmatischen Verankerung sind die entwickelten Faktoren auch empirisch rückgekoppelt und überprüfbar. Sie fungieren damit als Bindeglied zwischen Rechtsdogmatik, Rechtstatsächlichkeit und Rechtspolitik. Weitestgehend decken sie sich auch mit den Überlegungen von Bepler im Rahmen seines Gutachtens für den 70. Deutschen Juristentag. Seine Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie adressieren weitestgehend die entwickelten Faktoren, indem sie jedenfalls implizit zugrunde gelegt werden.³⁵⁰ Die entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie können zum einen herangezogen werden, um den Zustand der Tarifautonomie zu beurteilen. Zum anderen dienen sie der nachfolgenden Untersuchung als Orientierung für rechtspolitische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie. Bei alledem ist die Verbandsmitgliedschaft der Arbeitnehmer und Arbeitgeber als „Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie“ besonders hervorzuheben. Eine hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage ist für eine funktionsfähige Tarifautonomie unentbehrlich. Ohne sie wird das Tarifsystem wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Die verbandsmitgliedschaftliche Organisation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern rückt daher besonders in den Fokus der nachfolgenden Untersuchung.
Vgl. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 13 f.; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 811, 821; siehe auch Waltermann, RdA 2018, S. 137 f. So schlägt Bepler bspw. Maßnahmen vor, die die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft für den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber erhöhen sollen, Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 50 ff. Aber auch die Abbildung von Interessenpluralität erkennt er – jedenfalls implizit – als Grundlage einer funktionsfähigen Tarifautonomie an, B 82 ff. Darüber hinaus wird auch die zunehmende Vernachlässigung der mitgliedschaftlich legitimierten Wirkung des Tarifvertrags im Kontext von staatlichen Maßnahmen des Tarifersatzes erörtert, siehe hierzu insbesondere B 104 ff.
Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz Mithilfe der entwickelten Faktoren ist nun die Richtung vorgegeben. Sie stiften die notwendige Orientierung für die Beantwortung der Frage, wovon der Zustand der Tarifautonomie im Einzelnen abhängt. Insbesondere können die in Kapitel 2 aufgeführten „veränderten Rahmenbedingungen“¹ einer umfassenden Bewertung unterzogen werden. Auf Grundlage der entwickelten Faktoren sind sie damit entweder als tarifautonomiestärkend oder aber als tarifautonomieschwächend einzuordnen. Die Hierarchisierung der verschiedenen Faktoren hat ergeben, dass insbesondere eine hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage der Gewerkschaften (Faktor 1) für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie von herausragender Bedeutung ist. Flankierend setzt eine funktionsfähige Tarifautonomie aber auch eine hinreichende verbandsmitgliedschaftliche Grundlage auf Arbeitgeberseite (Faktor 2) voraus. Die nachfolgenden Untersuchungen beziehen sich insoweit schwerpunktmäßig auf diese beiden Faktoren. Daher liegt ein besonderes Augenmerk auf der Bewertung verbandspolitischer Maßnahmen wie Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen und OT-Mitgliedschaften, die nämlich genau auf den Aspekt der Verbandsmitgliedschaft rekurrieren. Sie können gewissermaßen als verbandspolitische Reaktion auf sinkende Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verstanden werden.² Ebenso ist das Tarifautonomiestärkungsgesetz in den Blick zu nehmen, das sensible Verschiebungen im Verhältnis von mitgliedschaftlich legitimierter Tarifbindung zu staatlich verordnetem Tarifersatz mit sich bringt (vgl. Faktor 5). Es muss vor diesem Hintergrund einer umfassenden rechtspolitischen und verfassungsdogmatischen Analyse unterzogen werden. Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung ist allerdings eine grundlegende begriffliche Differenzierung zwischen dem „empirischen“ und „rechtlichen“ Zustand der Tarifautonomie (§ 10.). Aufbauend auf dieser Unterscheidung werden Differenzierungsklauseln und OTMitgliedschaften als mögliche Stabilisierungsinstrumente für den rechtlichen Zustand der Tarifautonomie in den Blick genommen (§ 11.). Gesondert zu bewerten, ist sodann der Einfluss der bundesgesetzgeberischen Maßnahmen auf den Zustand der Tarifautonomie (§ 12.). Abschließend erfolgt eine zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse dieses Kapitels (§ 13.).
Siehe Kapitel 2, § 5. Vgl. Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473, 477; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2113. https://doi.org/10.1515/9783110736113-006
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
§ 10 Differenzierung: empirischer und rechtlicher Zustand der Tarifautonomie Wenn gemeinhin vom „Zustand der Tarifautonomie“ gesprochen wird, so wird damit meist der „empirische“ Zustand der Tarifautonomie assoziiert. In diesem Zusammenhang wird dann (lediglich) auf die sinkenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände verwiesen.³ Diese Sichtweise muss jedoch ergänzt werden. Vom Begriff des „empirischen“ Zustands der Tarifautonomie soll daher der Begriff des „rechtlichen Zustands“ der Tarifautonomie unterschieden werden, um dem gegenwärtigen Untersuchungsgegenstand umfassend Rechnung tragen zu können. Bevor eine Analyse des Zustands der Tarifautonomie erfolgt, müssen diese beiden Begriffe transparent gemacht werden.
I. „Empirischer“ Zustand der Tarifautonomie Bei genauerer Betrachtung weisen die abgeleiteten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie allesamt eine empirische Rückkoppelung auf. Insbesondere die Frage nach dem Organisationsgrad der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Verbänden (Faktor 1 und 2) und die Repräsentativität eines Tarifvertrags (Faktor 3) verdeutlichen die Möglichkeit der empirischen Überprüfbarkeit des Zustands der Tarifautonomie. Die entwickelten Faktoren sind also unmittelbar mit der sozialen Arbeitsrechtswirklichkeit verknüpft. Wenn also im Folgenden vom „empirischen“ Zustand der Tarifautonomie die Rede ist, so ist damit der gesellschaftlich rückgekoppelte und mithilfe sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse überprüfbare Ist-Zustand der Tarifautonomie gemeint. Eine vollumfängliche Darstellung des empirischen Zustands der Tarifautonomie anhand der entwickelten Faktoren würde allerdings weitere Untersuchungen, insbesondere unter Einsatz der Methoden empirischer Sozialforschung, erforderlich machen. Insoweit muss sich die Bewertung des empirischen Zustands der Tarifautonomie auf das vorhandene und bereits dargestellte⁴ empirische Material beschränken. In diesem Zusammenhang kann auf die bereits skizzierte Mitgliederentwicklung in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie auf die Entwicklung der Tarif Siehe etwa Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 17 ff., der die Frage des Zustands der Tarifautonomie nur aus einer verbandsmitgliedschaftlichen Perspektive erörtert; siehe auch Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 46 ff., 82 f., der jedoch zumindest auch die Frage der Repräsentativität des Tarifvertrags in diesem Kontext erörtert. Siehe Kapitel 2, § 5.
§ 10 Differenzierung: empirischer und rechtlicher Zustand der Tarifautonomie
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bindung verwiesen werden. Der empirische Zustand der Tarifautonomie korrespondiert insoweit mit den dargestellten sinkenden Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie mit der rückläufigen Tarifbindung. Die Geltung von Tarifverträgen verliert vor diesem Hintergrund zunehmend ihre auf Mitgliedschaft beruhende legitimatorische Grundlage. Mit dem anhaltenden Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften und bei den Arbeitgeberverbänden geraten wichtige Eckpfeiler des Tarifsystems ins Wanken.
II. „Rechtlicher“ Zustand der Tarifautonomie Vom „empirischen“ Zustand der Tarifautonomie ist ihr „rechtlicher“ Zustand zu unterschieden. Der rechtliche Zustand der Tarifautonomie beurteilt sich danach, inwieweit die rechtlichen Rahmenbedingungen so beschaffen sind, dass die Tarifvertragsparteien selbst in der Lage sind, die Tarifautonomie – orientiert an den abgeleiteten Faktoren ihrer Funktionsfähigkeit – zu stärken. Der Annahme eines rechtlichen Zustands der Tarifautonomie wird also die Prämisse zugrunde gelegt, dass es grundsätzlich die Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, den „empirischen“ Zustand der Tarifautonomie zu verbessern bzw. die Stärkung der Tarifautonomie voranzutreiben.⁵ Das ergibt sich bereits aus dem liberalen Charakter der Tarifautonomie, die als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu verstehen ist.⁶ Schließlich ist es der selbstbestimmte Beitrittsakt des Einzelnen, der dem Verband die Legitimation erteilt, einen Tarifvertrag abzuschließen. Insoweit sind sich auch Bepler ⁷ und Waltermann ⁸ einig, dass die Verantwortung für ein funktionsfähiges Tarifsystem vorrangig bei den Tarifvertragsparteien liegt. Erst wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen des Tarifsystems so beschaffen sind, dass die Tarifvertragsparteien aus eigener Kraft nicht imstande sind, die Tarifautonomie zu stärken, ist die subsidiäre Regelungszuständigkeit des Staates gefragt, „die immer dann eintritt, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können (…).“⁹ Dabei ist auch die Rechtsprechung angehalten, den Zustand der Tarifautonomie in ihre Überlegungen einzubeziehen. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ muss das BAG den entwickelten Faktoren in seinen Entscheidungen Rechnung tragen. Schließlich ist
Diese Einschätzung teilt auch Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 49. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5.; vgl. JKOS/Krause, § 1 Rn. 24. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 43. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 17; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 875. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2256.
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
der Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG verankert und damit von verfassungsrechtlichem Rang.¹⁰ So einig sich Bepler und Waltermann darin sind, dass es vorrangig die Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Stärkung der Tarifautonomie zu bewirken, so uneinig sind sie sich bei der Beurteilung des rechtlichen Zustands der Tarifautonomie: Während Bepler davon ausgeht, dass die Stärkung der Tarifautonomie aus sich heraus gelingen wird¹¹, sieht Waltermann stattdessen den Staat in der Pflicht.¹² Waltermann geht damit gerade nicht davon aus, dass die Stärkung der Tarifautonomie allein durch eine effektive Tarifpolitik vorangetrieben werden kann. Hierbei handelt es sich um die Frage des rechtlichen Zustands der Tarifautonomie. Die Möglichkeiten der Tarifvertragsparteien, die Stärkung der Tarifautonomie – anhand der entwickelten Faktoren – zu bewirken, wird daher im Folgenden unter diesem Begriff zusammengefasst. Der rechtliche Zustand der Tarifautonomie hängt also davon ab, inwieweit den Tarifvertragsparteien Instrumentarien zur Verfügung stehen, um den empirischen Zustand der Tarifautonomie zu verbessern. Auf Gewerkschaftsseite ist in diesem Zusammenhang vor allem eine Betrachtung der Differenzierungsklausel im Spiegel der Rechtsprechung des BAG erforderlich. Dagegen ist auf Arbeitgeberverbandsseite zu beobachten, dass das maßgebliche Mittel zur Steigerung der Mitgliederzahlen die OTMitgliedschaft ist.¹³ Auch sie bedarf unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BAG einer Evaluierung, um eine adäquate Einschätzung zum rechtlichen Zustand der Tarifautonomie abgeben zu können.
§ 11 Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OT-Mitgliedschaften? Mit der Analyse des rechtlichen Zustands der Tarifautonomie muss untersucht werden, ob die Tarifvertragsparteien selbst imstande sind, den (empirischen) Zustand der Tarifautonomie zu verbessern. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf der Verbandsmitgliedschaft der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Faktoren 1 und 2).
In diesem Sinne wurde dem Erhalt der „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ Rechnung getragen durch BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1037 Rn. 81, 1041 Rn. 119. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 43. Waltermann, NZA 2014, S. 874, 876; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 90; vgl. Waltermann, HSISchrift, Bd. 15, S. 18 ff. Behrens, WSI-Mitteilungen 2013, S. 473, 477; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Löwisch/ Rieble, TVG, § 3 Rn. 58; Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 467; differenzierend Behrens/Helfen, WSI-Mitteilungen 2016, S. 452, 455 ff.
§ 11 Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OT-Mitgliedschaften?
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Auf Gewerkschaftsseite fungiert vor allem die Differenzierungsklausel in Tarifverträgen als Akquirierungsmaßnahme. Die Arbeitgeberverbände erhoffen sich demgegenüber von der OT-Mitgliedschaft künftig wieder mehr Verbandsmitglieder zählen zu können. Der rechtliche Zustand der Tarifautonomie hängt in Bezug auf diese Aspekte von zwei Fragen ab: Erstens muss analysiert werden, inwieweit die tarifpolitischen Instrumente der Differenzierungsklausel und der OT-Mitgliedschaft nach der Rechtsprechung des BAG zulässig sind. Denn davon ist abhängig, ob diese beiden Instrumente den Tarifvertragsparteien zur Mitgliederakquirierung überhaupt vollumfänglich zur Verfügung stehen. Zweitens ist zu fragen, ob die beiden Instrumente der Mitgliederakquirierung aufgrund ihrer rechtlichen Struktur geeignet sind, Mitgliedschaftsanreize zu setzen, die zu einer Stärkung der Tarifautonomie führen.
I. Einordnung und Bewertung der Differenzierungsklausel Der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft fehlt es offenbar an Attraktivität.¹⁴ In der Praxis sind arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf den vorherrschenden Tarifvertrag im Betrieb keine Seltenheit mehr.¹⁵ Hierdurch wird eine weitestgehend vollständige tarifliche Gleichstellung von organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern erreicht. Der Arbeitnehmer kann also oftmals, ohne eine Schlechterstellung fürchten zu müssen, von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft absehen. Dies erscheint zudem auch wirtschaftlich sinnvoll, da nicht organisierte Arbeitnehmer die Mitgliedschaftsbeiträge sparen.¹⁶ Sie „ernten, wo sich nicht säen“.¹⁷ Um dem voranschreitenden Mitgliederschwund entgegenzuwirken, bedarf es daher neuer Anreize für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft. Hier erscheinen Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen als ein besonders probates Mittel der Gewerkschaften. Sie zielen auf eine tarifliche Besserstellung der in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer ab. In der Praxis kann diese Besserstellung bspw. durch ein höheres Entgelt, zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Extraprämien („Tarifboni“) etc. erreicht werden.¹⁸ Dadurch könnte die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für Arbeitnehmer wieder an Attraktivität
Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 5.I. Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 17 ff., 22 ff., 25; siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 5.II. Siehe zu einer rechtsökonomischen Betrachtungsweise: Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 28 ff.; Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 360 ff.; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 21 f. Söllner/Waltermann, Grundriss des Arbeitsrechts, Rn. 194. Bauer/Arnold, NZA 2005, S. 1209.
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gewinnen. Daher verwundert es nicht, dass die Differenzierungsklausel seitens der Gewerkschaften zunehmend als tarifpolitisches Instrument zu Mitgliederakquise in Betracht gezogen wird. Allerdings ist die rechtliche Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen seit jeher¹⁹ in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten.
1. Erscheinungsformen der Differenzierungsklausel Die Erscheinungsformen von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen sind mannigfaltig. Gemeinsam ist ihnen jedoch die angestrebte Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern, indem sie tarifliche Leistungen exklusiv für Arbeitnehmer vorsehen, die auch über eine Gewerkschaftsmitgliedschaft verfügen.²⁰ Personenbezogen ist zwischen nicht organisierten Arbeitnehmern („allgemein“) und anders organisierten Arbeitnehmern („beschränkt“) zu unterscheiden. Zusammen bilden die anders und nicht organsierten Arbeitnehmer die Gruppe der „Außenseiter“.²¹ Daneben kann auch die inhaltliche Ausgestaltung einer Differenzierungsklausel verschiedenartig sein.
a) Die einfache Differenzierungsklausel Die Grundform aller Differenzierungsklauseln ist die einfache Differenzierungsklausel. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass an vorgesehene Tarifleistungen die Gewerkschaftsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung geknüpft wird.²² Sie kann im Tarifvertrag etwa wie folgt formuliert sein: „Als Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlungen gem. § 19 des Haustarifvertrages der AWOGruppe erhalten die ver.di-Mitglieder der AWO-Gruppe in jedem Geschäftsjahr zum 31.7. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 535 € brutto je Vollzeitkraft gemäß tariflicher Wochenarbeitszeit.“²³ Eine individualvertragliche Gleichstellung der Außenseiter durch den Arbeitgeber schließt dies aber keinesfalls aus. Eine Gleichstellung durch eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf den Tarif-
Bereits 1966: Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit. ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 62; vgl. Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, S. 399; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 26. So auch die Terminologie der Rechtsprechung: BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 176, 186; siehe auch Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 31. ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 62; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2122; Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, S. 399 f. Eine so formulierte einfache Differenzierungsklausel war Gegenstand von BAG, 13.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1029.
§ 11 Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OT-Mitgliedschaften?
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vertag ist zwar nicht möglich, da lediglich die Tarifbindung nach den §§ 3, 4 TVG, nicht aber die Gewerkschaftsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung für den tariflichen Anspruch ersetzt wird.²⁴ Jedoch kann der Arbeitgeber die Gleichstellung durch eine Gesamtzusage sowie über eine allgemeine Regelung im Arbeitsvertrag erreichen.²⁵ Insofern ist diese Art von Differenzierungsklausel als „einfach“ zu klassifizieren.
b) Die Spannenklausel Hinzu tritt die sog. Spannenklausel als eine weitere Facette der inhaltlichen Ausgestaltung der Differenzierungsklausel. Bei einer Spannenklausel wird die Besserstellung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer zusätzlich abgesichert: Zwar verbietet sie dem Arbeitgeber die individualvertragliche Gleichstellung der Außenseiter nicht. Gleichwohl sieht die Spannenklausel vor, dass die organisierten Arbeitnehmer denselben Vorteil ebenfalls erhalten, sodass sie den Außenseitern stets eine „Spanne“ voraus sind.²⁶ Der Veranschaulichung dient etwa das folgende Formulierungsbeispiel: Gewährt der Arbeitgeber die tarifliche Sonderzahlung an Arbeitnehmer, „die nicht Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, so erhöht sich für die Lohn- und Gehaltsempfänger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, die Arbeitgeberleistung entsprechend.“²⁷ Wegen der zusätzlichen Absicherung der Besserstellung von organisierten Arbeitnehmern ist sie als „qualifizierte“ Differenzierungsklausel zu bezeichnen. Eine Umgehung der Besserstellung von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern ist, anders als bei der einfachen Differenzierungsklausel, nicht möglich. Die Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern kann daher nicht mittels einer individualvertraglichen Abrede mit dem Arbeitgeber herbeigeführt werden.
c) Die Tarifausschlussklausel Als weitere Erscheinungsform einer qualifizierten Differenzierungsklausel kommt die Tarifausschlussklausel in Betracht. Die Tarifausschlussklausel sichert die Besserstellung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer noch konsequenter
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1031 Rn. 26 ff. Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1173. Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1170; ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 62; Franzen, RdA 2006, S. 1, 3; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2152. Eine so formulierte Spannenklausel war Gegenstand von BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 921.
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ab als die Spannenklausel: Sie verbietet dem Arbeitgeber schuldrechtlich²⁸ die Gleichstellung von Außenseitern durch individualvertragliche Abreden.²⁹ Eine solche Tarifausschlussklausel ist also im Rahmen eines Firmentarifvertrags denkbar und könnte wie folgt formuliert sein: „Gewerkschaftsmitglieder erhalten eine zusätzliche Vergütung von 550 € im Jahr. Dem Arbeitgeber ist es untersagt, diese Vergütung auch Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, zu zahlen.“³⁰ Im Gegensatz zur Spannenklausel geht es bei der Tarifausschlussklausel also um den vollständigen Ausschluss der Außenseiter von der Vorteilsregelung. Damit ist auch die Tarifausschlussklausel als „qualifizierte“ Form der Differenzierungsklausel zu bezeichnen. Gegenüber der einfachen Differenzierungsklausel ist sie gewissermaßen sogar doppelt qualifiziert.
d) Die Stichtagsklausel Das Entstehen neuer Arten von Differenzierungsklauseln ist dem Erfindungsreichtum der Tarifvertragsparteien geschuldet. So finden sich in Tarifverträgen neuerdings vermehrt³¹ Differenzierungsklauseln, die die Gewerkschaftsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung von einem bestimmten Stichtag abhängig machen – sogenannte Stichtagsklauseln.³² Der Veranschaulichung dient das folgende Formulierungsbeispiel aus der Praxis: „Mit Wirkung ab 1. Oktober 2003 wird ein Tarifvertag über eine monatliche Vergütung von 55,00 Euro abgeschlossen. Dieser Tarifvertrag gilt nur für Arbeitnehmer, welche seit dem 1. Juni 2003 Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie sind und bleiben. Für Arbeitnehmer, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, entfällt diese Vergütung bzw. ist eine zu Unrecht bezahlte Vergütung zurückzuzahlen.“³³ Hierdurch wird der Außenseiterbegriff gewissermaßen erweitert: Zur Gruppe der Außenseiter gehören dann auch Arbeitnehmer, die zwar in der tarifvertrags-
Eine normative Wirkung auf Außenseiterarbeitsverhältnisse vermag eine Tarifausschlussklausel nicht zu entfalten. Siehe hierzu: Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2147 f.; Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, S. 399, 403; siehe auch m.w.N. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 92 ff. ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 62; Franzen, RdA 2006, S. 1, 2; Kocher, NZA 2009, S. 119, 120; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2147; Waltermann, ArbR, Rn. 516. Vgl. Osteroth, Zur Zulässigkeit tarifvertraglicher Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, S. 25. Zuletzt war eine solche Stichtagsregelung Gegenstand von BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388. ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn. 62b; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2143. Eine so formulierte Stichtagsklausel war Gegenstand von BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439.
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schließenden Gewerkschaft organisiert, jedoch erst nach einem bestimmten Stichtag Mitglied geworden sind. Daher begreift das BAG die Stichtagsklausel mittlerweile typologisch gesehen nicht einmal mehr als (einfache) Differenzierungsklausel, sondern als bloße „Binnendifferenzierung“.³⁴ Stattdessen bietet sich jedoch eine andere Betrachtungsweise an: „Typische“ Differenzierungsklauseln unterscheiden zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht bzw. anders organisierten Arbeitnehmern. Von dieser Typologie weicht die Stichtagsklausel ab. Sie unterscheidet zeitlich nach dem Beitrittsdatum. Nicht übersehen werden darf, dass gleichwohl gegenüber nicht und anders gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern unterschieden wird.³⁵ Die Stichtagsklausel differenziert daher gewissermaßen doppelt. Die Differenzierung innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft tritt zusätzlich neben die (typische) Differenzierung zwischen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern und gewerkschaftlich nicht bzw. anders organisierten Arbeitnehmern. Insoweit ist die Stichtagsklausel als eine „atypische“ Differenzierungsklausel zu begreifen.³⁶
2. Differenzierungsklauseln im System der Tarifautonomie – perspektivische Betrachtungsweisen Untersucht man die Stellung der Differenzierungsklausel im „System der Tarifautonomie“, so bieten sich zwei unterschiedliche perspektivische Betrachtungsweisen an.³⁷ Mit der Betrachtung der Differenzierungsklausel im System der Tarifautonomie eng verzahnt sind die divergierenden Vorstellungen über den Ursprung und die Funktion der Tarifautonomie.³⁸ Diejenigen, die die tarifliche Rechtsetzung durch die Tarifvertragsparteien als Ausfluss staatlich delegierter Befugnisse begreifen³⁹, vertreten den Standpunkt, dass die Tarifautonomie die Funktion hat, das Arbeitsleben insgesamt zu ordnen. Die Delegationstheorie legt zudem die Annahme einer umfassenden Ordnungsfunktion der Tarifautonomie
BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1391 Rn. 27. Greiner, NZA 2016, 10, 11. Greiner, NZA 2016, 10; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 39; Osteroth, Zur Zulässigkeit tarifvertraglicher Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, S. 33 ff. Siehe grundlegend zu diesen perspektivischen Betrachtungsweisen der Differenzierungsklausel Greiner, NZA 2016, S. 10. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7. BAG, 23.03.1957 (1 AZR 64/56), BAGE 4, S. 133, 136; BAG, 23.03.1957 (1 ZR 326/56), BAGE 4, S. 240, 251; BAG, 15.01.1955 (1 AZR 305/54), BAGE 1, S. 258, 264; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II/1, S. 347.; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 216 ff., 217; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 265 ff., 267; vgl. auch Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593; Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff.
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nahe. Danach sind die Tarifvertragsparteien also gehalten, die Interessen aller Arbeitnehmer zu vertreten. Die Gewerkschaft ist dann als Berufsorgan zu verstehen, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist.⁴⁰ Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, ist die (faktische) Außenseiterwirkung von Tarifvertragsnormen, sei es durch arbeitsvertragliche Bezugnahme, sei es durch staatliche Erstreckung (bspw. durch Allgemeinverbindlicherklärung), begrüßenswert. Die Gleichstellung der Außenseiter mit den organisierten Arbeitnehmern wird hiernach als Normalzustand begriffen. Differenzierungsklauseln werden nach dieser Betrachtungsweise als systemwidrig angesehen, da sie darauf angelegt sind, die Gleichstellung der Arbeitnehmer wieder zu beseitigen. Wie bereits gezeigt wurde⁴¹, ist die Tarifautonomie und die Rechtsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien allerdings vorrangig privatautonom zu erklären.⁴² Die Tarifvertragsparteien erhalten mit der Legitimationstheorie ihre Befugnis zur tariflichen Rechtsetzung durch die durch Verbandseintritt begründete Mitgliedschaft. Die Tarifvertragsparteien haben danach vorrangig den Interessen ihrer eigenen Mitglieder zu dienen.⁴³ Die Geltung des Tarifvertrags ausschließlich für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer ist daher als „Normalzustand“ zu begreifen. Wie die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG deutlich machen, entspricht die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit auch den charakteristischen Grundzügen des TVG. Die (faktische) Außenseiterwirkung von Tarifvertragsnormen ist damit als pathologischer Zustand zu begreifen, der nicht als Regelfall, sondern nur als Ausnahme verstanden werden darf. Differenzierungsklauseln sind daher ein geeignetes tarifpolitisches Instrument der Gewerkschaften, die Tarifautonomie zu stärken. Sie stellen die im Tarifsystem angelegte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit wieder her und setzen damit Anreize für einen Gewerkschaftsbeitritt. Das entspricht auch dem Rechtsgedanken von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie.⁴⁴
3. Differenzierungsklauseln im Spiegel der Rechtsprechung des BAG Die Frage, inwieweit die Differenzierungsklausel den Gewerkschaften als tarifpolitisches Instrument der Mitgliederakquirierung zur Verfügung steht, hängt
Siehe hierzu grundlegend Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593; Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 230; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121, 133; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1; siehe hierzu auch BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123. Siehe hierzu unten Kapitel 4, § 11.I.4. Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 365.
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maßgeblich von der Rechtsprechung des BAG ab. Diese gilt es daher zu analysieren. Bis auf die Tarifausschlussklausel sind die dargestellten Erscheinungsformen der Differenzierungsklausel bereits Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen gewesen.
a) Die einfache Differenzierungsklausel Zunächst ist die Zulässigkeit der einfachen Differenzierungsklausel im Spiegel der Rechtsprechung des BAG zu betrachten:
aa) Ausgangspunkt: die Entscheidung des Großen Senats des BAG von 1967 Ausgangspunkt der höchstrichterlichen Auseinandersetzung mit Differenzierungsklauseln ist die Entscheidung des Großen Senats vom 29. November 1967.⁴⁵ Differenzierungsklauseln wurden für grundsätzlich unzulässig erklärt. Gegenständlich war eine Spannenklausel. Die Entscheidungsgründe des BAG enthalten zwei wichtige Aussagen: Erstens überschreiten die Sozialpartner mit der Regelung von Differenzierungsklauseln ihre Tarifmacht. Zweitens seien Differenzierungsklauseln mit dem Verfassungsrecht unvereinbar. Die Verfassungswidrigkeit der Differenzierungsklausel begründete der Große Senat mit einer Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der anders gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer und der negativen Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer.⁴⁶ In der Argumentation verwies der Große Senat auf einen „sozialinadäquaten Druck“ zum Beitritt der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft, der auf die Außenseiter-Arbeitnehmer ausgeübt werde. Sie würden danach geradezu, wider ihrem verfassungsrechtlich verbürgten Recht einer Koalition fernzubleiben, zu einem Gewerkschaftsbeitritt gedrängt. Dieser „sozialinadäquate Druck“ verletze das „Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter „gröblich“.⁴⁷ Darüber hinaus kam der Große Senat zu dem Ergebnis, dass der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft aus zwei Gründen die notwendige „Tarifmacht“⁴⁸ fehle, um eine Differenzierungsklauseln in einem Tarifvertrag vereinbaren zu können.⁴⁹ Zum einen sei die Differenzierungsklausel eine nach allgemeinen Gesetzen unzulässige Beitragserhebung. Es bestehe keine allgemeine Rechtspflicht, nach der für die kostenfreie Inanspruchnahme von Leistungen ein
BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175 ff. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 224 ff. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 228. Siehe kritisch zum Begriff der „Tarifmacht“ Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 53. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 218 ff.
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adäquater Ausgleich gefordert werden kann.⁵⁰ Als bloßer Tarifbonus getarnt sei die Differenzierungsklausel in Wahrheit eine Beitragserhebung für nicht und anders gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer. Insoweit fehle es dieser Regelung an der notwendigen Bestimmtheit.⁵¹ Zum anderen beinhalte die Spannenklausel eine unzumutbare Verpflichtung der Arbeitgeberkoalition. Dieser könne es nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht zugemutet werden, sich derart in den Dienst der Gewerkschaften einspannen zu lassen.⁵² Zwar handelte es sich bei der zugrundeliegenden Regelung nur um eine Spannenklausel, sodass zunächst die Annahme nahe liegt, die Entscheidung ist in ihrer Aussagekraft auf diese begrenzt. Auf den zweiten Blick ist jedoch ersichtlich, dass der Große Senat diese Entscheidungsgründe auf alle Arten von Differenzierungsklauseln bezog. Dies formuliert er auch ausdrücklich: „Differenzierungsklauseln jedweder Art und damit auch die zu ihrer Absicherung vorgesehenen Spannenklauseln sind aber aus zwei Gründen nicht mehr durch die Tarifmacht gedeckt.“⁵³ Diese Annahme lässt sich darüber hinaus mit einem Verweis auf den Fragenkatalog stützen, der dem Großen Senat vorgelegt wurde: In Frage 2 ist von einer tariflichen Regelung die Rede, die „zwischen bei der vertragsschließenden Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmern (…) und Außenseitern differenziert“.⁵⁴ Diese Formulierung erfasst auch die einfache Differenzierungsklausel. Insofern kann die Entscheidung des Großen Senats als Grundsatzentscheidung für die generelle Unzulässigkeit von Differenzierungsklauseln verstanden werden.⁵⁵
bb) Paradigmenwechsel: die Entscheidung des BAG vom 18. März 2009 Am 18. März 2009 leitete das BAG einen Paradigmenwechsel ein. Der vierte Senat des BAG hat in dieser Entscheidung erstmals konkret eine einfache Differenzierungsklausel für zulässig erklärt.⁵⁶ Die Entscheidungsgründe beziehen sich schwerpunktmäßig auf eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der nicht
BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 219. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 221. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 222 f. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 218. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 176. So auch BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 30.; LAG Niedersachsen, 11.12. 2007 (5 Sa 914/07), DB 2008, S. 1977 ff., 1978; Hanau, FS Hromadka, S. 115, 119; a.A.: BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1038; Däubler, BB 2002, S. 1643. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.
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gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer⁵⁷: Das BAG verneinte eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit, da eine einfache Differenzierungsklausel „bereits strukturell keinen unzulässigen unmittelbaren Druck auf Außenseiter (…)“⁵⁸ ausüben könne. Schließlich berührten einfache Differenzierungsklauseln den Rechtskreis der Außenseiter-Arbeitsverhältnisse nicht.⁵⁹ Die Differenzierungsklausel gelte, getreu den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, allein für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Verbände.⁶⁰ Zudem sei eine individualvertragliche Gleichstellung durch den Arbeitgeber ohne weiteres möglich, sodass ein unzulässiger Beitrittsdruck nicht angenommen werden könne.⁶¹ Im Übrigen hänge die Zulässigkeit einer einfachen Differenzierungsklausel von ihrer konkreten Ausgestaltung im Einzelfall ab.⁶² Damit widersprach das BAG der Entscheidung des Großen Senats von 1967 teilweise fundamental. Stellte der Große Senat noch fest, dass „Differenzierungsklauseln jedweder Art (…) nicht mehr durch die Tarifmacht gedeckt“⁶³ sind, so scheint dies nicht mehr zu gelten. Vielmehr bleiben die im Zusammenhang mit der „fehlenden Tarifmacht“ geäußerten Bedenken des Großen Senats, gerade mit Blick auf die Bestimmtheit von Differenzierungsklauseln, außen vor. Zudem hat sich das BAG vom Beitrittsdruck-Kriterium der „Sozialadäquanz“ scheinbar verabschiedet. Vielmehr stellt das BAG in dieser Entscheidung auf „strukturelle“ Gesichtspunkte ab. Letztlich fällt auf, dass das BAG die Differenzierungsklausel nunmehr aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Der Große Senat befand in seiner Entscheidung von 1967, dass Differenzierungsklauseln das „Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter „gröblich“ verletzen.⁶⁴ Hiermit nahm er den perspektivischen Standpunkt ein, dass Tarifverträge für die Interessenwahrnehmung aller Arbeitnehmer nützlich seien. Die Beeinträchtigung gleichwertiger Verhältnisse im Betrieb durch Differenzierungsklauseln bezeichnete er als Verstoß gegen das „Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter. Demgegenüber nimmt der vierte Senat des BAG in seiner Entscheidung vom 18. März 2009 nunmehr den Standpunkt ein, dass Tarifvertragsnormen Ausfluss „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ seien⁶⁵; er steht damit auf dem Boden der Legiti-
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 46 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 47. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 47, 1035 Rn. 59. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1034 Rn. 49. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1034 Rn. 54 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1035 Rn. 60 ff. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 218. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 228. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1034 Rn. 49.
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mationstheorie. Damit versteht das BAG Differenzierungsklauseln als grundsätzlich legitimes Mittel, um den gesetzlich verankerten (vgl. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) Normalzustand der Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit wiederherzustellen.
b) Die Spannenklausel Auch die Frage nach der Zulässigkeit einer Spannenklausel ist immer wieder Gegenstand der Rechtsprechung des BAG gewesen: Nachdem der vierte Senat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2009 einfache Differenzierungsklauseln erstmals für zulässig erklärte, lag es nahe, hierin auch eine Aussagekraft für Spannenklauseln zu erblicken.⁶⁶ Derartigen Bestrebungen erteilte das BAG in einer Entscheidung vom 23. März 2011, in der es abermals eine Spannenklausel für unzulässig erklärte, allerdings eine deutliche Absage.⁶⁷ Das BAG begründet die Unwirksamkeit der gegenständlichen Spannenklausel mit einer Überschreitung der Tarifmacht.⁶⁸ In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass eine Spannenklausel dem Arbeitgeber die Gleichstellung der Außenseiter „rechtlichlogisch unmöglich“ mache.⁶⁹ Die Erstreckung der normativen Wirkung von Tarifvertragsnormen auf einen „außertariflichen Bereich“ überschreite die Grenzen der Tarifautonomie. Damit gehe eine Verletzung der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers und der Außenseiter einher.⁷⁰ Auffällig ist, dass der Schwerpunkt der Entscheidungsgründe nicht mehr bei der Verletzung der (positiven und negativen) Koalitionsfreiheit von gewerkschaftlich nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern liegt, sondern das BAG die Spannenklausel vorwiegend am Maßstab der Arbeitsvertragsfreiheit des Arbeitgebers misst.⁷¹ Genau genommen zieht das BAG eine Verletzung der (positiven und negativen) Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftlich und anders gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer gar nicht erst in Betracht. Letztlich kann konstatiert werden, dass das BAG darum bemüht ist, die Verletzung der Arbeitsvertragsfreiheit auf dem Rechtsgedanken von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie zu stützen.⁷² Das BAG betrachtet die Zuläs-
Dazu Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kapitel Rn. 16. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920 ff. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38 ff. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 924 Rn. 43. So auch Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 26 f. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 924 Rn. 40 f.
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sigkeit von Differenzierungsklauseln zunehmend aus der Perspektive der Legitimationstheorie.
c) Die Tarifausschlussklausel Zwar war eine Tarifausschlussklausel selbst noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des BAG. Berücksichtigt man jedoch die Rechtsprechung zu Spannenklauseln, so kann ein Erst-Recht-Schluss gezogen werden.⁷³ Wenn das BAG schon den Standpunkt einnimmt, dass eine Spannenklausel die Tarifmacht der Tarifvertragsparteien überschreitet, so muss dies erst recht für die noch stringentere Tarifausschlussklausel gelten.⁷⁴ Schließlich ermöglicht die Spannenklausel Vorteilsregelungen für Außenseiter, wenn die „Spanne“ zu organisierten Arbeitnehmern bestehen bleibt. Damit verhindert die Spannenklausel nicht, dass Außenseiter-Arbeitnehmer auch eine Bonuszahlung erhalten. Die Tarifausschlussklausel sichert die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit zugunsten des gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmers allerdings noch konsequenter ab. Sie verbietet dem Arbeitgeber schuldrechtlich⁷⁵, den Außenseiter-Arbeitnehmern eine Bonusleistung zu gewähren. Die Tarifausschlussklausel bewirkt insoweit eine noch intensivere Beeinträchtigung der Arbeitsvertragsfreiheit. Daher muss im Ergebnis davon ausgegangen werden, dass auch die Tarifausschlussklausel im Spiegel der Rechtsprechung des BAG unzulässig ist.
d) Die Stichtagsklausel Auch die Stichtagsklausel war bereits Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung: Stichtagsklauseln erachtete das BAG in einer Entscheidung vom 9. Mai 2007 als grundsätzlich unzulässig.⁷⁶ Dabei berief sich das BAG sowohl auf verfassungs- als auch auf einfachrechtliche Gesichtspunkte. Zum einen verletzte die Stichtagsklausel die positive Koalitionsfreiheit derjenigen Arbeitnehmer, die erst nach dem in Rede stehenden Stichtag Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft geworden sind. Die Stichtagsklausel verwehrt ihnen damit gerade den mit einem Gewerkschaftsbeitritt verbundenen wesentlichen Ertrag.⁷⁷ Dies
Ähnlich folgert auch Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945, 948 f. So auch Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 47. Eine normative Wirkung vermag eine Tarifausschlussklausel von vornherein nicht zu entfalten. Siehe hierzu ausführlich und jeweils m.w.N. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2147 f.; Lunk/Leder/ Seidler, RdA 2015, S. 399, 403; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 92 ff. BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439 ff. BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 32.
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stehe zudem in einfachrechtlicher Hinsicht im Widerspruch zu §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, wonach die Geltung der Rechtsnormen des Tarifvertrags hinsichtlich der Tarifgebundenheit allein von dem Beginn der Mitgliedschaft abhängig ist.⁷⁸ Hinzukommend verweist das BAG darauf, dass die für typische Differenzierungsklauseln ins Feld geführten Rechtfertigungsgründe nicht für die Zulässigkeit der Stichtagsklausel streiten, da von ihr keine Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt zu erwarten seien.⁷⁹ Darüber hinaus greife die Stichtagsklausel in die negative Koalitionsfreiheit derjenigen Arbeitnehmer ein, die bereits vor dem Stichtag Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft geworden sind. Für sie begründe die Stichtagsklausel schließlich ein Hemmnis aus der Gewerkschaft auszutreten.⁸⁰ Damit stehe die Stichtagsklausel zudem in einfachrechtlicher Hinsicht im Widerspruch zu der tarifrechtlichen Regelung in § 3 Abs. 3 TVG, wonach die Tarifgebundenheit bestehen bleibt, bis der Tarifvertrag endet.⁸¹ In einer Entscheidung vom 15. April 2015 erachtete das BAG erstmals eine Stichtagsklausel für rechtlich zulässig.⁸² Als Prüfungsmaßstab zog das BAG in erster Linie den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und die negative Koalitionsfreiheit heran. Zum einen bestehe ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern in Form „koalitionsspezifischer Interessen.“⁸³ Zum anderen begründe „ein bloßer Anreiz zum Beitritt einer Koalition“ noch keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit, da die Stichtagsklausel sich ausschließlich auf die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft beschränke.⁸⁴ Damit leitete die Entscheidung des BAG vom 15. April 2015 einen Paradigmenwechsel ein. Auch die Stichtagsklausel stellt fortan nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein zulässiges tarifpolitisches Instrument der Gewerkschaften dar.
4. Stellungnahme Die skizzierte Rechtsprechung des BAG ist vor dem Hintergrund zu bewerten, dass es grundsätzlich Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, für eine funktionsfähige Tarifautonomie zu sorgen. Aufgrund eines anhaltenden Mitgliederschwundes in
BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 32. BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 33. BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 35. BAG, 09.05. 2007 (4 AZR 275/06), NZA 2007, S. 1439, 1441 Rn. 34. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388 ff.; siehe besonders kritisch hierzu Greiner, NZA 2016, S. 10 ff. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1392 Rn. 32. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1393 Rn. 45, 47.
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den Gewerkschaften erscheint die Differenzierungsklausel als ein probates Mittel, die Gewerkschaftsmitgliedschaft wieder attraktiver zu machen. Sie ist darauf ausgerichtet, die gesetzlich angeordnete (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG), aber faktisch durchbrochene Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit wiederherzustellen. Mit der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen leisten die Tarifvertragsparteien damit einen wichtigen Beitrag für eine funktionsfähige Tarifautonomie. Insoweit ist zu begrüßen, dass das BAG die Differenzierungsklausel mittlerweile einer anderen perspektivischen Betrachtungsweise unterzieht. In seiner Entscheidung von 1967 ging der Große Senat des BAG schließlich noch davon aus, dass tarifliche Sonderzahlungen für Gewerkschaftsmitglieder „das Gerechtigkeitsempfinden gröblich“ verletzen.⁸⁵ Mit dieser Sichtweise erhob der Große Senat die Gewerkschaft gewissermaßen zu einem dem Gemeinwohl verpflichteten Berufsorgan, dessen Aufgabe es ist, die Interessen sämtlicher Arbeitnehmer zu vertreten.⁸⁶ Für eine Bindung der Gewerkschaften an Gemeinwohlbelange, die sie zum Berufsorgan erhebt, gibt es jedoch weder ausdrückliche verfassungs- noch einfachgesetzliche Anhaltspunkte.⁸⁷ Ganz im Gegenteil ist der Systematik des Grundgesetzes und der Konzeption von Art. 9 Abs. 3 GG ein freiheitliches bzw. privatautonom-eigennütziges Tarifautonomie- und Gewerkschaftsverständnis zu entnehmen.⁸⁸ Dass die Gewerkschaft sich auch für die Interessen nicht organisierter Arbeitnehmer einzusetzen hat, kann allenfalls als Verfassungserwartung verstanden werden, aus der sich jedoch keine spezifischen Bindungen und Verpflichtungen ableiten lassen.⁸⁹ Die Gewerkschaft ist damit kein dem Gemeinwohl verpflichtetes Berufsorgan, sondern ein in erster Linie ihren Mitgliedern verpflichteter Interessenverband. Vor diesem Hintergrund ist die im Hinblick auf Differenzierungsklauseln geänderte perspektivische Sichtweise des BAG zu begrüßen. Das BAG geht – in Abkehr der Entscheidung des Großen Senats von 1967 – nunmehr richtigerweise davon aus, dass die Gewerkschaften zuvorderst den Mitgliederinteressen zu dienen haben.⁹⁰ Dabei stellt das BAG nunmehr auch die herausragende – und in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierte⁹¹ – Bedeutung der Mitgliederwerbung für eine funktionsfä-
BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 228. Siehe zu dieser Betrachtungsweise grundlegend Wiedemann, RdA 1969, S. 321 ff.; Wiedemann, NZA 2018, S. 1587, 1593. Seiwerth, RdA 2017, S. 373, 374; vgl. Däubler/Heuschmid, RdA 2013, S. 1, 5. Seiwerth, RdA 2017, S. 373, 377; siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Siehe hierzu m.w.N. Seiwerth, RdA 2017, S. 373, 375 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 73 ff. Siehe grundlegend zur Aufgabe der Kernbereichslehre: BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382.
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hige Tarifautonomie heraus.⁹² Je weiter der gewerkschaftliche Organisationsgrad sinkt und damit das Tarifsystem zunehmend erodiert, desto mehr avanciert die Mitgliederwerbung in Form von Differenzierungsklauseln zum Garanten einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Dabei erkennt das BAG nunmehr, dass Differenzierungsklauseln vor diesem Hintergrund mit dem Verständnis von Tarifautonome als kollektiv ausgeübter Privatautonomie korrespondieren.⁹³ Schließlich findet die Legitimation der – gesetzlich angeordneten (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) und durch Differenzierungsklauseln forcierten – Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit ihre Legitimation in dem jeweiligen Gewerkschaftsbeitritt. Differenzierungsklauseln sind daher ein grundsätzlich systemkonformes Mittel der Gewerkschaften zur (Wieder‐)Herstellung der Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit als „Normalzustand“. Mit ihr entstehen Mitgliedschaftsanreize, die geeignet sind, eine Stärkung der Tarifautonomie zu bewirken. Allerdings müssen auch die mit einer Differenzierungsklausel verbundenen gegenläufigen Wertungen berücksichtigt werden. Sie bilden den Prüfungsmaßstab ihrer rechtlichen Zulässigkeit. Insofern müssen auch die vom BAG angelegten Prüfungsmaßstäbe für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln auf den Prüfstand gestellt werden:
a) Zum Prüfungsmaßstab der Koalitionsfreiheit Lange Zeit zog das BAG als maßgeblichen Prüfungsmaßstab für die rechtliche Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG heran. Dabei streitet für die anders gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer die positive Koalitionsfreiheit. Die positive Koalitionsfreiheit umfasst dabei nicht nur den Koalitionsbeitritt, sondern auch den Verbleib in einer Koalition.⁹⁴ Damit schützt die positive Koalitionsfreiheit die anders gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer davor, einer anderen Koalition beitreten zu müssen. Demgegenüber streitet für die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer die negative Koalitionsfreiheit. Sie gewährleistet in diesem Zusammenhang ins-
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 75, 76. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1393 Rn. 44; BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/ 09), NZA 2011, S. 920, 924 Rn. 41; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1034 Rn. 49. BVerfG, 30.11.1965 (2 BvR 54/62), NJW 1966, S. 491; BVerfG, 27.03.1979 (2 BvR 1011/78), NJW 1979, S. 1875; BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215; BVerfG, 14.04.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; so zuletzt BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 916 Rn. 130.
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besondere das Recht, einer Koalition fernzubleiben.⁹⁵ Zentral für die Tauglichkeit des Prüfungsmaßstabes der (positiven und negativen) Koalitionsfreiheit ist daher die Frage, inwieweit mit der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen ein „Druck“ zum Koalitionsbeitritt ausgeübt wird. Erst wenn von der Differenzierungsklausel ein Beitrittsdruck ausgeht, liegt ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die (positive und negative) Koalitionsfreiheit vor. Daher muss der Begriff des Drucks im Zentrum der Überlegungen stehen. Die Rechtsprechung des BAG ist vor allem dahingehend zu bewerten, ob ihr die Grenzziehung zwischen einem rechtfertigungsfreiem Anreiz einerseits und einem rechtfertigungsbedürftigen Druck andererseits gelungen ist.
aa) Kritik am Ansatz des Großen Senats: „sozialinadäquater Druck“ Der vom Großen Senat in seiner Entscheidung vom 29. November 1967 ins Feld geführte Begriff der Sozialadäquanz ist in zweierlei Hinsicht als Maßstab für eine Grenzziehung zwischen rechtfertigungsfreiem Anreiz und rechtfertigungsbedürftigem Druck ungeeignet: Erstens ist der Begriff der Sozialadäquanz zu unbestimmt, als dass von ihm konkrete Rechtsfolgen ableitbar wären.⁹⁶ Mit diesem Begriff hat sich der Große Senat eines qualitativen Moments bedient, wonach von jeder Differenzierungsklausel ein sozialinadäquater Druck ausgehe, der das Gerechtigkeitsgefühl von Außenseitern verletze.⁹⁷ „Gefühle“ können allerdings keine rechtlich praktikable Kategorie bilden.⁹⁸ Im Hinblick auf die erforderliche Grenzziehung zwischen Anreiz und Druck auf ein derart allgemeines Rechtsgefühl der Außenseiter abzustellen, ist zu vage und öffnet dem „Trittbrettfahrertum“ Tür und Tor. Schließlich gibt es keinen allgemeinen Rechtssatz, aus dem ein Anspruch auf tarifliche Gleichbehandlung folgt. Ganz im Gegenteil sind die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG sogar die gesetzlich verankerte Inkarnation einer Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit. Zweitens geht mit dem Begriff der Sozialadäquanz eine zu pauschale Rechtsfolge einher. Ohne Rücksicht auf die Erscheinungsform und das jeweilige Ausmaß der Ungleichbehandlung wird jede Differenzierungsklausel von vornherein für unzulässig erklärt. Diese Art der
BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), BVerfGE 31, S. 297, 302; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 68. Däubler, BB 2002, S. 1643, 1644 ff., 1646; Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147: „(…) es Begriff zu nennen wäre übertrieben“; Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 125 ff., 154 f.; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 152 f. BAG, 29.11.1967 (GS 1/67), BAGE 20, S. 175, 228. Vgl. Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 132.
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Grenzziehung wird der in Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Möglichkeit der gewerkschaftlichen Mitgliederwerbung⁹⁹ nicht gerecht. Die Mitgliederwerbung liefert schließlich einen essenziellen Beitrag zum Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie.¹⁰⁰ Insoweit ist der mit der Entscheidung des BAG vom 18. März 2009 eingeläutete Paradigmenwechsel zu begrüßen.¹⁰¹ Auf den Begriff der Sozialadäquanz hat das BAG seitdem nicht mehr zurückgegriffen.
bb) Vorzugswürdig: struktureller Druck Richtigerweise stellte das BAG in seiner Entscheidung vom 18. März 2009 daher darauf ab, ob die – jeweilige Erscheinungsform – der Differenzierungsklausel strukturell dazu geeignet ist, einen Beitrittsdruck zu erzeugen.¹⁰² Grundsätzlich geeignet ist eine Differenzierungsklausel zur Druckausübung dann, wenn ihre jeweilige Erscheinungsform Charakteristika aufweist, die es den Außenseitern verwehrt, auf anderem Weg die Gleichstellung mit den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu erreichen. Denn ein rechtlich relevanter Druck zum Gewerkschaftsbeitritt kann erst dann angenommen werden, wenn dem Außenseiter anderweitige Optionen jenseits eines Gewerkschaftsbeitritts nicht zur Verfügung stehen, um die Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu erreichen. Das ist dann der Fall, wenn die Differenzierungsklausel ihrer Wirkungsweise nach auch die Arbeitsverhältnisse von Außenseitern „mitregelt“. Das Abstellen auf die jeweilige strukturelle Erscheinungsform der Differenzierungsklausel ist – im Gegensatz zum Kriterium der Sozialadäquanz – rechtlich bestimmbarer und im Ergebnis differenzierend. Damit geht das BAG zutreffend davon aus, dass einfache Differenzierungsklauseln ihrer Struktur nach so beschaffen sind, dass ein Beitrittsdruck gar nicht erst entstehen kann.¹⁰³ Zwar können Außenseiter die tarifliche Gleichstellung nicht über eine individualvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag erreichen, da nicht die Gewerkschaftsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung ersetzt werden kann.¹⁰⁴ Allerdings kann der Außenseiter die Gleichstellung entweder durch eine
BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382; vgl. auch BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 75, 76; siehe auch bereits BAG, 11.11.1968 (1 AZR 16/68), BAGE 21, S. 201. Kocher, NZA 2009, S. 119, 122; vgl. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 160, 163; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 47. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 46 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 46. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1030 Rn. 15.
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Gesamtzusage oder aber durch eine sonstige allgemeine Regelung im Arbeitsvertrag erreichen.¹⁰⁵ Einfache Differenzierungsklauseln regeln damit ausschließlich die Arbeitsverhältnisse der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer, die gem. § 3 Abs. 1 TVG an den Tarifvertrag gebunden sind.¹⁰⁶ Die Annahme, dass von der einfachen Differenzierungsklausel ein Beitrittsdruck ausgeht, steht zudem im Widerspruch zu den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, wonach die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit als Normalfall gesetzlich verankert ist. Sie ist insofern eine bloße Wiedergabe des Gesetzes.¹⁰⁷ Wenn man der einfachen Differenzierungsklausel einen rechtfertigungsbedürftigen Beitrittsdruck zuschreibt, muss man konsequenterweise auch die Verfassungsmäßigkeit der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG in Frage stellen: Mehr noch: Die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gehen viel weiter als die einfache Differenzierungsklausel. Während die einfache Differenzierungsklausel in der Regel lediglich einen Tarifbonus zum Gegenstand hat, ordnen die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit für den gesamten Tarifvertrag an. Wer also einfachen Differenzierungsklauseln einen rechtfertigungsbedürftigen Beitrittsdruck unterstellt, der ist zu einem ErstRecht-Schluss gezwungen: Wenn schon die einfache Differenzierungsklausel, bezogen auf einen Tarifbonus, einen rechtfertigungsbedürftigen Beitrittsdruck erzeugt, dann muss dies erst recht für die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gelten, die die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit in Bezug auf den gesamten Tarifvertrag anordnen. Da Stichtagsklauseln gegenüber Außenseitern wie einfache Differenzierungsklauseln wirken, setzt das BAG seine Grundsätze konsequent fort und geht richtigerweise davon aus, dass auch sie keinen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit begründen.¹⁰⁸ Schwieriger erscheint vor dem Hintergrund einer strukturellen Druckbestimmung die Einordnung der Spannenklausel. Dass das BAG in seiner Entscheidung vom 23. November 2011 kaum ein Wort zum Prüfungsmaßstab der (positiven und negativen) Koalitionsfreiheit verlor, wird der verfassungsrechtlichen Bedeutung dieses Grundrechts nicht gerecht. Denn denkt man die „strukturelle Argumentation“ des BAG bei der Druckbestimmung konsequent zu Ende,
Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1173. Vgl. Däubler/Heuschmid, RdA 2013, S. 1, 4; vgl. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 157; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 45 f. Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945, 948; vgl. Brecht-Heitzmann/Gröls, NZA-RR 2011, S. 505, 506; Franzen, RdA 2008, S. 193, 199; vgl. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 157; vgl. Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 169; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1391 Rn. 25, 1394 Rn 45 ff.; ebenfalls einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit verneinend Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 213; siehe kritisch hierzu Greiner, NZA 2016, S. 10 ff.
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so muss daraus folgen, dass Spannenklauseln grundsätzlich geeignet sind, einen rechtfertigungsbedürftigen Druck auf Außenseiter auszuüben.¹⁰⁹ Anders als bei einfachen Differenzierungsklauseln verhindert die Wirkungsweise der Spannenklausel eine Gleichstellung der Außenseiter mit den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern. Sofern der Arbeitgeber nämlich auch den Außenseitern die tarifliche Sonderzahlung gewährt, erhöht sich der Betrag für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer entsprechend. Eine Gleichstellung ist damit weitestgehend ausgeschlossen. Damit werden die Außenseiter-Arbeitsverhältnisse zwar nicht normativ, aber gleichwohl faktisch erfasst. „Druck“ ist in diesem Zusammenhang immer auch eine rechtstatsächliche Kategorie, sodass faktische Auswirkungen Berücksichtigung finden müssen.¹¹⁰ Mit der Spannenklausel werden die Außenseiter-Arbeitsverhältnisse damit „quasi-geregelt“. Dem wird zwar entgegnet, dass von der Spannenklausel bereits deswegen kein Druck ausgehen könne, da ihr Mechanismus erst dann in Gang gesetzt werde, wenn eine individualvertragliche Abrede mit kollektivem Bezug den Außenseitern die Sonderzahlung gewährt. Insofern sei auch die Spannenklausel bereits strukturell nicht geeignet, einen Druck auf Außenseiter zum Gewerkschaftsbeitritt auszuüben.¹¹¹ Richtig ist daran, dass für den einzelnen Außenseiter-Arbeitnehmer sicherlich noch Möglichkeiten bestehen, über individualvertragliche Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber, die keinen kollektiven Bezug aufweisen, eine Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zu erreichen. Einen den Mechanismus der Spannenklausel auslösenden kollektiven Bezug weist die Gesamtzusage¹¹², die betriebliche Übungen¹¹³ und der Formulararbeitsvertrag auf. Hierbei handelt es sich jedoch gerade um diejenigen rechtlichen Gestaltungsmittel, die die Arbeitsbedingungen in der Praxis maßgeblich bestimmen. Dass der einzelne Außenseiter-Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber individualvertraglich eine Gleichstellung erreichen wird, ist nicht zu erwarten und dürfte eher die Ausnahme darstellen. Jedenfalls genügt für die Annahme eines strukturellen Drucks, dass die Spannenklausel einen großen Teil der bestehenden Gestaltungsmittel zur Gleichstellung (Gesamtzusage, betriebliche Übung und
Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945, 948 f.; Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1173 f.; Bauer/Arnold, NZA 2005, S. 1209, 1211; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 112 f.; Franzen, RdA 2006, S. 1, 5 f.; Jacobs, FS Bauer, S. 479, 490. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 113. Däubler TVG/Heuschmid, TVG, § 1 Rn. 998; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 159; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. Schaub/Ahrendt, ArbR-Hdb., § 111 Rn. 1. BAG, 13.05. 2015 (10 AZR 266/14), NZA 2015, S. 992 Rn. 11; BAG, 14.09. 2011 (10 AZR 526/10), NZA 2012, S. 81, 82 Rn. 13; ErfK/Preis, BGB, § 611a Rn. 220.
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Formulararbeitsvertrag) unbrauchbar macht. Indem das BAG in seiner Entscheidung vom 23. November 2011 den Prüfungsmaßstab der Koalitionsfreiheit nicht heranzieht, setzt es seine zuvor begründete Argumentationsweise eines strukturellen Drucks nicht konsequent fort. Die Tarifausschlussklausel geht in ihrer Wirkungsweise sogar noch weiter als die Spannenklausel.Während die Spannenklausel lediglich die Gleichstellung der Außenseiter mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern verhindert, versucht die Tarifausschlussklausel (schuldrechtlich) jedwede Besserstellung zu unterbinden. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Betrachtungen ist die Tarifausschlussklausel strukturell so beschaffen, dass von ihr grundsätzlich ein rechtfertigungsbedürftiger Druck ausgeht.¹¹⁴ Auch wenn die Tarifausschlussklausel allenfalls schuldrechtlich dem Arbeitgeber die Besserstellung von Außenseitern verbietet, genügt bereits ebendieser (faktisch wirkende) Unterbindungsversuch.¹¹⁵ Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber eine bestehende schuldrechtliche Pflicht gegenüber der Gewerkschaft verletzen wird.¹¹⁶
cc) Flankierend: Quantitative Elemente Weist die Erscheinungsform einer Differenzierungsklausel Charakteristika auf, die es den Außenseitern strukturell erschweren eine Gleichstellung mit Außenseitern zu erreichen, ist sie „grundsätzlich“ geeignet, einen rechtfertigungsbedürftigen Beitrittsdruck zu erzeugen. Das Vorliegen eines strukturellen Drucks kann jedoch allenfalls notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für die Annahme eines Eingriffs in die (positive und negative) Koalitionsfreiheit sein. Denn es leuchtet ein, dass von einem – über eine Spannenklausel abgesicherten – Tarifbonus in Höhe von bspw. 10 Euro kein echter Druck zum Gewerkschaftsbeitritt ausgehen kann.¹¹⁷ Für die Grenzziehung zwischen rechtfertigungsfreiem Anreiz und rechtfertigungsbedürftigem Druck müssen daher auch quantitative Elemente Berücksichtigung finden. Als Korrektiv fungiert insofern das jeweilige Ausmaß
Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945, 948 f.; Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1173 f.; vgl. Bauer/ Arnold, NZA 2005, S. 1209, 1211; vgl. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 112 f.; vgl. Däubler TVG/Heuschmid, TVG, § 1 Rn. 1011; Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, S. 399, 403; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 158; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, S. 399, 403; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 158. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 197. Vgl. Däubler, BB 2002, S. 1643, 1647; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 155 ff.; ähnlich auch Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147.
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der Differenzierung. Aber ab welcher Höhe kann von qualifizierten Differenzierungsklauseln ein rechtfertigungsbedürftiger Beitrittsdruck ausgehen, ohne dass die Eingriffsprüfung zu einer „Pfennigrechnung“¹¹⁸ verkommt? Um diese Frage zu beantworten, ist eine ökonomische Betrachtungsweise erforderlich.¹¹⁹ Diejenigen Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag entweder qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung Anwendung findet, sparen gegenüber den Arbeitnehmern, für die der Tarifvertrag kraft Mitgliedschaft nach Maßgabe der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG Geltung entfaltet, den jährlichen Gewerkschaftsbeitrag. Vor dem Hintergrund einer ökonomischen Betrachtungsweise ist der gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer in Höhe des jährlichen Gewerkschaftsbeitrags schlechter gestellt. Bis zur Höhe des durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrags kann daher allenfalls ein rechtfertigungsfreier Anreiz entstehen. Insoweit greift der Rechtsgedanke des Nachteilsausgleichs. Die Arbeitnehmer erhalten erst dann die Möglichkeit, frei über einen Gewerkschaftsbeitritt zu entscheiden, wenn die mit einer Mitgliedschaft verbundenen Nachteile (insbesondere der Gewerkschaftsbeitrag) gegenüber nicht organisierten Arbeitnehmern ausgeglichen werden.¹²⁰ Ein an sich rechtfertigungsbedürftiger Beitrittsdruck geht demnach erst von tariflichen Sonderzahlungen aus, die über den jährlichen Gewerkschaftsbeitrag hinaus gehen.¹²¹ Erst dann werden die Außenseiter vor dem Hintergrund einer ökonomischen Betrachtung schlechter gestellt. Mit dem Abstellen auf den durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrag besteht für die Ermittlung eines rechtfertigungsbedürftigen Drucks insoweit ein praktikabler Maßstab. Nicht von vornherein ausgeschlossen ist damit aber auch die Zulässigkeit einer qualifizierten Differenzierungsklausel in Höhe des „doppelten“ jährlichen Gewerkschaftsbeitrags.¹²² Ob eine qualifizierte Differenzie-
Grundlegend zu diesem Vorwurf: Mayer-Maly, BB 1966, S. 1067, 1070; ebenfalls kritisch zur Berücksichtigung quantitativer Elemente Bauer/Arnold, NZA 2009, S. 1169, 1173; vgl. Bauer/Arnold, NZA 2005, S. 1209, 1211; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 108. Sonstige Leistungen der Gewerkschaften (Prozessvertretung, Rechtsberatung, Streikunterstützung) dürften eine eher untergeordnete Rolle spielen; so auch Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 170; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 155; etwas differenzierender Kocher, NZA 2009, S. 119, 121; vgl. auch BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), NJW 1971, S. 2301 f. Greiner, FS Willemsen, S. 159, 160; Greiner, ZTR 2018, S. 628 f.; vgl. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 154 ff. Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147, 149; siehe auch bereits Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 64; vgl. Kocher, NZA 2009, S. 119, 121; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 156; vgl. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. So insbesondere Däubler, BB 2002, S. 1643, 1647.
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rungsklausel in dieser Höhe zulässig ist, ist vielmehr anhand einschlägiger Rechtfertigungsgesichtspunkte zu beurteilen.
dd) Rechtfertigungsgesichtspunkte Das Vorliegen eines „Drucks“ führt noch nicht zur Verfassungswidrigkeit einer Differenzierungsklausel, sondern macht sie nur rechtfertigungsbedürftig. Die Frage der Rechtfertigung eines verfassungsrechtlichen Eingriffs hat das BAG in seiner Rechtsprechung bislang nicht hinreichend berücksichtigt.¹²³ Unter diesem Gesichtspunkt muss sich das BAG einer besonders heftigen Kritik ausgesetzt sehen: Es hat in seiner Rechtsprechungshistorie einen verfassungsrechtlichen Eingriff stets mit einer Grundrechtsverletzung gleichgesetzt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung in Gestalt der Differenzierungsklausel immer auch selbst Grundrechtsausübung ist. Seitdem das BVerfG die Kernbereichslehre aufgegeben hat,¹²⁴ steht die Mitgliederwerbung unter dem verfassungsrechtlichen Schutz der kollektiven Koalitionsfreiheit in Form der Betätigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG.¹²⁵ Nach der etablierten Dogmatik des Verfassungsrechts zwingt diese Grundrechtskollision das BAG dazu, einen schonenden Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz herzustellen, damit beide Grundrechte zu einer maximalen Entfaltung gelangen können.¹²⁶ Das hat das BAG in seiner Rechtsprechungshistorie zu Differenzierungsklauseln bislang versäumt. Stattdessen folgerte es aus einem verfassungsrechtlichen Eingriff pauschal auch die Verfassungswidrigkeit der jeweils in Rede stehenden Differenzierungsklausel. Die Verfassungsmäßigkeit einer Differenzierungsklausel kann allerdings nicht generalisierend beurteilt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Einzelfallbewertung, die sowohl die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter als auch die kollektive Koalitionsfreiheit der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft berücksichtigt. Dabei kommt dem Ausmaß der Differenzierung (die Höhe der tariflichen Sonderzahlung) eine besondere Bedeutung zu. Je höher das Ausmaß der Differenzierung, desto größer sind die Hürden für die Rechtfertigung eines verfassungsrechtlichen Eingriffs. Letztlich muss die Rechtsprechung berücksichtigen, dass die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung in Gestalt der Differenzierungsklausel auch zum Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie
So auch die Einschätzung von Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 47. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778; BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 75, 76; vgl. BAG, 11.11.1968 (1 AZR 16/68), BAGE 21, S. 201. So im Ergebnis auch Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 86.
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beiträgt. Insofern könnte auch die Tarifautonomie im engeren Sinne in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension¹²⁷ – als verfassungsrechtliche Institutsgarantie – Rechtfertigungspotential entfalten. Dabei gilt es das jeweilige Ausmaß der Differenzierung mit dem branchenspezifischen Organisationsgrad in der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft abzuwägen. Prima facie entsteht durch einen solchen Abwägungsansatz zwar eine enorme Rechtsunsicherheit. Denn ab welchem Organisationsgrad kann eine Differenzierung in der doppelten Höhe des durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrags gerechtfertigt sein? Diese Frage lässt sich zunächst nicht eindeutig beantworten. Allerdings ließe sich in diesem Zusammenhang seitens der Rechtsprechung eine Kasuistik entwickeln, die die für die Praxis notwendige Orientierung stiftet. Erst eine solche einzelfallbezogene Abwägung würde hinreichend berücksichtigen, dass auch die Mitgliederwerbung in Gestalt der Differenzierungsklausel einen verfassungsrechtlichen Schutz genießt.
b) Zum Prüfungsmaßstab einer negativen Tarifvertragsfreiheit Bislang ist die Rechtsprechung zwar nicht geneigt, den Gewährleistungsgehalt der negativen Koalitionsfreiheit hin zu einer negativen Tarifvertragsfreiheit zu erweitern.¹²⁸ Auf europäischer Ebene hat der EuGH gleichwohl andere Signale gesendet.¹²⁹ Selbst wenn man jedoch die Existenz der negativen Tarifvertragsfreiheit annimmt,¹³⁰ stellt diese allerdings keine zu berücksichtigende verfassungsrechtliche Wertung für Differenzierungsklauseln dar. Sie schützt den Außenseiter vor fremdbestimmter tariflicher Regulierung seines Arbeitsverhältnisses.¹³¹ Die einfache Differenzierungsklausel regelt lediglich die Arbeitsverhältnisse der mitgliedschaftlich organisierten Arbeitnehmer nach Maßgabe der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG. Außenseiter-Arbeitsverhältnisse werden von ihr nicht normativ erfasst. Aber auch qualifizierte Differenzierungsklauseln begründen keinen Eingriff in die negative Tarifvertragsfreiheit der Außenseiter. Sie erfassen die Außenseiter-Arbeitsverhältnisse allenfalls faktisch, aber nicht nor-
Dazu Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141 ff.; s.u. Kapitel 5, § 15.IV.2.b). BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, 42, 44 Rn. 68; BVerfG, 29.12. 2004 (1 BvR 2582/03; 1 BvR 2283/03; 1 BvR 2504/03), NZA 2005, 153, 155; BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, 1225. Vgl. EuGH, 18.07. 2013 (C-426/11), NZA 2013, S. 835, 836 Rn. 31 ff.; EuGH, 09.03. 2006 (C-499/ 04), NZA 2006, S. 376, 378 Rn. 34; siehe hierzu Hartmann, NZA 2015, S. 203, 212 ff. So insbesondere Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, passim; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 18. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 17 f.
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mativ.¹³² Die negative Tarifvertragsfreiheit kann aber nur vor einer fremdbestimmtnormativen Regulierung der Außenseiter-Arbeitsverhältnisse schützen. Die mit qualifizierten Differenzierungsklauseln verbundene faktische Schlechterstellung kann damit zwar einen rechtfertigungsbedürftigen Druck im Rahmen der negativen Koalitionsfreiheit begründen, einen Eingriff in die negative Tarifvertragsfreiheit – sofern man eine solche anerkennen würde – geht damit jedoch nicht einher.
c) Zum Prüfungsmaßstab der Arbeitsvertragsfreiheit In seiner Entscheidung vom 23. März 2011 hat das BAG darüber hinaus richtigerweise den Maßstab der Arbeitsvertragsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG herangezogen.¹³³ Dabei ist sowohl die Arbeitsvertragsfreiheit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer als auch die des Arbeitgebers einschlägig. In der Arbeitsvertragsfreiheit findet die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien ihre Manifestation. Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet dabei die freie Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und die Selbstbestimmung der Arbeitsbedingungen durch die Arbeitsvertragsparteien.¹³⁴ Zwar hält insbesondere Gamillscheg richtigerweise fest, dass es keinen Anspruch auf einen Vertrag mit einem bestimmten Inhalt gibt.¹³⁵ Das bedeutet gleichwohl nicht, dass die Arbeitsvertragsparteien jedwede Beeinträchtigung ihrer freien Gestaltung des Arbeitsverhältnisses hinnehmen müssen. Die Arbeitsvertragsfreiheit schützt die Arbeitsvertragsparteien vor jeder finalen Beeinträchtigung ihrer privatautonomen Gestaltungsmöglichkeiten und -chancen.¹³⁶ Einfache Differenzierungsklauseln verkürzen die privatautonomen Gestaltungsmöglichkeiten jedoch nicht.¹³⁷ Sie betreffen nicht die Rechtssphäre der Außenseiter-Arbeitsverhältnisse, sondern regeln lediglich die Arbeitsverhältnisse derjenigen Arbeitnehmer, die Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind. Die einfache Differenzierungsklausel verhindert lediglich die
Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 11.I.4.a) bb). BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 924 Rn. 43 ff.; siehe auch BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44 f. Rn. 78; BVerfG, 23.11. 2006 (1 BvR 1909/06), NZA 2007, S. 85, 86; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 195; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 117; a.A.: Hueck, Tarifausschlußklausel und verwandte Klauseln im Tarifvertragsrecht, S. 41; differenzierend Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 204 ff. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44 f.; BAG, 23.11. 2006 (1 BvR 1909/06), NZA 2007, S. 85, 86 f. Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 148. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 118; Franzen, RdA 2006, 1, 5 f.; Siehe vor allem Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 71; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 197; vgl. im Übrigen Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 120.
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Gleichstellung qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme.¹³⁸ Außenseiter können die Gleichstellung jedoch durch jede andere Form der individualvertraglichen Vereinbarung erreichen. Dagegen zielen Spannenklauseln unmittelbar darauf ab, die Gleichstellung der Außenseiter zu verhindern. Durch den „Spanneneffekt“ wird es den Arbeitsvertragsparteien (nahezu) unmöglich gemacht, die Gleichstellung der Außenseiter mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zu erreichen.¹³⁹ Insofern konstatiert das BAG eine „rechtlich-logische Unmöglichkeit“.¹⁴⁰ Zwar verweist Waltermann zutreffend darauf, dass die Spannenklausel nur dann ihre Wirkung entfaltet, wenn die Gleichstellung durch eine Regelung forciert wird, die einen kollektiven Bezug (Formulararbeitsvertrag und Gesamtzusage) aufweist.¹⁴¹ Eine individualvertragliche Gleichstellung mit Regelungen ohne kollektiven Bezug ist daher gleichwohl möglich. Insofern ist die Gleichstellung zwar nicht „gänzlich“ „rechtlich-logisch unmöglich“. Es kann aber nicht ohne weiteres angenommen werden, dass es dem Außenseiter gelingen wird, mittels einer individualvertraglichen Regelung ohne kollektiven Bezug die Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu erreichen. Die Gleichstellung ist damit zwar nicht rechtlich unmöglich, aber tatsächlich erschwert. Allein darauf kommt es an. Für einen Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit genügt es bereits, dass die Gestaltungsmöglichkeiten und -chancen „tatsächlich“ verkürzt werden.¹⁴² Sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Außenseiter wird die Gleichstellung der Außenseiter mit den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern durch die Spannenklausel erschwert. Nicht anders verhält es sich mit Tarifausschlussklauseln. Auch sie verkürzen die Gestaltungsmöglichkeiten und -chancen der Arbeitsvertragsparteien.¹⁴³ Sie verhindern zwar lediglich schuldrechtlich die Gleichstellung der Außenseiter. Insofern ist zwar eine entsprechende individualvertragliche Gleichstellungsabrede weiterhin möglich. Allerdings kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber seine schuldrechtliche Verpflichtung aus dem Tarifvertrag gegenüber der Gewerkschaft verletzen wird.¹⁴⁴
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1031 Rn. 26 ff. Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 423. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38. Siehe vor allem Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 54 ff., 77; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 159, 199. Franzen, RdA 2006, 1, 5 f.; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 423 ff.; vgl. auch Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 118. Franzen, RdA 2006, 1, 5 f; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 423; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 197; Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 122. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 197.
