Streit um den Staat: Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980 9783666367588, 9783525367582


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German Pages [292] Year 2008

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Streit um den Staat: Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980
 9783666367588, 9783525367582

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Streit um den Staat Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980 Herausgegeben von Dominik Geppert und Jens Hacke

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36758-2 Umschlagabbildung: Demonstration von Studenten vor dem Reichstag gegen den »Lücke-Entwurf« der Großen Koalition zur Erweiterung des Grundgesetzes (Notstandsgesetzgebung). – Foto, 7. März 1967. © akg-images / Gert Schütz © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: n Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Dominik Geppert und Jens Hacke Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Abschied vom Adenauer-Staat Hans Jörg Hennecke Streiten für diesen Staat Wilhelm Röpke und die Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . .

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Dominik Geppert Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Scholtyseck Mauerbau und Deutsche Frage Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg . . . . . . . .

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2. Angst vor dem autoritären Staat Frank Bösch Später Protest Die Intellektuellen und die Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Helmut König Kein Neubeginn Hannah Arendt, die NS-Vergangenheit und die Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Wolfgang Kraushaar Die Furcht vor einem »neuen 33« Protest gegen die Notstandsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . 135

3. Demokratisierung der Universität? Riccardo Bavaj Verunsicherte Demokratisierer »Liberal-kritische« Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967 / 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Daniela Münkel Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« Die Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

4. Belastungsproben des Staates Jens Hacke Der Staat in Gefahr Die Bundesrepublik der 1970er Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit . . . . . . . . . . . . . 188 Rüdiger Graf Die Grenzen des Wachstums und die Grenzen des Staates Konservative und die ökologischen Bedrohungsszenarien der frühen 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

5. Bedrohte Sicherheitspolitik Holger Nehring Die nachgeholte Stunde Null Intellektuelle Debatten um die Atombewaffnung der Bundeswehr 1958–1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Inhalt

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Jörg Requate Gefährliche Intellektuelle? Staat und Gewalt in der Debatte über die RAF . . . . . . . . . 251 Klaus Naumann Nachrüstung und Selbstanerkennung Staatsfragen im politisch-intellektuellen Milieu der »Blätter für deutsche und internationale Politik« . . . . . . . . 269 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Dominik Geppert und Jens Hacke

Einleitung Untersucht man die politische Kultur der Bundesrepublik in den beiden Dekaden zwischen den Langzeitkanzlern Adenauer und Kohl, so hat man es mit einem Paradox zu tun: Selten war ein objektiv stabiles und erfolgreiches Staatswesen so sehr intellektueller Kritik ausgesetzt wie in jener formativen Phase der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren. Spiegelaffäre, Notstandsgesetze und Terrorismusdiskussion offenbarten eine tief gehende Furcht vor einer autoritären Verselbständigung des Staates. Die sich intensivierende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stellte die Bonner Republik in den Schlagschatten von Auschwitz. Die Debatten um Bildung und Hochschulreform, um die Grenzen des Wachstums und die Zukunft der Industriegesellschaft pointierten überscharf tatsächliche oder vermeintliche Schwächen des westdeutschen Staatses. Auch in den außenpolitischen Debatten – von den Anti-Atomdiskussionen der 1950er Jahre über den Mauerbau bis zur Nachrüstungsdebatte – ging es in der Regel um Fragen, die fundamentale Mängel der Bundesrepublik zu offenbaren schienen: Defizite an Sicherheit und Souveränität, an nationaler Einheit und außenpolitischer Autonomie. Die Meinungsführer setzten dabei größtenteils gegen »das System« auf die liberalen Entfaltungskräfte der Gesellschaft. Dies alles, so die Ausgangshypothese unseres Bandes, kann man als Krise des Staatsgedankens begreifen. Sie trat nicht erst um 1960 auf, sondern war schon seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu spüren. Dass es dem ohnmächtigen »Trizonesien« in den Gründerjahren an einem positiven Selbstverständnis mangelte, beklagten vor allem Intellektuelle. Der Bundesrepublik fehle es an »Seele«, an »Bewusstsein und geistiger Vorstellung« ihrer selbst (Friedrich Sieburg); sie sei ein Staat ohne Idee, ohne »geistigen Schatten« (Rüdiger Altmann), so lautete damals das Verdikt vieler Kommentatoren. Es brauchte einige Zeit, bis sich in der Bonner Republik

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eine liberale Debattenkultur entwickelte, die zu einer eigenen politischen Lager-, aber auch Bewusstseinsbildung führte. Aus ideengeschichtlicher Perspektive ist deswegen argumentiert worden, dass die eigentliche intellektuelle Gründung der Republik erst nachträglich stattgefunden habe.1 Die Erforschung dieses Prozesses hat in den letzten Jahren begonnen, zumeist in der Darstellung repräsentativer Denkschulen oder unter der Perspektive einer wie auch immer gearteten Verwestlichung der Bundesrepublik.2 Es steht allerdings noch aus, die intellektuellen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik in ihrer Breiten- und Öffentlichkeitswirksamkeit genauer zu untersuchen und dabei die Diskurse der Meinungseliten über den Staat, in dem sie wirkten, über dessen Physiognomie und geistiges Profil sie stritten, systematisch miteinander zu verknüpfen.3 Unser Band nähert sich diesen Selbstverständigungsdebatten von ihren Initiatoren und Trägern her: den Intellektuellen. Welches Verhältnis entwickelten sie zum Staat? Wie nahmen sie die Bonner Republik wahr, und mit welchen Überzeugungen engagierten sie sich meinungsbildend in ihrem Gemeinwesen? Die zentrale Frage nach dem Staatsverständnis bundesdeutscher Intellektueller wird dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet: erstens aus der Perspektive der Debattenkultur, dem Streitverständnis und der Einstellung zu Formen und Zwecken intellektueller politischer Auseinandersetzung; zweitens aus dem Blickwinkel generationeller oder auch professioneller Frontverläufe innerhalb der verschiedenen Debatten; und drittens schließlich unter dem Aspekt ideengeschichtlicher Traditionen und Fluchtlinien im Staatsverständnis deutscher Intellektueller. Unter Intellektuellen werden dabei im Anschluss an Joseph A. Schumpeter politisch engagierte und rhetorisch versierte Bürger verstanden, die mit ihrer Kritik öffentlich Dinge zur Sprache bringen, obwohl – oder gerade weil – diese Dinge außerhalb ihrer eigenen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten liegen.4 Es scheint so, dass in Deutschland der Typus eines derartigen kritischen Intellektuellen erst in den 1960er Jahren zu einem verbreiteten Rollenmodell wurde. Jedenfalls legen das die zeitgenössischen Intellektuellensoziologien von Rainer Lepsius und Ralf Dahrendorf nahe, die bezeichnenderweise beide dafür warben, »inkompetente Kri-

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tik« in ihr Recht zu setzen.5 Aus ihrer Warte mangelte es in der jungen Bundesrepublik an einer politischen Kultur der intellektuellen Auseinandersetzung und an Konfliktbereitschaft. Der Geist der Affirmation und Staatshörigkeit sei weitaus stärker ausgeprägt als der Mut zur Intervention und die Pflege öffentlicher Tugenden. Das Verhältnis der deutschen Intellektuellen zum Staat war also – wie es die traditionelle Sonderwegserzählung will – immer noch ein allzu unkritisches, und es fehlte an der richtigen Gewichtung von Distanz und Zugehörigkeit. Genau genommen, so hat es jüngsthin noch einmal Wolf Lepenies zusammengefasst, ließen die deutschen Geistesschaffenden ihr intellektuelles Potenzial ungenutzt. Indem sie die Trennung von Geist und Macht favorisierten, blieben sie letztlich einer apolitischen Haltung verhaftet.6 In einem solchen kulturellen Klima konnte es genau genommen gar keinen »Streit um den Staat« geben, sondern nurmehr dessen Verteidigung oder Ablehnung. Um allerdings dem von Michael Walzer skizzierten Ideal eines »engagierten Intellektuellen« nahe zu kommen, bedarf es einer intellektuellen Klasse, die grundsätzlich mit den Normen des Gemeinwesens übereinstimmt und sich mit ihrem Staat in gewisser Weise identifiziert, aber bereit ist, für die politische Verwirklichung und die Verteidigung von Werten zu streiten. Kritik setzt also nach Walzer Gemeinsinn und damit auch – zumindest moralische – Verantwortlichkeit voraus.7 Dieser Common sense verlangt freilich Einübung, und die Intellektuellen der Bundesrepublik mussten die Praxis der Gesellschaftskritik, der öffentlichen Debatte, der politischen Auseinandersetzung innerhalb einer liberalen Verfassungsordnung erst lernen, um eine belastbare Streitkultur auszubilden. Der Prozess dieser Selbstverständigung kreiste stets um den Staat, dessen Beschreibung sich in der jungen Bundesrepublik als schwierig erwies, fehlten ihr doch alle Insignien vorher selbstverständlicher Staatlichkeit wie feststehende Grenzen oder staatliche Souveränität. Die bescheidene Staatsrepräsentation und verfassungsmäßige Existenz als Provisorium trugen ihrerseits dazu bei, dass dem Begriff des Staates jede Selbstverständlichkeit abhanden gekommen war. Darauf konnte man unterschiedlich reagieren und – um nur zwei Optionen zu nennen – einerseits die Bundesrepublik als Abschied vom Staat bzw. als neuen paradigmatischen Staat der

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Industriegesellschaft akzeptieren oder andererseits den Gesellschaftsbegriff weiter aufwerten, um alle Restbestände repressiver Staatlichkeit abzuschütteln. In jedem Fall herrschte Unsicherheit – und damit Orientierungsbedarf – unter Intellektuellen, was der Staat noch sei bzw. was man sich unter ihm vorzustellen habe. Zwischen radikaler Infragestellung von politischem System und Staat bis hin zur vehementen Verteidigung der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« reichten die Positionen im Streit um die Legitimität des bundesrepublikanischen Staates in den 1960 / 70er Jahren. Im Gegensatz zu der besser erforschten Frühphase gerät diese Hochzeit intellektuellen Engagements in der Bundesrepublik erst allmählich in den Blick der Forschung.8 Zudem hat sich die deutsche Intellektuellenforschung bisher stärker für das politische Engagement einzelner Intellektueller interessiert als für die von ihnen ausgefochtenen Debatten.9 Die Schwerpunktsetzung des Bandes auf intellektuelle Debatten verdeutlicht, dass nicht so sehr der abstrakte Staat der rechtswissenschaftlichen, politologischen oder philosophischen Theorie in den Blick genommen werden soll, sondern dessen konkrete Ausformung in der Bundesrepublik zwischen dem Ende der Ära Adenauer und dem Beginn der christlich-liberalen Koalition. Die Transformationsphase von den späten 1950er bis zu den ausgehenden 1970er Jahren ist als »Wendezeit« zwischen einer durch Nationalsozialismus, Krieg und Niederlage traumatisierten, desorientierten, weitgehend apolitischen Wiederaufbaugesellschaft und einer stärker pluralistischen, politisierten, freizeitorientierten Konsumgesellschaft in den zurückliegenden Jahren verstärkt ins Blickfeld der deutschen Zeitgeschichtsforschung geraten und meist mit positiv aufgeladenen Termini wie »Verwestlichung«, »Demokratisierung« oder »Liberalisierung« beschrieben worden.10 Unser Band versteht sich als Beitrag zur Geschichte der politischen Kultur der Bundesrepublik in dieser Umbruchzeit. Es geht darum, Verschiebungen in der Wirklichkeitswahrnehmung und Realitätsinterpretation sowie die Formulierung neuer Lebensentwürfe und gesellschaftlicher Leitbilder kleiner, aber wirkungsmächtiger Gruppen von Intellektuellen zu analysieren, die dem später einsetzenden Bewusstseinswandel breiterer Bevölkerungsgruppen Bahn zu brechen halfen. Die zwanzig Jahre zwischen 1960

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und 1980 umfassen dabei den Übergang vom langen Aufschwung der Nachkriegsjahre zur Periode »nach dem Boom«, die erst allmählich ins Blickfeld einer gegenwartsnah arbeitenden Zeitgeschichte rückt und bisher kaum konzeptionell erfasst ist.11 Die beiden Dekaden sind auch deswegen von Interesse, weil das bundesrepublikanische Staatswesen damals schon lange genug etabliert war, um in seinen institutionellen wie ideellen Besonderheiten greifbar zu sein, aber zugleich noch nicht zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden war. Die Zeit vor dem großen Zivilisationsbruch der Jahre 1933 bis 1945 gehörte noch zur stets präsenten Lebenserinnerung vieler politisch engagierter Zeitgenossen, entsprechend gegenwärtig war die erste deutsche Republik in den Diskussionen. Erst in den 1980er Jahren nahmen die Intellektuellen der Bundesrepublik Abschied von deren provisorischem Charakter.12 Aus dem Blickwinkel der hier untersuchten Debatten betrachtet, erscheinen die 1960er und 1970er Jahre daher als Phase der Inkubation und Transformation, in der sich die westdeutschen Intellektuellen in einem Wechselspiel von radikaler Kritik und Affirmation zur inneren Akzeptanz ihres Gemeinwesens durchrangen – oder anders ausgedrückt: Die Bundesrepublik fand auf dem Umweg über ihre intellektuelle Infragestellung zur Selbstanerkennung (ehe sie dann weitere zehn Jahre später die deutsche Einheit vor neue Identitätsfragen stellte). Die Genese eines bestimmten Verständnisses vom Staat ist dabei nicht nur von historischem Interesse. Warum das Institutionengefüge des bundesrepublikanischen Provisoriums funktionsfähig wurde und wie es ganz offensichtlich eine tief verunsicherte, zumindest anfangs stark antidemokratisch oder aber unpolitisch gesinnte Gesellschaft zu integrieren vermochte – dies sind Fragen, die sich nicht allein aus einer ökonomischen Erfolgsgeschichte und einem klugen Verfassungswerk erklären lassen. Dazu gehörte auch die Hervorbringung einer gewissen staatlichen Eigenidentität, die Leitideen zu verkörpern in der Lage war. Auch wenn in aktuellen Feuilletondebatten oft der Abschied von der Bonner Republik erklärt worden ist, spricht vieles dafür, dass die vereinigte Bundesrepublik normativ auf die westdeutsche Geschichte nach 1945 angewiesen bleibt, denn sie ist in ihren Errungenschaften und Irrungen gleichermaßen Identitätsressource und einzig mögliche Ori-

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entierungslinie. Zunehmend unklar erscheint jedoch, wie man sich das Verhältnis des gegenwärtigen Staates zu seiner jüngeren Vergangenheit vorzustellen hat und in welcher Form seine Geschichte erzählt werden sollte: als success story oder Verfallsgeschichte, als Drama mit glücklichem Ausgang oder als Chronik von Aufstieg und Niedergang? Lange Zeit stellte sich diese Frage kaum – so lange jedenfalls nicht, wie (west)deutsche Historiker an der Meistererzählung von der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte schrieben und den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte das Deutungsmuster der »geglückten Demokratie« unterlegten.13 Genau genommen gab es zwei Versionen dieser success story. Die erste stammte von Vertretern der skeptischen Generation und handelte von der erfolgreichen Stabilisierung des westdeutschen Gemeinwesens nach 1945. Sie kreiste um das Wirtschaftswunder und das Wahlwunder der 1950er Jahre, um die Konsolidierung demokratischer Institutionen, die Gewinnung außenpolitischer Sicherheit durch europäische Integration und transatlantische Allianz. Noch 1990 hat Hans-Peter Schwarz in diesem Sinne erklärt, die Geschichte der Bundesrepublik sei erst die Geschichte ihrer Stabilisierung, dann ihrer Stabilität.14 Die Autoren dieser Stabilitätsgeschichte hatten eher einen liberalkonservativ-bürgerlichen Hintergrund. Ihr Schwerpunkt lag auf der erfolgreichen Modernisierung der 1950er Jahre, als Negativfolie dienten die Instabilität und Krisenanfälligkeit der Weimarer Republik und die auf Zerstörung und Selbstzerstörung hin angelegte Dynamik der nationalsozialistischen Diktatur. Die zweite Variante der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte setzte den Akzent auf die 1960er und frühen 1970er Jahre. Ihr Fluchtpunkt war nicht die Ära Adenauer, sondern die Ära Brandt. Sie handelte weniger von der Stabilisierung des Staates als von der Pluralisierung, Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, von erweiterten Teilhabemöglichkeiten, vom Ausbau sozialer Sicherheit und dem Abbau hierarchischer Strukturen.15 Ihre Autoren entstammten oft der Protestgeneration und waren eher auf der politischen Linken angesiedelt. Negativfolien waren für sie der Illiberalismus und Autoritatismus, die Obrigkeitsstaat-

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lichkeit und die offene oder latente Demokratiefeindlichkeit der deutschen Gesellschaft in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts vom Wilhelminismus über die schwache erste Republik und den Nationalsozialismus bis hin zur restaurativen AdenauerÄra. Bei allen Unterschieden der Akzentuierung und Bewertung hat sich ein gewisser Konsens der beiden Strömungen herausgearbeitet. Er trat besonders ausgeprägt in den Bänden zutage, die um den 50. Geburtstag der alten Bundesrepublik erschienen, und kann mit der Formel von der »Ankunft im Westen« umschrieben werden.16 Gemeint war damit die Entwicklung Deutschlands zu einem pluralistisch-demokratischen, sozialen, weltoffenen, freiheitlichen National- und Rechtsstaat. Der »Westen« nahm in dieser Ankunftsgeschichte eine doppelte Funktion ein, die dem Geist der Freiheit in Hegels Philosophie der Weltgeschichte ähnelte: Zum einen war er das Ziel der Entwicklung, an dem die Deutschen nach ihrem Abschied vom angeblichen Sonderweg angekommen waren; zum anderen war er – in der Form der Verwestlichung – der Weg, die treibende Kraft des Fortschritts. Wie der Geist der Freiheit besaß der »Westen« dabei ein seltsam unhistorisches, überzeitliches Wesen, das den Gang der Dinge bestimmte, aber selbst außerhalb der Geschichte lag. Dieser Konsens unter Historikern ist in der seither vergangenen Dekade zerbrochen, zum Teil weil die Konstruktion eines einheitlichen »Westens« nach dem Ende des Kalten Krieges verschwand und dadurch deutlich wurde, dass der idealtypische Westen der bundesrepublikanischen Historiographie mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realität etwa der USA, Großbritanniens oder Frankreichs keineswegs identisch war.17 Außerdem erreichten Zweifel am »Modell Deutschland« seit Ende der 1990er Jahre auch die Historiker, die jetzt nachdrücklich fragten, als wie stabil sich »die hochindividualisierte, aber sozialstaatlich rückversicherte ›neue‹ Bundesrepublik ohne wirtschaftliches Wachstum und bei möglicherweise sinkender Prosperität« erweisen werde.18 Derartige Zweifel haben sich noch nicht zu einer neuen vorherrschenden Deutung der bundesrepublikanischen Geschichte formiert. Sie haben aber einige Neuansätze hervorgebracht, die be-