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Qualifizierte Differenzierungsklauseln begründen daher grundsätzlich einen Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit. Dabei kommt es – anders als beim Prüfungsmaßstab der negativen Koalitionsfreiheit – nicht auf das Ausmaß der Differenzierung an. Insoweit ist der Entscheidung des BAG von 23. März 2011 weitestgehend zuzustimmen. Ein verfassungsrechtlicher Eingriff führt jedoch noch nicht gleichzeitig auch zur Verletzung der Arbeitsvertragsfreiheit. Das BAG hat allerdings auch in seiner Entscheidung vom 23. März 2011 keinerlei Erwägungen zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Arbeitsvertragsfreiheit angestellt. Auch mit Blick auf die Arbeitsvertragsfreiheit hängt die rechtliche Zulässigkeit von qualifizierten Differenzierungsklauseln von einer einzelfallbezogenen Abwägung ab. Insoweit gilt das bereits zur negativen Koalitionsfreiheit Gesagte.¹⁴⁵
d) Zum Prüfungsmaßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes Zur Zulässigkeit von Stichtagsklauseln hat das BAG in seiner Entscheidung vom 15. April 2015 hauptsächlich den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen.¹⁴⁶ Dabei hat es die vom BVerfG entwickelte Unterscheidung zwischen personen- und verhaltensbezogener Ungleichbehandlung vorgenommen. Während das BVerfG bei verhaltensbezogenen Ungleichbehandlungen lediglich eine Willkürprüfung vornimmt, unterzieht es die personenbezogene Ungleichbehandlung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.¹⁴⁷ Zwar hat das BAG in diesem Zusammenhang richtigerweise erkannt, dass die gegenständliche Stichtagsklausel eine personenbezogene Ungleichbehandlung darstellt.¹⁴⁸ Denn der Arbeitnehmer, der nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft ist, kann kraft eigenen Verhaltens nicht mehr in den Genuss der tariflichen Sonderzahlung kommen.¹⁴⁹ Gleichwohl unterzieht das BAG die Stichtagsklausel (als personenbezogene Ungleichbehandlung) nicht der nach der verfassungsrechtlichen Dogmatik gebotenen strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Vielmehr stellt das BAG im Wesentlichen allein darauf ab, dass auch „koalitionsspezifische Interessen“ einen sachlichen Grund darstellen, der eine solche Ungleichbehandlung rechtfertige.¹⁵⁰ Das Abstellen auf „koalitionsspezifische In-
Kapitel 4, § 11.I.4.a) dd). BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1391 Rn. 25 ff. Vgl. BVerfG, 20.04. 2004 (1 BvR 1748/99 u. a.), BVerfGE 110, S. 274, 291; BVerfG, 30.05.1990 (1 BvL 2/83), BVerfGE 82, S. 126, 146. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1392 Rn. 30. Vgl. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 93; a.A.: Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 206 f. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1392 Rn. 32, 41.
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teressen“ genügt aber selbst dem niedrigeren Prüfungsmaßstab des Willkürverbots nicht. Sie taugen nicht als „Allheilmittel“ für jedwede Form der Ungleichbehandlung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern. Der Begriff der „koalitionsspezifischen Interessen“ ist eine Pauschalisierung, die der Diskriminierung von Gewerkschaftsmitgliedern Tür und Tor öffnet. Während sich „typische“ Differenzierungsklauseln darauf stützen lassen, dass die Ungleichbehandlung von Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern ohnehin bereits im Gesetz angelegt ist,¹⁵¹ steht die Stichtagsklausel (als „atypische“ Differenzierungsklausel) geradezu im Widerspruch zu den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG.¹⁵² Mit „typischen“ Differenzierungsklauseln werden Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt. Hiervon kann bei Stichtagsklauseln keine Rede sein. Ganz im Gegenteil bilden sie ein Gegenargument zum Gewerkschaftsbeitritt. Insoweit leisten Stichtagsklauseln auch keinen Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie. Der Arbeitnehmer, der nach dem jeweiligen Stichtag in die Gewerkschaft eintritt, wird – entgegen der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG – um den wesentlichen Ertrag seiner Gewerkschaftsmitgliedschaft gebracht. Die Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern anhand eines Stichtags erscheint vor diesem Hintergrund geradezu willkürlich.¹⁵³ So ist bspw. nicht einzusehen, warum Arbeitnehmer mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft von fünf Jahren in den Genuss einer tariflichen Sonderzahlungen kommen, während Arbeitnehmer mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft von vier Jahren leer ausgehen.
e) Rechtspolitische Folgerungen In rechtspolitischer Hinsicht führt die Rechtsprechung des BAG damit zu einem Dilemma: Einerseits sind Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen unerlässlich, um die faktisch durchbrochene Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit – jedenfalls partiell – wiederherzustellen. Denn nur durch die mit der Differenzierungsklausel verbundenen Mitgliedschaftsanreize kann davon ausgegangen werden, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad wieder ansteigen wird. Hiervon hängt die Stärkung der Tarifautonomie entscheidend ab. Andererseits sind nach der Rechtsprechung des BAG lediglich einfache Differenzierungsklauseln und Stichtagsklauseln zulässig. Die Wirkung der einfachen Diffe-
Kocher, NZA 2009, S. 119, 120; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 208; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 77 f. Franzen, RdA 2008, S. 304, 307; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 213; vgl. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 102. Franzen, RdA 2008, S. 304, 307; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2144; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 213.
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renzierungsklausel kann jedoch durch entsprechende individualvertragliche Abreden (Gesamtzusage, Formulararbeitsvertrag) ohne weiteres konterkariert werden. Bei Stichtagsklauseln ist zudem fraglich, ob sie einen Beitrag zu Stabilisierung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads leisten können. Eine tarifliche Sonderzahlung nur für diejenigen Gewerkschaftsmitglieder, die bereits zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt eine Mitgliedschaft nachweisen können, schreckt Arbeitnehmer vor einem Gewerkschaftsbeitritt tendenziell ab. Allein die Spannenklausel entfaltet eine Wirkung, die geeignet ist, die gesetzlich angelegte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit effektiv sicherstellen. Sie ist nach der Rechtsprechung des BAG allerdings nach wie vor unzulässig. Dass das BAG keine Rechtfertigungserwägungen anstellt, wiegt vor dem Hintergrund der Bedeutung der Spannenklausel für eine funktionsfähige Tarifautonomie schwer. In diesem Zusammenhang ist daher der Gesetzgeber gefragt, Abhilfe zu schaffen. Er muss Rahmenbedingungen schaffen, die die Gewerkschaften in die Lage versetzen, über anreizsetzende Maßnahmen den Organisationsgrad wieder zu stabilisieren.¹⁵⁴
II. Einordnung und Bewertung der OT-Mitgliedschaft Auf der anderen Seite ergreifen auch die Arbeitgeberverbände Maßnahmen, um den bestehenden Mitgliedschaftsdefiziten entgegenzuwirken. Anders als die Gewerkschaften setzen die Arbeitgeberverbände dabei nicht auf anreizsetzende Instrumente, die einen „Druck“ zum Verbandsbeitritt erzeugen. Stattdessen bieten Arbeitgeberverbände eine alternative Mitgliedschaftsform an: die „OT-Mitgliedschaft“.¹⁵⁵ Damit erhoffen sich die Arbeitgeberverbände auch in Zukunft für Arbeitgeber attraktiv zu sein. Die OT-Mitgliedschaft bietet Arbeitgebern die Möglichkeit sich die Serviceleistungen des Arbeitgeberverbands zu sichern, ohne an die vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträge gebunden zu sein. Insoweit klingt die OT-Mitgliedschaft als tarifpolitische Maßnahme zur Akquirierung von Mitgliedern zunächst vielversprechend. Allerdings ist die Begründung der Tarifbindung gerade das „wertvolle“ an der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers im Sinne einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Sie ist Voraussetzung für die Entstehung von Flächentarifverträgen, die den Funktionen der Tarifautonomie in der Regel weitaus besser gerecht werden als Firmentarifverträ-
Wie solche „Rahmenbedingungen“ aussehen könnten, wird an späterer Stelle aufgegriffen und vorschlagsweise präzisiert. Dazu vor allem Kapitel 5, § 14. Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 5.V.
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ge.¹⁵⁶ In diesem Spannungsfeld muss das tarifpolitische Instrument der OT-Mitgliedschaft im Folgenden betrachtet werden.
1. Rechtliche Konstruktion und Abgrenzung Zur verbandspolitischen Verwirklichung der OT-Mitgliedschaft sind zwei verschiedene rechtliche Konstruktionen denkbar. Zum einen kann die OT-Mitgliedschaft als „Aufteilungsmodell“ ausgestaltet werden.¹⁵⁷ Hierbei werden zwei rechtlich eigenständige Arbeitgeberverbände gebildet, die jeweils unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen. Der OT-Arbeitgeberverband übernimmt die nicht tarifbezogenen Angelegenheiten. Hierzu zählen insbesondere Rechtsberatung und Prozessvertretung. Der andere Arbeitgeberverband übernimmt hingegen die tarifrechtlichen Aufgaben. Er ist legitimiert, Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften zu führen und Tarifverträge abzuschließen, an die seine Mitglieder gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden sind. Arbeitgeber können also selbst entscheiden, ob sie in beide Arbeitgeberverbände eintreten und damit auch die Legitimation zum Abschluss von Tarifverträgen erteilen oder ob sie lediglich Mitglied des OTArbeitgeberverbands werden. Zum anderen kann die OT-Mitgliedschaft auch als „Stufenmodell“ realisiert werden.¹⁵⁸ Danach bietet ein und derselbe Arbeitgeberverband satzungsmäßig zwei verschiedene Arten von Mitgliedschaften an: Vollmitgliedschaft und OT-Mitgliedschaft. Bei der Vollmitgliedschaft erteilt der Arbeitgeber die Legitimation zum Abschluss von Tarifverträgen, an die er gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist. Wählt der Arbeitgeber hingegen die OT-Mitgliedschaft, ist der Arbeitgeberverband nicht autorisiert, Tarifverträge abzuschließen. Das OTMitglied ist demzufolge auch nicht gem. § 3 Abs. 1 TVG an die vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträge gebunden. Insoweit besteht nach dem Stufenmodell ein satzungsmäßiges Wahlrecht des Arbeitgebers. Der Fokus der nachfolgenden Überlegungen liegt vor allem auf der – in der Praxis häufig anzutreffenden¹⁵⁹ – Ausgestaltung der OT-Mitgliedschaft nach dem Stufenmodell.
Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 8.II.2.b) bb). Hierzu ausführlich Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 66 ff.; teilweise wird diese rechtliche Konstruktion auch als „Zwei-Verbände-Modell“ bezeichnet, vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 60. Hierzu ausführlich Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 111 ff. Vgl. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 467.
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Abzugrenzen ist die OT-Mitgliedschaft von der sogenannten Gast- bzw. Fördermitgliedschaft im Arbeitgeberverband.¹⁶⁰ Zwar zielen beide Formen der mitgliedschaftlichen Organisation darauf ab, sich einer Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG zu entziehen. Gastmitglieder werden in den meisten Satzungen der Arbeitgeberverbände allerdings – anders als OT-Mitglieder – von jeder verbandspolitischen Gestaltungsmöglichkeit von vornherein ausgeschlossen. Insbesondere können sie selbst keine Verbandsfunktionen wahrnehmen.¹⁶¹ Erst recht gewähren die Satzungen der Arbeitgeberverbände den Gastmitgliedern keine Stimmrechte. In der Regel wird den Gastmitgliedern nicht einmal ein Recht auf juristische Beratung und gerichtliche Vertretung durch den Arbeitgeberverband zugestanden. Gerade diese beiden Aspekte sind jedoch charakteristisch für das Organisationskonzept der OT-Mitgliedschaft. Daher wird unter dem Gesichtspunkt einer funktionsfähigen Tarifautonomie ausschließlich die Organisationsform der OTMitgliedschaft in den Fokus genommen.
2. Die OT-Mitgliedschaft im System der Tarifautonomie Die Möglichkeit einem Arbeitgeberverband als OT-Mitglied beizutreten, ist grundsätzlich die logische Konsequenz aus der Freiwilligkeit des die Tarifnormgeltung legitimierenden Beitrittsakts.¹⁶² Jeder Arbeitgeber bestimmt insoweit selbst, ob er sich den Tarifnormen des vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifvertrags unterwirft. Die Entscheidung des Arbeitgebers sich den vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträgen zu unterwerfen, ist Ausfluss der positiven Koalitionsfreiheit und korrespondiert mit dem Rechtsgedanken der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Umgekehrt ist allerdings auch das Absehen von einer tarifrechtlich relevanten Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband von der negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers verfassungsrechtlich gedeckt.¹⁶³ Auch diese Entscheidung des Arbeitgebers fußt auf einem privatautonom gefassten Entschluss. Hier fehlt es aber an einer entsprechenden Autorisierung des Arbeitgeberverbands, für den Arbeitgeber verbindli-
Siehe zu dieser Abgrenzungsfrage eingehend Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 153. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 467. Siehe hierzu ausführlich Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 468 ff.; vgl. auch Löwisch/ Rieble, TVG, § 3 Rn. 46, 58; siehe kritisch hierzu Hensche, NZA 2009, S. 815, 818. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), BVerfGE 31, S. 297, 302; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 68.
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che Tarifverträge abzuschließen.¹⁶⁴ Die OT-Mitgliedschaft bildet diesen umgekehrten privatautonomen Entschluss des Arbeitgebers, nicht an Tarifverträge gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden zu sein, adäquat ab. Die OT-Mitgliedschaft ist daher von der negativen Koalitionsfreiheit geschützt und insofern ebenfalls mit dem Verständnis von Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie kompatibel. Eine solche Betrachtungsweise lässt sich ansatzweise auch der Rechtsprechung des BAG entnehmen, die im Folgenden näher betrachtet wird.¹⁶⁵
3. Die OT-Mitgliedschaft im Spiegel der Rechtsprechung des BAG Die OT-Mitgliedschaft muss vor dem Hintergrund der rechtspolitischen Programmatik der „Stärkung der Tarifautonomie“ einer eingehenden Bewertung unterzogen werden. Allerdings hängt die tatsächliche Wirkungskraft der OT-Mitgliedschaft im Tarifsystem maßgeblich davon ab, inwieweit dieses Mitgliedschaftsmodell überhaupt zulässig ist. Vor diesem Hintergrund soll die Rechtsprechung des BAG eine analytische Aufarbeitung erfahren, ehe zur OTMitgliedschaft unter dogmatischen und rechtspolitischen Gesichtpunkten Stellung bezogen wird.
a) Ausgangspunkt: Die Entscheidung des BAG vom 23. Februar 2005 Den Ausgangspunkt der Rechtsprechung zur OT-Mitgliedschaft bildet die Entscheidung des BAG vom 23. Februar 2005.¹⁶⁶ Hier hatte das BAG erstmals über die Wirksamkeit eines „Wechsels“ von einer Vollmitgliedschaft in eine OT-Mitgliedschaft zu entscheiden. Das Gericht bestätigte die OT-Mitgliedschaft als grundsätzlich zulässige Organisationsform. Eine umfassende Begründung wurde allerdings nicht dargeboten, da das BAG die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft als eine nicht entscheidungserhebliche Frage der Tarifzuständigkeit einordnete.¹⁶⁷ Hierzu führte das BAG lediglich aus: „Für die Annahme einer generellen Unwirksamkeit einer OT-Mitgliedschaft unabhängig von den konkreten Regelungen der Satzung zu der organisatorischen Struktur der betroffenen Verbandsbereiche und den Rechten der OT-Mitglieder, insbesondere im Hinblick auf den Abschluss
Da der Arbeitgeber gem. § 2 Abs. 1 TVG selbst auch Tarifvertragspartei sein kann, kann er – anders als der Arbeitnehmer – auch unabhängig von einer Verbandsmitgliedschaft einen (Firmen‐)Tarifvertrag abschließen. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1230 Rn. 55; vgl. BAG, 26.08. 2009 (4 AZR 294/08), NZA-RR 2010, S. 305, 307 Rn. 30. BAG, 23.02. 2005 (4 AZR 186/04), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42. BAG, 23.02. 2005 (4 AZR 186/04), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42, I.2.b).
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von Tarifverträgen, mit der weiteren Konsequenz eines Verbleibens des Mitglieds im Zustand der Tarifgebundenheit trotz entgegenstehender Erklärung, gibt es danach keine rechtliche Grundlage.“¹⁶⁸ Eine tiefergehende rechtliche Begründung blieb das BAG jedoch schuldig. Insbesondere setzte es sich nicht eingehend mit der verbands- und tarifrechtlichen Kritik an der OT-Mitgliedschaft auseinander.¹⁶⁹
b) Bestätigung und Fortführung: Die Entscheidung des BAG vom 18. Juli 2006 Das änderte sich mit der Entscheidung des BAG vom 18. Juli 2006.¹⁷⁰ Hier wurde die grundsätzliche Anerkennung der OT-Mitgliedschaft bestätigt und sogar eine rechtliche Begründung nachgeliefert. Zwar stellte das BAG zunächst klar, dass die Beschränkung der personellen Tarifzuständigkeit auf nur einen Teil der Verbandsmitglieder nicht zulässig ist.¹⁷¹ Die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft behandelte es jedoch nicht als eine Frage der Tarifzuständigkeit. Während das BAG in seiner Entscheidung vom 23. Februar 2005 noch davon ausging, dass die Zulässigkeit einer OT-Mitgliedschaft „eine Frage der Tarifzuständigkeit“ sei,¹⁷² verortet das BAG diese Frage nunmehr beim Merkmal der Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1 TVG.¹⁷³ Damit bestätigte das BAG zwar im Ergebnis, dass die OT-Mitgliedschaft zulässig ist und vom Arbeitgeberverband satzungsmäßig ausgestaltet werden kann.¹⁷⁴ Es stützte sich hierbei jedoch auf eine rechtliche Begründung, die auf einem anderen dogmatischen Fundament steht. Die satzungsmäßige Option einer OT-Mitgliedschaft sei zum einen Ausfluss der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Verbands- und Satzungsautonomie des Arbeitgeberverbands (als Bestandteil der kollektiven Betätigungsfreiheit).¹⁷⁵ Zum anderen hänge sie von einem privatautonomen Beitrittsakt des Arbeitgebers ab, der seine Verankerung in der individuellen Koalitionsfreiheit findet.¹⁷⁶ Überdies stehe die OT-Mitgliedschaft nicht im Widerspruch zu tarif- und verfassungsrechtlichen Vorgaben.¹⁷⁷ Sie verstoße nicht
BAG, 23.02. 2005 (4 AZR 186/04), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42, I.2.b). Siehe kritisch zur Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft: Däubler, NZA 1996, S. 225, 230 ff.; Däubler, ZTR 1994, S. 448; Deinert, RdA 2007, S. 83; Schaub, BB 1994, S. 2005, 2006 f. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1227 Rn. 31 ff. BAG, 23.02. 2005 (4 AZR 186/04), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42, I.2.b). BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1228 Rn. 33 f. Damit bestätigte das BAG auch das Stufenmodell als zulässige (satzungsmäßige) Ausgestaltung der OT-Mitgliedschaft. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1230 Rn. 51, 55. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1230 Rn. 55. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 56 ff.
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gegen § 3 Abs. 1 TVG, da die Tarifgebundenheit lediglich an „Mitgliedschaft“ geknüpft sei. Das hindere den Arbeitgeberverband jedoch nicht daran, verschiedene Mitgliedschaftsformen satzungsmäßig auszugestalten. Überdies führe die OTMitgliedschaft auch nicht zu einer Störung der verfassungsrechtlich gebotenen Verhandlungsparität zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband: „Von einer strukturellen Störung der Verhandlungsparität durch jede Form der OT-Mitgliedschaft kann jedoch nicht generell ausgegangen werden.“¹⁷⁸ Letztlich entstehe durch die Einführung einer OT-Mitgliedschaft „keine die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gefährdende Intransparenz.“¹⁷⁹ Das BAG sah sich dagegen in dieser Entscheidung nicht veranlasst, die Frage zu beantworten, „ob Verbände in ihrer Satzung eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung einschränkungslos vorsehen können und ggf. in welchem Umfang die OT-Mitglieder von der tarifpolitischen Willensbildung des Verbandes ausgeschlossen sein müssen und welche Fristen etwa bei einem Statuswechsel zum Schutze der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie einzuhalten sind.“¹⁸⁰
c) „Blitzwechsel“-Rechtsprechung: Die Entscheidung des BAG vom 4. Juni 2008 Zu diesen Fragen musste das BAG erstmals in einer Entscheidung vom 4. Juni 2008 Stellung beziehen.¹⁸¹ Hierbei ging es um Reichweite und Grenzen der OT-Mitgliedschaft im Zusammenhang mit sogenannten „Blitzwechseln“. Die Satzung des Arbeitgeberverbands regelte die Möglichkeit, dass ein Mitglied, ohne Einhaltung einer besonderen Frist, in die OT-Mitgliedschaft wechseln kann („Blitzwechsel“). Zunächst bestätigte das BAG die satzungsmäßige Regelung einer OT-Mitgliedschaft.¹⁸² Der Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie mache es jedoch erforderlich, an die Satzung des Arbeitgeberverbands gewisse Anforderungen zu stellen. Dabei müsse der Satzung ein „Gleichlauf von Verantwortung und Betroffenheit“ zu entnehmen sein.¹⁸³ Das setze voraus, dass zwischen der Gruppe derjenigen Arbeitgeber, die bei einem Tarifabschluss ein Mitentscheidungsrecht haben und derjenigen, welche in der Folge an diesen gebunden sind, im Grund-
BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 59. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 60. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 61. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366; siehe zum Blitzaustritt ohne anschließenden Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft: BAG, 20.02. 2008 (4 AZR 64/07), NZA 2008, S. 946. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1368 Rn. 25 ff. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 37.
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satz eine Kongruenz besteht. Insbesondere müsse die Rechts- und Pflichtenstellung der Vollmitglieder und der OT-Mitglieder in der Satzung strikt voneinander getrennt werden. Das BAG stellte in diesem Zusammenhang klar, dass die satzungsmäßige Ausgestaltung der OT-Mitgliedschaft keinen Einfluss auf das tarifpolitische Geschehen haben dürfen. Es müsse sichergestellt sein, dass OT-Mitglieder nicht in Tarifkommissionen entsendet werden.¹⁸⁴ Überdies stellte das BAG fest, dass auch ohne Einhaltung einer besonderen Frist ein Wechsel in die OTMitgliedschaft grundsätzlich zulässig ist.¹⁸⁵ Allerdings knüpfte das BAG die Möglichkeit eines solchen „Blitzwechsels“ in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen an eine weitere Voraussetzung: Es bedürfe gegenüber der an der Tarifverhandlung beteiligten Gewerkschaft einer Offenlegung des kurzfristigen Wechsels in die OT-Mitgliedschaft.¹⁸⁶ Die Offenlegung müsse zu einem Zeitpunkt stattfinden, in dem die Gewerkschaft auf einen „Blitzwechsel“ noch im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzung effektiv reagieren kann. Zudem hat das BAG vorgegeben, welche Rechtsfolgen ein unwirksamer Wechsel in die OT-Mitgliedschaft mit sich bringt. Ein Wechsel in die OT-Mitgliedschaft, der den aufgeführten Anforderungen nicht genügt, sei grundsätzlich unwirksam. Diese Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie begründe einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, § 134 BGB. Hieraus resultiere die Nichtigkeit des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft (als „Rechtsgeschäft“), sodass der Arbeitgeber als Vollmitglied weiterhin an die vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträge gebunden sei.¹⁸⁷
d) Bestätigung und weitere Ausdifferenzierung der Blitzwechselrechtsprechung Die skizzierten Rechtsprechungslinien des BAG zur OT-Mitgliedschaft wurden in zahlreichen Entscheidungen bestätigt¹⁸⁸ und weiter ausgeformt: So hat das BAG in einer Entscheidung vom 20. Mai 2009 festgehalten, dass die bloß beratende
BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1370 Rn. 38. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1370 Rn. 45 ff. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 68 f. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 72. Impliciter wurde die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft bestätigt: BAG, 18.05. 2011 (4 AZR 457/09), NZA 2011, S. 1378; BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591. Ferner ausdrücklich bestätigt durch: BAG, 16.11. 2016 (4 AZR 697/14), NJOZ 2017, S. 1405; BAG, 21.01. 2015 (4 AZR 797/13), NZA 2015, S. 1521, 1522 Rn. 16 ff.; BAG, 21.11. 2012 (4 AZR 27/11), NZA-RR 2014, S. 545; BAG, 19.06. 2012 (1 AZR 775/10), NZA 2012, S. 1372, 1374 Rn. 14 ff.; BAG, 26.08. 2009 (4 AZR 294/08), NZA-RR 2010, S. 305, 307 Rn. 31; BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 179/08), NZA 2010, S. 102.
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Teilnahme eines Arbeitgebers an den Tagungen eines „sozialpolitischen Beirats“ des Arbeitgeberverbands nicht zu einer Störung der nach Art. 9 Abs. 3 GG gebotenen Verhandlungsparität der Tarifvertragsparteien führt.¹⁸⁹ Schließlich könne es dem Arbeitgeberverband aus tarifrechtlicher Perspektive nicht verwehrt werden, sich sogar von außenstehenden Dritten beraten zu lassen. In einer Entscheidung vom 21. Januar 2015 forderte das BAG überdies, dass die Satzung des Arbeitgeberverbands „eine auch nur mögliche“ Einflussnahme von OT-Mitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen ausschließen muss.¹⁹⁰ Bereits die potentielle Möglichkeit der Einflussnahme führe zu einer Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Auch die Pflicht zur Unterrichtung der Gewerkschaft über einen Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft wurde vom BAG konkretisiert. In einer Entscheidung vom 21. November 2012 begrenzte das BAG die Unterrichtungspflicht in zeitlicher Hinsicht auf die „laufenden Tarifverhandlungen“.¹⁹¹ Die Pflicht zur Unterrichtung der Gewerkschaft über einen Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft setze einen zeitlichen Zusammenhang voraus und erstrecke sich demzufolge nicht auf Tarifverhandlungen, die erst einige Jahre später stattfinden. Auch die wegen unterlassener oder nicht rechtzeitiger Information der Gewerkschaft über den Wechsel in die OT-Mitgliedschaft nach § 3 Abs. 1 TVG fortbestehende Tarifgebundenheit existiere lediglich vorübergehend für denjenigen Tarifvertrag, der Gegenstand der Verhandlungen zur Zeit des Statuswechsels war.
e) Quintessenz Nach der aktuellen Rechtsprechung des BAG ist die OT-Mitgliedschaft grundsätzlich eine zulässige Mitgliedschaftsform im Arbeitgeberverband. Allerdings bedarf es einer wirksamen satzungsmäßigen Grundlage. Die Satzung des Arbeitgeberverbands muss eine hinreichende Trennung der Befugnisse von Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern beinhalten. Dem legt das BAG den Gedanken vom „Gleichlauf der Verantwortung und Betroffenheit“ zugrunde. Ein „Blitzwechsel“ des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen ist überdies nur zulässig, wenn die Gewerkschaft hierüber zu einem Zeitpunkt unterrichtet wird, in dem sie noch im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzung auf den Wechsel in die OTMitgliedschaft effektiv reagieren kann. Das BAG erblickt in dieser Unterrichtungspflicht einen Garanten für die Verhandlungsparität der Tarifvertragsparteien. Teil-
BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 179/08), NZA 2010, S. 102, 104 Rn. 24. BAG, 21.01. 2015 (4 AZR 797/13), NZA 2015, S. 1521, 1523 Rn. 19. BAG, 21.11. 2012 (4 AZR 27/11), NZA-RR 2014, S. 545, 547 Rn. 31.
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weise wurden die vom BAG entwickelten Voraussetzungen für einen wirksamen Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht vom BVerfG abgesegnet.¹⁹² Zwar sei nicht auszuschließen, dass die vom BAG – im Falle eines unwirksames Wechsels in die OT-Mitgliedschaft – angenommene Rechtsfolge einer fortgeltenden Tarifgebundenheit gem. § 3 Abs. 1 TVG mit Grundrechtspositionen des Arbeitgebers in Konflikt trete. Ein Eingriff in Grundrechtspositionen des Arbeitgebers sei jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.¹⁹³ Im Ergebnis kann festgehalten werden: Auch wenn der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist, steht den Arbeitgebern mit der OT-Mitgliedschaft eine alternative Mitgliedschaftsform zur Verfügung. Den Arbeitgeberverbänden bietet die OT-Mitgliedschaft eine Möglichkeit, ihren Mitgliederbestand zu konsolidieren.
4. Stellungnahme Die skizzierte Rechtsprechung des BAG zur OT-Mitgliedschaft ist auf den Prüfstand zu stellen. Zwar ist die satzungsmäßige Ausgestaltung von Mitgliedschaftsformen verfassungsrechtlich durch die Verbands- bzw. Satzungsautonomie sowie durch die kollektive Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbands geschützt.¹⁹⁴ Das hat das BAG auch im Kontext der OT-Mitgliedschaft richtig erkannt.¹⁹⁵ Gleichwohl ist die Rechtsprechung des BAG dahingehend zu bewerten, ob es etwaige gesetzliche Grenzen der OT-Mitgliedschaft hinreichend berücksichtigt hat. Stehen der OT-Mitgliedschaft nämlich erhebliche rechtliche Bedenken entgegen, so ist schon unter dogmatischen Gesichtspunkten fraglich, ob es sich hierbei um ein zukunftsfähiges Mitgliedschaftsmodell zur Erhöhung des Organisationsgrades handelt. Dabei müssen vor allem die einfach- und verfassungsrechtlichen Vorgaben ins Blickfeld genommen werden.
a) Einfachrechtliche Grenzen Zunächst können sich aus dem einfachen Gesetzesrecht Grenzen für die satzungsmäßige Ausgestaltung der OT-Mitgliedschaft ergeben. Die OT-Mitgliedschaft als alternative Organisationsform im Arbeitgeberverband muss vor allem den tarifrechtlichen Vorgaben des TVG genügen. Es muss darüber hinaus aber auch BVerfG, 01.12. 2010 (1 BvR 2593/09), NZA 2011, S. 60. BVerfG, 01.12. 2010 (1 BvR 2593/09), NZA 2011, S. 60, 61 Rn. 18 ff. BVerfG, 01.03.1979 (1 BvR 532/77 u. a.), NJW 1979, S. 699, 710. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1368 Rn. 26; BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/ 05), NZA 2006, S. 1225, 1230 Rn. 51, 55.
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mit vereinsrechtlichen Grundsätzen im Einklang stehen. Beide Rechtsebenen haben in der Rechtsprechung des BAG zur OT-Mitgliedschaft Berücksichtigung gefunden.
aa) Verstoß gegen § 3 Abs. 1 TVG? Auf tarifrechtlicher Ebene rückt vor allem die Regelung in § 3 Abs. 1 TVG in den Fokus, wonach die „Mitglieder“ der Tarifvertragsparteien tarifgebunden sind. Danach gehören Mitgliedschaft und Tarifbindung zusammen. Die OT-Mitgliedschaft ist allerdings eine Organisationsform, die gerade auf die Beseitigung der Akzessorietät von Mitgliedschaft und Tarifbindung gerichtet ist. Insoweit liegt ein Verstoß gegen den in § 3 Abs. 1 TVG verankerten zentralen Tarifrechtsgrundsatz zunächst sehr nahe. In diesem Zusammenhang stellt sich weiterführend aber die Frage, ob § 3 Abs. 1 TVG einen genuin tarifrechtlichen Mitgliedschaftsbegriff intendiert oder ob bereits eine vereinsrechtliche Mitgliedschaft die Tarifbindung zu begründen vermag. Geht man von einem genuin tarifrechtlichen Mitgliedschaftsbegriff aus, führt das gleichzeitig auch zu der Annahme, dass § 3 Abs. 1 TVG gewissermaßen satzungsdispositiv ausgestaltet ist. Dann würde nicht jede vereinsrechtliche Mitgliedschaft genügen, um den Tatbestand des § 3 Abs. 1 TVG zu erfüllen. Vielmehr könnte „Mitgliedschaft“ i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG dann durch die Satzung des Arbeitgeberverbands auf vereinsrechtlicher Ebene abbedungen und im Einzelnen ausgestaltet werden. Dieser Sichtweise hat sich das BAG angeschlossen und einen Verstoß der OT-Mitgliedschaft gegen § 3 Abs. 1 TVG verneint. Es lässt damit nicht jede vereinsrechtliche Mitgliedschaftsform genügen, um den Tatbestand des § 3 Abs. 1 TVG zu begründen. Für diese Annahme liefert das BAG in seinen Entscheidungen aber eine nur sehr wortkarge Begründung. § 3 Abs. 1 TVG schließe eine OT-Mitgliedschaft nicht ausdrücklich aus. Das TVG setze Mitgliedschaft nur als Tatbestand voraus, ohne selbst zu regeln, wer „Mitglied“ ist.¹⁹⁶ § 3 Abs. 1 TVG intendiere daher nicht, die Satzungsautonomie des Arbeitgeberverbands zu beschneiden.¹⁹⁷ Dem lässt sich aber entgegenhalten, dass ein Arbeitgeberverband kein beliebiger privatautonomer Verein ist, sondern eine mit verfassungsrechtlicher Rechtsstellung ausgestatte Koalition i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG. Insofern liegt der Schluss nahe, dass ein Arbeitgeberverband, der sich als Koalition auch auf den sozialen Gegenspieler bezieht, im Lichte der Koalitionsfrei-
BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 27; BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/ 05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 57; vgl. auch jüngst BAG, 26.08. 2009 (4 AZR 294/08), NZA-RR 2010, S. 305, 307 Rn. 32. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 27
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heit nicht ganz frei in seiner Satzungsgestaltung sein kann.¹⁹⁸ Danach ist die Annahme des BAG, § 3 Abs. 1 TVG beschränke nicht die Satzungsautonomie, in seiner dogmatischen Erklärung zu pauschal. Es fehlt an einer hinreichenden Begründung für die Vereinbarkeit der OT-Mitgliedschaft mit § 3 Abs. 1 TVG. Für eine konsistente Begründung der vom BAG postulierten Satzungsdispositivität, muss § 3 Abs. 1 TVG im Lichte eines vorrangig privatautonom-freiheitlichen Tarifsystems ausgelegt werden.¹⁹⁹ Die Normwirkung des Tarifvertrags legitimiert sich durch den privatautonom gefassten Entschluss zum Verbandseintritt, dem ferner auch die Erklärung zugrunde liegt, sich den vom Verband abgeschlossenen Tarifverträgen zu unterwerfen.²⁰⁰ Dieser Legitimationsansatz entspricht der in § 3 Abs. 1 TVG verankerten Verknüpfung von Verbandsmitgliedschaft und Tarifbindung. Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG kann daher nur dann gegeben sein, wenn ein solcher Unterwerfungsakt einschlägig ist. Fehlt es an einem nach außen erkennbaren Unterwerfungswillen, ist der Tatbestand des § 3 Abs. 1 TVG nicht erfüllt, mit der Folge, dass keine Tarifbindung hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund ist auch der Verbandsbeitritt in Form der OT-Mitgliedschaft zu begreifen. Ein Arbeitgeberverband, der in seiner Satzung eine OT-Mitgliedschaft anbietet, verwirklicht das in § 3 Abs. 1 TVG angelegte und für eine tarifbindende Mitgliedschaft charakteristische Merkmal der Freiwilligkeit. Derjenige Arbeitgeber, der einem Arbeitgeberverband als OT-Mitglied beitritt oder in eine OT-Mitgliedschaft wechselt, bringt damit zum Ausdruck, dass er nicht an bestehende und künftige tarifvertragliche Regelungen gebunden sein will. In einem solchen Fall fehlt es an einer für die Legitimation der tariflichen Normsetzung erforderlichen Unterwerfungserklärung. Betrachtet man die OT-Mitgliedschaft in diesem Kontext, entsteht kein Konflikt zu § 3 Abs. 1 TVG.Vielmehr verwirklicht sich gerade die in § 3 Abs. 1 TVG verankerte Wertung eines privatautonom-freiheitlichen Tarifsystems, das plurale Mitgliedschaftsformen grundsätzlich anerkennt.²⁰¹ Damit ist
So der Argumentationsgang von Hensche, NZA 2009, S. 815, 817; vgl. auch Deinert, AuR 2006, S. 217, 221; Wroblewski, NZA 2007, S. 421, 422 f. Vgl. Buchner, NZA 1995, S. 761, 768; Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 469 f. Dazu bereits Kapitel 3, § 7.V.6. Siehe grundlegend zu dieser Argumentation: Buchner, NZA 1995, S. 761, 768; Thüsing/Braun/ Emmert, Tarifrecht, 2. Kapitel Rn. 161; Höpfner, Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 322; Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 156; vgl. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 138 ff., 146; Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn. 28 ff.; Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 469 ff. Eine andere Ansicht wird vor allem von denjenigen vertreten, die die tarifliche Normwirkung nicht auf einen privatautonomen Legitimations- und Unterwerfungsakt zurückführen: Däubler, NZA 1996, S. 225, 230 f.; Deinert, AuR 2006, S. 217, 221; Hensche, NZA 2009, S. 815, 817 f.; Däubler TVG/Peter, TVG, § 2 Rn. 140; Wroblewski, NZA 2007, S. 421, 422 f.
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dem BAG in diesem Punkt beizupflichten. Die OT-Mitgliedschaft ist mit § 3 Abs. 1 TVG vereinbar. Letztlich sei angemerkt, dass sich diese Frage ohnehin nur dann stellt, wenn die OT-Mitgliedschaft als Stufenmodell ausgestaltet ist. Wird sie im Rahmen eines Aufteilungsmodells realisiert, entsteht von vornherein kein Konflikt mit § 3 Abs. 1 TVG.
bb) Verlust der Tariffähigkeit des Arbeitgeberverbands? Das BAG hat nicht geprüft, ob ein Arbeitgeberverband, der nach dem Stufenmodell wahlweise Voll- oder OT-Mitgliedschaft satzungsmäßig anbietet, überhaupt noch tariffähig ist. Tariffähigkeit ist nach der Rechtsprechung des BVerfG die Fähigkeit einer Koalition, durch Vereinbarung mit dem sozialen Gegenspieler die Arbeitsbedingungen des Arbeitsvertrags mit der Wirkung zu regeln, dass sie für die tarifgebundenen Personen unmittelbar und unabdingbar wie Rechtsnormen gelten.²⁰² Zwar ist damit nicht die Unzulässigkeit der OT-Mitgliedschaft thematisiert. Bietet ein Arbeitgeberverband satzungsmäßig sowohl die Vollmitgliedschaft als auch die OT-Mitgliedschaft an, drängt sich aber gleichwohl die Frage nach einem Verlust der Tariffähigkeit des Arbeitgeberverbands unter zwei Gesichtspunkten auf: Erstens kann die vom BAG für die Tariffähigkeit des Arbeitgeberverbands vorausgesetzte demokratische Organisation durch die OTMitgliedschaft gefährdet sein.²⁰³ Danach müssen die Mitglieder des Arbeitgeberverbands, für die die Normen des Tarifvertrags Geltung beanspruchen, die Möglichkeit haben, unmittelbar oder mittelbar an der innerverbandlichen Willensbildung mitwirken zu können. Im Umkehrschluss verbietet das Erfordernis einer demokratischen Organisation des Arbeitgeberverbands, dass OT-Mitglieder Einfluss auf tarifpolitische Entscheidungen nehmen. Daraus folgt, dass ein Arbeitgeberverband nur dann tariffähig ist, wenn er in der Satzung die Einflussnahme von OT-Mitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen unterbindet.²⁰⁴ Die Satzung muss zwischen den Befugnissen von Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern trennen. Das BAG folgert das Erfordernis eines „Gleichlaufs von Verantwortlichkeit und Betroffenheit“ erst aus der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und der in diesem Zusammenhang nach Art. 9 Abs. 3 GG gebotenen Verhandlungs-
BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), BVerfGE 20, S. 312; siehe auch Giesen, Verschärfte Anforderungen an die Tariffähigkeit, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 139, 141; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 8; vgl. Richardi, NZA 2013, S. 408, 412; JKOS/Schubert, § 2 Rn. 1. BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1117 Rn. 55. Deinert, RdA 2007, S. 83, 86; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 156; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 127.
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parität.²⁰⁵ Dabei ergibt sich diese Voraussetzung im Hinblick auf die für den Abschluss von Tarifverträgen erforderliche Tariffähigkeit (vgl. § 2 Abs. 1 TVG) bereits aus dem einfachen Recht. Ein Arbeitgeberverband, der eine satzungsmäßige Trennung der Befugnisse von Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern nicht vornimmt, genügt nicht dem Erfordernis einer demokratischen Verbandsorganisation und verliert schon aus diesem Grund seine Tariffähigkeit. Zweitens ist fraglich, ob ein Arbeitgeberverband, der satzungsmäßig sowohl die Vollmitgliedschaft als auch die OT-Mitgliedschaft anbietet, noch das für die Tariffähigkeit erforderliche Kriterium der Tarifwilligkeit erfüllt.²⁰⁶ Eine Koalition ist dann tarifwillig, wenn sie den Abschluss von Tarifverträgen satzungsmäßig ausdrücklich auch als Aufgabe benennt.²⁰⁷ So liegt die Annahme nahe, dass ein Arbeitgeberverband, der sowohl die Vollmitgliedschaft als auch die OT-Mitgliedschaft anbietet, nur partiell tarifwillig und -fähig ist.²⁰⁸ Insbesondere Däubler lehnt eine solche partielle Tariffähigkeit als überflüssige Konstruktion zutreffend ab.²⁰⁹ Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass es einer partiellen Tariffähigkeit überhaupt nicht bedarf. Denn auch ein Arbeitgeberverband, der in seiner Satzung neben der Vollmitgliedschaft alternativ die OT-Mitgliedschaft anbietet, ist insgesamt voll und ganz tarifwillig.²¹⁰ Er bietet nämlich auch den OT-Mitgliedern grundsätzlich die Möglichkeit, in eine Vollmitgliedschaft zu wechseln. Nicht der Arbeitgeberverband ist im Falle der OT-Mitgliedschaft daher tarifunwillig. Vielmehr ist lediglich das OT-Mitglied nicht bereit, sich bestehenden oder künftigen Tarifverträgen zu unterwerfen.²¹¹
BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 37 f. BAG, 25.11.1986 (1 ABR 22/85), NZA 1987, S. 492, 493; BAG, 10.09.1985 (1 ABR 32/83), NZA 1986, S. 332. BAG, 25.11.1986 (1 ABR 22/85), NZA 1987, S. 492, 493. Siehe zur Figur der partiellen Tariffähigkeit ausführlich Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 23 ff. Däubler, NZA 1996, S. 225, 231; vgl. Deinert, AuR 2006, S. 217, 220. Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 215; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 121 ff.; vgl. dazu auch Deinert, RdA 2007, S. 83, 90. Allerdings stellt sich diese Frage nur beim Stufenmodell. Wenn die OT-Mitgliedschaft durch das Aufteilungsmodell verwirklicht wird, verzichtet der Arbeitgeberverband – mangels Tarifwilligkeit – ohnehin vollumfänglich auf die Tariffähigkeit. Ein OT-Verband verpflichtet sich satzungsmäßig nicht zum Abschluss von Tarifverträgen. Siehe hierzu ausführlich Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 66 ff.
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cc) Verletzung des vereinsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes? Darüber hinaus könnte die OT-Mitgliedschaft den vereinsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verletzen.²¹² Diese Frage hat das BAG zwar aufgegriffen, aber im Ergebnis mit folgender Begründung verneint: „Zum einen steht den Verbandsmitgliedern die Wahl zwischen Voll- und OT-Mitgliedschaft frei. Die unterschiedlichen Rechte und Pflichten beruhen daher auf der freiwilligen Entscheidung des jeweiligen Mitglieds. Zum anderen werden die OT-Mitglieder gegenüber den Vollmitgliedern nicht in unzulässiger Weise benachteiligt oder bevorzugt. Mit der Tarifgebundenheit sind sowohl Rechte als auch Pflichten verknüpft.“ ²¹³ Dem BAG ist beizupflichten. Zwar führt die OT-Mitgliedschaft zu einer Ungleichbehandlung von Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern.²¹⁴ Insbesondere werden den Vollmitgliedern satzungsmäßig mehr Rechte eingeräumt als den OT-Mitgliedern. Diese Ungleichbehandlung wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass OT-Mitglieder in der Regel denselben Mitgliedsbeitrag an den Arbeitgeberverband entrichten. Allerdings ist diese Ungleichbehandlung bereits dann gerechtfertigt, wenn sie nicht willkürlich ist. Richtigerweise stellt das BAG auf die sachliche Rechtfertigungsbegründung ab, dass der einzelne Arbeitgeber die Ungleichbehandlung schließlich selbst durch einen privatautonomen Verbandseintritt in die OT-Mitgliedschaft herbeiführt.²¹⁵ Als sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung lässt sich zudem darauf verweisen, dass der Entzug von satzungsmäßigen Rechten der OT-Mitglieder lediglich die Kehrseite einer fehlenden Tarifbindung ist.²¹⁶ Ein sachlicher Differenzierungsgrund ist allein dann nicht mehr ersichtlich, wenn die OT-Mitglieder etwa in gleicher Weise wie Vollmitglieder an der Aufbringung von Streikunterstützungsfonds beteiligt werden.²¹⁷ Denn OT-Mitglieder können sich nur durch den Abschluss von Firmentarifverträgen rechtlich binden. Ein diesbezüglicher hausinterner Arbeitskampf wird aber
So Reuter, RdA 1996, S. 201, 207; Röckl, DB 1993, S. 2382, 2383 f.; siehe auch Däubler, ZTR 1994, S. 448, 453; zu berücksichtigen ist, dass sich auch diese Frage nur dann stellt, wenn die OTMitgliedschaft nach dem Stufenmodell realisiert wurde. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 58; siehe auch BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1368 Rn. 28 ff. Deinert, RdA 2007, S. 83, 89. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 58; vgl. auch BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 32 ff.; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 157 f.; vgl. auch Deinert, RdA 2007, S. 83, 89. Siehe vor allem Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 157. Siehe im Übrigen Deinert, RdA 2007, S. 83, 89 und Röckl, DB 1993, S. 2382, 2383. Däubler, NZA 1996, S. 225, 230.
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in der Regel nicht durch einen vom Arbeitgeberverband eingerichteten Streikunterstützungsfonds abgedeckt.²¹⁸
b) Das Gebot der Verhandlungsparität als verfassungsrechtliche Grenze Schließlich zieht das BAG in seinen Entscheidungen zur Zulässigkeit der OTMitgliedschaft immer wieder auch verfassungsrechtliche Erwägungen heran. Gradmesser ist hierbei die für eine funktionsfähige Tarifautonomie gebotene Verhandlungsparität der Tarifvertragsparteien, die unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankert ist.²¹⁹ Das Gebot der Verhandlungsparität spielt in den Entscheidungen des BAG dabei gleich auf mehreren Ebenen eine wichtige Rolle.
aa) Bloße Einführung der OT-Mitgliedschaft Das Gebot der Verhandlungsparität wird vom BAG bereits bei der Einführung einer OT-Mitgliedschaft diskutiert.²²⁰ Damit stellt sich zunächst die Frage nach der generellen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Kontext von Art. 9 Abs. 3 GG: So könnte das Verhandlungsgleichgewicht schon durch die bloße Einführung einer OT-Mitgliedschaft gestört sein. Das BAG verneint diese Frage jedoch im Ergebnis und führt in diesem Zusammenhang aus: „Von einer strukturellen Störung der Verhandlungsparität durch jede Form der OT-Mitgliedschaft kann jedoch nicht generell ausgegangen werden.“²²¹ Erst wenn die Anerkennung der OT-Mitgliedschaft dazu führen würde, „dass die Verhandlungsfähigkeit einer Tarifvertragspartei bei Tarifauseinandersetzungen einschließlich der Fähigkeit, einen wirksamen Arbeitskampf zu führen, nicht mehr gewährt wäre“, könne von einer verfassungswidrigen Störung der Vertragsparität ausgegangen werden.²²² Mit dieser Begründung ist dem Stellenwert der Verhandlungsparität für eine funktionsfähige Tarifautonomie allerdings nicht genüge getan. Das Gebot der Verhandlungsparität ist ein „maßstabbildendes Strukturprinzip“ des Tarif- und Arbeitskampfrechts.²²³ Es stellt sicher, dass Tarifverträge durch zwei gleich starke
Däubler, NZA 1996, S. 225, 229; vgl. auch Lieb, NZA 1994, S. 337, 340. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 32 ff.; BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 59 f.; vgl. dazu auch BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591, 597 Rn. 81. Siehe nur BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 59 f. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 59. BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225, 1231 Rn. 59. Deinert, AuR 2006, S. 217, 223.
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Tarifpartner ausgehandelt werden. Ist eine Tarifpartei strukturell, organisatorisch oder finanziell überlegen, ist das erzielte Tarifergebnis nicht mehr als ein Diktat.²²⁴ Das BAG würdigt in seinen Entscheidungen jedoch nicht ausreichend, dass ein Arbeitgeberverband, der sich aus Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern zusammensetzt, auf der einen Seite sein volles organisatorisches und finanzielles Potential ausschöpfen kann, auf der anderen Seite aber das „Tarifbindungsrisiko“ nur für die Vollmitglieder trägt. Unberücksichtigt bleibt, dass auch die OT-Mitglieder den Arbeitgeberverband in der Regel mit dem vollen Mitgliedsbeitrag finanzieren.²²⁵ Diesen Verschiebungen, die mit der Einführung der OT-Mitgliedschaft einhergehen, trägt das BAG nicht hinreichend Rechnung. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Verhandlungsparität bereits dann gestört ist, wenn ein Arbeitgeberverband bspw. lediglich über 1 % OT-Mitglieder verfügt. Problematisch ist die satzungsmäßig ausgestaltete OT-Mitgliedschaft angesichts der verfassungsrechtlich gebotenen Verhandlungsparität aber dann, wenn sie als Organisationsform im Arbeitgeberverband die Oberhand gewinnt. Zwar ist den OT-Mitgliedern nach der Rechtsprechung des BAG jede Einflussnahme auf tarifpolitische Entscheidungen satzungsmäßig zu verwehren.²²⁶ Gewinnen die OTMitglieder im Arbeitgeberverband zahlenmäßig aber derart an Übergewicht, dass sie mit ihren allgemeinen verbandsrechtlichen Mitwirkungsrechten de facto die gesamte Verbandspolitik dominieren, ist die Verhandlungsparität der Tarifvertragsparteien gestört.²²⁷ So ist die Verhandlungsparität strukturell beeinträchtigt, wenn ein Arbeitgeberverband bspw. über 90 % OT-Mitglieder verfügt, die den vollen Mitgliedschaftsbeitrag entrichten. Die pauschale Feststellung des BAG, dass die Einführung und Ausgestaltung grundsätzlich zulässig ist,²²⁸ überzeugt angesichts der verfassungsrechtlich gebotenen Verhandlungsparität nicht. Vielmehr ist stets eine am Einzelfall orientierte dynamische Betrachtungsweise geboten. Insbesondere ist die proportionale Zusammensetzung eines Arbeitgeberverbands aus Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern entscheidend. Hierfür eine konsistente Kasuistik zu entwickeln, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Es darf keinen Automatismus geben, der kurzsichtig die generelle Zulässigkeit der OTMitgliedschaft unterstellt.²²⁹
Vgl. BVerfG, 26.06.1991 (1 BvR 779/85), NZA 1991, S. 809, 811. Däubler, NZA 1996, S. 225, 231; a.A.: Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 149 ff.; vgl. auch Deinert, AuR 2006, S. 217, 223. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1370 Rn. 38. Bayreuther, BB 2007, S. 325, 328. BAG, 23.02. 2005 (4 AZR 186/04), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42, I.2.b). Auch diese Einwände lassen sich nur dem Stufenmodell entgegenhalten. Wird die OT-Mitgliedschaft nach dem Aufteilungsmodell verwirklicht, sind ohnehin alle Mitglieder im Arbeit-
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bb) Anforderungen an die Satzung: Trennung der Befugnisse Zwar sieht das BAG unter dem Gesichtspunkt der Verhandlungsparität keine rechtlichen Bedenken gegen die grundsätzliche Einführung einer OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband. Richtigerweise folgert es aber aus dem Gebot der Verhandlungsparität, dass die Satzung des Arbeitgeberverbands jeden Einfluss der OT-Mitglieder auf tarifpolitische Entscheidungen unterbinden muss.²³⁰ Das BAG verlangt damit zutreffend eine satzungsmäßige Trennung der Befugnisse von Voll- und OT-Mitgliedern, um einen „Gleichlauf von Verantwortung und Betroffenheit“ zu gewährleisten. Denn OT-Mitglieder, die einerseits Einfluss auf tarifpolitische Entscheidungen nehmen, sich andererseits aber einer Tarifbindung entziehen, schwächen die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Der Arbeitgeberverband kann der Gewerkschaft gegenüber schließlich mit einem „Mehr“ an Einfluss und einem „Weniger“ an Tarifbindungsverantwortung gegenübertreten. Insoweit ist dem BAG zu folgen. Das BAG hat den Arbeitgeberverbänden aber die satzungsmäßige Trennung der Befugnisse von Vollmitgliedern und OT-Mitgliedern in seinen Entscheidungen nicht immer konsequent abverlangt. So verneinte das BAG etwa eine Störung der Verhandlungsparität, wenn das OT-Mitglied lediglich beratend an einem sozialpolitischen Beirat des Arbeitgeberverbands teilnimmt.²³¹ Dem Gebot der Verhandlungsparität wird das BAG aber nur dann gerecht, wenn es Anforderungen an die Satzung stellt, die auch nur jede Chance der tarifpolitischen Einflussnahme bereits im Ansatz verhindern. Die meisten Arbeitgeberverbände sehen in ihren Satzungen die Bildung eines sozialpolitischen Beirats oder Ausschusses vor, der den Arbeitgeberverband beim Abschluss eines Tarifvertrags berät. Die stimmberechtigten Mitglieder dieser Gremien können dem Abschluss des in Rede stehenden Tarifvertrags zustimmen oder ablehnen. Hier lässt es das BAG genügen, wenn die im sozialpolitischen Beirat vertretenen OT-Mitglieder ihr Stimmrecht durch die Satzung entzogen bekommen. Diese Beschränkung geht jedoch nicht weit genug. Es macht im Ergebnis keinen Unterschied, ob das OT-Mitglied qua Stimmrecht Einfluss auf tarifpolitische Entscheidungen des Arbeitgeberverbands nimmt oder ob es bloß „beratend“ tätig wird. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Interessen des OT-Mitglieds im Rahmen der tarifpolitischen Entscheidung berücksichtigt werden. Zwar verweist das BAG darauf, dass sich der Arbeitgeberverband im Zusammenhang mit tarifpolitischen Entscheidungen schließlich auch geberverband ohne Tarifbindung organisiert. Ein die Verhandlungsparität störender Verbandseinfluss geht insoweit ins Leere, als der OT-Verband für den Abschluss von Tarifverträgen ohnehin nicht zur Verfügung steht. Grundlegend: BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1369 Rn. 36 ff. BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 179/08), NZA 2010, S. 102, 104 Rn. 24.
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von außenstehenden Dritten beraten lassen könnte.²³² Aber es macht im Ergebnis einen entscheidenden Unterschied, ob es sich um einen außenstehenden Dritten oder um ein OT-Mitglied handelt. Insbesondere kann sich das OT-Mitglied vorbehalten, den abgeschlossenen Tarifvertrag ggf. arbeitsvertraglich in Bezug zu nehmen. So kann das OT-Mitglied Einfluss nehmen und gleichzeitig dem Risiko einer „voreiligen“ Bindung an den abgeschlossenen Tarifvertrag vorbeugen.²³³ Zwar hat sich das BAG von dieser Entscheidung bislang nicht ausdrücklich distanziert. Es geht jedoch mittlerweile richtigerweise davon aus, dass „eine auch nur mögliche“ Einflussnahme von OT-Mitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen in der Satzung ausgeschlossen werden muss.²³⁴ Auch jede potentielle Möglichkeit der Einflussnahme muss damit in der Satzung vereitelt werden. Das BAG handhabt die Voraussetzungen an die Satzung mittlerweile deutlich restriktiver als in vorherigen Entscheidungen. Bleibt das BAG hinsichtlich der Satzungsanforderungen bei diesem strengen Kurs, wird es auch der verfassungsrechtlich gebotenen Verhandlungsparität gerecht. Eine Satzung, die dagegen eine mittelbare Einflussnahme auch nur ansatzweise möglich macht, führt zur einer empfindlichen Störung der Verhandlungsparität zulasten der Gewerkschaften.²³⁵
cc) Anforderungen an einen „Blitzwechsel“ in die OT-Mitgliedschaft Darüber hinaus gewinnt das verfassungsrechtliche Gebot der Verhandlungsparität auch unter Transparenzgesichtspunkten an Relevanz, wenn der Arbeitgeber einen „Blitzwechsel“ in die OT-Mitgliedschaft vollzieht. Das BAG folgert aus dem Gebot der Verhandlungsparität richtigerweise einen Informationsanspruch der Gewerkschaft (bzw. eine Unterrichtungspflicht der Arbeitgeberseite), wenn ein Arbeitgeber während laufender Tarifverhandlungen in die OT-Mitgliedschaft wechselt („Blitzwechsel“).²³⁶ Diese Rechtsprechung sieht sich hingegen heftiger
BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 179/08), NZA 2010, S. 102, 104 Rn. 24. Vgl. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 472. BAG, 21.01. 2015 (4 AZR 797/13), NZA 2015, S. 1521, 1523 Rn. 19. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, S. 466, 472; a.A.: Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 162; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 159 ff., 166; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, S. 149 ff.; vgl. hierzu auch Deinert, AuR 2006, S. 217, 223 und Deinert, RdA 2007, S. 82, 86; besonders kritisch hierzu auch Benecke, Regulierung der OT-Mitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 53 ff. Grundlegend: BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 68 f.
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Kritik ausgesetzt.²³⁷ Nicht selten wird mit einem Informationsdefizit der Gewerkschaften in vergleichbaren Situationen argumentiert.²³⁸ Höpfner verweist in diesem Zusammenhang etwa darauf, dass ohnehin auch „bei langfristig herbeigeführten Veränderungen im Mitgliederbestand eines Verbandes Informationsdefizite bestehen“.²³⁹ Aus Informationsdefiziten während der Laufzeit eines Tarifvertrags wird so die Zulässigkeit von Informationsdefiziten während laufender Tarifverhandlungen gefolgert. Diese zirkelschließende Argumentation vermag jedoch nicht zu überzeugen. Gerade während laufender Tarifverhandlungen wirkt das Informationsdefizit besonders schwer. Denn gerade in dieser Phase kommt es für die Gewerkschaft entscheidend darauf an, zu wissen, wer bei Abschluss des Tarifvertrags auf Arbeitgeberseite gem. § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden ist.²⁴⁰ Der verbandsinterne Wechsel in die OT-Mitgliedschaft zeitigt damit immer auch eine verbandsexterne Wirkung auf das Verhältnis des Arbeitgeberverbands zu den Gewerkschaften.Während laufender Tarifverhandlungen schwächt es die Position der Gewerkschaft, wenn sie nicht darüber im Bilde ist, welche Arbeitgeber an einen möglichen Tarifvertrag gem. § 3 Abs. 1 TVG gebunden wären. Je nach Mitgliedschaftsstruktur des Arbeitgeberverbands kann eine andere Verhandlungsstrategie für die Gewerkschaft sinnvoll sein. Umgekehrt folgt aus dem Informationsdefizit der Gewerkschaft ein Wissensvorsprung des Arbeitgeberverbands. Diesen kann er in den Tarifverhandlungen zugunsten der Arbeitgeberseite auch ohne weiteres ausspielen. Ohne eine entsprechende Informationspflicht könnte der verhandelnde Arbeitgeberverband die Gewerkschaft über die Vollmitgliedschaft und eine damit einhergehende Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG eines Arbeitgebers in guten Glauben lassen.²⁴¹ Ggf. ist die Tarifbindung eines ganz bestimmten Arbeitgebers für die Gewerkschaftsseite sogar besonders wichtig. Prima facie leuchtet aber nicht ein, weshalb umgekehrt die Frage des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit unzulässig sein soll,²⁴² während aus der Verhandlungsparität eine entsprechende Informationspflicht auf Arbeit-
Bauer/Haußmann, RdA 2009, S. 99, 104 f.; Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 175 ff.; Rieble, RdA 2009, S. 280, 283 ff.; Willemsen/Mehrens, NJW 2009, S. 1916, 1917 ff. Bauer/Haußmann, RdA 2009, S. 99, 104; vgl. Rieble, RdA 2009, S. 280, 283 f. Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 175; Rieble, RdA 2009, S. 280, 283. Vgl. Deinert, RdA 2007, S. 83, 88. Vgl. Deinert, RdA 2007, S. 83, 87 f. BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306; BAG, 28.03. 2000 (1 ABR 16/99), NZA 2000, S. 1294.
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geberseite gefolgert wird.²⁴³ So ließe sich annehmen, dass auch der Arbeitgeber während laufender Tarifverhandlung ein Interesse daran haben kann, zu wissen, welche Arbeitnehmer qua Mitgliedschaft gem. § 3 Abs. 1 TVG an einen möglichen Tarifvertrag gebunden wären. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das BAG eine solche Informationspflicht nur für den Fall eines Wechsels in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen begründet hat. Dagegen ist die Kenntnis über den Gewerkschaftsaustritt eines Arbeitnehmers für die Arbeitgeberseite ohne Belang. Das belegen auch rechtstatsächliche Befunde aus der Tarifpraxis. In den meisten Fällen finden Tarifverträge ohnehin nicht kraft mitgliedschaftlicher Legitimation gem. § 3 Abs. 1 TVG Anwendung, sondern aufgrund einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf den Tarifvertrag.²⁴⁴ Für die Personalpolitik des Arbeitgebers ist die Gewerkschaftsmitgliedschaft daher häufig nicht von allzu großer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist der Gewerkschaftsaustritt eines Arbeitnehmers nicht mit dem Wechsel eines Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft zu vergleichen. Im Ergebnis ist dem BAG²⁴⁵ beizupflichten. Die Gewerkschaft muss über den „Blitzwechsel“ eines Arbeitgebers in die OTMitgliedschaft zu einem Zeitpunkt unterrichtet werden, in der sie ihre Verhandlungsstrategie auf die veränderte Situation noch anpassen kann. Lässt die Arbeitgeberseite die Gewerkschaft über einen kurzfristigen Wechsel eines Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen im Unklaren, stört das die nach Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich gebotene Verhandlungsparität massiv. Ein Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft, der diesen Anforderungen nicht genügt, ist unwirksam.
c) Zur Rechtsfolge eines unwirksamen Wechsels in die OT-Mitgliedschaft Auf Rechtsfolgenseite schließt das BAG aus einem unwirksamen Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft eine fortwährende Bindung an den abgeschlossenen Verbandstarifvertrag gem. § 3 Abs. 1 TVG.²⁴⁶ Obwohl der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft vereinsrechtlich wirksam vollzogen ist, behandelt das BAG den Arbeitgeber in tarifrechtlicher Hinsicht dann wie ein Vollmitglied. Es macht keinen Unterschied, ob sich die Unwirksamkeit des Wechsels in die OT-Mit-
So Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 175b; Willemsen/Mehrens, NJW 2009, S. 1916, 1917; vgl. dazu auch Bauer/Haußmann, RdA 2009, S. 99, 104. Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, I B Rn. 17 ff., 22 ff., 25. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 68 f. BAG, 21.01. 2015 (4 AZR 797/13), NZA 2015, S. 1521, 1527 Rn. 59; BAG, 26.08. 2009 (4 AZR 294/ 08), NZA-RR 2010, S. 305, 308 Rn. 37; BAG, 22.04. 2009 (4 AZR 111/08), NZA 2010, S. 105, 111 Rn. 49; BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 72.
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gliedschaft aus einer Satzung ergibt, die nicht hinreichend zwischen den Befugnissen von Vollmitglieder und OT-Mitgliedern trennt²⁴⁷ oder ob die Unwirksamkeit aus der fehlenden Offenlegung eines Blitzwechsels gegenüber der Gewerkschaft folgt.²⁴⁸ Diese Rechtsprechung sieht sich allerdings einer besonders heftigen Kritik aus dem Schrifttum ausgesetzt.²⁴⁹ Dabei wird sowohl die aus einer fehlenden satzungsmäßigen Trennung der Befugnisse als auch die aus einer fehlenden Unterrichtung der Gewerkschaft über einen Blitzwechsel folgende „fortwährende“²⁵⁰ Tarifbindung des Arbeitgebers abgelehnt. Argumentiert wird mit einem fehlenden Unterwerfungswillen des Arbeitgebers, der jedoch für die Begründung der Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG zwingend erforderlich sei.²⁵¹ Insoweit ermangele es an der für die Tarifbindung erforderlichen mitgliedschaftlichen Legitimation. Schließlich fuße Tarifautonomie auf kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Das BAG verhalte sich inkonsequent, wenn es einerseits einen „Gleichlauf von Verantwortung und Betroffenheit“ postuliert, es aber andererseits im Falle eines unwirksamen Wechsels in die OT-Mitgliedschaft zulässt, dass ein „Weniger“ an Verantwortung mit einem „Mehr“ an Betroffenheit einhergehe.²⁵² Dem BAG wird rechtsdogmatische Ignoranz vorgeworfen, um das rechtspolitische Ziel eines möglichst hohen Organisationsgrads auf Arbeitgeberseite zu unterstützen.²⁵³ Allein der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft sei unwirksam. Der gescheiterte Wechsel in die OT-Mitgliedschaft müsse jedoch zumindest als Austritt aus dem Arbeitgeberverband ausgelegt werden, sodass eine Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG im Ergebnis nicht angenommen werden könne.²⁵⁴ Auch aus einer
BAG, 22.04. 2009 (4 AZR 111/08), NZA 2010, S. 105, 111 Rn. 49. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 72. Benecke, Regulierung der OT-Mitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 49 ff.; Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 166 ff., 176; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 65, 149 f.; Rieble, RdA 2009, S. 280, 282 ff. Rieble, RdA 2009, S. 280, 282, bezeichnet diese Rechtsfolgenkonstruktion des BAG auch – in Anlehnung an die Nachbindung aus § 3 Abs. 3 TVG – als tarifrechtliche „Vorbindung“. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 62; Willemsen/Mehrens, NJW 2009, S. 1916, 1917; Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 166; Benecke, Regulierung der OT-Mitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 49 ff.; vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, S. 99, 104 f. Siehe vor allem Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 62, 65. Vgl. auch Benecke, Regulierung der OTMitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 49. Benecke, Regulierung der OT-Mitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 50; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 149; Rieble, RdA 2009, S. 280, 285. Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, S. 527, 571 f.; a.A.: Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 62, 65.
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fehlenden Offenlegung eines Blitzwechsels in die OT-Mitgliedschaft könne keine Tarifbindung gefolgert werden. Schließlich sei allein der Arbeitgeberverband, nicht aber der einzelne Arbeitgeber zur Offenlegung verpflichtet. Es sei systemwidrig, den Arbeitgeber für eine Pflichtverletzung des Arbeitgeberverbands zu „bestrafen“.²⁵⁵ Die aufgeführten Kritikpunkte an der Rechtsprechung des BAG müssen jedoch relativiert werden: Zwar wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass die nach § 3 Abs. 1 TVG mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung immer eine entsprechende Unterwerfungserklärung des beitrittswilligen Arbeitgebers voraussetzt.²⁵⁶ Eine solche Erklärung hat aber ursprünglich jedenfalls in dem Moment vorgelegen, als der (an sich wechselwillige) Arbeitgeber dem Arbeitgeberverband zunächst als Vollmitglied beigetreten ist. Zwar kann in dem (versuchten) Wechsel des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft die Erklärung erblickt werden, sich fortan nicht mehr an vom Arbeitgeberverband abgeschlossene Tarifverträge binden zu wollen. Allerdings ergibt sich die Unwirksamkeit des Wechsels in die OTMitgliedschaft in diesem Fall unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. einer Störung der Verhandlungsparität.²⁵⁷ Die rechtsprechungskritischen Ansätze hinsichtlich der vom BAG verordneten Rechtsfolge²⁵⁸ lassen sich auf eine fehlgehende dogmatische Einordnung der beiden Fragenkreise zurückführen. Es wird bereits negiert, dass die nicht hinreichende satzungsmäßige Trennung der Befugnisse und die fehlende Offenlegung eines Blitzwechsels die Verhandlungsparität betreffen. Wenn man aber – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG – zum Ergebnis einer Störung der Verhandlungsparität gelangt,²⁵⁹ ist die Anwendung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG unausweichlich.²⁶⁰ Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG ordnet zwar zunächst nur die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft an. Denn die OT-Mitgliedschaft ist in den Fällen einer nicht hinreichenden satzungsmäßigen Trennung der Befugnisse und einer fehlenden Offenlegung eines Blitzwechsels eine „Abrede“, die die Funktionsfähigkeit der
Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 176; Rieble, RdA 2009, S. 280, 284 f. So vor allem Willemsen/Mehrens, NJW 2009, S. 1916, 1917; vgl. auch Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 65, 149 f.; Rieble, RdA 2009, S. 280, 282 ff. Siehe insoweit bereits Kapitel 4, § 11.II.4.b). Benecke, Regulierung der OT-Mitgliedschaft – Schutz des Tarifvertrags vor Fremdbestimmung?, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Ordnungsfragen des Tarifvertragsrechts, S. 45, 49 ff.; Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 166 ff., 176; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 65, 149 f.; Rieble, RdA 2009, S. 280, 282 ff. Insoweit zutreffend BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1368 Rn. 25 ff.; siehe dazu bereits Kapitel 4, § 11.II. 4.b). Vgl. Deinert, RdA 2007, S. 83, 90.
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Tarifautonomie beeinträchtigt.²⁶¹ Scheitert aber der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft, ist daraus konsequenterweise zu folgern, dass das OT-Mitglied (tarifrechtlich) auch weiterhin wie ein Vollmitglied behandelt werden muss.²⁶² Es bleibt beim status quo der tarifrechtlichen Vollmitgliedschaft, wenn der geplante Wechsel in die OT-Mitgliedschaft fehlschlägt. Hieraus schließt das BAG richtigerweise eine fortwährende Tarifbindung des Arbeitgebers. Damit kann dem BAG auch keine rechtsdogmatische Ignoranz vorgeworfen werden. Die Rechtsfolge der fortwährenden Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1 TVG resultiert im Ergebnis aus einer formalen Anwendung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Auch eine Auslegung der mit dem angestrebten Wechsel in die OT-Mitgliedschaft verbundenen Erklärung (§§ 133, 157 BGB analog), sich nicht mehr den vom Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträgen unterwerfen zu wollen, führt zu keinem anderen Ergebnis.²⁶³ In diesem Zusammenhang kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass als „Minus“ zum gescheiterten Wechsel in die OT-Mitgliedschaft jedenfalls ein tarifrechtlicher Austritt vorliegt.²⁶⁴ Zum einen kann ein verständiger, durchschnittlicher Arbeitgeberverband dem Erklärungsgehalt eines gescheiterten Übertritts in die OT-Mitgliedschaft nicht entnehmen, dass der Arbeitgeber seine Mitgliedschaft nun vollständig aufgeben will. Denn ein verständiger Arbeitgeberverband muss davon ausgehen, dass der Arbeitgeber sich im Falle eines unwirksamen Wechsels in die OT-Mitgliedschaft jedenfalls etwaige anderen Leistungen (insbesondere Rechtsberatung und Prozessvertretung) sichern will. Neben der OT-Mitgliedschaft kann das nur im Rahmen einer Vollmitgliedschaft gewährleistet werden. Der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft muss insofern als einheitliches Rechtsgeschäft betrachtet werden. Der Austritt liegt dem Wechsel in die OT-Mitgliedschaft vor diesem Hintergrund nicht als „Zwischenstufe“ zugrunde. Eine andere Auslegung würde den Erklärungsgehalt in unzulässiger Weise überstrapazieren.²⁶⁵ Zum anderen kann die mit dem Arbeitgeberverband kontrahierende Gewerkschaft aus Vertrauensschutzgesichtspunkten grundsätzlich davon ausgehen, dass sämtliche Mitglieder des Arbeitgeberverbands sich der Tarifbindung unterwerfen wollen.²⁶⁶ Eine Auslegung, die zu dem Ergebnis gelangt, dass als „Minus“ zum gescheiterten Wechsel in die OT-Mit-
Insoweit zutreffend BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 72; vgl. auch Deinert, RdA 2007, S. 83, 90. Deinert, RdA 2007, S. 83, 90. Deinert, RdA 2007, S. 83, 90. So aber Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, S. 527, 571 f. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 147, 150. So ausdrücklich auch Bayreuther, BB 2007, S. 325, 326.
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gliedschaft ein Verbandsaustritt des Arbeitgebers anzunehmen ist, berücksichtigt das auf Gewerkschaftsseite entstande Vertrauen nicht ausreichend. Darüber hinaus lässt sich auch der Vorwurf nicht aufrechterhalten, das BAG verhalte sich inkonsequent zum Postulat vom „Gleichlauf von Verantwortung und Betroffenheit“, wenn es aus einer nicht hinreichenden satzungsmäßigen Trennung der Befugnisse eine fortwährende Tarifbindung des Arbeitgebers folgert. Denn wenn die Satzung nicht hinreichend zwischen den Befugnissen trennt, kann auch eine weitgehende Einflussnahme von OT-Mitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden. Von einem „Weniger“ an Verantwortung kann in dieser Konstellation dann keine Rede sein. Die mögliche Einflussnahme auf tarifpolitische Entscheidungen bildet in diesem Fall die Legitimationsgrundlage für eine fortwährende Tarifbindung.²⁶⁷ Konsequenterweise trägt das BAG der damit verbundenen „Betroffenheit“ des OT-Mitglieds Rechnung, indem es die Tarifbindung aufrechterhält. Letztlich überzeugt auch die fortwährenden Tarifbindung des Arbeitgebers im Falle einer fehlenden Unterrichtung der Gewerkschaft über einen vollzogenen Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft. Auch sie ist Ergebnis einer formalen Anwendung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Wenn der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft unwirksam ist, ist das OT-Mitglied – zum Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie – weiterhin als Vollmitglied zu behandeln. In diesem Zusammenhang schlägt auch das Argument nicht durch, dass der Arbeitgeber mit der fortwährenden Tarifbindung durch eine Pflichtverletzung des Arbeitgeberverbands „bestraft“ würde.²⁶⁸ Denn auch der Arbeitgeber ist Adressat der Offenlegungspflicht. Zwar spricht das BAG in diesem Zusammenhang etwas unpräzise davon, dass es die Pflicht der „Arbeitgeberseite“ sei, einen Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft gegenüber der Gewerkschaft offenzulegen.²⁶⁹ Konsequenterweise muss aber auch den Arbeitgeber die Pflicht zur Offenlegung seines Wechsels in die OT-Mitgliedschaft treffen. Nur wenn – zumindest subsidiär – auch den Arbeitgeber die Pflicht trifft, seinen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft der Gewerkschaft offenzulegen, bleibt das Gebot der Verhandlungs- und Kampfparität gewahrt. Ob die Offenlegung durch den Arbeitgeberverband oder über den Arbeitgeber erfolgt, macht dabei keinen Unterschied. Arbeitgeber und Arbeitgeberverband bilden eine Verhandlungseinheit und Interessengemeinschaft, die der Gewerkschaft gewissermaßen als geschlossenes „Lager“ gegenübertritt. Vor dem Hintergrund einer funktionsfähigen Tarifautonomie wäre es daher verfehlt, auf „Arbeitgeberseite“ Deinert, RdA 2007, S. 83, 87. Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 176; Rieble, RdA 2009, S. 280, 284 f. BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1373 Rn. 70.
§ 11 Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OT-Mitgliedschaften?
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zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband zu unterscheiden. Bei der vom BAG konstruierten Offenlegungspflicht handelt es sich überdies nicht um eine Obliegenheit, die aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis zwischen den Tarifvertragsparteien erwächst. Vielmehr leitet sie sich unmittelbar aus dem in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Verhandlungsparität ab. Für den Arbeitgeber, der gleichsam nicht Tarifvertragspartei ist, erwächst eine Pflicht daher nicht aus Vertrag, sondern von Verfassungs wegen. Insoweit geht der Einwand ins Leere, dem Arbeitgeber könne die Offenlegungspflicht nicht betreffen, da er nicht Tarifvertragspartei sei.²⁷⁰ Ebenso kann in der Offenlegungspflicht des Arbeitgebers auch kein unzulässiger Vertrag zulasten Dritter erblickt werden.²⁷¹
d) Rechtspolitische Bewertung: Dysfunktionalität der OT-Mitgliedschaft Obwohl die OT-Mitgliedschaft an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen ist, ist sie ein im Grundsatz legitimes Mitgliedschaftsmodell. Jedenfalls die Verwirklichung der OT-Mitgliedschaft nach dem Aufteilungsmodell steht den Arbeitgeberverbänden ohne allzu große rechtliche Hürden zur Verfügung. Auch wenn sich die rechtsdogmatischen Bedenken gegenüber der OT-Mitgliedschaft im Ergebnis in Grenzen halten, verhält sie sich in rechtspolitischer Hinsicht unter mehreren Gesichtspunkten dysfunktional: Die Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband ist ein Garant für den Flächentarifvertrag. Es ist daher zu befürchten, dass mit der Zunahme der OT-Mitgliedschaft gleichzeitig eine weitergehende Erosion des Flächentarifvertrags einhergeht. Zwar können Arbeitgeber, die nur über eine OTMitgliedschaft im Arbeitgeberverband verfügen, auch selbst einen Firmentarifvertrag abschließen. In bestimmten Konstellationen mag der Firmentarifvertrag auch eine passende und interessengerechte Lösung darstellen. Ein Paradebeispiel für ein gut funktionierendes Firmentarifmodell ist etwa der Tarifabschluss zwischen der Volkswagen AG und IG-Metall. Vor dem Hintergrund einer idealtypisierenden Betrachtungsweise ist der Flächentarifvertrag aber für eine funktionsfähige Tarifautonomie essenziell. Die Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband fungiert als „Garant für den Flächentarifvertrag“.²⁷² Den Funktionen der Tarifautonomie wird der Flächentarifvertrag besser gerecht als das Firmentarifmodell.
So aber Rieble, RdA 2009, S. 280, 284. So aber Höpfner, in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Teil 2 Rn. 176. Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 26 ff.
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Die OT-Mitgliedschaft konterkariert die Entstehung des Flächentarifvertrags und damit zugleich auch die Funktionen der Tarifautonomie:²⁷³ Erstens gerät durch die zunehmende Verwirklichung der OT-Mitgliedschaft die Ordnungsfunktion der Tarifautonomie ins Wanken, die in besonderer Weise durch den Flächentarifvertrag gewährleistet wird. Indem der Flächentarifvertrag die Arbeitsbedingungen für zahlreiche Arbeitsverhältnisse einheitlich regelt, gewährleistet er ein hohes Maß an Rechts- und Planungssicherheit.²⁷⁴ Zwar kann das OTMitglied auch einen Firmentarifvertrag abschließen. Der Firmentarifvertrag vermag aber das durch den Flächentarifvertrag gewährleiste Maß an Rechts- und Planungssicherheit nicht in gleicher Weise zu garantieren. Er ist ausschließlich an die Gegebenheiten angepasst, die das Unternehmen des tarifvertragsschließenden Arbeitgebers betreffen. Überdies erfasst er regelmäßig eine weitaus geringere Zahl an Arbeitsverhältnissen, deren Arbeitsbedingungen er „ordnend“ reguliert und vereinheitlicht. Eine weitreichende Ordnungspolitik ist mit dem Firmentarifvertrag gerade nicht verbunden.²⁷⁵ Ferner kann das OT-Mitglied, wenn es keinen eigenen Firmentarifvertrag abschließt, auf den örtlich geltenden Flächentarifvertrag Bezug nehmen. Die Vereinbarung abweichender Arbeitsbedingungen ist aber gleichwohl möglich, sodass auch insofern ein Defizit an Rechts- und Planungssicherheit bestehen würde.²⁷⁶ Zweitens entfällt beim Firmentarifvertrag die Kartellwirkung. Sie geht grundsätzlich nur von Flächentarifverträgen aus, da diese die Personalkosten für eine ganze Branche einheitlich reguliert. Damit verhindert der Flächentarifvertrag einen Unterbietungswettbewerb und wirkt insofern „marktmachtbegrenzend“.²⁷⁷ Auch dieser Funktion trägt der Firmentarifvertrag nicht hinreichend Rechnung. Drittens wird die mit der Tarifautonomie verbundene Schutzfunktion gefährdet. Das gilt umso mehr, wenn das OT-Mitglied sich ebenso gegen den Abschluss eines Firmentarifvertrags entscheidet. Die Arbeitsbedingungen werden dann weitestgehend auf individualrechtlicher Ebene ausgestaltet, in der die gestörte Vertragsparität zulasten des Arbeitnehmers dann voll durchschlägt. Zudem dürfte die mit einem Firmentarifvertrag verbundene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse nicht selten mit einem Absinken der Ar-
Siehe hierzu auch Kapitel 3, § 8.II.2.b) bb). Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 27 f. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbände und Tarifbindung, S. 180; Schaub, NZA 1998, S. 617, 618. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbände und Tarifbindung, S. 180; a.A.: Schlochauer, FS Schaub, S. 699, 711 f. Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 45; Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 28.
§ 11 Stabilisierung durch Differenzierungsklauseln und OT-Mitgliedschaften?
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beitsstandards einhergehen.²⁷⁸ Viertens konterkariert die OT-Mitgliedschaft die durch einen Flächentarifvertrag sichergestellte Friedenspflicht. Denn wenn ein OT-Mitglied sich gegen den Abschluss eines Firmentarifvertrags entscheidet, muss es stets damit rechnen, von den Gewerkschaften bestreikt zu werden. Das gefährdet den sozialen Frieden.²⁷⁹ Die OT-Mitgliedschaft ist damit kein geeigneter Weg zur Stärkung der Tarifautonomie. Ganz im Gegenteil bewirkt sie eine weitergehende Erosion des Tarifsystems.²⁸⁰ Schließlich kommt der Wechsel eines Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft in tarifrechtlicher Hinsicht einem Verbandsaustritt gleich. Denn das „wertvolle“ an einer Verbandsmitgliedschaft ist gerade die über § 3 Abs. 1 TVG vermittelte Tarifbindung. Den mit der OT-Mitgliedschaft verbundenen Fehlanreizen muss der Gesetzgeber entgegenwirken. Freilich kann man gegen die hier vertretene Kritik an der OT-Mitgliedschaft einwenden, dass Arbeitgeber dann als vermeintlich einzige Alternative einem Arbeitgeberverband ganz und gar fernbleiben. Dem kann aber entgegnet werden, dass Arbeitgeber eher dazu angehalten sind, eine Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband einzugehen, wenn die „Zwischenlösung“ der OT-Mitgliedschaft nicht zur Verfügung steht. Nur auf diese Weise würden sie dann nämlich in den Genuss der sonstigen Vorteile einer Arbeitgeberverbandsmitgliedschaft (wie bspw. Rechtsberatung und Prozessvertretung) gelangen.
III. Stärkung der Tarifautonomie als Aufgabe des Gesetzgebers Die Untersuchung der rechtlichen Möglichkeiten der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Verbandsmitgliedschaft wieder attraktiv zu machen, führt zu einem Dilemma. Auf der einen Seite tragen Differenzierungsklauseln in rechtspolitischer Hinsicht zur Stärkung der Tarifautonomie bei, sind aber nach der Rechtsprechung des BAG nur eingeschränkt zulässig. Insbesondere die für eine Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades besonders vielversprechenden Spannenklauseln erachtet des BAG nach wie vor als verfassungswidrig. Auf der anderen Seite führen OT-Mitgliedschaften in rechtspolitischer Hinsicht eher zu einer Schwächung der Tarifautonomie, stellen aber nach der Rechtsprechung des BAG eine grundsätzlich zulässige Mitgliedschaftsform dar. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind damit derzeit nicht in der Lage,
Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbände und Tarifbindung, S. 181. Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbände und Tarifbindung, S. 178. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 19 f.
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ihren Mitgliedschaftsdefiziten adäquat entgegenzuwirken. Diese Situation ruft den Gesetzgeber auf den Plan. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist nämlich die subsidiäre Regelungszuständigkeit des Staates gefragt, „wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können (…).“²⁸¹ Der Gesetzgeber muss Rahmenbedingungen schaffen, die die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wieder in die Lage versetzen, selbst eine Verbesserung des Organisationsgrades auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite herbeizuführen, ohne dass er die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen unmittelbar – in einer der Tarifautonomie zuwiderlaufenden Weise – selbst reguliert. Hierin liegt der Schlüssel für eine nachhaltige Stärkung der Tarifautonomie. Erforderlich ist hierfür ein gesetzgeberischer Balanceakt.
§ 12 Einordnung und Bewertung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes Auf den empirischen und rechtlichen Zustand der Tarifautonomie hat der Gesetzgeber mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz reagiert.²⁸² Dieses Gesetz umfasst vor allem die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (§ 5 TVG), die erweiterte Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG sowie die Schaffung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns (MiLoG). Vor dem Hintergrund der aufgestellten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie und dem beschriebenen Zustand, werden die mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz verbundenen Neuerungen eingeordnet und bewertet. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der Untersuchung auf der Neuregelung von § 5 TVG, die einer umfassenden verfassungsdogmatischen und rechtspolitischen Bewertung unterzogen wird. Die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns durch das MiLoG und die vorgenommenen Änderungen des AEntG werden einer punktuellen Kritik unterzogen.
BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2256. Siehe bereits zur Motivation und Wirkung der vorgenommenen Neuerungen Kapitel 2, § 5.VII.1.a).
§ 12 Einordnung und Bewertung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes
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I. Die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen an erleichterte Voraussetzungen geknüpft. Der Fokus der Bewertung soll vor allem auf zwei Aspekten liegen: Zum einen ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nicht mehr an das 50Prozent-Quorum gebunden. Es genügt nunmehr ein durch § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG konkretisiertes öffentliches Interesse. Zum anderen hat der Gesetzgeber in § 5 Abs. 1a TVG die Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen geregelt. Insbesondere hat der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang auf quantitative Voraussetzungen verzichtet (keine Einhaltung eines 50-Prozent-Quorum oder die Prüfung einer „überwiegenden Bedeutung“). Bevor diesem Abbau an materiellen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen einer verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Bewertung zugeführt wird, ist zunächst den verschiedenen Funktionen dieses Rechtsinstituts nachzuspüren. Sie bilden den Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche und rechtspolitische Bewertung und erlauben darüber hinaus auch Rückschlüsse auf eine verfassungs- und systemkonforme Handhabung der mit der Neuregelung des § 5 TVG verbundenen dogmatischen Schwierigkeiten. Zudem dürften die Funktionen, die der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zugeschrieben werden, auch Bezugspunkt für den Gesetzgeber bei der Gestaltung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes gewesen sein. Letztlich muss sich ohnehin jede konkrete Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags auch an den ihr zugeschriebenen Funktionen messen lassen.²⁸³
1. Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung Dem Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, die teilweise mit den Funktionen der Tarifautonomie²⁸⁴ korrespondieren. Dabei können einige Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung als gesichert angesehen werden. Teilweise herrscht aber auch Uneinigkeit.
Waltermann, RdA 2018, S. 137, 138 ff. Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 3.I.2.
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a) Schutzfunktion: Gewährleistung angemessener Mindestarbeitsbedingungen Durch die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags erfasst sein Geltungsbereich nach Maßgabe des § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Zuvorderst soll die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen damit eine (soziale) Schutzfunktion zugunsten der Arbeitnehmer erfüllen. Indem die Allgemeinerverbindlicherklärung Mindeststandards setzt, die individualvertraglich nicht unterboten werden können, gewährleistet sie zum einen auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer angemessene Arbeitsbedingungen.²⁸⁵ Zum anderen dient die Allgemeinverbindlicherklärung aber auch dem Schutz der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer, die bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind. Denn ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft zum Trotz würden sie ohne Allgemeinverbindlicherklärung nicht in den Genuss des einschlägigen Tarifvertrags kommen.²⁸⁶
b) Finanzierungsfunktion: Sicherung gemeinsamer Einrichtungen Einigkeit besteht auch darüber, dass die Allgemeinverbindlicherklärung der Sicherung gemeinsamer Einrichtungen i.S.d. § 4 Abs. 2 TVG dient. Um die durch gemeinsame Einrichtungen (wie bspw. Urlaubs-, Lohnausgleichs- und Zusatzversorgungskassen) bezweckte Gestaltung einer möglichst umfassenden tariflichen Sozialpolitik zu erreichen, ist eine Allgemeinverbindlicherklärung notwendig. Indem durch die Allgemeinverbindlicherklärung auch nicht organisierte Arbeitgeber an die gemeinsamen Einrichtungen gebunden werden (§ 5 Abs. 4 Satz 1 TVG), werden die für die Stabilität der gemeinsamen Einrichtung notwendigen Beitragszahlungen erheblich ausgeweitet.²⁸⁷ Im Hinblick auf die Sicherung gemeinsamer Einrichtungen kommt der Allgemeinverbindlicherklärung daher auch eine Finanzierungsfunktion zu.²⁸⁸ Diese Zweckrichtung hatte nicht zuletzt auch der Gesetzgeber beim Tarifautonomiestärkungsgesetz im Blick.²⁸⁹
BAG, 28.03.1990 (4 AZR 536/89), NZA 1990, S. 781; BAG, 21.01.1979 (4 AZR 377/77), AP TVG § 5 Nr. 16; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 1; vgl. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 2; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 15 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 17. Henssler in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, TVG, § 5 Rn. 1. Vorausgesetzt, der Arbeitsvertrag enthält keine Bezugnahme auf den maßgeblichen Tarifvertrag. BAG, 28.03.1990 (4 AZR 536/89), NZA 1990, S. 781; BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 2; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 24 ff.; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 18. Henssler in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, TVG, § 5 Rn. 2. BT-Drs. 18/1558, S. 27, 49 f.
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c) Kartell- und Wettbewerbsfunktion? Über die zwei beschriebenen Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung hinaus ist dagegen vieles umstritten. So wird teilweise dafür plädiert, die Schutzfunktion der Allgemeinverbindlicherklärung zu einer Kartell- und Wettbewerbsfunktion auszubauen.²⁹⁰ Die Allgemeinverbindlicherklärung diene der Vervollständigung der allgemeinen Kartellwirkung des Flächentarifvertrags.²⁹¹ Sie schütze die tarifgebundenen Arbeitgeber vor einem ansonsten drohenden Unterbietungswettbewerb mit nicht tarifgebundenen Arbeitgebern, die ansonsten zu geringeren – untertariflichen – Personalkosten wirtschaften könnten.²⁹² Vor allem historisch gesehen wurzele der Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung in der Verhinderung solcher „Schmutzkonkurrenz“.²⁹³ Indem die Allgemeinverbindlicherklärung einheitliche tarifliche Arbeitsbedingungen schafft, die individualvertraglich nicht unterboten werden können, fungiere sie insofern wettbewerbsbeschränkend.²⁹⁴ In dieser Wirkungsweise wird teilweise eine Abstützung der Tarifautonomie erblickt.²⁹⁵ Zuzugeben ist zunächst, dass die Allgemeinverbindlicherklärung jedenfalls eine Kartellwirkung mit sich zieht, die den freien Wettbewerb de facto beschränkt.²⁹⁶ Allein ein Faktum begründet aber noch keine systemimmanente Funktion. Funktionen eines Rechtsinstituts lassen sich vielmehr erst aus einem systematischen Gesamtzusammenhang ableiten. Aus den faktischen Wirkungsweisen der Allgemeinverbindlicherkärung eines Tarifvertrags kann daher nicht ohne weiteres eine zielgerichtete Kartell- und Wettbewerbsfunktion entnommen werden. Ganz im Gegenteil entspricht eine solche Zielsetzung nicht dem von der Rechtsprechung vielfach bestätigten Rechtsgedanken von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie.²⁹⁷ Eine Sichtweise, die der Allgemeinverbindlicherklärung auch eine Wettbewerbsfunktion zu-
BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 2; Henssler in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, TVG, § 5 Rn. 3; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 18 ff.; a.A.: Löwisch/ Rieble, TVG, § 5 Rn. 32 ff.; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 2. Henssler in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, TVG, § 5 Rn. 3. Siehe vor allem Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 18; vgl. auch BeckOK ArbR/ Giesen, TVG, § 5 Rn. 2 und Henssler in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, TVG, § 5 Rn. 3. Kempen/Zachert/Seifert, TVG, § 5 Rn. 2; siehe hierzu auch Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 18. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 19. So auch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 32 und ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 2. BAG, 26.04. 2017 (10 AZR 856/15), NZA-RR 2017, S. 478, 481 Rn. 28; BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388 Rn. 44; BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), NZA 2001, S. 613, 615; BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), NZA 1998, S. 715, 716.
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schreibt, überdehnt die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags in einer dem TVG systemfremden Weise. Die Annahme einer Wettbewerbsfunktion leugnet die legitimationstheoretischen Wurzeln der normativen Wirkung des Tarifvertrags und verkennt, dass das Tarifsystem im Wesentlichen auf freiwilliger Mitgliedschaft beruht.²⁹⁸ Das macht das TVG deutlich, indem der Tarifvertrag seine normative Wirkung gem. § 3 Abs. 1 TVG vorrangig kraft Mitgliedschaft entfaltet. Überdies spricht gegen eine Wettbewerbsfunktion der Allgemeinverbindlicherklärung, dass die Nichtbeachtung eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags keinen unlauteren Wettbewerb i.S.d. UWG darstellt.²⁹⁹ Der BGH hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nicht dem Wettbewerbsschutz dient.³⁰⁰
d) Stärkung der Tarifautonomie? Diejenigen, die der Allgemeinverbindlicherklärung eine Kartell- und Wettbewerbsfunktion zuschreiben, erkennen in diesem Rechtsinstitut auch ein Mittel zur Stärkung der Tarifautonomie und eine diesbezügliche immanente Zielrichtung.³⁰¹ Diese Sichtweise ist die Folge eines Tarifautonomieverständnisses, das im Tarifvertrag ein umfassendes Ordnungsinstrument erblickt. Sie verbinden mit der Allgemeinverbindlicherklärung den Zweck, eine erodierende tarifliche Ordnung zu stützen. Richtigerweise begreifen jedoch sowohl zahlreiche Vertreter aus dem Schrifttum³⁰² als auch die höchstrichterliche Rechtsprechung³⁰³ die Tarifautonomie mittlerweile als kollektiv ausgeübte Privatautonomie.³⁰⁴ Wird ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, lässt sich seine Geltung für nicht organisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber „nur“ auf eine demokratisch legitimierte Fremdherrschaft zurückführen. „Echte“ Tarifautonomie kennzeichnet jedoch ihre Staatsferne. Das verdeutlicht nicht zuletzt der Begriffsbestandteil „Autonomie“. Erblickt man in der Allgemeinverbindlicherklärung ein Mittel zur Stärkung der Tarifautonomie, verkennt man ihren Wesensgehalt. Tarifautonomie lebt von ei Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 34. ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 2; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 35; a.A.: Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 19 f. BGH, 03.12.1992 (I ZR 276/90), NJW 1993, S. 1010. Siehe vor allem Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 16 f.; Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7; vgl. auch Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 26. Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121; Richardi, NZA 2013, S. 408, 411, 412; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 3; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 6; siehe im Übrigen auch Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, passim. Siehe nur BAG, 26.04. 2017 (10 AZR 856/15), NZA-RR 2017, S. 478, 481 Rn. 28. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5.
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nem selbstbestimmt-privatautonomen und staatsunabhängigen Aushandeln von Tarifverträgen.³⁰⁵ Demnach kann „Stärkung der Tarifautonomie“ nicht gleichgesetzt werden mit der Verbreitung ihrer Produkte – den Tarifverträgen.³⁰⁶ Eben darauf allein zielt aber die Allgemeinverbindlicherklärung ab. Sie „stützt“ damit nicht das Zustandekommen tarifautonomer Arbeitsbedingungen, sondern „ersetzt“ diese durch quasi-staatliche Gesetzgebung. Die Allgemeinverbindlicherklärung verfolgt daher nicht im Sinne einer Stärkung der Tarifautonomie den Zweck, eine erodierende tarifliche Ordnung abzustützen. „Stärkung der Tarifautonomie“ muss vielmehr als Verbesserung der Organisationsgrade von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verstanden werden. Dem wird teilweise entgegnet, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen habe auch einen positiven Einfluss auf die Mitgliederentwicklung in den Arbeitgeberverbänden, sodass sie schon aus diesem Grund einen Beitrag zur Stützung der Tarifautonomie leiste.³⁰⁷ Grundlage für diese Argumentation bildet ein Verweis auf den hohen Organisationsgrad in anderen europäischen Ländern, in denen die Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen sogar noch ausgeprägter sei.³⁰⁸ Dieses Argument enthält aber eine Revision der ursprünglich begründeten Sichtweise, dass die Allgemeinverbindlicherklärung zur Stützung der Tarifautonomie beitrage. Anstatt allein auf die Verbreitung tarifvertraglicher Regelungen abzustellen, bedient man sich einer Hilfskonstruktion und verweist auf einen diffusen positiven Effekt, den die Allgemeinverbindlicherklärung auf die Mitgliederentwicklung in den Arbeitgeberverbänden haben soll. Zumindest nähert sich diese Argumentationsweise aber dem Wesen der Tarifautonomie, die von einer starken Mitgliederbasis der Verbände lebt. Gleichwohl muss angemerkt werden, dass der ins Feld geführte hohe Organisationsgrad in Ländern, in denen eine besonders ausgeprägte Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen praktiziert wird, ganz andere Ursachen haben kann. Vielleicht ist der hohe Organisationsgrad in den beschriebenen europäischen Ländern auch auf ein in der Arbeitgeberschaft tief verwurzeltes Kollektivbewusstsein zurückführbar? Es kann jedenfalls nicht eindeutig belegt werden, dass der hohe Organisationsgrad tatsächlich auf die ausgeprägtere Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen zurückgeht.³⁰⁹ Stattdessen muss die Arbeitnehmerseite verstärkt in den Blick genommen werden. Hier scheint das Gegenteil richtig zu sein. Weshalb sollte sich ein Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisieren, wenn er ohnehin kraft Allgemeinverbindlicherklärung in den Ge
Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 9 ff.; Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 16. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 16; vgl. Lobinger, JZ 2014, S. 810, 811, 821. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 17; Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7. Vertreter dieser Sichtweise berufen sich auf Schulten, WSI-Mitteilungen 2012, S. 485 ff. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 55 f.
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nuss tarifvertraglicher Regelungen kommt?³¹⁰ Aus ökonomischen Gesichtspunkten scheint es für den Arbeitnehmer sinnvoller zu sein, von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft abzusehen und den Gewerkschaftsbeitrag einzusparen.³¹¹
2. Dogmatische Probleme der Neuregelung von § 5 TVG Auf Grundlage der skizzierten Zweckrichtung der Allgemeinverbindlicherklärung kann die Neuregelung in § 5 TVG eine nähere Betrachtung erfahren. Mit ihr sind einige neue dogmatische Fragestellungen verbunden, die zunächst lediglich herausgestellt werden, ehe sie im Anschluss – soweit erforderlich – einer verfassungskonformen Lösung zugeführt werden.³¹² Dabei stehen vor allem diejenigen dogmatischen Probleme der Neuregelung des § 5 TVG im Vordergrund, die unmittelbar mit einer intensivierten Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten (insbesondere Arbeitsvertragsfreiheit und negative Koalitionsfreiheit) zusammenhängen.
a) Zum Begriff des öffentlichen Interesses in § 5 Abs. 1 TVG Mit der Neuregelung des § 5 TVG werden an die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags veränderte materielle Voraussetzungen geknüpft. Auf das 50Prozent-Quorum nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. kommt es nicht mehr an. Maßgeblich ist nunmehr allein das Vorliegen eines „öffentliches Interesses“. Wann ein solches öffentliches Interesse „in der Regel“ vorliegt, schlägt § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG vor. Danach können zwei verschiedene Regelbeispiele unterschieden werden.
aa) Konkretisierung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG liegt ein öffentliches Interesse in der Regel dann vor, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat. Diese Regelung ruft verschiedene dogmatische Fragen hervor, die unmittelbar mit ihrem Wortlaut verbunden sind:
Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 111; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 55 f.; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 84 ff. Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 360 ff.; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 21 f. Siehe hierzu unten Kapitel 4, § 12.I.4.
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(1) „Bedeutung“ Anzuknüpfen ist dabei zuvorderst am Terminus der „überwiegenden Bedeutung“. Hier stellt sich zunächst die Frage, was unter „Bedeutung“ verstanden werden kann. Nach § 5 Abs. 1 TVG a.F. kam es allein auf die Anzahl der „unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags“ fallenden Arbeitnehmer an, die bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind. Die Tarifbindung der Arbeitnehmer spielte dagegen keine Rolle.³¹³ Demgegenüber insinuiert der neu³¹⁴ eingeführte Begriff „Bedeutung“ eine eher faktische Betrachtungsweise und fragt danach, ob sich ein Tarifvertrag bereits tatsächlich durchgesetzt hat.³¹⁵ Maßgeblich ist danach die tatsächliche Wirkungskraft des Tarifvertrags und sein Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. Er verleiht dem Tatbestand der Allgemeinverbindlicherklärung insofern eine weitergehende „empirische Öffnung“. Das bestätigt im Übrigen auch die Gesetzesbegründung. Der Gesetzgeber macht nunmehr ausdrücklich klar, dass dem Tarifvertrag auch insoweit „Bedeutung“ beigemessen werden kann, als er für die „tarifgemäße“ Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisses als Vorbild dient.³¹⁶ Die tarifgemäße Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse kann nach der Gesetzesbegründung durch inhaltsgleiche Anschlusstarifverträge, arbeitsvertragliche Bezugnahmen oder in Form anderweitiger Orientierungen an der tariflichen Regelung erfolgen.³¹⁷ Die mit der Gesetzesänderung beschriebene „empirische Öffnung“ des Tatbestands der Allgemeinverbindlicherklärung gipfelt dabei vor allem in der vom Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien benannten „anderweitigen Orientierung“. Demnach soll dem Tarifvertrag auch insofern „Bedeutung“ zugeschrieben werden, wenn sich Arbeitsverhältnisse de facto nach ihm richten. Auf eine nähere Begriffsbestimmung verzichtet der Gesetzgeber jedoch in der Gesetzesbegründung. Dabei ist der Terminus der „anderweitigen Orientierung“ mehr als unklar. Einerseits könnten Fälle gemeint sein, in denen der Tarifvertrag gem. § 3 Abs. 3 TVG Anwendung findet, nach § 4 Abs. 5 TVG lediglich nachwirkt oder gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kraft Betriebsübergang Geltung entfaltet.³¹⁸ Dann wäre „Orientierung“ immer mit einer rechtlich manifestierten Anwendung des Tarifvertrags verbunden. Andererseits wird „Orientierung“ teilweise auch rein faktisch interpretiert, was eine deutliche Ausweitung
Däubler TVG/Lakies, 3. Aufl. 2012, TVG, § 5 Rn. 87; Wiedemann/Wank, TVG, 7. Auflage 2007, § 5 Rn. 64. Die „überwiegende Bedeutung“ war bereits in der Weimarer Republik nach § 2 TVVO maßgeblich. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 190. BT-Drs. 18/1558, S. 48. BT-Drs. 18/1558, S. 48 f. Forst, RdA 2015, S. 25, 29; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 61.
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des Begriffs „Bedeutung“ mit sich ziehen würde.³¹⁹ Ausreichend sei danach allein der Umstand, dass einzelne tarifliche Arbeitsbedingung im Individualarbeitsverhältnis ihren Niederschlag finden. Eine umfassende arbeitsvertragliche Bezugnahme des Tarifvertrags sei nicht erforderlich, um das Arbeitsverhältnis i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG als Bedeutungsindikator mitzuzählen. Es genüge, dass einzelne tarifliche Arbeitsbedingungen – unabhängig von einer Bezugnahmeklausel oder anderen rechtlichen Wirkungen – privatautonom Eingang in das Arbeitsverhältnis finden.³²⁰ Die tarifvertraglichen Regelungen müssen danach also nicht in irgendeiner Weise eine (individual- oder kollektiv‐)rechtliche Verbindlichkeit entfalten, sondern es genügt allein ihre im Individualarbeitsverhältnis manifestierte tatsächliche Entsprechung. Betrachtet man den Begriff der „Orientierung“ liegt ein solches Verständnis auch nahe. Dafür spricht das ihm innewohnende faktische Momentum. „Orientierung“ insinuiert, dass es genügt, wenn sich die Arbeitsvertragsparteien bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses nach dem Tarifvertrag richten, ohne dass hierfür eine rechtliche Pflicht besteht. Durch den in der Gesetzesbegründung eingeführten Terminus der „anderweitigen Orientierung“ wird der Tatbestand der Allgemeinverbindlicherklärung aber fluid und unbestimmt. Es ist fraglich, ob „Orientierung“ überhaupt verlässlich empirisch festgestellt werden kann.³²¹ Die Gewährleistung einer hinreichenden empirischen Überprüfbarkeit ist aber gerade vor dem Hintergrund erforderlich, dass mit der Erstreckung tarifvertragliche Normen qua Allgemeinverbindlicherklärung immer auch ein Grundrechtseingriff einhergeht.³²² Insofern könnte sich die Unbestimmtheit des Begriffs der „Bedeutung“ und der „anderweitigen Orientierung“ als unüberwindbare verfassungsrechtliche Hürde erweisen.³²³
(2) „Überwiegend“ Überdies stellt sich die Frage, wann die erlangte Bedeutung des Tarifvertrags als „überwiegend“ begriffen werden kann. § 5 Abs. 1 TVG a.F. beantwortete diese Frage mit dem 50-Prozent-Quorum unmissverständlich. Zunächst liegt es nahe, eine „überwiegende Bedeutung“ dann anzunehmen, wenn die Anzahl der Arbeitsverhältnisse, die „tarifmäßig“ ausgestaltet sind, größer ist als die Anzahl von
Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 41 f. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 41 f.; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 142. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 193; siehe hierzu auch Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 21. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44; BVerfG, 03.07. 2000 (1 BvR 945/00), NZA 2000, S. 947, 948. Siehe hierzu im Einzelnen Kapitel 4, § 12.I.3.
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Arbeitsverhältnissen, die nicht tarifmäßig ausgestaltet sind.³²⁴ Das würde allerdings bedeuten, dass die Anzahl der tarifmäßig ausgestalteten Arbeitsverhältnisse mindestens 50 % betragen muss. Teilweise wird dem entgegnet, dass eine solche Sichtweise dem eigentlichen Zweck der Gesetzesänderung zuwiderlaufe.³²⁵ Nicht umsonst habe der Gesetzgeber das 50-Prozent-Quorum abgeschafft und durch den Terminus der „überwiegenden Bedeutung“ ersetzt. Es dürfe deshalb „nicht durch die Hintertür“ wiedereingeführt werden.³²⁶ Insoweit liegt es nahe, stattdessen auf das Verhältnis des allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags zu einem konkurrierenden Tarifvertrag abzustellen. Danach kann auch ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden, der zwar nicht von über 50 % tarifmäßig ausgestalteten Arbeitsverhältnissen erfasst wird, aber in Relation zu einem anderen Tarifvertrag das Maß der Dinge darstellt.³²⁷ Allerdings macht diese Interpretation des Begriffs der „überwiegenden Bedeutung“ eine verschärfte verfassungsrechtliche Prüfung erforderlich. Mit dieser Auslegungsvariante gehen schließlich deutlich erleichterte Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags einher, die jedoch vor allem mit Außenseitergrundrechten (Arbeitsvertragsfreiheit, negative Koalitionsfreiheit) in Konflikt treten.
bb) Konkretisierung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG Darüber hinaus liegt ein öffentliches Interesse in der Regel vor, wenn die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG). Danach wird ein öffentliches Interesse auch dann angenommen, wenn dem für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag keine „überwiegende Bedeutung“ zukommt. Damit avanciert das zweite Regelbeispiel gewissermaßen zu einem Auffangtatbestand.³²⁸ Auch in diesem Zusammenhang stellen sich aber gleich mehrere dogmatische Fragen: Zum einen muss geklärt werden, was unter dem Terminus „Wirksamkeit tarifvertraglicher Normsetzung“ zu verstehen ist. Diese Formulierung ist dem Gesetzgeber missglückt. Sie
Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 16 f.; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 14; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 43; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 62; Jöris, NZA 2014, S. 1313, 1315; so zuletzt auch BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 21 Rn. 117. Forst, RdA 2015, S. 25, 28. Forst, RdA 2015, S. 25, 28. Forst, RdA 2015, S. 25, 28; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 142 f. Forst, RdA 2015, S. 25, 29; Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 22.
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legt nämlich nahe, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG die materiell-rechtliche Wirksamkeit des Tarifvertrags voraussetzt. Es steht aber außer Frage, dass generell nur rechtlich wirksame Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden können.³²⁹ Das Regelbeispiel in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG kann daher nicht die materiell-rechtliche Wirksamkeit des Tarifvertrags meinen, sondern seine rechtstatsächliche Wirkungskraft.³³⁰ Die Allgemeinverbindlicherklärung soll nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG also dann möglich sein, wenn dies für eine Absicherung der rechtstatsächlichen Wirkungskraft des Tarifvertrags gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen geboten ist. Auffällig ist, dass der Wortlaut dieses Regelbeispiels einer Formulierung des BVerfG entspricht. So führte es in einer Entscheidung vom 24. Mai 1977 aus: „In diesem rechtlichen Zusammenhang steht die Allgemeinverbindlicherklärung. Soweit ein öffentliches Interesse daran besteht, daß im Geltungsbereich eines Tarifvertrags alle Arbeitsverhältnisse in ihren Mindestbedingungen inhaltlich gleichgestaltet sind, bewirkt sie, daß die von den Tarifparteien ausgehandelten Rechtsnormen auch für Nichtverbandsmitglieder verbindlich werden. Dadurch wird die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen gesichert.“³³¹ Der Gesetzgeber hat dabei aber verkannt, dass das BVerfG mit dieser Formulierung nur etwas Allgemeines über die Funktionsweise der Allgemeinverbindlicherklärung ausdrücken wollte. Die Allgemeinverbindlicherklärung erstreckt nämlich Tarifnormen auf Außenseiter und sichert so gewissermaßen die „Wirksamkeit“ der tarifvertraglichen Normsetzung ab. Damit beabsichtigte das BVerfG aber keinesfalls, „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“ zum öffentlichen Interesse zu erheben.³³² Besonders unklar erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff der „wirtschaftlichen Fehlentwicklung“. In der Gesetzesbegründung wird allein darauf verwiesen, dass eine wirtschaftliche Fehlentwicklung jedenfalls dann vorliegt, wenn „die Aushöhlung der tariflichen Ordnung den Arbeitsfrieden gefährdet“ oder „in Regionen oder Wirtschaftszweigen Tarifstrukturen erodieren.“³³³ Ihre Grenze soll diese Art der Abstützung der tariflichen Ordnung aber dort finden, wo
Siehe nur Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 88. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 17; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 14a; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 70 f. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2256. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 17; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 204; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 70. BT-Drs. 18/1558, S. 49.
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„der Tarifvertrag von im konkreten Bereich völlig unbedeutenden Koalitionen abgeschlossen worden ist.“³³⁴ Schnell fällt auf, dass der Gesetzgeber die in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG auftauchenden unbestimmten Rechtsbegriffe in der Gesetzesbegründung nicht etwa konkretisiert, sondern lediglich durch neue unbestimmte Rechtsbegriffe ersetzt hat. Macht man sich dennoch an eine Konkretisierung dieses Regelbeispiels, muss zunächst danach gefragt werden, was eine Fehlentwicklung „wirtschaftlicher“ Art ist. Nicht erfasst werden damit jedenfalls „soziale“ Fehlentwicklungen. Es kann also für eine Allgemeinverbindlicherklärung nicht ausreichen, dass die Arbeitsbedingungen innerhalb eines bestimmten Wirtschaftszweiges nicht angemessen erscheinen.³³⁵ In diesem Zusammenhang wird überdies vorgeschlagen, eine „Fehlentwicklung“ dann anzunehmen, wenn die Arbeitsbedingungen innerhalb eines bestimmten Wirtschaftszweigs so beschaffen sind, dass sie die Grenze zur Sittenwidrigkeit (§ 138 Abs. 1 BGB) überschreiten.³³⁶ Hierauf beziehe sich auch die Gesetzesbegründung, wenn sie den Terminus von der Gefährdung des Arbeitsfriedens bemüht.³³⁷ Mit dem Heranziehen der Sittenwidrigkeitsgrenze ist im Hinblick auf die Konkretisierung „wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“ aber noch nichts gewonnen. „Sittenwidrigkeit“ ist dabei lediglich ein anderer unbestimmter Rechtsbegriff, der dieselben Fragen aufwirft. Andere verweisen daher darauf, dass § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG als „Minus“ zu Nr. 1 zu verstehen ist:³³⁸ Wenn also nicht einmal mehr eine „anderweitige Orientierung“ der Arbeitsverhältnisse an den maßgeblichen Tarifvertrag innerhalb eines bestimmten Wirtschaftszweiges erfolgt, soll eine Allgemeinverbindlicherklärung geboten sein, um der zunehmenden Abkoppelung von tariflichen Standards entgegenzuwirken.³³⁹ Die genannten Konkretisierungsversuche lassen allesamt eine quantitative Grenzbestimmung vermissen. Es bleibt unklar, wann die „Folgen wirtschaftlichen Fehlentwicklungen“ ein Ausmaß erreichen, das eine Allgemeinverbindlicherklärung nach Nr. 2 erforderlich macht. Ein solche quantitative Konkretisierung dieses Regelbeispiels kann weder dem Wortlaut noch der Gesetzesbegründung ohne weiteres entnommen werden. Der Tatbestand von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG bleibt insoweit schemenhaft. Er enthält eine kaum überschaubare Verflechtung unbestimmter Rechtsbegriffe. Insbesondere der Begriff der „wirtschaftlichen Fehlentwicklung“ erweist sich als unpraktikabel. Das
BT-Drs. 18/1558, S. 49; hier stützt sich der Gesetzgeber auf eine Entscheidung des BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 205; vgl. auch Forst, RdA 2015, S. 25, 29 f. Forst, RdA 2015, S. 25, 30. Forst, RdA 2015, S. 25, 30 f. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 47. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 47.
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wirft die Frage auf, ob das Regelbeispiel in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG überhaupt den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt – insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung mit Außenseitergrundrechten in Konflikt tritt. Auch die Konkretisierung dieses Regelbeispiels kann daher nicht losgelöst von einer verfassungsrechtlichen Betrachtung erfolgen. Legt man § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG besonders extensiv aus, kann damit eine unverhältnismäßige Intensivierung der Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten einhergehen. Gelingt eine verfassungskonforme Konkretisierung von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG nicht, muss dieses Regelbeispiel im Ergebnis sogar als verfassungswidrig eingestuft werden.
cc) Numerus clausus? Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG begründen die nummerisch aufgeführten Tatbestände „in der Regel“ ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags. Diese Formulierung („in der Regel“) legt zunächst nahe, dass auch jenseits der in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG genannten Tatbestände ein öffentliches Interesse bestehen kann. Die Gesetzesbegründung ist in diesem Zusammenhang nicht ganz eindeutig. Einerseits wird darauf verwiesen, dass § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG nunmehr ein konkretisiertes öffentliches Interesse vorgibt, „welches den Rahmen für die Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales absteckt.“³⁴⁰ Wenn die aufgeführten Tatbestände den „Rahmen abstecken“, kann aber kein Raum für sonstige Tatbestände bestehen, die ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung indizieren.³⁴¹ Andererseits verweist die Gesetzesbegründung darauf, dass die in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG neu eingefügten Tatbestände eine „besondere Bedeutung“ für die Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales haben.³⁴² Diese Formulierung kann dahingehend verstanden werden, dass die aufgeführten Tatbestände zwar besonders wichtige Indizien für das Vorliegen eines öffentliches Interesses darstellen, aber keinesfalls erschöpfend sind.³⁴³ Allerdings ist bereits fraglich, ob neben den aufgeführten Tatbeständen überhaupt noch Fallgruppen denkbar sind, die ein öffentliches Interesse begründen können. Insbesondere § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist sehr weit gefasst und wird daher teilweise auch als Auffangtatbestand begriffen.³⁴⁴ Dieser Umstand spricht wiederum eher für die Annahme eines numerus
BT-Drs. 18/1558, S. 48. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 60. BT-Drs. 18/1558, S. 48. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 60. Forst, RdA 2015, S. 25, 29; Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 22.
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clausus an Regelbeispielen, die ein öffentliches Interesse indizieren. Zudem muss der Terminus „in der Regel“ nicht zwangsläufig bedeuten, dass noch andere als die genannten Beispiele für die Begründung eines öffentlichen Interessen in Betracht kommen. Vielmehr kann „in der Regel“ auch nur so viel bedeuten, dass die aufgeführten Beispiele grundsätzlich geeignet sind, ein öffentliches Interesse zu begründen, aber durch anderweitige in die Abwägung miteinzubeziehende Umstände widerlegt werden können. Ungeachtet dieser Fragen muss allerdings eines berücksichtigt werden: Betrachtet man die Aufzählung in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG als nicht abschließend, kann damit gleichzeitig die Möglichkeit einer erweiterten Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten einhergehen.³⁴⁵ Daher wird auch diese Frage zunächst offengelassen, um sie an späterer Stelle – unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Maßstäbe – zu beantworten.³⁴⁶
b) Zur Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über gemeinsame Einrichtungen Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über gemeinsame Einrichtungen hat der Gesetzgeber nunmehr in einem gesonderten Absatz geregelt. Nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn der Tarifvertrag die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung in einem der aufgelisteten Bereiche (Nr. 1– 5) regelt. Auf den ersten Blick erweckt § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG den Eindruck, dass für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen das Vorliegen eines öffentlichen Interessen nicht erforderlich ist.³⁴⁷ Während § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG für die Allgemeinverbindlicherklärung ein öffentliches Interesse verlangt, findet diese Voraussetzung in § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG nämlich keine Erwähnung. Demgegenüber heißt es aber in der Gesetzesbegründung: „Ein öffentliches Interesse ist nach Satz 1 bereits grundsätzlich dann gegeben, wenn durch die Allgemeinverbindlicherklärung die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien gesichert werden soll.“³⁴⁸ Der Gesetzgeber macht mit dieser Formulierung deutlich, dass auch die Allgemeinverbindlicherklärung von gemeinsamen Einrichtungen nach Maßgabe von § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG im öffent
BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 10. Siehe Kapitel 4, § 12.I.3.c) ff). Vgl. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 18. BT-Drs. 18/1558, S. 49.
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lichen Interesse geboten erscheinen muss.³⁴⁹ Das öffentliche Interesse ist in diesem Fall die „Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen“.³⁵⁰ Damit trifft die teilweise vertretene Annahme³⁵¹ nicht zu, § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG knüpfe die Allgemeinverbindlicherklärung von gemeinsamen Einrichtungen an keine weitere materielle Voraussetzung.³⁵² Das öffentliche Interesse als Tatbestandsvoraussetzung ist vielmehr in der „Sicherung der Funktionsfähigkeit“ gemeinsamer Einrichtungen zu erblicken. Gleichwohl ist zuzugeben, dass die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über gemeinsame Einrichtung dadurch eine Erleichterung erfährt, dass sie von jeglichen quantitativen Voraussetzungen befreit wurde (insbesondere bedarf es nicht der Prüfung einer „überwiegenden Bedeutung“).³⁵³ Ob die damit verbundene intensivierte Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten noch verfassungskonform ist, muss an anderer Stelle erst noch geprüft werden.³⁵⁴ Ferner stellt sich aber sodann die Frage, wann ein Tarifvertrag „zur Sicherung der Funktionsfähigkeit“ gemeinsamer Einrichtungen für allgemeinverbindlich erklärt wird und damit im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Hierbei dürfte es sich in Anlehnung an die bisherigen Rechtsprechung³⁵⁵ um den Hauptanwendungsfall der Finanzierungsschwierigkeiten einer gemeinsamen Einrichtung handeln. Finanzierungsschwierigkeiten treten besonders dann auf, wenn Arbeitgeber einer bestimmten Branche sich der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung zunehmend entziehen und letztlich nur noch wenige tarifgebundene Arbeitgeber die gemeinsame Einrichtung finanzieren. Verlangt man für dieses Merkmal lediglich Finalität, genügt bereits die bloße Intension zur Herstellung einer besseren Finanzierungsgrundlage. Für eine solche Lesart spricht vor allem, dass der Tarifvertrag nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG „zur“ Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen für allgemeinverbindlich erklärt wird. Demgegenüber ließe sich § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG aber auch so verstehen, dass zur Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamer Ein-
Zuletzt bestätigt durch BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 25 Rn. 137 ff. Vgl. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 58. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 18; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 14b; vgl. auch BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 17. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 58. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 58; vgl. hierzu auch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 211. Siehe hierzu Kapitel 4, § 12.I.3.c) dd). BVerfG, 10.09.1991 (1 BvR 561/89), NZA 1992, S. 125 f.; BAG, 28.03.1990 (4 AZR 536/89), NZA 1990, S. 781; BAG, 24.01.1979 (4 AZR 377/77), AP TVG § 5 Nr. 16.
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richtungen die Allgemeinverbindlicherklärung „erforderlich“ ist.³⁵⁶ Dann wiederum müsste stets eine Abwägung der Gesamtinteressen im Einzelfall vorgenommen werden. Auf der einen Seite kann die Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung aus Finanzierungsschwierigkeiten erforderlich sein, wenn nämlich der Organisationsgrad auf Arbeitgeberseite innerhalb einer Branche so niedrig ist, dass eine ausreichende Finanzierungsgrundlage anders nicht gewährleistet werden kann.³⁵⁷ Mit diesem Finanzierungsinteresse müssen auf der anderen Seite die durch die Allgemeinverbindlicherklärung einhergehende Beeinträchtigungen von Außenseitergrundrechten abgewogen werden.³⁵⁸ Ob ein solches zusätzliches Erforderlichkeitskriterium hineingelesen werden muss, kann nur vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen bewertet werden. Überdies muss für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung ein in § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG aufgelisteter Gegenstand einschlägig sein. Der Tarifvertrag über die gemeinsame Einrichtung muss den Erholungsurlaub, ein Urlaubsgeld oder ein zusätzliches Urlaubsgeld (Nr. 1), eine betriebliche Altersversorgung i.S.d. Betriebsrentengesetzes (Nr. 2), die Vergütung der Auszubildenden oder die Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten (Nr. 3), eine zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung der Arbeitnehmer (Nr. 4) oder den Lohnausgleich bei Arbeitszeitausfall, Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitszeitverlängerung (Nr. 5) regeln. Dabei stellt sich die Frage, ob die in § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG aufgelisteten Gegenstände enumerativ oder aber abschließend zu verstehen sind. Für eine abschließende Aufzählung spricht der Umstand, dass § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG die für eine bloß beispielhafte Aufzählung typischen Indikatoren wie „insbesondere“ oder „in der Regel“ nicht beinhaltet. Zudem stellt auch die Gesetzesbegründung ausdrücklich klar, dass § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG einen numerus clausus enthält: „Soweit ein Tarifvertrag für eine gemeinsame Einrichtung einen anderen als die in den Nummern 1 bis 5 genannten Gegenstände vorsieht, ist eine Allgemeinverbindlicherklärung über Absatz 1 weiterhin möglich.“³⁵⁹ Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen nach Maßgabe des § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG nur bezüglich der in den Nr. 1– 5 aufgeführten Gegenständen möglich ist.³⁶⁰ Im Hinblick auf
So vor allem Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 213 f.; vgl. auch Forst, RdA 2015, S. 25, 32 f.; Jöris, NZA 2014, S. 1313, 1317 f.; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 75. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 64. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 213. BT-Drs. 18/1558, S. 49. Forst, RdA 2015, S. 25, 31; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 65.
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Gegenstände, die nicht in den Nr. 1– 5 aufgeführt sind, gelten dann die erhöhten Anforderungen von § 5 Abs. 1 TVG. Nicht übersehen werden darf letztlich, dass § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG anordnet, dass ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag vom Arbeitgeber auch dann anzuwenden ist, wenn er nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Diese Konstellation kann damit als eine vom Gesetzgeber ausdrücklich erwünschte Form der Tarifpluralität begriffen werden. Die Herstellung einer nach § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG gebotenen Tarifeinheit verbietet sich insofern. Fraglich bleibt allerdings der Umgang mit einer über § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG hinausgehende Tarifkonkurrenz. Tarifkonkurrenz beschreibt – anders als der Begriff der Tarifpluralität – den Fall, dass zwei sich inhaltlich überschneidende Tarifverträge Anwendung auf ein einzelnes Arbeitsverhältnis beanspruchen.³⁶¹ Zu einer solchen Konstellation kommt es im Rahmen von § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG etwa dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer qua mitgliedschaftlich legitimierter Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) an einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung gebunden sind, der Arbeitgeber aber gleichzeitig auch an einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung gebunden ist (§ 5 Abs. 4 Satz 1 TVG). Welchem Tarifvertrag wird dann der Vorrang eingeräumt? Dem Wortlaut nach ordnet § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG zwar nur eine tarifplurale Koexistenz der beiden Tarifverträge an. Vieles spricht aber dafür, dass der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag gegenüber dem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag Vorrang genießt³⁶² – gesetzt den Fall, dass beide Tarifverträge sich inhaltlich überschneiden.³⁶³ Bei genauerer Betrachtung enthält § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG eine Privilegierung zugunsten des nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags. Dafür spricht zum einen die unmissverständliche Formulierung des Normtextes: „(…) ist vom Arbeitgeber auch einzuhalten“. Denn wenn der Arbeitgeber den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag „auch dann“ einhalten muss, wenn der Arbeitgeber nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist, so muss dies im Umkehrschluss auch für den Fall der Tarifkonkurrenz gelten.³⁶⁴ Zum anderen weist die in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachte Zielsetzung von § 5 Abs. 1a, 4 Satz 2 TVG auf diesen Verdrängungsmechanismus für den Fall von Tarifkonkurrenz hin. Das Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen würde schließlich konterkariert werden, wenn die an einen anderen Tarifvertrag ge ErfK/Franzen, TVG, § 4a Rn. 29. Forst, RdA 2015, S. 25, 33; Jöris, NZA 2014, S. 1313, 1318; Preis/Povedano Peramato, HSISchrift, Bd. 20, S. 72 f.; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 79. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 72. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 72 Fn. 316.
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bundenen Arbeitgeber nicht erfasst würden.³⁶⁵ Es macht nämlich keinen Unterschied, ob ein Arbeitgeber die gemeinsame Einrichtung deshalb nicht durch Beiträge finanziert, weil er überhaupt nicht tarifgebunden oder weil er qua Mitgliedschaft an einen anderen, inhaltlich konkurrierenden Tarifvertrag gebunden ist. Im Ergebnis beinhaltet § 5 Abs. 5 Satz 2 TVG damit einen – vom Auflösungsprinzip der Spezialität³⁶⁶ abweichenden³⁶⁷ – Verdrängungsmechanismus zugunsten des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags.Wird ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung für allgemeinverbindlich erklärt, der hingegen eine Materie regelt, die nicht in § 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1– 5 TVG aufgeführt ist, kann der in § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG verankerte Verdrängungsmechanismus allerdings keine Anwendung finden. Dann gelten die allgemeinen Auflösungsregeln. Ob die von § 5 Abs. 5 Satz 2 TVG ausgehende Verdrängungswirkung aber verfassungskonform ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.³⁶⁸
c) Schlussfolgerung Nicht alle dogmatischen Fragen, die § 5 TVG n.F. hervorruft, lassen sich damit ohne weiteres beantworten. Sie können teilweise nicht losgelöst von verfassungsrechtlichen Maßstäben betrachtet werden. Die Auslegung von § 5 TVG bewegt sich im Spannungsfeld verfassungsrechtlich garantierter Außenseitergrundrechte (insbesondere Arbeitsvertragsfreiheit und Koalitionsfreiheit). Es ist daher nicht viel gewonnen, wenn man sich – unter Zugrundelegung der herkömmlichen Auslegungsgrundsätze – auf eine bestimmte Interpretation von § 5 TVG verständigt, diese im Ergebnis aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht haltbar ist. Der Gesetzgeber operiert mit seiner Änderung des § 5 TVG schließlich im grundrechtssensiblen Bereich. Nicht zuletzt war § 5 TVG a.F. bereits verfassungsrechtlich alles andere als unumstritten.³⁶⁹ Je nach Interpretationsansatz kann von § 5 TVG n.F. eine intensivierte Grundrechtsbeeinträchtigung ausgehen, die die verfassungsrechtlichen Zweifel am Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung verstärken. Daher kann es bei der Konkretisierung von § 5 TVG erforderlich sein, eine verfassungskonforme Auslegung zu suchen, die gegenüber einer an den herkömmlichen Grundsätzen (Wortlaut, Telos, Systematik)
BT-Drs. 18/1558, S. 50. Siehe zur Auflösung von Tarifkonkurrenz die ständige Rechtsprechung des BAG: BAG, 23.03. 2005 (4 AZR 203/04), NZA 2005, S. 1003; BAG, 20.03.1991 (4 AZR 455/90), NZA 1991, S. 736; BAG, 22.02.1957 (1 AZR 536/55), NJW 1957, S. 845. Vgl. Jöris, NZA 2014, S. 1313, 1318. Siehe hierzu Kapitel 4, § 12.I.3.c) gg). Siehe zum Überblick Zachert, NZA 2003, S. 132 ff.
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
orientierten Auslegung, zu bevorzugen ist. Die bislang unaufgelösten dogmatischen Fragen sollen im Lichte verfassungsrechtlicher Maßstäbe neu verhandelt werden.
3. Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Maßstäbe Der vom Gesetzgeber im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes reformierte § 5 TVG muss daher auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Wenn seine Verfassungsmäßigkeit von der Beantwortung einer bestimmten dogmatischen Fragestellung abhängig ist, so ist vorrangig eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 TVG anzustreben. Anderenfalls kann sich der jeweilige Tatbestand der Allgemeinverbindlicherklärung auch als verfassungswidrig erweisen.
a) Tarifnormerstreckung im Spiegel der Rechtsprechung des BVerfG Die Erstreckung tarifvertraglicher Normen kann sowohl mit Staatsstrukturprinzipien als auch mit Außenseitergrundrechten in Konflikt treten. Für § 5 TVG a.F. lässt sich in diesem Zusammenhang bereits auf eine lange Rechtsprechungshistorie des BVerfG zurückblicken. Die Rechtsprechung kreist dabei zwar nicht immer um die Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG a.F., sondern betrifft ebenso Regelungen aus dem HAG und dem AEntG. Allerdings ist diese Rechtsprechung auch für die Verfassungsmäßigkeit der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG n.F. wertvoll, da die Regelungsmechanismen des HAG und AEntG der Tarifnormerstreckung qua Allgemeinverbindlicherlärung teilweise gleichen. Die Rechtsprechungsentwicklung wird daher zunächst aufgearbeitet und die für die Tarifnormerstreckung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen herausgefiltert, ehe § 5 TVG n.F. hieran im Einzelnen gemessen wird.
aa) Die Entscheidung des BVerfG zu § 19 HAG vom 27. Februar 1973 Als Ausgangspunkt der Rechtsprechung zur Tarifnormerstreckung lässt sich die Entscheidung des BVerfG vom 27. Februar 1973 heranziehen.³⁷⁰ Hierbei ging es um die Verfassungsmäßigkeit von § 19 HAG. Unter den Voraussetzungen von § 19 Abs. 1 Satz 1 HAG kann ein Heimarbeitsausschuss Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen mit bindender Wirkung für alle Beteiligten festsetzen. Nach § 19 Abs. 2 Satz 4 HAG a.F. (bzw. § 19 Abs. 3 Satz 1 HAG n.F.) hat die bindende Festsetzung die Wirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags.
BVerfG, 27.02.1973 (2 BvL 27/69), NJW 1973, S. 1320.
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Das BVerfG erklärte § 19 HAG mit dem Grundgesetz für vereinbar. Grundlage für die verfassungsrechtliche Beurteilung bilde der systematische Zusammenhang zu § 5 TVG.³⁷¹ Der Staat habe im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen seine Zuständigkeit weit zurückgenommen. Daraus folgert das BVerfG, „dass überall dort, wo ein Bedürfnis besteht, also der Individualarbeitsvertag ein unzureichendes Instrument zur Begründung eines sozial angemessenen Arbeitsverhältnisses darstellt“, Tarifvertragsparteien existieren müssen.³⁷² Da es in Wirtschaftszweigen, in denen Heimarbeit üblich ist, nicht selten an Tarifparteien fehle, sei die Regelung in § 19 HAG als Korrektiv erforderlich. Einer eingehenden verfassungsrechtlichen Prüfung unterzieht das BVerfG § 19 HAG nicht. Es verzichtet darauf, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Tarifnormerstreckung auf Außenseiter näher zu bestimmen. Insbesondere führt es keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe ins Feld, mit denen § 19 HAG in Konflikt tritt. Das BVerfG begründet die Verfassungsmäßigkeit der Tarifnormerstreckung nach § 19 HAG allein aus ihrer sozialpolitischen Notwendigkeit. Daher verwundert es nicht, dass diese Entscheidung auf enorme Kritik gestoßen ist.³⁷³ Sie bildet damit zwar den Ausgangspunkt für eine Aufarbeitung der Rechtsprechung zur Tarifnormerstreckung. Die verfassungsrechtliche Begründung des BVerfG bleibt jedoch unbefriedigend.
bb) Die Entscheidung des BVerfG vom 24. Mai 1977 zu § 5 TVG a.F. Wenige Jahre später bekam das BVerfG die Gelegenheit, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG a.F. näher zu beleuchten. In einer Entscheidung vom 24. Mai 1977 erklärte es das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung für verfassungskonform³⁷⁴ und stützte sich dabei insbesondere auf drei Gesichtspunkte: Erstens verletze § 5 TVG a.F. nicht das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Demokratieprinzip.³⁷⁵ Der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags sei schließlich ein Verfahren vorgeschaltet, in dem es entscheidend auf die Kompetenz des – demokratisch legitimierten – Bundesministers ankomme. Er sei an die strengen Tatbestandsvoraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung gebunden und müsse eigenverantwortlich prüfen, ob diese im konkreten Fall einschlägig sind. Von ihm gehe damit ein staatlicher Geltungsbefehl aus, der eine hinreichende demokratische Legitima
BVerfG, 27.02.1973 (2 BvL 27/69), NJW 1973, S. 1320, 1321. BVerfG, 27.02.1973 (2 BvL 27/69), NJW 1973, S. 1320, 1321. Siehe für einen Überblick Zacher, FS Böhm, S. 707, 716 ff. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258.
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tion sicherstelle.³⁷⁶ Zweitens finde auch das in Art. 80 GG verankerte Bestimmtheitsgebot schon deshalb keine Anwendung, weil es sich bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nicht um eine Rechtsverordnung handele.³⁷⁷ Drittens verletze § 5 TVG a.F. auch nicht die verschiedenen Spielarten der Koalitionsfreiheit. Zunächst beeinträchtige die Allgemeinverbindlicherklärung nicht die individuelle positive Koalitionsfreiheit. Zwar sei nicht auszuschließen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung Anreize zum Koalitionsbeitritt vermindert. Hierbei handele es sich aber allenfalls um Beeinträchtigungen faktischer Natur, denen jedoch keine verfassungsrechtliche Relevanz zugeschrieben werden könne.³⁷⁸ Überdies verneint das BVerfG auch eine Beeinträchtigung der in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter, die an den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gebunden sind. Trotz Allgemeinverbindlicherklärung besitze der Außenseiter schließlich die Möglichkeit, „sich einer anderen als der vertragsschließenden oder keiner Koalition anzuschließen“.³⁷⁹ Letztlich beeinträchtige die Allgemeinverbindlicherklärung auch nicht die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände. Das BVerfG führt in diesem Zusammenhang aus: „Das um der Wahrung und Förderung der Belange der Mitglieder willen garantierte Bestands- und Betätigungsrecht einer Koalition hindert den Staat nicht, die von anderen konkurrierenden Koalitionen gesetzten Normen, die bereits ein gewisses Maß an Verbreitung erreicht haben, für allgemeinverbindlich zur erklären, weil ein öffentliches Interesse hieran besteht, auch wenn dadurch das Betätigungsfeld der anderen Verbände eingegrenzt wird.“³⁸⁰ Die Allgemeinverbindlicherklärung errichte schließlich kein rechtliches Hindernis zum Abschluss eines konkurrierenden Tarifvertrags.³⁸¹ Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das BVerfG die Tarifnormerstreckung unter zwei Voraussetzungen mit der kollektiven Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände für vereinbar hält: Zum einen muss der allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag schon ein „gewisses Maß an Verbreitung“ erreicht haben. Zum anderen fordert das BVerfG ein öffentliches Interesse, das offensichtlich mit der ersten Voraussetzung nicht gleichzusetzen ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann aber die Frage, wie das Verhältnis von Tarifnormerstreckung und kollektiver Koalitionsfreiheit neu zu vermessen ist, wenn man bedenkt, dass das 50-Prozent-
BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258; vgl. auch BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), NJW 1966, S. 2305. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259.
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Quorum in § 5 TVG n.F. keine Berücksichtigung mehr gefunden hat und es nunmehr neben dem Bestehen eines öffentlichen Interesses keiner weiteren Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung bedarf. Hierauf ist an anderer Stelle zurückzukommen.³⁸² Mit der vorliegenden Entscheidung hat das BVerfG jedenfalls erstmals die verfassungsrechtlichen Anforderungen für eine Tarifnormerstreckung näher umrissen. Auch wenn es etwaige Beeinträchtigungen von Staatstrukturprinzipien und Außenseitergrundrechten im Ergebnis verneint hat, führt das BVerfG vor allem drei verfassungsrechtliche Wertungen ins Feld, mit denen eine Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich in Konflikt treten kann: das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Demokratieprinzip, die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG) der vom für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag unterworfenen Außenseiter sowie die kollektive Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG) konkurrierender Verbände.
cc) Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG a.F. im Jahr 1980 Diese Rechtsprechung bestätigte das BVerfG in einer Entscheidung vom 15. Juli 1980.³⁸³ Erneut ging es um die Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG a.F. im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung. Das BVerfG prüft diesmal nicht die Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip, sondern richtet den Fokus vor allem auf Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG. Dabei verneint es zunächst eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung begründe formal keine Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband. Insofern könne auch die Finanzierung der gemeinsamen Einrichtung durch den Arbeitgeber nicht als Mitgliedsbeitrag verstanden werden. Vielmehr handele es sich um eine Leistung für die branchenzugehörigen Arbeitnehmer, die gerade nicht zu einem Personenverband des beitragspflichtigen Arbeitgebers führe. Es fehle an einem „ständigen Zusammenwirken irgendwelcher Art, das zum Wesen eines Personenverbands gehört“.³⁸⁴ In diesem Zusammenhang ist das BVerfG ferner auch auf das folgende Problem gestoßen: Der infolge der Allgemeinverbindlicherklärung nunmehr an den Tarifvertrag über die gemeinsame Einrichtung gebundene Arbeitgeber muss einerseits Beiträge zur Finanzierung der gemeinsamen Einrichtungen zahlen, kann aber andererseits nicht die mit einer Verbandsmitgliedschaft
Kapitel 4, § 12.I.3.b) cc). BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215. BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215.
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
verbundenen Mitgliedsrechte (insbesondere Kontrollrechte) geltend machen. Zwar könne diese Konstellation durchaus einen Druck auf Arbeitgeber erzeugen, Mitglied im Arbeitgeberverband zu werden, um sich zumindest die Vorteile einer Verbandsmitgliedschaft zu sichern. Falls ein solcher Druck entstehe, sei dieser jedoch nicht derart erheblich, eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit zu bewirken.³⁸⁵ Überdies führe die Allgemeinverbindlicherklärung auch nicht zu einer Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitgeber. Die Tarifnormerstreckung hindere den Arbeitgeber nicht daran, einer Koalition beizutreten oder eine zu bilden. Zudem setze sich der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag nicht zwangsläufig gegenüber anderen Tarifverträgen durch.³⁸⁶ Vielmehr seien allein die „allgemeinen arbeitsrechtlichen Lösungsgrundsätze für die Tarifkonkurrenz“ maßgeblich. Sofern die Allgemeinverbindlicherklärung tatsächlich einen negativen Einfluss auf die Bereitschaft zum Beitritt oder zur Gründung einer Koalition hat, handele es sich dabei lediglich um eine faktische Beeinträchtigung, die in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu berücksichtigen sei.³⁸⁷ Letztlich verneint das BVerfG eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit des Außenseiter-Arbeitgebers, da „objektiv eine Tendenz zur Regelung unternehmerischer Tätigkeiten“ nicht erkennbar sei.³⁸⁸ Resümiert man diese Entscheidung, so sind vor allem drei Aspekte hervorzuheben: Erstens ist auffällig, dass das BVerfG – anders als noch in der Entscheidung vom 12. Mai 1977³⁸⁹ – die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände nicht einmal mehr erwähnt. Zwar verweist das BVerfG darauf, dass sich die Bildung und der Fortbestand einer Koalition „durch den Wettbewerb unter den verschiedenen Gruppen bestimmt.“³⁹⁰ Das BVerfG erkennt in diesem Zusammenhang jedoch nicht, dass die Allgemeinverbindlicherklärung den freien Wettbewerb massiv beeinträchtigt. Konkurrierende Verbände verlieren nämlich an Bedeutung, wenn in ihrem Wirkungsbereich bereits ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag existiert.³⁹¹ Interessant ist zweitens, dass das BVerfG davon ausgeht, dass sich der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag nicht zwangsläufig gegenüber anderen
BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. Dieser Hinweis des BVerfG ist bemerkenswert, da es offensichtlich die Tarifunterwerfung zum Gewährleistungsgehalt der positiven Koalitionsfreiheit zählt. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die negative Koalitionsfreiheit auch vor der Erstreckung tarifvertraglicher Regelungen im Sinne einer negativen Tarifvertragsfreiheit schützt. Siehe hierzu bereits Kapitel 3 § 8.V.2.c). BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. Vgl. hierzu Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 133 f.
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durchsetzt.³⁹² Dieses Argument ist für das BVerfG wichtig, da es den Gedanken eines freien Wettbewerbs aufrechterhält. Dieser dürfte aber mit dem nunmehr in § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG n.F. verankerten Verdrängungsmechanismus seine Gültigkeit verlieren. Danach ist ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag vom Arbeitgeber nämlich auch dann einzuhalten, wenn er nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Die Auswirkungen dieser Gesetzesänderung auf die Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG gilt es an späterer Stelle eingehend zu untersuchen. Jedenfalls dürfte sich die bisherige Argumentation des BVerfG nicht mehr aufrechterhalten lassen.³⁹³ Drittens hat das BVerfG in der vorliegenden Entscheidung erstmals Art. 12 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab für eine durch § 5 TVG veranlasste Tarifnormerstreckung ins Feld geführt. Verwunderlich ist aber, dass das BVerfG gleichwohl keine Verletzung der Arbeitsvertragsfreiheit thematisiert.³⁹⁴
dd) Die Bergmannversorgungsschein-Entscheidung von 1983 Besonderes Aufsehen erregte kurz darauf die sogenannten Bergmannversorgungsschein-Entscheidung vom 14. Juni 1983, in der das BVerfG die staatlich organisierte Tarifnormerstreckung erstmals deutlich in die Schranken gewiesen hat.³⁹⁵ Es ging dabei um eine verfassungsmäßige Auslegung von § 9 Abs. 1 Satz 1 BVSG NRW a.F. Danach konnte der Inhaber eines Bergmannversorgungsscheins für die Dauer einer anderweitigen Beschäftigung vom bisherigen Arbeitgeber Hausbrandkohle zu denselben Bedingungen wie aktive Bergleute erhalten. Indem diese Regelung auf „dieselben Bedingungen“ verwies, die für aktive Bergleute galten, wurden gleichzeitig auch die einschlägigen Tarifnormen in Bezug genommen. Insofern enthielt § 9 Abs. 1 Satz 1 BVSG NRW a.F. eine dynamische Verweisung auf Tarifverträge, die – ohne Rücksicht auf eine mitgliedschaftlich legitimierte (§ 3 TVG) oder auf staatlichem Geltungsbefehl basierende (§ 5 TVG) Tarifbindung – von Gesetzes wegen auf das Arbeitsverhältnis Anwendung beanspruchte. Das BVerfG erklärte jedoch eine aus § 9 Abs. 1 Satz 1 BVSG NRW a.F. abgeleitete Tarifnormerstreckung von Gesetzes wegen für verfassungswidrig. Sie verstoße gegen das Demokratieprinzip: „Der Gesetzgeber darf seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigen Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen, soll der Bürger nicht schrankenlos einer normsetzenden Gewalt nichtstaatlicher
BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. Vgl. hierzu Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 133. Vgl. hierzu Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 137 f. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225.
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Einrichtungen ausgeliefert werden.“³⁹⁶ Die Tarifgeltung müsse entweder staatlich-demokratisch oder mitgliedschaftlich-privatautonom legitimiert sein. Bei § 9 Abs. 1 Satz 1 BSG NRW a.F. fehle es – anders als bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach § 5 TVG – an einem staatlichen Geltungsbefehl und damit an einer hinreichenden demokratischen Legitimation der Tarifnormerstreckung.³⁹⁷
ee) Entscheidung zur Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG a.F. In einer Entscheidung vom 18. Juli 2000 bekam das BVerfG erstmals die Gelegenheit, zur Verfassungsmäßigkeit einer auf den Regeln des AEntG a.F. beruhenden Tarifnormerstreckung Stellung zu beziehen. Es erklärte die Erstreckung tariflicher Normen mittels einer auf § 1 Abs. 3a AEntG a.F.³⁹⁸ beruhenden Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe vom 25. August 1999 (BauArbbV) für verfassungskonform.³⁹⁹ § 1 BauArbbV erstreckte die Rechtsnormen des Tarifvertrags zur Regelung eines Mindestlohns im Baugewerbe auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wenn der Betrieb überwiegend Bauleistungen i.S.d. § 211 Abs. 1 SGB III a.F. erbrachte. § 1 Abs. 3a AEntG a.F. verstoße nicht gegen das für Rechtsverordnungen in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Bestimmtheitsgebot.⁴⁰⁰ Aber auch die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter werde durch die Tarifnormerstreckung nach § 1 Abs. 3a AEntG a.F nicht verletzt. In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung verweist das BVerfG darauf, dass ein mit dieser Form der Tarifnormerstreckung entstehender mittelbarer Druck nicht derart erheblich sei, um die negative Koalitionsfreiheit tatsächlich zu verletzen. Es gelte nichts Anderes als das bereits zur Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG Gesagte: „Allein die Wahl einer anderen Rechtsform für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter ändert an Inhalt und Ergebnis der Erwägung zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auf die insoweit verwiesen wird, nichts.“⁴⁰¹ Dabei verwundert es nicht, dass die Gleichsetzung beider Formen von Tarifnormerstreckung, heftige Kritik
BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; so bereits BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/ 74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225 f. Entspricht in etwa den §§ 7, 7a AEntG n.F. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949.
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ausgelöst hat.⁴⁰² Während die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG a.F. sowohl an ein öffentliches Interesse als auch an das 50-Prozent-Ouorum geknüpft war, unterlag die Erstreckung tariflicher Normen nach § 1 Abs. 3a AEntG a.F. deutlich niedrigeren Voraussetzungen. Es genügte bereits der formale Antrag einer der tarifvertragsschließenden Parteien. An weitere materielle Voraussetzungen war die Tarifnormerstreckung nicht geknüpft. Insoweit kann die Entscheidung des BVerfG zur Tarifnormerstreckung nach dem AEntG nicht als konsequente Fortführung der bisherigen Rechtsprechungslinie begriffen werden. Hätte das BVerfG die zu § 5 TVG a.F. entwickelten Maßstäbe angelegt, wäre die Verfassungsmäßigkeit einer Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnungserlass nach den Regeln des AEntG mehr als zweifelhaft gewesen.⁴⁰³
ff) Einheitliche Rechtsprechungslinie? Damit wurden fünf Entscheidungen skizziert, in denen das BVerfG in verfassungsrechtlicher Hinsicht Stellung zur Tarifnormerstreckung bezogen hat. Ausgeklammert wurde dabei die Rechtsprechung zur „rechtsgeschäftlichen Tarifnormerstreckung“⁴⁰⁴ durch landesgesetzliche Tariftreueregelungen. Zur Verfassungsmäßigkeit landesgesetzlicher Tariftreueregelungen existiert eine wechselvolle nationale⁴⁰⁵ und supranationale⁴⁰⁶ Rechtsprechung. Tariftreueregelungen legen die Einhaltung tariflicher Bedingungen lediglich nahe und beruhen damit im Ansatz auf einem freiwilligen rechtsgeschäftlichen Verpflichtungsakt.⁴⁰⁷ Die für Tariftreueregelungen entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe lassen sich daher nicht sinnvoll auf die Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG übertragen. Fokussiert man dagegen auf die skizzierten fünf Entscheidungen zu herkömmlichen Formen der Tarifnormerstreckung, so lässt sich zunächst im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit und das Demokratieprinzip eine einheitliche Linie erkennen. Nach Auffassung des BVerfG erzeuge die Tarifnormerstreckung lediglich einen mittelbaren Druck, der mangels Erheblichkeit die negative Ko-
Kreiling, NZA 2001, S. 1118, 1119 f.; Scholz, SAE 2000, S. 265, 267 f.; Schubert, RdA 2001, S. 199, 200 ff.; siehe auch Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 140 f. So auch die Einschätzung bei Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 140. So bezeichnet bei Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 446 ff. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42. EuGH, 17.11. 2015 (C-115/14), NZA 2016, S. 155; EuGH, 18.09. 2014 (C-549/13), NZA 2014, S. 1129; EuGH, 03.04. 2008 (C-346/06), NZA 2008, S. 537. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 453.
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alitionsfreiheit nicht verletze.⁴⁰⁸ Für die Wahrung des Demokratieprinzips sei erforderlich, dass die Tarifnormerstreckung auf einen staatlichen Geltungsbefehl beruhe.⁴⁰⁹ In der Bergmannsversorgungsschein-Entscheidung wurde dieses Kriterium geradezu zum Zünglein an der Waage.⁴¹⁰ Nicht klar verorten lässt sich dabei die Entscheidung des BVerfG zur Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG,⁴¹¹ entwertet sie schließlich die Außenseitergrundrechte in einem sehr bedenklichen Maße. Inwieweit eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechungslinie intendiert war, lässt sich allerdings kaum sagen. Fragwürdig ist die bisherige Rechtsprechungslinie dabei auch im Hinblick auf die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände. Das BVerfG erkennt nicht, dass durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen der freie Wettbewerb verzerrt wird. Nicht zuletzt findet die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter in den skizzierten Entscheidungen keine Erwähnung. Dabei liegt es auf der Hand, dass mit der Tarifnormerstreckung die Geltung von Arbeitsbedingungen diktiert werden, die die freie Gestaltung des Arbeitsverhältnisses massiv einschränkt. Wenn im Folgenden die Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG untersucht wird, gilt es die bisherige Rechtsprechungslinie zur Tarifnormerstreckung auf den Prüfstand zu stellen und um die genannten Aspekte zu ergänzen.
b) Verschärfter Konflikt mit verfassungsrechtlichen Wertungen? Nachdem nun die verfassungsrechtlichen Anforderungen des BVerfG an die Tarifnormerstreckung herausgestellt wurden, gilt es vor diesem Hintergrund in einem zweiten Schritt, die Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG zu untersuchen. Grundlage hierfür bildet die gewonnene Erkenntnis, dass bereits die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG a.F. in verfassungsrechtlicher Hinsicht alles andere als unumstritten gewesen ist. Kann also festgestellt werden, dass die Beeinträchtigung verfassungsrechtlicher Wertungen durch die Neuregelung verschärft wird, ist eine Rechtfertigung unumgänglich. Dabei sollen die von der Rechtsprechung diskutierten Staatsstrukturprinzipien und Außenseitergrundrechte die notwendige Orientierung stiften. Teilweise wird es sich als erforderlich
BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949; BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/ 80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216; BVerfG, 24.05. 1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225 f.; BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225 f. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948 ff.