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zeichnenderweise allesamt explizit oder implizit von der These einer Krise des Staates ausgehen. Da gibt es zum einen den Vorschlag, die Bonner Republik zu historisieren und ihre Geschichte auch als »Defizitgeschichte« zu schreiben, indem das Altern von Institutionen, das Verschleißen von Arrangements und die Erosion von Fundamentalstrukturen zu Themen der Zeitgeschichtsforschung werden. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist der Befund einer »Strukturkrise« der Bundesrepublik vom Föderalismus über die sozialen Sicherungssysteme und das Verbändewesen bis zum Parteiensystem.19 Zweitens entdecken im Rahmen einer Kulturgeschichte des Politischen gerade diejenigen Historiker »Politik« – oder besser: »das Politische« – neu, die der klassischen Politikgeschichte ausgesprochen distanziert gegenüberstanden. Sie beziehen dabei das Politische nicht mehr vorrangig auf staatliches Handeln, sondern begreifen es als Form der Kommunikation, als Austragung gesellschaftlicher Deutungskämpfe über den Geltungsbereich der Politik. Teils ausgesprochen, teils unausgesprochen schwingt dabei die Idee eines »Rückzugs« des Staates als Folge von Neoliberalismus und Globalisierung mit: heute auf den Gebieten der Wirtschaftsund Sozialpolitik, morgen vielleicht schon in der Verteidigungspolitik oder bei der inneren Sicherheit.20 Drittens gibt es die Anregung, den Begriff der »Sicherheit« als Analysekategorie der bundesrepublikanischen Geschichte zu nutzen. Sicherheit wird dabei nicht nur als Ziel von Regierungshandeln verstanden, sondern auch als Erwartung der Gesellschaft an die Politik und als umfassender sozialkultureller Orientierungshorizont. Auch hier spielt die Krise des Staates als Ausgangspunkt der Überlegungen eine zentrale Rolle. »Sicherheit« wird in dem Maße für die historische Analyse interessant, wie sie erodiert, weil der National- und Territorialstaat gegen die neuen Risiken zunehmend machtlos ist: von der ganz normalen Anarchie der internationalen Beziehungen über den Terrorismus bis zum Klimawandel und der Atomtechnik.21 Viertens schließlich ist eine kritische Wendung gegen das Forschungsparadigma der »Liberalisierung« zu konstatieren. Individualisierung, Pluralisierung und Wertewandel werden nicht mehr bloß im Hinblick auf die Chancen zur Selbstverwirklichung

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betrachtet, sondern als potenzielle Gefahren für den Bestand des Staates und den Zusammenhalt der Gesellschaft, indem eine »zum Hedonismus neigende postmoderne Selbstbezüglichkeit die Orientierung an einer Kategorie wie der des Gemeinwohls« durchlöchert.22 So unterschiedlich diese Interpretationsansätze sind, haben sie doch Manches gemeinsam: Sie wenden sich von teleologischen Fortschrittserzählungen ab und erkennen Fehlbeträge und Ambivalenzen in der Geschichte der Bundesrepublik an. Sie konstatieren kein Ankommen im Westen, sondern beschreiben die Suche nach tragfähigen Arrangements in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft als Verfolgung eines beweglichen Ziels. Sie suchen nach neuen Erklärungsmustern für den Wandel von Staat und Gesellschaft angesichts einer als prekär empfundenen Gegenwart. Damit bieten sie zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Beiträge dieses Bandes. Der Fokus auf publizistische Zeitdiagnostik von Intellektuellen trägt insofern zu einer »Defizitgeschichte« bei, als er das Augenmerk auf die – empfundenen oder tatsächlichen – Unzulänglichkeiten der real existierenden Bundesrepublik richtet und auf diese Weise die Prämissen der Erfolgsgeschichte hinterfragt. Mit kulturgeschichtlichen Ansätzen teilen viele Beiträge dieses Bandes nicht nur das Gespür für die kommunikative Dimension des Politischen und für das Aushandeln der Geltungsbereiche von Politik, sondern auch das Interesse für nichtintendierte Nebenfolgen von Regierungshandeln sowie für das wechselseitige Durchdringungsverhältnis von Medien und Politik. Der Begriff der »Sicherheit« spielt dabei eine zentrale Rolle, weil Gefühle zunehmender Verunsicherung oftmals am Anfang der Debatten standen und apokalyptische Zukunftsszenarien ein wichtiges Charakteristikum ihres Verlaufs waren. Anders als beim Forschungsparadigma der Liberalisierung werden die fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Individualisierung und Pluralisierung in ihren subjektiven Dimensionen jenseits positiv wertender Begrifflichkeiten ausgeleuchtet. Unabhängig von der Notwendigkeit, bundesrepublikanische Staatsbilder zu historisieren, kann der Band allerdings auch einen Beitrag zu neuerlichen Debatten um den Staat leisten. Nachdem vielfach der Abschied vom Staat und sein Aufgehen in supranatio-

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nalen Organisationsformen vorausgesagt worden ist bzw. seine Legitimationsgründe in Frage gestellt worden sind, zeigt sich mittlerweile, dass sich allenfalls eine Transformation, nicht aber das Ende des Staates abzeichnet. Mittlerweile wird auch in der Soziologie von einer neuen »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft« gesprochen.23 Sicherlich, man kann den Staat allgemein unter funktionalen Gesichtspunkten thematisieren, die Aufgaben der Staatsorgane analysieren und die Grenzen des Staates kontrovers diskutieren. Dies ist, wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, ausgiebig geschehen, mit Problemstellungen, die auch in Zeiten, in denen Modelle von global governance und Weltgesellschaft en vogue sind, nicht obsolet werden. Denn die Verständigung über Grenzen und Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates bleibt trotz aller inter- und transnationalen Verflechtungen auf den Staat als Referenzsubjekt angewiesen. Der Staat ist für die Bürger nach wie vor der unmittelbare Bezugspunkt politischer Wahrnehmung. Möglicherweise ist das neuerliche Comeback des Staates als Gegenstand politikwissenschaftlicher, soziologischer und historischer Beschäftigung darüber hinaus ein Kompensationsphänomen d. h., eine Reaktion auf das Erfahrbarkeits-, aber auch Demokratiedefizit, das supranationalen Organisationsformen anhaftet. Freilich besitzen die heutigen Auseinandersetzungen um den Staat – nach der »Erschöpfung utopischer Energien« (Habermas) – nicht mehr die Volte ins Grundsätzliche. Der Staat bleibt aber der Kernbegriff für politische Orientierung; mit ihm lassen sich die Ideale und Normen des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen exemplifizieren. Als formbares politisches Instrument ebenso wie als kollektive Repräsentation bietet er sowohl Gestaltungsraum für politisches und soziales Handeln als auch eine Projektionsfläche für eine gesellschaftliche Organisationsform. Die Zivilgesellschaft kann deshalb kaum als eine Überwindung, sondern nur als notwendige Ergänzung des Staates gedacht werden – und im Diskurs über Zivilgesellschaft und Staat sind es auch die Intellektuellen, die inhaltlichen Forderungen, moralischen, kulturellen und politischen Standpunkten in der Öffentlichkeit eine Stimme geben. Wie in einer demokratischen Öffentlichkeit Argumente entwickelt, Positionen besetzt und Überzeugungsarbeit geleistet werden und welche Wandlungen der öffentliche Diskurs durchläuft, ist nicht

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nur von historischem Interesse. Wenn wir auf die Phase der Bonner Republik blicken, lässt sich erkennen, auf welche Weise intellektuelle Kämpfe ganz wesentlich zur geistigen Identitätsbildung beigetragen haben. Es entfaltete sich ein breites und kontroverses Spektrum an Meinungen, dass im Streit um den Staat erst nach und nach eine Basis gemeinsamer Werte entstehen ließ. Es sei dahingestellt, inwiefern man dies als tatsächliche Erfolgsgeschichte wertet. Unbestritten ist allerdings, dass die Selbstakzeptanz des liberalen demokratischen Staates mit der Zeit grundsätzliche Alternativen oder gar eine »andere Republik« ausschloss, Extrempositionen marginalisierte und dass sich – auch unter Intellektuellen – ein breiterer Konsens bildete, der wenigstens vorübergehend zu einer Entdramatisierung politischer Auseinandersetzungen beigetragen hat. Der Rückblick auf die Debatten der Bundesrepublik zeigt, wie sehr sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft gewandelt hat. Die Auffassung, dass durch Demokratisierung, Emanzipation, ja durch Vergesellschaftung der Staat obsolet werde, hat sich nicht bestätigt. Das Bestreben innerhalb weiter Kreise der Neuen Linken, einen vermeintlich fatalen Antagonismus von Staat und Gesellschaft aufzuheben – ob revolutionär oder im Sinne von Marcuses »großer Verweigerung« – hat sich als Schimäre erwiesen. Mit dem Staat und seinen Institutionen lassen sich eben doch ganz andere Eigenschaften verbinden als Repression und systemische Sachzwanglogik. Allerdings wurde die Einsicht, dass Institutionen Freiheitsräume sichern helfen, dass deren Zuschnitt zivilgesellschaftliche Kräfte befördern bzw. eine durchaus positive identifikatorische und kulturelle Prägekraft des Staates bewirken kann, in der Fixierung auf eine antiinstitutionelle Utopie der Herrschaftsfreiheit zeitweise in den Hintergrund gedrängt. In der theoretischen wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung des Staates scheint diese Schieflage mittlerweile behoben. Trotzdem – und dies lehrt die Vergegenwärtigung vergangener Debatten – bleibt es schwierig genug, die Transformation des Staates zu beschreiben und das stetig neu auszutarierende Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft zu bestimmen. Die Öffentlichkeit – auch als Aktionsfeld von Intellektuellen – bleibt der Ort der Selbstverständigung nicht nur darüber, welche Aufgaben der Staat zu erfüllen hat, sondern auch, ob

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er in seinen sich wandelnden Funktionen weiterhin von einem gesellschaftlichen Konsens getragen wird und wie er das Gemeinwohl zu repräsentieren in der Lage ist. Der vorliegende Band ist aus einer Tagung entstanden, die vom 11. bis 13. Oktober 2007 an der Humboldt-Universität in Berlin stattgefunden hat. Für die außergewöhnlich lebendigen und anregenden Diskussionen ebenso wie für die unkomplizierte kollegiale Zusammenarbeit haben wir nicht nur den beitragenden Referenten zu danken, sondern auch den übrigen engagierten Teilnehmern, namentlich Clemens Albrecht, Manfred Görtemaker, Constantin Goschler, Gabriele Metzler, Herfried Münkler und Paul Nolte. Der Fritz Thyssen Stiftung danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Konferenz. Saskia Kühn leistete wichtige organisatorische Hilfe. Ein abschließender Dank geht an Martin Rethmeier und Daniel Sander für die zuverlässige verlegerische Betreuung. Berlin, im Juni 2008

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Anmerkungen 1 Vgl. dazu v. a. Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt / M. 1999; Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 2 Siehe etwa Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 3 Einen ersten Überblick bieten Jan-Werner Müller (Hg.), German Ideologies since 1945. Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic, New York 2003; Eberhard Rathgeb, Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005, München 2005. 4 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 235 ff. 5 Rainer M. Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen (1964), in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 308–324. 6 Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München 2006.

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7 Vgl. Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Frankfurt / M. 1993. 8 Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004; Birgit Pape, Intellektuelle in der Bundesrepublik 1945–1967, in: Jutta Schlich (Hg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11. Sonderheft), Tübingen 2000, S. 295–324. 9 Vgl. Gangolf Hübinger / Thomas Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000. 10 Siehe etwa Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?; Axel Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Ulrich Herbert / Lutz Raphael (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Matthias Frese u. a. (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003. 11 Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559–581. 12 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006. 13 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. 14 Hans-Peter Schwarz, Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 151–174, hier S. 160. 15 Zum Forschungsparadigma der »Liberalisierung« vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. / Lutz Raphael (Hg.), Wandlungsprozesse, S. 7–49. 16 Vgl. etwa Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt / M. 1999; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000. 17 Philipp Gassert, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen, in: Jörg Baberowski u. a. (Hg.), Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart 2001, S. 67–89. 18 Wirsching, Abschied, S. 701. 19 Klaus Naumann, Die Historisierung der Bonner Republik. Zeitgeschichtsschreibung in zeitdiagnostischer Absicht, in: Mittelweg 36 (2000), S. 53–66. 20 Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606, hier S. 600. 21 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer »modernen Politikgeschichte« der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357–380.

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22 Andreas Rödder, Das »Modell Deutschland« zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345–361, hier S. 356; vgl. auch ders. / Wolfgang Elz (Hg.), Alte Werte – neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008. 23 Vgl. Berthold Vogel, Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg 2007.

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Streiten für diesen Staat Wilhelm Röpke und die Bundesrepublik

Unter den Intellektuellen, die sich zwischen 1960 und 1980 in ihrem öffentlichen Wirken mit dem Staatsverständnis der alten Bundesrepublik auseinandergesetzt haben, verdient der Ökonom Wilhelm Röpke (1899–1966) aus einer Reihe von Gründen Beachtung. In ihm begegnen wir dem Repräsentanten einer Generation, die den Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts empfand. Das letzte Kriegsjahr in unmittelbarer Nähe Ernst Jüngers erlebend, sah Röpke mit dem Jahr 1914 eine Welt in Trümmern gehen, mit der er nicht nur die wehmütige Erinnerung an Jugendjahre in einer dörflichen, noch vormodernen Lebenswelt verband, sondern auch das Wissen um eine weltwirtschaftliche Integration, die mit dem Jahr 1914 durch Protektionismus, Autarkiedenken und planwirtschaftliche Vorstellungen zurückgedrängt wurde.1 In die Bundesrepublik brachte Röpke zudem prägende Erfahrungen der Zwischenkriegszeit ein. Er war an der Seite seiner Studienfreunde Ernst Lemmer und Gustav Heinemann nicht nur von Beginn an ein leidenschaftlicher Verteidiger der Weimarer Republik, sondern nach einer kurzen sozialistischen Frühphase auch ein engagierter Fürsprecher einer freihändlerischen Wirtschafts- und Sozialordnung.2 Die Jahre nach 1929 deutete der Ökonom als Krise der moralischen Grundlagen, auf denen die wirtschaftliche Ordnung beruhte. Das brachte ihn zum einen dazu, ab 1931 Vorschläge für eine aktive Konjunkturpolitik zu unterbreiten, die jenseits der ökonomischen Rationalität auch die politischen und massenpsychologischen Dimensionen der Weltkrise in den Blick nahmen. Zum anderen trat er mit offenem Visier antikapitalistischen Haltungen von links und von rechts entgegen.3 Vor der Reichstagswahl 1930 warnte der Marburger Ordinarius in einem Flugblatt eindringlich vor der Wahl der NSDAP und brachte nach der so genannten Machtergreifung den

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Bekennermut auf, in zwei öffentlichen Reden den Nationalsozialismus als Rückfall in die Barbarei zu brandmarken, weshalb er – als einer von wenigen nichtjüdischen Professoren – ins Exil zunächst nach Istanbul, ab 1937 nach Genf gezwungen wurde.4 Diese biographischen Vorprägungen machen Röpke zu einer reizvollen Figur einer Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik, als deren geistigen Gründungsvater man ihn mit einigem Recht sehen kann. Denn aufbauend auf seiner Kriegstrilogie der Jahre 1941 bis 1945, die eine kulturphilosophische Deutung der Gesellschaftskrise des Abendlandes und ein Gegenprogramm zu der totalitär-kollektivistischen Herausforderung bot, legte Röpke im Juni 1945 mit Die deutsche Frage ein Werk vor, das aus der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik nicht wegzudenken ist.5 Mochten die historischen Deutungen, die er zur Erklärung des Aufstiegs des Nationalsozialismus anführte, im Einzelnen auch strittig sein, entwickelte er doch einen Lösungsvorschlag für Deutschlands Zukunft, der kurz vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz die Leitideen der späteren Staatsgründung vorwegnahm. Röpke forderte erstens, den politischen Wiederaufbau Deutschlands strikt dezentral über eine starke kommunale Selbstverwaltung und mit weitgehender Autonomie von Einzelstaaten vorzunehmen. Er machte zweitens deutlich, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau nur durch eine Ordnungsentscheidung zugunsten der Marktwirtschaft erfolgen könne. Drittens sah er voraus, dass der Wiederaufbau Deutschlands nur in enger Anlehnung an den Westen gelingen könne und dass mit der Sowjetunion eine Verständigung darüber nicht zu erwarten sei. Deshalb plädierte Röpke für die Integration eines deutschen Bundesstaates in die westliche Welt – auch um den Preis, dass man sich zunächst darauf konzentrieren müsse, die Freiheit eines westdeutschen Bundes zu sichern, und dass eine deutsche Einheit in Freiheit erst möglich sei, wenn der kommunistische Machtanspruch in Europa erloschen sei.