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erweisen, die vom BVerfG ins Feld geführten Maßstäbe auszudifferenzieren oder diese um weitere verfassungsrechtliche Maßstäbe zu ergänzen.
aa) Demokratieprinzip Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist für die Wahrung des in Art. 20 Abs. 1, 2 Satz 1 GG verankerten Demokratieprinzips erforderlich, dass die Tarifnormerstreckung auf einem staatlichen Geltungsbefehl beruht. Fokussiert man nur auf dieses Erfordernis, so scheint prima facie von § 5 TVG keine schärfere Beeinträchtigung des Demokratieprinzips auszugehen als von § 5 TVG a.F. Schließlich ist die Allgemeinverbindlicherklärung auch nach der neuen Regelung von der Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales abhängig. Diese Voraussetzung wurde vom BAG sogar dahingehend spezifiziert, dass der Bundesarbeitsminister persönlich mit der Entscheidung über die Allgemeinverbindlicherklärung befasst sein muss.⁴¹² Nur so werde ein Legitimationsniveau erreicht, das die für die Wahrung des Demokratieprinzips erforderliche ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den Staatsorganen aufrechterhält.⁴¹³ Danach besteht im Hinblick auf das Demokratieprinzip stets eine Korrelation zwischen Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und der Höhe des Legitimationsniveaus.⁴¹⁴ Je leichter eine Grundrechtsbeeinträchtigung tatbestandlich möglich ist, desto höher muss das Legitimationsniveau für die Wahrung des Demokratieprinzips sein. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des BVerfG zu § 5 TVG a.F. beim Wort zu nehmen. Das BVerfG erklärte § 5 TVG a.F. gerade deswegen mit dem Demokratieprinzip für vereinbar, weil das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an „strenge Bedingungen“ für eine Allgemeinverbindlicherklärung gebunden war.⁴¹⁵ Das Demokratieprinzip muss dem Außenseiterschutz also auch insoweit Rechnung tragen, als dass die Beeinträchtigung von Grundrechten nicht unter zu leichten Voraussetzungen möglich sein darf. Die damit vom BVerfG geforderten strengen Bedingungen wurden im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes jedoch weitgehend beseitigt.⁴¹⁶ Insbesondere das 50-Prozent-Quorum ist als Voraussetzung entfallen. Nicht zuletzt mit der neu geschaffenen „Regelbeispiel-Konstruktion“ hat man die Hürden für eine Allgemeinverbindlicherklärung deutlich abgebaut. Liegt eines der aufgeführten Regelbeispiele vor, so kann das
BAG, 21.09. 2016 (10 ABR 33/15), NZA-Beil. 2017, S. 12, 30 Rn. 146 ff. BAG, 21.09. 2016 (10 ABR 33/15), NZA-Beil. 2017, S. 12, 30 Rn. 147. BAG, 21.09. 2016 (10 ABR 33/15), NZA-Beil. 2017, S. 12, 31 Rn. 150. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. Hierauf zu Recht hinweisend Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 18; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 165 f.
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Bundesministerium einen Tarifvertrag – ohne umfassende Abwägung – für allgemeinverbindlich erklären.⁴¹⁷ § 5 Abs. 1 TVG a.F. setzte dagegen stets ein separates – durch Einzelfallabwägung zu gewinnendes – öffentliches Interesse voraus. Der Wortlaut von § 5 Abs. 1 TVG legt insofern eine „AVE-Automatik“⁴¹⁸ nahe, die im Vergleich zur alten Regelung einer verschärften Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten den Boden bereitet. Noch großzügiger handhabt § 5 Abs. 1a TVG die Tatbestandsvoraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung. Hier kommt es dem Wortlaut nach nicht einmal auf das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an.Von den vom BVerfG geforderten „strengen Bedingungen“ kann damit keine Rede mehr sein. Vor diesem Hintergrund gewinnt die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach § 5 TVG zu treffende Entscheidung zunehmend an Grundrechtssensibilität, was ein höheres Legitimationsniveau für die Wahrung des Demokratieprinzips erforderlich macht. Gelingt es demnach nicht, die verschiedenen Tatbestände der Allgemeinverbindlicherklärung zum Schutz von Außenseitergrundrechten restriktiv zu handhaben,⁴¹⁹ verstoßen sie gegen das Demokratieprinzip.⁴²⁰ Zuvorderst ist aber eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 TVG anzustreben.⁴²¹
bb) Individuelle Koalitionsfreiheit und Tarifvertragsfreiheit Daneben ist die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG an den verschiedenen Facetten der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG zu messen. Dabei muss § 5 TVG n.F. zunächst im Einklang mit der positiven Koalitionsfreiheit stehen. Im Zusammenhang mit der alten Regelung hat das BVerfG – wie gesehen – eine Beeinträchtigung verneint.⁴²² Auf den ersten Blick kann sich auch in Bezug auf § 5 TVG n.F. nichts Anderes ergeben. Die Argumentation des BVerfG lässt sich grundsätzlich auch für die Neuregelung der Allgemeinverbindlicherklärung aufrechterhalten: Auch die Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG n.F. lässt nämlich das Recht unberührt, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen zu bilden oder anderen als den tarifvertragsschließenden
Siehe zur Dogmatik von § 5 TVG n.F. bereits Kapitel 4, § 12.I.2. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 123. Siehe zu den verschiedenen Deutungsweisen von § 5 TVG n.F. bereits Kapitel 4, § 12.I.2. So im Ergebnis auch Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 167. Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.2.c). BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216; BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258; vgl. auch BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), NJW 1966, S. 2305.
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Koalitionen beizutreten. Mindert die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags bloß tatsächlich den Anreiz, eine Koalition zu bilden oder sich einer anderen Koalition anzuschließen, so handelt es sich dabei auch im Zusammenhang mit der neuen Regelung – in Fortführung der Rechtsprechung des BVerfG – nur um faktische Auswirkungen, denen kein Eingriffscharakter zugeschrieben werden kann. Insoweit lässt sich die Argumentation des BVerfG auch in Bezug auf § 5 TVG n.F. grundsätzlich aufrechterhalten. Das BVerfG hat für § 5 TVG a.F. einen Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit aber auch deshalb verneint, weil ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag sich nicht zwangsläufig gegenüber einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag durchsetzt.⁴²³ Eine Tarifkollision, die dadurch entsteht, dass sowohl ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag als auch ein mitgliedschaftlich legitimierter Tarifvertrag auf ein Arbeitsverhältnis Geltung beanspruchen, sei vielmehr nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Tarifkollisionsgrundsätzen zu behandeln. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG sind Tarifkonkurrenzen nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen.⁴²⁴ Berücksichtigt man diesen Umstand, so kann auch in Bezug auf § 5 Abs. 1 TGG n.F. nicht von einem generellen Vorrang des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags ausgegangen werden. Im Vergleich zur alten Regelung verschärft sich die Beeinträchtigung der positiven Koalitionsfreiheit durch § 5 Abs. 1 TVG n.F. damit nicht. Ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit kann unter diesen Vorzeichen lediglich dann angenommen werden, wenn sich der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag auch tatsächlich – nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Kollisionsregeln – gegenüber einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag durchgesetzt hat.⁴²⁵ Dabei vermag die teilweise vertretene Auffassung, dass ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag nicht diejenigen Arbeitsverhältnisses erfasst, die bereits von einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag beherrscht werden, nicht zu überzeugen.⁴²⁶ Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG bewirkt die Allgemeinverbindlicherklärung, dass die Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfassen. Gemeint sind damit die bisher nicht „an den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag“ gebundenen Arbeitsverhältnisse. Daher erfasst die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG sämtliche Arbeitsverhältnisse, die
BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215, 216. BAG, 23.03. 2005 (4 AZR 203/04), NZA 2005, S. 1003; BAG, 20.03.1991 (4 AZR 455/90), NZA 1991, S. 736; BAG, 22.02.1957 (1 AZR 536/55), NJW 1957, S. 845. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 173. So etwa Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 481.
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entweder überhaupt keinen tariflichen Normen unterliegen oder die von mitgliedschaftlich legitimierten Tarifverträgen erfasst sind.⁴²⁷ Fokussiert man darüber hinaus auf die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung nach § 5 Abs. 1a TVG, so lässt sich die bisherige Argumentationslinie des BVerfG nicht mehr aufrechterhalten. Nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG muss der Arbeitgeber einen nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag auch dann einhalten, wenn er nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Beansprucht also ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung und ein mitgliedschaftlich legitimierter Tarifvertrag Geltung für ein Arbeitsverhältnis, so setzt sich nach der Verdrängungswirkung aus § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG nunmehr ersterer durch. Der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung hat im Falle der Tarifkonkurrenz – ungeachtet der allgemeinen arbeitsrechtlichen Auflösungsgrundsätze – stets Vorrang. Denkt man die Rechtsprechung des BVerfG für diesen Fall konsequent weiter, kann eine Beeinträchtigung der positiven Koalitionsfreiheit nicht mehr verneint werden.⁴²⁸ Werden nach § 5 Abs. 1a TVG i.V.m. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG mitgliedschaftlich legitimierte Tarifverträge nämlich verdrängt, nimmt man Arbeitnehmern jeden Anreiz, eine Koalition zu bilden oder sich einer anderen als der tarifvertragsschließenden Koalition anzuschließen. Die auf § 3 Abs. 1 TVG begründete Bindung an den „eigenen“ mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag ist gerade das „wertvolle“ an einer von der positiven Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich geschützten Mitgliedschaft.⁴²⁹ Erkennt man darüber hinaus eine „positive Tarifvertragsfreiheit“ an, intensiviert sich dieser Konflikt sogar zusätzlich.⁴³⁰ Im Zusammenspiel mit § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG verschärft die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1a TVG die Beeinträchtigung der positiven Koalitionsfreiheit sogar in einem Maße, dass – in konsequenter Fortführung der Rechtsprechung des BVerfG – ein verfassungsrechtlicher Eingriff anzunehmen ist.⁴³¹ Eine verfassungsrechtliche
BVerwG, 28.01. 2010 (8 C 19/09), NZA 2010, 718, 720 Rn. 31; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 5; vgl. dazu kritisch Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 324 ff. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 173; vgl. auch Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 20. Jacobs, NZA 2008, S. 325, 328; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 173; vgl. zum umgekehrten Fall der negativen Tarifvertragsfreiheit auch Hanau, FS Scholz, S. 1035, 1045. Siehe zu dieser Fragestellung bereits Kapitel 3, § 8.V.2.c). Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 76; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 173.
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Rechtfertigung ist im Hinblick auf § 5 Abs. 1a i.V.m. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG unumgänglich. Als weitere Ausprägung von Art. 9 Abs. 3 GG muss darüber hinaus die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter Berücksichtigung finden. Auch sie könnte durch die Neuregelung des § 5 TVG eine verschärfte Beeinträchtigung erfahren, die einen rechtfertigungsbedürftigen, verfassungsrechtlich relevanten Eingriff mit sich zieht. Für § 5 TVG a.F. hat das BVerfG einen solchen aber mit dem Argument verneint, dass ein denkbarer Druck zum Beitritt des tarifvertragsschließenden Verbands jedenfalls „nicht so erheblich“ ist, um eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit bewirken zu können.⁴³² Der Außenseiter werde keineswegs rechtlich daran gehindert, dem tarifvertragsschließenden Verband fernzubleiben.⁴³³ Auf der Grundlage dieser Argumentation verschärft § 5 TVG n.F. den Konflikt mit der negativen Koalitionsfreiheit nicht in einem Maße, um nunmehr einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff bejahen zu können. Zwar hat der Gesetzgeber mit § 5 TVG n.F. die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung deutlich herabgesetzt. Das erhöht jedoch nicht den Druck auf Außenseiter, sich dem tarifvertragsschließenden Verband anzuschließen. Diese Rechtsprechung verdient Zustimmung. Zwar kann sich ein Außenseiter insbesondere bei einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1a TVG verstärkt dazu gezwungen sehen, sich dem tarifvertragsschließenden Verband anzuschließen, um Einfluss auf die Modalitäten der gemeinsamen Einrichtung auszuüben. Derartige faktische Beeinträchtigungen bewirken jedoch keinen eingriffsgleichen Beitrittsdruck.⁴³⁴ Insoweit lässt sich die bereits vorgebrachte Kritik an der vom Großen Senat begründeten Sozialadäquanzlehre zur Druckbestimmung bei Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen übertragen.⁴³⁵ Folgt man damit der Argumentationslinie des BVerfG, so begründet § 5 TVG nach wie vor keinen verfassungsrechtlichen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit.⁴³⁶ Erweitert man jedoch den Schutzumfang der negativen Koalitionsfreiheit – wie hier vorgeschlagen⁴³⁷ – auch auf die negative Tarifvertragsfreiheit, begründet die Tarifnormerstreckung nach § 5 Abs. 1, Abs. 1a TVG (a.F. und n.F. gleichermaßen) einen verfassungsrechtlichen Eingriff, der einer Rechtfertigung bedarf.⁴³⁸
BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. Vgl. hierzu insbesondere auch die Druckbestimmung im Kontext von Differenzierungsklauseln, Kapitel 4, § 11.I.4. Kapitel 4, § 11.I.4.a) aa). Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 29. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 8.V.2.c). Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 184.
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cc) Kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände Eine weitere Schutzfacette von Art. 9 Abs. 3 GG ist die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände. Auch insoweit stellt sich die Frage nach einer verschärften Beeinträchtigung durch § 5 TVG n.F. Bislang stand § 5 TVG a.F. nach der Rechtsprechung mit der kollektiven Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände im Einklang. Nach Auffassung des BVerfG war mit § 5 TVG a.F. nämlich sichergestellt, dass der für allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag ein gewisses Maß an Verbreitung erreicht hat und daneben ein „selbstständiges“ öffentliches Interesse an seiner Allgemeinverbindlicherklärung besteht.⁴³⁹ Im Hinblick auf § 5 TVG n.F. lässt sich diese Argumentationslinie allerdings nicht mehr aufrechterhalten. Erforderlich ist nach § 5 Abs. 1 TVG nunmehr allein das Vorliegen eines öffentlichen Interesses. Das 50-Prozent-Quorum wurde als – neben dem Bestehen eines öffentlichen Interesses unabhängige – Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung in § 5 TVG n.F. ersatzlos gestrichen. Das Vorliegen eines „selbstständigen“ öffentlichen Interesses wurde hierdurch aufgegeben. Damit ist zugleich auch ein – den Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit – rechtfertigendes Korrektiv entfallen. Insofern ergibt sich – nimmt man die Rechtsprechung des BVerfG beim Wort und führt sie konsequent fort – eine „verschärfte“ Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsfreiheit bereits aus den erleichterten Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung. Dabei begründet § 5 TVG sogar in zweierlei Hinsicht einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände: Zum einen schützt die kollektive Koalitionsfreiheit die Koalition sowohl in ihrem Bestand als auch in ihrer organisatorischen Ausgestaltung im Einzelnen.⁴⁴⁰ Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags bedeutet vor diesem Hintergrund eine massive Wettbewerbsbeeinträchtigung. Verdrängt ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag einen anderen mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag, mindert das die Attraktivität der unterliegenden Koalition.Weshalb sollte man noch Mitglied in einer Koalition sein, die nicht die Stärke besitzt, auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen effektiv Einfluss zu nehmen? In ihrer Tendenz gefährdet die Allgemeinverbindlicherklärung damit die Existenz konkurrierender Koalitionen. In diesem Zusammenhang ist aber Zurückhaltung geboten. Nicht jede staatliche Einflussnahme auf den tariflichen Wettbewerb kann als verfassungsrechtlicher Eingriff gewertet werden. Insbesondere Reflexwirkungen als bloß mittelbare Beeinträchtigungen der kollektiven Koalitions-
BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2259. Ständige Rechtsprechung, siehe nur: BVerfG, 26.03. 2014 (1 BvR 3185/09), NZA 2014, S. 493 Rn. 23.
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freiheit können nicht genügen.⁴⁴¹ Allerdings darf der Staat den Koalitionen nicht in einer Art und Weise Konkurrenz machen, in der er den tarifautonom regelbaren Bereich regelrecht „austrocknet“.⁴⁴² Eine solche Wirkung kann die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags aber potentiell entfalten. Für den jeweiligen Branchenzuschnitt entfaltet die Allgemeinverbindlicherklärung eine umfassende Kartellwirkung und schränkt den freien Tarif- und Verbandswettbewerb massiv ein. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können erheblich an Bedeutung verlieren, wenn im jeweiligen Branchenzuschnitt schon ein allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag besteht.⁴⁴³ Die Allgemeinverbindlicherklärung bedroht damit strukturell die Existenz konkurrierender Verbände. Die erleichterten Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG n.F. müssen bereits unter diesem Gesichtspunkt einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung unterzogen werden. Überdies schützt die kollektive Koalitionsfreiheit auch die Betätigung der Koalition. Nach Aufgabe der Kernbereichslehre⁴⁴⁴ ist die Tarifautonomie als Tarifvertragsabschlussfreiheit und als besondere Ausprägung der kollektiven Betätigungsfreiheit verfassungsrechtlich anerkannt.⁴⁴⁵ Sie schützt sowohl die konkrete Anwendung des Tarifvertrags auf das einzelne Arbeitsverhältnis⁴⁴⁶ als auch die Garantie eines freien – d. h. von staatlicher Einflussnahme befreiten – Tarifwettbewerbs der tariffähigen Verbände.⁴⁴⁷ Setzt sich ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag im Falle einer Tarifkollision gegenüber einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag im Ergebnis durch, kann der Inhalt des verdrängten Tarifvertrags keine Anwendung auf die seinem Geltungsbereich unterfallenden Arbeitsverhältnisse finden. Der Staat greift hierdurch massiv in den freien Tarifwettbewerb ein. Er privilegiert durch die Allgemeinverbindlicherklärung einen ganz bestimmten Tarifvertrag und verschafft den tarifvertragsschließenden Verbänden einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Die Verhandlungspo-
Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67 ff., 140; so ähnlich auch Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 190, der deswegen bereits einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit insgesamt verneint. Siehe hierzu etwa BVerfG, 18.12.1974 (1 BvR 430/65 u. a.), NJW 1975, S. 1265, 1266 f.; vgl. auch Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/ Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67 ff., 102. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67 ff., 103. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. Siehe nur BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778. Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 147. Maunz/Dürig/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 153; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1778 ff.
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sition der unterlegenen Verbände wird demgegenüber erheblich geschwächt.⁴⁴⁸ Ein verfassungsrechtlicher Eingriff in die Tarifautonomie konkurrierender Verbände liegt demnach spätestens in dem Zeitpunkt vor, in dem sich ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag gegenüber einem mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag durchsetzt.⁴⁴⁹ Die Verdrängungsregelung des § 5 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 5 Abs. 1a TVG intensiviert diesen Konflikt im Hinblick auf die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung zusätzlich. Sie räumt dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung im Fall von Tarifkonkurrenz einen generellen Vorrang gegenüber konkurrierenden mitgliedschaftlich legitimierten Tarifverträgen ein.⁴⁵⁰ Damit begründet § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG einen verschärften Eingriff in die Tarifautonomie konkurrierender Verbände.
dd) Arbeitsvertragsfreiheit Die Arbeitsvertragsfreiheit ist Ausfluss der in Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit und schützt die freie – d. h. von staatlicher Einflussnahme befreite – Gestaltung des Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitsvertragsparteien.⁴⁵¹ Als Maßstab für die Allgemeinverbindicherklärung konnte sie bislang keinen Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG finden. Das verwundert umso mehr, wenn man sich in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des BAG zur Wirksamkeit von qualifizierten Differenzierungsklauseln vor Augen führt. Die Arbeitsvertragsfreiheit erfährt als verfassungsrechtlcher Maßstab für Differenzierungsklauseln nämlich eine gesteigerte Aufmerksamkeit. So erklärte das BAG in einer Ent-
Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 191. Zwar erkennt grundsätzlich auch die Rechtsprechung die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, einen freien Wettbewerb unter den Koalitionen zu gewährleisten: BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), BVerfGE 55, S. 7, 24; BVerfG, 30.11.1965 (2 BvR 54/62), BVerfGE 19, S. 303, 321; BVerfG, 06.05.1964 (1 BvR 79/62), BVerfGE 18, S. 18, 33; BAG, 07.07. 2010 (4 AZR 549/08), NZA 2010, S. 1068, 1077 Rn. 68 f.; BAG, 11.11. 1968 (1 AZR 16/68), BAGE 21, S. 201, 206 ff. Gleichwohl verneint das BVerfG im Ergebnis eine Beeinträchtigung des freien Wettbewerbs durch das Institut der Allgemeinverbindlicherklärung: BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), BVerfGE 55, S. 7, 24. Jedenfalls für die Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG bejahend: Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 76; bei jeder Verdrängung eines mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrags bejahend: Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 191 f.; vgl. auch Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 108 f. Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.3.b) bb). BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42 Rn. 100; vgl. BAG, 16.03.1994 (5 AZR 339/92), NZA 1994, S. 937, 939; Schubert, RdA 2001, S. 199, 206; vgl. auch Dieterich, RdA 1995, S. 129, 134.
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scheidung vom 23. März 2011 Spannungsklauseln für unvereinbar mit der Arbeitsertragsfreiheit, da sie die arbeitsvertragliche Gleichstellung von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern mit Außenseiter-Arbeitnehmern „rechtlich-logisch unmöglich“ mache.⁴⁵² Die Rechtsprechung misst qualifizierte Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen daher mit zweierlei Maß. Spannenklauseln nehmen allenfalls mittelbar Einfluss auf die freie Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsvertragsparteien werden nicht daran gehindert, einen tarifvertraglich vorgesehenen Bonus für Gewerkschaftsmitglieder arbeitsvertraglich „nachzuzeichnen“. Erst durch den „Spanneneffekt“ auf tarifvertraglicher Ebene wird die Gleichstellung der Außenseiter mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern verhindert. Dagegen ordnet § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags unmittelbar die normative Regulierung des Außenseiter-Arbeitsverhältnisses an. Ein argumentum a fortiori drängt sich in diesem Zusammenhang geradezu auf: Wenn sogar eine Spannenregelung in die Arbeitsvertragsfreiheit eingreift, muss das erst recht für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gelten, wodurch die freie Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ohne einen zwischengeschalteten „Spanneneffekt“ eingeschränkt wird. In Bezug auf § 5 TVG n.F. kann zwar keine „verschärfte“ Beeinträchtigung der Arbeitsvertragsfreiheit festgestellt werden. Die bisherige Rechtsprechungslinie muss aber um diesen Verfassungsaspekt ergänzt werden, sodass auch der Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit einer Rechtfertigung bedarf.
c) Rechtfertigung und verfassungskonforme Auslegung § 5 TVG n.F. greift damit (teilweise sogar in verschärfter Form) in diverse Grundrechtspositionen (individuelle Koalitionsfreiheit, negative Tarifvertragsfreiheit, kollektive Koalitionsfreiheit und Arbeitsvertragsfreiheit) ein. Es stellt sich damit die Frage, ob die Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind. Ist dies nicht der Fall, muss § 5 TVG n.F. als verfassungswidrig eingestuft werden, sofern auch eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist. Dabei kann die verschärfte Beeinträchtigung des Demokratieprinzips von vornherein keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugeführt werden.⁴⁵³ In diesem Zusammenhang ist eine (zumindest partielle) verfassungskonforme Auslegung von § 5 TVG n.F. bereits unumgänglich. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38. Beeinträchtigungen des Demokratieprinzips können keiner Rechtfertigung zugeführt werden. Es bedarf in diesem Fall stets eine verfassungskonforme Auslegung des das Demokratieprinzips beeinträchtigenden Gesetzes; dazu Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rn. 2.
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
aa) Einschränkbarkeit der betroffenen Grundrechtspositionen In Bezug auf die von § 5 TVG n.F. betroffenen Grundrechtspositionen stellt sich zunächst die Frage ihrer Einschränkbarkeit. Für die Arbeitsvertragsfreiheit ist Art. 12 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Grundlage heranzuziehen.⁴⁵⁴ Sie ist Bestandteil der in Art. 12 Abs 1 GG zum Ausdruck kommenden Berufsausübungsfreiheit. Anknüpfungspunkt für die Einschränkbarkeit der Arbeitsvertragsfreiheit ist demzufolge Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Berufsausübung (wozu auch die freie Gestaltung des Arbeitsverhältnisses zählt) durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden kann. Als ein die Arbeitsvertragsfreiheit einschränkend regelndes Gesetz fungiert insoweit § 5 TVG. Das BVerfG beurteilt die Anforderungen für die Einschränkbarkeit der Berufsfreiheit anhand der Dreistufenlehre.⁴⁵⁵ Danach gelten je nach Intensität des Eingriffs in die Berufsfreiheit unterschiedliche Rechtfertigungsmaßstäbe. Dabei unterscheidet das BVerfG – je nach betroffener Ausprägung der Berufsfreiheit – zwischen drei Stufen: Berufsausübungsfreiheit (1. Stufe), subjektive Berufswahlfreiheit (2. Stufe) und objektive Berufswahlfreiheit (3. Stufe). Indem die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags die Arbeitsvertragsfreiheit einschränkt,⁴⁵⁶ reguliert sie zugleich auch die berufliche Tätigkeit der Arbeitsvertragsparteien und beeinträchtigt damit die Berufsausübungsfreiheit (1. Stufe). Der Dreistufenlehre zufolge ist ein Eingriff auf der 1. Stufe bereits dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn ihm „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ zugrunde liegen.⁴⁵⁷ Demgegenüber finden die betroffenen Grundrechtspositionen der individuellen positiven Koalitionsfreiheit, der negativen Tarifvertragsfreiheit und der kollektiven Koalitionsfreiheit allesamt ihre gesetzliche Verankerung in Art. 9 Abs. 3 GG. Zwar ist für die Koalitionsfreiheit im GG keine Einschränkungsmöglichkeit explizit vorgesehen.⁴⁵⁸ Jede Grundrechtsposition findet jedoch ihre allgemeine Schranke in kollidierendem Verfassungsrecht (sog. verfassungsimmanente Schranken).⁴⁵⁹ Danach kann die Koalitionsfreiheit nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden, das seinerseits eigene verfassungsrechtliche Zwecke ver-
Siehe nur BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 45. BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035. Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.3.b) dd). BVerfG, 02.03. 2010 (1 BvR 256/08 u. a.), NJW 2010, S. 833, 850 Rn. 298; BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035. Mit der h.M. ist einer Übertragung der Schrankenregelung aus Art. 9 Abs. 2 GG eine Absage zu erteilen: BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 143; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn 135 f.; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 49. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 143.
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folgt. Auch in diesem Zusammenhang würde § 5 TVG als einschränkendes Gesetz fungieren. Vor diesem Hintergrund müsste § 5 TVG verhältnismäßig sein und zu einem schonenden Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz zwischen den konfligierenden Verfassungsgütern führen.⁴⁶⁰ Damit knüpft Art. 9 Abs. 3 GG an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für § 5 TVG höhere Anforderungen als Art. 12 Abs. 1 GG. Kann eine Rechtfertigung im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG begründet werden, dürfte § 5 TVG n.F. regelmäßig auch den geringeren Anforderungen von Art. 12 Abs. 1 GG genügen. Daher wird schwerpunktmäßig untersucht, ob § 5 TVG n.F. mit den verschiedenen Ausprägungen der Koalitionsfreiheit in Einklang gebracht werden kann. Den Maßstab bildet hierfür der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
bb) Legitimer Zweck Die in § 5 TVG geregelte Allgemeinverbindlicherklärung müsste zunächst einem Zweck dienen, der seinen Ausdruck in der Verfassung findet. Anknüpfungspunkte bieten in diesem Zusammenhang die der Allgemeinverbindlicherklärung zugeschriebenen Funktionen: der Schutz der Arbeitnehmer und die Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen.⁴⁶¹ Der Arbeitnehmerschutz findet in der Verfassung keine ausdrückliche Berücksichtigung. Fraglich ist aber, ob der Schutz des Arbeitnehmers zumindest mittelbar von der Verfassung abgedeckt ist. Zu denken wäre hierbei zunächst an die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde vermag es aber nicht per se, den Arbeitnehmerschutz mit Verfassungsrang auszustatten. Sie stellt ein besonders restriktiv zu behandelndes Grundrecht dar, demzufolge der Arbeitnehmerschutz nur bei äußerst existenzbedrohenden Arbeitsbedingungen hierin seinen Ausdruck finden kann.⁴⁶² Durch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns durch das MiLoG dürfte im Hinblick auf Vergütungsregelungen allerdings kaum noch ein relevanter Anwendungsbereich denkbar sein.⁴⁶³ Auch Art. 12 Abs. 1 GG kann nicht herangezogen werden, um den Arbeitnehmerschutz mit Verfassungsrang auszustatten. Die für die verfassungsrechtliche Fundierung des Arbeitnehmerschutzes
Siehe hierzu auch ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 49. Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.1.; vgl. auch Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 110. Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, S. 308. So auch die Einschätzung von Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 207.
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notwendige Fürsorgepflicht des Staates vermag Art. 12 Abs. 1 GG gerade nicht zu vermitteln.⁴⁶⁴ Daher steht und fällt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von § 5 TVG n.F. mit der Frage, ob der Arbeitnehmerschutz zumindest im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verortet werden kann. Das Sozialstaatsprinzip vermittelt jedenfalls die für die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Arbeitnehmerschutzes notwendige Fürsorgepflicht des Staates. ⁴⁶⁵ Auch der vom BVerfG beschriebene materielle Gewährleistungsgehalt spricht für eine Verortung des Arbeitnehmerschutzes im Sozialstaatsprinzip. Danach ist es die Aufgabe des Staates, die sozial Schwächeren im Vertragsverhältnis zu schützen und für einen Ausgleich der sozioökonomischen Gesellschaftsverhältnisse zu sorgen.⁴⁶⁶ Dabei ist gerade das Arbeitsrecht durch soziale Gegensätze gekennzeichnet. Es ist demzufolge Aufgabe des Staates, den einzelnen Arbeitnehmer vor der Übermacht des Arbeitgebers zu schützen. Diese Notwendigkeit hat das BVerfG bereits in anderen Zusammenhängen anerkannt und das Sozialstaatsprinzip schon häufiger als verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgrund für Grundrechtsbeeinträchtigungen (insbesondere auch als Schranke von Art. 9 Abs. 3 GG) herangezogen.⁴⁶⁷ Zwar wird dagegen teilweise eingewendet, das Sozialstaatsprinzip sei in seiner Programmatik zu unbestimmt, um als verfassungsrechtlicher Rechtfertigungsgrund Berücksichtigung finden zu können.⁴⁶⁸ Daran ist richtig, dass das Sozialstaatsprinzip nicht als diffuser Rechtfertigungsgrund nach Belieben für jedwede Grundrechtsbeeinträchtigung herangezogen werden kann. Es muss demzufolge besonders restriktiv gehandhabt werden. Der Arbeitnehmerschutz fungiert aber als taugliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips, der insoweit grundsätzlich geeignet ist, einen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen.⁴⁶⁹ Dabei
Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 207; a.A.: Kocher, NZA 2007, S. 600, 601; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, S. 308. Vgl. hierzu BVerfG, 30.06. 2009 (2 BvE 2/08 u. a.), NJW 2009, S. 2267, 2275; BVerfG, 08.06. 2004 (2 BvL 5/00), NJW-RR 2004, S. 1657, 1659; BVerfG, 18.06.1975 (1 BvL 4/74), NJW 1975, S. 1691, 1692. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvR 2014/95 u. a.), NZS 2001, S. 309, 310; BVerfG, 22.06.1977 (1 BvL 2/ 74), NJW 1978, S. 207; siehe hierzu auch Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rn. 1 ff. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 779; BVerfG, 27.04.1999 (1 BvR 2203/93 u. a.), NZA 1992, S. 992, 993 f.; vgl. auch BVerfG, 06.06. 2018 (1 BvL 7/14 u. a.), NZA 2018, S. 774, 777 Rn. 48, 53, 778 Rn. 59. Vgl. Sachs/Sachs, GG, Vorb. Rn. 121; Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, S. 526, 548, 552, 562. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 208; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, S. 308; vgl. auch Preis/
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kann auch die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung (§ 5 Abs. 1a TVG) dem Arbeitnehmerschutz als legitimen Zweck von Verfassungsrang zugeordnet werden. Vermittelt durch den Zweck des Arbeitnehmerschutzes findet ebenso die Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen ihre verfassungsrechtliche Grundlage im Sozialstaatsprinzip.⁴⁷⁰
cc) Geeignetheit und Erforderlichkeit Darüber hinaus müsste § 5 TVG n.F. im Hinblick auf den verfolgten Zweck des Arbeitnehmerschutzes auch geeignet sein. Zur Zweckerreich geeignet ist ein Gesetz nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG immer dann, wenn es sich im Hinblick auf die Zielerreichung zumindest fördernd auswirkt.⁴⁷¹ Ein Gesetz ist demzufolge nur dann ungeeignet, wenn es zur Zweckerreichung nichts beitragen kann oder sogar hinderlich ist. Bei dieser Einschätzung räumt das BVerfG dem Gesetzgeber einen großen Entscheidungsspielraum ein.⁴⁷² Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG erstreckt Tarifnormen auf bislang nicht erfasste Arbeitsverhältnisse und verbessert damit aus Arbeitnehmersicht die Arbeitsbedingungen. Insofern ist § 5 TVG grundsätzlich geeignet, die Zweckerreichung des Arbeitnehmerschutzes zu fördern. Nach der etablierten Verfassungsdogmatik vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss das Gesetz darüber hinaus auch zur Zweckerreichung erforderlich sein. Erforderlich ist ein Gesetz nach der Rechtsprechung des BVerfG dann, wenn es von mehreren gleich geeigneten Mitteln das mildeste, d. h. das die geschützte Grundrechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel darstellt.⁴⁷³ Gleich geeignet wäre allenfalls staatliche Gesetzgebung auf dem Feld der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Aber in diesem Zusammenhang ist nicht erkennbar, dass die betroffenen Grundrechtspositionen hierdurch eher geschont wären. Zudem würde ein solcher Ansatz im Widerspruch zur etablierten Tarifrechtsdogmatik stehen, wonach es schließlich die vorrangige Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regulieren. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist § 5 TVG demzufolge auch zur Zweckerreichung erforderlich.
Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 79; siehe hierzu kritisch Meys, Rechtsfortbildung extra legem im Arbeitsrecht, S. 88 ff. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 79. Siehe exemplarisch BVerfG, 09.03.1994 (2 BvL 43/92 u. a.), NJW 1994, S. 1577, 1579. BVerfG, 09.03.1994 (2 BvL 43/92 u. a.), NJW 1994, S. 1577, 1579. Siehe exemplarisch BVerfG, 14.07.1999 (1 BvR 2226/94 u. a.), BVerfGE 100, S. 313, 375.
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dd) Angemessenheit von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG § 5 TVG müsste schließlich auch angemessen sein. Bei dieser Untersuchung muss allerdings zwischen den verschiedenen Tatbeständen der Allgemeinverbindlicherklärung unterschieden werden. Verfassungsmäßig sind sie dann, wenn zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen und dem durch das Sozialstaatsprinzip vermittelten Zweck des Arbeitnehmerschutzes ein schonender Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz gelingt. Dabei müssen die widerstreitenden Verfassungswerte zu maximaler Entfaltung gebracht werden.⁴⁷⁴ Erster Anknüpfungspunkt für die Frage der Angemessenheit ist daher der Tatbestand von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG.
(1) Abwägung Es ist danach zu fragen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG Rücksicht auf die gegenläufigen Facetten der Koalitionsfreiheit nehmen. Das hängt entscheidend vom jeweiligen Auslegungsergebnis ab. Legt man die den Tatbestand von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG konstituierenden Begriffe „überwiegend“ und „Bedeutung“ weit aus,⁴⁷⁵ erleichtert man die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung und damit auch den Zugriff auf Außenseitergrundrechte. Deutlich wird diese Korrelation für das Tatbestandsmerkmal der „überwiegenden Bedeutung“. Indem der Gesetzgeber das 50-Prozent-Quorum (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG a.F.) durch das Regelbeispiel der „überwiegenden Bedeutung“ ersetzt, gibt er das Kriterium der Repräsentativität eines Tarifvertrags teilweise auf. Durch das 50-Prozent-Quourm war sichergestellt, dass der für allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag ein gewisses Maß an Akzeptanz besitzt.⁴⁷⁶ Es fungierte damit als Garant für die Annahme seiner Richtigkeit und schwächte die Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten entscheidend ab.⁴⁷⁷ Zwar lässt sich dem entgegenhalten, dass auch § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG durch das Tatbestandsmerkmal „überwiegend“ eine gewisse Repräsentativität des Tarifvertrags gewährleistet.⁴⁷⁸ Ein gleichwertiges Maß an Repräsentativität wird je-
Vgl. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 143; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 49. Siehe zu den sich gegenüberstehenden Auslegungsvarianten Kapitel 4, § 12.I.2.a) aa). Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 178. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 115; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 178; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/ Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 124; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, S. 153. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 216 f.
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denfalls dann nicht sichergestellt, wenn man lediglich auf das Verhältnis des allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags zu einem konkurrierenden Tarifvertrag abstellt. Eine solche Auslegung des Merkmals „überwiegend“ würde dazu führen, dass auch ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, der zwar nicht von über 50 % der tarifmäßig ausgestalteten Arbeitsverhältnisse erfasst wird, aber in Relation zu einem anderen Tarifvertrag das Maß der Dinge darstellt.⁴⁷⁹ Das durch das 50-Prozent-Quorum sichergestellte Maß an Repräsentativität kann § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG mit dieser Auslegung nicht in gleicherweise gewährleisten. Eine weite Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung kann vor dem Hintergrund einer intensivierten Grundrechtsbeeinträchtigung allenfalls dann angemessen sein, wenn es der Arbeitnehmerschutz unbedingt erfordert. Genau das ist aber bei näherer Betrachtung mehr als fraglich. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG soll ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn er bereits „überwiegende Bedeutung“ erlangt hat. Den Gesetzgebungsmaterialien kann entnommen werden, dass dies vor allem dann der Fall sein soll, wenn der in Rede stehende Tarifvertrag die Arbeitsbedingungen bereits qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme reguliert. Besteht dann aber noch die Notwendigkeit den Arbeitnehmer zu schützen? Warum sollte man einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn er sich de facto bereits durchgesetzt hat? Immerhin beinhaltet das Arbeitsverhältnis in diesem Fall bereits tarifliche Arbeitsbedingungen. Sie gelten zwar nicht normativ, aber zumindest inter partes. ⁴⁸⁰ Damit hat der Gesetzgeber die Allgemeinverbindlicherklärung von ihrem originären Zweck des Arbeitnehmerschutzes teilweise entkoppelt.⁴⁸¹ Wo Arbeitnehmerschutz nicht zwingend erforderlich ist, darf die Allgemeinverbindlicherklärung nur unter strengeren Voraussetzungen möglich sein. Die Stützung der tariflichen Ordnung ist gerade kein Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung, der die Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten rechtfertigen kann. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG belasten damit einseitig die verschiedenen Facetten der Koalitionsfreiheit. Ein schonender Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz ist durch § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG damit weder gewährleistet noch intendiert.
So Forst, RdA 2015, S. 25, 28; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 142 f. BAG, 19.03. 2003 (4 AZR 331/02), NZA 2003, S. 1207, 1208. Vgl. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 16 f.
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(2) Verfassungskonforme Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG Sowohl die Wahrung des Demokratieprinzips als auch die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Grundrechtspositionen machen damit eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG erforderlich. Hierfür bieten die unklaren Tatbestandsmerkmale „überwiegend“ und „Bedeutung“ die maßgeblichen Anknüpfungspunkte. Das Merkmal „überwiegend“ muss in verfassungskonformer Auslegung restriktiv verstanden werden. „Überwiegende“ Bedeutung hat ein Tarifvertrag demnach nur dann, wenn er über 50 % der in seinem Geltungsbereich fallenden Arbeitsverhältnisse bereits tarifmäßig ausgestaltet hat.⁴⁸² Überdies gebietet eine verfassungskonforme Auslegung ein restriktives Verständnis von „Bedeutung“. Die Bedeutung eines Tarifvertrags ist von der tarifgemäßen Ausgestaltung der in seinem Geltungsbereich fallenden Arbeitsverhältnisse abhängig. Zwar verweist die Gesetzesbegründung darauf, dass dabei inhaltsgleiche Anschlusstarifverträge, arbeitsvertragliche Bezugnahmen oder anderweitige Orientierungen zu berücksichtigen sind.⁴⁸³ Allerdings ist der Begriff der „anderweitigen Orientierung“ derart unbestimmt, dass mit ihm eine unkontrollierte Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten einhergehen kann. Die Gesetzesbegründung klärt nicht darüber auf, welche Fälle von dieser Wendung erfasst sein sollen. Es besteht die Gefahr, dass – gestützt auf das Merkmal der „anderweitigen Orientierung“ – der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags und der damit verbundenen Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten Tür und Tor geöffnet wird. Eine verfassungskonforme Auslegung, die eine hinreichende Berücksichtigung von Außenseitergrundrechten sicherstellt, macht es erforderlich, dass „anderweitige Orientierungen“ am Tarifvertrag bei der Tatbestandsvoraussetzung der „überwiegenden Bedeutung“ keine Berücksichtigung finden können. Arbeitsverhältnisse, die sich nur anderweitig am Tarifvertrag orientieren – und demzufolge nicht einmal auf diesen Bezugnehmen – können im Hinblick auf das Erreichen der 50-Prozent-Schwelle („überwiegend“) nicht mitgezählt werden.
Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 16 f.; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 14; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 490; Jöris, NZA 2014, S. 1313, 1315; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 43; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 62; Ulber, NZA-Beil. 2018, S. 3, 5; so zuletzt auch BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 21 Rn. 117. BT-Drs. 18/1558, S. 48 f.
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ee) Angemessenheit von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG Auch § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG wartet mit unbestimmten Rechtsbegriffen auf. Besonders im Fokus steht dabei die Wendung von der „Absicherung der Wirksamkeit tarifvertraglicher Normsetzung“ gegen die „Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe erscheinen gerade vor dem Hintergrund problematisch, dass die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Grundrechtspositionen im Tatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG keine Berücksichtigung finden. Es fehlt auf Tatbestandsebene ein entsprechendes Korrektiv. § 5 Abs. 1 TVG a.F. schützte gegenläufige Grundrechtspositionen über das 50-Prozent-Quorum, das als konstitutive Voraussetzung neben dem Bestehen eines öffentlichen Interesses erfüllt sein musste. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG wird diesem Erfordernis immerhin ansatzweise mit dem (verfassungskonform ausgelegten) Tatbestandsmerkmal der „überwiegenden Bedeutung“ gerecht. Demgegenüber vermag § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG gerade nicht sicherzustellen, dass der für allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag bereits ein gewisses Maß an Akzeptanz besitzt. Sieht man von einem gewissen Verbreitungsgrad des Tarifvertrags, der ein gewisses Maß an Akzeptanz sicherstellt, ab, müssen die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung hinreichend streng sein.⁴⁸⁴ Vor diesem Hintergrund erscheint die Verwendung derart unbestimmter Rechtsbegriffe verfassungsrechtlich besonders problematisch.Vor allem die Voraussetzung der „wirtschaftlichen Fehlentwicklung“ vermag nicht dem Grundrechtsschutz von Außenseitern hinreichend Rechnung zu tragen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist zu unbestimmt, um zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen und dem Arbeitnehmerschutz einen schonenden Ausgleich herzustellen.⁴⁸⁵ Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden noch größer, wenn man den wahren Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG transparent macht. Wie gesehen, taugt als legitimer Zweck für die Beeinträchtigungen der Grundrechtspositionen allein der Arbeitnehmerschutz. Dass dieser primär verfolgt wird, muss allerdings bezweifelt werden. Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist es nicht der Arbeitnehmerschutz, sondern die „Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung“, die eine Allgemeinverbindlicherklärung notwendig macht.⁴⁸⁶ Danach soll die Möglichkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung eröffnet werden, um die rechtstatsächliche
Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 218. So im Ergebnis auch Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 114; Vgl. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 22; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 214 f.
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Wirkungskraft⁴⁸⁷ von Tarifverträgen wiederherzustellen. Die staatliche Absicherung eines erodierenden Tarifsystems ist aber gerade kein legitimer Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung.⁴⁸⁸ Mit dieser Voraussetzung würde man dem Staat in Zeiten rückläufiger – vor allem mitgliedschaftlich legitimierter – Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) geradezu einen Freifahrtschein für Tarifnormerstreckungen und damit verbundene Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten erteilen. Indem § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG die staatliche angeordnete Tarifnormerstreckung unverhohlen zum Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung erhebt, wird der Boden für ein Systemwandel hin zu einer Erga-Omnes-Wirkung des Tarifvertrags bereitet.⁴⁸⁹ Dies steht allerdings im Widerspruch zu einer durch Art. 9 Abs. 3 GG vermittelten Tarifautonomie, die als „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“ verstanden wird.⁴⁹⁰ Danach kann das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung immer nur als Ausnahme zur mitgliedschaftlich legitimierten Tarifgeltung (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) verstanden werden, nicht aber als Patentrezept gegen ein erodierendes Tarifsystem. Eine derart unmittelbar im Wortlaut verankerte Zweckverfehlung der Allgemeinverbindlicherklärung verhindert auch jeden Ansatz einer verfassungskonformen Auslegung. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist im Ergebnis verfassungswidrig.
ff) § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG: „in der Regel“ Verfassungsrechtliche Bedenken ruft auch die in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG verankerte Wendung „in der Regel“ hervor. Danach sollen die nummerisch aufgeführten Tatbestände „in der Regel“ ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags begründen. Fraglich ist, inwieweit dieses Konzept imstande ist die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Grundrechtspositionen mit dem Arbeitnehmerschutzzweck zu einem schonenden Ausgleich zu bringen.
(1) Numerus clausus der AVE-Tatbestände Ob § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG auch jenseits der numerisch aufgelisteten AVE-Tatbestände Raum für andere Fallgruppen lässt, ist nach der Gesetzesbegründung unklar. Die Wendung „in der Regel“ spricht eher dafür, von einer nicht ab-
Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 17; ErfK/Franzen, TVG, § 5 Rn. 14a. Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.1.d). Vgl. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 17. Vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 487.
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schließenden Aufzählung auszugehen. Ein solche Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG bedarf gleichwohl aus verfassungsrechtlichen Gründen einer Korrektur.⁴⁹¹ Die von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG intendierte Regelbeispielstruktur missachtet die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Außenseitergrundrechte in erhöhtem Maße. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist dabei ohnehin so allgemein gefasst, dass andere Gestaltungen nur schwer denkbar sind. Eine weitergehende Öffnung von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG birgt zudem die Gefahr, sich weiter vom Arbeitnehmerschutz als Primärzweck der Allgemeinverbindlicherklärung zu entkoppeln. Daher muss die Regelung in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG verfassungskonform ausgelegt werden. Sie beinhaltet danach eine abschließende Auflistung von Tatbeständen zur Allgemeinverbindlicherklärung.⁴⁹²
(2) „AVE-Automatik“? Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG begründen die nummerisch aufgelisteten Tatbestände „in der Regel“ ein öffentlichen Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags. Diese Struktur legt eine Art „AVE-Automatik“⁴⁹³ nahe, wonach bei Erfüllung eines Regelbeispiels „automatisch“ auch ein öffentliches Interesse begründet wird und damit die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung bereits bestehen.⁴⁹⁴ Ein solches Verständnis würde einer im Rahmen der Angemessenheit gebotenen Güterabwägung allerdings zuvorkommen. Eine „AVE-Automatik“ lässt keinen Raum für eine Abwägung des Arbeitnehmerschutzes mit der Koalitions- und Arbeitsvertragsfreiheit. Vielmehr liegt § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG bereits eine im Gesetz verankerte Güterabwägung zugrunde,⁴⁹⁵ wonach der Arbeitnehmerschutz bei Vorliegen eines Regelbeispiels immer gegenüber den von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Grundrechtspositionen Vorrang genießt. Dem Zweck des Arbeitnehmerschutzes werden damit keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig werden Koalitions- und Arbeitsvertragsfreiheit von der Regelungsstruktur des § 5 Abs 1 Satz 2 TVG einseitig vernachlässigt. Ein schonender Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verfassungswerten wird nicht erreicht. Damit ist eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG uner-
BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 10. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 5 Rn. 10. Dieser Begriff geht zurück auf Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 76 f. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 76 f., 123; Ulber, NZA-Beil. 2018, S. 3, 7. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 76 f.
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lässlich.⁴⁹⁶ Eine „AVE-Automatik“ ist verfassungswidrig und muss entsprechend korrigiert werden. Daher ist § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG so auszulegen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch bei Vorliegen eines Regelbeispiels den Arbeitnehmerschutz mit den von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Grundrechtspositionen abwägen muss.⁴⁹⁷ Die Verhältnismäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung im engeren Sinne muss damit stets als separate Voraussetzung geprüft werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Koalitions- und Arbeitsvertragsfreiheit mit dem intendierten Arbeitnehmerschutz zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. Das Vorliegen eines Regelbeispiels kann daher immer nur als notwendige, nie aber als hinreichende Bedingung für eine Allgemeinverbindlicherklärung verstanden werden. Ist daher einer der gelisteten Tatbestände einschlägig, wird das Vorliegen eines öffentlichen Interesses lediglich widerlegbar vermutet.⁴⁹⁸
gg) Angemessenheit von § 5 Abs. 1a i.V.m. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG Ferner müsste auch die neue Regelung zur Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung gem. § 5 Abs. 1a i.V.m. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG angemessen sein. Auch sie verfolgt den legitimen Zweck des – durch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) vermittelten – Arbeitnehmerschutzes.⁴⁹⁹
(1) Verfassungskonforme Auslegung des Tatbestands (§ 5 Abs. 1a TVG) Es ist zunächst danach zu fragen, ob der Tatbestand einer Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung (§ 5 Abs. 1a TVG) so beschaffen ist, dass den betroffenen Grundrechtspositionen (Koalitionsund Arbeitsvertragsfreiheit) hinreichend Rechnung getragen wird. Problematisch erscheint vor diesem Hintergrund der Umstand, dass der Gesetzgeber bereits in der „Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung“ ein öffentliches Interesse erblickt. Nacht altem Recht musste auch die Allgemeinver-
BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 19 Rn. 104; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 123; Ulber, NZA-Beil. 2018, S. 3, 7. Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 123; Ulber, NZA-Beil. 2018, S. 3, 7; so zuletzt auch BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 19 Rn. 104. BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 20 Rn. 105. Siehe bereits Kapitel 4, § 12.I.3.c) bb).
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bindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung stets die Voraussetzung des 50-Prozent-Quorums (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F.) erfüllen. De lege lata fehlt es an einer solchen quantitativen Voraussetzung (wie etwa das 50-Prozent-Quorum oder aber die durch § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG sichergestellte „überwiegende Bedeutung“), die ein Mindestmaß an tarifpolitischer Akzeptanz des Tarifvertrags sicherstellt und damit die mit der Allgemeinverbindlicherklärung einhergehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen relativieren würde. Zudem ist das für § 5 Abs. 1a TVG erforderliche öffentliche Interesse sehr leicht zu begründen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales braucht lediglich darauf zu verweisen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten einer gemeinsamen Einrichtung unabdingbar ist. Die Offenlegung dieser Intention würde „zur“ Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung bereits genügen. Der Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit werden hierdurch keine beachtlichen Grenzen gesetzt. Auch § 5 Abs. 1a TVG avanciert bei dieser dogmatischen Handhabung zur „AVE-Automatik“. Daher bedarf der Tatbestand des § 5 Abs. 1a TVG einer verfassungskonformen Auslegung, die den betroffenen Grundrechtspositionen hinreichend Rechnung trägt. Erstens muss auch § 5 Abs. 1a TVG so ausgelegt werden, dass bei jeder Allgemeinverbindlicherklärung eine umfassende Güterabwägung im Hinblick auf die widerstreitenden Verfassungswerte vorgenommen werden muss.⁵⁰⁰ Auch insoweit kann im öffentliches Interesse der „Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung“ immer nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Allgemeinverbindlicherklärung erblickt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales muss vor jeder Allgemeinverbindlicherklärung zwischen dem bezweckten Arbeitnehmerschutz und der widerstreitenden Koalitions- und Arbeitsvertragsfreiheit abwägen.⁵⁰¹ Zweitens muss die Repräsentativität und Akzeptanz des Tarifvertrags im Rahmen dieser Abwägung Berücksichtigung finden. Zwar fehlt es bei § 5 Abs. 1a TVG – anders als etwa bei § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG („überwiegende Bedeutung“) – an einer quantitativen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung. Es muss aber verhindert werden, dass ein „Minderheitentarifvertrag“, in dessen Geltungsbereich z. B. lediglich 10 % der Arbeitsverhältnisse tarifgemäß ausgestaltet sind, qua Allgemeinverbindlicherklärung fortan die Tarifpolitik dominiert. Im Rahmen der Güterabwägung muss die tarifgemäße Ausgestaltung daher zumindest als Indiz herangezogen werden, damit jedenfalls ein Mindestmaß an Akzeptanz des für So auch Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 23; zuletzt bestätigt durch BAG, 21.03. 2018 (10 ABR 62/16), NZA-Beil. 2018, S. 8, 25 Rn. 137 ff. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 23; vgl. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 249.
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allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung sichergestellt ist.⁵⁰²
(2) Angemessenheit der Verdrängungswirkung (§ 5 Abs. 4 Satz 2 TVG) Überdies muss auch die in § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG angeordnete Verdrängungswirkung angemessen sein. Angemessen ist sie dann, wenn sie einen schonenden Ausgleich zwischen dem bezweckten Arbeitnehmerschutz und der positiven Koalitionsfreiheit sowie der kollektiven Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände herstellt. Dabei trägt § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG den betroffenen Grundrechtspositionen in vielfacher Hinsicht Rechnung: Erstens toleriert diese Verdrängungsregelung grundsätzlich das Nebeneinander mehrerer Tarifverträge. Tarifpluralität bleibt von § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG unberührt. Es wird nur der Fall der Tarifkonkurrenz zugunsten des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags aufgelöst. Damit wird der Anwendungsbereich der Verdrängungsregelung und die mit ihr verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen erheblich eingeschränkt. Zweitens wird der Auflösungsmechanismus nur bei sich gegenständlich überschneidenden Tarifregelungen in Gang gesetzt. Erst in dieser Konstellation verdrängt der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag den konkurrierenden mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrag. Für diesen Fall erscheint es aber auch sachgerecht, dass die individuelle positive und kollektive Koalitionsfreiheit gegenüber dem intendierten Arbeitnehmerschutz das Nachsehen hat. Bei sich gegenständlich überschneidenden Tarifnormen ist die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtungen nämlich tatsächlich beeinträchtigt, würde sich etwa der mitgliedschaftlich legitimierte Tarifvertrag durchsetzen.⁵⁰³ Die mit der Allgemeinverbindlicherklärung bezweckte Finanzierungshilfe wäre gefährdet. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung macht zur Sicherstellung einer soliden Finanzierungsbasis – anders als nach § 5 Abs. 1 TVG – eine derartige Verdrängungswirkung erforderlich.⁵⁰⁴ Drittens dürften Entgelttarifverträge von der Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG regelmäßig verschont bleiben.⁵⁰⁵ Insoweit bleibt das Kerngeschäft konkurrierender Tarifvertragsparteien unberührt. Ihre kollektive Betätigungsfreiheit (in Gestalt der Tarifautonomie) kann in diesem Bereich zur maximalen Entfaltung gelangen. Die
Giesen, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 103; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 228; vgl. hierzu auch Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 22. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 79. Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 20; vgl. Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 225. Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 79 f.
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von § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG ausgehende Verdrängungswirkung ist im Ergebnis angemessen und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt.⁵⁰⁶ Widerstreitende Grundrechtspositionen werden hinreichend berücksichtigt. Eine verfassungskonforme Handhabung von § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG ist nicht erforderlich.
4. Rechtspolitische Bewertung: Schwächung der Tarifautonomie Die Neuregelung von § 5 TVG lässt sich damit weitestgehend verfassungskonform handhaben. Vor dem Hintergrund der entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist sie darüber hinaus auch einer rechtspolitischen Bewertung zuzuführen. Der Gesetzgeber verfolgt mit der erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung das Ziel einer Stärkung der Tarifautonomie. Dieses Ziel erreicht er mit der vorgenommenen Änderung von § 5 TVG nicht. Eine funktionsfähige Tarifautonomie setzt vorrangig mitgliedschaftsstarke Verbände voraus (Faktor 1 und 2). Indem der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung abbaut, relativiert er die gesetzlich angeordnete Differenzierungswirkung nach der Verbandszugehörigkeit (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG). Die auf privatautonome Mitgliedschaft beruhende Tarifautonomie wird ignoriert und staatlich angeordneter Tarifersatz zunehmend begünstigt. Eine funktionsfähige Tarifautonomie hängt aber maßgeblich von einer überwiegend mitgliedschaftlich legitimierten Tarifgeltung (Faktor 5) ab. Indem mit § 5 TVG n.F. der Boden für eine umfassendere staatlich organisierte Tarifnormerstreckung bereitet wird, werden Anreize für eine Verbandsmitgliedschaft weiter gemindert.⁵⁰⁷ Die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags stärkt die Tarifautonomie nicht, sondern schwächt sie. Der Gesetzgeber ebnet den Weg in eine zunehmend verstaatlichte Tarifherrschaft und verwandelt das auf Mitgliedschaft basierende Tarifvertragsrecht sukzessive in ein Erga-Omnes-System. Dabei erscheint besonders die Absenkung der Anforderung für eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung nach § 5 Abs. 1a TVG bedenklich. Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen ist nämlich eine anreizsetzende Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehö-
So im Ergebnis auch: Franzen, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 14, 20; Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 80; Prokop, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, S. 225. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; Giesen, FS Kempen, S. 216, 218; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812, 817; Junker, ZfA 2016, S. 81, 90; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/ Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 98; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 138; a.A.: Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 17, 19; Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7 f.
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rigkeit immanent. Nach § 4 Abs. 2 TVG sind nur die nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebundenen Arbeitnehmer gegenüber der gemeinsamen Einrichtung anspruchsberechtigt.⁵⁰⁸ Das könnte Arbeitnehmer dazu bewegen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um in den Genuss der Vorteile einer gemeinsamen Einrichtung zu gelangen. Insoweit liegt dem Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung gewissermaßen eine „gesetzliche Differenzierungsklausel“⁵⁰⁹ zugrunde, von der grundsätzlich eine Stärkung der Tarifautonomie ausgehen könnte. Dieser positive Effekt kann auch nicht dadurch konterkariert werden, dass ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung arbeitsvertraglich in Bezug genommen wird. Eine solche arbeitsvertragliche Bezugnahme stellt nämlich einen unzulässigen Vertrag zulasten Dritter (der Träger der gemeinsamen Einrichtung) dar.⁵¹⁰ Die Träger einer gemeinsamen Einrichtung können über eine Bezugnahmeklausel demnach nicht verpflichtet werden, auch den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer Leistungen zu gewähren. Diese positiven Aspekte werden allerdings durch die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung zunichte gemacht. Vor diesem Hintergrund schwächt § 5 Abs. 1a TVG die Tarifautonomie, indem die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung deutlich herabgesetzt werden.
II. Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns Ein weiteres Element des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ist die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns durch das MiLoG.⁵¹¹ Verglichen mit der erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen wird durch das MiLoG ein anderer Akzent gesetzt. Im Entgeltbereich wird eine gesetzliche Untergrenze statuiert, die auch auf Grundlage der Tarifautonomie nicht unterschritten werden darf (vgl. § 3 Satz 1 MiLoG). Der gesetzliche Mindestlohn betrug bei seiner Einführung 8,50 Euro (vgl. § 1 Abs. 2 MiLoG). Zwischenzeitlich wurde er erhöht und beträgt nunmehr seit dem 1. Januar 2020 9,35 Euro. Dabei sind dem deutschen Arbeitsrecht gesetzliche Mindestre-
Vgl. Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S.41 f.; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 95 f.; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 89. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 89. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 25; Däubler TVG/Heuschmid, TVG, § 1 Rn. 1136, 1098; Löwisch/ Rieble, TVG, § 3 Rn. 690, § 4 Rn. 356; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 96; Thüsing/von Hoff, ZfA 2008, S. 77, 99; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 89. Siehe bereits zur Motivation und Wirkung der vorgenommenen Neuerungen Kapitel 2, § 5.VII.1.c).
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gelungen alles andere als fremd. So besteht etwa eine Untergrenze im Hinblick auf Urlaubstage. Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beträgt der jährliche Urlaub mindestens 24 Werktage. Diese Mindesturlaubsgrenze ist gem. § 13 Abs. 1 BUrlG ebenfalls unabdingbar ausgestaltet, sodass auch ein Tarifvertrag den gesetzlich vorgeschriebenen Mindesturlaub von 24 Werktagen nicht unterschreiten darf. Im Kontext der „Stärkung der Tarifautonomie“ ist das MiLoG aber sowohl unter verfassungsdogmatischen als auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten nicht unumstritten.⁵¹² Besonders durchschlagende Kritikpunkte werden im Folgenden erörtert.
1. Zur tarifverdrängenden Wirkung des Mindestlohns, § 3 Satz 1 MiLoG In verfassungsrechtlicher Hinsicht besonders konfliktträchtig ist die in § 3 Satz 1 MiLoG angeordnete Unabdingbarkeit des gesetzlichen Mindestlohns. Danach sind Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, unwirksam. Davon erfasst sind vor allem auch Vergütungsvereinbarungen in Tarifverträgen, nach denen der Arbeitnehmer einen Lohn unterhalb der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns erhalten soll.⁵¹³ Sieht bspw. ein Entgelttarifvertrag eine Vergütung in Höhe von 8,20 Euro vor, so wird diese tarifvertragliche Regelung vom gesetzlichen Mindestlohn verdrängt (§ 3 Satz 1 MiLoG). Rechtsfolge ist also, dass der gesetzliche Mindestlohn an die Stelle der tarifvertraglichen Vergütungsvereinbarung tritt.⁵¹⁴ Der Anspruch auf Zahlung eines gesetzlichen Mindestlohns ist gem. § 3 Satz 1 MiLoG nicht (tarif‐)dispositiv. Damit tritt eine gesetzliche Regelung unmittelbar mit einer tariflichen Regelung in Konflikt. Hierdurch entstehen aber verfassungsrechtliche Spannungen.
a) Verfassungsrechtlicher Eingriff in die Tarifautonomie? Zunächst stellt sich die Frage, ob mit der tarifverdrängenden Wirkung des § 3 Satz 1 MiLoG rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in Grundrechtspositionen verbunden sind. Dabei kommt ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Betracht. Der kollektive Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG garantiert so-
Siehe etwa Fischer, ZRP 2007, S. 20; Henssler, RdA 2015, S. 43, 45 ff.; Picker, RdA 2014, S. 25, 27 ff. ErfK/Franzen, MiLoG, § 3 Rn. 1; BeckOK ArbR/Hilgenstock, MiLoG, § 3 Rn. 3. Ganz h.M.: ErfK/Franzen, MiLoG, § 3 Rn. 1a; BeckOK ArbR/Hilgenstock, MiLoG, § 3 Rn. 3; Lembke, NZA 2015, S. 70, 77; Waltermann, AuR 2015, S. 166, 170; a.A.: Bayreuther, NZA 2014, S. 865, 866.
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wohl den Bestand der Koalition als auch ihre Betätigung.⁵¹⁵ Nach Aufgabe der Kernbereichslehre⁵¹⁶ ist auch die Tarifautonomie als besondere Form der kollektiven Betätigung geschützt.⁵¹⁷ Danach haben tariffähige Koalitionen das Recht, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen und weitestgehend frei von staatlichen Einflüssen zu regeln. Dieser an sich tarifautonome Regelungsbereich wird den Tarifvertragsparteien durch das MiLoG aber – zumindest partiell – streitig gemacht.⁵¹⁸ Es besteht für die verhandelnden Tarifvertragsparteien keine Möglichkeit mehr, eine Tarifregelung vorzusehen, nach der die Vergütung den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn unterschreitet. Verstärkt wird dieser Konflikt dadurch, dass bereits bestehende tarifliche Vereinbarungen durch § 3 Satz 1 MiLoG verdrängt werden.⁵¹⁹ Der (auch nur partielle) Entzug einer von der Tarifautonomie erfassten Regelungsmaterie kann nicht als bloße „Ausgestaltung“ abgetan werden. Unter Ausgestaltung der Tarifautonomie können nur solche staatlichen Maßnahmen gezählt werden, die einen Beitrag für ein funktionsfähiges Tarifsystem leisten. Hierzu zählen etwa sämtliche „formale“ Voraussetzungen für den Abschluss eines Tarifvertrags (bspw. etwaige Spezifizierungen der Tariffähigkeit).⁵²⁰ Staatliche Regelungen, die aber den tarifautonom regelbaren Bereich in materieller Hinsicht einschränken, stellen einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Tarifautonomie dar.⁵²¹ Der abwehrrechtlichen Dimension der Tarifautonomie als Facette der kollektiven Koalitionsfreiheit und ihrem Wesen als kollektiv ausgeübte Privatautonomie muss Rechnung getragen werden, wenn der Gesetzgeber im tarifautonomen Bereich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen selbst regelt.⁵²² Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns trifft der Gesetzgeber eine solche materielle Regelung. Er verhindert Tarifinhalte, die einen Lohn unterhalb der gesetzlich festgeschriebenen Grenze
Ständige Rechtsprechung, siehe nur: BVerfG, 26.03. 2014 (1 BvR 3185/09), NZA 2014, S. 493 Rn. 23. BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. Siehe nur BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778. Barczak, RdA 2014, S. 290, 296; BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 78.1; Fischer, ZRP 2007, S. 20 f.; Henssler, RdA 2015, S. 43, 45. Henssler, RdA 2015, S. 43, 45. Dazu ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 83 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 130 ff. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BAG kommt der Abgrenzung zwischen Ausgestaltung und Eingriff ohnehin keine allzu große Bedeutung zu. Das BAG überträgt die Anforderungen der klassischen Eingriffsdogmatik auch auf Maßnahmen zur Ausgestaltung der Tarifautonomie. Insbesondere muss auch die Ausgestaltung zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie geeignet, erforderlich und angemessen sein, BAG, 14.12. 2010 (1 ABR 19/10), NZA 2011, S. 289, 297 f. Rn. 88; BAG, 05.10. 2010 (1 ABR 88/09), NZA 2011, S. 300, 303 Rn. 35. Vgl. BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 79.1.; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, S. 829, 831.
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vorsehen. Hinzu kommt, dass die tarifliche Regelung des Arbeitsentgelts ein besonders zentraler Bereich der tarifautonomen Gestaltungsfreiheit ist, sodass staatliche Vorgaben und Einschränkungen in diesem Bereich besonders schwer wiegen.⁵²³ Diese Betrachtungsweise stimmt auch mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG überein.⁵²⁴ So hat es etwa in der Festsetzung eines Höchstlohns durch sogenannte Lohnabstandsklauseln einen Eingriff in die Tarifautonomie erkannt. Im Hinblick auf eine gesetzliche Lohnuntergrenze kann nichts Anderes gelten.⁵²⁵ Entscheidend ist jeweils, dass derartige Regelungen die Verhandlungsposition des sozialen Gegenspielers beeinträchtigen.⁵²⁶ Demzufolge ist mit der tarifverdrängenden Wirkung des gesetzlichen Mindestlohns (§ 3 Satz 1 MiLoG) ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Tarifautonomie verbunden.⁵²⁷
b) Rechtfertigung? In einem zweiten Schritt muss danach gefragt werden, ob der mit § 3 Satz 1 MiLoG verbundene Eingriff in die Tarifautonomie verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Dabei kann zunächst festgehalten werden, dass die Tarifautonomie grundsätzlich durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden kann.⁵²⁸ Es bedarf aber eines schonenden Ausgleichs im Sinne praktischer Konkordanz.⁵²⁹ Dafür müsste der Eingriff in die Tarifautonomie verhältnismäßig sein. Das dem MiLoG zugrunde liegende staatliche Regelungsziel muss einem Verfassungswert zugeordnet werden können. Der Gesetzgeber verbindet mit der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gleich mehrere Ziele: die Überwindung der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers, das Verringerung staatlicher
Vgl. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778. Siehe vor allem BVerfG, 27.04.1999 (1 BvR 2203/93 u. a.), NJW 1999, S. 3033, 3034; vgl. auch BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778. BVerfG, 27.04.1999 (1 BvR 2203/93 u. a.), NJW 1999, S. 3033, 3034. BVerfG, 27.04.1999 (1 BvR 2203/93 u.a,), NJW 1999, S. 3033, 3034. Barczak, RdA 2014, S. 290, 296; BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 78.1.; Fischer, ZRP 2007, S. 20 f.; Henssler, RdA 2015, S. 43, 45; Löwisch, NZA 2014, S. 948; Picker, RdA 2014, S. 25, 29 f.; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, S. 829, 831; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, Einführung Rn. 109; Maunz/ Dürig/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 263; HK-MiLoG/Schubert, Einleitung Rn. 45; Zeising/Weigert, NZA 2015, S. 15, 16; für die Einordnung als Ausgestaltung plädierend: Engels, JZ 2008, S. 490, 494; BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 1 Rn. 13; in diese Richtung auch Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 103 ff.; einen Eingriff verneinend Lakies, MiLoG, Einleitung Rn. 27. BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 143; BVerfG, 24.02.1999 (1 BvR 123/93), NJW 1999, S. 2657, 2658; BAG, 26.09. 2001 (5 AZR 539/00), NZA 2002, S. 387. Siehe nur BVerfG, 25.02.1975 (1 BvF 1/74), NJW 1975, S. 573, 576.
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Transferleistungen, die Sicherung des Sozialversicherungssystems, die Sicherung einer funktionsfähigen Tarifautonomie sowie die Gewährleistung eines angemessenen Lohnsystems.⁵³⁰ Das gesetzgeberische Ziel der Sicherung einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist von Verfassungsrang.⁵³¹ Die Tarifautonomie hat nicht nur eine abwehrrechtliche Dimension, sondern stellt auch eine in Art. 9 Abs. 3 GG angelegte Institutsgarantie dar. Damit ist die objektiv-rechtliche Schutzfacette der Tarifautonmie auf den Plan gerufen.⁵³² Die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte und im öffentlichen Interesse liegende autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen muss vom Gesetzgeber abgesichert werden.⁵³³ Einem tarifverdrängenden Mindestlohn fehlt es in diesem Zusammenhang jedoch bereits an der Geeignetheit. Er trägt zur Erreichung dieses Ziels nichts bei. Ganz im Gegenteil beschneidet ein tarifverdrängender Mindestlohn gerade die abwehrrechtliche Dimension der Tarifautonomie. Er leistet auch keinen Beitrag, um das „Institut“ Tarifautonomie zu sichern. Zu den wesentlichen Rahmenbedingungen einer funktionsfähigen Tarifautonomie zählen in erster Linie mitgliedschaftsstarke Verbände (Faktoren 1 und 2).⁵³⁴ Entzieht der Gesetzgeber den Sozialpartnern – wenn auch nur partiell – die Regelungsmacht, vermindert das in der Tendenz die Anreize, sich in Verbänden zu organisieren.⁵³⁵ Es verbleiben die angegebenen Ziele der Sicherung des Sozialversicherungssystems, der Überwindung der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers sowie der Schaffung eines angemessenen Lohnsystems. Diese drei Ziele lassen sich dem in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsprinzip zuordnen.⁵³⁶ Dabei ist der gesetzliche Mindestlohn zunächst geeignet, die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme in finanzieller Hinsicht zu schützen. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass geringfügig Beschäftigte ohne den Mindestlohn über ergänzende Grundsicherungsleistungen (ALG II) „aufstocken“ müssten (§§ 11 ff. SGB II). Insoweit begrenzt ein gesetzlicher Mindestlohn in der Tendenz die Inanspruchnahme sozialstaatlicher Transferleistungen und trägt damit dem Sozi-
BT-Drs. 18/1558, S. 27 f. Siehe nur BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 919 Rn. 148. Dazu Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141 ff.; s.u. Kapitel 5, § 15.IV.2.b). BVerfG, 01.12. 2010 (1 BvR 2593/09), NZA 2011, S. 60, 61. Siehe hierzu Kapitel 3, § 8.I. und II. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; vgl. Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10; a.A. Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 126, 143. Vgl. Henssler, RdA 2015, S. 43, 45; Lakies, MiLoG, Einleitung Rn. 29 f.; vgl. auch HK-MiLoG/ Schubert, Einleitung Rn. 46; siehe allgemein zum Sozialstaatsprinzip als Rechtfertigungsgrund: BVerfG, 27.04.1999 (1 BvR 2203/93 u. a.), NJW 1999, S. 3033, 3034.
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alstaatsprinzip Rechnung.⁵³⁷ Ferner kann sowohl das Ziel der Überwindung der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers als auch die Schaffung eines angemessenen Lohnsystems im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verortet werden.⁵³⁸ Indem der Gesetzgeber den Arbeitnehmer vor einem unangemessenen Arbeitsentgelt schützt, versucht er gleichzeitig auch seiner Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG gerecht zu werden.⁵³⁹ Der gesetzliche Mindestlohn ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht deshalb problematisch, weil er eine Lohnuntergrenze schafft. Bedenklich ist in erster Linie seine tarifverdrängende Wirkung (§ 3 Satz 1 MiLoG). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach einem gleichsam effektiven, aber im Hinblick auf das Grundrecht der Tarifautonomie milderen Mittel, die forcierten Ziele zu verwirklichen. In Betracht kommt ein tarifdispositiv ausgestalteter Mindestlohn. Der gesetzliche Mindestlohn würde dann nur in tariffreien Bereichen Geltung entfalten. Tarifvertragliche Regelungen – auch solche die den Mindestlohn unterschreiten – würden bei einem tarifdispositiv ausgestalteten gesetzlichen Mindestlohn Vorrang genießen. Das würde dazu führen, dass Tarifverträge durch den gesetzlichen Mindestlohn nicht verdrängt würden. Die Tarifautonomie der tarifvertragsschließenden Verbände ließe ein tarifdispositiver gesetzlicher Mindestlohn mithin unberührt. Insofern kann in einem ersten Schritt jedenfalls festgehalten werden, dass ein tarifdispositiv ausgestalteter gesetzlicher Mindestlohn im Hinblick auf mögliche Grundrechtsbeeinträchtigungen (vor allem bezüglich der Tarifautonomie) ein milderes Mittel darstellt. Eine tarifdispositive Mindestlohnregelung müsste überdies aber auch gleich geeignet sein, die gesetzten Ziele zu erreichen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass seit jeher auch tarifliche Branchenmindestlöhne existieren. Eine empirische Aufarbeitung der Entwicklung tariflicher Branchenmindestlöhne soll Aufschluss über die Erforderlichkeit eines tariffesten gesetzlichen Mindestlohns geben. Sie muss dann verneint werden, wenn ersichtlich ist, dass die angestrebten Ziele im Wesentlichen auch durch tarifliche Branchenmindestlöhne erreicht würden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie die eingeführte gesetzliche Mindestlohngrenze nicht signifikant unterschreiten:⁵⁴⁰
BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 779; Barczak, RdA 2014, S. 290, 296; Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 122 f., 135; kritisch Henssler, RdA 2015, S. 43, 45. Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 129 ff.; vgl. auch HK-MiLoG/Schubert, Einleitung Rn. 46. Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 129. Dazu vor allem Henssler, RdA 2015, S. 43, 46.