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»Sinistrismo« oder »Gaullismus«?: die Bundesrepublik im Richtungsentscheid In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begann sich Röpkes Rolle in der Bundesrepublik zu wandeln. Bis dahin hatte er in offensiver Weise die Leitentscheidungen der Bundesrepublik begründet und durchzusetzen geholfen. Das bezog sich nicht nur auf die Soziale Marktwirtschaft, sondern auch auf die militärische und moralische Integration des Westens: Von Genf aus wirkte Röpke als Intellektueller von europäischem Format, der neben dem spanischen Diplomaten Salvador de Madariaga und dem französischen Soziologen Raymond Aron wohl am nachdrücklichsten für eine Selbstbesinnung des Westens warb und in Verbindung mit einer realistischen Einschätzung der kommunistischen Bedrohung Begründungen für die militärische Integration und das antitotalitäre Selbstverständnis der westlichen Welt lieferte.6 Röpke sah die Bundesrepublik in einer Vorbildfunktion, da sie zum einen das militärische Gegengewicht zum Ostblock in Europa entscheidend stärkte und zum anderen mit ihrer ordnungspolitischen Ausrichtung eine Alternative zu zahlreichen planwirtschaftlichen Experimente lieferte, wie sie in Großbritannien, Frankreich und bei der europäischen Integration erprobt wurden. Es widersprach allerdings seinem ungeduldigen und kämpferischen Naturell, mit diesem Erfolg jemals zufrieden zu sein. Stattdessen war er stets besorgt, die politische Stabilisierung und der ökonomische Wohlstand könnten nicht dauerhaft gesichert sein. Er wandte sich gegen eine Überdehnung der Marktwirtschaft in dem Sinne, dass er eine bloß materialistische Fixierung auf Konsum und Wohlstand als unzulänglich und gefährlich kritisierte und den Kapitalismus als zwar notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung für eine glückliche, menschenwürdige Gesellschaft beschrieb. Außerdem trieb ihn die Sorge um, dass sich die verhängnisvolle Appeasement-Politik der 1930er Jahre gegenüber dem Kommunismus als noch viel gefährlicherem Totalitarismus wiederholen könnte.7 All dies wurde ablesbar in dem 1958 erschienenen Buch Jenseits von Angebot und Nachfrage, das mit seinem bezeichnenden Titel die Spätphase seines Denkens und seines öffentlichen Wirkens in der Bundesrepublik ein-

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läutete und Röpkes Philosophie des »Dezentrismus« zusammenfasste.8 Den Übergang in die Fünfte Republik in Frankreich, wo sich General de Gaulle mit Jacques Rueff auf einen Freund Röpkes als wirtschaftspolitischen Berater stützte, und das Godesberger Programm von 1959, mit dem die deutschen Sozialdemokraten vom Marxismus abrückten, wertete Röpke noch als Bestätigung seines Engagements. Trotzdem geriet er zunehmend in eine defensive Haltung hinein. Der neue Zeitgeist, den er als Selbstgefährdung des Westens interpretierte und in deren Sog er auch die Bundesrepublik geraten sah, hatte einen strahlenden Repräsentanten: den im November 1960 gewählten US-Präsidenten John F. Kennedy, für den Röpke nichts als Verachtung aufbrachte. In außenpolitischer Hinsicht belegte aus seiner Sicht die Berlin-Krise eine unerträgliche Nachgiebigkeit gegenüber dem Kommunismus. Den Kennedy-Übersetzer Karl Mönch ließ er im Oktober 1961 wissen: »Ich charakterisiere die Politik Washingtons jetzt so: sie könnte kaum anders sein, wenn sie darauf ausginge, die Welt kommunistisch zu machen, bevor es ruchbar wird.«9 In Kennedys wirtschaftspolitischem Programm des »New Frontier« und in den Arbeiten von dessen Beratern Walt Rostow oder John Kenneth Galbraith sah er alle Untugenden und Gefahren der westlichen Welt vereint: unausgeglichene Zahlungsbilanz, horrende Haushaltsdefizite, Gewerkschaftsfreundlichkeit, Inflation, Fiskalsozialismus. Zu den ideologischen Merkmalen der Kennedy-Administration zählte er Utopismus, neojakobinischen Missionsdrang, Germanophobie, Progressismus und das Vorherrschen eines sozialistischen Intellektuellentypus. 10 Ein zweiter Dominostein nach der Wahl Kennedys kippte aus Röpkes Sicht Anfang 1962 mit Italien, wo die Christdemokraten ihre Regierungsmacht durch eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten sicherten und dieses Vorgehen als »Apertura a sinistra« deklarierten. Darin sah er ein Fanal der Zeit, wie er seinem Vertrauensmann bei den italienischen Liberalen im März 1962 mitteilte: »Die größte Gefahr des ›sinistrismo‹ liegt heute darin, dass er mit dem Kommunismus innerlich auf das engste verwandt ist, so wie umgekehrt der Kommunismus nicht verstanden werden kann, wenn wir in ihm nicht eine radikale Form solcher Be-

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wegungen wie des Jakobinismus erkennen, die zugleich die Ahnen des modernen ›Sinistrismo‹ sind. Diese innere Affinität mit dem Kommunismus lähmt alle Progressiven und Radikalen in der Abwehr des Kommunismus.«11 Den »Sinistrismo« sah Röpke bis zuletzt auf dem Vormarsch: über Kennedys Nachfolger Johnson hatte er keine auch nur um einen Deut bessere Meinung, die Kandidatur des von ihm mit einigen Sympathien bedachten Goldwaters 1964 scheiterte kläglich. Zugleich kam in Großbritannien eine Labour-Regierung ans Ruder, deren Wirtschafts- und Finanzpolitik Röpke nach wenigen Monaten – als Warnung für die deutsche Öffentlichkeit – Anfang 1965 ein verheerendes Zwischenzeugnis ausstellte. 12 Die Wahrnehmung des »Sinistrismo« als einer Haltung, die die moralischen Fundamente der westlichen Welt unterspülte und die Abwehrbereitschaft gegenüber einem unverändert expansionswilligen und machtbewussten Kommunismus schwächte, prägte Röpkes Blick auf die Bundesrepublik. Vordergründig stieß ihn die Kennedy-Begeisterung ab, wie sie in dessen Deutschland-Besuch vom Sommer 1963 kulminierte. Röpke dachte unter diesem Eindruck mehr denn je europäisch und hielt nichts von einer atlantischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik, wie sie die Minister Schröder und Erhard präferierten. Standfestigkeit gegenüber dem Kommunismus erwartete Röpke allein von Adenauer und de Gaulle. Im französischen Staatspräsidenten sah er eine verlässliche Gegenfigur zu Kennedy und Johnson. Es spricht zudem einiges dafür, dass Röpke – ähnlich wie der späte Adenauer – die Fähigkeit und Bereitschaft des gaullistischen Frankreichs überschätzte, als Führungsmacht die militärische Sicherheit Westeuropa gegenüber dem Kommunismus zu gewährleisten. Dass Röpke mit seiner Bewunderung für de Gaulle in einem handfesten Dilemma steckte, wurde vor allem in der Europapolitik deutlich. Röpke war sich im Klaren, dass deren dirigistische Tendenzen, die er leidenschaftlich kritisierte, wesentlich auf die von der französischen Verwaltungspraxis geprägte Idee der »Planification« zurückgingen.13 Aufschlussreich für Röpkes Selbstverständnis ist der Briefwechsel, der sich wegen der Veto-Krise zwischen ihm und Erhard ergab. Der Minister zielte wohl ins Schwarze, als er Röpkes Zustimmung zu de Gaulle dahingehend auslegte, »daß Sie jedem

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Beifall zu zollen bereit sind, der gewollt oder ungewollt, mittelbar oder unmittelbar diese von Ihnen stets kritisierte Integrationsform zerschlägt oder ad absurdum führt. […] Von Ihrer Grundhaltung ausgehend, kann ich Ihre Reaktion wohl verstehen, aber Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich sie aus politischer Sicht für unrealistisch halte«.14 Röpkes Antwort an Erhard offenbarte die Verzweiflung, mit der er von seinem Genfer Hochsitz das Treiben seiner politischen Freunde in Bonn verfolgte: »Warum sucht ihr meinen Rat nicht in Fragen, in denen ich wirklich unterrichtet zu sein glaube und Informationen zu haben scheine, die ihr in Deutschland nicht besitzt? Ich leide hier in Genf oft Qualen, wenn ich so viele in Deutschland in etwas verstrickt sehe, was ich nur als Verirrung bezeichnen kann […]. Ich bin ja darüber so erschrocken, dass man sich in Deutschland so gar keine Mühe gibt, de Gaulle zu verstehen, sondern nur über ihn schimpft, während er in meinen Augen Lob und Segen verdient.«15 Auch als de Gaulle im Herbst 1965 mit der »Politik des leeren Stuhls« eine erneute Krise der europäischen Integrationspolitik heraufbeschwor, fand er in Röpke einen leidenschaftlichen Unterstützer. Röpke hoffte, dass durch die französische Haltung die Augen auf die »wirkliche Krise des kleineuropäischen Wirtschaftsblocks« gerichtet würden und dass die ordnungspolitische Fehlkonstruktion der EWG im Sinn einer großen Freihandelszone korrigiert würde. Röpke hielt die supranationalen Bestrebungen der EWG für verfehlt und stellte der Vision eines europäischen »Großvaterlandes« oder eines europäischen »Großpatriotismus« die auch von de Gaulle ausgesprochene Vorstellung eines Europas der Vaterländer gegenüber.16 In verblüffender Analogie zu Adenauer warb Röpke bis in seine letzten Lebenstage um Verständnis für de Gaulle und warnte noch im Januar 1966 in einem seiner letzten Artikel davor, dass der in der Bundesrepublik verbreitete Antigaullismus in einen »Antigallismus« umzuschlagen drohe.17

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Von der Sozialen Marktwirtschaft zum Wohlfahrtsstaat Die Sorge um die antitotalitäre Standfestigkeit der Bundesrepublik, die drohende Gefahr des »Sinistrismo« und das Plädoyer für eine gaullistische Orientierung der Bundesrepublik bestimmten die Position, die Röpke zum Ende der Ära Adenauer in der delikatesten aller innenpolitischen Debatten der Bundesrepublik einnahm: der Kanzlerfrage. Noch in der Gürzenich-Affäre des Jahres 1956, als Adenauer seinen Wirtschaftsminister durch die Absage an ein von Erhard angekündigtes und von Röpke angemahntes Maßnahmenpaket zur Konjunkturdämpfung bloßgestellt hatte, hatte sich der Genfer Ökonom auf Erhards Seite geschlagen und in ihm den selbstverständlichen Nachfolger Adenauers gesehen. Doch in dem Maße, wie sich bei Röpke die Sorge vor einem Einknicken des Westens gegenüber dem machtbewussten Ostblock breit machte, wuchs seine Verehrung für Adenauer. Während er dem Kanzler ordnungspolitische Fehltritte immer weniger persönlich nachtrug, begann er an der politischen Fähigkeit seines persönlichen Freundes Erhards immer mehr zu zweifeln. Den Wendepunkt im Verhältnis zu Erhard stellte die Debatte um die Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 dar. In der Sache war sich Röpke mit Erhard einig, dass eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht zu einer Blockbildung mit hohen Zollmauern nach außen und mit planwirtschaftlichen Eingriffen nach innen führen dürfe, sondern eine Art Freihandelszone sein müsse, die nach innen marktwirtschaftliche Freiheiten etablierte und nach außen für den Handel mit anderen Staaten keine zusätzlichen Hürden errichten dürfte. Von dieser Warte gab es an den Römischen Verträgen in der Tat allerhand auszusetzen, und Röpke prangerte vor der Unterzeichnung und vor dem Inkrafttreten der Verträge zum 1. Januar 1958 die Gefahren einer europäischen Blockbildung scharf an.18 Röpkes Intervention kam Erhard ungelegen, und er ließ das den Ökonomen im Dezember 1957 auch wissen.19 Zum ersten Mal gerieten die beiden in einer wirtschaftspolitischen Sachfrage aneinander, und Röpke zögerte nicht, Erhard gegenüber klarzustellen, worin er seine Aufgabe und Verantwortung als praktischer

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Wissenschaftler gegenüber der Politik sah: »Ich verstehe sehr gut, dass Ihre Stellung als verantwortlicher Staatsmann jetzt eine andere sein muß als die meinige eines unabhängigen und für keine Unterschrift verantwortlichen Theoretikers. Aber gerade wenn die von uns beiden erkannten Gefahren vermieden oder gemildert werden sollen, kann es Ihnen, meine ich, nicht unerwünscht sein, wenn ein Mann wie ich nicht die Rolle des Chors der antiken Tragödie übernimmt und noch einmal sagt, was die verantwortlichen Staatsmänner ohnehin denken und wollen, sondern sein Gewicht nach der anderen Seite verlegt, damit der Wagen in der Kurve nicht umkippt.«20 Röpke war enttäuscht, dass Erhard nach seinem Eindruck so wenig getan hatte, um die planwirtschaftlichen Ansätze der Integrationspolitik zu unterbinden, und sah dafür einen entscheidenden Grund: Erhards Ehrgeiz, sich die Nachfolge Adenauers zu sichern.21 Klagen über Erhard waren von nun an nichts Ungewöhnliches mehr in Röpkes Privatprosa: »Erhard ist ja das Gegenteil von einem Politiker[,] und deshalb sind seine besten Freunde […] davon überzeugt, dass man ihm wie Deutschland den besten Dienst leistet, wenn man ihn überredet, nicht den Kanzlerstuhl anzustreben.«22 Nachdem Röpke in der »Präsidentschaftskrise« des Jahres 1959 geradezu erleichtert darüber gewesen war, dass Adenauer schließlich doch vor dem Wechsel ins Bundespräsidentenamt zurückschreckte und Erhard als Nachfolger vorerst vereitelte, und dies den viel kritisierten Kanzler in einer Solidaritätsadresse auch persönlich wissen ließ, unternahm er im Sommer 1960 sogar einen Vorstoß, um seinen Freund Erhard in einem persönlichen Gespräch von den Kanzlerambitionen abzubringen. Von Erhards politischer Eignung für das Kanzleramt und insbesondere von dessen außenpolitischem Urteilsvermögen war Röpke bis zuletzt nicht zu überzeugen, er rechnete sogar damit, dass ein schwacher Kanzler Erhard in kurzer Zeit auch sein Ansehen als langjähriger Wirtschaftsminister verspielen würde. Aber auch Erhards Leistungen als Wirtschaftsminister beurteilte er zunehmend skeptischer. Rund zehn Jahre, nachdem er in seinem Gutachten die Frage »Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?« vorbehaltlos bejaht hatte, mischten sich in seine Bewertung der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik unverkennbar kritische

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Töne. Im November 1960 warf er einige Fragen auf, die seine Sorge um die politische und ökonomische Stabilität der Bundesrepublik zum Ausdruck brachten: »Steht die Bonner Republik wirklich auf festen Füßen? […] Wird sie ernsthafte Belastungsproben bestehen? Kann sie sich auf ein für ihren Bestand unentbehrliches Mindestmaß an Staatsbewusstsein, Gemeinsinn und Selbstbehauptungswillen verlassen? Ist für eine sichere Führung der öffentlichen Meinung gesorgt, für Klarheit, nüchternen Realitätssinn und selbstverständliche Anerkennung der für jede Gesellschaft unentbehrlichen ›idees incontestables‹?«23 In Bezug auf die Wirtschaftsordnung hatte Röpke einigen Grund zum Pessimismus, wie in seinem Beitrag in der Festschrift für Alfred Müller-Armack 1960 zum Ausdruck kam. Zwar würdigte er noch einmal die Soziale Marktwirtschaft als »das echte und einzige Programm der Ordnung in Freiheit, der Massenwohlfahrt und der dem Menschen angemessenen Wirtschaft und Gesellschaft, das wir anbieten können, das wahre und einzige Programm, das den Kommunismus in die Enge treibt, während alles, was diesem Programm im Namen der Konzentration, der Verächtlichmachung des Eigentums und des ›Bürgerlichen‹ schlechthin, des Kolossalen und des ›Bigger and Better‹ von manchen Intellektuellen entgegengesetzt wird, im Grunde ohne Philosophie und Doktrin ist und dem Kommunismus mit bloßen Verdünnungen seiner eigenen Politik antwortet«. Doch inzwischen neigte Röpke dazu, die Frage nach der Richtigkeit der deutschen Wirtschaftspolitik eher mit einem Nein zu beantworten und führte dazu Tendenzen an, die ihn in den folgenden Jahren noch des Öfteren beschäftigten: eine Finanzpolitik der »Großen Kelle«, ein undurchsichtiges Steuersystem, die unbefriedigende Lösung des Konzentrationsproblems durch die Kartellgesetzgebung, die Wucherung des Wohlfahrtsstaats und schließlich eine inflatorische Hochkonjunktur, gegen die Röpke nachdrücklich eine Aufwertung der D-Mark forderte.24 Dieser Tenor verstärkte sich in der folgenden Zeit, bis Röpke sich im Mai 1962 zum ersten Mal gezwungen sah, Erhard öffentlich zu widersprechen, nachdem dieser gegen Preiserhöhungen des Volkswagen-Konzerns Stellung bezogen hatte.25 Die Warnungen vor einer schleichenden, importierten Inflation blieben im Brennpunkt von Röpkes Stellungnahmen, nachdem