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aa) Zur Empirie tariflicher Branchenmindestlöhne Dafür bietet sich insbesondere die Betrachtung der tariflichen Branchenmindestlöhne vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns an. Hierzu kann eine Statistik aus dem WSI-Tarifarchiv herangezogen werden, die die Situation im Jahr 2014 beschreibt:⁵⁴¹ Untersucht wurden 22 verschiedene Branchen, in denen tarifliche Mindestlöhne existierten. Gemessen am gesetzlichen Mindestlohn, der bei Einführung 8,50 Euro betrug (vgl. § 1 Abs. 2 MiLoG),⁵⁴² wurde eine Unterschreitung lediglich in drei Branchen (Fleischindustrie, Friseurhandwerk und Landund Forstwirtschaft) festgestellt.⁵⁴³ Dabei lag der tarifliche Branchenmindestlohn für die Fleischindustrie und im Friseurhandwerk mit 8,00 Euro nur knapp unter dem später eingeführten gesetzlichen Mindestlohn. In den übrigen 19 Branchen waren die Sozialpartner in der Lage, tarifliche Mindestlöhne zur vereinbaren, die weit über dem eingeführten gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro lagen. Damit kann festgehalten werden, dass nur sehr wenige Tarifverträge existierten, die den gesetzlichen Mindestlohn geringfügig unterschritten.⁵⁴⁴ Ebenso kann die Entwicklung der tariflichen Branchenmindestlöhne während der Übergangsfrist (vgl. § 24 MiLoG a.F.) gegen die Erforderlichkeit eines „tariffesten“ gesetzlichen Mindestlohns in Stellung gebracht werden. Obwohl der gesetzliche Mindestlohn in dieser Phase nach Maßgabe von § 24 MiLoG a.F. tarifdispositiv ausgestaltet war, wurde er nur innerhalb ganz weniger Branchen unterschritten; Niedriglöhne waren allenfalls in Branchen zu vernehmen, in denen regulierende Tarifverträge gar nicht existierten.⁵⁴⁵ Weshalb sich der Gesetzgeber vor dem Hintergrund dieser empirischen Befunde dennoch dafür entschieden hat, den gesetzlichen Mindestlohn tariffest auszugestalten, erschließt sich in Anbetracht der damit bewirkten Beschneidung der Verhandlungsmacht der Sozialpartner nicht.
WSI-Tarifarchiv zur Tarifpolitik 2015, abgedruckt unter 2.15 im Statistischen Taschenbuch zur Tarifpolitik 2016, abrufbar unter http://www.boeckler.de/pdf/p_ta_tariftaschenbuch_2015.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Mittlerweile beträgt der gesetzliche Mindestlohn 9,19 Euro. Zum 01.01. 2020 steigt er abermals auf 9,35 Euro an. Jedenfalls wenn man allein auf das Tarifgebiet West fokussiert. So schließlich auch die Feststellung von Henssler, RdA 2015, S. 43, 46. Siehe hierzu WSI-Tarifarchiv zur Tarifpolitik 2017, abgedruckt unter 2.15 im Statistischen Taschenbuch zur Tarifpolitik 2017, abrufbar unter http://www.boeckler.de/pdf/p_ta_tariftaschenbuch_2017.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020; diese Entwicklung wurde prophezeit von Henssler, RdA 2015, S. 43, 46.
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bb) Widerspruch zum Dogma der Richtigkeitsvermutung Nun ließe sich dem ohne weiteres entgegenhalten, dass ein tarifdispositiver Branchenmindestlohn insofern nicht gleich geeignet für das Erreichen der angestrebten Ziele ist, als dass in manchen Branchen der eingeführte gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro eben doch unterschritten wurde. Hierbei handelte es sich zwar wie gesehen nur um wenige Branchen, die den später eingeführten gesetzlichen Mindestlohn lediglich marginal unterschritten. Gleichwohl liegt die Annahme nahe, dass ein tarifdispositiver Mindestlohn nicht gleich effektiv die angestrebten Ziele erreicht, da potentiell schließlich Abweichungen „nach unten“ möglichen sind.⁵⁴⁶ Nach ständiger Rechtsprechung des BAG geht von Tarifverträge allerdings eine Richtigkeitsvermutung aus.⁵⁴⁷ Das Postulat von der Richtigkeitsvermutung ist ein wichtiger Eckpfeiler des Tarifvertragssystems. Es beinhaltet die Gewährleistung, dass ein Tarifvertrag von zwei gleich starken Vertragspartner abgeschlossen wird und sich daher eine Billigkeitskontrolle verbietet. Schließlich ist der Tarifvertrag darauf ausgerichtet, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers zu überwinden. Das Kriterium der Tariffähigkeit (insbesondere die soziale Mächtigkeit) sichert diese Vorausetzung ab. Unterschreiten also Tarifverträge in seltenen Fällen das gesetzliche Mindestlohnniveau, so liegt das jedenfalls nicht zwangsläufig an der Durchsetzungsschwäche der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft, sondern unter Umständen an den Besonderheiten der jeweiligen Branche. Die Angemessenheit eines tarifierten Lohnergebnisses wird durch einen tarifverdrängenden gesetzlichen Mindestlohn pauschal in Frage gestellt. Der tarifverdrängende Mindestlohn steht damit im Widerspruch zum etablierten Paradigma von der Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags, dass gerade die Angemessenheit der tariflichen (Lohn‐)Regelung sicherstellt. Wo tarifvertragliche Regelungen bereits existieren, besteht kein Raum für die subsidiäre Schutzfunktion des Staates auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.⁵⁴⁸ An der Verfassungsmäßigkeit eines tarifverdrängenden gesetzlichen Mindestlohn bestehen folglich insofern Zweifel, als dass seine tarifdispositive Ausgestaltung als milderes und gleich geeignetes Mittel nahe gelegen hätte.⁵⁴⁹
Fischer-Lescano/Preis/Ulber, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohns, S. 152; ähnlich auch Waltermann, NZA 2013, S. 1041, 1047. BAG, 19.06. 2012 (1 AZR 775/10), AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 177, Rn. 16; BAG, 24.09. 2008 (6 AZR 76/07), AP BGB § 305 c Nr. 11, Rn. 49; BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1372; BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1116. Henssler, RdA 2015, S. 43, 46. Henssler, RdA 2015, S. 43, 46; vgl. Picker, RdA 2014, S. 25, 34; Maunz/Dürig/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 263; vgl. Thüsing/Thüsing, MiLoG, Einleitung Rn. 34 ff.
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c) Rechtspolitische Kritik: Begrenzung des tarifautonomen Regelungsbereichs Neben den skizzierten (verfassungs‐)dogmatischen Konflikten ist die tarifverdrängende Wirkung des Mindestlohns (§ 3 Satz 1 MiLoG) auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten zu kritisieren. Staatliche Lohnpolitik, die zu einer Verdrängung tariflicher Regelungen führt, mindert in der Tendenz die Anreize, sich tarifpolitisch in Verbänden zu organisieren.⁵⁵⁰ Der tarifautonom regelbare Bereich wird durch staatliche Lohnpolitik auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verkürzt (vgl. Faktor 4).⁵⁵¹ Ein tarifverdrängender Mindestlohn stärkt damit nicht die Tarifautonomie, sondern schwächt ihre institutionellen Voraussetzungen.⁵⁵² Tarifautonomie ist schließlich abhängig von mitgliedschaftsstarken Verbänden (vgl. Faktoren 1 und 2).⁵⁵³ Darüber hinaus nimmt ein tarifverdrängender Mindestlohn keine Rücksicht auf betriebswirtschaftliche Erfordernisse. Es fehlt ihm in dieser Hinsicht an Flexibilität. Dagegen ermöglicht ein tarifdispositiv ausgestalteter gesetzlicher Mindestlohn den Abschluss von Sanierungstarifverträgen, die zwar eine zeitweise Lohnabsenkung vorsehen, aber eine beschäftigungssichernde Wirkung entfalten können.⁵⁵⁴
2. Zum Anpassungsverfahren, §§ 4 ff. MiLoG Neben dem tarifverdrängenden Mindestlohn (§ 3 Satz 1 MiLoG) bietet auch das in den §§ 4 ff. MiLoG geregelte Verfahren zur Anpassung der Höhe des Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission Anlass zu verfassungsdogmatischer und rechtspolitischer Kritik. Nach dem im MiLoG vorgesehenen Verfahren wird der Mindestlohnkommission für die Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns eine überaus zentrale Bedeutung beigemessen:
a) Dogmatische Skizze Nach § 4 Abs. 1 MiLoG errichtet die Bundesregierung eine ständige Mindestlohnkommission, die über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet. Sie wird alle fünf Jahre neu berufen und setzt sich aus einem Vorsitzenden, sechs weiteren stimmberechtigten ständigen Mitgliedern und zwei nicht stimmberechtigten Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft (§ 4 Abs. 2 MiLoG) zusammen. Die
Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 1 Rn. 19; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10. Dazu bereits Kapitel 3, § 8.IV. Maunz/Dürig/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 263. Dazu bereits Kapitel 3, § 8.I. und II. Picker, RdA 2014, S. 25, 34.
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Mitglieder der Mindestlohnkommission unterliegen nach § 8 Abs. 1 MiLoG bei der Wahrnehmung ihrer Tätigkeit keinen Weisungen. Die Bundesregierung beruft gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 MiLoG je drei stimmberechtigte Mitglieder auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus Kreisen der Vereinigungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dabei ist im Hinblick auf den Begriff der Spitzenorganisation die Legaldefinition des § 12 TVG heranzuziehen.⁵⁵⁵ Da die Mindestlohnkommission die Aufgabe hat, die Höhe eines „bundesweit“ flächendeckenden Mindestlohns zu bestimmen, ist die Repräsentation des gesamten Bundesgebiets unerlässliche Voraussetzung.⁵⁵⁶ Danach sind Spitzenorganisationen i.S.d. MiLoG nur diejenigen Zusammenschlüsse von Gewerkschaften oder Arbeitgebervereinigungen, die für die Vertretung der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberinteressen im Arbeitsleben des Bundesgebiets wesentliche Bedeutung haben.⁵⁵⁷ Den Vorsitzenden der Mindestlohnkommission beruft die Bundesregierung auf gemeinsamen Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (§ 6 Abs. 1 MiLoG) ein. Gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 MiLoG beschließt die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns. Im Rahmen einer Gesamtabwägung prüft sie, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden (§ 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG). Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG sollen zudem aktuelle Tarifentwicklungen berücksichtigt werden. Dabei ist die Mindestlohnkommission einem Zielkonflikt⁵⁵⁸ ausgesetzt. Auf der einen Seite muss sie einen möglichst effektiven Arbeitnehmerschutz anstreben. Um ein angemessenen Arbeitslohn kann es gleichwohl nicht gehen, soll das MiLoG doch lediglich eine Untergrenze festlegen.⁵⁵⁹ Demgegenüber muss sie gleichzeitig negative beschäftigungspolitische Effekte vermeiden.Vor diesem Hintergrund sind die Kriterien für die Anpassung des Mindestlohns durch die Kommission allerdings sehr vage.⁵⁶⁰ Hat die Mindestlohnkommission sich auf eine Entscheidung verständigt, kann
Siehe vor allem Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 4– 8 Rn. 3; vgl. auch NK-GA/Forst, MiLoG, § 12 Rn. 6; kritisch hierzu Lakies, MiLoG, § 5 Rn. 7. BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 5 Rn. 3; Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 4– 8 Rn. 3; vgl. hierzu auch NK-GA/Forst, MiLoG, § 12 Rn. 6. ErfK/Franzen, MiLoG, § 8 Rn. 1; BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 5 Rn. 3; Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 4– 8 Rn. 3. ErfK/Franzen, MiLoG, § 9 Rn. 2; Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 9 – 10 Rn. 5. ErfK/Franzen, MiLoG, § 9 Rn. 2. Dazu Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 9 – 10 Rn. 6; siehe zur Konkretisierung der Kriterien und m.w.N. HK-MiLoG/Schubert, § 9 Rn. 10 ff.
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sie, wenn mindestens die Hälfte ihrer stimmberechtigten Mitglieder anwesend ist (Beschlussfähigkeit, § 10 Abs. 1 MiLoG), einen Beschluss mit einfacher Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder fassen (§ 10 Abs. 2 Satz 1 MiLoG). Am Ende des Anpassungsverfahrens ist aber nach § 11 MiLoG auch die Bundesregierung auf den Plan gerufen. Sie muss über die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns entscheiden. Dabei kann sie den vorgeschlagenen Mindestlohn durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich machen (§ 11 Abs. 1 Satz 1 MiLoG). Die Bundesregierung ist damit lediglich dazu befugt, den Beschluss der Mindestlohnkommission anzunehmen oder abzulehnen. Ob die geringe Einflussnahmemöglichkeit der Bundesregierung sich mit dem Demokratieprinzip vereinbaren lässt, ist vor diesem Hintergrund fraglich.
b) Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip? Den Ausgangspunkt bilden die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe zur Tarifnormerstreckung.⁵⁶¹ Anders als das Rechtsverordnungsverfahren nach Maßgabe der §§ 3 ff. AEntG oder die Allgemeinverbindlicherklärung gem. § 5 TVG ist der gesetzliche Mindestlohn jedoch kein Instrument der Tariferstreckung. Gleichwohl bestehen einige Gemeinsamkeiten,⁵⁶² die eine Übertragung der Rechtsprechungsmaßstäbe des BVerfG zur Tarifnormerstreckung nahelegen: Zum einen geht es bei allen drei Instrumenten darum, eine staatliche Konkurrenz zur tarifautonomen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu etablieren. Der Gedanke von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie ist jeweils nicht kompatibel. Der gesetzliche Mindestlohn, die Tariferstreckung nach den §§ 3 ff. AEntG sowie die Allgemeinverbindlicherklärung gem. § 5 TVG sind Formen eines staatlichen Tarifersatzsystems. Insoweit setzt das Demokratieprinzip hinreichende Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten des demokratisch legitimierten Gesetzgebers voraus, um das Defizit an privatautonomer Legitimation zu beheben.⁵⁶³ Zum anderen sind alle drei Instrumente imstande, andere privatautonom legitimierte Tarifwerke zu verdrängen. In dieser Hinsicht geht der gesetzliche Mindestlohn sogar noch einen Schritt weiter. Gem. § 3 Satz 1 MiLoG verdrängt er von vornherein – unabhängig von Auflösungsmechanismen für Tarifkollisionen – jedwede tarifliche Lohnregelung, die die vorgegebene Lohngrenze unterschreitet. Diese Gemeinsamkeiten geben Anlass, auf die vom BVerfG entwickelten demo-
Siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 12.I.3.a). Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 6. BVerfG, 25.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258.
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kratietheoretischen Maßstäbe zur Tarifnormerstreckung zurückzugreifen:⁵⁶⁴ Das BVerfG hat für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ein Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit erkannt.⁵⁶⁵ § 5 TVG a.F. war nur deshalb mit dem Demokratieprinzip vereinbar, weil dieses Defizit „durch die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung und in dem ihr vorausgehenden Verfahren hinreichend ausgeglichen“ wird.⁵⁶⁶ Dabei hat das BVerfG betont, dass der Gesetzgeber seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigen Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen darf. Anderenfalls wäre der Bürger schrankenlos einer normsetzenden Gewalt nichtstaatlicher Einrichtungen ausgeliefert.⁵⁶⁷ Vor dem Hintergrund dieser Maßstäbe liegt auch der Mindestlohnanpassung nach den Vorgaben des MiLoG zunächst ein Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit zugrunde. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MiLoG kann die Bundesregierung eine von der Kommission vorgeschlagene Anpassung qua Rechtsverordnungserlass lediglich annehmen oder ablehnen. Sie kann damit weder über das „Ob“ und „Wie“ der Anpassung noch über den Zeitpunkt („Wann“) entscheiden.⁵⁶⁸ Damit sind ihr die für die Mindestlohnanpassung wesentlichen Entscheidungsparameter von vornherein entzogen. Mit der Mindestlohnkommission hält eine legitimationsarme, nicht originär staatliche Stelle die Fäden in der Hand. Ohne einen entsprechenden Kommissionsvorschlag kann die Bundesregierung den Mindestlohn nicht anpassen. Ein vergleichbares Entscheidungsdefizit ist auch bei der Allgemeinverbindlicherklärung anzutreffen. Nach § 5 Abs. 1 TVG kann die Bundesregierung Tarifverträge nur auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären. Obgleich also Parallelen zwischen dem gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien (§ 5 Abs. 1 TVG) und dem notwendigen Kommissionsbeschluss (§ 9 MiLoG) unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten bestehen, muss darüber hinaus folgendes bedacht werden: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bei der Entscheidung über die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags einen größeren Entscheidungsspielraum als etwa die Bundesregierung im Hinblick auf die Anpassung des Mindestlohns. Zum einen kann es den gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien (vgl. § 5 Abs. 1 TVG) zustimmen oder ablehnen. Soweit entspricht dies der Entscheidungskompetenz der Bundesregierung im Hinblick auf die Anpassung
Für eine Übertragung der Maßstäbe ausdrücklich Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 491 f. BVerfG, 25.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 25.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/00), NJW 1984, S. 1225 f.; vgl. auch BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949. Vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 491 f.; Picker, RdA 2014, S. 25, 36.
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des Mindestlohns (vgl. § 11 Abs. 1 MiLoG). Entscheidend ist aber zum anderen, dass das Bundesministerium die beantragte Tarifnormerstreckung durch eine nur teilweise Allgemeinverbindlicherklärung einschränken kann, wenn sich etwa das öffentliche Interesse hierauf beschränkt.⁵⁶⁹ So kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den im gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien vorgeschlagenen räumlichen und fachlichen Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung einschränken, bspw. um einer ansonsten drohenden Tarifkollision vorzubeugen.⁵⁷⁰ Das Bundesministerium kann zudem – abweichend vom gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien – sowohl einen späteren Beginn als auch ein früheres Ende der Allgemeinverbindlicherklärung festlegen.⁵⁷¹ Nicht zuletzt folgt aus dem – den gesamten staatlichen Tätigkeitsbereich beherrschenden – Verhältnismäßigkeitsprinzip, dass das Bundesministerium imstande ist, auch in inhaltlicher Hinsicht eine eingeschränkte „Teil-Allgemeinverbindlicherklärung“ vorzunehmen.⁵⁷² Derartige Entscheidungsspielräume hat die Bundesregierung im Hinblick auf die Anpassung des Mindestlohns gerade nicht. Verglichen mit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach § 5 TVG weist die Anpassung des Mindestlohns ein gesteigertes staatliches Entscheidungsdefizit auf. Gemessen an ihrem Entscheidungscharakter verfügt aber auch die Mindestlohnkommission nicht über das vom BVerfG geforderte⁵⁷³ Legitimationsniveau. Sie setzt sich ausschließlich aus je drei stimmberechtigten Mitgliedern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer aus Kreisen der Vereinigungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften (§ 5 Abs. 1 Satz 1 MiLoG) zusammen. Bei den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände (BDA und BDI) und der Gewerkschaften (DGB) handelt es sich jedoch nicht um eine demokratisch legitimierte Volksvertretung, sondern um privatautonom legitimierte Verbände,⁵⁷⁴ die in erster Linie den Interessen ihrer eigenen Mitglieder zu entsprechen haben⁵⁷⁵. Insbesondere ist die Gewerkschaft kein Berufsorgan, das primär
Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 103. Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 5 Rn. 20, 24, 41; Däubler TVG/Lakies, TVG, § 5 Rn. 170 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 103, 108 ff., 290; vgl. hierzu auch BAG, 02.07. 2008 (10 AZR 386/07), NZA-RR 2009, S. 145, 147 f.; BAG, 20.06. 2007 (10 AZR 302/06), NZA-RR 2008, S. 24, 27. Vgl. hierzu Berg/Kocher/Schumann-Kocher, § 5 Rn. 30. Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 5 Rn. 24; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 103, 117 ff.; vgl. Däubler TVG/Lakies, TVG, § 5 Rn. 170 f.; a.A.: Wiedemann/Wank, 7. Auflage 2007, TVG, § 5 Rn. 59. Vgl. BVerfG, 24.05.1995 (2 BvF 1/92), NVwZ 1996, S. 574, 575; BVerfG, 31.10.1990 (2 BvF 3/89), NJW 1991, S. 159, 160. Picker, RdA 2014, S. 25, 35 f. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 73 ff.
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dem Gemeinwohl verpflichtet ist.⁵⁷⁶ Auch aus Art. 9 Abs. 3 GG folgt kein Recht der Sozialpartner, an der Anpassung des Mindestlohns mitzuwirken. Die Mindestlohnanpassung ist anders als die Allgemeinverbindlicherklärung nämlich kein „Rechtsetzungsakt eigener Art“⁵⁷⁷, der irgendwo zwischen autonomer Regelung und staatlicher Normsetzung schwebt und insofern eine Beteiligung der Sozialpartner erforderlich macht.⁵⁷⁸ Vielmehr hat der Staat mit der Einführung des MiLoG den Regelungsbereich zur Festsetzung einer Lohnuntergrenze vollständig an sich gezogen. Bedenkt man also, dass die Bundesregierung im Vergleich zur Mindestlohnkommission jedenfalls ein gesteigertes demokratisches Legitimationsniveau aufweist, ist eine wirkungsvolle Einflussnahme vor dem Hintergrund der skizzierten Maßstäbe des BVerfG eigentlich geboten.⁵⁷⁹ Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MiLoG kann die Bundesregierung aber Vorschläge der Kommission lediglich annehmen oder ablehnen. Sie hat kein Initiativrecht, sodass ihr zum einen die Entscheidung über das „Ob“ der Anpassung entzogen ist. Zum anderen entscheidet sie weder über den Zeitpunkt der Anpassung („Wann“) noch über den konkreten Inhalt („Wie“). Der Vorschlag der Kommission wirkt für eine Anpassung des Mindestlohns insofern konstitutiv.⁵⁸⁰ Zwar lässt sich demgegenüber einwenden, dass die von der Kommission vorgeschlagene Anpassung erst qua Rechtsverordnungserlass durch die Bundesregierung Rechtskraft erlangt (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 MiLoG) und die Letztverantwortungskompetenz damit bei der Bundesregierung verbleibt.⁵⁸¹ Allerdings ist das Demokratieprinzip bereits dadurch beeinträchtigt, dass die Bundesregierung maßgeblich auf die Mindestlohnkommission angewiesen ist. Ohne ein entsprechendes Zutun der Kommission ist der Bundesregierung als demokratisch legitimiertes Organ die Anpassung des Mindestlohns von vornherein entzogen. Die Bundesregierung verfügt daher über eine nur geringe Einflussnahmemöglichkeit. Ein derartiges Entscheidungsdefizit kann nach der Rechtsprechung des BVerfG gleichwohl mit dem Demokratieprinzip vereinbar sein. Notwendig ist aber, dass der verordnete Tarifersatz (hier in Form eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns) an strenge Voraussetzungen geknüpft ist und ein Verfahren vor-
Zur Rolle der Gewerkschaften m.w.N. Seiwerth, RdA 2017, S. 373, 375 ff.; siehe hierzu bereits Kapitel 4, § 11.I.4. BVerfG, 15.07.1980 (1 BvR 24/74 u. a.), NJW 1981, S. 215; BVerfG, 25.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2256. Picker, RdA 2014, S. 25, 36. Vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 491 f.; Picker, RdA 2014, S. 25, 36. Barczak, RdA 2014, S. 290, 292. Däubler, NJW 2014, S. 1924, 1928 f.
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geschaltet ist, dass ein hinreichendes Legitimationsniveau sicherstellt.⁵⁸² Dabei muss gelten: Je geringer die Einflussmöglichkeiten des demokratisch legitimierten Organs ausgestaltet sind, desto strengeren materiellen Voraussetzungen muss die letztverantwortliche Entscheidungsfindung (hier in Form der Anpassungsverordnung) unterliegen, um betroffene Grundrechtspositionen hinreichend zu schützen. Auf der einen Seite betrifft jede Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns die Arbeitsvertrags- und Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Arbeitgebers.⁵⁸³ Führt die Erhöhung des Mindestlohns nachweislich zum Verlust des Arbeitsplatzes, kann auf der anderen Seite für den Arbeitnehmer auch die aus Art. 12 Abs 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates⁵⁸⁴ streiten.⁵⁸⁵ Ein tatbestandliches Korrektiv, das diese Grundrechtspositionen berücksichtigt, beinhaltet § 11 MiLoG allerdings nicht. Für die mit einer Allgemeinverbindlicherklährung einhergehenden Grundrechtskonflikte nimmt die Voraussetzung des öffentlichen Interesses (§ 5 Abs. 1 TVG) diese Funktion ein. Die Gesetzesbegründung stellt sogar ausdrücklich klar, dass es ausreicht, wenn die Bundesregierung die Anpassungsverordnung allein auf den Festsetzungsbeschluss der Kommission stützt, wenn ihr die Begründung des Beschlusses – vor dem Hintergrund der in § 9 Abs. 2 MiLoG genannten Kriterien – tragfähig erscheint.⁵⁸⁶ Die Anpassungsverordnung unterliegt damit keinen strengen Voraussetzungen, die die – mit der nur geringen Einflussnahmemöglichkeit der Bundesregierung verbundene – Beeinträchtigung des Demokratieprinzips auszugleichen vermag. Überdies ist auch der Gestaltungsspielraum der Mindestlohnkommission bei der Beschlussfassung alles andere als klar begrenzt.⁵⁸⁷ § 9 Abs. 2 MiLoG ist gespickt mit einem Sammelsurium an unbestimmten Rechtsbegriffen (etwa „angemessener Mindestschutz“ und „faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen“), die eine die widerstreitenden Grundrechtspositionen berücksichtigende Konkretisierung kaum möglich macht.⁵⁸⁸ Die von der Mindestlohnanpassung betroffenen Grundrechtsträger sind damit in großem Umfang einer legitimationslosen Stelle ausgeliefert. Nicht zu überzeugen vermag der Hinweis darauf, dass durch die Auslagerung der
BVerfG, 25.05.1977 (2 BvL 11/74), NJW 1977, S. 2255, 2258. Picker, RdA 2014, S. 25, 31. BVerfG, 27.01.1998 (1 BvL 15/87), NZA 1998, S. 470, 471; BVerfG 24.04.1991 (1 BvR 1341/90), NJW 1991, S. 1667 f. Vgl. ErfK/Franzen, MiLoG, § 11 Rn. 2. BT-Drs. 18/1558, S. 39. So aber Barczak, RdA 2014, S. 290, 292. Thüsing/Pötters, MiLoG, §§ 9, 10 Rn. 6.
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Entscheidung, die Anpassung des Mindestlohns entpolitisiert würde.⁵⁸⁹ Hierbei handelt es sich lediglich um ein rechtspolitisches Argument, das in verfassungsdogmatischer Hinsicht keine Wirkung entfaltet. Das Verfahren zur Anpassung des Mindestlohns genügt daher nicht den vom BVerfG aufgestellten Maßstäben zur Wahrung des Demokratieprinzips.⁵⁹⁰
c) Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitstheorie? Der aufgezeigte Konflikt mit dem Demokratieprinzip wird durch die vom BVerfG entwickelte Wesentlichkeitstheorie⁵⁹¹ zusätzlich verschärft. Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, in grundlegenden gesellschaftlichen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und diese nicht an einen anderen Normgeber zu delegieren. Dabei nimmt mit zunehmender Wesentlichkeit der zu treffenden Entscheidung die erforderliche Regelungsdichte des Gesetzes zu.⁵⁹² Die „Wesentlichkeit“ einer zu treffenden Entscheidung bemisst sich unter anderem anhand ihrer Grundrechtsrelevanz, der Größe des Adressatenkreises sowie der Langfristigkeit einer Festlegung.⁵⁹³ Bedenkt man, dass der gesetzliche Mindestlohn grundsätzlich für jedes Arbeitsverhältnis eine verbindliche Lohnuntergrenze konstituiert (vgl. § 1 Abs. 1 und § 3 Satz 1 MiLoG) und damit von nicht unerheblicher Grundrechtsrelevanz ist, liegt die Annahme einer „wesentlichen“ Entscheidung nahe. Konsequenterweise müsste die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ eines gesetzlichen Mindestlohns dann unmittelbar vom Bundestag selbst getroffenen werden und dürfte bereits nicht an die Bundesregierung delegiert werden.⁵⁹⁴ Allerdings kann bereits in der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro (§ 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG), der nach dem vorgesehenen Verfahren (§§ 4 ff. MiLoG) anzupassen ist, die vom Parlament getroffene
So ausdrücklich: BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 11 Rn. 2; siehe auch Giesen, FS Kempen, S. 216, 222; Löwisch, ZRP 2011, S. 95; Rieble/Klebeck, ZIP 2006, S. 829, 835. Siehe vor allem Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 491 f. und Picker, RdA 2014, S. 25, 36; ebenfalls skeptisch: Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 107 f.; Lakies, AuR 2014, S. 360, 365; Lakies, ArbRAktuell 2014, S. 189, 191; Reichold, NJW 2014, S. 2534, 2535; a.A.: Barczak, RdA 2014, S. 290, 292 f.; BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 4 Rn. 2 f.; siehe auch Däubler, NJW 2014, S. 1924, 1928 f., der jedenfalls betont, dass die Letztverantwortungskompetenz der Bundesregierung im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie verfassungsrechtlich geboten ist. Ständige Rechtsprechung: BVerfG, 06.07.1999 (2 BvF 3/90), NJW 1999, S. 3253, 3254; BVerfG, 27.11.1990 (1 BvR 402/87), NJW 1991, S. 1471, 1472; BVerfG, 06.12.1972 (1 BvR 230/70 u. a.), NJW 1973, S. 133, 136; BVerfG, 09.05.1972 (1 BvR 518/62 u. a.), NJW 1972, S. 1504, 1505 f. Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rn. 106. Siehe zu den vom BVerfG entwickelten Kriterien Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rn. 107. Siehe vor allem Picker, RdA 2014, S. 25, 36; kritisch auch Lakies, AuR 2014, S. 360, 365.
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„wesentliche“ Entscheidung erblickt werden.⁵⁹⁵ Der zuvor aufgezeigte Konflikt mit dem Demokratieprinzip wird dadurch gleichwohl nicht geschmälert.
d) Alternativvorschlag: der Gesetzesentwurf des Bundesrats Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Spannungen sollte der Gesetzgeber das Verfahren zur Anpassung des Mindestlohns überdenken. Es bedarf eines Anpassungsverfahrens, das die Gestaltungsfreiheit einer tarifpolitisch besetzten Kommission beschränkt und gleichzeitig der Bundesregierung einen größere Einflussnahme erlaubt. Ein solches Mindestlohnkonzept sah der Gesetzesentwurf des Bundesrats vor (MinLohnG),⁵⁹⁶ der im Wesentlichen dem Entwurf der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen entsprach,⁵⁹⁷ sich aber letztlich nicht durchsetzen konnte.⁵⁹⁸ Er beinhaltet wichtige Anknüpfungspunkte für die erforderliche Novellierung des MiLoG und steht beispielhaft für eine möglichst staatsnahe Anpassung des Mindestlohns.
aa) Kompetenzerweiterung der Bundesregierung Zunächst gebietet der beschriebene Konflikt mit dem Demokratieprinzip eine erweiterte Einflussnahmemöglichkeit der Bundesregierung für die Anpassung des Mindestlohns. Eine solche Regelung sah bereits der Gesetzentwurf des Bundesrats in § 4 Abs. 5 MinLohnG vor: „Stimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem von der Mindestlohnkommission vorgeschlagenen Mindestlohn nicht zu, legt es der Bundesregierung unverzüglich einen Bericht vor, in dem die Gründe für diese Entscheidung dargestellt werden. In diesem Fall bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Mindestlohn und setzt ihn mit Zustimmung der Bundesregierung durch Rechtsverordnung fest.“⁵⁹⁹ Danach wird – in einem Zusammenspiel von Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesregierung – der Exekutive die Möglichkeit gegeben, sich über Anpassungsbeschlüsse der Mindestlohnkommission hinwegzusetzen. Damit wäre eine echte Letztverantwortungskompetenz der Bundesregierung sichergestellt. Den oben skizzierten Anforderungen an das Demokratieprinzip könnte auf diese Weise entsprochen werden.
So ausdrücklich auch BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG, § 4 Rn. 2; siehe auch Däubler, NJW 2014, S. 1924, 1928 f. BT-Drs. 17/12857; BR-Drs. 136/13. BT-Drs. 17/4665 (neu); BT-Drs. 17/4435. Zur Abgrenzung vom CDU/CSU-Entwurf siehe Riechert/Stomps, NJW 2013, S. 1050. BT-Drs. 17/12857, S. 5.
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bb) Mindestlohnkommission als Sachverständigengremium Ferner bedarf es einer anderen Zusammensetzung der Mindestlohnkommission. Auch in diesem Zusammenhang eignet sich der gescheiterte Bundesratsentwurf als Anknüpfungspunkt. Nach § 3 Abs. 2 MinLohnG sollte sich die Mindestlohnkommission wie folgt zusammensetzen: „Die Mindestlohnkommission besteht aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie drei weiteren sachverständigen Personen aus der Wissenschaft, die weder bei Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften noch bei deren Spitzenorganisationen beschäftigt sind.“⁶⁰⁰ Anders als nach § 4 Abs. 4 MiLoG setzt sich die vom Bundesrat vorgeschlagene Kommission auch aus drei stimmberechtigten Vertretern aus Kreisen der Wissenschaft zusammen. Das Entscheidungsgewicht der Repräsentanten aus den Spitzenorganisationen wäre maßgeblich relativiert. Der Bundesratsentwurf plädierte damit in der Tendenz für eine Mindestlohnkommission als Sachverständigengremium. Hierdurch würde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Spitzenorganisationen für einen „allgemeinen“ flächendeckenden Mindestlohn an einem Legitimationsdefizit leiden. Bei ihnen handelt es sich schließlich nicht um Berufsorgane, die die Anliegen sämtlicher Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertreten.⁶⁰¹ Sie sind in erster Linie den Interessen ihrer eigenen Mitglieder verpflichtet.⁶⁰²
III. Die erweiterte Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG Komplettiert wird das Tarifautonomiestärkungsgesetz durch eine Änderung des AEntG, wonach das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gem. § 7a AEntG eine Tarifnormerstreckung nunmehr auch für andere als die in § 4 Abs. 1 AEntG genannten Branchen (§ 4 Abs. 2 AEntG) qua Rechtsverordnungserlass erstrecken kann.⁶⁰³ Die vorgenommenen Gesetzesänderungen können allerdings nicht losgelöst von den wechselvollen Entwicklungsschritten des AEntG betrachtet werden, hat sich seine Zwecksetzung doch fundamental verändert:
1. Zur Genese des AEntG Seine Geburtsstunde erlebte das AEntG bereits viel früher. Nachdem der Erlass einer europäischen Entsenderichtlinie scheiterte, ist es erstmals am 1. März 1996
BT-Drs. 17/12857, S. 5. Seiwerth, RdA 2017, S. 373, 375 ff. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1036 Rn. 73 ff. Siehe hierzu bereits Kapitel 2, § 5.VII.1.b).
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in Kraft getreten.⁶⁰⁴ Bereits kurz darauf wurden mit dem SGB III-Änderungsgesetz vom 16. Dezember 1997⁶⁰⁵ allerdings erste Änderungen vorgenommen, um – so auch die Gesetzesbegründung⁶⁰⁶ – die zwischenzeitlich in Kraft getretene EGEntsenderichtlinie⁶⁰⁷ in nationales Recht zu transformieren. Das in dieser Form bestehende AEntG bezweckte den Schutz vorübergehend entsandter ausländischer Arbeitnehmer vor Sozialdumping. Da entsandte ausländische Arbeitnehmer gem. Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO grundsätzlich dem Recht ihres Heimatlandes unterliegen, beabsichtigte § 1 Abs. 1 AEntG a.F. die Sicherstellung der nationalen tariflichen Arbeitsbedingungen und Mindestlohnsätze. Diese (ursprüngliche) Zweckrichtung des AEntG wurde mit dem in Kraft treten des Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 1998⁶⁰⁸ ergänzt. Der neu eingefügte § 1 Abs. 3a AEntG a.F. hielt die Möglichkeit einer Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnungserlass erstmals auch für inländische Arbeitsverhältnisse mit inländischen Arbeitgebern bereit. Es folgten viele kleinere Gesetzesänderungen,⁶⁰⁹ ehe das AEntG vollständig aufgehoben wurde und ein neues AEntG zum 24. April 2009 in Kraft trat.⁶¹⁰ Die veränderte Zielsetzung manifestiert sich im neu gefassten – und bis heute weitestgehend unveränderten – § 1 AEntG. Danach bezweckt das AEntG nunmehr die Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Gewährleistung fairer und funktionierender Wettbewerbsbedingungen. Das AEntG bezweckt damit nicht mehr länger nur die Sicherstellung zwingender Mindestarbeitsbedingungen für nach Deutschland entsandte, sondern für alle im Inland branchenmäßig (vgl. § 4 AEntG) tätige Arbeitnehmer. Den Trend der Entwicklung des AEntG zu einem umfassenden Branchenmindestlohngesetz setzte der Gesetzgeber im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vom. 11. August 2014⁶¹¹ fort, indem er die Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnungserlass nach Maßgabe von § 7a AEntG BGBl. I, S. 227. BGBl. I, S. 2970. BT-Drs. 14/45, S. 17. Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1997 L 18, S. 1. BGBl. I, S. 3843. Siehe zur gesamten Gesetzgebungsgeschichte ausführlich und m.w.N. Däubler TVG/Lakies, AEntG, § 1 Rn. 73 ff. BGBl. I, S. 799. BGBl. I, S. 1348.
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für alle Branchen (§ 4 Abs. 2 AEntG) eröffnet hat. Über diese Entwicklung täuscht die Gesetzesbezeichnung als „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ hinweg. Das AEntG betrifft nicht mehr nur die Entsendeproblematik, sondern hat auch für die Gestaltung inländischer Arbeitsverhältnisse mit inländischen Arbeitgebern mittlerweile eine große Bedeutung erlangt.⁶¹² Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist die mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz vorgenommene Änderung des AEntG zu betrachten.
2. Dogmatische Skizzierung des Rechtsverordnungsverfahrens für die Tarifnormerstreckung in anderen Branchen, §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG Das neu geschaffene Rechtsverordnungsverfahren zur Tarifnormerstreckung überwindet den in § 4 Abs. 1 AEntG angelegten Branchenbezug. Nach § 7a AEntG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Tarifnormen qua Rechtsverordnungserlass auch für alle anderen, nicht in § 4 Abs. 1 AEntG genannten Branchen (§ 4 Abs. 2 AEntG) erstrecken. Der zu erstreckende Tarifvertrag darf – insofern besteht kein Unterschied zum Verfahren nach § 7 AEntG – die in § 5 AEntG genannten Arbeitsbedingungen enthalten. Dabei setzt auch die Tarifnormerstreckung nach § 7a Abs. 1 AEntG stets einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien auf Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung voraus. Parallel zu § 7 AEntG fordert auch § 7a AEntG, dass der Rechtsverordnungserlass im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dies ist anhand der in § 1 AEntG genannten Zielen zu beurteilen.⁶¹³ Da § 7a AEntG den Rechtsverordnungserlass auch für in § 4 Abs. 1 nicht genannte Branchen (§ 4 Abs. 2 AEntG) ermöglicht, ist er im Vergleich zum Verfahren nach § 7 AEntG an eine zusätzliche Voraussetzung geknüpft: Der tarifnormerstreckende Rechtsverordnungserlass für „andere Branchen“ muss gem. § 7a Abs. 1 AEntG geeignet erscheinen, einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegenzuwirken.⁶¹⁴ Zudem bindet der Gesetzgeber den Rechtsverordnungserlass gem. §§ 7, 7a AEntG an die in § 1 AEntG genannten Ziele. Mit dieser Voraussetzung rekurriert der Gesetzgeber auf Entscheidungen des BVerfG, in denen dieses legitime gesetzgeberische Ziel Eingriffe in Art. 12 Abs. 1 GG rechtfertigen konnte.⁶¹⁵ Ob die mit der Öffnung der Tarifnormerstreckung für alle Branchen einhergehenden Verfassungskonflikte durch
Henssler, RdA 2015, S. 43, 53. Thüsing/Bayreuther, AEntG, §§ 7, 7a Rn. 6. BT-Drs. 18/1558, S. 52. BVerfG, 20.03. 2007 (1 BvR 1047/05), NZA 2007, S. 609, 610 f. Rn. 36, 42; BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 45 Rn. 87 f.
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diese zusätzliche Voraussetzung hinreichend relativiert werden, ist in einem nächsten Schritt kritisch zu hinterfragen.
3. Verfassungsrechtliche Kritikpunkte Parallel zur Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gem. § 5 TVG kann auch die Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG Konflikte mit Verfassungswerten hervorrufen. Ob das im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes neu geschaffene Rechtsverordnungsverfahren nach den §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG bereits bestehende verfassungsrechtliche Bedenken⁶¹⁶ zusätzlich verschärft, ist ausgehend von der Entscheidung des BVerfG vom 17. Juli 2000⁶¹⁷ zur Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 3a AEntG a.F. zu beurteilen.⁶¹⁸ Eine Verletzung der (negativen) Koalitionsfreiheit verneinte das BVerfG mit dem Hinweis darauf, dass die Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG allenfalls einen mittelbaren Druck herbeiführe, der für die verfassungsrechtliche Beurteilung unerheblich sei.⁶¹⁹ Vor diesem Hintergrund führt auch die Öffnung der Tarifnormerstreckung für alle Branchen gem. § 4 Abs. 2 AEntG nicht zu einer verschärften Beeinträchtigung der negativen und kollektiven Koalitionsfreiheit.⁶²⁰ Gleichwohl behalten die bereits aufgezeigten verfassungsrechtlichen Konflikte, die grundsätzlich mit jeder Form der Tarifnormerstreckung einhergehen, auch im Hinblick auf das Rechtsverordnungsverfahren nach den §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG ihre Gültigkeit.⁶²¹
a) Verschärfter Konflikt mit dem Demokratieprinzip? Fraglich ist allerdings, ob die weitergehende Öffnung der Tarifnormerstreckung nach Maßgabe der §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG mit den vom BVerfG herausgestellten Anforderungen zur Wahrung des Demokratieprinzips und des Bestimmtheitsgebots (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) vereinbar ist. In seiner Entscheidung zu § 1 Abs. 3a AEntG hat das BVerfG maßgeblich darauf abgestellt, dass die Erstreckung tariflicher Normen qua Rechtsverordnungslass „durch die staatliche Mitwirkung im Rahmen der Verordnungsgebung in hinreichendem Maße demokratisch legitimiert“ sei und dass „sowohl der angesprochene Personenkreis als auch die re-
Bayreuther, NJW 2009, S. 2006 ff.; Böhm, NZA 1999, S. 128 ff.; Danwitz, RdA 1999, S. 322, 326; Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2374 f.; Scholz, SAE 200, S. 266, 267 ff. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948 f. Siehe zur dieser Entscheidung bereits Kapitel 4, § 12.I.3.a) ee). BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949. ErfK/Schlachter, AEntG, § 1 Rn. 14. Siehe Kapitel 4, § 12.I.3.b).
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gelbare Materie in den §§ 1, 7 AEntG abschließend aufgezählt“ seien.⁶²² Eine hinreichende staatliche Mitwirkung konnte bislang darin erblickt werden, dass der Gesetzgeber in § 4 AEntG a.F. klar vorgegeben hat, für welche Branchen eine Tarifnormerstreckung qua exekutivem Rechtsverordnungserlass erfolgen kann. Sie waren bis zum in Kraft treten der Regelung in § 4 Abs. 2 AEntG abschließend aufgezählt. Die durch § 4 AEntG a.F. sichergestellte staatliche Mitwirkung im Rahmen der Verordnungsgebung wird durch die §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG zurückgedrängt. Mit der im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vorgenommenen Öffnung für alle Branchen verzichtet der (demokratisch legitimierte) Gesetzgeber auf eine eigenständige Prüfung der Frage, ob ein hinreichender Anlass besteht, die Ziele des AEntG in einer bestimmten Branche durchzusetzen. Damit werden weitere wesentliche Bestandteile des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses in den Bereich der Exekutive verlagert.⁶²³ Auch das in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte und dem Demokratieprinzip Rechnung tragende⁶²⁴ Bestimmtheitsgebot wird hierdurch tangiert. Gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß des Rechtsverordnungserlasses in der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (hier: § 7a AEntG) hinreichend bestimmt sein. Im Hinblick auf § 1 Abs. 3a AEntG a.F. sah das BVerfG dies gewährleistet, da „sowohl der angesprochene Personenkreis als auch die regelbare Materie in den §§ 1, 7 AEntG abschließend aufgezählt“ waren.⁶²⁵ Indem § 4 Abs. 2 AEntG die Tarifnormerstreckung aber für alle Branchen ermöglicht, erfährt der von der Rechtsverordnung betroffene Adressatenkreis eine Entgrenzung. Insbesondere ist es für Arbeitgeber, deren Betriebe nicht einer der in § 4 Abs. 1 AEntG genannten Branchen unterfallen, kaum absehbar, ob sie qua Rechtsverordnungserlass künftig an (belastende) Tarifnormen gebunden werden. Das im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes neu geschaffene Rechtsverordnungsverfahren gem. §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG verschärft demzufolge den verfassungsrechtlichen Konflikt mit dem Demokratieprinzip.
b) Kompensation durch zusätzliche Voraussetzungen? Dieses Minus an demokratischer Legitimation macht es erforderlich, dass die Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnungserlass durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an zusätzliche materielle Voraussetzungen geknüpft BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 110; Henssler, RdA 2015, S. 43, 54; Reichold, NJW 2014, S. 2534, 2535 f. Maunz/Dürig/Remmert, GG, Art. 80 Rn. 7. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948, 949.
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wird.⁶²⁶ Diese Notwendigkeit hat auch der Gesetzgeber erkannt.⁶²⁷ Anders als § 7 AEntG setzt § 7a AEntG daher voraus, dass die Tarifnormerstreckung geeignet erscheinen muss, einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegenzuwirken.⁶²⁸ Allerdings ist diese Voraussetzung keine besonders hohe Hürde, die der mit der Tarifnormerstreckung verbundenen Beeinträchtigung von Außenseitergrundrechten hinreichend Rechnung trägt. Zum einen klingt sie ohnehin auch bei allen anderen Gesichtspunkten an, die ein öffentliches Interesse an der Tarifnormerstreckung begründen können.⁶²⁹ Zum anderen dürfte es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales regelmäßig nicht schwer fallen, darzulegen, dass ausländische Unternehmer darin ein Geschäftsmodell erblicken, ihre geringer entlohnten Arbeitnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt einzusetzen, um mit deutschen Unternehmen im Hinblick auf Lohnkosten in Konkurrenz zu treten.⁶³⁰ Nicht zuletzt ist die Voraussetzung dem Wortlaut von § 7a Abs. 1 AEntG zufolge nicht einmal zwingend. Es wird vielmehr nur beispielhaft aufgeführt („insbesondere“), dass der Rechtsverordnungserlass dann im öffentlichen Interesse geboten erscheint, wenn er einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegenwirkt.⁶³¹ Das Merkmal des öffentliches Interesses ist ein politisch flexibel gestaltbares Merkmal und eröffnet ohne großen Hürden den Weg in eine verstaatlichte „Tarifherrschaft“.⁶³² Ebenso führt die Bindung des Rechtsverordnungserlasses an die in § 1 AEntG genannten Ziele nicht zu einer wirkungsvollen Begrenzung der Tarifnormerstreckung, handelt es sich bei ihnen doch eher um generalklauselartig formulierte Kriterien.⁶³³ Die Vereinbarkeit der §§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG mit dem Demokratieprinzip bleibt vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG⁶³⁴ zu § 1 Abs. 3 AEntG a.F. zweifelhaft.⁶³⁵
Vgl. BAG, 21.09. 2016 (10 ABR 33/15), NZA-Beil. 2017, S. 12, 31 Rn. 150; siehe hierzu bereits auch Kapitel 4, § 12.I.3.b) aa). Vgl. BT-Drs. 18/1558, S. 52. BVerfG, 20.03. 2007 (1 BvR 1047/05), NZA 2007, S. 609, 610 f. Rn. 36, 42; BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 45 Rn. 87 f. Thüsing/Bayreuther, AEntG, §§ 7, 7a Rn. 13. Henssler, RdA 2015, S. 43, 54. Thüsing/Bayreuther, AEntG, §§ 7, 7a Rn. 13. Reichold, NJW 2014, S. 2534, 2535. Henssler, RdA 2015, S. 43, 54. BVerfG, 18.07. 2000 (1 BvR 948/00), NZA 2000, S. 948 f. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 111; Henssler, RdA 2015, S. 43, 54; Reichold, NJW 2014, S. 2534, 2535.
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4. Rechtspolitische Kritik Neben den vorgestellten verfassungsrechtlichen Konflikten tritt eine rechtspolitische Dimension. In dieser Hinsicht lässt sich die weitergehende Öffnung der im AEntG vorgesehenen Tarifnormerstreckung für alle Branchen unter drei Gesichtspunkten kritisieren: Erstens handelt es sich entgegen der Gesetzesbezeichnung nicht um eine „Stärkung der Tarifautonomie“.Vielmehr ist die Öffnung der AEntG-Tarifnormerstreckung für alle Branchen einer von mehreren Schritten auf dem Weg in eine verstaatlichte Tarifherrschaft. Die staatlich verordnete Tarifbindung entwertet die Mitgliedschaft als Eckpfeiler einer funktionsfähigen Tarifautonomie (vergleiche Faktoren 1, 2 und 5).⁶³⁶ In der Tendenz führt staatlich organisierte Tarifnormerstreckung dazu, dass Anreize für die Begründung einer Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden verloren gehen.⁶³⁷ Gleichzeitig wird für bereits organisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Anreiz vermindert, die Mitgliedschaft zu erhalten.⁶³⁸ In dieser Hinsicht verhält sich die Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG nicht anders als die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags. Zweitens entfernt sich das AEntG mit seiner Öffnung für alle Branchen immer weiter vom ursprünglichen Zweck: der Schutz ausländischer Arbeitnehmer vor „Sozialdumping“. Die Bezeichnung als „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ täuscht hierüber hinweg. Das AEntG beabsichtigt mittlerweile die Gewährleistung von Mindestarbeitsbedingungen durch Tarifnormerstreckung – für inländische und ausländische Arbeitnehmer gleichermaßen.⁶³⁹ Dieser Zweckgenese sollte der Gesetzgeber auch Rechnung tragen und das AEntG umbenennen. Drittens muss die Öffnung der Tarifnormerstreckung für alle Branchen (§§ 7a, 4 Abs. 2 AEntG) im Gesamtgefüge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes betrachtet werden. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist der exekutiven Gewalt bereits ein Instrument zur Tarifnormerstreckung an die Hand gegeben worden. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz hat die Voraussetzungen zudem deutlich herabgesetzt. Hinzu kommt, dass mit dem MiLoG eine einheitliche Lohnuntergrenze geschaffen wurde. Die Aufwertung eines zweiten Tarifnormerstreckungsregimes zur Gewährleistung von Mindestarbeitsbedingungen nach den Regeln des AEntG
Siehe Kapitel 3, § 8. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 105; Giesen, FS Kempen, S. 216, 218; Junker, ZfA 2016, S. 81, 90; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 812, 817; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung, in Giesen/ Junker/Rieble (Hrsg.): Neue Tarifrechtspolitik?, S. 67, 98; Waltermann, RdA 2018, S. 137, 138; a.A.: Preis/Povedano Peramato, HSI-Schrift, Bd. 20, S. 17, 19; Walser, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 2, 7 f. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 10. Henssler, RdA 2015, S. 43, 53; Wank, RdA 2015, S. 88, 93.
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Kapitel 4: Tarifpolitik und Tarifautonomiestärkungsgesetz
scheint vor diesem Hintergrund nicht unbedingt erforderlich. Näher gelegen hätte es – flankierend zur erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung und zur Schaffung eines gesetzlichen Mindestlohns – Anreize zu setzten, damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich wieder vermehrt in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden organisieren.
§ 13 Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 4 In diesem Kapitel konnte zunächst herausgestellt werden, dass sich der empirische Zustand der Tarifautonomie deutlich verschlechtert hat. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der über viele Jahre voranschreitende Mitgliederschwund in den Tarifverbänden.Vor dem Hintergrund der entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie erodieren mit dieser Entwicklung zentrale Eckpfeiler des gegenwärtigen Tarifvertragssystems. Die von Richardi bemühte Metapher von der Tarifautonomie ohne mitgliedschaftliche Grundlage als „Baum ohne Wurzeln“⁶⁴⁰ bringt dieses Problem auf den Punkt. Zwischen Tarifgeltung und Mitgliedschaft ist eine systemfremde Kluft entstanden, die es zu schließen gilt. Ferner wurde die Kategorie des „rechtlichen Zustands“ der Tarifautonomie vorgestellt. Ihr wurde die Prämisse zugrunde gelegt, dass es vorrangig die Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, für den Erhalt einer funktionsfähigen Tarifautonomie Sorge zu tragen.⁶⁴¹ Der rechtliche Zustand der Tarifautonomie bemisst sich demzufolge daran, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen so beschaffen sind, dass die Stärkung der Tarifautonomie „aus sich heraus“⁶⁴², d. h. vermittelt über eine entsprechende Tarifpolitik der Verbände, gelingen kann. Dabei offenbarte sich eine paradoxe tarifpolitische Situation: Auf der einen Seite erscheinen qualifizierte Differenzierungsklauseln geeignet, eine Stärkung der Tarifautonomie zu bewirken. Sie sind nach der aktuellen Rechtsprechung des BAG aber unzulässig.⁶⁴³ Auf der anderen Seite versuchen Arbeitgeberverbände über OT-Mitgliedschaften eine solide Mitgliederbasis zu erhalten, obwohl das „wertvolle“ an der Verbandsmitgliedschaft die über § 3 Abs. 1 TVG vermittelte Bindung an einen Tarifvertrag ist. Ungeachtet dieser Dysfunktionalität der OTMitgliedschaft ist sie nach derzeitiger Rechtsprechung ein legitimes tarifpoliti-
Richardi, NZA 2013, S. 408. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 49. Vgl. Waltermann, NZA 2014, S. 874, 876. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38 ff.
§ 13 Zusammenfassung und Zwischenergebnisse von Kapitel 4
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sches Instrument.⁶⁴⁴ Die Tarifvertragsparteien sind derzeit nicht imstande, selbst die Stärkung der Tarifautonomie voranzutreiben.⁶⁴⁵ Vor dem Hintergrund dieses tarifpolitischen Dilemmas konnte dem Gesetzgeber die (subsidiäre) Aufgabe der Tarifautonomiestärkung zugeschrieben werden. Ebenso sind aber die Aktivitäten des Gesetzgebers im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes sowohl unter verfassungsdogmatischen als auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten korrekturbedürftig. So konnte etwa herausgestellt werden, dass jede Form der staatlichen Tarifnormerstreckung Konflikte mit dem Demokratieprinzip und Außenseitergrundrechten hervorruft. In dieser Hinsicht bedarf § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Abs. 1a TVG eine verfassungskonforme Auslegung. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist hingegen verfassungswidrig. Zudem sollte mit dem etablierten Postulat von der Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags wieder ernst gemacht werden, indem der gesetzliche Mindestlohn eine tarifdispositive Ausgestaltung erfährt. Auf diese Weise wäre eine Lohnuntergrenze garantiert, die durch verantwortungsvolle Entscheidungen der Tarifvertragsparteien punktuell unterschritten werden könnte, bspw. dann, wenn ein entsprechender Abschluss eines „Sanierungstarifvertrags“ zum Erhalt von Arbeitsplätzen erforderlich ist. Dabei sollte der Bundesregierung im Verfahren zur Anpassung des Mindestlohns eine größere Einflussnahmemöglichkeit zugesprochen werden, um eine solidere legitimatorische Grundlage zu schaffen. In rechtspolitischer Hinsicht handelt es sich hingegen bei allen drei Maßnahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes um staatlichen Tarifersatz. Kurzfristig betrachtet lässt sich mit einer solchen Rechtspolitik ein erodierendes Tarifsystem vielleicht stabilisieren. Mittel- und langfristig gesehen vermindert staatlicher Tarifersatz aber die Anreize zur Organisation in Verbänden und gefährdet damit die Grundlage einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Im nächsten Kapitel soll daher der an den entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie orientierten Frage nachgegangen werden, mit welchen Maßnahmen eine „echte“ Stärkung der Tarifautonomie bewirkt werden kann. Besonders im Fokus stehen mögliche Anreize, damit sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder vermehrt in den tarifpolitischen Verbänden organisieren.
BAG, 18.07. 2006 (1 ABR 36/05), NZA 2006, S. 1225; vgl. auch BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 179/08), NZA 2010, S. 102, 104 Rn. 24. Waltermann, NZA 2014, S. 874, 876; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 90; vgl. Waltermann, HSISchrift, Bd. 15, S. 18 ff.
Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie Die Tarifvertragsparteien sind derzeit nicht imstande, die Stärkung der Tarifautonomie „aus sich heraus“¹ voranzutreiben. Die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen wirken auf den rechtlichen Zustand der Tarifautonomie in einer Weise ein, dass entweder effektive anreizsetzende Maßnahmen zur Förderung der Verbandsmitgliedschaft nicht möglich sind oder aber im Hinblick auf einen Verbandsbeitritt Fehlanreize gesetzt wurden. Dabei steht insbesondere das Tarifautonomiestärkungsgesetz für einen „starken Staat“ auf dem – in seiner idealtypischen Konstruktion eigentlich staatsfernen – Feld der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dieses Gesetz vermittelt den Eindruck, dass eine verbandspolitische Organisation nicht (mehr) vonnöten ist, da der Staat ohnehin für angemessene Arbeitsbedingungen Sorge trägt. Eine solche Politik stabilisiert ein zunehmend erodierendes Tarifsystem allenfalls kurzfristig. Auf lange Sicht gesehen, perpetuiert staatlich verordneter Tarifersatz die voranschreitende Tariferosion zusätzlich. Vor diesem Hintergrund ist der Blick nach vorne zu richten. Es muss nach anderen Wegen gesucht werden, die Tarifautonomie zu stärken. Bei entsprechenden rechtspolitischen Überlegungen bietet es sich an, an die entwickelten Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie anzuknüpfen. Besonders im Fokus steht dabei die Förderung der Verbandsmitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Faktoren 1 und 2)², um einem drohenden Missverhältnis zwischen Organisationsgrad und Tarifnormwirkung (vgl. Faktor 5) entgegenzuwirken. Nur auf einer hinreichenden verbandsmitgliedschaftlichen Grundlage findet die Tarifautonomie nach dem Vorbild des TVG ihre Legitimation. Dabei sind sowohl der Gesetzgeber als auch die Tarifvertragsparteien in die Pflicht zu nehmen. Zum einen muss nach Möglichkeiten gefragt werden, mit denen der Gesetzgeber die Stärkung der Tarifautonomie vorantreiben kann. Zum anderen sollen aber auch Überlegungen angestellt werden, was die Tarifvertragsparteien selbst für Maßnahmen ergreifen können, um gegenüber Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder attraktiver zu werden. Es geht darum, neue Anreize zur Begründung einer Verbandsmitgliedschaft zu setzen und bestehende Fehlanreize zu beseitigen, anstatt die Ausweitung staatlichen Tarifersatzes weiter zu fördern. Vgl. Waltermann, NZA 2014, S. 874, 876. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.I. und II. https://doi.org/10.1515/9783110736113-007
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Nicht jede anreizsetzende Wirkung stellt einen verfassungsrechtlich problematischen „Druck“ dar, der zu einer Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit führt.³ Indem das TVG die Tarifnormwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) in erster Linie mit der Verbandsmitgliedschaft (§ 3 Abs. 1 TVG) verbindet, ist ihm bereits eine Art „UrAnreiz“ inhärent.⁴ Anreizsetzende Wirkungen sind dem Tarifvertragssystem insoweit alles andere als fremd. Ganz im Gegenteil ist die Differenzierung nach der Verbandszugehörigkeit sogar charakteristisch für das TVG.⁵ Mittlerweile sind aus der Rechtswissenschaft bereits einige Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie unterbreitet worden.⁶ Nicht zuletzt wurden auf dem 70. Deutsche Juristentag in Hannover 2014 zahlreiche Ansätze zur Stärkung der Tarifautonomie diskutiert.⁷ In den nachfolgenden Untersuchungen werden auf der einen Seite bereits bestehende Vorschläge aufgegriffen und diskutiert. Dabei beschränkt sich die Auswahl der vorgeschlagenen Maßnahmen auf diejenigen, die im Hinblick auf die entwickelten Faktoren als besonders geeignet erscheinen. Auf der anderen Seite ist es das Anliegen der vorliegenden Arbeit, auch neue Ansätze zur Stärkung der Tarifautonomie hervorzubringen, um die bisherige Debatte zu bereichern. Jeweils werden rechtspolitische und verfassungsrechtliche Gesichtspunkte berücksichtigt. Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, immer auch die praktische Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen im Blick zu behalten. Dabei müssen die nachfolgenden Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie als „Mosaikstücke“ eines gesamten Tarifautonomiestärkungsprogramms verstanden werden, von denen isoliert betrachtet nur geringe empirische Effekte ausgehen dürften. Allerdings können sie in einem wechselseitigen Zusammenwirken im Rahmen eines vollständig abgestimmten Stärkungsprogramms einen
Zuletzt sogar ausdrücklich im Zusammenhang mit Stichtagsklauseln in Tarifverträgen BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112 Rn. 4 f. Vgl. Creutzfeld, AuR 2019, S. 354, 357. Vgl. Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945, 948; vgl. Brecht-Heitzmann/Gröls, NZA-RR 2011, S. 505, 506; Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 21; Franzen, RdA 2008, S. 193, 199; vgl. Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 169; vgl. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 157; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24 ff.; Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, HSI-Schrift, Bd. 30, S. 540 ff.; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65 ff.; Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27; Greiner, AuR 2016, S. 92, 97 ff.; Greiner, ZfA 2017, S. 309; Greiner, NZA 2018, S. 563; Leydecker, GRUR, S. 1030; Ulber, SR 2018, S. 85; vgl. Seiwerth, RdA 2014, S. 358; Seiwerth, NZA 2014, S. 708; Seiwerth, EuZA 2014, S. 450; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15; siehe auch Waltermann, NZA 2014, S. 874. Siehe hierzu vor allem das für den Deutschen Juristentag angefertigte Gutachten und die verschriftlichten Referate: Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 1 ff.; Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 11 ff.; Giesen, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 61 ff.
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enormen Beitrag zur Förderung der Verbandsmitgliedschaft leisten. Vor diesem Hintergrund beginnt dieses Kapitel mit Maßnahmen zur Förderung der Mitgliedschaft in Gewerkschaften, indem zunächst die Implementierung eines gesetzlichen Spanneneffekts (§ 14.) erwogen wird. Fortgefahren wird mit einem rechtsvergleichenden Blick nach Europa, um weitergehende Inspirationen für mögliche Ansätze zur Stärkung der Tarifautonomie zu erhalten (§ 15.). Im Fokus steht hierbei das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft, das vor allem im sogenannten „Genter-System“ seinen Ausdruck findet. Im Anschluss werden demgegenüber auch Maßnahmen zur Förderung der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden besprochen. Hierbei soll es zunächst darum gehen, neue Anreize zu setzen, damit Arbeitgeber sich wieder zunehmend mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden organisieren. Dabei wird insbesondere tarifdispositives Gesetzesrecht als Mittel zur Stärkung der Tarifautonomie betrachtet (§ 16.) Darüber hinaus liegt der Fokus darauf, bereits bestehende Fehlanreize im Tarifsystem zu beseitigen, die Arbeitgeber bereits von vornherein davor abschrecken, einem Arbeitgeberverband beizutreten. Hierbei wird eine zeitliche Begrenzung der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) von Tarifverträgen diskutiert (§ 17.). Jeweils schließen die verschiedenen Kapitel mit einer Empfehlung an den Bundesgesetzgeber in Form eines konkreten Gesetzgebungsund Formulierungsvorschlag.
§ 14 Gesetzlicher Spanneneffekt Bis hierin konnte herausgestellt werden, dass es grundsätzlich die Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Tarifautonomie zu stärken, indem sie vor allem für eine hinreichende mitgliedschaftliche Legitimationsgrundlage Sorge tragen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen stehen einem Gelingen jedoch entgegen. Der rechtliche Zustand der Tarifautonomie ist derzeit so beschaffen, dass mit einer Verbandsmitgliedschaft Fehlanreize verbunden sind. Schließlich finden Tarifverträge häufig auch ohne verbandsmitgliedschafltiche Grundlage Anwendung, entweder schuldrechtlich qua arbeitsvertraglicher Bezugnahmeregelung oder aber aufgrund staatlich organisierter Allgemeinverbindlicherklärung nach Maßgabe von § 5 TVG. Gleichzeitig sparen sich nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer den Gewerkschaftsbeitrag. Dieser mit der Verbandsmitgliedschaft verbundene Fehlanreiz wirkt dem Beitrittsentschluss von Arbeitnehmern strukturell entgegen. Diese Gemengelage ruft den Gesetzgeber auf den Plan. Er muss Maßnahmen ergreifen, die die Sozialpartner wieder in die Lage versetzen, effektiv Mitglieder zu werben. Der Staat muss Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt setzen, ohne dabei die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen selbst zu regulieren.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Solche Maßnahmen sind aber auf den ersten Blick nur schwer mit dem in dieser Arbeit propagierten Verständnis von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie zu vereinbaren. Die „freie“ Entscheidung zum Gewerkschaftsbeitritt wird beeinflusst. Daher verwundert es nicht, dass anreizsetzende Maßnahmen im Schrifttum teilweise sehr kritisch betrachtet werden.⁸ Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass zwischen der privatautonomen Entscheidung zum Gewerkschaftsbeitritt und echtem Zwang zur Mitgliedschaft ein großer Spielraum für Gestaltungsansätze liegt. Nicht jede anreizsetzende Maßnahme begründet einen die negative Koalitionsfreiheit verletztenden „Druck“ zum Gewerkschaftsbeitritt. Das hat zuletzt auch das BVerfG ausdrücklich klargestellt.⁹ Dabei hat es richtig erkannt, dass vom TVG selbst ein gewisser „Ur-Anreiz“ ausgeht, indem Tarifverträge nach Maßgabe der §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG grundsätzlich nur für die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der tarifvertragsschließenden Parteien Geltung beanspruchen.¹⁰ Dem System der Arbeitsrechtsordnung sind anreizsetzende Mechanismen demzufolge alles andere als fremd. Letztlich darf nicht verkannt werden, dass die Verbandsmitgliedschaft derzeit mit Fehlanreizen verbunden ist. Insofern geht es weniger um das Setzen neuer Anreize zum Verbandseintritt, als vielmehr darum die bestehenden Fehlanreize zu beseitigen.
I. Vorschlag: Gesetzliche Absicherung des „Spanneneffekts“ Hierfür wird dem Gesetzgeber vorgeschlagen, an die rechtlichen Rahmenbedingungen für Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen anzuküpfen. Nach der Rechtsprechung des BAG sind bislang lediglich einfache Differenzierungsklauseln zulässig.¹¹ Sie vermögen jedoch die Besserstellung der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer nicht effektiv sicherzustellen. Eine Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern qua Gesamtzusage des Arbeitgebers bleibt möglich. Hingegen kann allein die Spannenklausel die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit effektiv sicherstellen. Sie verhindert die arbeitsvertragliche Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern.¹² Qualifizierte Diffenzierungsklauseln sind nach der bisherigen Recht-
Dazu vor allem Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421; vgl. auch Bauer/Arnold, NZA 2005, S. 1209; Bauer/Arnold, NZA 2011, S. 945; Greiner, NZA 2016, S. 10; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 819. BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112 Rn. 4 f. BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112 Rn. 5. BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028. Hierzu bereits Kapitel 4, § 11.I.1.b).
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sprechung des BAG allerdings unzulässig.¹³ Anders als von Deinert ¹⁴ und dem DGB¹⁵ vorgeschlagen, soll die Spannenklausel nicht – entgegen der Rechtsprechung des BAG¹⁶ – ausdrücklich gesetzlich „zugelassen“ werden. Vielmehr ist der Gesetzgeber aufgerufen, den Spanneneffekt von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen gesetzlich abzusichern. Eine gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts hat gegenüber einer tarifvertraglichen Spannenregelung zudem den Vorteil, dass ein anderer Prüfungsmaßstab anzulegen ist, wenn der Gesetzgeber selbst als Urheber in Erscheinung tritt. Gesetzgeberische Regelungen genießen schließlich eine größere Autorität als Tarifgesetze. Dass muss sich bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit bemerkbar machen. Der Gesetzgeber verfügt über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum für Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonmie.¹⁷ Nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass das BVerfG bislang noch nicht über die Verfassungsmäßigkeit qualifizierter Differenzierungsklauseln zu entscheiden hatte. Allein das BAG hat qualifizierte Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen für unzulässig erklärt. Es besitzt allerdings nicht die Kompetenz, ein formelles Gesetz in Gestalt der gesetzlichen Absicherung des Spanneneffekts letztverbindlich für verfassungswidrig zu erklären.¹⁸ Eine Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit von qualifizierten Differenzierunsklauseln würde daher forciert. Berücksichtigt man die jüngst ergangene Entscheidung¹⁹ zur Verfassungsmäßigkeit einfacher Differenzierungsklauseln in Gestalt von Stichtagsregelungen, ist dies auch wünschenswert. Das BVerfG führte gegen eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit an: „Die Tatsache, dass organisierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anders behandelt werden als nicht organisierte Beschäftigte, bedeutet insofern jedoch noch keine Grundrechtsverletzung, solange sich daraus nur ein eventueller faktischer Anreiz zum Beitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht.“²⁰
BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920. Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 48 f. DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung vom 28.02. 2017, abrufbar unter https:// www.dgb.de/themen/++co++dfdaadb8-ff1 f-11e6-a620 – 525400e5a74a; zuletzt abgerufen am 30.01. 2019; kritisch zum Positionspapier Jacobs, NZA-Editorial Heft 7/2017; Lobinger, JZ 2014, S. 810, 819. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920. Zuletzt BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 920 Rn. 157, 925 Rn. 205; BVerfG, 04.07.1995 (1 BvF 2/86 u. a.), NZA 1995, S. 754. BVerfG, 24.02.1953 (1 BvL 21/51), BVerfGE 2, S. 124, 128; BVerfG, 20.03.1952 (1 BvL 12/51 u. a.), BVerfGE 1, S. 184, 198; siehe zum „Normverwerfungsmonopol“ des BVerfG m.w.N. Maunz/Dürig/ Dederer, GG, Art. 100 Rn. 9 ff. BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112. BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112 Rn. 4.
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Insbesondere werde kein höherer Druck erzeugt als derjenige, der sich stets ergibt, wenn die individualvertraglichen Vereinbarungen hinter den Abreden zurückbleiben, die eine Gewerkschaft im Wege eines Tarifvertrags nur für ihre Mitglieder treffen kann.“²¹ Ebenso verneinte das BVerfG eine Verletzung der Arbeitsvertragsfreiheit.²² Inwieweit diese Entscheidungsgründe eine Strahlkraft für die bloß gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts haben, muss ergründet werden.
II. Anforderungen an die gesetzliche Formulierung Die rechtspolitische Gestaltung ist ein schwieriges Unterfangen. Das tägliche Geschäft des Juristen ist die Konkretisierung des geltenden Rechts, nicht aber unbedingt das Nachdenken über eine hiervon losgelöste Gestaltung de lege ferenda. ²³ Gleichwohl soll der Versuch unternommen werden, eine Norm zu entwerfen, die einen Spanneneffekt von Differenzierungsklauseln gesetzlich absichert. Sie muss allerdings verschiedenen Anforderungen gerecht werden. Zum einen sollte sie so formuliert sein, dass die bezweckte Anreizsetzung zur Begründung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft praktische Wirksamkeit entfalten wird. Eine gesetzliche Regelung ist wertlos, wenn sie keine effektiven Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zeitigt. Die gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts muss so gestaltet werden, dass Anreize zur Gewerkschaftsmitgliedschaft tatsächlich gesetzt werden. Zum anderen müssen aber auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Die gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts von Differenzierungsklauseln muss so gestaltet sein, dass sie mit konfligierenden Grundrechtspositionen (insbesondere der negativen Koalitionsfreiheit und Arbeitsvertragsfreiheit) zu einem möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden. Letztlich sollte die forcierte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit auch praktisch umsetzbar sein. Es muss dem Arbeitgeber möglich sein, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern den Tarifbonus auszuzahlen. In diesem Zusammenhang muss die Rechtsprechungspraxis zur Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit Berücksichtigung finden. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen wird vorgeschlagen, nach § 4a TVG folgenden § 4b TVG einzufügen:
BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112 Rn. 5. BVerfG, 14.11. 2018 (1 BvR 1278/16), NZA 2019, S. 112.Rn. 6 ff. Grundlegend Müller/Uhlmann, Elemente einer Rechtsetzungslehre, S. 35 ff.
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„(1) In einem Tarifvertrag kann eine jährliche Sonderzahlung für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft geregelt werden. Die tarifliche Sonderzahlung darf die Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags nicht übersteigen. (2) Gewährt der Arbeitgeber auch den anderen Arbeitnehmern seines Betriebs tarifliche Sonderzahlungen, so erhöht sich der Betrag für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft bis zur Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags entsprechend. (3) Die Gewerkschaften tragen die Verantwortung für die Abwicklung der tariflichen Sonderzahlung.“
III. Kommentierung Ehe der Frage nachgegangen wird, ob § 4b TVG den aufgestellten Anforderungen an die gesetzliche Gestaltung gerecht wird, sollen die verschiedenen Absätze eine kurze Kommentierung erfahren.
1. Abs. 1: Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln § 4b Abs. 1 Satz 1 TVG gestattet es den Sozialpartnern, in Tarifverträgen Regelungen zu treffen, nach denen die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft eine jährliche Sonderzahlung erhalten. Damit wird in einem ersten Schritt die Rechtsprechung des BAG zur Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln wiedergegeben.²⁴ Neben dieser deklaratorischen Bedeutung enhält § 4b Abs. 1 Satz 1 TVG aber auch die Klarstellung, dass eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit stets eine entsprechende tarifliche Regelung voraussetzt. Eine vom Tarifergebnis der Sozialpartner losgelöste Besserstellung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer erfolgt demnach gerade nicht. Diese Gesetzestechnik wahrt die Autonomie der Sozialpartner bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Erst auf der Grundlage einer tarifvertraglich vereinbarten (einfachen) Differenzierungsklausel entfaltet der in Abs. 2 gesetzlich abgesicherte Spanneneffekt seine Wirkungskraft. Gegenstand der Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit ist eine jährliche Sonderzahlung. Der Begriff der „Zahlung“ soll klarstellen, dass eine Differenzierung nur für pekuniär bezifferbare²⁵ Bonusleistungen möglich ist. So ist etwa ein zusätzlich gewährter Urlaub oder besonderer Kündigungsschutz exklusiv für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer nicht vom Tatbestand des § 4b TVG erfasst. Ferner
BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028. Vgl. dazu Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 156.
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begrenzt § 4b Abs. 1 Satz 2 TVG die Höhe der jährlichen Sonderzahlung für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft auf den „durchschnittlichen“ Gewerkschaftsbeitrag. Bei den DGB-Einzelgewerkschaften beläuft er sich regelmäßig auf 1 % des durchschnittlichen Bruttomonatsgehalts.²⁶ Auf dieser Grundlage ist von sämtlichen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern eines Betriebs der durchschnittliche Gewerkschaftsbeitrag zu ermitteln, indem die Beiträge addiert und durch die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer dividiert werden. Die Rechtsprechung des BAG zur Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln erfährt hierdurch eine Präzisierung. Den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern können damit nicht in beliebiger Höhe exklusive Tarifboni gewährt werden. Damit berücksichtigt die vorgeschlagene gesetzliche Regelung gleichzeitig auch gegenläufige verfassungsrechtliche Wertungen (insbesondere die negative Koalitionsfreiheit und Arbeitsvertragsfreiheit).
2. Abs. 2: Gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts Das Herzstück der vorgeschlagenen Regelung bildet § 4b Abs. 2 TVG. Danach erhöht sich der Betrag für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft bis zur Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags entsprechend, wenn der Arbeitgeber die tarifliche Sonderzahlung auch den anderen Arbeitnehmern seines Betriebs gewährt. Der Arbeitgeber wird damit gesetzlich verpflichtet, die von den Sozialpartnern forcierte (partielle) Besserstellung gewerkschaftlich organiserter Arbeitnehmer zu respektieren. Gewährt er – etwa qua Gesamtzusage – auch den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern einen Bonus, erhöht § 4b Abs. 2 TVG die tarifvertraglich vereinbarte Sonderzahlung gegenüber den Arbeitnehmern, die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, um diesen Betrag. Während die Sozialpartner sich in einem Tarifvertrag auf eine Differenzierungswirkung nach Maßgabe von § 4b Abs. 1 TVG verständigen müssen, wird der Spanneneffekt nicht etwa tarifvertraglich, sondern gem. § 4b Abs. 2 TVG „gesetzlich“ angeordnet. Aus dem Zusammenspiel von § 4b Abs. 2 TVG mit § 4b Abs. 1 Satz 2 TVG ergibt sich jedoch, dass diese gesetzliche Absicherung eines Spanneneffekts immer nur bis zur Höhe des durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrags erfolgen kann.
Siehe nur beispielsweise den Mitgliedschaftsbeitrag der IG-Metall Berlin, online abrufbar unter https://www.igmetall-berlin.de/fileadmin/user/Betrieb/Vertrauensleute/Tipps_VL-Arbeit/ IGM-Beitraege.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020.
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3. Abs. 3: Verantwortung der Gewerkschaften zur praktischen Umsetzung § 4b Abs. 3 TVG soll der praktischen Handhabung der Differenzierungsklausel Rechnung tragen. Die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG nach wie vor unzulässig. Wie soll der Arbeitgeber also einen Tarifbonus an gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer auszahlen, wenn er sie nicht nach ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft fragen kann? Diesem Umstand trägt § 4b Abs. 3 TVG Rechnung, indem es dem Verantwortungsbereich der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft zugeordnet wird, für die praktische Abwicklung der tariflichen Sonderzahlung Sorge zu tragen.²⁷
IV. Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte Der vorgeschlagene § 4b TVG muss ferner auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Dabei treten bereits die im Zusammenhang mit einer „tarifvertraglich“ geregelten Spannenklausel erörterten Verfassungskonflikte auf den Plan.²⁸ Im Folgenden soll es überwiegend darum gehen, diejenigen Spezifika herauszustellen, die sich nunmehr aus der „gesetzlichen“ Absicherung des Spanneneffekts ergeben
1. Die negative Koalitionsfreiheit als Prüfungsmaßstab Zunächst fungiert die Koalitionsfreiheit als relevanter Prüfungsmaßstab. Einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer begründet § 4b TVG dann, wenn ein „Druck“ erzeugt wird, der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft beizutreten. Hierfür wurde zunächst auf eine „strukturelle“ Druckbestimmung abgestellt.²⁹ Notwendige (aber noch nicht hinreichende) Voraussetzung für die Annahme eines rechtfertigungsbedürftigen Drucks (in Abgrenzung zum nicht rechtfertigungsbedürftigen Anreiz) ist, dass die Arbeitsvertragsparteien die bewirkte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit mit anderen arbeitsrechtlichen Gestaltungsmitteln (etwa qua Gesamtzusage des Arbeitgebers) egalisieren können.³⁰ Erst dann ist eine differenzierende Regelung überhaupt strukturell dazu geeignet, Druck auf nicht organisierte Arbeitnehmer auszuüben, der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft beizutreten. Siehe zur praktischen Handhabung tariflicher Sonderzahlungen für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer unten Kapitel 5, § 14.V. Siehe dazu bereits Kapitel 4, § 11.I.4. Kapitel 4, § 11.I.4.a) bb). BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028, 1033 Rn. 46 ff.
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Als „hinreichende“ Bedingung für das Vorliegen eines rechtfertigungsbedürftigen Drucks müssen ferner auch quantitative Elemente Berücksichtigung finden.³¹ Dabei fungiert der durchschnittliche Gewerkschaftsbeitrag als maßgebliche Grenze.³² Bis zu dieser Höhe kann von einem Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit nicht ausgegangen werden. Vielmehr fungiert die Differenzierungsklausel bis zur Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags als bloßer Nachteilsausgleich³³: Nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer kommen qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme in den Genuss tarifvertraglicher Regelungen und sparen sich den jährlichen Gewerkschaftsbeitrag. Dieser Vorteil gegenüber Mitgliedern der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft wird insoweit lediglich kompensiert. Zwar gewähren die Gewerkschaften auch noch anderen Leistungen (bspw. Prozessberatung, Rechtsschutz oder Streikunterstützung), die Nicht-Mitgliedern vorenthalten bleiben. Diese dürften für die Beitrittsentscheidung eines Arbeitnehmers allerdings eine eher untergeordnete Rolle spielen.³⁴ Vor dem Hintergrund dieses Prüfungsmaßstabs ist § 4b TVG zu beurteilen. Nach § 4b Abs. 2 TVG erhöht sich der Betrag für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft bis zur Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags entsprechend, wenn der Arbeitgeber tarifliche Sonderzahlungen auch den anderen Arbeitnehmern seines Betriebs gewährt. So verhindert die vorgeschlagene Regelung, dass der Arbeitgeber die vollständige Gleichstellung seiner Arbeitnehmer im Betrieb mit etwaigen arbeitsrechtlichen Gestaltungsmitteln erreicht. Insoweit geht von der in § 4b Abs. 2 TVG verankerten gesetzlichen Absicherung eines Spanneneffekts ein struktureller Druck auf nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer aus, der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft beizutreten. Indem § 4b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 TVG aber die Höhe der differenzierenden Leistung auf den durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrag beschränkt, fehlt es an der quantitativen hinreichenden Bedingung für die Annahme eines rechtfertigungsbedürftigen Drucks. Es wird lediglich der Nachteil der organisierten Arbetnehmer ausgeglichen, den sie gegenüber den nicht organisierten Arbeitnehmer dadurch erleiden, dass sie einen Gewerk-
Kapitel 4, § 11.I.4.a) cc). Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147, 149; siehe auch bereits Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 64; Kocher, NZA 2009, S. 119, 121; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 156; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. Greiner, FS Willemsen, S. 159, 160 f.; Greiner, ZTR 2018, S. 628 f.; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 154 ff. Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 170; Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 155; etwas differenzierender Kocher, NZA 2009, S. 119, 121; vgl. auch BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), NJW 1971, S. 2301 f.
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schaftsbeitrag entrichten. Die vorgeschlagene Regelung greift damit nicht in die Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ein.
2. Die Arbeitsvertragsfreiheit als Prüfungsmaßstab Daneben tritt die Arbeitsvertragsfreiheit der nicht gewerkschatlich organisierten Arbeitnehmer und des Arbeitgebers als zu überwindende verfassungsrechtliche Hürde auf den Plan. Auf Eingriffsebene kann an dieser Stelle auf die bisherigen Ausführungen verwiesen werden.³⁵ Für die Beurteilung der Eingriffsfrage macht es keinen Unterschied, ob die Spannenklausel tarifvertraglich geregelt ist oder ob der Spanneneffekt gesetzlich abgesichert ist. Die Arbeitsvertragsfreiheit schützt die Arbeitsvertragsparteien vor jeder finalen Beeinträchtigung ihrer privatautonomen Gestaltungsmöglichkeiten und -chancen.³⁶ Für einen Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit genügt es bereits, dass die Gestaltungsmöglichkeiten und -chancen „tatsächlich“ verkürzt werden.³⁷ Der in § 4 b Abs. 2 TVG gesetzlich verankerte Spanneneffekt von Differenzierungsklauseln zielt unmittelbar darauf ab, die arbeitsvertragliche Gleichstellung der Außenseiter zu verhindern. Durch diesen „Spanneneffekt“ wird es den Arbeitsvertragsparteien weitestgehend³⁸ unmöglich gemacht, die Gleichstellung der Außenseiter mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zu erreichen.³⁹ Ebenso wie eine tarifvertraglich geregelte Spannenklausel greift daher auch die in § 4b Abs. 2 TVG vorgesehene gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts in die Arbeitsvertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien ein. Bereits im Zusammenhang mit tarifvertraglich vereinbarten Spannenklauseln hätte das BAG⁴⁰ die Rechtfertigungsebene (stärker) berücksichtigen müssen.⁴¹ Die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung gewinnt insofern an zusätzlichem Gewicht, als dass der Spanneneffekt mit der Regelung in § 4b Abs. 2 TVG „gesetzlich“ angeordnet wird. Dabei soll nunmehr ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Spezifika gelegt werden, die sich daraus ergeben, dass
Kapitel 4, § 11.I.4.c). BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 44 f.; BAG, 23.11. 2006 (1 BvR 1909/06), NZA 2007, S. 85, 86 f.; siehe auch Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 118; Franzen, RdA 2006, 1, 5 f. Breschendorf, Zweiteilung der Belegschaft, S. 118; Franzen, RdA 2006, 1, 5 f.; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 423 ff. Vgl. Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 54 ff., 77. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 423. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920. In diesem Sinne ebenfalls kritisch Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 73.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
der Spanneneffekt einer Differenzierungsklausel gem. § 4b Abs. 2 TVG in einem formellen Gesetz abgesichert ist.
a) „Gemeinwohlbelang“ als maßgebliche Rechtfertigungshürde Es darf zunächst nicht übersehen werden, dass gesetzgeberische Eingriffe in die Arbeitsvertragsfreiheit auch gerechtfertigt sein können. Streng genommen konfligiert jede gesetzliche Regelung auf dem Feld der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit der Arbeitsvertragsfreiheit. Immer wenn der Gesetzgeber in diesem Bereich aktiv ist, ließe sich vorbringen, dass hierdurch der arbeitsvertraglich regelbare Bereich und damit die Arbeitsvertragsfreiheit beschnitten wird. Es liegt aber auf der Hand, dass nicht jede Beeinträchtigung der Arbeitsvertragsfreiheit sofort zur Verfassungswidrigkeit der konfligierenden Vorschrift führen kann. Was aber sind die Maßstäbe für eine mögliche Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Arbeitsvertragsfreiheit? Diese hängen entscheidend mit der Betrachtung der Arbeitrsvertragsfreiheit als Ausfluss der in Art. 12 Abs. 1 GG verankerten Berufsfreiheit⁴² und den jeweiligen Anforderungen der vom BVerfG entwickelten Dreistufenlehre⁴³ zusammen. Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung. Für Arbeitnehmer bestimmt der Abschluss des Arbeitsvertrags ihre Berufswahl und bildet gleichzeitig die Grundlage für ihre Berufsausübung.⁴⁴ Aber auch die Berufsausübung des Arbeitgebers korrespondiert mit der Arbeitsvertragsfreiheit: Die Gestaltung der Arbeitsverträge betrifft unmittelbar die arbeitsteilige Organisation des Betriebs und damit auch die Berufsausübung des Arbeitgebers.⁴⁵ Der in § 4b Abs. 2 TVG vorgesehene gesetzliche Spanneneffekt betrifft nicht die Arbeitsvertragsabschlussfreiheit. Insoweit ist nicht die Facette der Berufswahlfreiheit tangiert. Es wird „lediglich“ Einfluss auf die Modalitäten des Arbeitsverhältnisses genommen, indem einer Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern entgegengewirkt wird. Vor diesem Hintergrund ist allein die Berufsausübungsfreiheit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer und des Arbeitgebers betroffen. Regelungen, die die Berufausübungsfreiheit tangieren, zählen zu den geringsten Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit und werden nach der Dreistufenlehre der 1. Stufe zugeordnet.⁴⁶ Wegen der geringen Eingriffsintensität gelingt eine verfassungsrechtliche Recht-
BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42 Rn. 100; vgl. BAG, 16.03.1994 (5 AZR 339/92), NZA 1994, S. 937, 939; Dieterich, RdA 1995, S. 129, 134; Schubert, RdA 2001, S. 199, 206. Siehe nur BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035. MüHdb ArbR/Benecke, § 31 Rn. 2; Gitter/Boerner, RdA 1990, S. 129, 133. MüHdb ArbR/Benecke, § 31 Rn. 3; Maunz/Dürig/Scholz, GG, Art. 12 Rn. 140. BeckOK GG/Ruffert, GG, Art. 12 Rn. 94.
§ 14 Gesetzlicher Spanneneffekt
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fertigung bereits dann, wenn die konfligierende Regelung auf Grundlage vernünftiger Allgemeinwohlerwägungen zweckmäßig erscheint.⁴⁷
b) Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie Der legitime Zweck von § 4b TVG ist die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, indem Anreize zur Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gesetzt werden. Mitgliedschaft in den Tarifverbänden ist der zentrale Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Hierbei handelt es sich um ein Allgemeinwohlbelang von überragender Bedeutung. Wird zudem der Gesetzgeber – und nicht lediglich die Sozialpartner – zur Sicherung der Funktionsfähigkeit bzw. zur Stärkung der Tarifautonomie aktiv, bekommt dieser Regelungszweck eine noch größere verfassungsrechtliche Relevanz.
aa) Die objektiv-rechtliche Dimension der Tarifautonomie als Institutsgarantie Die subjektiv-rechtliche Dimension der Tarifautonomie als Ausfluss kollektiver Koalitionsfreiheit ist unbestritten. In dieser Hinsicht fungiert die Tarifvertragsfreiheit als Abwehrrecht gegenüber dem Staat, möglichst ohne Einflussnahme („autonom“) die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit dem Abschluss von Tarifverträgen zu regeln.⁴⁸ Hierauf ist der verfassungsrechtliche Schutzgehalt der Tarifautonomie aber nicht begrenzt. Die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Tarifautonomie beinhaltet darüber hinaus die (objektiv-rechtliche) institutionelle Gewährleistung, dass der Staat einen Bestand von Normen schafft und erhält, die das Tarifvertragssystem bilden und damit den notwendigen Rahmen für den Abschluss von Tarifverträgen stiften.⁴⁹ Teilweise wird darauf verwiesen, dass derartige institutionelle Garantien bereits „grundrechtsunmittelbar“ von der subjektiv-rechtlichen Dimension der Tarifautonomie erfasst seien. Die Tarifautonomie könne daher nicht als Institutsgarantie⁵⁰ im „klassischen Sinne“ verstan-
BVerfG, 02.03. 2010 (1 BvR 256/08 u. a.), NJW 2010, S. 833, 850 Rn. 298; BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 778; BVerfG, 14.11.1995 (1 BvR 601/92), NZA 1996, S. 381, 382. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 103 ff, 105; BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 62; Greiner, ZTR 2013, S. 647, 649; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 75 ff.; vgl. Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 5, 29, 76; Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), S. 60 ff.; zuletzt Kempen, jM 2017, S. 454, 455; vgl. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710 f. Im Schrifttum divergiert die Terminologie; siehe dazu: Greiner, ZTR 2013, S. 647 Fn. 18.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
den werden.⁵¹ Diese Auffassung berücksichtigt aber nicht, dass die Koalitionen anderenfalls – d. h. ohne entsprechende institutionelle Gewährleistungen – nicht imstande wären, den von der staatlichen Rechtsetzung freigelassenen Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ordnend zu regeln.⁵² Ohne das Repertoire an tariflichen Gestaltungsmöglichkeiten, die das TVG de lege lata bereithält, könnten die Koalitionen keine wirksamen Tarifverträge abschließen. Die Tarifvertragsfreiheit würde zu einem bloßen nudum ius verkommen. Dass die Tarifautonomie auch institutionelle Gewährleistungen mit sich bringt, belegt überdies ein Vergleich mit anderen anerkannten Institutsgarantien. Die Tarifautonomie verhält sich zum TVG, wie die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) und Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) zu den einfachgesetzlichen Ausgestaltungen im BGB (§§ 903 ff., 1297 ff. BGB).⁵³ Tarifautonomie, Eigentumsfreiheit und das Institut der Ehe sind in ihrer subjektiv-rechtlichen Dimension als Freiheits- und Abwehrrechte gegenüber dem Staat nur denkbar, wenn der Gesetzgeber auch den einfachrechtlichen Rahmen für die Grundrechtsausübung bereitstellt.⁵⁴ Erst dann erlangt der Grundrechtsträger (hier in Gestalt der Koalitionen) „rechtliche Handlungsfähigkeit, über die er von Natur aus, ohne die Existenz der einschlägigen Normen, nicht verfügte.“⁵⁵ In diesem Sinne fungiert die Tarifautonomie als Institutsgarantie und beinhaltet damit auch eine „Bewirkungsdimension“.⁵⁶ Die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Tarifautonomie verpflichtet den Staat, die für ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem notwendigen Regelungen zu schaffen.⁵⁷ Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang häufig von „Ausgestaltung“.⁵⁸ Als ausgestaltungsbedürftige Institutsgarantie kann die Tarifautonomie für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der durch § 4b Abs. 2 TVG betroffenen Grundrechtspositionen daher grundsätzlich in Stellung gebracht werden. In anderen Zusammenhängen hat das
So etwa Maunz/Dürig/Scholz, GG, Art. 12 Rn. 173; an anderer Stelle spricht Scholz aber durchaus vom „institutionellen Grundgehalt der Tarifautonomie“ und vom „institutionellen Charakter der Koalitionsfreiheit“: Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 1/2015, S. 4, 15. BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), NJW 1966, S. 2305, 2306. Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141; so offenbar auch Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 1/2015, S. 3, 19. Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141. Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141. BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 19, 62; Greiner, ZTR 2013, S. 647, 649; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 5 f., 29, 76 ff.; Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141; Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung, S. 222 ff. BeckOK GG/Cornils, GG, Art. 9 Rn. 62; Mangoldt/Klein/Starck/Kemper, GG, Art. 9 Rn. 141. Vgl. BVerfG, 19.10.1966 (1 BvL 24/65), NJW 1966, 2305, 2306; BVerfG, 30.11.1965 (2 BvR 54/62), NJW 1966, S. 491, 493; zur Ausgestaltung der Tarifautonomie: BVerfG, 01.03.1979 (1 BvR 532/77 u. a.), NJW 1979, 699, 706; BVerfG, 26.05.1970 (2 BvR 664/65), NJW 1970, 1636.
§ 14 Gesetzlicher Spanneneffekt
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BVerfG auch hierauf zurückgegriffen, indem es etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen mit der Sicherung einer funktionsfähigen Tarifautonomie rechtfertigt.⁵⁹
bb) Mitgliedschaft und Parität als Funktionselemente der Tarifautonomie Inwieweit trägt die vorgeschlagene Regelung in § 4b TVG aber dazu bei, das gegenwärtige Tarifvertragssystem zu stabilisieren? In verfassungsrechtlicher Hinsicht sind – wie gesehen – Normen unabdingbar, die eine funktionsfähige Tarifautonomie sicherstellen. Insbesondere setzt eine funktionsfähige Tarifautonomie eine hinreichende mitgliedschaftliche Grundlage in den Verbänden voraus, damit gewährleistet ist, dass die Tarifverhandlungen weitestgehend paritätisch geführt werden können.⁶⁰ Allerdings sind mit dem gegenwärtigen Tarifsystem Fehlanreize verbunden, die dazu führen, dass Arbeitnehmer sich immer weniger in Gewerkschaften organisieren. Nicht organisierte Arbeitnehmer werden über arbeitsvertragliche Bezugnahmen auf Tarifverträge vielfach den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern gleichgestellt.⁶¹ Demzufolge ist es möglich, sich den Gewerkschaftsbeitrag zu sparen und dennoch in den Genuss tarifvertraglicher Standards zu kommen. Bislang waren die Gewerkschaften kaum in der Lage, diesen Fehlanreizen effektiv entgegenzuwirken. Die Folge ist ein anhaltender Mitgliederschwund in den Gewerkschaften.⁶² Hierdurch wird die für die Verhandlung von Tarifverträgen notwendige Parität als Kernelement einer funktionsfähigen Tarifautonomie erheblich gestört. Funktionsfähig ist die Tarifautonomie nämlich nur, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht besteht.⁶³ Schafft der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang Normen, um die für die Verhandlung von Tarifverträgen „auf Augenhöhe“⁶⁴ notwendige Parität sicherzustellen, verfolgt er ein verfassungsrechtlich schützenswertes Ziel von herausragender Bedeutung für das Allgemeinwohl.⁶⁵ Dabei verstärkt sich dieser Rechtfertigungsgrund, je desolater es um den gewerkschaftlichen Organisationsgrad bestellt ist. Hieran knüpft die vorgeschlagene Regelung an und zielt mit dem gesetzlichen Spanneneffekt in § 4b Abs. 2 TVG
BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 144; BVerfG, 20.10.1981 (1 BvR 404/78), NJW 1982, S. 815, 817. Siehe bereits Kapitel 3, § 8.I. Siehe bereits Kapitel 2, § 5.II. Siehe bereits Kapitel 2, § 5.I. Zuletzt: BAG, 26.06. 2018 (1 ABR 37/16), AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 10 m. Anm. Greiner/Pionteck, Rn. 62; BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 918 Rn. 146. Vgl. BVerfG, 20.10.1981 (1 BvR 404/78), NJW 1982, S. 815, 816. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710 f.
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darauf ab, den beschriebenen Fehlanreizen entgegenzuwirken, indem gewerkschaftlich organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmer ökonomisch gleichgestellt werden.
c) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers Der vorgeschlagenen Regelung ließe sich aber entgegengehalten, dass mit dem in § 4b Abs. 2 TVG verankerten Spanneneffekt gar nicht sichergestellt sei, dass sich künftig mehr Mitglieder in den Gewerkschaften organisieren. Es fehlt insofern an einem verlässlichen rechtstatsächlichem Befund, dass ökonomische Anreize die Attraktivität der Gewerkschaftsmitgliedschaft erhöht. Anders als die Sozialpartner verfügt der Gesetzgeber von Verfassungswegen aber über eine umfangreiche Einschätzungsprärogative für Maßnahmen auf dem Feld der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Sie ist unmittelbarer Ausfluss des Demokratieprinzips. Dem Gesetzgeber wird damit ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, innerhalb dessen er über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung zur Erreichung eines legitimen Ziels frei entscheiden kann.⁶⁶ In diesem Bereich ist die gerichtliche Kontrolldichte deutlich abgesenkt.⁶⁷ Ob die vorgeschlagene Regelung auf der Ebene der Geeignetheit „tatsächlich“ dazu führen wird, dass Arbeitnehmer sich wieder vermehrt gewerkschaftlich organisieren, ist vor diesem Hintergrund irrelevant. Diese Frage fällt in den Bereich der Einschätzungsprärogative und entzieht sich damit der (verfassungs‐)gerichtlichen Kontrolle. Gegenüber den Sozialpartnern befindet sich der Gesetzgeber damit in einer verfassungsrechtlich privilegierten Position.
d) Keine Überschreitung der Tarifmacht Im Zusammenhang mit der tarifvertraglichen Regelung von Spannenklauseln wurde vom BAG⁶⁸ und Teilen des Schrifttums⁶⁹ das Argument ins Feld geführt, die Sozialpartner überschreiten damit die Grenzen ihrer Tarifmacht. Es fehle an einer Legitimationsgrundlage dafür, in der Weise auf Außenseiter-Arbeitsverhältnisse Einfluss zu nehmen, dass eine Gleichstellung mit gewerkschaftlich organisierten
BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 779; BVerfG, 06.10.1987 (1 BvR 1086/82 u. a.), NJW 1988, S. 1195. Ulber, NZA 2016, S. 619. BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 925 Rn. 48. Bauer/Arnold, NZA 2005, S. 1209, 1211; Franzen, RdA 2006, S. 1, 11; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, S. 421, 424 ff.; vgl. ähnlich auch Borchard, Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Grenzen tarifvertraglicher Differenzierungsklauseln, S. 161 ff., 165.
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Arbeitnehmern „rechtlich-logisch unmöglich“ wird.⁷⁰ Eine „gesetzliche“ Absicherung entzieht dieser verfassungsrechtlichen Kritik am Spanneneffekt allerdings die Grundlage. Denn anders als die Sozialpartner besitzt der Gesetzgeber kraft demokratischer Legitimation das Mandat, Regelungen zu schaffen, die sowohl Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer als auch auf die der Außenseißter zeitigen. Trifft nämlich der Staat Regelungen auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschftsbedingungen, ist die Legitimationsgrundlage nicht in der privatautonom getroffenen Entscheidung zum Beitritt in eine Gewerkschaft zu erblicken. Vielmehr handelt es sich hierbei um Regelungen kraft demokratisch-legitimierter Fremdbestimmung durch den Staat.⁷¹ Insgesamt genügt § 4b TVG damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
V. Praktische Abwicklung Schließlich muss die vorgeschlagene gesetzliche Absicherung des Spanneneffekts auch praktikabel sein. In diesem Zusammenhang stellt sich ganz allgemein die Frage, wie die Abwicklung einer tariflichen Sonderzahlung für die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft erfolgen kann.⁷²
1. Die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit als rechtspraktische Hürde Will der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Auszahlung des Tarifbonus gerecht werden, muss er wissen, wer von seinen Arbeitnehmern Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft ist. Dabei tritt die rechtspraktische Problematik rund um die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit auf den Plan. Hierzu muss folgende Überlegung zugrunde gelegt werden: Die Koalitionsfreiheit schützt in ihrer Ausprägung als Individualgrundrecht das Recht zur Gründung, zum Beitritt sowie zum Verbleib in einer Koalition.⁷³ Gem. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG kommt ihr dabei Drittwirkung zu, sodass diese Rechte auch im Privatrechtsverkehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unmittelbare Geltung entfalten.⁷⁴ Damit schützt die Koalitionsfreiheit auch davor, dass die koalitionsmäßige bzw. gewerkschaftliche
BAG, 23.03. 2011 (4 AZR 366/09), NZA 2011, S. 920, 923 Rn. 38. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Zu den praktischen Problemen von differenzierenden Regelungen Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 27 ff. Siehe nur BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 916 Rn. 130. MüHdb ArbR/Benecke, § 32 Rn. 159.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Betätigung nicht zu Nachteilen im Betrieb führt.⁷⁵ Handlungen, die diese Rechte konterkarieren, sind nach Maßgabe von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. § 134 BGB unwirksam. In diesem Zusammenhang hat das BAG zutreffend ausgeführt, dass die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit während laufender Tarifverhandlungen die kollektive Koalitionsfreiheit der beteiligten Gewerkschaft beeinträchtigt.⁷⁶ Die Sozialpartner streben nach der Konzeption des Tarifvertragssystems einen gemeinsamen Interessenausgleich an. Dabei versuchen sie die jeweils andere Seite zur Übernahme der selbst für richtig befundenen Positionen zu bewegen. Allerdings hängt die Verhandlungsstärke einer tarifvertragsschließenden Gewerkschaft entscheidend von der Zahl ihrer Mitglieder im Betrieb des Arbeitgebers ab. Der Mitgliederbestand garantiert dabei nicht nur eine finanzielle Absicherung der Gewerkschaft. Die verbandsmitgliedschaftliche Grundlage ist gleichzeitig auch Garant für eine hinreichende Durchsetzungskraft der Gewerkschaft in den Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite. Sowohl der Organisationsgrad der Gewerkschaft als auch die konkrete Verteilung ihrer Mitglieder im Betrieb (also die arbeitskampfstrategischen Schlüsselpositionen) sind damit für die Ausrichtung einer adäquaten und effektiven Arbeitskampfstrategie wichtige Parameter. Erhebt die Arbeitgeberseite diese Informationen zum Mitgliederbestand der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft durch Befragung der Arbeitnehmer nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, ist sowohl die Tarifverhandlungs- als auch die Arbeitskampfparität gestört. Die Arbeitgeberseite kann sich mithilfe dieser Daten effektiv auf die Verhandlungs- und Arbeitskampfstrategie der Gewerkschaft einstellen. Vor diesem Hintergrund erblickt das BAG richtigerweise in der „Ungewissheit des sozialen Gegenspielers über die tatsächliche Durchsetzungskraft der Arbeitnehmerkoalition“ die Grundlage dafür, die „Verhandlungsbereitschaft zu fördern und zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen.“⁷⁷ Zwar ließe sich dem entgegenhalten, dass das BAG die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nur „während laufender Tarifverhandlungen“⁷⁸ und für die „Einstellungsphase“⁷⁹ für unzulässig erklärt hat.⁸⁰ Für Dazu vor allem Gamillscheg KollArbR I § 5 II 1b; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 30; vgl. auch Zachert, AuR 2003, S. 370. BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306, 309 Rn. 28 ff.; vgl. auch BAG, 21.05. 2014 (4 AZR 120/13), BeckRS 2014, 74484; vgl. BAG, 26.09. 2001 (4 AZR 544/00), NZA 2002, S. 634, 635; vgl. BAG, 28.03. 2000 (1 ABR 16/99), BAGE 94, S. 169. BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306, 309 Rn. 30. BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306, 309 Rn. 28 ff. BAG, 26.09. 2001 (4 AZR 544/00), NZA 2002, S. 634, 635; BAG, 28.03. 2000 (1 ABR 16/99), BAGE 94, S. 169. So etwa Staudinger/Richardi/Fischinger, BGB, § 611 Rn. 580; vgl. auch m.w.N. Forst, ZTR 2011, S. 598 ff.
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alle darüber hinaus denkbaren Konstellationen hat das BAG diese Frage ausdrücklich offen gelassen.⁸¹ Führt man den Gedankengang des BAG aber konsequent zu Ende, muss auch jenseits laufender Tarifverhandlungen von der Unzulässigkeit der Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit ausgegangen werden. Schließlich kann die Arbeitgeberseite auch im Vorfeld erhobene Daten zum Mitgliederbestand der Gewerkschaft im Rahmen künftiger Tarifverhandlungen und ggf. für drohende Arbeitskampfauseinandersetzungen einsetzen. Die für das Aushandeln von Tarifveträgen „auf Augenhöhe“ unerlässliche Parität⁸² wäre in gleicher Weise gestört. Nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ein auf die Person des entsprechenden Mitglieds bezogenes Datum ist. Ein solches unterliegt dem besonderen Verarbeitungsverbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO.⁸³ Die Gewerkschaftszugehörigkeit ist dort als „sensibles Datum“ sogar ausdrücklich genannt.
2. Durchführungsmöglichkeit Dass die Zulässigkeit der Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt ist und sogar vieles für ihre Unzulässigkeit spricht, führt zu einem Dilemma: Auf der einen Seite soll der Arbeitgeber nach Maßgabe der vorgeschlagenen Regelung in § 4b TVG dazu verpflichtet sein, gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern einen Tarifbonus zu gewähren. Auf der anderen Seite darf er sich aber keinen Überblick darüber verschaffen, welche seiner Arbeitnehmer Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind. An dieses Dilemma knüpft Absatz 3 der vorgeschlagenen Regelung an: „Die Gewerkschaften tragen die Verantwortung für die Abwicklung der tariflichen Sonderzahlung.“ Zugunsten ihrer eigenen Mitglieder haben die Gewerkschaften in aller Regel auch gar kein Interesse daran, dass diese gegenüber dem Arbeitgeber ihre Verbandszugehörigkeit offenlegen. Dieser Umstand muss berücksichtigt werden, selbst wenn man die Zulässigkeit der Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit unterstellen würde. Vor diesem Hintergrund nimmt § 4b Abs. 3 TVG die Gewerkschaften in die Pflicht, eine Abwicklung der tariflichen Sonderzahlung zu konzipieren, bei der die Mitglieder ihre Verbandszugehörigkeit nicht offenlegen müssen. So bietet es sich an, eine gewerkschaftsnahe Organisation zu bilden, die mit der Abwicklung der tariflichen Sonderzahlungen betraut wird. Dabei kann es sich etwa um einen
BAG, 18.11. 2014 (1 AZR 257/13), NZA 2015, S. 306, 310 Rn. 38. Vgl. BVerfG, 20.10.1981 (1 BvR 404/78), NJW 1982, S. 815, 816. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 27.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
gewerkschaftsnahen Verein oder eine Serviceeinrichtung (bspw. mithilfe der ver.di Service GmbH⁸⁴) handeln, die damit beauftragt wird, die Sonderzahlung vom Arbeitgeber zunächst in Empfang zu nehmen, ehe sie diese an das anspruchsberechtigte Mitglied weiterleitet. Nicht der einzelne Arbeitnehmer kann danach vom Arbeitgeber den Tarifbonus verlangen, sondern allein die zwischengeschaltete Gewerkschaftsorganisation auf Antrag des anspruchsberechtigten Mitglieds. Eine Offenlegung der Gewerkschaftszugehörigkeit gegenüber dem Arbeitgeber wird dadurch vermieden. Insbesondere bleibt dem Arbeitgeber die Gewerkschaftszugehörigkeit von Arbeitnehmern auf arbeitskampfstrategischen Schlüsselpositionen verborgen. Diese Vorgehensweise hat sich in der Praxis bewährt⁸⁵ und wurde bereits höchstrichterlich abgesegnet.⁸⁶ Damit der Arbeitgeber auch weiß, welchen Arbeitnehmern die Bonuszahlung tatsächlich zusteht, muss er von der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft (oder der zwischengeschalteten Gewerkschaftsorganisation) eine entsprechende Mitteilung über die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in seinem Betrieb erhalten. Für die Einholung dieser Auskunft tragen die Gewerkschaften gem. § 4b Abs. 3 TVG auch die Verantwortung.
VI. Ergebnis Die gesetzliche Implementierung des Spanneneffekts einer tarifvertraglich geregelten Differenzierungsklausel wird – nach dem Vorbild des konzipierten § 4b TVG – empfohlen. Die mit einer Verbandsmitgliedschaft verbundenen Fehlanreize werden beseitigt. Insbesondere könnte verhindert werden, dass ein nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme in den Genuss tariflicher Leistungen kommt und sich gleichzeitig den Gewerkschaftsbeitrag erspart.⁸⁷ Gleichzeitig berücksichtigt die vorgeschlagene Regelung den Freiheitsgehalt der negativen Koalitionsfreiheit und der Arbeitsvertragsfreiheit, indem der Spanneneffekt auf die Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags begrenzt ist. Schließlich empfiehlt es sich, die tarifliche Sonderzahlung über eine zwischengeschaltete gewerkschaftsnahe Organisation abzuwickeln.
Siehe dazu https://www.u-di.de/phocadownloadpap/Archiv/udi_vortrag_10 %20thesen%20%20kurzfassung.pdf, zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Dazu Trümner, ArbRAktuell 2013, S. 590. BAG. 21.05. 2014 (4 AZR 120/13), BeckRS 2014, 74484. Vgl. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 712.
§ 15 Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft
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§ 15 Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft Tarifautonomie gibt es nicht nur in Deutschland. Auch in anderen europäischen Ländern existiert das Recht von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen, weitestgehend ohne staatliche Einflussnahme die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Kollektivverträgen zu regulieren.⁸⁸ In allen Mitgliedstaaten der EU wird das individualvertragliche Arbeitsverhältnis durch kollektivvertragliche Regelungen überlagert.⁸⁹ Nicht zuletzt der EGMR hat unmittelbar aus Art. 11 EMRK ein Recht auf Tarifverhandlungen abgeleitet.⁹⁰ Hiermit korrespondiert Art. 28 GRC, wonach Arbeitnehmer und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen das Recht haben, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen. Ähnlichen Inhat hat darüber hinaus etwa auch Art. 6 der Europäischen Sozialcharta (ESC). Gewerkschaften haben demzufolge eine gemeinsame europäische Tradition. Daher liegt es nahe, auch die Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in anderen europäischen Ländern zu betrachten. Dort wo sich der Organisationsgrad als besonders stabil erweist, können die Charakteristika des jeweiligen Tarifsystems womöglich inspirieren.
I. Rechtstatsachen: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad im europäischen Vergleich Zuletzt wurde der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Europa im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung der European Social Survey (ESS) erforscht. Für insgesamt 16 EU-Länder wurden Daten im Rahmen einer repräsentativen Langzeitstudie für die Jahre 2002, 2008 und 2014 erhoben. Dabei wurde ganz gezielt nach der Gewerkschaftszugehörigkeit gefragt. Die Daten der ESS wurden vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln analysiert und im September 2017 veröffentlicht.⁹¹ Hierauf basierend, veranschaulicht die folgende Tabelle (Mit-
Rebhahn, EuZA 2010, S. 62; Rebhahn, NZA 2001, S. 763 ff.; siehe zur Tarifautonomie in zahlreichen europäischen Ländern jeweils m.w.N. Waas, FS Kempen, S. 38, 40 ff. Rebhahn, EuZA 2010, S. 62. EGMR, 12.11. 2008 (34503/97), NZA 2010, S. 1425, 1431 Rn. 154. Dieke/Lesch, IW-Trends 3.2017, S. 23, 27; online abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/filead min/publikationen/2017/358017/IW-Trends_03_2017_Dieke_Lesch-Gewerkschaftliche_Mitglieder strukturen.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020.
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gliederzahlen in %) die Entwicklung des Organisationsgrads in 16 EU-Ländern für die Jahre 2002, 2008 und 2014:
Österreich Belgien Schweiz Tschechien Deutschland Dänemark Spanien Finnland Frankreich Großbritannien Ungarn Irland Niederlande Norwegen Polen Schweden
—
Tabelle 5: Beschäftigte Gewerkschaftsmitglieder in europäischen Ländern in %
Betrachtet man die vorstehende Tabelle zur Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in anderen europäischen Ländern, fallen vor allem zwei Aspekte auf: Zum einen kann konstatiert werden, dass es sich bei sinkenden Mitgliederzahlen in Gewerkschaften um ein paneuropäisches Phänomen handelt. Besonders eklatant ist die Mitgliedererosion etwa in Frankreich (7,3 %)⁹² und in Polen (8,1 %). Demgegenüber fallen die skandinavischen Länder (Dänemark, Finnland und Schweden) mit einem relativ hohen und stabilen gewerkschaftlichen Organisationsgrad auf. Mit einem Organisationsgrad von über 60 % heben sie sich deutlich von den anderen europäischen Ländern ab. In Dänemark kann sogar ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad von ca. 70 % verzeichnet werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnend, sich näher mit den skandinavischen Tarifvertragssystemen auseinanderzusetzen.
Zur Situation der Tarifautonomie in Frankreich m.w.N. Le Friant, EuZA 2010, S. 23 ff.
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II. Das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft Das deutsche Tarifsystem schreibt den Sozialpartnern in erster Linie die Aufgabe zu, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen zu regulieren. In Skandinavien (vor allem in Schweden, Dänemark und Finnland) ist eine derartige Form „klassischer“ Tarifautonomie nicht verfassungsrechtlich verankert.⁹³ Vielmehr werden den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden über die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hinausgehende Funktionen zugeschrieben. Sie stehen im Zentrum eines tripolaren Systems, in dem die Regulierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nur einen Teilaspekt darstellt. In unterschiedlicher Ausprägung sind die Sozialpartner darüber hinaus auch in die Systeme der sozialen Sicherheit integriert. Besonders prominent ist in diesem Zusammenhang das Genter-System, wonach die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung organisieren.⁹⁴ Drittens sind die Sozialpartner am demokratischen Prozess wirtschaftspolitischer Entscheidungen beteiligt. Insgesamt haben sie damit einen großen Einfluss auf ökonomische, soziale und arbeitsmarktbezogene Entscheidungen. Zwar bestehen zwischen den skandinavischen Ländern auch Unterschiede. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass die verschiedenen Aufgaben der Sozialpartner – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – zwischen den drei genannten Polen pendeln:⁹⁵
1. Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Das skandinavische Tarifsystem zeichnet sich durch ein hohes Maß an staatlicher Enthaltsamkeit aus. Wie in Deutschland ist zunächst eine Verknüpfung von Tarifnormwirkung und Verbandsmitgliedschaft charakteristisch.⁹⁶ So regelt etwa das schwedische Mitbestimmungsgesetz in § 26 Abs. 1 Satz 1 Lag (1967:580): „Von Arbeitgebern oder Arbeitnehmerorganisationen geschlossene Tarifverträge verpflichten die Mitglieder der Organisationen.“ Es gilt jedoch als tarifvertraglich stillschweigend vereinbart, dass ein Arbeitgeber seine nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer gleich behandeln muss.⁹⁷ Diese Außenseiter-Wirkung
Evju, EuZA 2010, S. 48. Dazu Seiwerth, NZA 2014, S. 708 ff.; Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 458 f. und Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878. Siehe hierzu auch jeweils m.wn.N. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351 ff.; Köhler, ZESAR 2007, S. 67, 71 ff.; Köhler, ZESAR 2007, S. 399, 403 ff. Umfassend m.w.N, Evju, EuZA 2010, S. 48 ff. Evju, EuZA 2010, S. 48, 57. Evju, EuZA 2010, S. 48, 53; Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 458.
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kann im Tarifvertrag jedoch ausgeschlossen werden.⁹⁸ Darüber hinaus kann im Tarifvertrag auch geregelt werden, welche Mitglieder erfasst werden sollen und wann eine Tarifbindung eintreten soll. Tarifverträge sind in Schweden regelmäßig so ausgestaltet, dass ein neu beigetretenes Mitglied nicht zwangsläufig von der Normwirkung erfasst wird.⁹⁹ Die Verknüpfung von Tarifnormwirkung und Verbandsmitgliedschaft wird als Grundprinzip auch nicht – anders als etwa in Deutschland – mit dem Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung in Frage gestellt. In Dänemark und Schweden existiert keine Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Kollektivverträgen; in Finnland nur sehr eingeschränkt.¹⁰⁰ Staatlich verordnete Tariferstreckung ist in Skandinavien keine verbreitete Methode. Ebenfalls existieren – anders als in Deutschland – in Dänemark, Schweden und Finnland nach wie vor keine gesetzlichen Mindestlöhne.¹⁰¹ Die skandinavischen Staaten nehmen auf die Gestaltung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen so gut wie keinen Einfluss. Diese staatliche Enthaltsamkeit setzt sich insoweit fort, als dass in den skandinavischen Ländern keine mit der Tariffähigkeit vergleichbare Voraussetzung existiert. Allein an die Koalitionsfähigkeit werden geringe Anforderungen gestellt („Zwei muss man sein“).¹⁰² Damit wird den Gewerkschaften insbesondere keine „soziale Mächtigkeit“ abverlangt, um wirksam Kollektivverträge abschließen zu können. Der Staat macht den Sozialpartnern insoweit weder Konkurrenz noch schränkt er sie wesentlich bei der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ein. Die Konkurrenzlosigkeit der Sozialpartner setzt sich vor allem in Schweden auch auf der Unternehmens- und Betriebsebene fort. Die Gewerkschaften vertreten auch die lokal-betrieblichen Interessen der Arbeitnehmer. Dafür schließen sie mit dem Arbeitgeber entsprechende Kollektivvereinbarungen ab. Betriebsräte, die mit den Aufgaben der Gewerkschaften in Konkurrenz treten, existieren nicht.¹⁰³ Es handelt sich – anders als in Deutschland – um ein System der monistischen Arbeitnehmervertretung.¹⁰⁴
Rebhahn, EuZA 2010, S. 62, 67. Dazu Evju, EuZA 2010, S. 48, 54 f. BT-Drs. 17/2600, S. 329; dazu auch Kurz, Arbeitsrecht in Schweden in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, S. 1231, 1260; Leppä/Henne, Arbeitsrecht in Finnland in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, S. 289, 334; Rebhahn, RdA 2002, S. 214, 216 f.; Steinrücke/Witz, Arbeitsrecht in Dänemark in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, S. 203, 254. Dazu Rebhahn, RdA 2002, S. 214, 218. Siehe zu den Anforderungen Evju, EuZA 2010, S. 48, 50 ff.; vgl. Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 458. Evju, EuZA 2010, S. 48, 49; Kurz, Arbeitsrecht in Schweden in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, S. 1231, 1260. Vgl. Leonardi, WSI-Mitteilungen 2006, S. 79, 81.
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2. Einbindung in die Systeme der sozialen Sicherheit Für das „skandinavische Modell“ ist ferner die Einbeziehung der Sozialpartner in die Systeme der sozialen Sicherheit charakteristisch.¹⁰⁵ Dieses Merkmal des nordischen Sozialpartnerschaftsmodells ist in den skandinavischen Ländern allerdings verschiedenartig ausgeprägt. Die Sozialpartner sind in unterschiedlichem Maße in die einzelnen Zweige der Sozialversicherung (Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung) integriert. Eine besondere Rolle spielen die Gewerkschaften in Dänemark und Schweden im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. So sind sie etwa maßgeblich für die Organisation der Arbeitslosenversicherung verantwortlich. Man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Genter-System“.¹⁰⁶ Die Gewerkschaften organisieren für den Fall der Arbeitslosigkeit eine freiwillige Versicherung für Arbeitnehmer, indem sie staatlich registrierte private Arbeitslosenkassen verwalten. In Schweden existieren 36 Kassen, die nach den verschiedenen Berufszweigen gegliedert sind.¹⁰⁷ Hierin wird nicht selten die Ursache für den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad erblickt.¹⁰⁸ Dabei darf aber ein Aspekt nicht übersehen werden: Seit den 1930er Jahren sind Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaften in Dänemark und Schweden jedenfalls formalinstitutionell voneinander getrennt.¹⁰⁹ Leistungen der Arbeitslosenversicherung sind demzufolge einheitlich staatlich geregelt.¹¹⁰ Man entfernte sich damit vom historischen Genter-System, wonach allein die Begründung einer Gewerkschaftmitgliedschaft zur Arbeitslosenversicherung führte. Gleichwohl wird die Arbeitslosenversicherung gewerkschaftsnah geführt, indem die Gewerkschaften nach wie vor die Arbeitslosenkassen verwalten. Der Beitritt zur Arbeitslosenkasse ist für die Arbeitnehmer freiwillig.¹¹¹ Obwohl Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaften institutionell getrennt sind, führt die Gewerkschaftsmitgliedschaft in Dänemark und Schweden regelmäßig auch zu einer Mitgliedschaft in der einschlägigen Arbeitslosenkasse und umgekehrt.¹¹² Für nicht gewerkschaftlich or-
Dazu grundlegend Evju, EuZA 2010, S. 48 ff. Dazu: Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351 ff.; Leonardi, WSI-Mitteilungen 2006, S. 79 ff.; Seiwerth, NZA 2014, S. 708 ff.; Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 458 f.; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 357; Köhler, ZESAR 2007, S. 399, 403 ff.; vgl. Leonardi,WSIMitteilungen 2006, S. 79, 81 f.; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 709 f. Leonardi, WSI-Mitteilungen 2006, S. 79, 83; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878; differenzierend: Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 352. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 352; siehe speziell für Dänemark Köhler, ZESAR 2007, S. 67, 71. Dazu Köhler, ZESAR 2007, S. 399, 403 f. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 357. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 352, 355, 359.
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ganisierte Arbeitnehmer sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in Schweden etwa 10 – 20 % höher, obgleich die doppelte Mitgliedschaft (in der Arbeitslosenkasse und in der Gewerkschaft) insgesamt teurer sein dürfte.¹¹³
3. Beteiligung an wirtschaftspolitischen Entscheidungen Schließlich nehmen die Sozialpartner in den skandinavischen Ländern – wenn auch in unterschiedlichem Ausprägungen – in erheblichen Maße Einfluss auf den demokratischen Prozess wirtschaftspolitischer Entscheidungen.¹¹⁴ Sie sind an makroökonomischen Prozessen der Wirtschaftspolitik maßgeblich beteiligt. In den skandinavischen Ländern wird eine gleichmäßige Teilhabe der Sozialpartner an der demokratischen Beschlussfassung gewährleistet.¹¹⁵ Die sozialpartnerschaftliche Gestaltung und Durchführung ökonomischer Politiken wird sogar als „zentrale demokratische Voraussetzung“ angesehen.¹¹⁶ Die Gewerkschaften arbeiten zudem sehr eng mit den politischen Parteien zusammen. So verstand sich etwa der dänische Gewerkschaftsdachverband als sozialdemokratischer Akteur und gewährte der dänischen Sozialdemokratie jahrzehntelang eine beachtliche finanzielle Unterstützung.¹¹⁷
III. Zentrale Erkenntnisse Betrachtet man die vorstehenden Charakteristika des „nordischen Sozialpartnerschaftsmodells“, so lassen sich zwei zentrale Erkenntnisse ableiten: Zum einen werden die bisherigen Untersuchungsergebnisse bestätigt. Die skandinavischen Länder zeichnen sich durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und geringe staatliche Einflussnahme auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aus. „Stärkung der Tarifautonomie“ – vermittelt über eine gefestigte verbandsmitgliedschaftliche Grundlage – ist danach von staatlicher Zurückhaltung abhängig. Der tarifautonome Regelungsbereich der
Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 361; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710; in Dänemark war es bis in die 1960er Jahre möglich, dass die Arbeitslosenkassen, von Versicherten, die nicht gleichzeitig Mitglied in einer Gewerkschaft waren, einen um 40 % höheren Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung abzuverlangen. Dies wurde im Zuge einer Reform der Arbeitslosenversicherung 1969 abgeschafft. Siehe dazu Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 358. Evju, EuZA 2010, S. 48, 49 f. Evju, EuZA 2010, S. 48. Evju, EuZA 2010, S. 48. Hierzu ausführlich Leonardi, WSI-Mitteilungen 2006, S. 79, 81 f.
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Sozialpartner muss gegenüber staatlicher Normsetzung abgesichert werden. Die Verbandsmitgliedschaft muss tarifpolitische Bedeutung haben. Einen Bedeutungsverlust erfährt sie jedenfalls durch staatliche Regelungen auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sowie im Wege einer weitergehenden Erstreckung tarifvertraglicher Normen qua Allgemeinverbindlicherklärung. Zum anderen bedarf es Anreize, eine Verbandsmitgliedschaft zu begründen. Im Hinblick auf solche Wirkungen erscheint die für das „nordische Sozialpartnerschaftsmodell“ charakteristische Verflechtung der Gewerkschaften mit den Systemen der sozialen Sicherheit vielversprechend. So könnte man etwa daran denken, auch in Deutschland eine Verknüpfung der Gewerkschaften mit der Arbeitslosenversicherung herzustellen. Überträgt man jedoch das derzeitige Konzept in Dänemark und Schweden maßstabsgetreu, dürften nennenswerte Auswirkungen auf den gewerkschaftlichen Organisationsgrad womöglich ausbleiben. Ein echter Anreiz zur Gewerkschaftsmitgliedschaft besteht insofern nicht, als dass eine Arbeitslosenversicherung auch ohne Mitgliedschaft, durch Beitritt zu einer Arbeitslosenkasse erreicht werden kann. Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaften sind in Dänemark und Schweden mittlerweile institutionell getrennt.¹¹⁸ Clasen und Viebrock haben in diesem Zusammenhang überzeugend herausgestellt, dass der – auch über die institutionelle Trennung von Gewerkschaften und Arbeitslosenversicherung in den 1930er Jahren hinausgehende – anhaltend stabile gewerkschaftliche Organisationsgrad auf eine gewachsene Gesellschaftstradition zurückzuführen ist.¹¹⁹ Demgegenüber dürfte vor allem aber das historische¹²⁰ Genter-System, mit einer „strengen“ Verknüpfung von Gewerkschaftsmitgliedschaft und Arbeitslosenversicherung, positive Wirkungen auf den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zeitigen.¹²¹
IV. Das Genter-System als Möglichkeit zur Stärkung der Tarifautonomie? Das Genter-System kann insoweit als Inspirationsgrundlage für neue Ansätze zur Stärkung der Tarifautonomie dienen. Die Verknüpfung von Gewerkschaftsmitgliedschaft und Arbeitslosenversicherung setzt Beitrittsanreize in einer Weise, die
Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 352. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 363 ff.; so auch Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878; dazu näher Kapitel 5, § 15.IV.2.b). Dazu Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 709; Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 459; Waltermann, RdA 2014, 86, 92; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878; s.u. Kapitel 5 § 15.IV.1. So auch Seiwerth, EuZA 2014, S. 450, 459; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710 f.; Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878.
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sich deutlich von den bislang erörterten Konzepten unterscheidet. Auch die Monopolkommission der Bundesregierung hat dieses Konzept in ihrem 18. Hauptgutachten 2010 in den Blick genommen: „Empirisch bestätigt sich, dass die drei nordischen Länder mit klassischen Genter Strukturen der Arbeitslosenversicherung sehr hohe Gewerkschaftsdichten aufweisen und sich dem internationalen Trend einer kontinuierlich abschwächenden gewerkschaftlichen Präsenz widersetzen konnten. So wirkt insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit die Kopplung der Arbeitslosenversicherung an eine Gewerkschaftsmitgliedschaft positiv auf die Mitgliederzahl der Gewerkschaften, welche ansonsten unter diesen Umständen schwächer werden würden.“¹²² Ferner stellt die Monopolkommission fest: „So bewirkt beispielsweise das noch in Schweden, Finnland und Dänemark vorkommende Genter System, bei dem die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung verwalten, eine hohe Tarifbindung und einen vergleichsweise hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von jeweils über 70 Prozent.“¹²³ Obwohl die Monopolkommission im Ergebnis – wohl aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken (vor allem negative Koalitionsfreiheit und Sozialstaatsprinzip)¹²⁴ – vom Genter-System Abstand genommen hat, soll seine Implementierung in die deutsche Arbeits- und Sozialrechtsordnung im Folgenden erwogen werden. Das Gutachten erweckt nämlich den Eindruck, als habe die Monopolkommission ausschließlich das „historische“ Genter-System betrachtet, nach dem die Arbeitslosenversicherung streng mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft verknüpft ist, ohne zu erkennen, dass diese Variante nicht (mehr) der derzeitigen Rechtslage in den skandinavischen Ländern entspricht. Schließlich sind verschiedene Spielarten des Genter-Systems denkbar, die je nach Ausgestaltung gegenläufige Verfassungswerte mit unterschiedlicher Intenstität beeinträchtigen. Drei Umsetzungsvarianten werden im Folgenden vorgestellt und unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten evaluiert:
1. Das „historische“ Genter-System Die erste Umsetzungsvariante knüpft an die Konzeption des „historischen“ Genter-Systems an.¹²⁵ Der Begriff „Genter-System“ geht auf entsprechende Strukturen der belgischen Industriestadt Gent zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit Arbeitslosigkeit zurück. Charakteristisch war die Verbindung der gewerkschaft-
BT-Drs. 17/2600, S. 330. BT-Drs. 17/2600, S. 41, 338. Die folgende Darstellung orientiert sich an der Aufbereitung von Seiwerth, NZA 2014, 708, 711 f. Siehe dazu grundlegend aus historischer Perspektive Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 75 ff.
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lich organisierten Unterstützungskassen¹²⁶ mit einem kommunalen Zuschuss¹²⁷, der im Rahmen einer festgeschriebenen Höchstunterstützungsdauer an arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder ausgezahlt wurde. Dieser variierte in einer Größenordnung von 50 – 75 % der gewerkschaftlichen Leistungen aus der Unterstützungskasse im Versicherungsfall der Arbeitslosigkeit.¹²⁸ Die Organisation und Verwaltung dieser hybriden Form der Arbeitslosenversicherung blieb allerdings stets in den Händen der Gewerkschaften. Danach kam man nur dann in den Genuss des kommunalen Zuschusses und etwaiger Zahlungen aus der Unterstützungskasse, wenn man Mitglied der – mit der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung betrauten – Gewerkschaft war. Allerdings gingen die kommunalen Zuschüsse nicht etwa zunächst in die gewerkschaftlichen Unterstützungskassen, sondern unmittelbar an diejenigen arbeitslosen Arbeitnehmer, die eine entsprechende Gewerkschaftszugehörigkeit nachweisen konnten.¹²⁹ Damit sah das historische Genter-System eine strenge Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft vor. Dass damit ganz gezielt auch verbandspolitische Interessen seitens der Gewerkschaften verfolgt wurden, ist offenkundig.¹³⁰ Das Genter-System erfreute sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit in Europa. Wenn auch nur lokal begrenzt, so nahmen sich zahlreiche europäische Städte die Arbeitslosenversicheurng in der Stadt Gent zum Vorbild und führten differenzierende Zuschusssysteme auf kommunaler Ebene eine (etwa Straßburg, Stuttgart, Freiburg sowie in skandinavischen Städten).¹³¹ Will man eine strenge Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft in die deutsche Arbeits- und Sozialrechtsordnung nach dem Vorbild des historischen Genter-Systems implementieren, stellt sich sowohl die Frage nach der gesetzgebungstechnischen Umsetzung als auch nach der Verfassungsmäßigkeit eines solchen Konzepts:
Dazu m.w.N. Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 134 ff. Dazu m.w.N. Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 139 ff. Dazu vor allem Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 77; vgl. Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 142 ff. Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 77; vgl. Bauer, Arbeiterschutz und Völkergemeinschaft, S. 45 f. Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 79; sich dieser Einschätzung anschließend: Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 134, 145 f.; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 709; vgl. Waltermann, NZA 2014, S. 874, 878. M.w.N. Bauer, Arbeiterschutz und Völkergemeinschaft, S. 45; Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 143 f.; Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 75 ff.
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a) Hinweise zur gesetzgebungstechnischen Implementierung Die gesetzgebungstechnische Implementierung des Genter-Systems stellt die Rechtspraxis in jedem Fall vor eine große Herausforderung. Indem die Gewerkschaften institutionell mit den Systemen der sozialen Sicherheit (namentlich der Arbeitslosenversicherung) verwoben werden, wird ein Systemwechsel forciert. Eine solche Verwebung ist der deutschen Sozialrechtsordnung bislang fremd.¹³² Allein der Staat organisiert mithilfe verschiedener Körperschaften des öffentlichen Rechts die Sozialversicherungssysteme. Das macht die rechtstechnische Integration der Gewerkschaften in das SGB zu einem schwierigen Unterfangen. Gleichwohl sollen an dieser Stelle einige Hinweise zur gesetzgebungstheoretischen Umsetzung des (historischen) Genter-Systems gegeben werden: Anknüpfungspunkt für eine Implementierung des Genter-Systems ist die Arbeitslosenversicherung im SGB III. Insoweit bleibt – vor allem auch mit Blick auf die aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) i.V.m. der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung eines Existenzminimums¹³³ – der Anspruch auf Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff. SGB II) unangetastet. Es geht folglich allein darum, den im SGB III geregelten Anspruch auf Arbeitslosengeld I mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu verknüpfen. Dabei müsste in einem ersten Schritt hervorgehoben werden, dass es die Aufgabe der Gewerkschaften ist, für ihre Mitglieder eine Arbeitslosenversicherung zu organisieren. Dabei würde es sich anbieten, dass die Gewerkschaften wie in den skandinavischen Ländern Arbeitslosenkassen einrichten.¹³⁴ Der Staat muss für diesen Fall aber die ihm nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugeschriebene Aufgabe der Organisation einer Arbeitslosenversicherung an die Gewerkschaften delegieren. Damit diese Delegation zulässigerweise erfolgt, bedarf es eines die Gewerkschaften im Bereich der Organisation der Arbeitslosenversicherung ermächtigenden formellen Gesetzes. In einem zweiten Schritt müsste sodann die in den §§ 24 Abs. 1, 25 Abs. 1 SGB I verankerte Versicherungspflicht für Beschäftigte aufgebrochen werden. Man müsste die Rahmenbedingungen für ein System der freiwilligen Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung schaffen und die personelle Anspruchsberechtigung mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft verknüpfen. Anders als andere Sozialversicherungssäulen (vgl. etwa § 9 SGB V für die gesetzliche Krankenversicherung und § 7 SGB VI für die gesetzliche Rentenversicherung) kennt das Recht der Arbeitsförderung bislang im Wesentlichen nur das Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710. BVerfG, 23.07. 2014 (1 BvL 10/12 u. a.), NJW 2014, S. 3424; BVerfG, 09.02. 2010 (1 BvL 1/09 u. a.), NJW 2010, S. 505, 507 Rn. 132 ff. Siehe für Schweden: Köhler, ZESAR 2007, S. 399, 403 ff.; für Dänemark: Köhler, ZESAR 2007, S. 67, 71 ff.
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Pflichtversicherungsverhältnis (vgl. §§ 24 SGB III ff.).¹³⁵ Mit einem derartigen System der Arbeitslosenversicherung, das ausschließlich auf den Beiträgen derer beruht, die eine (freiwillige) Gewerkschaftsmitgliedschaft begründet haben, können allerdings erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten einhergehen. Daher bedarf es eines flankierend geregelten staatlichen Finanzierungszuschusses aus den Bundesmitteln. Verglichen mit dem historischen Genter-System fungiert dieses Element insofern als Äquivalent zu den kommunalen Zuschüssen, die seinerzeit die Stadt Gent den arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern gewährt hat. Für andere Bereiche der sozialen Versicherung ist diese zweite Säule der Finanzierung bereits etabliert, sodass man auf entsprechende Regelungsvorbilder zurückgreifen könnte. So finanziert sich etwa die gesetzliche Krankenversicherung seit dem in Kraft treten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) vom 14. November 2003¹³⁶ auch über einen steuerfinanzierten Zuschuss aus den Mitteln des Bundeshaushalts (§ 221 SGB V).
b) Verfassungsmäßigkeit Neben den skizzierten Schwierigkeiten einer gesetzgebungstechnischen Implementierung des Genter-Systems, ruft die strenge Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft auch verfassungsrechtliche Fragen auf den Plan. Allen voran das Sozialstaatsprinzip, die negative Koalitionsfreiheit sowie der allgemeine Gleichheitssatz sind als gegenläufige Verfassungswerte zu berücksichtigen.
aa) Sozialstaatsprinzip Was zunächst die in Art. 20 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Verfassungsprinzipien anbelangt, könnte man gegen das Genter-System zumindest das Sozialstaatsprinzip in Stellung bringen. So ließe sich argumentieren, dass es gegen das Sozialstaatsprinzip verstößt, wenn man den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern mit dem Genter-System den Weg in die Arbeitslosenversicherung versperrt. Das Arbeitsverhältnis ist im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts¹³⁷ derart in den Lebensmittelpunkt der Menschen gerückt, dass
Waltermann, SozialR, § 12 Rn. 442. BGBl. I, S. 2190. Adler, Der internationale Schutz der Arbeiter, in: Annalen des Deutschen Reiches, S. 465, 466 ff.; Brinkmann, Der Anfang des internationalen Arbeitsrechts: Die Berliner Internationale Arbeiterschutzkonferenz von 1890 als Vorläufer der Internationalen Arbeitsorganisation, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 13 f.
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sein Entfallen regelmäßig eine Bedrohung existenzieller Art darstellt. In diesem Zusammenhang ist die auf das Risiko der Arbeitslosigkeit gerichtete Versicherung ein zentraler Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft¹³⁸. Die Arbeitslosenversicherung ist historisch gewachsen¹³⁹ und im SGB III geregelt. Gleichzeitig ist die verfassungsrechtliche Reichweite des Sozialstaatsprinzips – anders als etwa die des Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzips – nicht näher konkretisiert und ausgestaltet.¹⁴⁰ Es fehlt an klaren Konturen.¹⁴¹ Insofern fungiert das Sozialstaatsprinzip („lediglich“)¹⁴² als Staatszielbestimmung,¹⁴³ wonach der Staat einen auf die Verwirklichung der sozialen Idee gerichteten verfassungsrechtlichen Handlungsauftrag erhält. Hierbei steht dem Gesetzgeber aber ein erheblicher politischer Gestaltungsspielraum zu.¹⁴⁴ Ein unmittelbarer Rechtsanspruch auf die Gewährung sozialer Leistungen in einem bestimmten Umfang folgt aus dem Sozialstaatsprinzip angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig nicht.¹⁴⁵ Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für eine menschenwürdige Lebensführung schafft. So hat das BVerfG aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) i.V.m. der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) einen Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums abgeleitet.¹⁴⁶ Legt man diese Maßstäbe zugrunde, steht das Sozialstaatsprinzip dem vorgestellten Konzept des (historischen) Genter-Systems nicht entgegen. Danach hat es jeder Arbeitnehmer selbst in der Hand, über eine Gewerkschaftsmitgliedschaft eine Arbeitslosenversicherung zu begründen. Ein etwa an persönliche Eigenschaften anknüpfender – vom Einzelnen nicht beeinflussbarer – Ausschluss findet gerade nicht statt. Darüber hinaus soll das vorgestellte GenterSystem den Bereich des Arbeitslosengeldes II nicht tangieren. Es geht allein um eine alternative Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes I oberhalb des gewähr-
Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, passim; vgl. auch Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, S. 243. Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, S. 131 ff.; Kumpmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung, S. 69 ff. Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 VIII Rn. 2, 18. Baer, NZS 2014, S. 1. BVerfG, 19.12.1951 (1 BvR 220/51), NJW 1952, S. 297, 298; Baer, NZS 2014, S. 1, 3 ff.; vgl. auch BeckOK GG/Huster/Rux, GG, Art. 20 Rn. 209. Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 VIII Rn. 18; BeckOK GG/Huster/Rux, GG, Art. 20 Rn. 209. Ständige Rechtsprechung: BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvR 2491/94 u. a.), BeckRS 2001, 30172573; BVerfG, 29.05.1990 (1 BvL 20/86 u. a.), BVerfGE 82, S. 60, 80 f.; BVerfG, 14.10.1970 (1 BvR 307/68), NJW 1971, S. 365, 366. BVerfG, 29.05.1990 (1 BvL 20/86 u. a.), BVerfGE 82, S. 60, 80. BVerfG, 23.07. 2014 (1 BvL 10/12 u. a.), NJW 2014, S. 3424; BVerfG, 09.02. 2010 (1 BvL 1/09 u. a.), NJW 2010, S. 505, 507 Rn. 132 ff.
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leisteten Existenzminimums. Im Bereich des Arbeitslosengeldes II sind dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des BVerfG ohnehin enge verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.¹⁴⁷ Danach ist es die Aufgabe des Staates, für ein existenzielles Minimum zu sorgen.¹⁴⁸ Die im Bereich des Arbeitslosengeldes I erfolgende Ausgestaltung fällt hingegen in den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Demnach steht das Sozialstaatsprinzip der Implementiertung des Genter-Systems nicht grundsätzlich entgegen.
bb) Allgemeiner Gleichheitssatz Fokussiert man ferner auf konfligierende Grundrechtspositionen, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten allgemeinen Gleichheitssatz. Indem das Genter-System die Arbeitslosenversicherung mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft verknüpft, werden gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte gegenüber gewerkschaftlich nicht organisierten ungleich behandelt.¹⁴⁹ Die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung hängt in aller erster Linie davon ab, ob als Prüfungsmaßstab lediglich eine Willkür- bzw. Evidenzkontrolle¹⁵⁰ vorzunehmen ist oder ob die sogenannte „neue Formel“¹⁵¹ maßgeblich ist. Der intensivere Kontrollmaßstab der „neuen Formel“ findet nach der Rechtsprechung des BVerfG vornehmlich bei solchen Ungleichbehandlungen Anwendung, die an ein personenbezogenes Merkmal des Benachteiligten anknüpfen.¹⁵² Charakteristisch ist hierfür, dass der Benachteiligte den begünstigenden Tatbestand nicht durch eigenes Verhalten erfüllen kann. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die mit dem Genter-System verbundene Ungleichbehandlung, so spricht vieles dafür, den weniger strengen Maßstab des Willkürverbots anzulegen.¹⁵³ Schließlich kann der diskriminierte Beschäftigte ganz einfach den begünstigenden Tatbestand erfüllen. Er muss „lediglich“ eine Gewerkschaftsmitgliedschaft be-
BVerfG, 09.02. 2010 (1 BvL 1/09 u. a.), NJW 2010, S. 505, 507 Rn. 132. BVerfG, 29.05.1990 (1 BvL 20//86 u. a.), BVerfGE 82, S. 60, 80. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711. BVerfG, 05.10.1993 (1 BvL 34/81), NJW 1994, S. 1465, 1466; BVerfG, 19.10.1982 (1 BvL 39/80), NJW 1983, S. 621 f.; BVerfG, 23.10.1951 (2 BVG 1/51), NJW 1951, S. 877, 878 f. Nach der „neuen Formel“ ist der allgemeine Gleichheitssatz dann verletzt, „wenn der Gesetzgeber eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obgleich zwischen den beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen“, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten: BVerfG, 29.11. 1989 (1 BvR 1402/87), NJW 1990, 2053, 2054; BVerfG, 07.10.1980 (1 BvL 50, 89/79), NJW 1981, S. 271 f. Siehe etwa BVerfG, 02.12. 2003 (1 BvR 1748/99 u. a.), BVerfGE 110, S. 274, 293. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711.
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gründen. Eine an persönliche Merkmale des Benachteiligten anknüpfende Ungleichbehandlung ist im Zusammenhang mit dem Genter-System, wonach das Differenzierungskriterium die Gewerkschaftsmitgliedschaft darstellt, nicht erkennbar. Vielmehr handelt es sich um eine verhaltensbezogene Ungleichbehandlung, für die nach der Rechtsprechung des BVerfG der Maßstab der Willkürformel zugrunde zu legen ist.¹⁵⁴ Danach ist der allgemeine Gleichheitssatz nur dann verletzt, „wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt.“¹⁵⁵ Die mit dem Genter-System vorgenommene Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit darf nicht evident sachwidrig sein. Als sachlicher Grund fungiert die mit der Implementierung des Genter-Sytems bezweckte Förderung der Mitgliedschaft in Gewerkschaften. Dass die Gewerkschaften über eine hinreichende mitgliedschaftliche Basis verfügen, ist Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie¹⁵⁶ und in ihrer Ausprägung als Institutsgarantie auch mit Verfassungsrang ausgestattet.¹⁵⁷ Demnach dient das Genter-System mit der Förderung der Mitgliedschaft in Gewerkschaften einem legtimen Differenzierungsziel¹⁵⁸. Gestützt auf diese Erwägungen ließe sich die Ungleichbehandlung zulasten nicht gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter womöglich rechtfertigen.¹⁵⁹
cc) Negative Koalitionsfreiheit Darüber hinaus muss die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte negative Koalitionsfreiheit als gegenläufige Wertung zum Genter-System bedacht werden.¹⁶⁰ Zieht man den bereits im Zusammenhang mit Differenzierungsregelungen eingeführten Gedan-
Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711. Siehe vor allem BVerfG, 21.11. 2000 (1 BvR 2307/94 u. a.), BVerfGE 102, S. 254, 302; vgl. auch BVerfG, 27.02. 2007 (1 BvR 1982/01), BVerfGE 117, S. 302, 311. Siehe dazu Kapitel 3, § 8.I. Siehe dazu Kapitel 5, § 14.IV.2.b). Vgl. zu den vergleichweise geringen Anforderungen an mögliche Differenzierungsziele auch ErfK/Schmidt, GG, Art. 3 Rn. 35 ff. Vgl. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 712. Allerdings hat bspw. Schweden, indem das Genter-System (wenn auch nicht mehr in der historischen Variante) praktiziert wird, eine andere Verfassungstradition. Die schwedische Verfassung besteht aus mehreren Grundgesetzen, den sog. „Grundlagar“. Primär sollen sie die Spielregeln für das politische Leben aufstellen. Eine unmittelbar wirksame Rechtsquelle für das Arbeitsrecht ist sie dagegen nicht. Insofern existiert eine mit dem deutschen Recht vergleichbare verfassungsrechtliche Hürde der negativen Koalitionsfreiheit nicht. Siehe dazu m.w.N. Köhler, ZESAR 2007, S. 399.
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ken vom Nachteilsausgleich heran,¹⁶¹ so liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit dann vor, wenn die vorenthaltene Leistung zumindest den durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrag übersteigt.¹⁶² Indem gewerkschaftliche organisierte Arbeitnehmer nach dem historischen Genter-System von der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen werden, avanciert die Arbeitslosenversicherung zu einem exklusiven Gut. Die Grenze des bloßen Nachteilsausgleichs ist deutlich überschritten. Schließlich handelt es sich bei der Arbeitslosenversicherung um einen zentralen Eckpfeiler des Sozialversicherungssystems. Sie fungiert als marktwirtschaftliches Korrektiv und sichert die Aufrechterhaltung des Lebensstandards der Arbeitnehmer auch im Falle einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit. Ein Arbeitnehmer wird das Risiko nicht eingehen wollen, im Falle von Arbeitslosigkeit keine finanzielle Unterstützung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund erzeugt die Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft einen massiven Beitrittsdruck auf nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer. Das Genter-System begründet zweifellos einen Eingriff in die negative Koalitionsfreihei nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer.¹⁶³ Die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit hängt somit entscheidend davon ab, ob die mit dem Genter-System beabsichtigte „Stärkung der Tarifautonomie“ den Eingriff zu rechtfertigen vermag.¹⁶⁴ Dabei konnte bereits festgestellt werden, dass die Tarifautonomie auch in ihrer Dimension als Institutsgarantie – als verfassungsrechtlich legitimer Zweck – grundsätzlich in Betracht kommt.¹⁶⁵ Maßgeblich ist schließlich die Frage der Angemessenheit¹⁶⁶: Ist das historische Genter-System demnach so ausgestaltet, dass es Beschränkungen enthält, in denen die negative Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ihre Berücksichtigung findet? Während etwa die Differenzierungsklausel auf einen Tarifbonus in einer bestimmten Höhe beschränkt ist und dadurch der Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit zumindest quantitative Grenzen gesetzt sind, stellt das Genter-System den Arbeitnehmer vor die alles entscheidende Wahl: Gewerkschaftsmitgliedschaft und Arbeitslosenversi-
Dazu bereits Kapitel 4, § 11.I.4.a) cc) und Kapitel 5, § 14.IV.1. Vgl. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711. Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 710. So ebenfalls folgernd Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711. Dazu bereits Kapitel 5, § 14.IV.2.b). Das Genter-System ist zur Stärkung der Tarifautonomie auch geeignet und erforderlich, indem starke Anreize zur Begründung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft gesetzt werden. Dabei wird dem Gesetzgeber ohnehin eine – der richterlichen Kontrolle entzogene – weitreichende Einschätzungsprärogative zugestanden: BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 779; BVerfG, 06.10.1987 (1 BvR 1086/82 u. a.), NJW 1988, S. 1195.