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mit der aus seiner Sicht viel zu späten Aufwertung der D-Mark vom März 1961 eine gewisse Entlastung erreicht worden war. Röpke befürwortete Maßnahmen und Entwicklungen, die zum Auspendeln der inflatorischen Hochkonjunktur beitrugen, und warnte zugleich davor, dass neben der anhaltenden Schwäche des Dollars durch überzogene Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen auch innenpolitische Gefahrenquellen zu einem Wiederansteigen der Inflation führen konnten.26 Das waren nicht nur vor dem Hintergrund einer zunehmend keynesianisch geprägten Debatte zur Geldpolitik in wissenschaftlichen Kreisen unpopuläre Äußerungen, sondern richtete sich im politischen Felde auch dagegen, lautstarken Interessengruppen nachzugeben. 27 Röpke trat gegen ein falsches Verständnis von Pluralismus auf, mit dem verschiedene Interessengruppen ihre materiellen Forderungen an den Staat begründeten.28 Im Bundestagswahlkampf 1965 nahm er sich in einem FAZ-Artikel unter dem Titel »Die Verherrlicher des Staatsappetits« jenes ökonomische Denken zur Brust, das sich auf Galbraiths Bestseller »The Affluent Society« berief. Darin geißelte er die verbreitete Neigung, die Staatsquote durch ständige Ausgabensteigerungen immer weiter aufzublähen, den Leviathan zu mästen und die Menschen auf den Status von Taschengeldempfängern herabzudrücken. Die Anklageschrift verstand sich eher als ein Gewissensappell an wankelmütig und weich gewordene Wirtschaftspolitiker in allen Fraktionen denn als eine Parteinahme zugunsten der amtierenden Regierung.29 Wie wenig er Erhard noch traute, seine Soziale Marktwirtschaft auf Kurs zu halten, wurde in einem Zeitungsartikel deutlich, den Röpke mitten in die heiße Phase der folgenden Kabinettssbildung platzierte. Er sah sich zu öffentlichen Ermahnungen veranlasst, mit denen er den Finger in eine schwärende Wunde der Regierungspolitik legte: »Das Land ist finanzkrank geworden, und das unter einem Bundeskanzler, der gerade auf dem Felde der Wirtschafts- und Finanzordnung zur Gewähr des Gesunden und Soliden geworden war«, lautete seine Anklage Mitte Oktober 1965. Unter dem Druck diverser Interessengruppen, die vom Staate und auf Kosten der Bürger leben wollten, habe Erhard in der Verteidigung einer gesunden Finanzordnung eine nicht zu leugnende Niederlage erlitten, so das bittere Resümee aus Genf.30 Einen

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Ausblick auf die deutsche Wirtschaftspolitik zum Jahreswechsel 1965 / 1966 stellte Röpke, der mit Erhards Konzept der »formierten Gesellschaft« nichts anzufangen wusste, unter die Frage »Ruinieren die Deutschen ihr Wirtschaftswunder selber?«31 Die Gewerkschaften mahnte er zur Mäßigung in der Lohnpolitik und zur Bereitschaft, längere Arbeitszeiten zu akzeptieren, während er von der Bundesbank eine restriktive Kreditpolitik und von der öffentlichen Hand haushälterische Selbstdisziplin einforderte. Schließlich warnte Röpke auch vor einer Ausdehnung der Mitbestimmung, die in seinen Augen nur insoweit mit den Grundregeln der Wirtschaftsordnung vereinbar war, als sie auch eine echte unternehmerische Mitverantwortung und Mithaftung einschloss. In diesen wirtschaftspolitischen Interventionen spiegeln sich die Wandlungen des Staatsverständnisses und die Herausforderungen für das Ordnungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft wider, die im Laufe der 1960er Jahre zu einer wesentlichen Umdeutung der Wirtschafts- und Sozialordnung führten. Röpke erkannte vorausschauend entscheidende Punkte der wohlfahrtsstaatlichen Krise, die in den 1970er Jahren viele westliche Länder erfasste und in der Bundesrepublik nur ein wenig glimpflicher verlief als anderswo.

Ein »kritischer Realist« – Aussagen zum Selbstverständnis In den 1960er Jahren erblickte Röpke seine Aufgabe in erster Linie darin, das politische und ökonomische Aufbauwerk in der Bundesrepublik nach Abschluss der halbwegs erfolgreichen Durchsetzungsphase zu verteidigen. Dem Typus der kritisch-oppositionellen Intellektuellen, der sich an den von Adenauer und Erhard geprägten Leitentscheidungen rieb, warf er dagegen vor, nolens volens den langfristigen Expansionszielen Moskaus zu dienen.32 Allergisch reagierte Röpke insbesondere auf Tendenzen, denen eine einseitig antifaschistische Haltung zugrunde lag und die nicht mit derselben Vehemenz und Klarheit auch gegen den höchst gegenwärtigen kommunistischen Totalitarismus auftraten. In dem 1963 uraufgeführten Stück »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth sah Röpke beispielsweise bei aller Berechtigung, das Verhalten der

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Katholischen Kirche und anderer Kräfte gegenüber dem Nationalsozialismus zu problematisieren, eine einseitige Sicht, die nur zur moralischen Verwirrung beitragen könne: »Wieder einmal entlarvt sich hier ein Anti-Nationalsozialismus als bloßer ›Antifaschismus‹, das heißt als eine Gegnerschaft, die nach dem Willen der Kommunisten blind ist gegenüber der roten Spielart des Totalitarismus und damit gegenüber dem Satanischen jeder Art von Totalitarismus, der im Grunde nicht mehr als ein Antikatholizismus und damit moralisch weniger als wertlos ist, als ein hinkender Anti-Totalitarismus, der dieselbe Unmenschlichkeit, die er mit Recht am Nationalsozialismus verdammt, zu Unrecht am Kommunismus ignoriert oder entschuldigt und damit den Beweis schuldig bleibt, daß er den Nationalsozialismus aus echten und menschlichen Gründen, nämlich als Gegner des Totalitarismus schlechthin, verurteilt.«33 Bei solchen und anderen Gelegenheiten sah sich Röpke als Verteidiger der westlichen Kultur gegen einen übermütigen Progressismus. Der ebenso feinnervige wie temperamentvolle Professor neigte dabei manches Mal zu Überreaktionen und fügte sich allzu leicht in die Rolle desjenigen, der dem Zeitgeist konsequent entgegentrat. Den Vorwurf, ein »Reaktionär« zu sein, wies er freilich zurück, und erblickte eine größere Gefahr in der umgekehrten Haltung, »nämlich in der jeden Widerspruch als ›reaktionär‹ niederschreienden Tendenz, alles als ›Vorurteil‹, als ›Tabu‹ oder was auch immer abzutun, was doch nicht mehr als gesundes Festhalten oder erfreuliche Erinnerung an letzte Werte und Schranken ist, ohne die unsere Gesellschaft wie jede andere der Dekadenz und schließlich dem Untergang entgegentreibt.«34 Darin kam ein konservatives Selbstverständnis zum Ausdruck, das sich gegen eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Erscheinungsformen richtete: So distanzierte sich der Wagnerianer von moderner Musik im Stile Stockhausens, von abstrakter Malerei im Sinne Picassos und wandte sich erst recht gegen die Infantilisierung von Hochkultur in Disney-Trickfilmen. Die öde Betonarchitektur der 1960er Jahre und die Zersiedelung der Landschaft bildeten ebenso Gegenstände seiner Kritik wie – was wohl vor allem auf den Spiegel gemünzt war – der »dekadente Journalismus« der Illustrierten, die »entartete Massenpublizistik« –, und nicht zuletzt die »widerwärtige

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Eitelkeit« der Intellektuellen: »Je weichere Knie ein Politiker gegenüber Moskau oder Pankow hat, um so mehr scheint er ihnen zu gefallen.«35 Im politischen Kontext war auch seine Kritik an den bildungspolitischen Tendenzen der 1960er Jahre bemerkenswert, die er mit dem Schlagwort des »Bildungsjakobinismus« charakterisierte: dem egalitären Bildungsbegriff vieler Schulreformer dieser Jahre stellte er ein Bildungsverständnis entgegen, das Begriffe wie Leistung, Elite, Differenzierung, humanistische Erziehung umfasste und sich skeptisch zu der Schaffung von Massenuniversitäten, Massenschulen und einer übermäßigen »Demokratisierung« des Bildungswesens äußerte. Seine Wendung gegen eine industrialisierte, mechanisierte, entpersönlichte und bürokratisierte Wissenschaft nahm die Kritik vorweg, die sich einige Jahre später an den Ergebnissen der bildungspolitischen Umwälzungen entzünden sollte.36 In einem weiteren Sinne zweifelte er, ob die Bundesrepublik ein hinreichend starkes positives Selbstverständnis aufgebaut hatte. Als ausgewiesener Gegner des Nationalsozialismus sah er es als unumgänglich an, dass die Bundesrepublik eine selbstsichere Identität entwickeln müsse und sich nicht mit einer bequemen Mischung aus Moralismus und Selbsthass zufrieden geben dürfe. So schrieb er im Februar 1965, als er sich wieder einmal über Erhards Außenpolitik beklagte, einem Vertrauten: »Die ganze Hallstein-Doktrin ist ja ohnehin zum Gespött geworden, und nichts ist schlimmer, als wenn ein Land zur – noch dazu unsympathischen – Witzfigur der ganzen Welt wird. Man muss in Deutschland endlich Würde und Haltung wiederfinden, wozu auch gehört, daß man offen von alliierten [Hervorhebung i. O., HJH] Kriegsverbrechen wie Katyn, Dresden, Würzburg usw. redet. Ich kann diesen Masochismus nicht länger ertragen. Man kann einem Lande nicht ungestraft beibringen, daß es dauernd auf sich selbst und seine Vergangenheit (die respektable, meine ich, wozu auch z. B. Bismarck gehört, trotz allem) spuckt. Es wird Zeit, daß man endlich neben Dornröschen, Rotkäppchen, Lassalle und Kennedy Platz für die großen Figuren der deutschen Geschichte findet auf den Briefmarken, ohne sich vor dem schulmeisterlich erhobenen Zeigefinger der Gouvernanten in aller Welt zu fürchten.«37

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Hinter solchen Stellungnahmen stand die Erfahrung, Zeuge eines Generationenbruchs zu sein: Ältere wie er selbst, denen die Ordnung Europas vor 1914 noch lebendig vor Augen stand, stemmten sich dem Utopismus und Progressismus des 20. Jahrhunderts entgegen, während der jüngeren Generation diese Verlusterfahrung und das Bewusstsein für die bedrohten Werte und Grundlagen der abendländischen Zivilisation fehlten.38 Röpke rechnete sich zu einer Gruppe »zorniger, alter Männer«, die von Sorge angetrieben waren: Sorge um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, des kulturell Überlieferten, des Harmonischen und Menschlichen, das durch eine moderne Unkultur der Anmaßung, der Rücksichtslosigkeit, des Übermutes und der Unbekümmertheit gefährdet war. Er verstand sich selbst und die ihm Gleichgesinnten als »kritische Realisten«: »Wenn wir in so vielem mit unserer Zeit und unseren Zeitgenossen unzufrieden sind, und wenn wir unserer Unzufriedenheit unzimperlichen Ausdruck geben, so nicht als ›Nöckergreise‹, wie sie Wilhelm Busch gezeichnet hat, sondern als Menschen, die vor ungeheuren Gefahren warnen, weil sie sie als noch immer abwendbar halten. Es ist ein kritischer Aktivismus, von dem wir uns erfüllt wissen.«39 Einem zynischen und relativistischen Wissenschaftsverständnis trat er entgegen, weil es zu einer »Verengung des Horizonts des Intellektuellen« führe, dessen Wirken den »eigentlichen Sinn« raube und einer Entmenschlichung Vorschub leiste »die in den Geisteswissenschaften am auffallendsten und beunruhigendsten ist, weil sie davor am meisten geschützt sein sollten. Hier, wo der Mensch als geistig-moralisches Wesen im Mittelpunkt steht, muß es verhängnisvolle Wirkungen haben, wenn dieses Zentrum geradezu eliminiert wird, indem ein technisch-mechanistisches Denken, für das […] die Naturwissenschaften als beneidetes Muster gelten, die Oberhand gewinnt.«40 Bezogen auf die Bundesrepublik konkretisierte Röpke dieses Selbstverständnis in einem Beitrag für einen von dem Schriftsteller Hermann Kesten herausgegebenen Sammelband »Ich lebe nicht in der Bundesrepublik«. Der Umstand, dass Röpke nach 1945 in Genf blieb und manche Gelegenheit zur Rückkehr nach Deutschland verstreichen ließ, tat seiner Verbundenheit mit Deutschland und seiner Bereitschaft, sich in die innen- und außenpolitische Ent-

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wicklung der Bundesrepublik einzuschalten, keinen Abbruch: »Weit wichtiger als das oft mißverstandene ›Wirtschaftswunder‹ ist mir das ›politische Wunder‹ erschienen, das darin besteht, daß aus diesem ungeheuren Trümmerhaufen, den ein satanisches Regime hinterlassen, durch einen wahren Gnadenakt der Geschichte und durch einen Glücksfall Europas ohne Krisen und Wirren eine so solide, verständige und den Grundsätzen einer freien und menschlichen Ordnung ergebene Regierung emporsteigen würde. Diesen Glücksfall gilt es gegen schwere Gefahren zu erhalten. Aber dafür glaube ich von außen besser als von innen wirken zu können.«41

Lehren für eine Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik Was lässt sich aus dem hier nur mit einigen groben Pinselstrichen skizzierten Fall Wilhelm Röpke über das Verhältnis der Intellektuellen zur Bundesrepublik und über eine bundesrepublikanische Intellektuellengeschichte lernen? Zum einen taucht in Röpke noch einmal der professorale Gelehrte als öffentliche Figur auf, wie er eher im 19. Jahrhundert verbreitet war. Sein öffentliches Engagement speiste sich aus einem synoptischen Wissenschaftsverständnis, das die Ordnungsprobleme der Gesellschaft als unauflöslichen Zusammenhang betrachtete. Die Wissenschaft hatte in seinen Augen Respekt vor unverzichtbaren Werten zu zeigen, die auch Voraussetzung für die Freiheit der Wissenschaft sind. Insbesondere lehnte er die Vorstellung, dass überlieferte Werte durch wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt werden könnten, als rationalistischen Übermut ab. Insofern bot Röpke ein methodologisches und wissenschaftsethisches Kontrastprogramm zu Tendenzen, die die Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik und anderen Ländern in den 1960er Jahren zu dominieren begannen. Röpke plädierte für ein der politischen Praxis zugewandtes Wissenschaftsverständnis und wies der Wissenschaft als einer von mehreren »Zwischengewalten« im Sinne Montesquieus eine besondere Verantwortung zu. Sie müsse der Politik und der Öffentlichkeit Orientierung und Rat-

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schläge geben, die zum einen prinzipienfest sind und zum anderen in Rechnung stellen, welche Griffflächen ihre Lösungsvorschläge auf lange Sicht dem politischen Prozess bieten.42 Gegenüber Finanzminister Etzel brachte Röpke sein Rollenverständnis als Berater im November 1960 zum Ausdruck: »Daß dem Wollen des Politikers und seiner Möglichkeit, seiner klaren Einsicht zu folgen, Grenzen gesetzt sind, ist mir gewiss nicht zweifelhaft. Um so größer scheint mir die Pflicht des Theoretikers zur Unbeugsamkeit und Rücksichtslosigkeit zu sein.«43 Aus seiner Doppelrolle als Theoretiker und Berater leitete Röpke ein Selbstverständnis ab, das sich markant von dem typischen Intellektuellen der Bundesrepublik und der westlichen Welt unterschied. Zum einen war Röpkes Gesichtskreis bei aller Verbundenheit zu den Bezugsgrößen »Heimat« und »Vaterland« nie auf die Nabelschau deutscher Probleme beschränkt, sondern er betrachtete die Bundesrepublik im Kontext der europäischen und weltpolitischen Konstellation und widmete den für die Bundesrepublik existentiellen Fragen der Westbindung und der europäischen Integration mehr Aufmerksamkeit als die meisten bundesdeutschen Intellektuellen. Zum zweiten verstand sich der typische Intellektuelle der Bundesrepublik nicht als theoretischer Kopf, sondern als Vermittler von Ideen, der als Journalist, Schriftsteller oder im Erziehungs- und Sozialwesen ohne besonderes Fachwissen die Verbreitung und Anwendung von Ideen beeinflusste – ein wenig also in dem Sinne, wie schon bei Justus Möser die Figur des Küsters angelegt war, welcher den Kindern in der Dorfschule die über Generationen gereifte Erfahrung des Landlebens ausreden und ihnen statt dessen allerlei von Gelehrten und Bücherlingen ausgeheckte Projekte weismachen will.44 Ein drittes Merkmal, das im Kontrast zu Röpke hervortritt, ist der durchweg dem gewöhnlichen Erwerbsleben abgewandte, wenn nicht sogar ausgesprochen antikapitalistische und antibürgerliche Habitus vieler bundesdeutscher Intellektueller.45 Röpkes Wahrnehmung der Intellektuellen als sozialer Gruppe und kultureller Elite, die entliehene Ideen verbreiten, für antibürgerliche, antikapitalistische und totalitäre Ideologien anfällig sind und damit Grundlagen bürgerlicher Freiheit und Ordnung in Frage stellen, ähnelte in vielem den Deutungen, die seine Zeitgenossen Hayek, Aron und Schelsky vorlegten.46