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cherung oder negative Koalitionsfreiheit und Risiko der Arbeitslosigkeit. Damit enthält das historische Genter-System keinerlei Selbstbeschränkung, nach der die negative Koalitionsfreiheit zumindest in Ansätzen Berücksichtigung findet. Ganz im Gegenteil wird die Freiheitsentfaltung durch das bewusste Fernbleiben einer Koalition geradezu stigmatisiert und mit dem Entzug bzw. der Vorenthaltung der Arbeitslosenversicherung „bestraft“. Hierdurch entsteht ein massiver Druck auf Arbeitnehmer, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, welche zentrale Bedeutung der Arbeitslosenversicherung im System der sozialen Markwirtschaft beigemessen wird. Mit dem Genter-System entsteht ein faktischer Zwang zum Gewerkschaftsbeitritt, der die negative Koalitionsfreiheit als Freiheitsgrundrecht nahezu ausschaltet. Sie würde zu einem bloßen nudum ius verkommen. Demzufolge lässt sich das historische GenterSystem in seiner historischen Konzeption nicht mit der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten negativen Koalitionsfreiheit vereinbaren.
c) Rechtspolitische Kritik An die mit dem historischen Genter-System verbundene Entwertung der negativen Koalitionsfreiheit schließt sich auch eine rechtspolitische Kritik an. Innerhalb der Konzeption des Tarifvertagssystems stellt es einen Fremdkörper dar. Es steht in vergleichbarerweise im Widerspruch zum Rechtsgedanken von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie wie staatlich verordneter Tarifersatz. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, ob Tarifverträge auf nicht organisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber erstreckt werden oder ob ein faktischer Zwang zum Gewerkschaftsbeitritt über das historische Genter-System erzeugt wird. Jeweils fehlt es an einem hinreichend freiheitlichen Entschluss des Einzelnen. Die auf dem Prinzip der freien Mitgliedschaft aufbauende Tarifautonomie wird entwertet.¹⁶⁷
d) Ergebnis Im Ergebnis wird die Implementierung des historischen Genter-Systems mit einer strengen Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht empfohlen. Es steht im fundamentalen Widerspruch zur freiheitlichen Komponente der Tarifautonomie. Überdies bestehen im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit gewerkschaftlich nicht organisierter Arbeitnehmer erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.
Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 12.
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2. Spielarten des Genter-Systems Daher ist darüber nachzudenken, inwiefern man das Konzept des historischen Genter-Systems so modifizieren kann, dass gegenläufige verfassungsrechtliche Wertungen hinreichend Berücksichtigung finden. In verfassungsrechtlicher Hinsicht war mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit vor allem die „strenge“ Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft problematisch. Etwaige Bestrebungen zur modifizierten Implementierung des Genter-Systems müssen hieran anknüpfen. Im Folgenden werden zwei Spielarten des Genter-Systems betrachtet, die jeweils auf eine strenge Verknüpfung von Arbeitslosenversicherung und Gewerkschaftsmitgliedschaft verzichten.¹⁶⁸
a) Spielart 1: Differenzierung hinsichtlich der Beitragshöhe Das Genter-System ließe sich konzeptionell so ausgestalten, dass auch die Nichtorganisierten eine Arbeitslosenversicherung begründen können. Eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ist nach dieser Spielart keine zwingende Voraussetzung. Allerdings differenziert diese Spielart nach der Gewerkschaftszugehörigkeit hinsichtlich der Beitragshöhe: Nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte sollen einen höheren Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung zahlen als Gewerkschaftsmitglieder.¹⁶⁹ Die zusätzliche Beitragslast für nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte kann variieren, sollte aber die Höhe des durchschnittlichen monatlichen Gewerkschaftsbeitrags nicht überschreiten. Zwar büßt diese Spielart gegenüber dem historischen Genter-System voraussichtlich an Effektivität ein. Die Anreize zur Begründung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft sind voraussichtlich abgeschwächt, wenn die Arbeitslosenversicherung nicht streng an die Gewerkschaftsmitgliedschaft geknüpft ist. Allerdings beeinträchtigt diese Spielart des Genter-Systems gegenläufige verfassungsrechtliche Wertungen mit deutlich abgesenkter Intensität. Je geringer die Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt sind, desto eher ist eine differenzierende Regelung verfassungskonform. Im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gelten die Ausführungen zum historischen Genter-System für diese Spielart analog. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen in dieser Hinsicht (erst recht) nicht. Fokussiert man auf die Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten, bietet es Dass die Gewerkschaften mit der Organisation und Verwaltung der Arbeitslosenversicherung betraut sind, wird in beiden Spielarten beibehalten. So ist das Genter-System derzeit etwa in Schweden und Dänemark ausgestaltet. Siehe dazu bereits Kapitel 5, § 15.II.2.; Köhler, ZESAR 2007, S. 399, 403 f.; Köhler, ZESAR 2007, S. 67, 71 ff.; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 709 f.
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sich (erneut) an, die zu Differenzierungsregelungen vorgestellte Dogmatik zu übertragen.¹⁷⁰ Danach betritt eine differenzierende Regelung die Schwelle zum rechtfertigungsbedürftigen Druck erst dann, wenn Anreize gesetzt werden, die den durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrag übersteigen.¹⁷¹ Die vorgeschlagene Spielart des Genter-Systems begünstigt gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte bei der Beitragszahlung bis zur Höhe des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags. Damit wird zur Berücksichtigung der negativen Koalitionsfreiheit eine quantitative Grenze gezogen, die ihren Ausdruck im Rechtsgedanken des Nachteilsausgleichs¹⁷² findet. So würde es sich etwa anbieten, das Genter-System so auszugestalten, dass nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte für die Arbeitslosenversicherung einen Beitrag zahlen, der den Beitrag für Gewerkschaftsmitglieder um die Hälfte des durchschnittlichen monatlichen Gewerkschaftsbeitrags übersteigt. Unterhalb des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags ist die Grenze des Nachteilsausgleichs noch nicht überschritten. Dabei handelt es sich lediglich um einen nicht rechtfertigungsbedürftigen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt, der einen Eingriff in den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit nicht zu begründen vermag. Diese Spielart des Genter-Systems vereinigt damit das Setzen gewisser Beitrittsanreize mit einer hinreichenden Berücksichtigung gegenläufiger verfassungsrechtlicher Wertungen. Allerdings korrelliert die Intensität, mit der eine Maßnahme die negative Koalitionsfreiheit beeinträchtigt, mit der Effektivität der Erreichung des rechtspolitischen Ziels: Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt. Je weniger intensiv die negative Koalitionsfreiheit beeinträchtigt wird, desto eher werden Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt vermindert. Für diese Spielart ist vor diesem Hintergrund ein zusätzlicher Erklärungsversuch notwendig, weshalb sie gleichwohl einen Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie leisten kann. Ihre Effektivität bedarf einer (rechts‐)soziologischen Fundierung, die eine Antwort auf die folgende Frage gibt: Warum soll diese – vor allem in Schweden praktizierte¹⁷³ – Spielart, nach der eine Arbeitslosenversicherung auch ohne Gewerkschaftsbeitritt begründet werden kann, im Ergebnis dennoch dazu führen, dass Arbeitnehmer sich wieder vermehrt gewerkschafltich organisieren? In mehreren Untersuchungen konnte bereits nachgewiesen werden, dass die institutionelle Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung Einfluss auf den Organisationsgrad der Gewerkschaften
Dazu bereits Kapitel 4, § 11.I.4.a) cc) und Kapitel 5, § 14.IV.1. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, S. 154 ff.; Seiwerth, NZA 2014, S. 708, 711; Waltermann, HSI-Schrift, Bd. 15, S. 46. Greiner, FS Willemsen, S. 159, 160 f.; Greiner, ZTR 2018, S. 628 f. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 361.
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nimmt.¹⁷⁴ Unter Zuhilfenahme quantitativer Methoden konnte gezeigt werden, dass diejenigen Länder einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweisen, in denen die Arbeitslosenversicherung nicht nach dem Genter-System ausgestaltet ist und daher das Prinzip freiwilliger Mitgliedschaft dominiert.¹⁷⁵ Diejenigen Länder, in denen die Arbeitslosenversicherung mit einer Versicherungspflicht verknüpft ist, schnitten im Vergleich schlechter ab. Diese Ergebnisse lassen sich überzeugend mit Olsons Theorie selektiver Anreize¹⁷⁶ in Einklang bringen. Die Grundlage für seine Argumentation bildet das sog. „Trittbrettfahrerproblem“, welches beschreibt, dass es für einen rational handelnden Arbeitnehmer vorteilhafter sein kann, wenn das Kollektivgut (also der Tarifvertrag) bereitgestellt wird, ohne sich an den dafür notwendigen Leistungen (Streikteilnahme, Mitgliedschaft bzw. Beitragszahlung) selbst zu beteiligen.¹⁷⁷ Sowohl das Ausschlussprinzip¹⁷⁸ als auch die Rivalität im Konsum¹⁷⁹ finden beim Tarifvertrag als kollektives (öffentliches) Gut keine Anwendung.¹⁸⁰ Aufgrund einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme gelten Tarifverträge regelmäßig auch ohne mitgliedschaftliche Legitimation (und damit auch ohne Entrichtung eines Mitgliedschaftsbeitrags). In dieser Konstellation besteht ein Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität.¹⁸¹ Dabei geht Olson davon aus, dass die Arbeitnehmer als relativ große „Gruppe“ besondere Schwierigkeiten haben, sich zu organisieren.¹⁸² Je größer die vom Kollektivgut profitierende Gruppe, desto geringer sind nämlich die Auswirkungen, wenn sich ein Individuum nicht in die Unternehmungen der Organisation einbringt. Diesem Dilemma kann aber mit
Ebbinghaus/Visser, European Sociological Review 1999, S. 135 ff.; vgl. Leonardi, WSI-Mitteilungen 2006, S. 79 ff.; Neumann/Pedersen/Westergard-Nielsen, European Journal of Political Economy 1991, S. 249 ff.; Western, American Sociological Review 1993, S. 266 ff. Siehe vor allem Western, American Sociological Review 1993, S. 266 ff. und Western, Between Class and Markets. Postwar Unionization in the Capitalist Democracies; vgl. auch Scruggs, Political Research Quarterly 2002, S. 275, 297. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 49, 59 ff., 75 f. Treffend beschrieben von Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 114; siehe auch Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 14 ff., 52 ff. D. h. die Inanspruchnahme des Kollektivguts ist jedermann möglich. D. h. der Konsumtion des Kollektivguts sind keine Grenzen natürlicher Art gesetzt. Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 113. Vgl. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 85; vgl auch Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 116. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 26 ff., 75 ff.; dazu auch Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 116 ff.
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selektiven¹⁸³ Anreizen begegnet werden, indem die Gewerkschaft weitere, zusätzliche Kollektivgüter anbietet, für die das Ausschlussprinzip gilt.¹⁸⁴ Diese „nebensächlichen“ Güter sind dann den organisierten Mitgliedern vorbehalten. Damit kann die Kosten-Nutzen-Kalkulation der Arbeitnehmer entscheidend beeinflusst werden. Als ein solches nebensächliches Kollektivgut fungiert in diesem Zusammenhang die Organisation und Verwaltung der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkschaften. Der selektive Anreiz kann in der erhöhten Beitragszahlung für nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftitgte erblickt werden. Das Ausschlussprinzip greift dann insoweit, als dass nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte sich weigern, eine mitgliedschaftsäquivalente Zahlung zu entrichten. Dann sind sie nicht arbeitslosenversichert. Das „Trittbrettfahrerproblem“¹⁸⁵ kollektiver Gruppen, die allgemein zugängliche Güter anbieten, kann auf diese Weise überwunden werden.¹⁸⁶ Diese Argumentation streitet damit in rechtspolitischer Hinsicht für die Effektivität jeder Form der Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit (insoweit auch für die vorgeschlagene gesetzliche Spannenklausel).
b) Spielart 2: Ohne Differenzierung hinsichtlich der Beitragshöhe Schließlich kann das Genter-System auch so ausgestaltet werden, dass sowohl organisierte als auch nicht organisierte Beschäftigte eine Arbeitslosenversicherung begründen können, ohne dass eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit im Hinblick auf die Beitragshöhe erfolgt. Charakteristisch bleibt,¹⁸⁷ dass diese Spielart eine freiwillige Arbeitslosenversicherung vorsieht, deren Organisation und Verwaltung durch die Gewerkschaften erfolgt, etwa indem sie nach skandinavischem Vorbild Arbeitslosenkassen bilden und die Modalitäten hierfür selbstständig regeln. Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip, den allgemeinen Gleichheitssatz und die negative Koalitionsfreiheit bestehen nicht. Diese Spielart enthält keinerlei öko-
„Selektiv“ nennt Olson diese Anreize, da ganz gezielt zwischen Beitragenden und NichtBeitragenden unterschieden wird. Dazu Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 122. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 59 ff., 75 f. Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 147; vgl. Greiner, NZA 2016, S. 10; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 2113; Seiwerth, RdA 2014, S. 358, 360; dazu aus soziologischer Perspektive Zimmer, Gewerkschaften und die Trittbrettfahrer-Problematik, S. 35 ff. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 354; vgl. Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, S. 74 ff. In Übereinstimmung mit dem historischen Genter-System und der vorgestellten „Spielart 1“.
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nomische Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt. Von einem eingriffsgleichen Druck auf Arbeitnehmer, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, kann keine Rede sein. Aber ist diese Ausgestaltungsform für das Erreichen des rechtspolitischen Ziels, Anreize zur Gewerkschaftsmitgliedschafts zu setzen, hinreichend effektiv? Clasen und Viebrock haben in einer groß angelegten Untersuchung¹⁸⁸ überzeugend herausgearbeitet, dass die formal unabhängigen Arbeitslosenkassen in Schweden, die auch nicht (in nennenswerter Weise) hinsichtlich der Beitragshöhe differenzieren, gewerkschaftliche Rekrutierungseffekte erzeugen können. Sie führen dabei verschiedene Gründe an:¹⁸⁹ Zum einen entsteht eine Identifizierung mit der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften avancieren, dadurch dass sie die Arbeitslosenkassen organisieren und verwalten, zu einer gesellschaftlich angesehenen und vertrauenswürdigen Institution. Hierdurch wird bei den Beschäftigten ein gesteigertes Loyalitätsbewusstsein hervorgerufen: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Ferner führen Clasen und Viebrock ganz formal die mangelnde Abgrenzbarkeit zwischen Arbeitslosenkasse und Gewerkschaft ins Feld. Diese Unterscheidung wird gesellschaftlich häufig nicht trennscharf wahrgenommen. Obwohl institutionell formal getrennt, betrachten viele skandinavische Arbeitnehmer die Arbeitslosenversicherung als einen Zweig bzw. eine Dienstleistung der Gewerkschaften.¹⁹⁰ Schließlich wird die Attraktivität der Gewerkschaftsmitgliedschaft im Genter-System damit begründet, dass die Gewerkschaften zusätzliche Leistungen im Rahmen der Sozialversicherung anbieten. Zu nennen ist dabei insbesondere die Arbeitslosenberatung und Arbeitsvermittlung.¹⁹¹ Auch hierfür bietet sich Olsons Theorie der selektiven Anrieze als Erklärungsgrundlage an. Für den letztgennanten Aspekt der Arbeitslosenberatung und Arbeitsvermittlung ist dies offenkundig. Hier werden zusätzliche Kollektivgüter bereitgestellt, für die das Ausschlussprinzip gilt. Nur gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte kommen in ihren Genuss. Die Theorie selektiver Anreize bezieht sich aber nicht nur auf materielle Güter. Selektive Anreize können ebenso für immaterielle Güter wie soziales Ansehen, Macht oder Zugang zu einflussreichen Karrierenetzwerken gesetzt werden.¹⁹² Auch in Bezug auf diese „weichen“ Faktoren ist ein Konzept förderlich, das Gewerkschaften mit den Systemen der sozialen Sicherheit verwebt und ihnen eine exponierte Stellung einräumt.¹⁹³ Berücksichtigt man diese Aspekte, dürfte die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft gesteigert wer-
Basierend auf einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 363 ff. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 364. Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 365. Dehling/Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, S. 123. Siehe dazu auch Greiner, SR 2019 (Sonderausgabe), S. 17, 21 ff., 25 ff.
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den können, ohne dass organisierte Arbeitnehmer eine ökonomische Besserstellung erfahren.
V. Ergebnis Die vorgestellten Spielarten des Genter-Systems belasten die negative Koalitionsfreiheit nicht gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter weit weniger intensiv als die historische Ausgestaltungsform. Berücksichtigt man Olsons Theorie selektiver Anreize sind beide Spielarten auch im Hinblick auf das Setzen von Mitgliedschaftsanreizen vielversprechend. Darüber hinaus sind die vorstehenden Ausführungen auch als Appell an die Gewerkschaften zu verstehen, neue Pfade einzuschlagen, um die voranschreitende Mitgliedererosion abzuwenden. So bietet es sich bereits de lege lata an, selektive Anreize zu setzen, indem sie für die eigenen Mitglieder private Zusatzversicherungen für den Fall der Arbeitslosigkeit anbieten. Für die schwedischen Gewerkschaften haben sie sich als zentraler Eckpfeiler ihrer Attraktivität erwiesen.¹⁹⁴
§ 16 Differenzierung auf Arbeitgeberseite und tarifdispositives Gesetzesrecht Bislang wurden ausschließlich Gestaltungskonzepte betrachtet, die allein auf eine Förderung der Verbandsmitgliedschaft von Arbeitnehmern in Gewerkschaften gerichtet waren. Eine funktionsfähige Tarifautonomie lebt aber auch von einer hinreichenden verbandsmitgliedschaftlichen Grundlage auf Arbeitgeberseite (vgl. Faktor 2).¹⁹⁵ Die zunehmende Erosion des Flächentarifvertrags ist untrennbar mit sinkenden Mitgliederzahlen in Arbeitgeberverbänden verbunden.¹⁹⁶ Gerade hierdurch entstehen die berüchtigten „weißen Flecken“¹⁹⁷ in der Tariflandschaft. Scheinbar erblicken Arbeitgeber vor allem in der OT-Mitgliedschaft die Möglichkeit, „das Beste aus beiden Welten“ optimal zu verbinden: Rechtsbetreuung und -beratung ohne eine kostspielige Tarifbindung eingehen zu müssen.¹⁹⁸ Hieran
Clasen/Viebrock, ZSR 2006, S. 351, 363. Siehe Kapitel 3, § 8.II. Siehe Kapitel 2, § 5.IV.3. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 64; vgl. Henssler, RdA 2015, S. 43, 47; Sittard, RdA 2013, S. 301, 306. Zu den Hintergründen ausführlich Walser, SR 2017, S. 41 ff.; siehe auch Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 96 ff.
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müssen nachfolgende Überlegungen zur Stärkung der Tarifautonomie anknüpfen. Vor diesem Hintergrund ist nunmehr geeigneten Konzepten nachzuspüren, mit denen auf Arbeitgeberseite Anreize verbunden sind, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Auch insoweit dürften ökonomische Gesichtspunkte für die Entscheidung des Arbeitgebers, eine in der Regel zur Tarifbindung führende Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband zu begründen, maßgeblich sein.¹⁹⁹ Die Begründung einer Vollmitgliedschaft²⁰⁰ darf für den Arbeitgeber nicht nur mit Nachteilen dergestalt verbunden sein, dass er mit einer kostspieligen Tarifbindung rechnen muss und dadurch gegenüber nicht organisierten und nicht tarifgebundenen Arbeitgebern einen Wettbewerbsnachteil erleidet. Die vollmitgliedschaftliche Organisation in Arbeitgeberverbänden muss sich für den Arbeitgeber lohnen. Der organisierte Arbeitgeber muss – zumindest punktuell – bessergestellt sein als der nicht organisierte. Erst infolge einer zumindest punktuellen Privilegierung werden Arbeitgeber sich wieder vemehrt in Arbeitgeberverbänden organisieren. Insoweit ist die Frage der „Differenzierung nach der Arbeitgeberverbandszugehörigkeit“ auf den Plan gerufen. Anders als die bereits diskutierte Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit wurden derartige Ansätze – soweit ersichtlich – bislang eher vernachlässigt.²⁰¹ Geeignete Ansätze zur Förderung der Verbandsmitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zu entwickeln, ist gleichwohl ein Balanceakt. Es muss gelingen effektive Anreize zum Verbandsbeitritt zu setzen, ohne dabei das dem gegenwärtigen freiheitlichen Tarifsystem zugrunde liegende Prinzip freiwilliger Mitgliedschaft zu entwerten. Insoweit wird kein Tarifsystem forciert, in dem der Arbeitgeber regelrecht zwangsorganisiert wird.²⁰² Seine individuelle Beitrittsentscheidung ist zu respektieren. Demnach geht es vielmehr um gezielte Anreize für Arbeitgeber, sich über eine Verbandsmitgliedschaft am Spiel der Tarifautonomie zu beteiligen. Dass gelingt nur dann, wenn an die Organisation im Arbeitgeberverband Vorteile geknüpft sind.
Vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87. Es geht hier gerade nicht darum die „OT-Mitgliedschaft“ zu fördern. Kritisch dazu bereits in Kapitel 4, § 11.II.4. In dieser direkten Gegenüberstellung soweit ersichtlich nur Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 388 ff. und Greiner, ZTR 2018, S. 628 ff.; teilweise in diese Richtung Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27. Ein solches System wird etwa in Österreich praktiziert. So bestimmt § 2 Abs. 1 des österreichischen Wirtschaftskammergesetzes: „Mitglieder der Wirtschaftskammern und Fachorganisationen sind alle physischen und juristischen Personen sowie sonstige Rechtsträger, die Unternehmungen des Gewerbes, des Handwerks, der Industrie, des Bergbaus, des Handels, des Geld-, Kredit- und Versicherungswesens, des Verkehrs, des Nachrichtenverkehrs, des Rundfunks, des Tourismus und der Freizeitwirtschaft, sowie sonstiger Dienstleistungen rechtmäßig selbstständig betreiben oder zu betreiben berechtigt sind.“
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
I. Mögliche Anknüpfungspunkte für eine Differenzierung Es muss nach Anknüpfungspunkten Ausschau gehalten werden, anhand derer eine Differenzierung nach der Arbeitgeberverbandszugehörigkeit effektiv vorgenommen werden kann, sodass organisierte Arbeitgeber gegenüber Außenseitern eine Privilegiung erfahren. Derartigen Ansätzen liegt die Überlegung zugrunde, dass vor allem ökonomische Gesichtspunkte für die Entscheidung des Arbeitgebers, einem Arbeitgeberverband beizutreten, maßgeblich sind.²⁰³
1. Steuer- und Beitragslast Zunächst bieten die Steuer- und Beitragslast von Arbeitgebern taugliche Anknüpfungspunkte für eine Differenzierung nach der Arbeitgeberverbandszugehörigkeit. Arbeitgeber haben aus ökonomischem Gesichtspunkten ein Interesse daran, möglichst geringe Unternehmenssteuerabgaben und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Daher verwundert es nicht, dass derartige Vorschläge bereits Eingang in die politische Diskussion gefunden haben. So wurden im Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits Überlegungen angestellt, tarifgebundene Unternehmen steuerlich zu privilegieren. Ein konkreter Referentenoder Gesetzesentwurf existiert hierzu zwar bislang nicht. Allerdings verspricht sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales neue Anreize auf der Arbeitgeberseite zur Begründung einer in der Regel zur Tarifbindung führenden Verbandsmitgliedschaft.²⁰⁴ An diese Vorüberlegungen hat bereits Franzen angeknüpft und in einer groß angelegten Untersuchung konkrete Vorschläge erarbeitet, nach denen die Steuer-²⁰⁵ und Beitragslast²⁰⁶ in einer Weise ausgestaltet werden können, dass auf Arbeitgeberseite Anreize entstehen, eine Tarifbindung einzugehen bzw. sich mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Obgleich derartige Gestaltungsempfehlungen grundsätzlich zu begrüßen sind, erscheint es zumindest nicht adäquat, Anreize über „tarifvertragsferne“ Anknüpfungspunkte aus dem Steuer- und Beitragsrecht heranzuziehen.²⁰⁷ Sie
Vgl. vor allem Ulber, SR 2018, S. 85, 87; siehe auch Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 96 ff. und Walser, SR 2017, S. 41 ff. Siehe dazu ein Interview des Ministers für Arbeit und Soziales Hubertus Heil vom 14.12. 2018 mit der Stuttgarter Zeitung, abrufbar unter: https://www.bmas.de/DE/Presse/Interviews/2018/ 2018 – 12– 14-stuttgarter-zeitung.html; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 35 ff. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 62 ff. Aus dem gleichen Grund wird auf Arbeitnehmerseite auch nicht näher geprüft, die Exklusivität des Tarifvertrags vor der arbeitsvertraglichen Bezugnahme mit den Mitteln des Urheber-
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sollen jedenfalls an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Diese Arbeit zielt vielmehr auf eine Förderung der Verbandsmitgliedschaft über „tarifvertragsnahe“ Anrzeizsysteme ab.
2. Tarifdispositives Gesetzesrecht Hingegen enthält bei genauerem Hinsehen unmittelbar der Tarifvertrag selbst Anknüpfungspunkte für eine mögliche Differenzierung nach der Arbeitgeberverbandszugehörigkeit. Dabei ist folgende Überlegung voranzustellen: Der Abschluss eines Tarifvertrags kommt in erster Linie der Arbeitnehmerseite zugute. Dass zeigt bereits die den Tarifvertrag dominierende Schutzfunktion. Für den Arbeitgeber ist der Abschluss eines Tarifvertrags in der Regel ein nachteiliges und mitunter kostspieliges Geschäft.²⁰⁸ Vor diesem Hintergrund erklärt sich die zu beobachtende „Tarifflucht“ auf Arbeitgeberseite.²⁰⁹ Will man den Arbeitgeber als Akteur der Tarifautonomie nicht verlieren, muss es darum gehen, den Abschluss eines Tarifvertrags mit Vorteilen auf Arbeitgeberseite zu verknüpfen. In diesem Sinne fungiert tarifdispositives Gesetzesrecht. Hierbei handelt es sich um Gesetzesrecht, dass ganz oder teilweise zur Disposition abweichender tariflicher Regelungen steht, auch zulasten der Arbeitnehmer.²¹⁰ Tarifdispositives Gesetzesrecht kann dabei als Ausdruck der Subsidiarität staatlicher Normsetzung begriffen werden.²¹¹ In vielen verschiedenen Bereichen existiert bereits zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, das ganz oder teilweise qua tarifvertraglicher Vereinbarung auch zulasten des Arbeitnehmers abbedungen werden kann. So kann etwa nach § 8 Abs. 2 AÜG vom arbeitnehmerüberlassungsrechtlichen Gleichstellungsgrundsatz abgewichen werden, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 31 Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte unterscheitet. Ebenso darf von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche gem. § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG von der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstüberlassungsdauer abweichen. Neben diesen besonders prominenten Beispielen aus dem AÜG be-
rechts (§§ 3 ff. UrhG) zu bewahren; siehe dazu aber: Leydecker, GRUR 2007, S. 1030 ff; Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, S. 254 Fn. 110; differenzierend Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 30 ff. Franzen, HSI-Schrift, Bd. 27, S. 17 f. Dazu ausführlich Walser, SR 2017, S. 41 ff.; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Deinert/ Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 96 ff.; vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87. Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390; Wiedemann/Jacobs, TVG, Einleitung Rn. 585; Däubler TVG/Ulber, TVG, Einleitung Rn. 473; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 89. Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 698 f.; Wiedemann/Jacobs, TVG, Einleitung Rn. 595 f.; Däubler TVG/Ulber, TVG, Einleitung Rn. 474; Zachert, NZA 1994, S. 529, 533.
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inhaltet darüber hinaus auch das Urlaubsrecht (§ 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG), das Teilzeit- und Befristungsrecht (§ 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG), das Arbeitszeitrecht (§ 7 Abs. 1, 2, 2a ArbZG; § 12 ArbZG) sowie das Kündigungsschutzrecht (§ 622 Abs. 4 BGB) tarifdispositiv ausgestaltete Regelungen. Damit verknüpft tarifdispositives Gesetzesrecht bereits de lege lata den Abschluss eines Tarifvertrags auf Arbeitgeberseite mit der Chance, einen unmittelbaren Vorteil aus diesem zu ziehen, indem von gesetzlich festgeschriebenen Arbeitsbedingungen – zumindest punktuell – zulasten der Arbeitnehmer abgewichen werden kann. In diesem Sinne ist tarifdispositives Gesetzesrecht geeignet, Arbeitgebern am Abschluss eines Tarifvertrags ein Interesse zu stiften. Insoweit taugt es grundsätzlich auch als „tarifvertragsnaher“ Anknüpfungspunkt für eine anreizsetzende Differenzierung nach der Arbeitgeberverbandszugehörigkeit²¹² und soll daher im Folgenden Abschnitt eine fokussierte Betrachtung erfahren.
II. Fokussierung: Tarifdispositives Gesetzesrecht als Maßnahme zur Stärkung der Tarifautonomie? Die tarifdispositive Ausgestaltung gesetzlich festgeschriebener Mindeststandards wurde schon vielfach einer fokussierten Betrachtung unterzogen und als Mittel zur Stärkung der Tarifautonomie erwogen.²¹³ Rechtspolitisch ist es in jedem Fall wünschenswert, wenn sich Arbeitgeber wieder vermehrt in Arbeitgeberverbänden organisieren. Ausgehend von der bisherigen Debatte über tarifdispositives Gesetzesrecht soll in den nachfolgenden Ausführungen vor allem solchen Ansätzen nachgegangen werden, mit denen das tarifdispositive Gesetzesrecht in den verbandspolitischen Dienst der Tarifautonomie und der Arbeitgeberverbände gestellt werden kann. Hierfür soll als Ausgangspunkt die Wirkungsweise tarifdispositiven Gesetzesrechts betrachtet werden:
1. Wirkungsweise: Licht und Schatten Tarifdispositives Gesetzesrecht polarisiert. Diejenigen, die ihm wohl besonnen gegenüberstehen, verweisen gemeinhin auf seine flexibilisierende Kraft. Ein versteinertes Tarifsystem müsse für wirtschaftliche Entwicklungen offenstehen In diesem Kontext wird der Einsatz tarifdispositives Gestzesrechts auch vielfach diskutiert: Siehe nur Greiner, NZA 2018, S. 563 und Ulber, SR 2018, S. 85. Annuß, NZA 2017, S. 345, 347; Greiner, NZA 2018, S. 563 ff.; Greiner, ZTR 2018, S. 628 ff.; in der Tendenz kritisch: Bepler, FS Kempen, S. 109 ff.; Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 61 ff.; Ulber, SR 2018, S. 85 ff.; vgl. Waltermann, RdA 2014, S. 86, 89 f.
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und eine Anpassung der Arbeitsbedingungen „nach unten“ ggf. gewährleisten.²¹⁴ Demgegenüber erblicken die Gegner tarifdispositiven Gesetzesrechts in der tariflichen Abweichung von gesetzlichen Mindeststandards zulasten der Arbeitnehmer gar eine „Zweckverfehlung der Tarifautonomie“.²¹⁵ Dem ist sicher beizupflichten, wenn man sich die merkwürdige Tarifpraxis der christlichen Gewerkschaften in der Leiharbeitsbranche im Kontext des arbeitnehmerüberlassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes vor Augen führt.²¹⁶ Der Zweck der Tarifdispositivität war in diesem Fall darin begründet, eine andere – den Bedingungen des jeweiligen Betriebs besser angepasste – Form des Arbeitnehmerschutzes vorzusehen.²¹⁷ Tatsächlich agierten die christlichen Gewerkschaften fast ausschließlich zugunsten der Arbeitgeberseite und nutzten – fast schon in kollusiven Zusammenwirken zulasten der Arbeitnehmer – dieses gesetzliche „Schlupfloch“, um Arbeitskraft kontinuierlich zu verbilligen.²¹⁸ Nicht einmal ein kompensierender Ausgleich zugunsten der Arbeitnehmer konnte in den Tarifverhandlungen erstritten werden.²¹⁹ Daher verwundert es nicht, dass dieser Fall unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Tariffähigkeit und der sozialen Mächtigkeit der tarifschließenden christlichen Gewerkschaft Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden hat.²²⁰ Vor diesem Hintergrund wird tarifdispositives Gesetzesrecht vielfach – zu Recht – sehr kritisch beäugt.²²¹ Das Wirken der christlichen Gewerkschaften in der Leiharbeitsbranche zeigt beispielhaft, wie tarifdispositives Gesetzesrecht missbraucht werden und den durch gesetzliche Mindeststandards intendierten Arbeitnehmerschutz im Wege der Ta-
Annuß, NZA 2017, S. 345, 347; Greiner, NZA 2018, S. 563, 564 f.; Greiner, ZTR 2018, S. 628, 631; Wiedemann/Jacobs, TVG, Einleitung Rn. 595; siehe auch die amtliche Begründung im Entwurf zum ArbZG, BT-Drs. 12/5888, S. 20, 26; vgl. auch Deinert, RdA 2017, S. 65, 76. Allen voran Richardi, NZA 2008, S. 1, 4 f.; Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 698, bezeichnet tarifdispositives Gesetzesrecht als „Danaergeschenk für Gewerkschaften“; siehe auch Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 38 ff. Dazu Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 61; Deinert, RdA 2014, S. 65, 68 f.; Deiner/Walsert, AuR 2015, S. 386, 390. BT-Drs 15/25, S. 38; vgl. auch Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28; vgl. Greiner, NZA 2018, S. 563, 564. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28; vgl. Greiner, NZA 2018, S. 563, 564. BAG, 14.12. 2010 (1 ABR 19/10), NZA 2011, S. 289. In der Tendenz gegegen die zunehmende Implementierung tarifdispositiven Gesetzesrechts: Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 63; Deinert, RdA 2014, S. 65, 68 f.; Deiner/ Walsert, AuR 2015, S. 386, 390; Richardi, NZA 2008, S. 1 ff.; Ulber, SR 2018, S. 85 ff.; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 89 f.; DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung vom 28.02. 2017, abrufbar unter https://www.dgb.de/themen/++co++dfdaadb8-ff1 f-11e6-a620 – 525400e5a74a; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020.
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rifautonomie ad absurdum führen kann.²²² Tarifdispositives Gesetzesrecht wird dadurch in ein schlechtes Licht gerückt. Gesetzgeber und Sozialpartner verlieren an Ansehen.²²³ Dass hiervon auch Fehlanreize für die Organisation von Arbeitnehmern in Gewerkschaften ausgehen können, liegt auf der Hand.²²⁴ Es dürfte bei Arbeitnehmern nicht gut ankommen, wenn Gewerkschaften, deren Aufgabe es eigentlich ist, ihre Interessen effektiv zu vertreten, einer Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards bedingungslos zustimmen und im Gegenzug keine kompensatorische tarifliche Regelung zugunsten ihrer Mitglieder erstreiten.
a) Relativierung: Kompensationsgeschäfte und Richtigkeitsvermutung Blickt man vor allem auf die skizzierte Tarifpraxis christlicher Gewerkschaften, offenbaren sich insoweit die Schattenseiten tarifdispositiv ausgestalteter Arbeitsgesetze. Das ist aber nur die halbe Wahrheit über tarifdispositives Gesetzesrecht. Hierauf darf der Blick nicht verengt werden. Löst man sich nämlich von einer derart pessimistischen Betrachtung, kann es in einem durchaus positivem Licht erscheinen: Tarifdispositiv ausgestaltetes Gesetzesrecht erweitert nämlich grundsätzlich den Gestaltungsbereich der Tarifakteure. Ob schließlich eine vom Gesetz abweichende Regelung vereinbart wird, ergibt sich erst aus den Tarifverhandlungen paritätisch organisierter Sozialpartner. Rechtsökonomisch betrachtet, eröffnet tarifdispositives Gesetzesrecht den Gewerkschaften auf diese Weise zusätzliche Gestaltungsspielräume für do ut des-Geschäfte mit dem sozialen Gegenspieler.²²⁵ So kann die verhandelnde Gewerkschaft einer tariflichen Abweichung von gesetzlichen Mindeststandards nur unter zusätzlichen Bedingungen zustimmen. Bspw. kann sie für eine Abweichung von Gesetzesrecht im Gegenzug eine Differenzierungsklausel im Tarifvertrag zugunsten ihrer Mitglieder erwirken: quid pro quo. Derartige Kompensationsgeschäfte bedeuten dann einen Gewinn für beide Lager.²²⁶ Das gilt umso mehr, wenn nicht die CGZP am Werk ist, sondern bewährte und zuverlässige Gewerkschaften (etwa solche des DGB), deren Tariffähigkeit und soziale Mächtigkeit in der Regel unbestritten sind. Ein miss-
Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390. Ulber, SR 2018, S. 85; Waltermann, RdA 2014, S. 86, 89. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 61; Greiner, NZA 2018, S. 563, 564; Ulber, SR 2018, S. 85, 87, 90; Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 505. So speziell für § 8 AÜG Greiner, NZA 2018, S. 563, 564; Thüsing/Beden, NZA 2018, S. 404, 407; Ulber, SR 2018, S. 85, 86. Vgl. Greiner, NZA 2018, S. 563, 565, der sogar ausdrücklich von einer „Win-Win-Situation“ spricht.
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bräuchlicher Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht ist dann nahezu ausgeschlossen.²²⁷ Zudem muss tarifdispositives Gesetezsrecht dann auch nicht zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Rechtsposition der Arbeitnehmer führen, sondern kann das gesetzlich vorgesehene Schutzkonzept lediglich modifizieren und auf die Gegebenheiten des Betriebs passgenau zuschneiden.²²⁸ Schließlich streitet für den im Grundsatz verantwortungsvollen Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht auch das vom BAG²²⁹ anerkannte Konzept von der Richtigkeitsvermutung²³⁰ des Tarifvertrags.²³¹ Danach beinhaltet der Tarifvertrag zumindest die Vermutung,²³² dass die von gesetzlichen Mindeststandards abweichende Tarifregelung nicht missbräuchlich, sondern Bestandteil eines im Ergebnis angemessenen Interessenausgleichs ist. Zwar wird hiergegen eingewendet, die Angemessenheitsvermutung könne sich allenfalls auf den gesamten Tarifvertrag als solchen beziehen, nicht aber auf einzelne Regelungsgegenstände.²³³ Allerdings ist die tarifliche Regelung, mit der von tarifdispositivem Gesetzesrecht abgewichen wird, nunmal Bestandteil des „gesamten Tarifvertrags“, sodass auch sie von der Reichweite der Angemessenheitsvermutung erfasst wird. Enthält ein Tarifvertrag eine vom Gesetz abweichende Regelung, die die Rechtsposition der Arbeitnehmer verschlechtert, wird gleichwohl vermutet, dass der Tarifvertrag eine kompensatorische Regelung enthält. Die mit dem Konzept von der Angemessenheitsvermutung des Tarifvertrags verbundene Tariffähigkeit und Durchsetzungskraft²³⁴ gewährleisten zudem, dass die tarifvertragsschließende
Greiner, NZA 2018, S. 563, 564. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28; vgl. Greiner, NZA 2018, S. 563, 564; BT-Drs. 18/ 9232, S. 15. Ausdrücklich von einer „Richtigkeitsgewähr“ des Tarifvertrags sprechend: BAG, 24.09. 2008 (6 AZR 76/07), AP BGB § 305 c Nr. 11, Rn. 49; BAG, 28.03. 2006 (1 ABR 58/04), NZA 2006, S. 1112, 1116; von einer „Angemessenheitsvermutung“ sprechend: BAG, 21.11. 2012 (4 AZR 27/11), AP TVG Verbandsaustritt § 3 Nr. 16, Rn. 14; BAG, 19.06. 2012 (1 AZR 775/10), AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 177, Rn. 16; BAG, 04.06. 2008 (4 AZR 419/07), NZA 2008, S. 1366, 1372. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.I.5. Wiedemann/Jacobs, TVG, Einleitung Rn. 595; Thüsing/Beden, NZA 2018, S. 404, 407; siehe kritisch zum Konzept der Richtigkeitsgewähr in diesem Kontext Ulber, SR 2018, S. 85, 86. An dieser Stelle wird in Anbetracht der an diesem Konzept geäußerten Kritik, der Begriff der „Gewähr“ abgeschwächt, indem (zumindest) von einer Vermutung gesprochen wird. Siehe hierzu etwa Waltermann, RdA 2014, S. 86, 88 f.; Bepler verwendet stattdessen den Begriff der „Angemessenheitsvermutung“, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 44; teilweise wird aber auch der Begriff der „Ausgewogenheitsgewähr“ verwendet: JKOS/Krause, § 1 Rn. 147; seinen Ursprung findet der Begriff der „Richtigkeitsgewähr“ eines (allgemeinen) Vertrags wohl bei SchmidtRimpler, AcP 1941, S. 130 ff. Ulber, SR 2018, S. 85, 86. Siehe dazu Greiner/Pionteck, AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 10, unter II.1.a).
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Gewerkschaft auch stark genug ist, einem Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht nur dann zuzustimmen, wenn eine kompensatorische Leistung für Arbeitnehmer im Tarifvertrag vorgesehen wird.²³⁵
b) Stärkung der Tarifautonomie? Inwieweit führt nun tarifdispositives Gesetzesrecht aber zu einer Stärkung der Tarifautonomie? Auf den ersten Blick leuchtet es nicht ein, was die tarifliche Abweichung von gesetzlichen Mindeststandards mit dieser Programmatik verbindet. Das ist erklärungsbedürftig: Zum einen konnte bereits herausgestellt werden, dass der Schutz und die Erweiterung des tarifautonom regelbaren Bereichs ein Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie ist (vgl. Faktor 4).²³⁶ Indem nun Gesetze so ausgestaltet sind, dass die Sozialpartner im Wege ihrer vorrangigen Regelungshoheit auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen²³⁷ abweichende Regelungen im Tarifvertrag vereinbaren können, wird der tarifautonome Gestaltungsbereich erweitert.²³⁸ Neben diesem Aspekt kann tarifdispositives Gesetzesrecht auch insoweit die Tarifautonomie und ihre institutionellen Rahmenbedingungen stärken, als dass von ihm Anreize für Arbeitgeber ausgehen können, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren und eine Tarifbindung zu begründen.²³⁹ Schließlich konnte auch in diesem Zusammenhang bereits dargelegt werden, dass die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers eine wichtige Voraussetzung für eine funktionsfähige Tarifautonomie ist (vgl. Faktor 2).²⁴⁰ Arbeitgeber kommen vor allem dann in den Genuss einer vom gesetzlichen Mindeststandard abweichenden Tarifnorm, wenn der Arbeitgeberverband einen hierauf gerichteten Flächentarifvertrag abschließt.²⁴¹ Freilich besteht für den Arbeitgeber allerdings auch die Möglichkeit einen von der Verbandsmitgliedschaft unabhängigen Firmentarifvertrag mit der Gewerkschaft abzuschließen, sodass de lege lata keinesfalls sichergestellt ist, dass dieser po-
Siehe für eine andere Einschätzung Ulber, SR 2018, S. 85, 86. Siehe Kapitel 3, § 8.IV. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvL 11/74), BVerfGE 44, S. 322, 340. Vgl. Greiner, ZTR 2018, S. 628, 630. Sich ausdrücklich für positive Anreize zur Förderung der Verbandsmitgliedschaft aussprechend: Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28 f.; Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 37; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390 f.; zurückhaltender von positiven Effekten zur Begründung einer Tarifbindung sprechend: Annuß, NZA 2017, S. 345, 347; Greiner, NZA 2018, S. 563, 564; Ulber, SR 2018, S. 85, 87, 90. Siehe Kapitel 3, § 8.II. Vgl. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28 f.; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390 f.
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sitive Effekt tarifdispositiven Gesetzesrechts auch tatsächlich eintreten wird.²⁴² Gleichwohl bietet es eine vielversprechende Grundlage, um nach einem geeigneten Konzept zur Förderung der Verbandsmitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden zu suchen.
2. Das „Trittbrettfahrerproblem“ auf Arbeitgeberseite Dass Arbeitgeber von tarifdispositivem Gesetzesrecht Gebrauch machen können, ohne eine Verbandsmitgliedschaft zu begründen, indem sie einen Firmentarifvertrag abschließen, ist verkraftbar. Der Firmentarifvertrag erfüllt zwar idealtypisch betrachtet die der Tarifautonomie zugeschriebenen Funktionen nicht in gleicherweise wie der Flächentarifvertrag.²⁴³ Gleichwohl ist die Begründung einer Tarifbindung unter dem Gesichtspunkt einer funktionsfähigen Tarifautonomie stets zu begrüßen.Wesentlich problematischer erscheint stattdessen die Tatsache, dass das bereits beschriebene Phänomen des „Trittbrettfahrens“²⁴⁴ nicht nur den Gewerkschaften im Zusammenhang mit nicht organisierten Arbeitnehmern, sondern auch den Arbeitgeberverbänden zu schaffen macht. Es gibt nämlich auch Arbeitgeber, die „ernten, wo sie nicht säen“²⁴⁵: Die grundsätzlich vom tarifdispositiven Gesetzesrecht ausgehende Anreizwirkung wird zum einen dadurch konterkariert, dass eine umfassende Bezugnahme auf solche Tarifverträge praktiziert wird, die von gesetzlichen Mindeststandards – zur Verschlechterung der Rechtsposition der Arbeitnehmer – abweichen.²⁴⁶ Auf diese Weise kommen auch nicht organisierte und nicht tarifgebundene Arbeitgeber in den Genuss tarifdispositiver Gesetze. Teilweise ist die Bezugnahmemöglichkeit für Arbeitsverhältnisse mit Außenseitern auf Arbeitgeberseite auch ausdrücklich gesetzlich in sogenannten „Erstreckungsklauseln“²⁴⁷ geregelt. So stellt etwa § 8 Abs. 2 Satz 3 AÜG im Zusammenhang mit tariflichen Abweichungen vom leiharbeitsrechtlichen Gleichstellungsgrundsatz klar: „Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung des Tarifvertrags vereinbaren.“ Ebenso gewährleistet § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG die Geltung vom Gesetz abweichender Tarifbestimmungen zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, „wenn zwischen diesen die An-
Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.II.2.b). Siehe dazu bereits Kapitel 2, § 5.II.2. und Kapitel 5, § 15.IV.2.a). Söllner/Waltermann, Grundriss des Arbeitsrechts, Rn. 194. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 28; Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390; Greiner, ZTR 2018, S. 628, 632; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Ulber, SR 2018, S. 85, 87. Ulber, SR 2018, S. 85, 87.
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wendung der einschlägigen tariflichen Urlaubsregelung vereinbart ist.“ Freilich existieren noch zahlreiche andere Beispiele für derartige Erstreckungsklauseln (Beispiele: § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB; § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG; § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG; § 13 Abs. 2 Satz 2 BUrlG; § 8 Abs. 4 Satz 3 AÜG; vgl. auch § 5 Abs. 4 EntgTranspG). Die hierdurch gesetzlich gezielt geförderte Bezugnahmepraxis macht die vom tarifdispositivem Gesetzesrecht grundsätzlich ausgehenden Anreize zur Begründung einer (mitgliedschaftlich legitimierten) Tarifbindung wieder zunichte.²⁴⁸ Allerdings muss der Grund berücksichtigt werden, weshalb die Bezugnahme im Zusammenhang mit tarifdispositiven Gesetzesrecht vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich – im Wege der Erstreckungsklauseln – unterstützt wird: Würden die Arbeitsverhältnisse von Außenseiter-Arbeitnehmern für Tarifnormen, die zu ihren Lasten von gesetzlichen Mindeststandards abweichen, nicht arbeitsvertraglich in Bezug genommen, wären sie deutlich bessergestellt als gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer. Die Folge wäre nämlich, dass die – die Rechtsposition der Arbeitnehmer verschlechternde – Tarifregelung nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten würde. Die Verbandsmitgliedschaft in einer Gewerkschaft würde für Arbeitnehmer in der Tendenz weiter an Attraktivität verlieren. Daher leuchtet es ein, wenn mit den gesetzlich geschaffenen Erstreckungstatbeständen für eine umfassende Bezugnahmepraxis geworben wird. Womöglich sind ausdrücklich eröffnete Bezugnahmemöglichkeiten vor dem Hintergrund der (positiven) Koalitionsfreiheit sogar verfassungsrechtlich geboten.²⁴⁹ Das führt gleichwohl zu einem Dilemma: Auf der einen Seite soll tarifdispositives Gesetzesrecht die mitgliedschaftliche Tarifbindung auf der Arbeitgeberseite fördern. Dieser Effekt wird durch eine ausgedehnte Bezugnahmepraxis aber weitestgehend zunichte gemacht. Auf der anderen Seite ist die Bezugnahme von Tarifverträgen, die gesetzliche Mindeststandards modifizieren oder unterschreiten, zwingend erforderlich, um eine Besserstellung gewerkschaftlich nicht organisierter Arbeitnehmer zu verhindern. Damit sind Fehlanreize verbunden, die Arbeitnehmer daran hindern können, einem Gewerkschaftsverband beizutreten. Das Trittbrettfahrerproblem auf Arbeitgeberseite zu lösen, ist vor diesem Hintergrund ein schwieriges Unterfangen.
Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Greiner, ZTR 2018, S. 628, 634; Ulber, SR 2018, S. 85, 87. So bereits Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 705; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Deinert/ Walser, AuR 2015, S. 386, 390; Ulber, SR 2018, S. 85, 91.
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3. Lösungskonzepte Um das skizzierte Trittbrettfahrerproblem für Arbeitgeber zu lösen, muss im Hinblick auf den Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht differenziert werden. Diesem Ansatz liegt die Überlegung zugrunde, dass es überwiegend ökonomische Gesichtspunkte sind, die für die Begründung einer zur Tarifbindung führenden Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ausschlaggebend sind.²⁵⁰ Auch in Anlehnung an Olsons Konzept vom kollektiven Handeln²⁵¹ ist in solchen selektiven Anreizen die Lösung für das Trittbrettfahrerproblem auf Arbeitgeberseite zu erblicken. Will man für den Gebrauch von tarifdispositivem Gesetzesrecht eine Differenzierung auf Arbeitgeberseite vornehmen, kommen gleich zwei Anknüpfungspunkte in Betracht: Zum einen kann zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitgebern differenziert werden. Nach dieser Konzeption wäre es nur tarifgebundenen Arbeitgebern möglich, in den Anwendungsbereich vom Gesetz abweichender Tarifnormen zu gelangen. Zum anderen kann aber auch unmittelbar zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitgebern unterschieden werden. Danach ist das maßgebliche Differenzierungskriterium die (Voll‐)Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband. Ausgehend von diesen zwei Varianten sollen die bisher vorgeschlagenen – und teilweise auch bereits Gesetz gewordenen – Ansätze betrachtet werden, ehe ein eigener Vorschlag zur Modifizierung des tarifdispositiven Gesetzesrechts unterbreitet wird:
a) Bisherige Vorschläge: Verknüpfung der Bezugnahme mit Tarifbindung Bislang diskutiert und teilweise schon umgesetzt wurde jene Variante, die die Bezugnahme auf Tarifverträge, die von gesetzlichen Mindeststandards abweichen, von der Tarifbindung des Arbeitgebers abhängig machen.²⁵² Hierbei lassen sich aber wiederum verschiedene Spielarten unterscheiden, deren Konzeption im Folgenden vorgestellt und rechtspolitisch bewertet wird:
aa) Spielart 1: Strenge Verknüpfung mit Tarifbindung Die zunächst naheliegendste Form der differenzierenden Gestaltung ist die strenge Verknüpfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht und Tarifbindung. Eine
Vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87. Siehe dazu bereits Kapitel 5, § 15.IV.2.a). Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Greiner, ZTR 2018, S. 628 ff.; Ulber, SR 2018, S. 85, 87 ff.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
solche Gestaltung wird auch verbreitet befürwortet.²⁵³ Danach sind Erstreckungsklauseln in tarifdispositiven Gesetzen auf solche Außenseiter-Arbeitnehmer²⁵⁴ zu begrenzen, die bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind.²⁵⁵ Nicht tarifgebundene Arbeitgeber würden auf diese Weise vom Anwendungsbereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts vollständig ausgeschlossen. Gewissermaßen wird die Bezugnahme eines vom tarifdispositiven Gesetzesrecht Gebrauch machenden Tarifvertrags an die Tatbestandsvoraussetzungen der Tarifbindung geknüpft, die dann nicht ohne weiteres „überspielt“ werden kann. Für den tarifgebundenen Arbeitgeber muss die Bezugnahme auf den Tarifvertrag gleichwohl möglich sein, damit die vom Gesetz abweichende Tarifnorm auch den Arbeitsverhältnissen nicht organisierter Arbeitnehmer zugrunde gelegt werden kann.²⁵⁶ Auf diese Weise wird eine Privilegierung nicht organisierter Arbeitnehmer verhindert. Die Anordnung der Tarifdispositivität kann vor diesem Hintergrund um folgenden Satz erweitert werden: „Die nach Satz … vom Gesetz abweichenden Tarifnormen können für die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, übernommen werden, wenn der Arbeitgeber nach § 3 Tarifvertragsgesetz an den Tarifvertrag gebunden ist.“
Diese Formulierung erfüllt die oben beschriebenen Anforderungen an die Gestaltung tarifdispositiven Gesetzesrechts. Danach ist nur tarifgebundenen Arbeitgebern die Bezugnahme gestattet. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass nicht organisierte Arbeitnehmer bessergestellt sind als organisierte. Im Umkehrschluss folgt aus der vorgeschlagenen Formulierung des Erstreckungstatbestands gleichzeitig auch, dass eine Bezugnahme durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber ausgeschlossen ist.
Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 390; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Greiner, ZTR 2018, S. 628 ff.; ähnlich bereits bei Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 705: „Es wäre deshalb nahe gelegen, Normen die von einer ges. Öffnung Gebrauch machen, kraft Gesetzes den betrieblichen Normen gleichzustellen.“ Etwas kritischer vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87 ff. Für die Arbeitsverhältnisse anderere Arbeitnehmer des tarifgebundenen Arbeitgebers gilt die vom Gesetz abweichende Tarifregelung ohnehin schon gem. § 3 Abs. 1 TVG. Ulber, SR 2018, S. 85, 89; vgl. auch Bepler, FS Kempen, S. 109, 115. Deinert, SR 2017 (Sonderausgabe), S. 24, 29; Deinert/Walser, AuR 2015, S 386, 390; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565.
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bb) Spielart 2: Begrenzte Differenzierung nach der Tarifbindung Daran anknüpfend kann die Erstreckungsklausel für nicht tarifgebundene Arbeitgeber in ihrer Reichweite begrenzt werden. Danach ist die Bezugnahme zwar auch nicht tarifgebundenen Arbeitgebern gestattet. Allerdings profitiert der tarifgebundene Arbeitgeber von einem größerem Umfang, innerhalb dessen er vom tarifdispositiven Gesetzesrecht Gebrauch machen kann. Insoweit wird nicht an den Tatbestandsvoraussetzungen einer möglichen Bezugnahme geschraubt. Lediglich ihre Rechtsfolgen werden zugunsten tarifgebundener Arbeitgeber modifiziert. Ein solches Konzept ist bereits mit dem in Kraft treten des „Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze“ am 1. April 2017²⁵⁷ in Gestalt von § 1 Abs 1b Satz 6 AÜG realisert worden. Danach ist die Erstreckung einer von § 1 Abs. 1b AÜG abweichenden tariflichen Regelung im Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers nur bis zu einer Höchstüberlassungsdauer von 24 Monaten möglich. Damit wird die Reichweite der arbeitsvertraglichen Bezugnahme durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber lediglich begrenzt, aber – anders als bei Spielart 1 – nicht vollständig ausgeschlossen. Für tarifgebundene Arbeitgeber gilt diese Begrenzung hingegen nicht. Sofern sich die Tarifvertragsparteien darauf verständigt haben, kann eine deutlich höhere Überlassungsdauer zur Anwendung gebracht werden. Hierdurch erfahren tarifgebundene Arbeitgeber erstmals²⁵⁸ eine unmittelbare Privilegierung gegenüber nicht tarifgebundenen. Indem die Regelung in § 1 Abs. 1b Satz 6 AÜG die Erstreckungsmöglichkeit bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern spürbar begrenzt, bricht sie zudem mit der bisherigen Systematik tarifdispositiven Gesetzesrechts. Tarifgebundene Arbeitgeber können qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme nicht mehr vollumfänglich an den vom Gesetz abweichenden Tarifnormen partizipieren.²⁵⁹ Der Gesetzgeber hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich von dieser Regelung neue Anreize für Arbeitgeber verspricht, eine Tarifbindung einzugehen.²⁶⁰
cc) Spielart 3: Zustimmung des Betriebsrats Fokussiert man noch genauer auf die Regelung in § 1 Abs. 1b Satz 6 AÜG, offenbart sich noch eine weitere Möglichkeit, tarifdispositives Gesetzesrecht in den Dienst der Tarifbindung zu stellen: Eine Abweichung tarifgebundener Arbeitgeber auf Grundlage der zitierten Erstreckungsklausel ist nämlich nur insoweit möglich, als
BGBl. I, S. 258. Soweit ersichtlich hat es eine vergleichbare Regelung bislang noch nicht gegeben. Ulber, SR 2018, S. 85, 88. BT-Drs. 18/9232, S. 21; siehe auch BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, 2016, S. 192.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
der Betriebsrat in einer Betriebsvereinbarung seine Zustimmung zum Ausdruck gebracht hat. Nicht tarifgebundene Unternehmen, in denen kein Betriebsrat existiert, sind damit von vornherein vom Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts ausgeschlossen. Der Nachteil dieser Spielart liegt insofern darin begründet, dass tarifgebundene Arbeitgeber, in deren Betrieben kein Betriebsrat existiert, in Ansehnung ihrer – grundsätzlich zu begrüßenden – Tarifbindung keine Privilegierung erfahren. Die Spielarten 2 und 3 sind als Kompromiss zu verstehen. Sie enthalten keine strenge Verknüpfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht und Tarifbindung. Insoweit leisten diese Vorschläge nur sehr bedingt einen Beitrag zur Stärkung der Tarifautonomie. Der vollständige Ausschluss nicht tarifgebundener Arbeitgeber ist wohl schließlich in Anbetracht verfassungsrechtlicher Erwägungen bereits im Vorfeld der AÜG-Reform 2017 verworfen worden.²⁶¹
dd) Rechtspolitische Bewertung Alle drei Spielarten haben gemeinsam, dass sie bei der Anwendung tarifdispositiven Gesetzesrechts anhand der Tarifbindung differenzieren. Lediglich das Ausmaß der Differenzierung divergiert. Verfassungsrechtliche Wertungen beeinträchtigen sie jeweils mit unterschiedlicher Intensität, wobei Spielart 1 wohl den größten Verfassungskonflikt hervorruft, Spielart 3 dagegen den geringsten. Damit korrespondiert gleichzeitig auch ihre Effektivität. Alle drei Spielarten halten Arbeitgeber – zumindest tendenziell – grundsätzlich dazu an, eine Tarifbindung einzugehen. Fragwürdig ist allein die in § 1 Abs. 1b Satz 6 AÜG verwirklichte Spielart 3, wonach der Erstreckungstatbestand zwar vorrangig an die Tarifbindung geknüpft ist, subsidiär aber auch eine Zustimmung des Betriebsrats in einer Betriebsvereinbarung ausreicht. Hierdurch avanciert die Zustimmung des Betriebsrats zum Tarifbindungsäquivalent. Das Ziel der Förderung der Verbandsmitgliedschaft auf Arbeitgeberseite kann durch diese Spielart leicht verfehlt werden.²⁶² Grundsätzlich sind derartige Konzepte, die Anreize für das Eingehen einer Tarifbindung setzen, im Kontext einer funktionsfähigen Tarifautonomie aber begrüßenswert.²⁶³ Obwohl damit nicht tarifgebundene Arbeitgeber in jedem
Henssler, Ausschuss-Drs. 18(11)761, S. 48 f.; BRAK, Ausschuss-Drs. 18 (11)761, S. 89; DAV, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des AÜG und anderer Gesetze, RdA 2016, S. 173, 174. Für die Verfassungswidrigkeit sich aussprechend: Franzen, ZfA 2016, S. 25, 39 ff., 44 und Henssler, RdA 2017, S. 83, 98; nach Deinert, RdA 2017, S. 65, 76 und Ulber, SR 2018, S. 85, 92 ff. ist die Regelung hingegen verfassungskonform. In der Tendenz eher kritisch Ulber, SR 2018, S. 85, 90 ff.
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Fall schlechtergestellt werden, respektieren die skizzierten Spielarten gleichwohl die tarifautonome Entscheidung eines jeden Arbeitgebers. Hierin liegt auch der grundlegende Unterschied zum Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung. Eine Stärkung der Tarifautonomie gelingt, indem ihre institutionellen Voraussetzungen durch anreizsetzende Maßnahmen verbessert werden, nicht aber indem ein Tarifersatz staatlich verordnet wird, der die autonome Entscheidung der Arbeitgeber gezielt ignoriert. Indem für den Anwendungsbereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts anhand der Tarifbindung des Arbeitgebers differenziert wird, werden zudem gleichzeitig auch Anreize gesetzt, sich verbandsmitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Die autorisierten Arbeitgeberverbände können dann vom Gesetz abweichende Flächentarifverträge abschließen. Hierbei dürfte es sich nämlich um den zunächst naheliegensten Weg für Arbeitgeber handeln, um im Arbeitsverhältnis Tarifnormen zur Anwendung zu bringen, die von gesetzlich festgeschriebenen Mindeststandards abweichen. Wie ist es aber nun rechtspolitisch zu beurteilen, wenn der Arbeitgeber auf eine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband verzichtet und selbstständig über einen Firmentarifvertrag den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts eröffnet? Diese Möglichkeit ist die logische Konsequenz, wenn man tarifdispositives Gesetzesrecht „nur“ mit Tarifbindung verknüpft. Dabei darf die „Stärkung der Tarifautonomie“ nicht mit der „Stärkung der Tarifbindung“ verwechselt werden. Dieser Verwechslungsgefahr erlag der Gesetzgeber bereits im Rahmen des sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetzes.²⁶⁴ Nicht jede Form der Tarifbindung, sondern gerade die durch Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers vermittelte Bindung ist Faktor einer funktionsfähigen Tarifautonomie.²⁶⁵ Sie fungiert als Garant für das Zustandekommen von Flächentarifverträgen²⁶⁶, die den Aufgaben der Tarifautonomie in der Regel²⁶⁷ deutlich besser gerecht werden als Firmentarifverträge.²⁶⁸ Vor diesem Hintergrund soll der Versuch unternommen werden, über den bisherigen Rechts- und Diskussionsstand hinauszugehen und ein Konzept zu entwickeln, dass diese Schwäche überwindet.
Siehe dazu bereits Kapitel 4, § 12.I.4. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.II. Dazu ausführlich und m.w.N. Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 26 ff. In bestimmten Konstellationen mag ebenfalls der Firmentarifvertrag eine passende und interessengerechte Lösung darstellen. Ein Paradebeispiel für ein gut funktionierendes Firmentarifmodell ist etwa der Tarifabschluss zwischen der Volkswagen AG und IG-Metall. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.II.2.b) bb) und Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 27 f.
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b) Eigener Vorschlag: Verknüpfung der Bezugnahme mit Verbandsmitgliedschaft Es bedarf eines Konzepts, dass die Verbandsmitgliedschaft der Arbeitgeber noch konsequenter fördert. Die mitgliedschaftliche Organisation der Arbeitgeber in Verbänden ist für eine funktionsfähige Tarifautonomie eine unentbehrliche Voraussetzung. Die Verbandsmitgliedschaft ist die Grundlage für den Abschluss idealtypisch bevorzugter Flächentarifverträge.²⁶⁹ Daher wird vorgeschlagen, den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts unmittelbar von der Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband abhängig zu machen. Die Erstreckungstatbestände bzw. die arbeitsvertragliche Bezugnahme muss dafür mit der Verbandsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung verknüpft werden. Vor diesem Hintergrund bietet sich für die Gestaltung tarifdispositiven Gesetzesrechts folgende Formulierung an: „Abweichende Regelungen können durch Verbandstarifvertrag vereinbart werden. Die nach Satz … vom Gesetz abweichenden Tarifnormen können für die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, übernommen werden, wenn der Arbeitgeber vollmitgliedschaftlich im tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband organisiert ist. Die Bezugnahme für nicht vollmitgliedschaftlich organisierte Arbeitgeber ist nach Satz … nur ausgeschlossen, soweit die vom Gesetz abweichende Tarifnorm für den Arbeitnehmer ungünstiger ist.“
Diese Regelungen wird den verschiedenen Anforderungen, die an die tarifdispositive Gestaltung von Gesetzen gestellt werden, gerecht: Zum einen wird auf diese Weise das skizzierte Trittbrettfahrerproblem auf Arbeitgeberseite gelöst. Voraussetzung für eine vom Gesetz abweichende Regelung, ist der Abschluss eines Verbandstarifvertrags. Eine Abweichung qua Firmentarifvertrag ist insoweit ausgeschlossen. Damit fallen zunächst nur Arbeitgeber, die Mitglied des tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverbands sind, in den Anwendungsbereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts. Der nächste Satz regelt die Modalitäten des Erstreckungstatbestands, woraus sich die Voraussetzungen einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme ergeben („übernommen werden“). Danach können die abweichenden Tarifnormen für die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, nur dann übernommen werden, wenn der Arbeitgeber vollmitgliedschaftlich im tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband organisiert ist. Auf diese Weise wird zunächst verhindert, dass die nicht förderungswürdige²⁷⁰ OT-Mitgliedschaft den Anwen-
Vgl. Greiner, NZA 2018, S. 563, 564. Siehe dazu bereits Kapitel 4, § 11.II.5.d).
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dungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts eröffnet. Indem die wirksame arbeitsvertragliche Bezugnahme von der „voll“-mitgliedschaftlichen Organisation im Arbeitgeberverband abhängt, werden OT-Mitglieder gezielt ausgeschlossen. Zum anderen verhindert die vorgeschlagene Regelung, dass nur gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer die negativen Folgen einer vom Gesetz abweichenden Tarifnorm treffen. Für Arbeitgeber die vollmitgliedschaftlich im tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband organisiert sind, bleibt die Bezugnahmemöglichkeit eröffnet. Auf diese Weise können auch die nicht organisierten Arbeitnehmer erfasst werden. Im Umkehrschluss folgt daraus aber, dass die arbeitsvertragliche Bezugnahme dann ausgeschlossen ist, wenn der Arbeitgeber nicht vollmitgliedschaftlich im tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband organisiert ist. Das setzt Anreize zur Organisation im Arbeitgeberverband. Darüber hinaus enthält der letzte Satz der vorgeschlagenen Regelung eine Relativierung der nur beschränkten Erstreckungsmöglichkeit. Danach ist die arbeitsvertragliche Bezugnahme für nicht vollmitgliedschaftlich organisierte Arbeitgeber nur ausgeschlossen, soweit die vom Gesetz abweichende Tarifnorm für den Arbeitnehmer ungünstiger ist.²⁷¹ E contrario folgt daraus wiederum, dass die Erstreckung vom Gesetz abweichender Verbandstarifnormen qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme immer dann möglich ist, wenn die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer nicht verschlechtert, sondern lediglich modifiziert werden. Nicht verbandsmitgliedschaftlich organisierte Arbeitgeber werden damit nicht vollends vom Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts ausgeschlossen. Damit sollen die mit der vorgeschlagenen Regelung hervorgerufenen Verfassungskonflikte etwas entschärft werden. Zur Konkretisierung des Begriffs „ungünstig“ kann dabei auf die vom BAG entwickelte Dogmatik zum Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips zurückgegriffen werden.²⁷²
4. Verfassungsrechtliche Grenzen Zur Gestaltung tarifdispositiven Gesetzesrechts de lege ferenda empfiehlt sich vor dem Hintergrund der vorstehenden rechtspolitischen Bewertung eine Verknüpfung mit der Tarifbindung nach den Spielarten 1 oder 2. Will der Gesetzgeber aber – wie oben empfohlen – noch einen Schritt weitergehen, um die Arbeitgeberverbände unmittelbar zu stärken, erscheint die Verknüpfung von tarifdispo-
Diese Regelung berücksichtigt insoweit allerdings nicht den Fall, dass für die Arbeitnehmer eine besonders günstige Kompensation vereinbart wurde. Siehe etwa BAG, 29.08. 2001 (4 AZR 337/00), NZA 2002, S. 1346, 1347; siehe hierzu weiterführend jeweils m.w.N. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 39 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 596 ff.
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sitivem Gesetzesrecht mit dem Merkmal der Verbandsmitgliedschaft als Tatbestandsvoraussetzung der effektivste²⁷³ Weg. Diese Variante ruft allerdings noch größere Grundrechtskonflikte hervor als die (bloße) Verknüpfung mit Tarifbindung. Hieran anknüpfend sollen daher die verfassungsrechtlichen Grenzen für derartige Gestaltungsempfehlungen ausgelotet werden. Dabei werden verschiedene gegenläufige Grundrechtspositionen der Arbeitgeber auf den Plan gerufen:
a) Negative Koalitionsfreiheit Zunächst können sich Arbeitgeber auf die negative Koalitionsfreiheit berufen. Sie schützt grundsätzlich davor, nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbands werden zu müssen.²⁷⁴ Ein Eingriff in diesen Gewährleistungsbereich liegt dann vor, wenn ein unverhältnismäßiger Beitrittsdruck auf nicht verbandsmitgliedschaftlich organisierte Arbeitgeber ausgeübt wird.²⁷⁵ Nach der Rechtsprechung des BVerfG begründen allerdings bloße Anreize noch keinen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit.²⁷⁶ Ebensowenig existiert ein Anspruch darauf, von etwaigen Nachteilen verschont zu bleiben, die sich daraus ergeben, dass ein Arbeitgeber nicht verbansmitgliedschaftlich organisiert bzw. nicht tarifgebunden ist.²⁷⁷
aa) Kein Eingriff bei Verknüpfung mit Tarifbindung Kein Eingriff in den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber liegt vor, wenn man den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts auf tarifgebundene Arbeitgeber beschränkt (Spielarten 1– 3).²⁷⁸ Arbeitgeber können nach diesem Konzept nämlich auch vom tarifdispositiven Gesetzesrecht Gebrauch machen, indem sie Firmentarifverträge abschließen. Auf eine Verbandsmitgliedschaft kommt es nicht an. Insofern liegt die Annahme fern,
Vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 90. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), BVerfGE 31, S. 297, 302; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 68. BAG 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1393 Rn. 45 ff.; siehe zu den Kriterien der Druckbestimmung im Einzelnen bereits Kapitel 4, § 11.I.4.a) bb). BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 45. Deinert, RdA 2017, S. 65, 76 f.; Ulber, SR 2018, S. 85, 90; vgl. auch bereits Gamillscheg, NZA 2005, S. 146, 148. Deinert, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, K 40; Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Greiner, ZTR 2018, S. 628, 631 ff.; Ulber, SR 2018, S. 85, 92; offenbar a.A. Henssler, RdA 2017, S. 83, 99; Franzen, ZfA 2016, S. 25, 40.
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dass derartige Konzepte einen Beitrittsdruck auf Arbeitgeber in einem Maße erzeugen, dass von einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit ausgegangen werden kann. Es werden allein Anreize für nicht tarifgebundene Arbeitgeber gesetzt, eine Tarifbindung einzugehen. Auch hierin kann allerdings kein verfassungsrechtlich relevanter Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit gesehen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG schützt die negative Koaitionsfreiheit nämlich gerade nicht vor Anreizen zur Begründung einer Tarifbindung.²⁷⁹
bb) Eingriff bei Verknüpfung mit Verbandsmitgliedschaft Anders liegen die Dinge hingegen, wenn man den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts unmittelbar mit dem Tatbestandsmerkmal der Verbandsmitgliedschaft verknüpft, indem man eine Abweichung von gesetzlichen Mindeststandards nur durch den Abschluss von Verbands- bzw. Flächentarifverträgen zulässt. Der Firmentarifvertrag steht nicht organisierten Arbeitgebern nach diesem Konzept als verbandsmitgliedschaftsunabhängige Ausweichmöglichkeit nicht zur Verfügung. Ebenso ist der Erstreckungstatbestand mit der Tatbestandsvoraussetzung der Verbandsmitgliedschaft verknüpft, sodass auch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme in diesem Fall nicht weiterhilft. Hierdurch wird ein Druck auf nicht organisierte Arbeitgeber ausgeübt, sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen, um über den Abschluss eines Flächentarifvertrags von tarifdispositivem Gesetzesrecht Gebrauch machen zu können. Damit wird ein verfassungsrechtlicher Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber vorgenommen, der rechtfertigungsbedürftig ist.
cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Anders als bei der Verknüfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht mit Tarifbindung bedarf es im Hinblick auf das Merkmal der Verbandsmitgliedschaft für die Verfassungsmäßigkeit zusätzlichen Begründungsaufwand. Entscheidend ist demnach, ob das vorgeschlagene Konzept zur Gestaltung von tarifdispositivem Gesetzesrecht de lege ferenda auch verhältnismäßig ist. Nach der Rechtsprechung des BVerfG verkörpern gesetzliche Anreize zur Begründung von Tarifbindung und Verbandsmitgliedschaft ein grundsätzlich legitimes Ziel des Gesetzesgebers.²⁸⁰ Siehe vor allem BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; vgl. auch BVerfG, 11.07. 2007 (1 BvL 4/00), NJW 2007, S. 51, 53 Rn. 68 und BVerfG 29.12. 2004 (1 BvR 2582/03 u. a.), NZA 2005, S. 153, 154. BVerfG, 11.07. 2006 (1 BvL 4/00), NZA 2007, S. 42, 45.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Derartige Maßnahmen stärken die institutionellen Voraussetzungen der in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie.²⁸¹ Damit stehen sich zwei verfassungsrechtlich geschützte Wertungen gegenüber: negative Koalitionsfreiheit und Stärkung der Tarifbindung. Die Verhältnismäßigkeit des vorgeschlagenen Konzepts hängt insofern davon ab, ob beide Verfassungswerte zu einem schonenden Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz gebracht werden.²⁸²
(1) Geeignetheit und Erforderlichkeit Der Gesetzgeber hat nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einen weiten Gesaltungsspielraum.²⁸³ Innerhalb dieses Bereichs kann er im Rahmen der Geeignetheit und Erforderlichkeit der forcierten Maßnahme grundsätzlich weitestgehend frei entscheiden. Die (verfassungs‐)gerichtliche Kontrolldichte ist dabei deutlich abgesenkt.²⁸⁴ Ob das vorgeschlagene Konzept der Verknüpfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht und Verbandsmitgliedschaft demnach (auf der Ebene der Geeignetheit) „tatsächlich“ dazu führen wird, dass Arbeitgeber sich wieder vermehrt organisieren, ist vor diesem Hintergrund nicht entscheidend. Diese Frage fällt vielmehr in den Bereich der Einschätzungsprärogative und entzieht sich damit weitestgehend einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Insofern fördert das vorgeschlagene Konzept das intendierte Ziel, die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zu stärken. Ebenso sind mildere Eingriffe in die negative Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber, die gleichsam effektiv das beschriebene Ziel fördern, im Kontext der skizzierten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nicht ersichtlich.²⁸⁵
Siehe dazu auch Greiner, NZA 2018, S. 563, 565; Greiner, ZTR 2018, S. 628, 632 und Ulber, SR 2018, S. 85, 90. Siehe nur BVerfG, 25.02.1975 (1 BvF 1/74), NJW 1975, S. 573, 576; dazu auch m.w.N. ErfK/ Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn. 49. BVerfG, 03.04. 2001 (1 BvL 32/97), NZA 2001, S. 777, 779; BVerfG, 06.10.1987 (1 BvR 1086/82 u. a.), NJW 1988, S. 1195; zuletzt auch BVerfG, 11.07. 2017 (1 BvR 1571/15 u. a.), NZA 2017, S. 915, 929 Rn. 157. Ulber, NZA 2016, S. 619. Vgl. zumindest für die Verknüpfung mit Tarifbindung Ulber, SR 2018, S. 85, 93.