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Lehrreich für die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik ist Röpke auch deshalb, weil er früh und mit großer Treffsicherheit die Gründungsentscheidungen der Bundesrepublik vorweggenommen hat. Sein Programm aus Die deutsche Frage vom Frühjahr 1945 kann als Beleg gegen die verbreitete These gelesen werden, dass die Bundesrepublik erst nachträglich eine intellektuelle Gründung erfuhr. Am Ende des Zweiten Weltkriegs lieferte Röpke eine intellektuelle und moralphilosophische Begründung für die tragenden Entscheidungen, die am Beginn der Bundesrepublik standen: Marktwirtschaft, Föderalismus, Westbindung und Verzicht auf die Einheit um jeden Preis. Mit Fug und Recht kann ihm daher »die geistige Vaterschaft der Bundesrepublik« zugestanden werden.47 An einem intellektuellen Begründungsangebot für das, was sich später im Wesentlichen als Erfolg erwies, hat es also keineswegs gemangelt. Was fehlte, war indes die Bereitschaft einer Mehrzahl von Intellektuellen, sich dieses antikollektivistische, dezentristische und an die Einheit des Westens appellierende Programm zueigen zu machen. Eine weitere These bedarf der Korrektur, wenn man Röpkes Wirken in eine Gründungsgeschichte der Bundesrepublik ein bezieht. Mag es in politischer Hinsicht gerechtfertigt sein, von einer durch die Westmächte oktroyierten Liberalisierung der Bundesrepublik zu sprechen, so ist diese These mit Blick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung unhaltbar. Die liberalen, im Selbstverständnis ihrer Protagonisten von Erhard bis Eucken sogar ausdrücklich »neoliberalen« Gründungsentscheidungen der Sozialen Marktwirtschaft wurden gegen den hinhaltenden bis offenen Widerstand der Besatzungsmächte durchgesetzt, die entweder wie Frankreich gar kein Interesse an der wirtschaftlichen Integration und Genesung des Nachbarlandes hatten oder die wie die USA und Großbritannien von Administrationen und Regierungen geführt wurden, die sowohl im eigenen Land als auch in ihrer Besatzungspolitik starke Vorlieben für planwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen hatten. In diesem Sinne war die Bundesrepublik nicht Objekt einer von den Besatzungsmächten protegierten Verwestlichung, sondern hat ihrerseits durch die wirtschaftliche Stabilisierungsleistung der ersten Jahre einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass die westliche Welt im Kalten Krieg trotz vieler

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Anfechtungen von innen und außen ein freiheitlich-demokratisches Gegenmodell zur kommunistischen Bedrohung aufrechterhielt. Bei einem Blick auf die intellektuelle Situation der Bundesrepublik nach 1960 verdient Röpke Aufmerksamkeit, weil sich an ihm studieren lässt, wie die großen Leitentscheidungen der Bundesrepublik unter Druck gerieten, in Frage gestellt, schleichend korrigiert und umgedeutet wurden. Gewissermaßen findet man bei Röpke eine vorweggenommene Kritik zum einen gegen das technokratisch-modernistische Staatsverständnis, das in den Planungsvorstellungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahren gipfelte, und zum anderen gegen die revolutionäre Romantik und Bilderstürmerei, die mit der Chiffre »1968« verbunden wird. Viele der postrevolutionären Gegenpositionen, die bürgerliche Intellektuelle von Hermann Lübbe, Helmut Schelsky oder Odo Marquard bis hin zu Udo di Fabio seit den 1970er Jahren formulierten, finden sich in Stellungnahmen des späten Röpkes bereits als Warnungen angelegt. Wenn man Röpkes Rolle als Kontrastbild vor Augen hat, lässt sich nur schwer darüber hinwegsehen, dass die großen antitotalitären Leitentscheidungen der Bundesrepublik getroffen wurden, indem sich ihre verantwortlichen Politiker über die gegenteiligen Plädoyers der führenden oder wortgewaltigsten Intellektuellen hinwegsetzten. Dass sich die Bundesrepublik am Ende als eine »ausgebliebene Katastrophe« (Hans-Peter Schwarz) und als ungeahnter Stabilisierungserfolg entpuppte, verdankte sie größtenteils Leitentscheidungen, die gegen die Mehrzahl ihrer Intellektuellen getroffen wurden. Es ist fraglich, ob diejenigen Intellektuellen, die sich gegen diese und andere Leitentscheidungen der Bundesrepublik stellten oder den ungeliebten Staat gar in revolutionärer Selbstüberschätzung zu überwinden trachteten, sich aber schließlich mehr oder weniger zähneknirschend mit den politischen Realitäten oder mit bequemen Positionen in Verwaltungen und Universitäten abfanden, einen nennenswerten Beitrag zur Stabilisierung und Integration dieser Bundesrepublik geleistet haben. Wenn man Intellektuellen einen solchen Beitrag dafür zubilligen will, dass das politische Experiment Bundesrepublik halbwegs gelang und nicht in einer erneuten politischen und moralischen

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Katastrophe versank, so kommt dieses Verdienst nur einer kleinen Minderheit unter ihnen zu, die sich der Verteidigung der Bundesrepublik und ihrer Staatsraison verschrieben hatten. Eine Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik würde ein schiefes Bild abgeben, wenn sie nur ein Panoptikum der griesgrämigen Bedenkenträger und selbstverliebten Berufskritiker, der naiven Pazifisten und gutmeinenden Neutralisten, der bierernsten Weltrevolutionäre und lustvollen Kommunarden, der theorieverliebten Spätmarxisten und subventionierten SED-Sprachrohre böte. All das gehört gewiss zum Gesamtpanaroma, aber ein angemessenes Urteil über deren Beitrag und Verantwortung für die Stabilisierung und den Erfolg des westdeutschen Provisoriums lässt sich nur fällen, wenn sie mit jener kleineren oder zumindest weniger auffälligen und auf Selbstinszenierung bedachten Gruppe von Intellektuellen kontrastiert werden, die man als »Bundesrepublikaner« charakterisieren könnte. Sie hatten oft unspektakuläre Biographien, vielleicht auch einen unaufregenden Habitus, nicht immer eine lange Liste der Brüche, Verirrungen und Selbstkorrekturen, und im Großen und Ganzen lag ihnen an der Verteidigung der Kultur mehr als an ihrer rituellen Kritik. Diese »Bundesrepublikaner«, unter denen Röpke im Juni 1945 der erste war, nahmen in politischen Einzelfragen durchaus verschiedene Positionen ein, und sie waren nicht frei von Fehlurteilen, Übertreibungen und Widersprüchen. Aber man wird unter ihnen alles in allem auf eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften stoßen: auf nüchternen Realismus und eine dezidierte Verantwortungsethik, auf einen intakten Orientierungssinn in Bezug auf Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, auf einen bürgerlichen Habitus und eine liberale Grundstimmung, die bisweilen durchaus eine konservative oder sozialdemokratische Färbung annehmen konnte, aber in jedem Falle ihr antitotalitäres und antiextremistisches Grundverständnis wahrte. Neben Kurt Sontheimer, Theodor Eschenburg, Karl-Dietrich Bracher, Hans Maier, Ralf Dahrendorf, Johannes Gross, Walter Kempowski, Hermann Lübbe, Odo Marquard oder Alexander Schwan ließe sich noch an etliche andere Köpfe denken, die in diesem Sinne für den Common sense des demokratischen Verfassungsstaates eintraten. Sie stritten nicht gegen oder um, sondern für diesen Staat, den sie trotz vieler Unzulänglich-

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keiten als eine insgesamt gelungene und bewahrenswerte Antwort auf die totalitäre Versuchung deuteten. Sie stritten nicht, um die Bundesrepublik in Frage zu stellen oder zu überwinden, sondern um sie zu stabilisieren und vor politischen und geistigen Gefährdungen zu schützen.

Anmerkungen 1 Als authentische Parallelschilderung zur Darstellung der »Großen Schlacht« vom März 1918 in Jüngers In Stahlgewittern siehe: Wilhelm Röpke, Meine Erlebnisse in der Durchbruchsschlacht von Cambrai-Arras am 21. und 22. März 1918, MS, 41 S., 26. 3. 1918, in: Privatbesitz Hans Willgerodt. Zu Röpkes Jugend auf dem Lande siehe: Der Cicero auf dem Dorfe. Wunderliche Geschichten zwischen Stade, Schwarmstedt und dem Genfer See. Erzählungen und Geschichten von Prof. Dr. Wilhelm Röpke, Ausgewählt und zusammengestellt von Werner Pries, Horb 2002. 2 Gustav W. Heinemann, Wir müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1919–1922 hg. von Brigitte und Helmut Gollwitzer, München 1980; Ernst Lemmer, Manches war doch anders. Erinnerungen eines deutschen Demokraten, Frankfurt / M. 1968. 3 Wilhelm Röpke, Krise und Konjunktur, Leipzig 1932; ders. alias »Ulrich Unfried«, Die Intellektuellen und der »Kapitalismus«, in: Frankfurter Zeitung vom 6., 11. und 13. 9. 1931; ders., Die Katastrophensüchtigen, in: Frankfurter Zeitung vom 30. 12. 1931. 4 Wilhelm Röpke, Nationalsozialisten als Feinde der Bauern. Ein Sohn Niedersachsens an das Landvolk. Flugblatt, Schwarmstedt, 11. 9. 1930, in: ders., Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens, hg. von Albert Hunold, Erlenbach-Zürich 1959, S. 84–86; ders., Epochenwende? Referat vom 8. 2. 1933 in Frankfurt, in: ders., Wirrnis und Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze, Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1962, S. 105–124; ders., Grabrede für Walter Troeltsch, Typoskript, 28. 2. 1933, in: Nachlaß Röpke. Dazu ders., Marburger Dozenten- und Professorenjahre, in: Universitätsbund Marburg (Hg.), Alma mater Philippina, Heft WS 1965 / 66, S. 18–23. 5 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942; ders., Civitas humana, Erlenbach-Zürich 1944; ders., Internationale Ordnung, Erlenbach-Zürich 1945; Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, Erlenbach-Zürich 1945. Vgl. auch die Ergänzungen in der zweiten Auflage vom Herbst 1945 (21945) und der dritten Auflage mit Vorwort von November 1947 (31948). 6 Z. B. Wilhelm Röpke, Der Westen – seine Idee und seine Wirklichkeit, in: Universitas 15 (1960), Heft 6, S. 585–596; ders., Grundlagen und Grundkräfte der modernen Welt, in: Felix von Schroeder (Hg.), Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. 1, Bern / München 1962, S. 7–21.

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7 Wilhelm Röpke, A dream, in: National Review, 17. 1. 1959. 8 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1958. 9 Wilhelm Röpke an Karl Mönch, 18. 10. 1961, in: Nachlass Röpke, Ordner »Februar 1962–März 1963«. 10 Wilhelm Röpke, Die Nationalökonomie des »New Frontier«, in: Ordo XIV (1963), S. 79–107. 11 Wilhelm Röpke an Giovanni Malagodi, 20. 3. 1962, in: ders. (1976), S. 174 f. 12 Wilhelm Röpke, Sozialismus als Abenteuer. Das neue Experiment der Labour-Regierung, in: FAZ vom 9. 1. 1965. 13 Wilhelm Röpke, Die Planifikation. Ein neues Etikett für eine überholte Idee, in: FAZ vom 20. 7. 1963. 14 Ludwig Erhard an Wilhelm Röpke, 23. 2. 1963, in: Nachlass Erhard. 15 Wilhelm Röpke an Ludwig Erhard, 1. 3. 1963, in: Nachlass Erhard. 16 Wilhelm Röpke, Für Europa schlägt jetzt die Stunde der Wahrheit, in: Welt am Sonntag, 22. 8. 1965; ders., Der jähe Sturz in die europäische Wirklichkeit. Zur Überwindung der EWG-Krise. Revision oder Neu-Interpretation der Verträge, in: Rheinischer Merkur vom 22. 10. 1965. 17 Wilhelm Röpke, Vom Antigaullismus zum Antigallismus, in: Rheinischer Merkur vom 14. 1. 1966. 18 Wilhelm Röpke, Wehret beizeiten den Ökonomisten und den Bürokraten!, in: Die Zeit vom 4. 7. 1957; ders., Politischer Enthusiasmus und wirtschaftliche Vernunft, in: NZZ vom 17. 2. 1957; ders., Gemeinsamer Markt und Freihandelszone, in: Welche Wirtschaftspolitik kann das Vertrauen des Wählers rechtfertigen? Vorträge und Diskussionen auf der neunten Arbeitstagung der ASM am 26. und 27. 11. 1957, Ludwigsburg 1958, S. 18–33. Auszug als: ders., Gemeinsamer Markt: ja – aber ohne Dirigismus, in: Die Zeit vom 12. 12. 1957. 19 Ludwig Erhard an Wilhelm Röpke, 10. 12. 1957, in: Nachlass Erhard. 20 Wilhelm Röpke an Ludwig Erhard, 12. 12. 1957, in: ders., Briefe 1934– 1966. Der innere Kompaß, hg. von Eva Röpke, Erlenbach / Zürich 1976, S. 157. 21 Wilhelm Röpke an Albert Hunold, 23. 12. 1958, in: Nachlaß Röpke. 22 Wilhelm Röpke an Albert Hunold, 11. 5. 1960, in: ebd. 23 Wilhelm Röpke, Die innere Gefährdung Deutschlands, in: Neue Zürcher Zeitung vom 6. 11. 1960. 24 Wilhelm Röpke, Die Laufbahn der Sozialen Marktwirtschaft, in: Franz Greiß / Fritz W. Meyer (Hgg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin 1961, S. 3–9. 25 Wilhelm Röpke, Das Duell Erhard-Nordhoff, in: Welt am Sonntag vom 6. 5. 1962; ders., Die deutsche Wirtschaftspolitik steuert einen falschen Kurs, in: Industriekurier vom 7. 8. 1962. 26 Wilhelm Röpke, Woher weht der Wind in der deutschen Wirtschaft 1963?, in: Welt am Sonntag vom 30. 12. 1962; ders., Richtpunkte einer Wirtschaftsprognose für 1963, in: Creditreform 1963, Januar, S. 3–5; ders., Der Kampf gegen die Inflation unserer Zeit, in: Albert Hunold (Hg.), Inflation und Weltwährungsordnung, Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1963, S. 21–46.

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27 Vgl. Rudolf Richter, Deutsche Geldpolitik 1948–1998, Tübingen 1999, S. 33–69. 28 Wilhelm Röpke, Die Interessenvertretung als Mittel der Einflußnahme, in: Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker: Zehn Beiträge, München 1964, S. 51–64. 29 Wilhelm Röpke, Die Verherrlicher des Staatsappetits, in: FAZ vom 3. 7. 1965. 30 Wilhelm Röpke, Eine Radikalkur für das finanzkranke Deutschland, in: Welt am Sonntag vom 17. 10. 1965. 31 Wilhelm Röpke, Ruinieren die Deutschen ihr Wirtschaftswunder selber?, in: Welt am Sonntag vom 2. 1. 1966. Zur »formierten Gesellschaft« siehe: Wilhelm Röpke an Rolf Spethen, 19. 1. 1966, in: Nachlaß Röpke, Ordner »März 1965–«. 32 Wilhelm Röpke, Deutschland in Moskaus Spiel, in: Rheinischer Merkur vom 7. 8. 1964. 33 Röpke, Antifascismus oder Antitotalitarismus?, in: NZZ vom 31. 5. 1963. 34 Wilhelm Röpke, Wer sind die Reaktionäre?, in: Rheinischer Merkur vom 19. 2. 1965. 35 Wilhelm Röpke, Der Wurm ist drin, in: Pallotiner Kalender 1965, S. 32 f; ders., Wer Deutschland liebt …, in: Nemzetör, Januar 1966, S. 3; ders., Versteppung durch Kleinschreibung, in. Rheinischer Merkur vom 17. 4. 1959. 36 Wilhelm Röpke, Torheiten der Zeit. Stellungnahmen zur Gegenwart, Nürnberg 1966, S. 81–123. 37 Wilhelm Röpke an Otto A. H. Vogel, 20. 2. 1965, in: Nachlaß Röpke, Ordner »Mai 1964–März 1965«. 38 Röpke, Grundlagen und Grundkräfte der modernen Welt, in: Felix von Schroeder (Hg.), Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. 1, Bern / München 1962, S. 7–21. 39 Wilhelm Röpke, Wir zornigen alten Männer, in: Welt am Sonntag vom 11. 10. 1964. 40 Wilhelm Röpke, Beitrag, in: Die Kraft zu leben. Bekenntnisse unserer Zeit, Gütersloh 1963, S. 190–202, hier S. 197 und 200. 41 Wilhelm Röpke, Ich bin nicht zurückgekehrt, in: Hermann Kesten (Hg.), Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, München 1964, S. 140–144, hier 143 f. 42 Wilhelm Röpke, Die politische Ökonomie. Was heißt politisch unmöglich?, in: FAZ vom 12. 12. 1959. 43 Wilhelm Röpke an Franz Etzel, 26. 11. 1960, in: Nachlaß Röpke, Ordner »FAN MAIL X«. 44 Justus Möser, Es bleibt alles beim Alten, in: ders., Anwalt des Vaterlandes. Wochenschriften – Patriotische Phantasien – Aufsätze – Fragmente, Leipzig / Weimar 1978, S. 128–130. 45 Dieser Aspekt hat in der Theorie des Intellektuellen viel Aufmerksamkeit erfahren, siehe dazu insbesondere: Thorstein B. Veblen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of Institutions, New York / London 1899; Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und

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Demokratie, Tübingen / Basel 71993; Alfred von Martin, Mensch und Gesellschaft heute, Frankfurt / M. 1965, S. 184–239. 46 Friedrich August von Hayek, Die Intellektuellen und der Sozialismus, in: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 29 (1949), S. 273– 286; Raymond Aron, Die Intellektuellen und der Totalitarismus, in: Albert Hunold (Hg.), Die Freie Welt im Kalten Krieg, Zürich / Stuttgart 1955, S. 31–54; ders., Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln / Berlin 1957; Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975. 47 Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, Neuwied / Berlin 1966, S. 393.