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(2) Angemessenheit Angemessen ist das vorgeschlagene Regelungskonzept zur Gestaltung von tarifdispositivem Gesetzesrecht dann, wenn die negative Koalitionsfreiheit als gegenläufiger Verfassungswert in einer Weise Berücksichtigung findet, dass sie – gemessen am Ziel der Förderung der Verbandsmitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden – zur maximalen Entfaltung gelangt. Auch auf der Ebene der Angemessenheit – insbesondere bei der Gewichtung der gegenüberstehenden Verfassungswerte – räumt das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Bewertungsspielraum ein, wonach ein Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nur bei evidenter Unangemessenheit vorliegt.²⁸⁶ Gegen eine solche Annahme spricht, dass die vorgeschlagene Regelung Beschränkungen in mehrfacher Hinsicht enthält, in denen die negative Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber ihren unmittelbaren Ausdruck findet. Zum einen ist tarifdispositives Gesetzesrecht in seiner Wirkungsweise begrenzt. Einen effektiven Anreiz zur Mitgliedschaftsförderung bewirkt tarifdispositives Gesetzesrecht als „Mosaikstück“, das nur Bestandteil eines vollständig abgestimmten Tarifautonomiestärkungsgesetzes sein kann, erst in Zusammenwirken mit anderen Maßnahmen. Tarifdispositives Gesetzesrecht muss zudem im Kontext sämtlicher für das Arbeitsverhältnis relevanter Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betrachtet werden. Dabei wird es vom Gesetzgeber nur ganz gezielt eingesetzt. Die meisten gesetzlichen Vorschriften, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen regulieren, sind nicht tarifdispositiv ausgestaltet. In diesem Gesamtzusammenhang erweist sich die Einschränkung für nicht organisierte Arbeitgeber eher als marginal.²⁸⁷ Zum anderen enthält das vorgeschlagene Regelungskonzept eine weitere Selbstbeschränkung, in der sich die Achtung vor der negativen Koalitionsfreiheit nicht organisierter Arbeitgeber ausdrückt: Der Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts ist nur insoweit für organisierte Arbeitgeber reserviert, als dass eine Tarifregelung Gegenstand ist, die zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen auf Arbeitnehmerseite führt. Der vorgesehene Erstreckungstatbestand ist nämlich auch für nicht organisierte Arbeitgeber geöffnet, soweit es um Abweichungen von gesetzlichen Mindeststandards geht, die nicht verschlechternd, sondern lediglich modifizierend wirken. Der Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts kann in diesem Fall qua arbeitsvertraglicher Bezugnahme eröffnet werden. Ferner muss berücksichtigt werden, dass die Differenzierung nach der Verbandszugehörigkeit der tarifge BVerfG, 10.04.1997 (2 BvL 45/92), BVerfGE 96, S. 10, 23; vgl. BVerfG, 24.05.1977 (2 BvR 988/75), NJW 1977, S. 1489, 1490; siehe dazu auch m.w.N. Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rn. 117 ff. Vgl. in diese Richtung für die Verknüpfung tarifdispositiven Gesetzesrechts mit Tarifbindung argumentierend Ulber, SR 2018, S. 85, 94.
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setzliche Normalfall ist, der seinen unmittelbaren Ausdruck in § 4 Abs. 1 TVG findet.²⁸⁸ Die Erstreckungstatbestände, die – im Falle der vorgeschlagenen Regelung punktuell – eine arbeitsvertragliche Bezugnahme vom Gesetz abweichender Tarifnormen ermöglicht, ist vor diesem Hintergrund eher als Ausnahme zu verstehen.²⁸⁹ Dieser im Ergebnis eher marginalen Beeinträchtigung ist schließlich das mit der vorgeschlagenen Regelung verbundene Interesse an einem hohen verbandsmitgliedschaftlichen Organisationsgrad auf Arbeitgeberseite gegenüberzustellen. Die Nachteile, die nicht organisierte Arbeitgeber im Hinblick auf ihre negative Koalitionsfreiheit erleiden, fallen vor diesem Hintergrund nicht so stark ins Gewicht. Die Verbandsmitgliedschaft auf Arbeitgeberseite ist gerade deswegen im Sinne einer funktionsfähigen Tarifautonomie so förderungswürdig, weil sie der Garant für den Abschluss von Flächentarifverträgen ist.²⁹⁰ In idealtypischer Betrachtungsweise werden sie den der Tarifautonomie zugeschriebenen Funktionen besser gerecht.²⁹¹ Die Förderung der Verbandsmitgliedschaft auf Arbeitgeberseite erscheint umso gebotener, wenn man bedenkt, dass die Erosion von Verbandsmitgliedschaft und Tarifbindung auf Arbeitgeberseite zunehmend voranschreitet.²⁹² Angesichts der hohen gesellschaftlichen Bedeutung einer funktionsfähigen Tarifautonomie erscheint es daher insgesamt angemessen, wenn der Gesetzgeber ein Regelungskonzept für tarifdispositives Gesetzesrecht implementiert, das – in der vorgeschlagenen Weise – gezielt Anreize zur Organisation in Arbeitgeberverbänden setzt.
b) Berufs- bzw. Unternehmensfreiheit und allgemeiner Gleichheitssatz Als gegenläufige Wertungen sind ferner die Berufs- bzw. Unternehmensfreiheit sowie der allgemeine Gleichheitssatz denkbar. In jeder gesetzlichen Besserstellung verbandsmitgliedschaftlich organisierter Arbeitgeber kann eine Berufsausübungsregelung i.S.d. Art. 12 Abs. 1 GG erblickt werden.²⁹³ Regelungen, die die Berufausübungsfreiheit betreffen, zählen allerdings zu den Beeinträchtigungen mit geringerer Intenstität und werden demzufolge nach der sogenannten Drei-
Vgl. Creutzfeld, AuR 2019, S. 354, 357, der im Zusammenhang mit der Regelung in § 4 Abs. 1 TVG richtigerweise von einer „gesetzlichen Differenzierungsklauel“ spricht. Ulber, SR 2018, S. 85, 94. Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 27 ff. Siehe dazu bereits Kapitel 3, § 8.II.2.b) bb) und Stoppelmann, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit von Arbeitgeberverbänden, S. 27 f. Siehe dazu bereits Kapitel 2, § 5.IV. Greiner, NZA 2018, S. 563, 565.
§ 16 Differenzierung auf Arbeitgeberseite und tarifdispositives Gesetzesrecht
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stufenlehre²⁹⁴ des BVerfG der 1. Stufe zugeordnet.²⁹⁵ Wegen der geringen Eingriffsintensität gelingt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung bereits dann, wenn das vorgeschlagene Regelungskonzept zur Gestaltung tarifdispositiven Gesetzesrechts de lege ferenda auf Grundlage vernünftiger Allgemeinwohlerwägungen zweckmäßig erscheint.²⁹⁶ Ebenso niedrigschwellig sind die Rechtfertigungsmaßstäbe des in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten allgemeinen Gleichheitssatzes. Zwar steht außer Frage, dass die forcierte Verknüpfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht mit dem Merkmal der Verbandsmitgliedschaft dazu führt, dass nicht organisierte Arbeitgeber gegenüber organisierten ungleich behandelt werden.²⁹⁷ Hierbei ist allerdings allein der (gelockerte) Rechtfertigungsmaßstab der Evidenzkontrolle²⁹⁸ maßgeblich.²⁹⁹ Der intensivere Kontrollmaßstab der „neuen Formel“ findet nach der Rechtsprechung des BVerfG nämlich vornehmlich bei solchen Ungleichbehandlungen Anwendung, die an ein personenbezogenes Merkmal des Benachteiligten anknüpfen.³⁰⁰ Entscheidend ist, dass der Benachteiligte den begünstigenden Tatbestand nicht durch eigenes Verhalten erfüllen kann. Hier kann der diskriminierte nicht organisierte Arbeitgeber ganz einfach den begünstigenden Tatbestand erfüllen und den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrecht eröffnen, indem er einem Arbeitgeberverband beitritt. Er kann damit einer drohenden Diskriminierung durch eigenes Verhalten entgegenwirken. Damit ist allein eine verhaltensbezogene Ungleichbehandlung gegenständlich, für die nach der Rechtsprechung des BVerfG der Maßstab der Willkürformel zugrunde zu legen ist. Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ist danach nur dann verletzt, „wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt.“³⁰¹ Resümiert man die Anforderungen die zur Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit und des allgemeinen Gleichheitssatzes erforderlich sind, so sind diese weitaus geringer als für die
BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035. BeckOK GG/Ruffert, GG, Art. 12 Rn. 94. BVerfG, 02.03. 2010 (1 BvR 256/08 u. a.), NJW 2010, S. 833, 850 Rn. 298; BVerfG, 11.06.1958 (1 BvR 596/56), NJW 1958, S. 1035 f. Franzen, ZfA 2016, S. 25, 39. BVerfG, 05.10.1993 (1 BvL 34/81), NJW 1994, S. 1465, 1466; BVerfG, 19.10.1982 (1 BvL 39/80), NJW 1983, S. 621 f.; BVerfG, 23.10.1951 (2 BVG 1/51), NJW 1951, S. 877, 878 f. Offenbar a.A. Franzen, ZfA 2016, S. 25, 41. Siehe etwa BVerfG, 02.12. 2003 (1 BvR 1748/99 u. a.), BVerfGE 110, S. 274, 293; vgl. im Übrigen: BVerfG, 29.11.1989 (1 BvR 1402/87), NJW 1990, S. 2053, 2054; BVerfG, 07.10.1980 (1 BvL 50, 89/79), NJW 1981, S. 271 f. Siehe vor allem BVerfG, 21.11. 2000 (1 BvR 2307/94 u. a.), BVerfGE 102, S. 254, 302; vgl. auch BVerfG, 27.02. 2007 (1 BvR 1982/01), BVerfGE 117, S. 302, 311.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Rechtfertigung des skizzierten Eingriffs in die negative Koalitionsfreiheit. Damit streitet die Förderung der Verbandsmitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Tarifautonomie erst recht für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung.³⁰²
III. Ergebnis Dem Gesetzgeber ist zu empfehlen, tarifdispositives Gesetzesrecht in einer Weise in Stellung zu bringen, dass für Arbeitgeber Anreize gesetzt werden, sich wieder zunehmend verbandsmitgliedschaftlich zu organisieren. Hierbei sind zunächst die bereits diskutierten Spielarten 1 und 2 geeignet, den Anwendungsbereich tarifdispositiven Gesetzesrechts mit Tarifbindung zu verknüpfen. Noch effektiver ist es dagegen, wenn der Gesetzgeber tarifdispositives Gesetzesrecht unmittelbar mit dem Merkmal der Verbandsmitgliedschaft verbindet. Weder den bereits diskutierten Konzepten, die tarifdispositives Gesetzesrecht mit Tarifbindung verknüpfen, noch der vorgeschlagenen Verknüpfung unmittelbar mit dem Merkmal der Verbandsmitgliedschaft stehen durchschlagende verfassungsrechtliche Bedenken entgegen.
§ 17 Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung? Will man die Arbeitgeberverbände stärken und die Verbandsmitgliedschaft fördern, darf man nicht nur darüber nachdenken, Anreize zu setzen, sondern muss gleichfalls darum bemüht sein, bereits bestehende Fehlanreize zu beseitigen.³⁰³ In diesem Zusammenhang wird häufig darauf hingewiesen, dass die einmal eingegangene mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung nicht ohne weiteres abgestreift werden könne.³⁰⁴ In einer ersten Phase treffe den Arbeitgeber, der seine Mitgliedschaft zum tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband aufkündigt, die Nachbindung an den Tarifvertrag gem. § 3 Abs. 3 TVG, wonach die Tarifbin-
So im Ergebnis zumindest für eine Verknüpfung von tarifdispositivem Gesetzesrecht mit Tarifbindung Greiner, NZA 2018, S. 563, 565 und Ulber, SR 2018, S. 85, 94 f. Dazu umfassend Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 50 ff. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 22; Höpfner, NJW 2010, S. 2173; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 756 ff.; vgl. hierzu vor allem auch Melms, NZA 2017, S. 365, 367 ff. und Willemsen/Mehrens, NZA 2010, S. 307 ff.
§ 17 Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung?
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dung erst mit Ablauf des Tarifvertrags endet.³⁰⁵ Aber auch danach werde der Arbeitgeber – in einer zweiten Phase – über das Institut der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG daran gehindert, sich der Anwendung des Tarifvertrags zu entziehen. Danach wirken die Rechtsnormen eines abgelaufenen Tarifvertrags nämlich weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Angesichts der hohen Anforderungen an eine wirksame Änderungskündigung sei es für Arbeitgeber in der Praxis häufig schwierig, eine „andere Abmachung“ zu erreichen.³⁰⁶ Beklagt wird dabei vor allem, dass Arbeitgeber auf die Dauer von Nachbindung und Nachwirkung keinen Einfluss nehmen könne.³⁰⁷ Die Wirkungsweise der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG führe damit zu einer kostspieligen „Ewigkeitsbindung“³⁰⁸ der Arbeitgeber an den einmal durch Verbandsmitgliedschaft legitimierten Tarifvertrag. Daher verwundere es nicht, dass sich Arbeitgeber zunehmend gar nicht erst darauf einlassen, eine Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband einzugehen. Kritiker charakterisieren diese Verhaltensweise der Arbeitgeber als „Tarifflucht“.³⁰⁹ Sofern der Vorwurf der Ewigkeitsbindung aber – zumindest ansatzweise – berechtigt ist, hat eine Reform von Nachbindung und Nachwirkung grundsätzlich das Potential, etwaige Fehlanreize, die der verbandsmitgliedschaftlichen Organisation von Arbeitgebern entgegenstehen, zu vermindern. Allerdings muss zunächst hinterfragt werden, ob der vielfach erhobene Vorwurf einer „Ewigkeitsbindung“ tatsächlich berechtigt ist. Hierfür sollen die §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG zunächst eine an der Rechtsprechung des BAG orientierte dogmatische Aufarbeitung erfahren. Sie muss vor dem Hintergrund des arbeitgeberseitigen Interesses an mehr Flexibilität einer Bewertung zugeführt werden.
I. Ewigkeitsbindung an Tarifverträge? Im Fokus steht die Frage, welche rechtlichen Hürden das TVG mit den beiden Instituten der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) für
Siehe nur BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591, 593 Rn. 25. Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2174. Höpfner, NJW 2010, S. 2173. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 22; vgl. Henssler, FS Picker, S. 987, 993; Höpfner, NJW 2010, S. 2173; vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 756 ff., 766 („endlose Nachwirkung“); Melms, NZA 2017, S. 365, 367; eher distanzierend zum Begriff der Ewigkeits- bzw. Endlosbindung Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 50 („angeblich“). Deinert/Walser, AuR 2015, S. 386, 387; Deinert/Walser, Tarifvertragliche Bindung der Arbeitgeber, S. 96 ff.; Rose, Tarifautonomie: Perspektiven und Alternativen, S. 181; vgl. Ulber, SR 2018, S. 85, 87; Walser, SR 2017, S. 41 ff.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
Arbeitgeber bereithält, sich ihrer Bindung an Flächentarifverträge durch Verbandsaustritt zu entledigen. Tritt ein Arbeitgeber einem Arbeitgeberverband bei und schließt dieser mit der zuständigen Gewerkschaft einen Flächentarifvertrag, besteht zunächst eine Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG. Hierbei handelt es sich um den Normalfall der Tarifbindung, die ihre Legitimation in der vom Arbeitgeber privatautonom getroffenen Beitrittsentscheidung findet.³¹⁰ Kündigt der Arbeitgeber nunmehr während eines laufenden Tarifvertrags seine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, um sich der Bindung an den Flächentarifvertrag zu entledigen, müssen zwei relevante Phasen unterschieden werden:
1. Phase 1: Die Nachbindung an Tarifverträge, § 3 Abs. 3 TVG Zunächst ordnet § 3 Abs. 3 TVG an, dass die Tarifgebundenheit bestehen bleibt, bis der Tarifvertrag endet. Die Nachbindung betrifft Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen. Damit ändert grundsätzlich auch der Verbandsaustritt eines Arbeitgebers während eines noch laufenden Tarifvertrags grundsätzlich nichts an seiner Tarifbindung.³¹¹ Der Verbandsaustritt des Arbeitgebers ist gewissermaßen der Hauptanwendungsfall des § 3 Abs. 3 TVG.³¹² Mit der in § 3 Abs. 3 TVG angeordneten Nachbindung soll verhindert werden, dass die Anwendung eines missliebigen Tarifvertrags auf ganz einfachem Weg, nämlich durch Verbandsaustritt abgewendet werden kann („Tarifflucht“).³¹³ Insoweit stärkt diese Regelung den Grundsatz pacta sunt servanda und sichert die Tarifvertragstreue der tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.³¹⁴
a) Reichweite und Grenzen der Nachbindung Das BAG war in seiner gesamten Rechtsprechungshistorie stets darum bemüht, die Reichweite und Grenzen der Nachbindung an Tarifverträge adäquat zu ver-
BAG, 27.05. 2004 (6 AZR 129/03), BAGE 111, S. 8, 15; BAG, 30.08. 2000 (4 AZR 563/99), BAGE 95, S. 277, 283; BAG, 25.02.1998 (7 AZR 641/96), BAGE 88, S. 118, 123; vgl. BAG, 15.04. 2015 (4 AZR 796/13), NZA 2015, S. 1388, 1391; vgl. auch Creutzfeld, AuR 2019, S. 354, 357, der im Zusammenhang mit der Regelung in § 4 Abs. 1 TVG richtigerweise von einer „gesetzlichen Differenzierungsklauel“ spricht. BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591, 593 Rn. 25; BAG, 04.04. 2001 (4 AZR 237/00), NZA 2001, S. 1085, 1086: Vgl. ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 23; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, S. 169. BAG, 17.05. 2000 (4 AZR 363/99), NZA 2001, S. 453, 456; BAG, 10.12.1997 (4 AZR 247/96), NZA 1998, S. 484, 485; BAG, 15.10.1986 (4 AZR 289/85), NZA 1987, S. 246, 247. Dazu Büdenbender, NZA 2000, S. 509, 513 f.; ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 22; Rose, Tarifautonomie: Perspektiven und Alternativen, S. 182.
§ 17 Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung?
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messen. Dabei hat es einige wichtige Rechtsfragen bereits geklärt. Was die Reichweite der Nachbindung betrifft, hat das BAG zunächst klargestellt, dass auch derjenige Arbeitgeber an den Tarifvertrag gebunden bleibt, der „nur“ innerhalb des Verbands seinen Mitgliedschaftsmodus ändert und etwa in eine OTMitgliedschaft wechselt.³¹⁵ § 3 Abs. 3 TVG findet insoweit analog Anwendung.³¹⁶ Hinsichtlich der Grenzen der Nachbindung hat das BAG zum einen herausgestellt, dass Tarifverträge, die nach Beendigung der Verbandsmitgliedschaft neu abgeschlossen wurden, nicht dem Anwendungsbereich des § 3 Abs. 3 TVG unterfallen.³¹⁷ Zum anderen findet die Nachbindung keine Anwendung, wenn befristete Tarifverträge nach einem wirksamen Verbandsaustritt verlängert oder in sonstiger Weise inhaltlich geändert werden.³¹⁸ In den beiden genannten Fällen wäre ein anderes Ergebnis wohl aus verfassungsrechtlichen Gründen ohnehin kaum haltbar gewesen. Bedenkt man nämlich, dass die Nachbindung gem. § 3 Abs. 3 TVG ihre Legitimationsgrundlage im ursprünglich privatautonom gefassten Beitrittsentschluss findet,³¹⁹ verschärft jede weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs den Konflikt mit der negativen Koalitionsfreiheit. Verfassungsrechtlich geschützt ist nämlich auch der Verbandsaustritt,³²⁰ für den aber jedenfalls dann die Motivation fehlt, wenn der Arbeitgeber ohnehin an den Tarifvertrag gebunden bleibt.³²¹ Schließlich scheidet eine Nachbindung auch dann aus, wenn der Tarifvertrag insgesamt beendet wird.³²² Als Beendigungstatbestände kommen insbesondere eine Kündigung oder ein Aufhebungsvertrag in Betracht. Diese Begrenzung der Nachbindung ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut von § 3 Abs. 3 TVG: „bis der Tarifvertrag endet.“ Auf Rechtsfolgenseite ordnet § 3 Abs. 3 TVG an, dass die Tarifgebundenheit (hier: des Arbeitgebers) bestehen bleibt. Diese Art der Fortgeltung bezieht sich dabei vorrangig auf den normativen Teil des
BAG, 25.02. 2009 (4 AZR 986/07), AP TVG § 3 Nr. 40; LAG Hessen, 17.09. 2008 (9 SaGa 1442/ 08), NZA-RR 2009, S. 26. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 21; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, S. 169, 170 Fn. 8. BAG, 13.12.1995 (4 AZR 603/94), NZA 1996, S. 767, 769. BAG, 22.02. 2012 (4 AZR 8/10), AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 108, Rn. 27; vgl. BAG, 07.11. 2001 (4 AZR 703/00), NZA 2002, S. 750, 752; ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 25; BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 21; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 280. Giesen, ZfA 2016, S. 153, 161 f.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 389 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 243; Rieble, ZfA 2000, S. 5, 15 f. BVerfG, 14.06.1983 (2 BvR 488/80), NJW 1984, S. 1225; BVerfG, 20.07.1971 (1 BvR 13/69), BVerfGE 31, S. 297, 302; BAG, 18.03. 2009 (4 AZR 64/08), NZA 2009, S. 1028 ff.; Sachs/Höfling, GG, Art. 9 Rn. 68. Sich sogar für die Verfassungswidrigkeit der Handhabung von § 3 Abs. 3 TVG de lege lata aussprechend: Henssler, FS Picker, S. 987, 1004 ff.; Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2177. ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 25.
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Tarifvertrags. Die Tarifnormen wirken demzufolge auch im Nachbindungsstadium unmittelbar und zwingend i.S.d. § 4 Abs. 1 TVG.³²³ Schuldrechtliche Vereinbarungen im Tarifvertrag sind jedenfalls dann vom Anwendungsbereich der Nachbindung erfasst, soweit sie den vom Verband ausgetretenen Arbeitgeber begünstigen. So erfasst § 3 Abs. 3 TVG zugunsten des Arbeitgebers etwa die Friedenspflicht.³²⁴
b) Keine zeitliche Begrenzung de lege lata Dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG ist keine zeitliche Begrenzung zu entnehmen. Dieser Umstand hindert einige Stimmen aus dem Schrifttum allerdings nicht daran, eine zeitliche Begrenzung qua richterlicher Rechtsfortbildung praeter legem zu fordern. So wird bspw. vertreten, dass die Nachbindung bei unbefristeten, aber kündbaren Tarifverträgen nur bis zu dem auf den Austritt folgenden nächsten Kündigungstermin besteht.³²⁵ Andere wiederum plädieren dafür, die zeitliche Begrenzung aus § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB analog für den Fall der Nachbindung aus § 3 Abs. 3 TVG zur Anwendung zu bringen.³²⁶ Mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit seien derartige Einschränkungen der Nachbindungsreichweite sogar geboten.³²⁷ Das BAG hat allerdings sämtlichen Bestrebungen, die darauf ausgerichtet, die Reichweite von § 3 Abs. 3 TVG entgegen dem eindeutigen Wortlaut zu beschränken, eine klare Absage erteilt.³²⁸ Ebenso verneint es einen von der Nachbindung ausgehenden Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit.³²⁹ Eine zeitliche Begrenzung des § 3 Abs. 3 TVG auf die erste Kündigungsmöglichkeit nach dem Verbandsaustritt oder auf die Dauer eines Jahres unter Heranziehung des Rechtsgedankens von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB liefe dem Schutzzweck der Vorschrift zuwider.³³⁰ Allerdings hat der vierte Senat die Frage ausdrücklich offen
Siehe nur BAG, 06.07. 2011 (4 AZR 424/09), NZA 2012, S. 281, 284 f. Rn. 43. ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 28; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, S. 169 ff. Bauer, FS Schaub, S. 19, 24; vgl. Lieb, NZA 1994, S. 337; ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 27; Walker, ZfA 1996, S. 353, 380 f. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 24; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1555; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, S. 307, 309. Henssler, FS Picker, S. 987, 1004 ff.; vgl. Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2178. BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 57 Rn. 35 f.; auch im Schrifttum wird eine zeitliche Begrenzung von § 3 Abs. 3 TVG teilweise abgelehnt: Gamillscheg, Kollektives ArbR, Bd. 1, S. 727 f.; Büdenbender, NZA 2000, S. 509, 511 ff. BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 57 Rn. 37 f. BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 57 Rn. 36.
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gelassen, ob in unbilliger Weise festgelegte Laufzeiten im Einzelfall im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung korrigierungsbedürftig sind.³³¹
2. Phase 2: Die Nachwirkung von Tarifverträgen, § 4 Abs. 5 TVG Nachdem der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten ist und die Nachbindung mit Ablauf des Tarifvertrags endet, wird er über das Institut der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG in ein weiteres Stadium überführt.³³² In dieser zweiten Phase gelten die Rechtsnormen des abgelaufenen Tarifvertrags solange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Die Nachwirkung dient zum einen der Überbrückung des Zeitraums bis zum Abschluss eines neuen Tarifvertrags. Da die Rechtsnormen eines Tarifvertrags unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis Anwendung beanspruchen (§ 4 Abs. 1 TVG), würde diese Wirkung grundsätzlich verloren gehen, wenn der Tarifvertrag endet. Das Eintreten eines solchen Effekts wird durch das Institut der Nachwirkung verhindert (sog. Überbrückungsfunktion).³³³ Zum anderen bezweckt die Nachwirkung einen „individuellen Vertragsinhaltsschutz“.³³⁴ Gem. § 4 Abs. 5 TVG bleibt nämlich der Inhalt des Arbeitsverhältnisses bis zum Abschluss eines neuen Tarifvertrags aufrechterhalten.³³⁵ Fokussiert man allein auf die Wirkungsweise von § 4 Abs. 5 TVG muss schließlich ein zentraler Aspekt besonders hervorgehoben werden: Anders als im Stadium der Nachbindung wirken die Rechtsnormen des Tarifvertrags im Anwendungsbereich der Nachwirkung allerdings nicht mehr „zwingend“ auf das Arbeitsverhältnis ein.³³⁶ Insofern die Weitergeltung von „Rechtsnormen“ des Tarifvertrags angeordnet wird, unterliegen schuldrechtliche Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien freilich nicht der Nachwirkung.³³⁷
BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 58 Rn. 45. BAG, 16.05. 2012 (4 AZR 366/10), NZA 2013, S. 220, 222; BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 262/08), NZA 2010, S. 53, 59; BAG, 27.09. 2001 (2 AZR 236/00), NZA 2002, S. 565. BAG, 15.11. 2006 (10 AZR 665/05), NZA 2007, S. 448, 452; BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 4 Rn. 60; ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 50; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 736 ff. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 50; Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 743 f. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 50. BAG, 17.05. 2000 (4 AZR 363/99), NZA 2001, S. 453, 456 f.; BAG, 28.01.1987 (5 AZR 323/86), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 16; BAG, 29.01.1975 (4 AZR 218/74), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8. Siehe zum Gegenstand der Nachwirkung im Einzelnen ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 55 ff.
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a) „Ablauf des Tarifvertrags“ Zentrale Tatbestandsvoraussetzung der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG ist der „Ablauf des Tarifvertrags“. Abgelaufen ist ein Tarifvertrag zunächst dann, wenn er einseitig oder zweiseitig von den tarifvertragsschließenden Parteien wirksam beendet wurde. In diesem Zusammenhang kommen vor allem Kündigung, Zeitablauf (bei befristeten Tarifverträgen) sowie Aufhebungsvertrag in Betracht.³³⁸ Ferner handelt es sich auch dann um einen „Ablauf des Tarifvertrags“, wenn eine Voraussetzung der Tarifgeltung entfallen ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis aus dem (räumlichen, personellen oder sachlichen) Geltungsbereich des Tarifvertrags „herausgewachsen“³³⁹ ist. Hierbei ist nicht die Nachbindung, sondern unmittelbar die Nachwirkung anwendbar.³⁴⁰ Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist § 4 Abs. 5 TVG nämlich im Wege der Analogie auf sämtliche Fallgestaltungen anzuwenden, in denen die Tarifbindung entfallen ist.³⁴¹ Ein weiteres Beispiel für den Wegfall einer Tarifgeltungsvoraussetzung ist der Betriebsinhaberwechsel auf der Grundlage eines Hoheitsakts. Dieser Fall wird nach der Rechtsprechung des BAG nicht von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfasst, sondern unterliegt dem Anwendungsbereich der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG.³⁴² Schließlich folgert das BAG aus der Tatbestandsvoraussetzung „nach Ablauf des Tarifvertrags“ richtigerweise, dass die Nachwirkung nicht auf nach Tarifende begründete Arbeitsverhältnisse Anwendung findet.³⁴³
b) „Andere Abmachung“ Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrags weiter, bis sie durch eine „andere Abmachung“ ersetzt werden. Dieses Tatbestandsmerkmal bietet dem Arbeitgeber damit die Möglichkeit, auf den zeitlichen Umfang der Nachwirkung Einfluss zu nehmen. Angesichts der Überbrückungsfunktion der Nachwirkung muss der Begriff der „anderen Abmachung“ denkbar weit ausgelegt
ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 60. Vgl. Henssler, FS Picker, S. 987, 990. BAG, 10.12.1997 (4 AZR 193/97), NZA 1998, S. 488, 490; siehe dazu auch Dieterich/Hanau/ Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 75. BAG, 13.07.1994 (4 AZR 555/93), NZA 1995, S. 479, 480 f.; BAG, 02.12.1992 (4 AZR 277/92), NZA 1993, S. 655, 658; BAG, 18.03.1992 (4 AZR 339/91), NZA 1992, S. 700, 701. BAG, 13.07.1994 (4 AZR 555/93), NZA 1995, S. 479. BAG, 02.03. 2004 (1 AZR 271/03), NZA 2004, S. 852, 854; BAG, 22.07.1998 (4 AZR 403/97), NZA 1998, S. 1287, 1288.
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werden.³⁴⁴ Daher sind nach der Rechtsprechung des BAG grundsätzlich drei Formen anerkannt, durch die ein nachwirkender Tarifvertrag abgelöst werden kann: Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung und arbeitsvertragliche Regelungen.³⁴⁵ Da den gegenwärtigen Überlegungen das Szenario zugrunde liegt, dass ein Arbeitgeber gerade deshalb aus dem Arbeitgeberverband austritt, um sich einer (womöglich sogar besonders kostspieligen) Tarifbindung zu entledigen, scheidet der Abschluss eines ablösenden Tarifvertrags als adäquates Gestaltungsinstrument von vornherein aus. Demzufolge muss der Fokus auf Betriebsvereinbarungen und arbeitsvertraglichen Regelungen gerichtet werden:
aa) Betriebsvereinbarung Betriebsvereinbarungen kommen als taugliches Ablösungsinstrument in Betracht, soweit die zu regelnde Materie von der Regelungskompetenz der Betriebsparteien gedeckt ist. Hierbei sind vor allem die Grenzen der in § 77 Abs. 3 BetrVG geregelten Sperrwirkung zu beachten.³⁴⁶ Danach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dieses Konkurrenzverhältnis zugunsten des Tarifvertrags gilt grundsätzlich auch im Nachwirkungsstadium.³⁴⁷ Das gilt allerdings dann nicht, wenn ein Tarifvertrag soziale Angelegenheiten i.S.d. § 87 Abs. 1 BetrVG zum Gegenstand hat. In diesem Fall findet die Sperrwirkung im Nachwirkungsstadium keine Anwendung. Nach der Rechtsprechung des BAG setzt § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nämlich die – im Nachwirkungsstadium nicht mehr vorhandene – zwingende Wirkung des Tarifvertrags voraus.³⁴⁸ Soweit der Tarifvertrag demnach soziale Angelegenheiten i.S.d. § 87 Abs. 1 BetrVG regelt, kann eine Ablösung grundsätzlich über den wirksamen Abschluss einer Betriebsvereinbarung erfolgen.
BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 4 Rn. 66. Vgl. BAG, 24.02.1987 (1 ABR 18/85), NZA 1987, 639; siehe auch Rose, Tarifautonomie: Perspektiven und Alternativen, S. 181. Dazu Walker, ZfA 1996, S. 353, 356 ff., 379 f. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 62. BAG, 27.11. 2002 (4 AZR 660/01), AP BetrVG 1972 § 87 Tarifvorrang Nr. 34; BAG, 03.12.1991 (GS 2/90), NZA 1992, 749, 752 f.; BAG, 24.02.1987 (1 ABR 18/85), NZA 1987, 639, 642. Siehe aber zum Streitstand Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 848.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
bb) Arbeitsvertragliche Regelung Ferner können auch sämtliche arbeitsvertragliche Regelungen als Ablösungsinstrument i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG fungieren.³⁴⁹ Allerdings besteht diese Möglichkeit nur für Individualnormen, nicht aber für betriebsverfassungsrechtliche Normen, da dem einzelnen Arbeitnehmer nämlich insoweit die Regelungskompetenz fehlt.³⁵⁰ Obwohl dem Wortlaut zufolge von einer „anderen Abmachung“ die Rede ist, kommt neben einem zweiseitigen Änderungsvertrag auch eine Änderungskündigung in Betracht, um den Tarifvertrag im Nachwirkungsstadium abzulösen. Nimmt der gekündigte Arbeitnehmer das mit einer Änderungskündigung verbundene Änderungsangebot an, kommt eine die Nachwirkung beendende arbeitsvertragliche Vereinbarung allerdings nur unter der Bedingung zustande, dass sich die Änderung der Arbeitsbedingungen nach § 2 KSchG als sozial gerechtfertigt erweist.³⁵¹ Schließlich ist es auch möglich, dass schon vor Beginn des Nachwirkungsstadiums eine arbeitsvertragliche Regelung im Sinne einer „anderen Abmachung“ die Ablösung des nur nachwirkenden Tarifvertrags regelt.³⁵² Das BAG nimmt an, dass ein nachwirkender Tarifvertrag abgelöst wird, wenn „konkret und zeitnah“³⁵³ vor dem unmittelbar bevorstehenden Ablauf des Tarifvertrags eine hierauf gerichtete arbeitsvertragliche Vereinbarung getroffen werden konnte.³⁵⁴ Eines solche Regelung muss allerdings hinreichend bestimmt forumliert sein. Sie muss ihrem Regelungswillen nach unmittelbar darauf gerichtet sein, eine bestimmte Tarifnorm – angesichts des bevorstehenden Ablaufs eines Tarifvertrags und der daran anschließenden Nachwirkung – abzulösen.³⁵⁵
3. Bewertung Vor dem Hintergrund dieser dogmatischen Skizze von Nachbindung und Nachwirkung gilt es zu bewerten, ob es tatsächlich gerechtfertigt erscheint, von einer Ewigkeitsbindung an Tarifverträge zu sprechen. Das jedenfalls ist aber die rechtspolitische Voraussetzung dafür, um an die §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG rechtsgestaltend zur Stärkung der Tarifautonomie anzuknüpfen.
BAG, 28.06.1972 (4 AZR 331/71), AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 7. ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn. 63. BAG, 27.09. 2001 (2 AZR 236/00), BAGE 99, S. 167. Siehe dazu Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 856 f.; vgl. auch BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 4 Rn. 67. BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 60 Rn. 68. BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591, 595 Rn. 49; BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53; BAG, 22.10. 2008 (4 AZR 789/07), NZA 2009, S. 265, 267 Rn. 29 f. Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 856.
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a) Zur Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG Fokussiert man zunächst auf den Tatbestand der Nachwirkung, so ergibt sich ein zerklüftetes Bild: Auf der einen Seite bietet § 4 Abs. 5 TVG mit dem Merkmal der „anderen Abmachung“ die Möglichkeit, dass der Arbeitgeber selbst unmittelbar Einfluss auf den zeitlichen Rahmen der Weitergeltung des Tarifvertrags nimmt. Ihm stehen grundsätzlich zwei Gestaltungsinstrumente (Betriebsvereinbarung und arbeitsvertragliche Regelung) zur Verfügung, mithilfe derer er den nur noch nachwirkenden Tarifvertrag ablösen kann. Auf der anderen Seite muss aber erkannt werden, dass diese Möglichkeiten bei genauerer Betrachtung nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden können. Betriebsvereinbarungen können in Anbetracht der Regelungssperre aus § 77 Abs. 3 BetrVG nur begrenzt zum Einsatz kommen. Zwar stehen auf arbeitsvertraglicher Ebene Änderungsvertrag und -kündigung als grundsätzlich taugliche Ablösungsinstrumente des Arbeitgebers zur Verfügung. Einer die tariflichen Standards verschlechternden Änderungsvereinbarung werden Arbeitnehmer allerdings nicht ohne weiteres zustimmen. Überdies stellt das BAG bisweilen hohe Anforderungen an die soziale Rechtfertigung einer Änderungskündigung. Regelmäßig wird eine akute Existenzgefährdung des Unternehmens vorausgesetzt.³⁵⁶ Danach kann die Unrentabilität des Betriebs „einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu unveränderten Bedingungen entgegenstehen und ein dringendes betriebliches Erfordernis zur Änderung der Arbeitsbedingungen darstellen, wenn durch die Senkung der Personalkosten die Stilllegung des Betriebs oder die Reduzierung der Belegschaft verhindert werden kann und die Kosten durch andere Maßnahmen nicht zu senken sind.“³⁵⁷ Das sind im Ergebnis zweifelsfrei hohe Hürden, die § 4 Abs. 5 TVG an die Ablösung eines nur noch nachwirkenden Tarifvertrags stellt. Allerdings darf es dem Arbeitgeber auch nicht zu einfach gemacht werden, sich einer womöglich kostspieligen Tarifbindung zu entledigen. Dabei erscheint die wirksame Ablösung eines nachwirkenden Tarifvertrags aber alles andere als unmöglich. So hat der Arbeitgeber zumindest die Möglichkeit, sich mit den Arbeitnehmern auf eine Änderungsvereinbarung zu verständigen, indem er für die Ablösung des Tarifvertrags eine entsprechende Abfindungsvereinbarung anbietet.³⁵⁸ Für die Änderungskündigung muss zudem konstatiert werden, dass das BAG ihre Anforderungen noch nicht im Kontext der Ablösung nachwirkender Tarifverträge spezifiziert hat.³⁵⁹ Aus verfassungsrecht-
Siehe etwa BAG, 01.03. 2007 (2 AZR 580/05), NZA 2007, S. 1445, 1447 Rn. 26 und BAG, 23.06. 2005 (2 AZR 642/04), NZA 2006, S. 92, 96. BAG, 01.03. 2007 (2 AZR 580/05), NZA 2007, S. 1445, 1447 Rn. 26. Vgl. dazu Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 56. Vgl. Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 855.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
lichen Gründen könnte sich das BAG gezwungen sehen, die Anforderungen an die soziale Rechtfertigung einer Änderungskündigung abzusenken. Überdies besteht für den Arbeitgeber die Möglichkeit, vorsorgende Abreden zu treffen, mithilfe derer die Modalitäten der Weitergeltung eines Tarifvertrags nach dessen Ablauf bereits vor dem Ende des Tarifvertrags geregelt werden können. Diese Option hat das BAG dem Arbeitgeber ausdrücklich in Aussicht gestellt.³⁶⁰ Nicht zuletzt spricht gegen die Einführung einer zeitlichen Begrenzung der Nachwirkung, dass dadurch ihre Überbrückungsfunktion ausgehölt würde. Mit dem Ablauf einer befristeten Nachwirkung entstünde ein enormes Regelungsvakuum. Rechtsunsichert wäre die Folge. Regelmäßig fehlt es nämlich an alternativen Regelungen für die weitere Durchführung des Arbeitsverhältnisses, die an die Stelle des ausgelaufenen Tarifvertrags treten könnten.³⁶¹ Im Ergebnis wird daher davon abgeraten, § 4 Abs. 5 TVG zu modifizieren und die Nachwirkung mit einer zeitlichen Begrenzung zu versehen. Gerade vor dem Hintergrund der skizzierten Möglichkeiten des Arbeitgebers, Einfluss auf den zeitlichen Rahmen der Nachwirkung zu nehmen, erscheint eine derartige Gesetzesänderung nicht geboten.³⁶²
b) Zur Nachbindung gem. § 3 Abs. 3 TVG Anders liegen die Dinge hingegen, wenn man auf die Nachbindungsdogmatik fokussiert. Hier fehlt es nicht nur an einer zeitlichen Begrenzung auf Tatbestandsebene. Entgegen zahlreicher Stimmen, die im Wege der Rechtsfortbildung praeter legem eine zeitliche Begrenzung implementieren wollen,³⁶³ hat sich das BAG ausdrücklich gegen derartige Bestrebungen ausgesprochen. Insbesondere könne die Jahresfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht im Wege einer Analogie für den Fall der Nachbindung angewendet werden.³⁶⁴ Anders als im Nachwirkungsstadium fehlt es bei der Nachbindung an einem entsprechenden Äquivalent zur Ablösung qua „anderer Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG. Damit kann der Arbeitgeber – anders als bei der Nachwirkung – nicht auf den zeitlichen Rahmen der Nachbindung Einfluss nehmen.
BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53; BAG, 20.05. 2009 (4 AZR 230/08), NZA-RR 2010, S. 591, 595 Rn. 49; BAG, 22.10. 2008 (4 AZR 789/07), NZA 2009, S. 265, 267 Rn. 29 f.; dazu auch Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 856 f. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 56. So im Ergebnis auch: Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 56, der sich aber zumindest für eine zeitliche Begrenzung der Nachwirkung von Normen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG ausspricht, B 57 ff.; ebenso Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rn. 761. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 24; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1555; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, S. 307, 309. BAG, 01.07. 2009 (4 AZR 261/08), NZA 2010, S. 53, 57 Rn. 35 f.
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Er hat keine Chance sich der Tarifbindung vor Ablauf des Tarifvertrags zu entziehen. Der Arbeitgeber läuft Gefahr, eine besonders lange Zeit an den Tarifvertrag gebunden zu bleiben, obwohl er seine Verbandsmitgliedschaft bereits aufgekündigt hat. Zu einer besonders langen Nachbindungsphase dürfte es vor allem bei Mantel- und Entgeltrahmentarifverträgen kommen, da diese regelmäßig für längere Zeiträume abgeschlossen werden.³⁶⁵ Werden (Mantel‐)Tarifverträge für unbestimmte Zeit (d. h. unbefristet) geschlossen, kann die Nachbindungsphase für den Arbeitgeber nach erfolgreichem Verbandsaustritt theoretisch gesehen sogar unendlich lang sein, wenn diese nicht durch Aufhebungsvertrag oder Kündigung beendet werden. Eine derartig ausgedehnte Bindungsdauer ist aber nicht nur unvereinbar mit dem legitimationsthereotischen Ursprung der Nachbindung. Nach überwiegender richtiger Auffasung³⁶⁶ findet nämlich auch der auf Grundlage von § 3 Abs. 3 TVG Geltung besanpruchende Tarifvertrag seine Legitimation im einmal privatautonom gefassten Beitrittsentschluss.³⁶⁷ Hierdurch entsteht auch ein im Vergleich zur Nachwirkung verschärfter verfassungsrechtlicher Konflikt.³⁶⁸ Diese Gemengelage erscheint insgesamt dazu geeignet, den Arbeitgeber davon abhalten, sich überhaupt mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren.³⁶⁹ Vor diesem Hintergrund wird grundsätzlich empfohlen, die Nachbindungsphase mit einer zeitlichen Begrenzung zu versehen.
II. Vorschlag: Gesetzliche Begrenzung der Nachbindungsdauer Der Vorschlag, die Nachbindung in § 3 Abs. 3 TVG zeitlich zu begrenzen, ist nicht neu, sondern wurde im Kontext der Flexibilisierung des Tarifvertragssystem schon häufiger diskutiert.³⁷⁰ So fordern etwa die einen eine Nachbindungshöchstdauer von einem Jahr,³⁷¹ die anderen eine von zwei Jahren.³⁷² Teilweise
Konzen, NZA 1995, S. 913, 920; Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 51. BAG, 04.08.1993 (4 AZR 49/92), NZA 1994, S. 34, 35; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 243; Giesen, ZfA 2016, S. 153, 161 f., 164. Siehe hierzu bereits Kapitel 3, § 7.V.5. Sich im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit für die Verfassungswidrigkeit von § 3 Abs. 3 TVG aussprechend Henssler, FS Picker, S. 987, 1004 ff.; Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2177. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 76; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/ Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76. Für einen Überblick zum bisherigen Diskussionsstand siehe Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 76 f.; vgl. auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 75. Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76; Henssler, FS Picker, S. 987, 1011; Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2177; Konzen, NZA 1995, S. 913, 920.
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Kapitel 5: Ansätze und Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie
wird auch eine Begrenzung der Nachbindung auf fünf Jahre vorgeschlagen.³⁷³ Andere plädieren für eine Nachbindungshöchstdauer von nur sechs Monaten.³⁷⁴ Oftmals enthalten die vorgeschlagenen Höchstdauerjahreszahlen allerdings keine fundierte Begründung. Die ins Feld geführten Jahresgrößen erwecken nicht selten den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit.
1. Kriterien der Begrenzungsdauer Damit die vorgeschlagene zeitliche Begrenzung der Nachbindung also nicht willkürlich erscheint, soll der Versuch unternommen werden, anhand objektiver Kriterien eine interessengerechte Begrenzungsdauer zu ermitteln:
a) Ausgangspunkt: regelmäßige Dauer von Tarifverträgen Naheliegender Ausgangspunkt für die Ermittlung einer adäquaten Höchstdauer für die Nachbindungsphase ist die regelmäßige Dauer von Tarifverträgen. Betrachtet man die Entwicklung der Laufzeit von Tarifverträgen, so lässt sich feststellen, dass diese seit Jahren kontinuierlich ansteigt. Die folgende Tabelle, deren Angaben auf Erhebungen des WSI-Tarifarchivs beruhen, veranschaulicht diesen Trend für den Abschluss von Vergütungstarifverträgen:³⁷⁵ Jahr
West
Ost
Gesamt
, , , , , , ,
– – , , , , ,
, , , , , , ,
Tabelle 6: Laufzeit der Vergütungstarifverträge 1990 – 2017 in Monaten
Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 60; Wiedemann/Oetker, 7. Aufl. 2007, TVG, § 3 Rn. 94. Däubler, NZA 1996, S. 225, 226 f.; Hanau/Kania, DB 1995, S. 1229, 1230. So etwa der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2002/2003 speziell für Entgelttarifverträge, BT-Drs. 15/100, S. 262. WSI-Tarifarchiv zur Tarifpolitik 2018, abgedruckt unter 2.13 im Statistischen Taschenbuch zur Tarifpolitik 2015, abrufbar unter https://www.boeckler.de/pdf/p_ta_tariftaschenbuch_2018. pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020.
§ 17 Zeitliche Begrenzung von Nachbindung und Nachwirkung?
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Wurden im Jahr 1990 Vergütungstarifvertrag noch mit einer durchschnittlichen Dauer von 12,3 Monaten abgeschlossen, so können mittlerweile Laufzeiten nahezu in der doppelten Höhe verzeichnet werden. Während Vergütungstarifverträge mit einer Laufzeit von knapp über zwei Jahren geschlossen werden, werden Manteltarifverträge regelmäßig mit einer etwas längeren Laufzeit abgeschlossen.³⁷⁶ So wurde etwa für den Manteltarifvertrag des Abbruch- und Abwrackgewerbes NRW sogar eine Laufzeit von sechs Jahren vereinbart.³⁷⁷ Die durchschnittliche Laufzeit eines Manteltarifvertrags dürfte allerdings bei etwa drei Jahren liegen.³⁷⁸ Diese Einschätzungen decken sich überdies mit den Ergebnissen der Tarifrunde 2018.³⁷⁹ Danach liegt die durchschnittliche Laufzeit von Tarifverträgen bei nunmehr 26,5 Monaten³⁸⁰ und erreicht damit einen neuen Höchstwert. Nur ganz wenige Tarifverträge wurden mit einer Laufzeit von weniger als zwei Jahren abgeschlossen.³⁸¹ Vor dem Hintergrund dieser empirischen Grundlagen kann damit festgehalten werden, dass Vergütungs- und Manteltarifverträge mit einer Laufzeit von durchschnittlich zwei bis drei Jahren vereinbart werden. Hieran muss sich die Ermittlung einer adäquaten Höchstdauer orientieren. Daraus kann bereits gefolgert werden, dass eine Begrenzung der Nachbindungsphase auf fünf ³⁸² oder drei Jahre wenig effektiv ist. Die Fehlanreize des TVG im Hinblick auf die verbandsmitgliedschaftliche Organisation von Arbeitgebern können mit einer Nachbindungshöchstdauer in diesen Größenordnungen nicht beseitigt werden. Somit verengt sich der Blick auf eine Nachbindungsdauer von einem oder zwei Jahren.
b) Die ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG als zeitliche Untergrenze Schließlich darf vor allem auch die ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG nicht außer Acht gelassen werden, will man die maximale Nachbindungsdauer in einer adäqudaten Größenordnung bestimmen. Erkennbar verfolgt der Gesetzgeber dabei zwei
Hromadka/Maschmann, ArbR, Bd. 2, § 13 Rn. 34. Information abrufbar unter http://www.tarifregister.nrw.de/material/abbruchgewerbe.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Siehe etwa den Tarifvertrag für die Branche der Arbeitnehmerüberlassung NRW: http:// www.tarifregister.nrw.de/material/arbeitnehmer_bap.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Siehe dazu den Tarifpolitischen Jahresbericht 2018 unter 1., abrufbar unter https:// www.boeckler.de/pdf/p_ta_jb_2018.pdf; zuletzt abgerufen am 01.10. 2020. Anders als bei Tabelle 6 wird innerhalb dieses Werts allerdings nicht zwischen Vergütungsund Manteltarifverträgen differenziert. Etwa wurde der Tarifvertrag für die chemische Industrie nur mit einer Laufzeit von 15 Monaten vereinbart. Däubler, NZA 1996, S. 225, 226 f.; Hanau/Kania, DB 1995, S. 1229, 1230.
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Ziele³⁸³: Zum einen ist die Nachbindung dem Grundsatz pacta sunt servanda verpflichtet.³⁸⁴ Sie fordert diejenige Tarifvertragstreue³⁸⁵ ein, die ursprünglich mit dem privatautonom gefassten Beitrittsentschluss versprochen wurde. Insofern steht das Institut der Nachbindung auch im Dienst der Rechtssicherheit. Zum anderen ermöglicht § 3 Abs. 3 TVG die Entkoppelung von Mitgliedschaft und Tarifbindung, wodurch die negative Koalitionsfreiheit Wertschätzung erfährt.³⁸⁶ Vor diesem Hintergrund gebietet es die ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG, die Nachbindungshöchstdauer nicht zu kurz zu bemessen. Das Tarifsystem würde instabil, wäre es dem Arbeitgeber innerhalb eines kurzen Zeitraums möglich, sich der Tarifbindung zu entledigen. Anderenfalls droht eine Aushöhlung des mit der Nachbindung intendierten Zwecks. Insofern erscheint es verfehlt, die Nachbindungsphase auf höchstens sechs Monate zu begrenzen.³⁸⁷
c) § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Vergleichsgrundlage? Eine vergleichbare Regelung, die Orientierung bei der Suche nach einer adäquaten Höchstdauer für die Nachbindungsphase stiften könnte, hält die Betriebsübergangsregelung in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bereit. Danach werden die Regelungen eines Tarifvertrags Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen „nicht vor Ablauf eines Jahres“ nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Bereits de lege lata wurde im Schrifttum der Versuch unternommen, § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB im Wege einer Analogie als zeitliche Begrenzung der Nachbindung gem. § 3 Abs. 3 TVG in Stellung zu bringen.³⁸⁸ Verwiesen wurde dabei auf den wesensgleichen Regelungszweck beider Vorschriften.³⁸⁹ Nun könnte man auf die Idee kommen, sich gerade deswegen de lege ferenda für eine Begrenzung der Nachbindung von einem Jahr auszusprechen, weil § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die zwingende kollektivrechtliche Weitergeltung von Tarifnormen genau nur in dieser zeitlichen Größenordnung aufrechterhält.
Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 245 („ambivalent“). Büdenbender, NZA 2000, S. 509, 513 f.; ErfK/Franzen, TVG, § 3 Rn. 22; Rose, Tarifautonomie: Perspektiven und Alternativen, S. 182. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 245. Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 245. So aber der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2002/2003, BT-Drs. 15/100, S. 262. BeckOK ArbR/Giesen, TVG, § 3 Rn. 24; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1555; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, S. 307, 309; kritischer Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2176 f. Henssler, FS Picker, S. 987, 1007.
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Daran ist richtig, dass sowohl § 3 Abs. 3 TVG als auch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB darauf gerichtet ist, den Arbeitgeber daran zu hindern, sehr kurzfristig seine Tarifbindung abzustreifen. In beiden Fällen steht die Bekämpfung von Tarifflucht im Vordergrund. Während es bei § 3 Abs. 3 TVG darum geht, die Tarifbindung für den Fall des Verbandsaustritt aufrechtzuerhalten, ordnet § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die kollektivrechtliche Weitergeltung von Tarifverträgen für den Fall des Betriebsübergangs an. In beiden Fällen gerät die angeordnete Weitergeltung des Tarifvertrags in Konflikt mit der im Grundsatz mitgliedschaftlichen Legitimation der Tarifnormwirkung.³⁹⁰ Auf den ersten Blick bietet es sich daher an, eine einheitliche Höchstbindungsdauer für die Fälle Verbandsaustritt und Betriebsübergang festzulegen, sodass man sich der in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB verankerten Jahresgrenze auch für eine Gestaltung des § 3 Abs. 3 TVG bedienen könnte. Allerdings hilft diese Erkenntnis dann nicht weiter, wenn bereits die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB festgeschriebene Jahresfrist für den Fall der kollektivrechtlichen Weitergeltung von Tarifnormen beim Betriebübergang inadäquat erscheint. Wieso hat sich der Gesetzgeber in diesem Fall für eine Höchstgeltungsdauer von genau einem Jahr entschieden? Wirft man einen Blick in die Gesetzesbegründung zur Einführung der Sätze 2– 4 in § 613a Abs. 1 BGB, so sucht man vergebens nach einer einleuchtenden Erklärung. Es wird lediglich ausgeführt: „Von der Möglichkeit des Artikels 3 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie, den Bestandsschutz für diese Rechte und Pflichten auf ein Jahr zu begrenzen, wurde Gebrauch gemacht, damit der neue Inhaber ggf. die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer des übernommenen Betriebs an die in seinem Unternehmen üblichen Arbeitsbedingungen anpassen kann.“³⁹¹ Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2001/23/EG gestattet es den Mitgliedstaaten den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen zu begrenzen, wobei dieser nicht weniger als ein Jahr betragen darf. Diesen Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber mit der Regelung in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB voll und ganz ausgeschöpft. An einer darüber hinausgehenden Erklärung des Gesetzgebers fehlt es jedoch. Insbesondere fehlt jeder Bezug zur durchschnittlichen Laufzeit von Tarifverträgen. Im Ergebnis erscheint damit auch die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB festgelegte Begrenzung von einem Jahr willkürlich gewählt. Nimmt man überdies die zitierte Passage aus der Gesetzesbegründung ernst, fehlt es schließlich gerade an der Vergleichbarkeit zwischen der Weitergeltung nach Verbandsaustritt (§ 3 Abs. 3 TVG) und nach Betriebsübergang
Siehe zur Vergleichbarkeit von § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vor allem BAG, 22.04. 2009 (4 AZR 100/08), NZA 2010, S. 41, 46 Rn. 61; vgl. auch Willemsen/Mehrens, NZA 2010, S. 307, 309. BT-Drs. 8/3317, S. 11.
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(§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). So führt der Gesetzgeber an, er habe von der ihm ermöglichten Jahreshöchstbegrenzung Gebrauch gemacht, „damit der neue Inhaber ggf. die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer des übernommenen Betriebs an die in seinem Unternehmen üblichen Arbeitsbedingungen anpassen kann.“³⁹² Im Falle des Verbandsaustritts und der Nachbindung stellt sich allerdings die Frage der Anpassung der Arbeitsbedingungen überhaupt nicht, sodass eine hinreichende Vergleichsgrundlage ohnehin nicht gegeben ist.³⁹³
d) Schlussfolgerung Berücksichtigt man auf der einen Seite den Zweck der Nachbindung, eine unkontrollierte Tarifflucht zu verhindern und Rechtssicherheit im Tarifsystem zu gewährleisten, und auf der anderen Seite die durchschnittliche Laufzeit von Tarifverträgen, so erscheint eine zeitliche Begrenzung der Nachbindung in einer Größenordnung zwischen einem und zwei Jahren sinnvoll. Daher wird für die Nachbindungsphase ein Zeitraum von 18 Monaten vorgeschlagen. Dieser Zeitraum dürfte zum einen lang genug sein, um das Tarifsystem vor den Erschütterungen kurzfristiger Verbandaustritte zu schützen. Angesichts der durchschnittlichen Laufzeit von Tarifverträgen von zwei bis drei Jahren dürfte die Nachbindungshöchstdauer von 18 Monaten zum anderen aber auch geeignet sein, um Fehlanreize im Zusammenhang mit der verbandsmitgliedschaftlichen Organisation der Arbeitgeber zu beseitigen. Von einer Ewigkeitsbindung kann dann keine Rede mehr sein.
2. Fristbeginn und Jahresdauer als Maximalgrenze Ferner stellt sich die Frage, wann die präferierte Nachbindungsfrist von 18 Monaten zu laufen beginnt. Es sind grundsätzlich zwei Anknüpfungspunkte denkbar: Zum einen ließe sich für den Fristbeginn auf den Zugang der zur Beendigung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband führenden Erklärung abstellen. Zum anderen kann auf die verbandsrechtlichen Kündigungsfristen abgestellt werden. Die Satzungen von Arbeitgeberverbänden beinhalten regelmäßig Vorschriften, die die Modalitäten von Bei- und Austritt regeln. Hierbei werden für Verbandsaustritte häufig Kündigungsfristen vorgesehen. Der Aspekt der Rechtssicherheit streitet für letzteren Anküpfungspunkt.³⁹⁴ Indem auf die satzungsmäßig vorgesehenen
BT-Drs. 8/3317, S. 11. Höpfner, NJW 2010, S. 2173, 2177. Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76.
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Kündigungsfristen abgestellt wird, ist für jedermann transparent ersichtlich, wann die Nachbindungsphase tatsächlich zu laufen beginnt. Schließlich sollte die Nachbindungshöchstdauer nicht als starre Zeitmarke sondern – wie im Übrigen auch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB – als flexible Maximalgrenze ausgestaltet werden. Nur auf diese Weise kann eine unerwünschte „überschießende Wirkung“³⁹⁵ der fortwährenden Tarifbindung verhindert werden. Berücksichtigt man diesen Aspekt, so kann die Nachbindung auch bereits vor Fristablauf entfallen, wenn nämlich der maßgebliche Tarifvertrag bereits zu einem früheren Zeitpunkt endet.³⁹⁶
3. Formulierungsvorschlag Berücksichtig man die vorstehenden Gesichtspunkte, so bietet sich für eine zeitliche Begrenzung der Nachbindungsphase die folgende Gesetzesformulierung bzw. -änderung³⁹⁷ des § 3 Abs. 3 TVG an: „Die Tarifgebundenheit bleibt nach satzungsmäßiger Beendigung der Verbandsmitgliedschaft für die Dauer von bis zu 18 Monaten bestehen, soweit nicht bereits der bei Beendigung der Mitgliedschaft jeweils geltende Tarifvertrag zu einem früheren Zeitpunkt endet.“
III. Ergebnis Eine zeitliche Begrenzung der in § 3 Abs. 3 TVG angeordneten Nachbindungsphase erscheint geeignet, um die im Tarifvertragssystem wurzelnden Fehlanreize zumindest partiell zu beseitigen, damit Arbeitgeber sich wieder mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden organisieren. Vor dem Hintegrund der ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG und der durchschnittlichen Laufzeit von Tarifverträgen erscheint eine Nachbindungshöchstdauer von 18 Monaten angemessen. Verfassungsrechtliche Bedenken zieht eine derartige zeitliche Begrenzung nicht mit sich. Ganz im Gegenteil sorgt sie sogar im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit von Arbeitgebern für verfassungsrechtliche Entspannung. Eine zeitliche Begrenzung der in § 4 Abs. 5 TVG geregelten Nachwirkung wird nicht empfohlen.
Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76. Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76. Vgl. zur rechtstechnischen Implementierung einer zeitlichen Begrenzung der Nachbindungsphase auch die Formulierungsvorschläge von: Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, B 60; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, S. 65, 76 und Henssler, FS Picker, S. 987, 1011.
Kapitel 6: Zusammenfassende Thesen und Empfehlungen 1. Die Tarifautonomie ist ein historisch gewachsenes und verfassungsrechtlich garantiertes hohes Gut. Sie hat maßgeblich zu verbesserten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Deutschland beigetragen. Eine Betrachtung der historischen Entwicklung hat zudem ergeben, dass autoritäre Regierungen stets versucht haben, tarifautonome Bestrebungen gewaltsam zu unterbinden. In diesem Sinne ist eine funktionsfähige Tarifautonomie auch wichtiger Eckpfeiler der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte sollte kein Systemwechsel – etwa hin zu einer von Zwangselementen geprägten Erga-Omnes-Wirkung von Tarifverträgen – forciert werden. Ausgangspunkt bildet das Tarifvertragssystem in seinen ursprünglichen Grundstrukturen nach dem Vorbild des TVG. Die Tarifautonomie sieht sich aber veränderten Rahmenbedingungen ausgesetzt, die den dringlichen Anlass geben, über Gestaltungsmöglichkeiten de lege ferenda nachzudenken. 2. Das Tarifvertragssystem des TVG knüpft grundlegend und vorrangig an die mitgliedschaftliche Legitimation der Tarifnormwirkung (§§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG) an (Legitimationstheorie). Tarifautonomie in ihrem engeren Sinne ist als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu begreifen. Daraus folgen verschiedene Aspekte, die das Tarifvertragssystem des TVG in seiner Grundausrichtung charakterisieren: – Mitgliedschaft als maßgeblicher Ausgangspunkt der Legitimation, – begrenzte Ordnungsfunktion der Tarifautonomie, – keine Legitimation der Tarifvertragsparteien zur Regelung von AußenseiterArbeitsverhältnissen, – privatautonomer Koalitionspluralismus, – mittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. 3. Überlegungen zur Stärkung der Tarifautonomie bedürfen der Orientierung. Hierzu lassen sich aus der Grundstruktur des TVG verschiedene Faktoren einer funktionsfähigen Tarifautonomie ableiten, die gezielt adressiert werden können, wenn über Maßnahmen zur Gestaltung der Tarifautonomie de lege ferenda nachgedacht wird. Obgleich eine derartige Auflistung nicht als abschließend verstanden werden kann, haben sich gleichwohl die folgenden Faktoren für eine funktionsfähige Tarifautonomie als besonders wesentlich erwiesen: – Faktor 1: Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers, – Faktor 2: Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers, https://doi.org/10.1515/9783110736113-008
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Faktor 3: Abbildung von Interessenpluralität durch repräsentative Tarifverträge, Faktor 4: Schutz des tarifautonomen Regelungsbereichs und Faktor 5: Sicherung der exklusiv mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung.
Alle fünf Faktoren sind an den vorrangig privatautonomen Ursprung der Tarifautonomie bzw. der Tarifnormwirkung rückgekoppelt. Dabei hat sich vor allem die verbandsmitgliedschaftliche Organisation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als unverzichtbare Voraussetzung gelebter Tarifautonomie zu erkennen gegeben. Die Tarifautonomie stärkt man nicht, wenn man den Wirkungskreis ihrer Produkte, der Tarifverträge, erweitert, sondern indem man ihre institutionellen Voraussetzungen verbessert und die notwendigen Weichen für mitgliedschaftsstarke Verbände stellt. 4. Analysiert man den status quo der Tarifautonomie ist zwischen einem empirischen und einem rechtlichen Zustand zu unterscheiden. Fokussiert man anhand der entwickelten Faktoren (vor allem die Faktoren 1, 2 und 5) auf die empirischen Grundlagen der Tarifautonomie, so kann festgestellt werden, dass ihr Zustand der Stärkung bedarf. Sowohl die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften als auch die Organisation der Arbeitgeber in Arbeitgeberverbänden ist rückläufig. Ebenso sinkt der Grad der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG). Demgegenüber liegt dem rechtlichen Zustand der Tarifautonomie die Prämisse zugrunde, dass es vorrangig Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen zu regulieren und in diesem Zusammenhang für eine funktionsfähige Tarifautonomie Sorge zu tragen. So ist es zunächst Aufgabe der Sozialpartner, dafür einzutreten, dass eine Verbandsmitgliedschaft hinreichend attraktiv ist. Erst wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen so beschaffen sind, dass die Stärkung der Tarifautonomie über das Setzen effektiver Beitrittsanreize nicht „aus sich heraus“ möglich ist, tritt der Gesetzgeber auf den Plan. Er muss dann auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Tarifautonomie in einer Weise einwirken, dass effektive Mitgliedschaftsanreize gesetzt und bereits bestehende Fehlanreize im Zusammenhang mit der Verbandsmitgliedschaft beseitigt werden. Dies gebietet die objektiv-rechtliche Dimension der Tarifautonomie als in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Institutsgarantie. 5. Fokussiert man näher auf die rechtlichen Instrumente, mit denen die Sozialpartner derzeit versuchen, dem Trend rückläufiger Mitgliederzahlen entgegenzuwirken, so ergibt sich ein Dilemma: Auf der einen Seite erscheinen Differenzierungsklauseln in Gestalt von Spannenklauseln aus rechtspolitischer und
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-soziologischer Perspektive als probates Mittel der Gewerkschaften, um effektiv Mitgliedschaftsanreize zu setzen. Nach der Rechtsprechung des BAG verstoßen Spannenklauseln allerdings gegen die Arbeitsvertragsfreiheit des Arbeitgebers. Diese Rechtsprechung überzeugt nicht. Das BAG verkennt, dass die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit der in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG zum Ausdruck gebrachte „Normalfall“ ist.¹ Dem TVG ist nach Maßgabe der §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG ein „Ur-Anreiz“ inhärent, wonach Tarifverträge in erster Linie für die tarifgebundenen Mitglieder der tarifvertragsschließenden Verbände Anwendung finden. Überdies hat das BAG das rechtfertigende Potential der objektiv-rechtlichen Dimension der Tarifautonomie als in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Institutsgarantie nicht einmal im Ansatz ausgeschöpft. Auf der anderen Seite agieren Arbeitgeberverbände mit OT-Mitgliedschaften, um ihrem Mitgliederschwund entgegenzuwirken. Während diese Mitgliedschaftsform aufgrund ihrer Systemfremdheit und Dysfunktionalität zur Stärkung der Tarifautonomie nichts beizutragen vermag, ist sie von der Rechtsprechung als zulässige Organisationsform anerkannt. Dabei gewichtet das BAG in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht ausreichend, dass die OT-Mitgliedschaft die Erosion des Tarifsystems zusätzlich perpetuiert. 6. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz ist sowohl unter rechtspolitischen als auch unter verfassungsdogmatischen Gesichtspunkten korrekturbedürftig. Es vermag die auf Mitgliedschaft aufbauende Tarifautonomie nicht zu stärken. Ganz im Gegenteil vermindert es die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zusätzlich. Der Gesetzgeber versucht lediglich die Symptome eines erodierenden Tarifsystems zu bekämpfen und verkennt dabei die Relevanz ihrer institutionellen Voraussetzungen. In verfassungsrechtlicher Hinsicht treten alle drei Bestandteile des Tarifautonomiestärkungsgesetzes (erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung, gesetzlicher Mindestlohn und erweiterte Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG) mit dem Demokratieprinzip und Außenseitergrundrechten (vor allem negative Koalitionsfreiheit und Berufs- bzw. Arbeitsvertragsfreiheit) in Konflikt. Das ist Wesensmerkmal jeder staatlich organisierten Tarifnormerstreckung und Ersatzgesetzgebung auf dem – vorrangig den Tarifvertragsparteien vorbehaltenen – Feld der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.
Vgl. Creutzfeld, AuR 2019, S. 354, 357, der im Zusammenhang mit der Regelung in § 4 Abs. 1 TVG richtigerweise von einer „gesetzlichen Differenzierungsklauel“ spricht.
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7. Der mit der erleichterten Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen organisierte staatliche Tarifersatz vermag die Tarifautonomie aus rechtspolitischer Perspektive nicht zu stärken. In dogmatischer Hinsicht muss § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG und § 5 Abs. 1a TVG einer verfassungskonformen Auslegung zugeführt werden, die zu einer restriktiven Handhabung der Tatbestandsvoraussetzungen führt. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist hingegen verfassungswidrig. Die Neuregelung des § 5 TVG macht zudem die von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) grundsätzlich ausgehende Anreizwirkung zur Organisation in Gewerkschaften zunichte, indem die Anforderungen der Allgemeinverbindlicherklärung deutlich herabgesenkt werden (vgl. § 5 Abs. 1a TVG). 8. Die Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Mindestlohns nach dem Vorbild des MiLoG ist zumindest insofern zweifelhaft, als dass eine tarifdispositive Ausgestaltung als milderes und gleichsam geeignetes Mittel nahe liegt. Aber auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten ist ein tarifdispositiv ausgestalteter gesetzlicher Mindestlohn zu begrüßen, da insoweit die Autorität der Sozialpartner und das Prinzip der Richtigkeitsvermutung von Tarifverträgen unangetastet bleiben. Überdies gebieten das Demokratieprinzip und legitimationstheoretische Aspekte eine alternative Gestaltung des in §§ 4 ff. MiLoG geregelten Anpassungsverfahrens. Der Bundesregierung ist – als demokratisch legitimiertes Organ – die Möglichkeit zu eröffnen, auf die Anpassung des Mindestlohns aktiv einwirken zu können. 9. Das AEntG entfernt sich im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetzes immer weiter von seinem ursprünglichen Zweck: dem Schutz ausländischer Arbeitnehmer vor „Sozialdumping“. Die Bezeichnung als „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ täuscht hierüber hinweg. Das AEntG beabsichtigt mittlerweile die Gewährleistung von Mindestarbeitsbedingungen durch Tarifnormerstreckung – für inländische und ausländische Arbeitnehmer gleichermaßen. Die erweiterte Möglichkeit der Tarifnormerstreckung nach den Regeln des AEntG lässt sich überdies auch nicht mit der Programmatik der Tarifautonomiestärkung in Einklang bringen. Vielmehr ist die Öffnung der AEntG-Tarifnormerstreckung für alle Branchen (vgl. § 4 Abs. 2 AEntG) einer von mehreren Schritten auf dem Weg in eine verstaatlichte Tarifherrschaft. Schließlich verschärft die erweiterte Tarifnormerstreckung nach Maßgabe der §§ 4 ff. AEntG bereits bestehende verfassungsrechtliche Konflikte zusätzlich. Insbesondere das Demokratieprinzip wird massiv beeinträchtigt. 10. Als Gegenmodell zum Tarifautonomiestärkungsgesetz werden Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie vorgeschlagen, die allesamt darauf abzielen, ihre institutionellen Voraussetzungen zu verbessern, indem Mitgliedschaftsan-
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reize gesetzt bzw. bereits bestehende Fehlanreize in diesem Zusammenhang vermindert werden. Erstens wird die Implementierung einer gesetzlichen Spannenklausel in einem neu einzufügenden § 4b TVG vorgeschlagen. Danach wird der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet die von Tarifvertragsparteien ausgehandelte Differenzierungsklausel im Tarifvertrag aufrechtzuerhalten, sofern er den für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer reservierten Tarifbonus auch Außenseitern gewährt („Spanneneffekt“). Dabei berücksichtigt die vorgeschlagene Regelung den Freiheitsgehalt der negativen Koalitionsfreiheit und der Arbeitsvertragsfreiheit, indem der Spanneneffekt auf die Höhe des durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrags begrenzt ist. Den Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit des Arbeitgebers vermag die Sicherung der in Art. 9 Abs. 3 GG institutionell verankerten Tarifautonomie in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension zu rechtfertigen. Im Hinblick auf die praktische Umsetzung und die problematische Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit empfiehlt sich die Abwicklung über eine gewerkschaftliche bzw. gewerkschaftsnahe Organisationseinheit. 11. Zweitens wird empfohlen, sich das skandinavische Modell der Sozialpartnerschaft als Vorbild für mögliche Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie zu nehmen. Die Sozialpartner, allen voran die Gewerkschaften, sind mit den Systemen der sozialen Sicherheit zu verflechten. So gewinnt die Mitgliedschaft in Gewerkschaften etwa an Attraktivität, wenn diese die gesetzliche Arbeitslosenversicherung verwalten und organisieren. Zwar ist eine strenge Verknüpfung von Verbandsmitgliedschaft und Arbeitslosenversicherung mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit verfassungswidrig. Empfohlen wird allerdings eine verfassungskonforme Ausgestaltung und Implementierung des Genter-Systems in der Form, dass organisierte Arbeitnehmer im Hinblick auf den zu entrichtenden Sozialversicherungsbeitrag bis zur Höhe des durchschnittlichen jährlichen Gewerkschaftsbeitrags entlastet werden. Auf diese Weise wird ein Nachteilsausgleich erzielt, der die mit der Verbandsmitgliedschaft in Gewerkschaften verbundenen Fehlanreize zumindest partiell zu beseitigen vermag. 12. Drittens wird empfohlen, tarifdispositives Gesetzesrecht in den Dienst einer funktionsfähigen Tarifautonomie zu stellen. Sein Anwendungsbereich muss mit dem Tatbestandsmerkmal der Verbandsmitgliedschaft verknüpft werden. Hierfür ist die Abweichung von tarifdispositivem Gesetzesrecht nur auf Grundlage von Flächentarifverträgen zuzulassen. Auf diese Weise entstehen neue Anreize für Arbeitgeber, sich mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Verfassungsrechtliche Konflikte mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit sind zu entschärfen, indem nicht organisierten Arbeitgebern partiell die arbeitsver-
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tragliche Bezugnahme gestattet wird, soweit es sich nämlich um Regelungen handelt, die die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer nicht verschlechtern (d. h. nicht ungünstiger sind), sondern diese lediglich modifizieren. Für diese Abgrenzung kann auf die vom BAG zum Günstigkeitsprinzip entwickelte Kasuistik zurückgegriffen werden. Im Übrigen entfaltet die objektiv-rechtliche Dimension der Tarifautonomie als in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Institutsgarantie ausreichendes Rechtfertigungspotential. 13. Schließlich wird vorgeschlagen, die in § 3 Abs. 3 TVG geregelte Nachbindung an Tarifverträge mit einer zeitlichen Begrenzung zu versehen. Das ist erforderlich, um bestehende Fehlanreize zumindest partiell zu beseitigen, damit Arbeitgeber sich wieder vermehrt mitgliedschaftlich in Arbeitgeberverbänden organisieren. Angesichts der ermittelten durchschnittlichen Laufzeit von Tarifverträgen und der ratio legis des § 3 Abs. 3 TVG erscheint eine Nachbindungshöchstdauer von 18 Monaten angemessen. Der verfassungsrechtliche Konflikt mit der negativen Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG, den die Nachbindung de lege lata hervorruft, wird durch eine solche zeitliche Begrenzung maßgeblich entschärft.
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