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Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik

Die Schriftsteller der Gruppe 47, um deren Staatsverständnis und Politikauffassung es in diesem Beitrag geht, werden oftmals mit der literarischen Intelligenz, den intellektuellen Oppositionellen insgesamt oder sogar mit den Intellektuellen in der Frühphase der Bundesrepublik überhaupt gleichgesetzt. Entsprechend gründlich ist gerade von Literaturwissenschaftlern, mittlerweile aber auch von einigen Historikern, die geistige Produktion der Gruppe untersucht worden: die Entstehung aus der Zeitschrift Der Ruf in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre; die Forderung nach einem geistigen Neuanfang und der Protest gegen das, was sie als konservative Restauration unter Bundeskanzler Konrad Adenauer empfanden; ihr Erfolg bei der Etablierung einer eigenen literarischen »Marke« und die Gewinnung einer fast hegemonialen Stellung im Literaturbetrieb der Bundesrepublik; ihr schwieriges Verhältnis zu den Schriftstellern in der Emigration, bis hin zum Vorwurf des Antisemitismus.1 Im Folgenden steht nicht die literarische Bedeutung der Gruppe 47 als Vereinigung von Schriftstellern im Zentrum, sondern ihre politische Signifikanz als Zusammenschluss von Intellektuellen. Dafür werden nicht vorrangig die späten 1940er und 1950er Jahre untersucht, sondern die 1960er Jahre, die in vieler Hinsicht den Höhepunkt der politischen Wirksamkeit der Gruppe markierten. Zusätzlich zur spannungsvollen Nähe zur Sozialdemokratie und der sattsam bekannten Gegnerschaft zum Gründungskanzler der Bundesrepublik wird auch das sehr viel ambivalentere, zum Teil erstaunlich gesprächsbereite, Verhältnis zur CDU neben und nach Adenauer in den Blick genommen. Hans Werner Richter ist dabei als Initiator und Organisator der politischen Aktivitäten

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der Gruppe 47 von besonderem Interesse und, weil seine Prägungen, Hoffnungen und Ängste die Visionen und Obsessionen einer größeren Gruppe deutscher Intellektueller aus der »Generation des Jahres Null« (Leonhard Reinisch) widerspiegelten. Die folgenden Beobachtungen, die sich um vier Thesen gruppieren, beruhen zum Teil auf Richters Tagebuchaufzeichnungen und seiner politischen Publizistik, im Wesentlichen aber auf seinem weit verzweigten Briefwechsel, der für die skizzierten Themenfelder von der zeitgeschichtlichen Forschung noch nicht annähernd ausgeschöpft ist.2 In der ersten These geht es um das Selbstverständnis der Gruppe 47 als Versammlung von Intellektuellen, das heißt um ihr Verhältnis zur Politik. Oft ist der Gruppe 47 der Vorwurf gemacht worden, sie sei eine »Literaturbörse«3, eine Vermarktungsanstalt für Prosa und Poesie, auf deren Jahrestagungen es zugehe »wie auf den Hauptversammlungen einer Aktiengesellschaft mit Feststellungen der Dividende, der Börsenkurse, mit Geschäften zwischen Verkäufern und Käufern«.4 Dagegen wird hier die These vertreten, dass letztlich das Politische von größerer Bedeutung für die Gruppe 47 war als die Literatur oder das Geschäft, nicht nur was ihre Gründung anbetrifft, sondern auch im Hinblick auf ihren Zusammenhalt als Gruppe über mehr als zwanzig Jahre. Ja, die – zugegeben vage und diffuse, aber doch als belastbar empfundene – politische Einigkeit als irgendwie »linker« Zusammenschluss diente lange Zeit erfolgreich dazu, literarische Gegensätze und Unterschiede zu verklammern. Insofern war das gemeinsame »links sein« ein Ersatz für das fehlende literarische Programm. Die zweite These beschäftigt sich mit der Frage, was man dabei unter »links sein«, unter dem gemeinsamen politischen Nenner der Gruppe 47 zu verstehen hat. Worauf die Mitglieder sich einigen konnten, war zunächst einmal und vor allem die Gegnerschaft gegen den bestehenden Staat. Diesen Staat identifizierten die Siebenundvierziger bis Anfang der 1960er Jahre nicht nur mit der Hauptstadt Bonn und der Regierungspartei CDU, sondern ganz konkret mit der Person Adenauers als Bundeskanzler. Mit seinem Namen verband sich all das, was man an der Bundesrepublik ablehnte: das Autoritäre und Intolerante, das Antiintellektuelle, künstlerisch Uninteressierte, das Katholische, das Kapitalistisch-

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Materialistische, die Parteienherrschaft, die personelle Kontinuität mit Weimar, die Integration der kleinen und großen Nazis, die Teilung der Nation. Spätestens mit dem Abtritt Adenauers, so die These, verblasste dieses Feindbild und die polarisierende Eindeutigkeit der politischen Zuordnungen verschwamm. Richter selbst unternahm zwischenzeitlich Versuche, die Gruppe 47 auch gegenüber der CDU zu öffnen und mit Christdemokraten der Generationen nach Adenauer ins Gespräch zu kommen. Die dritte These zielt auf das Verhältnis der Gruppe 47 zur parteipolitisch organisierten Linken in der Bundesrepublik: der SPD. Dieses Verhältnis war relativ unproblematisch, solange man sich in der gemeinsamen Gegnerschaft zum Adenauer-Staat traf. Es gab zwar immer wieder heftige Enttäuschungen, aber die SPD blieb für die Gruppe 47 das kleinere Übel gegenüber der AdenauerCDU. Das änderte sich, als mit Adenauers Rücktritt das gemeinsame Feindbild verschwand. Manche Siebenundvierziger fühlten sich nach der Wahl Brandts zum Kanzlerkandidaten der SPD zunehmend verbunden. Andere hingegen verweigerten sich weiterhin parteipolitischer Vereinnahmung jeder Art. Wieder andere sympathisierten mit dem Marxismus der Neuen Linken und den Revolutionsphantasien der rebellierenden Studenten. Dieses Auseinanderdriften des politischen Engagements ihrer Mitglieder war der Hauptgrund für das Auseinanderbrechen der Gruppe 47 und unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Politischen in ihrer Geschichte. Die vierte These schließlich ordnet das sich wandelnde Politikverständnis der Gruppe 47 in die längeren Traditionslinien der Staatsauffassung deutscher Linksintellektueller im 20. Jahrhundert ein. Es waren die Verfechter eines parteipolitischen Engagements für die SPD, so die These, die in dieser Hinsicht den Traditionsbruch vollzogen, nicht die Nonkonformisten in der Gruppe, die an der überkommenen Forderung nach Trennung von Geist und Macht festhielten, und auch nicht die Bilderstürmer von »1968«, die sich in eine lange Reihe revolutionärer Utopisten unter deutschen Intellektuellen einreihten.

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Das Verhältnis zur Politik In der Forschungsliteratur zur Gruppe 47 ist die politische Dimension ihrer Aktivitäten oft heruntergespielt worden. Stattdessen wurde ihre Gründung als Abkehr von der Politik und Hinwendung zur Literatur gedeutet, ja als Flucht in die Literatur angesichts der heraufziehenden Restauration im Nachkriegsdeutschland.5 »Politik hatte auf den Gruppentagungen nichts zu suchen«, schrieb Heinz Ludwig Arnold in seinem Grundriss der Gruppe 47.6 Kürzlich hat er diese Sichtweise vom unpolitischen Charakter der Gruppe noch einmal zugespitzt, indem er von bloßen »Ausflügen« in die Politik sprach und darauf hinwies, dass die politischen Resolutionen, die aus der Gruppe kamen, immer nur von einer Minderheit der Gruppenmitglieder unterschrieben worden seien.7 Richter selbst hat dagegen immer die politisch-publizistischen Ursprünge der Gruppe betont. »Nicht Literaten schufen sie«, schrieb er 1962, »sondern politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ansprüchen.«8 Der Eskapismus, die Flucht aus der Publizistik des Rufes, den Richter zusammen mit Alfred Andersch 1946 / 47 herausgab, in die Literatur der Gruppe 47 sei »nur die halbe Wahrheit«, wiederholte er zwölf Jahre später in seinen »Briefen an einen jungen Sozialisten«.9 Richters Briefe und Tagebuchaufzeichnungen bestätigen diesen Eindruck. Im November 1961 schrieb er an Rudolf Walter Leonhardt, den damaligen Leiter des Kulturteils der Zeit, die interne Kritik während der Tagungen der Gruppe 47 habe weniger literarischen Zwecken gedient, als vielmehr politisch-pädagogischen: als praktische Einübung demokratischer Tugenden, allen voran die Fähigkeit »der Kritik, des Ertragens der Kritik, und der immer geübten Achtung der Meinung und des Könnens des anderen«. Gegenüber diesem pädagogischen Anliegen demokratischer Elitenbildung sei das literarische Prestige der Gruppe »nur Abfallprodukt«.10 Auch wenn man hier ein gewisses Understatement in Rechnung stellt, sind an der Grundaussage kaum Zweifel angebracht: Richter war an Politik mehr interessiert als an Literatur. Das wurde gerade in der Auseinandersetzung mit Gruppenmitgliedern deutlich, die das – wie Marcel Reich-Ranicki – dezidiert anders sahen. In einem Brief an Siegfried Lenz ebenfalls vom Herbst 1961 dachte Richter

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laut darüber nach, den Kritiker in Zukunft nicht mehr zu den Tagungen einzuladen. Die Gruppe 47 sei nun einmal, schrieb er, »eine auch politisch engagierte Gruppe und hat eine in dieser Hinsicht weitgehend einheitliche Mentalität«. Ranicki habe das nie bemerkt. »Das war sein Fehler.«11 Worum es Richter ging, bezeichnete er in einer Tagebuchaufzeichnung als »Prinzip des indirekten Einflusses«. Dieser indirekte Einfluss würde sich in einer demokratischen Gesellschaft über kurz oder lang auch politisch auswirken. Er sei kaum wahrnehmbar, bewirke aber auf lange Sicht »mehr als alle Programme«.12 Richters politische Vorstellungen hatten sich seit den Jahren 1946 / 47, als er den Ruf herausgab, kaum verändert.13 Er trat für einen undogmatischen, humanitären Sozialismus ein, für die Wiedererlangung der deutschen Einheit durch einen europäisch eingebetteten Nationalneutralismus, für die Rolle Deutschlands als Mittler zwischen Ost und West und für eine »Demokratisierung unserer Demokratie«, wie er 1957 schrieb.14 Er glaubte an den Gegensatz von Utopie und Realpolitik, Öffentlichkeit und Staat, an das, was einmal treffend als »Idealismus einer Politik der Haltung« bezeichnet worden ist.15 Intellektuelle konnten in seinen Augen durchaus Einfluss ausüben, wenn sie die Öffentlichkeit über Literatur, Presse und Rundfunk für ihre Gedanken einzunehmen verstanden. Dieses langfristig angelegte Projekt demokratischer Elitenbildung bestimmte das politische Engagement Richters in der Gruppe 47 während der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Ab Mitte der Dekade erschien es ihm allerdings nicht mehr ausreichend. Der Aufbau der Bundeswehr, die Diskussion um eine atomare Bewaffnung der westdeutschen Streitkräfte, die Gründung einiger neonazistischer Verlage und Zeitschriften machten es aus seiner Sicht dringend notwendig, sich stärker in die Tagespolitik einzumischen. Dazu schuf er 1956 den Grünwalder Kreis und zwei Jahre später das Münchener Komitee gegen Atomrüstung bewusst als politische Sammelpunkte »der geistigen und ›heimatlosen‹ […] Linken«, wie er damals dem Suhrkamp-Lektor Walter Maria Guggenheimer schrieb.16 Die Gruppe 47 war zunächst nur indirekt an diesen Aktivitäten beteiligt. Zwar gehörten Gruppenmitglieder wie Heinrich Böll, Hans Georg Brenner und Paul Schallück dem

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Grünwalder Kreis an, und fast alle prominenten Siebenundvierziger unterzeichneten im April 1958 den Aufruf gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr, aus dem Richters Komitee gegen Atomrüstung hervorging. Aber noch betrachtete Richter sein politisches Engagement und seine literarischen Aktivitäten in der Gruppe 47 als zwei Paar Schuhe – wobei er allerdings charakteristischerweise seinen eigenen Schwerpunkt auf die Politik, nicht auf die Literatur legte. Das wurde in seinen Überlegungen deutlich, 1956 die Frühjahrstagung der Gruppe 47 ausfallen zu lassen, um sich ganz dem Grünwalder Kreis widmen zu können. »Ich meine«, schrieb er an Böll, »das Politische, so wie wir es auffassen, muss im Augenblick den Vorrang vor dem Literarischen haben.«17 Die organisatorische Trennung von politischen und literarischen Aktivitäten endete mit dem Mauerbau im Sommer 1961. Durch das Engagement gegen die Atombewaffnung waren viele Siebenundvierziger zusätzlich politisiert worden. Spätestens seit dem Welterfolg von Grass’ Blechtrommel 1959 war der Gruppenname auch einer breiteren Öffentlichkeit ein Begriff. Mit dem Mauerbau kam die persönliche Betroffenheit von Gruppenmitgliedern wie Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass hinzu, die in Berlin wohnten, sowie von Richter selbst, dessen Familie in Bansin auf Usedom lebte. Das löste einen weiteren Politisierungsschub aus. Schnurre und Grass richteten an den Schriftstellerverband der DDR die Forderung, zum Bau der Mauer nicht zu schweigen: »Wer den Beruf des Schriftstellers wählt, muss zu Wort kommen, und sei es nur durch ein lautes Verkünden, er werde am Sprechen gehindert.«18 Richter verfasste einen Brief an Chruschtschow und beschuldigte SED-Chef Walter Ulbricht, die Menschenrechte zu verletzen, den Frieden zu gefährden und gegen die Grundsätze des Sozialismus zu verstoßen.19 In einem offenen Brief an die UNO forderten schließlich zahlreiche Mitglieder der Gruppe 47 die Vereinten Nationen auf, ihren Sitz nach Berlin zu verlegen, um nach dem Mauerbau die Sicherheit der geteilten Stadt zu gewährleisten.20 Zwei Aspekte waren an den publizistischen Aktivitäten in der Mauerkrise interessant: Erstens ging es Richter jetzt um eine bewusste Politisierung der Gruppe 47. Dem WDR-Redakteur Roland Wiegenstein schrieb er, er wolle wieder »eine auch politisch enga-

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gierte Gruppe haben«. Angesichts der Mauer sei ihm »eine nur literarische Gruppe ein Greuel«.21 In ähnlichem Ton wandte er sich auch an Schnurre: »Wir können diese Dinge [gemeint war der Mauerbau, DG] nicht hinnehmen. Auch in den nächsten Monaten werden wir uns immer wieder zu Wort melden müssen. […] Günter Grass meinte, bevor ich abfuhr: Jetzt muss die Gruppe strapaziert werden. Ja, wir werden sie strapazieren.«22 Zweitens setzten Grass, aber auch Richter gezielt ihr inzwischen internationales Renommee ein, um politisch etwas zu bewirken. Die nationale Bühne war ihnen zu klein geworden. Schon in seinem Engagement gegen Atomwaffen hatte sich Richter um Verbindungen ins Ausland bemüht, war in London zum Präsidenten der Europäischen Föderation gegen Atomrüstung gewählt worden. 1960 hatten sich Mitglieder der Gruppe 47 in einer Erklärung zum Algerienkrieg und in einem offenen Brief an André Malraux, de Gaulles Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten, mit oppositionellen Schriftstellern und Intellektuellen in Frankreich solidarisch erklärt. Noch deutlicher wurde die Bedeutung internationaler Inspirationen und Kontakte bei der Tagung der Gruppe im schwedischen Sigtuna 1964. Schon die Wahl des Gastlandes war ein Politikum, weil sie deutliche Sympathie für das Modell der skandinavischen Sozialdemokratie signalisierte. Die politische Wirkung wurde dadurch gesteigert, dass die Schweden ihre Gäste wie eine offizi-elle Delegation behandelten und als geistige Repräsentanten ihres Landes begrüßten. Dass die Gruppe 47 »einer der großen Aktivposten der Bundesrepublik« sei, erklärte der Stockholmer Germanistikprofessor Gustav Korlén, könne keinem unbefangenen Beobachter verborgen bleiben: »Wir sehen in der Gruppe 47 ein geistiges Vitamin der deutschen Nachkriegsentwicklung.«23 Richter fühlte sich dadurch in seinem Kalkül bestätigt. Er habe die schwedische Einladung aus einem »rein politische[n] Grund« angenommen, schrieb er einem Redakteur des Kölner Stadtanzeigers, »um die Position der deutschen Intellektuellen dadurch sozusagen von außen her zu stärken«.24 Auch gegenüber Hans Schwab-Felisch von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betonte er, der Besuch in Schweden sei »rein politisch gedacht, in meiner Art ›politisch‹, nämlich als Weg der indirekten Beeinflussung«.25

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Das Verhältnis zum Adenauer-Staat Richters Politisierungskurs war in der Gruppe 47 umstritten. Bei der Tagung in Schweden verweigerten sich viele Mitglieder (unter ihnen Prominente wie Böll, Uwe Johnson, Martin Walser, Ilse Aichinger und Alfred Andersch) gerade deshalb, weil sie keine nationale Repräsentanz der westdeutschen Literatur sein wollten, weil sie die Bundesrepublik in keiner Form im Ausland vertreten wollten und weil sie ihre kritische Distanz zur staatlichen Macht gefährdet sahen. Über die Gegnerschaft der Gruppe 47 gegen den Adenauer-Staat ist dabei schon viel geschrieben worden. HansPeter Schwarz hat die oppositionellen Intellektuellen mit krächzenden Möwen verglichen, die unruhig und misstönend das Staatsschiff umkreisten, das von ihnen keine Notiz nahm und unbeirrt seinen Kurs durch den Ozean der Geschichte pflügte.26 Andere haben mit größerem Verständnis auf die Mischung von moralischem Antifaschismus und antibürgerlichen Affekten verwiesen, um die Ablehnung der als restaurativ empfundenen Entwicklung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren zu beschreiben.27 Bei allen Unterschieden in der Bewertung besteht aber weitgehend Einigkeit darüber, was den allermeisten Gruppenmitgliedern am AdenauerStaat missfiel: der autoritäre Regierungsstil des Kanzlers, die Entpolitisierung weiter Bevölkerungskreise, vor allem aber der geistlose Materialismus des Wirtschaftswunders und der rücksichtslose Egoismus einer Ellenbogengesellschaft. Man esse statt zu denken, bemerkte einer von ihnen noch 1960.28 Hinzu trat die Frustration über das Freund-Feind-Denken und die Festungsmentalität, die im Zeichen des Kalten Krieges das geistige Klima bestimmten. Ulbricht und Adenauer erschienen wie zwei spiegelverkehrte Ausgeburten derselben Zwangslage. »Wenn der Alte [Adenauer, DG] hier gehen würde«, schrieb Richter 1962 an seinen Bruder in der DDR, »dann schickten die Russen auch Ulbricht in die Wüste.«29 Richter und andere sehnten sich nach der scheinbaren Offenheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre, als es vor der Eskalation des Ost-West-Konflikts inmitten von Not und Trümmern vermeintlich noch möglich gewesen war, von einer neuen Gesellschaft zu träumen und an die Vision eines demokratischen Sozialismus zu glauben. Der später Überhand nehmende

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intolerante Antikommunismus, so meinten sie, habe den antifaschistischen Konsens der Jahre 1945 und 1946 zerstört und zur Spaltung Deutschlands beigetragen. Gleichzeitig habe die Bonner Regierung mit ihrer Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung eine Rückkehr zu den verhängnisvollen militaristischen Traditionen Preußens eingeleitet. Beispielhaft deutlich wurde dieses Unbehagen während der Spiegel-Affäre, als sich Richter an das Salazar-System in Portugal erinnert fühlte.30 Der Siebenundvierziger Horst Krüger berichtete rückblickend von seiner Furcht, der westdeutsche Staat würde zu »einer klerikal-autoritären Rhein-Republik, sozusagen einem Mini-Franco-Spanien entarten«.31 Alfred Andersch schrieb noch im Januar 1963 – also nach dem Ende der Affäre – an Richter, »dass wir gar nicht mehr in einer Demokratie leben, sondern in einem rechtsgerichteten Militärstaat«.32 Das Ausmaß, in dem die Weimarer Republik und ihr Scheitern das Denken Richters und seiner Generationsgenossen in der Gruppe 47 bestimmten, trat hier offen zutage. Dass die erste deutsche Demokratie 1933 mit Duldung, wenn nicht Zustimmung von Reichstag und Parteien abgeschafft worden war, blieb für sie zeitlebens das große politische Trauma. Hierin gründete ihre tiefe Skepsis gegenüber politischen Parteien und dem Parlamentarismus. Als Wunsch der Kriegsheimkehrer hatte Richter schon im März 1948 unter anderem die »Brechung der Hegemonie der Parteien zugunsten eines lebendigen demokratischen Lebens« benannt. Die Verantwortung solle wieder bei jenen liegen, die vom Volk dazu bestellt seien, »und nicht bei anonymen Parteiapparaten […] Wir wollen den Menschen an Stelle der Parteifunktionäre.«33 Adenauer verkörperte für Richter die personelle Verbindungslinie zwischen der Weimarer und der Bonner Parteienherrschaft und damit die Gefahr, dass sich die deutsche Demokratie in einer Krisenlage erneut als zu schwach verwurzelt erweisen werde. Diese Angst stieg gerade in den 1960er Jahren gleichsam reflexartig immer wieder in Richters Korrespondenz auf. Während der SpiegelAffäre unkte Richter mit Blick auf Franz Josef Strauß, die »Dunkelmänner« säßen wieder einmal, »wie seinerzeit, in Bayern. Unsere Demokratie wird daran über Jahr und Tag sterben.«34 Ähnlich reagierte er auch anlässlich der Wahlerfolge der NPD

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1966 oder gegenüber der Studentenrebellion von 1968, die seiner Ansicht nach die Gefahr einer rechten Gegenbewegung sträflich unterschätzte. Genauso reflexhaft formulierte Richter in derartigen Situationen den Gedanken, man müsse die Bundesrepublik verlassen und rechtzeitig ins Exil gehen – ähnlich verhielt sich auch Andersch, der es aber nicht bei der bloßen Idee beließ, sondern Ende der fünfziger Jahre tatsächlich in die Schweiz übersiedelte. Man tut beiden sicherlich nicht Unrecht, wenn man vermutet, dass die Liebäugelei mit dem Exil nach 1945 auch als nachträgliche Kompensation ihres Verhaltens im Nationalsozialismus zu deuten ist, als Andersch im Lande geblieben und Richter nach kurzer Zeit aus Frankreich wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Bei Richters Opposition gegen die frühe Bundesrepublik gilt es aber zugleich festzuhalten, dass es aus seiner Sicht der AdenauerStaat war, den er ablehnte, nicht so sehr der CDU-Staat oder der Staat an sich. Schon im Grünwalder Kreis hatte er Kontakt zu protestantischen Christdemokraten wie Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier gesucht, den er wegen seiner Beteiligung am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 schätzte.35 In der 1961 von Martin Walser herausgegebenen Alternative richtete sich die Kritik der meisten Autoren in der Hauptsache gegen Adenauer und dessen präsumtiven Nachfolger Franz Josef Strauß, nicht gegen die gesamte CDU – und in der gleichsam als vorgezogenes Gesamturteil der Adenauer-Ära gedachten Bestandsaufnahme, die Richter 1962 herausgab, fanden sich neben Siebenundvierzigern wie Böll, Jens, Rühmkorf und Enzensberger auch Autoren mit eher bürgerlichkonservativem Hintergrund wie der Historiker Golo Mann, der ehemalige Diplomat Albrecht von Kessel und der evangelische Theologe Heinz Zahrnt.36 Die Spiegel-Affäre interpretierte Richter als »Staats- und Gesellschaftskrise«, in der die Nachkriegszeit »mit einem stinkenden Knall« zu Ende gegangen sei.37 Seit diesem Zeitpunkt hielt er Adenauer für einen Kanzler auf Abruf und beharrte, dass man mit der Demokratie in Deutschland dadurch »ein Stück weitergekommen« sei.38 Schon vor Adenauers Rücktritt im Oktober 1963 hatte sich somit ein »Abbau an Staatsverdrossenheit« angebahnt, wie ein österreichischer Journalist damals scharfsichtig beobachtete. Der neue

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Kanzler Ludwig Erhard ließ anders als sein Vorgänger eine gewisse Ader für Kunst und Kultur erkennen; er galt, wenn nicht gerade als ein »Mann des Geistes«, so doch als jemand, der sich mit Intellektuellen wie Rüdiger Altmann und Johannes Gross umgab.39 Tatsächlich betonte Erhard in seiner ersten Regierungserklärung, die Demokratie sei auf die »tragenden Kräfte des Geistes« angewiesen. Er rief die »schöpferischen Menschen in diesem Staate« zu einem Dialog auf und bekannte sich ausdrücklich dazu, »dass nicht jeder Tadel an einer Regierung den Staat erschüttert«.40 Erhard verscherzte es sich allerdings mit der Gruppe 47, als er im Wahlkampf 1965 politisierende Dichter wie Rolf Hochhuth als »Pinscher«, »Banausen« und »Nichtskönner« abtat. Trotzdem versuchte die CDU in den folgenden Monaten, mit der Gruppe 47 in Kontakt zu kommen. Die Partei zeigte sich dabei derart gesprächsbegierig, dass Richter dem Literaturkritiker Hans Mayer spöttisch schrieb, die CDU liege »augenblicklich vor uns wie ein Mädchen kurz vor der Defloration«.41 Richter selbst war in Grenzen bereit, auf die Lockungen der Union einzugehen. Schon in den literarisch-politischen Salon, den er seit 1963 in Verbindung mit dem Sender Freies Berlin in der Grunewalder Villa des Verlegers S. Fischer abhielt, hatte er nicht nur SPD-Größen wie Willy Brandt, Fritz Erler, Helmut Schmidt, Egon Bahr und Karl Schiller eingeladen, sondern auch CSU-Leute wie Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg und sogar den verpönten Franz Josef Strauß.42 Nach der Bundestagswahl vom Herbst 1965 kam Richter in Köln zu einer Podiumsdiskussion mit dem neuen Bundeswissenschaftsminister Gerhard Stoltenberg über das Thema »Die Intellektuellen und die Bundesrepublik – Zur Situation nach der Wahl« zusammen. Die Kölnische Rundschau berichtete von dem Treffen unter der Überschrift: »CDU und ›Pinscher‹ kommen ins Gespräch«.43 Über seinen Eindruck von dem Abend notierte Richter rückblickend in seinem Tagebuch: »Stoltenberg war sympathisch und dachte fortschrittlich und modern. Sein Fehler und der meine: wir wollten nicht kämpfen, wir hätten uns lieber über die Probleme unterhalten.«44 Doch auch in dieser Richtung stieß Richters Strategie der indirekten Einflussnahme auf den Widerstand anderer Mitglieder der Gruppe 47. Außer der besagten Diskussion mit Stoltenberg kam es nur zu ei-

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ner informellen Aussprache in Richters Berliner Wohnung, an der von CDU-Seite unter anderem Bernhard Vogel teilnahm. Grass, Lenz, Hans Magnus Enzensberger, Carl Amery und Walter Jens, die Richter einladen wollte, sagten ab. Die gegenseitigen Vorbehalte blieben bestehen.45 Im Rechts-Links-Schema der Politik ordneten sich Schriftsteller und CDU-Politiker weiterhin gegensätzlichen Lagern zu.

Das Verhältnis zur SPD Das Verhältnis der Gruppe 47 zur SPD war eine Mischung aus Anziehung und Abstoßung, politischer Nähe und gefühlter Distanz. Zu den Elementen der Abstoßung zählten zunächst einmal Habitus-Gegensätze zwischen Künstlern und Politikern. In privaten Briefwechseln brachten die Intellektuellen der Gruppe 47 gern ihre Geringschätzung für SPD-Politiker als »Leisetreter« und »prädestinierte Verlierer« zum Ausdruck.46 Ein Begriff, der dabei in Richters Korrespondenz besonders häufig auftaucht, ist derjenige des »Kleinbürgerlich-Spießigen«, das aus Sicht der Intellektuellen die SPD umgab. Fritz Raddatz beispielsweise klagte über den »Kleinbürgermief« der Berliner »Scheiß-SPD«.47 Dass dabei eine gehörige Portion sublimierten Selbsthasses von Schriftstellern mitschwang, die selbst oft genug kleinbürgerlichen Elternhäusern entstammten, steht zu vermuten. Hinzu kamen politische Differenzen. Richter fühlte sich im Grünwalder Kreis von SPD-Funktionären in seinem Engagement gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher aus parteitaktischen Gründen behindert. Das Godesberger Programm empfanden er und viele andere in der Gruppe 47 nicht als couragierten Aufbruch, sondern als taktisches Zurückweichen vor dem Zeitgeist und als kleinmütige Entsorgung sozialistischer Überzeugungen. Ähnliches galt später für Wehners Strategie, über eine Große Koalition in Bonn an die Macht zu kommen. Die Wiederwahl des Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit den Stimmen der SPD 1964 bezeichnete Richter als eine »entsetzliche Dummheit«.48 Über die Bildung der Großen Koalition im November 1966 war er »betroffen« und notierte in seinem Tagebuch: »Eine schreckliche

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Woche.«49 Das Einschwenken der SPD auf den außen- und wehrpolitischen Kurs der Bundesregierung in den Jahren 1959 und 1960 war in Richters Augen ein »Verrat« an der Anti-AtomwaffenBewegung, die ursprünglich von der Partei unterstützt worden war. »Es war jammervoll«, schrieb er. »Hunderte von deutschen Intellektuellen, viele von Rang und Namen, ließen sich mobilisieren, gingen voller Idealismus auf die Straße, schlugen sich in Versammlungen herum, und wurden im Stich gelassen, als es sich wahlmäßig als nicht ergiebig erwies.«50 Weniger Richters Urteil ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, als vielmehr der Ort, an dem er es publizierte: nämlich in einer als Wahlkampfhilfe für die SPD gedachten Streitschrift. Überhaupt fällt, wenn man heute die berühmte Alternative von 1961 liest, nicht so sehr die Kritik am Adenauer-Staat auf, sondern das sichtliche Widerstreben, mit dem sich die Intellektuellen von Walser über Rühmkorf und Raddatz bis zu Enzensberger und Richter ihre Wahlempfehlung für die SPD abquälten. Grass’ Beitrag war der einzige, in dem so etwas wie Sympathie für die SPD durchschimmerte: für »die rührende ungeschickte, die laue brave muffige SPD, die Tante SPD, mein schlechtes Gewissen, mein Ärgernis, meine schwach begründete Hoffnung«.51 Man kann es dem Kanzlerkandidaten Willy Brandt nicht verdenken, dass sein Dank für diese Form der Wahlhilfe verhalten ausfiel – woraufhin Richter Ende Juli 1961 an Raddatz schrieb: »Offen gesagt, die SPD kotzt mich schon wieder an […]. Man muss eben doch eine neue linke Partei gründen.«52 Der Umschwung kam, was Richter anbetraf, mit dem Mauerbau. Anfang September 1961 schrieb er, wieder an Raddatz, Brandt mache nun einen viel besseren Eindruck: »Offensichtlich hat er sich durch die politischen Ereignisse von der Partei frei geschwommen.«53 Die politische Annäherung verlief teils über die Person des Kanzlerkandidaten, teils über dessen Eintreten für eine veränderte deutsche Ostpolitik, die sich weitgehend mit Richters eigenen Vorstellungen deckte. Zwei weitere Überlegungen kamen hinzu: Erstens zeichnete sich für Richter trotz Brandts Wahlniederlage 1961 erstmals eine realistische Hoffnung ab, dass die SPD in Bonn an die Macht kommen könnte. Für einen politisch denkenden Menschen, der seit 1928 wählen ging und immer zu

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den Verlierern gezählt hatte, gab es einen mächtigen Antrieb, einmal unter den Gewinnern zu sein.54 Außerdem, so Richters zweite Überlegung, würde der Raum links von der SPD nur dann für eine neue politische Kraft frei werden, wenn die Sozialdemokraten nicht länger in der Opposition waren.55 Die Konsequenz für Richter und einige andere aus der Gruppe 47 – allen voran Grass – bestand darin, sich seit 1961 zunehmend offen auch im parteipolitischen Sinn für die SPD einzusetzen, wobei eine gewisse Ironie darin bestand, dass Grass in die Anfänge dieser Kooperation gar nicht einbezogen war, weil Richter ihn in parteipolitischen Fragen für uninteressiert hielt.56 Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung im Bundestagswahlkampf 1965, als die SPD auf Richters Anregung hin ein »Wahlkontor« junger Schriftsteller einrichtete, das Formulierungshilfe bei Wahlkampfreden leistete.57 Deutlich wird die zunehmend engagierte Unterstützung der SPD durch Richter und seine Gesinnungsgenossen in der Gruppe 47, wenn man ihre Wahlstreitschrift von 1965 mit der Alternative von 1961 vergleicht. Schon der Titel war apodiktischer. Er lautete: Keine Alternative und enthielt kein Fragezeichen mehr, sondern – als Untertitel – ein entschiedenes »Plädoyer für eine neue Regierung«. Die Spitzen gegen die Sozialdemokratie waren weitgehend verschwunden, stattdessen gab es eine Reihe von Porträts führender SPD-Politiker, die so etwas wie ein Wunschkabinett der Autoren bildeten. Dabei fällt auf, dass gerade pragmatische Realpolitiker wie Helmut Schmidt, Fritz Erler, Alex Möller und Karl Schiller besonders wohlwollend porträtiert wurden.58 Aber noch etwas fällt auf: nämlich die lange Liste derjenigen Siebenundvierziger, die das Plädoyer nicht unterzeichnet hatten. Böll verweigerte sich wie schon 1961, und auch Walser, Enzensberger, Erich Kuby und Schnurre, die vier Jahre zuvor noch mitgewirkt hatten, hielten sich jetzt fern. Ihr Fehlen signalisierte einen grundsätzlichen Dissens in der Gruppe 47, wie eng sich politisch engagierte Intellektuelle generell mit Parteien und speziell mit der SPD einlassen sollten. Schnurre warnte Richter brieflich davor, geistige Unabhängigkeit durch Parteiräson einschränken zu lassen. Andere machten ihre Kritik öffentlich. Walser schrieb in der Wiener Freien Presse, man erwarte ja auch vom Arzt nicht, dass er sich zu dem Kranken, den er heilen will, ins Bett lege: »Es

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gibt ansteckende Krankheiten.«59 Böll kritisierte im Merkur die SPD, die in Sachen Notstandsgesetze offensichtlich bereit sei, sich mit der Union zu arrangieren; die bei der Wiederaufrüstung päpstlicher sei als alle Päpste miteinander; die ihren Parteitag mit Transparenten über »Die Grenzen von 1937« schmücke, die aus Opportunismus die erste und einzige Anti-Atombewegung in der Bundesrepublik verspielt habe und die keinen Hehl daraus mache, dass sie auf die Große Koalition aus sei: »die Große Koalition wäre genau das, was uns noch gefehlt hat«, schloss Böll: »absolute politische Promiskuität.«60 Richter seinerseits glaubte, dass die Zeit von Nonkonformisten wie Böll und Kuby vorbei sei; parteipolitische Enthaltsamkeit sei zu Beginn der fünfziger Jahre richtig gewesen, inzwischen aber »auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet«.61 Den vom Marxismus und den Studenten begeisterten Enzensberger bezeichnete er 1968 in einem Tagebucheintrag als »Harlekin«, der Rebellion mit Revolution verwechsele.62 Walser hielt er für einen »geistigen Ästheten« und »Nur-Formalisten«, dessen Politikverständnis fern von jeder Realität sei und sich »in irrlichternden Utopien« erschöpfe.63 Die Gruppe 47 sah er »im Zerfall, die Intellektuellen zerstritten«, in feindliche Grüppchen aufgesplittert: »Vietnamkrieger, SED-Mitläufer, Konkret-Leser, SPD-Anhänger«.64 Sprengkraft entwickelte dieses Auseinanderdriften in dem Moment, als die SPD durch ihren Eintritt in die Große Koalition aufhörte, Oppositionspartei zu sein. »Links sein« war jetzt nicht mehr gleichbedeutend mit »oppositionell sein«. Damit war der Gruppe 47 endgültig das gemeinsame politische Fundament entzogen. Sie zerbrach – nicht an der Literatur, sondern an der Politik.

Die Tradition deutscher Intellektueller im 20. Jahrhundert Im Kern ging es bei dem Streit innerhalb der Gruppe 47 um das Staats- und Politikverständnis der Schriftsteller – und damit um ihr Selbstverständnis als Intellektuelle. Für die einen galt es, prinzipiell Distanz zu den Sphären von Macht und Herrschaft zu wahren, Kritik zu üben, sich als Individualisten für das Mora-

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lisch-Richtige einzusetzen. Sie standen in der deutschen Tradition der Trennung von Geist und Macht, wie sie noch in Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik anklingt. Aus dieser Sicht war die Geisteshaltung und gesellschaftliche Funktion des Intellektuellen mit den Argumentationsweisen, Handlungsmustern und Aufgaben des Politikers grundsätzlich unvereinbar. Walser oder Enzensberger, die Ende der sechziger Jahre in revolutionärem Enthusiasmus entbrannt waren, gehörten mit ihrer Fundamentalkritik an den bestehenden Verhältnissen, ihrem visionären Utopismus und der Verachtung für pragmatische Realpolitik zu dieser Denkrichtung. Sie hätten jederzeit Heinrich Manns Ansicht unterschrieben, ein Intellektueller, »der sich an die Herrenkaste heranmacht«, begehe »Verrat am Geist«.65 Ähnliches galt auch für diejenigen Mitglieder der Gruppe 47, die nicht revolutionärer Utopismus umtrieb, sondern eine tief sitzende Skepsis gegenüber jeder Form der Politik mit ihrem Zwang zu Halbheiten und Kompromissen. Paul Celan – obwohl selbst kein festes Mitglied der Gruppe – brachte diese Haltung auf den Punkt, als er Richter 1965 mitteilte, dass er nicht an dessen Wahlkampfschrift mitwirken werde: Er sei der Ansicht, »dass ein Schriftsteller sich nicht für das kleinere bzw. ›kleinste‹ Übel, sondern jederzeit, und so differenziert als möglich, für das Wahre und Menschliche zu entscheiden hat«.66 Richter und andere aus der Gruppe 47 gelangten im Verlauf der 1960er Jahre zum entgegengesetzten Ergebnis. Für sie bestand das Charakteristikum des Intellektuellen nicht (mehr) »in einer absoluten Autonomie (und damit Abstinenz) von der Politik, sondern in einer relativen Autonomie in der Politik«.67 Das Problem lag für sie nicht mehr in einer strikten Grenzziehung zwischen beiden Bereichen, sondern lediglich in der Erkenntnis, wann die Grenzen relativer Autonomie erreicht beziehungsweise überschritten wurden und wann sie damit aufhörten, Intellektuelle zu sein. Grass ging in dieser Hinsicht weiter als Richter. Letzterer notierte im Rückblick, er habe Grass’ Wahlkampfreisen für die SPD mit einem gewissen »Unbehagen« beobachtet, weil er glaubte, »Schriftsteller müssten weitgehend unabhängig sein, schon um ihrem Protest gegen demokratische Fehlentwicklungen ein größeres Gewicht zu geben«.68 Schaut man auf das zugrunde liegende Staats-

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und Politikverständnis, waren das aber lediglich Nuancen. Was Golo Mann seinerzeit über Grass schrieb, hätte er auch über Richter schreiben können: Er tat, »was die linken Intellektuellen der Weimarer Zeit nicht taten: Er bejaht den Staat, so unvollkommen der Staat ist. Er will ihn besser machen, aber nicht […] als Gesamtverneiner von außen.«69 Mit Blick auf die ideengeschichtlichen Traditionslinien im Staatsverständnis deutscher Linksintellektueller des 20. Jahrhunderts war die Hinwendung von Schriftstellern wie Grass und Richter zur SPD und damit zum politischen System der Bundesrepublik beinahe revolutionär zu nennen. Schließlich hatte die linke Intelligenz, wie sie etwa Carl von Ossietzkys Weltbühne repräsentierte, die erste deutsche Republik zumeist nur als Idee, aber nicht als notwendigerweise unvollkommene Realität verteidigt.70 Politisch engagierte, linke Publizisten der Zwischenkriegszeit wie Ossietzky oder Kurt Tucholsky hatten sich einer »freischwebenden« oder »heimatlosen« Linken zugerechnet – ähnlich wie die um mindestens eine Generation jüngeren Intellektuellen der Gruppe 47, die sich in den fünfziger Jahren ebenfalls als »heimatlose Linke« gesehen hatten. Das Signum der Heimatlosigkeit bezog sich dabei zum einen auf die Fundamentalkritik am bestehenden Staat – nicht unbedingt auf die Staatsform der Republik, aber doch auf deren konkrete Ausformung als liberale, kapitalistische, parlamentarische Demokratie. Zum anderen bezog es sich auf die innere Distanz zur politisch organisierten Arbeiterbewegung, sowohl in der revolutionären Spielart, der KPD, als auch in deren evolutionärer Variante, der SPD. »Die Torheiten der Kommunisten«, schrieb Ossietzky 1929, »machen die Politik der offiziellen Sozialdemokratie nicht schmackhafter, sondern verstärken nur das Gefühl der Heimatlosigkeit, das die besten der deutschen Linken so oft befällt.«71 Ähnlich hätten über weite Strecken der 1950er und frühen 1960er Jahre viele Mitglieder der Gruppe 47 geurteilt – und entsprechend affirmativ fielen ihre Wertungen über Männer wie Tucholsky, Brecht oder Ossietzky aus, als deren geistige Nachfahren und politische Erben sie sich sahen. Als die Bundesregierung 1956 plante, einen Zusatz ins Strafgesetzbuch zu integrieren, der »unwahre oder gröblich entstellende Behauptungen« über die Bun-

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deswehr unter Strafe stellte, schrieb Wolfgang Koeppen an Richter, ein derartiges Gesetz habe in der Weimarer Zeit der Reichswehr gefehlt, um Männer wie Ossietzky »mundtot zu machen und ihre Zeitungen zu ruinieren«.72 Auch das Gerichtsverfahren gegen Rudolf Augstein im Zuge der Spiegel-Affäre betrachteten viele Mitglieder der Gruppe 47 durch das Prisma der Weimarer Zeit als Wiederholung des Prozesses gegen Ossietzky. Noch Mitte der 1960er Jahre verteidigte Richter in der bereits erwähnten Podiumsdiskussion mit Stoltenberg die Linksintellektuellen der Zwischenkriegszeit gegen den Vorwurf, diese hätten sich »gegen die Gesellschaft gestellt, ohne aufbauende Gedanken vorzutragen«, mit dem Hinweis, Weimar sei kaum »an Brecht und Tucholsky zugrunde gegangen«.73 Bei Richter muss man in dieser Hinsicht freilich zwischen öffentlicher Apologie und privat geäußerter Kritik unterscheiden. In seiner Korrespondenz hatte er schon fast zehn Jahre zuvor viel differenzierter argumentiert. Die »Tucholsky-Methode«, den deutschen Kleinbürger mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht zu treten, schrieb er, sei ein »Verlangen, das jeder spürt, der denken kann«. Er halte sie dennoch für falsch. Tucholsky habe zweifellos dazu beigetragen, »die Ressentiments des deutschen Bürgers gegen die Intellektuellen, gegen die Demokratie, überhaupt gegen alles, was noch Verstand und Geist hatte, zu wecken«.74 Wenn man, wofür vieles spricht, im fehlenden Engagement der Linksintellektuellen für die erste deutsche Republik, ja in ihrer teilweise verächtlichen Herabsetzung des Staates einen wichtigen Grund für das Scheitern Weimars erblickt, dann muss man auch das gewandelte Staatsbewusstsein und Demokratieverständnis, das in der negativen Bewertung Tucholskys durch Richter und andere zum Ausdruck kam, als Beitrag zur Stabilisierung der zweiten deutschen Republik würdigen. Dieser Beitrag zur geistigen Festigung der Bonner Republik wurde allerdings erst mit dem Ende der Ära Adenauer verwirklicht. Erst der Abgang des ungeliebten Alten von Rhöndorf und die Aufweichung des antitotalitären Grundkonsenses mit seiner antikommunistischen Stoßrichtung erlaubte kritischen Schriftstellern wie Richter und Grass die Annäherung an den Staat. Erst das Ende des Adenauer ’ schen Stabilitätsregimes und der Übergang in

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eine politisch fluidere und geistig beweglichere Phase der bundesdeutschen Geschichte machte diese Spielart der Stabilisierung möglich. Der Unterschied zu Weimar bestand nicht darin, dass die literarischen Linksintellektuellen die Bonner Republik von Beginn an als die Ihre akzeptiert hätten oder dass angesichts der politischen Stabilität des Gemeinwesens nach 1945 die Fundamentalopposition führender linker Intellektueller keine Rolle gespielt hätte, wie konservative Kritiker der Gruppe 47 behaupteten. Die entscheidende Differenz ist vielmehr darin zu sehen, dass diesmal das politische System lange genug Bestand hatte, um eine langsame Annäherung linker Intellektueller an ihren Staat zu ermöglichen. Sowohl die erste deutsche Republik als auch die Adenauer-Ära dauerten 14 Jahre. In dieser Zeit verschliss Weimar 13 Reichskanzler und acht Reichstage, die alle vor Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst wurden. In der Bundesrepublik gab es zwischen 1949 und 1963 nur einen Kanzler und kein einziges Mal vorgezogene Neuwahlen. Mit anderen Worten: Aus Sicht der Weimarer Linksintellektuellen, die zwar für die Idee der Republik waren, aber die regierenden Kanzler verachteten, war nach Ablauf von 14 Jahren das gesamte politische Spektrum delegitimiert. Für ihre Nachfolger in der Bonner Republik hatte nach 14 Jahren nicht der Staat abgewirtschaftet, sondern nur Adenauer. Damit war bundesdeutschen Intellektuellen wie Richter und Grass möglich geworden, was für Ossietzky oder Tucholsky in der Zwischenkriegszeit undenkbar geblieben war: geistig in ihrem Staat anzukommen, dort heimisch zu werden und sich für ihn zu engagieren – wenigstens für eine gewisse Zeit und unter bestimmten Vorbedingungen. Dieser Rahmen war nie zuvor und bisher auch danach nie wieder so günstig wie in den von Reformeuphorie und demokratischem Veränderungswillen geprägten Brandt-Jahren, als sich nicht nur die Intellektuellen politisierten, sondern auch die Politik intellektueller wurde (oder zumindest intellektueller zu werden schien). Insofern lässt sich der Weg eines Günter Grass oder Hans Werner Richter durchaus als politischer Bildungsroman – weg von der Staatsskepsis und hin zum parteipolitischen Engagement – erzählen. Allerdings funktioniert eine derartige Geschichte der geistigen Ankunft in der Bundesrepublik nur dann, wenn man den Fluchtpunkt auf den Machtwechsel des

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Jahres 1969 und die »Willy«-Wahlen von 1972 legt, als sich selbst der skeptische Böll in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative für die Regierung einsetzte.75 Verlängert man die Perspektive bis in die späten siebziger Jahre oder gar in die Ära Kohl hinein, nimmt sich das Bild, das Linksintellektuelle sich von ihrem Staat machten, schon wieder ganz anders aus: Man denke nur an die Forderung nach einem »Recht auf Widerstand«, die Grass 1983 anlässlich des 50. Jahrestages der nationalsozialistischen Machtübernahme vor dem Hintergrund der Nachrüstungsdebatte erhob.76 Nur für eine relativ kurze Zeitspanne Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre gilt somit, was Max Frisch im Januar 1965 an Richter schrieb: »Staatsbewusstsein bei deutschen Schriftstellern« erscheine ihm als »das Revolutionärste, was die SPD mitbringt.«77

Anmerkungen 1 Friedhelm Kröll, Gruppe 47. Soziale Lage und gesellschaftliches Bewusstsein literarischer Intelligenz in der Bundesrepublik, Stuttgart 1979; Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Ausstellungskatalog, hg. von der Akademie der Künste Berlin (West), Berlin 1988; Justus Fetscher u. a. (Hg.), Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991; Ingrid Gilcher-Holtey, »Askese schreiben, schreib: Askese«. Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 134–167; Per Øhrgaard, »ich bin nicht zu herrn willy brandt gefahren« – Zum politischen Engagement der Schriftsteller in der Bundesrepublik am Beginn der 60er Jahre, in: Axel Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 719–733; Klaus Briegleb, Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift über die Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47?, Berlin 2003. Vgl. zuletzt auch die Beiträge von Alexander Gallus, Ingrid Gilcher-Holtey, Manfred Jäger, Rhys W. Williams und Heinz Ludwig Arnold in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007). 2 Der Nachlass Hans Werner Richters liegt im Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg; ein beträchtlicher Teil ist ediert in Hans Werner Richter, Briefe, hg. von Sabine Cofalla, München / Wien 1997; vgl. auch Sabine Cofalla, Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters. Zur Korrespondenz des Leiters der Gruppe 47, Berlin 1997. Zum schriftstellerischen und publizistischen Werk siehe Erich Embacher, Hans Werner Richter. Zum literarischen Werk und zum politisch-publizistischen Wirken des Leiters der Gruppe 47, Frankfurt / M. 1985.

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3 Walter Widmer, in: Gruppe 47. Die Polemik um die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Dokumentation, Frankfurt / M. 1966. 4 Karl Heinz Deschner, in: die horen, 1980, Heft 4. 5 Vgl. für viele Friedhelm Kröll, Gruppe 47, Stuttgart 1979, S. 22–23; Herbert Lehnert, Die Gruppe 47. Ihre Anfänge und ihre Gründungsmitglieder, in: Manfred Durzak (Hg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen, Stuttgart 31976, S. 37; zu den wenigen abweichenden Stimmen zählen Helmut Peitsch und Hartmut Reith, Keine »innere Emigration« in die »Gefilde« der Literatur. Die literarisch-politische Publizistik der »Gruppe 47« zwischen 1947 und 1949, in: Jost Hermand u. a. (Hg.), Nachkriegsliteratur in Westdeutschland, Bd. 2: Autoren, Sprache, Traditionen, Berlin 1983, S. 129–161. 6 Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriss, München 2 1987, S. 8. 7 Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47, Reinbek 2004, S. 108. 8 Hans Werner Richter, Fünfzehn Jahre, in: ders. (Hg.), Almanach der Gruppe 47. 1947–1962, Reinbek 1962, S. 8. 9 Hans Werner Richter, Briefe an einen jungen Sozialisten, Hamburg 1974, S. 106. 10 Richter an Leonhardt, 11. 11. 1961, in: Richter, Briefe, 61 / 29, S. 378; vgl. auch Cofalla, Sinn, S. 95. 11 Richter an Lenz, 26. 9. 1961, Hans Werner Richter-Archiv in Stiftung Archiv der Akademie der Künste [künftig: HWR-A] 72 / 86 / 530, Bl. 294. Vgl. auch das Interview mit Reich-Ranicki in: Der Spiegel 36 / 1997, S. 216. 12 Tagebucheintrag vom 1. 10. 1966. 13 Vgl. Alexander Gallus, »Der Ruf« – Stimme für ein anderes Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007), S. 32–38. 14 Zitiert nach Cofalla, Sinn, S. 97. 15 Peitsch und Reith, Emigration, in: Hermand u. a. (Hg.): Nachkriegsliteratur, S. 146. 16 Richter an Guggenheimer, 19. 1. 1956, HWR-A 72 / 86 / 509, Bl. 477. 17 Richter an Böll, 6. 5. 1956, in: Richter, Briefe, 56 / 16, S. 228. 18 Abgedruckt in: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961, S. 65–66. 19 Abgedruckt ebd., S. 120–123. 20 Abgedruckt in: Reinhard Lettau (Hg.), Die Gruppe 47. Ein Handbuch, Neuwied und Berlin 1967, S. 455–458. 21 Richter an Wiegenstein, 26. 9. 1961, abgedruckt in: Richter, Briefe, 61 / 20, S. 368. 22 Richter an Schnurre, 26. 9. 1961, 61 / 16, S. 362–363. 23 In seiner Begrüßungsansprache am 10. 9 1964, HWR-A 72 / 86 / 525, Bl. 242–248. 24 Richter an Fauth, o. D., HWR-A 72 / 86 / 527, Bl. 151. 25 Richter an Schwab-Felisch, 30. 9. 1964, abgedruckt in: Richter, Briefe, 64 / 21, S. 529. 26 Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik, 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 448.

Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement

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27 Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47, S. 272. 28 Es handelte sich um Wolfgang Weyrauch, zitiert nach Dominik Geppert, Die Ära Adenauer, Darmstadt 22007, S. 97. 29 Hans Werner an Otto Richter, 9. 12. 1962, abgedruckt in: Richter, Briefe, 62 / 29, S. 437. 30 Ebd., S. 436. 31 Zitiert nach Geppert, Ära Adenauer, S. 97. 32 Andersch an Richter, 20. 1. 1963, abgedruckt in: Richter, Briefe, 63 / 1, S. 444. 33 Zitiert nach Cofalla, Sinn, S. 92–93. 34 Richter an Arnold, 16. 11. 1962, abgedruckt in: Richter, Briefe, 62 / 24, S. 428. 35 Richter an Hans Georg Brenner, 10. 4. 1956, abgedruckt in: Richter, Briefe, 66 / 12, S. 223. 36 Hans Werner Richter (Hg.), Bestandsaufnahme: Eine deutsche Bilanz 1962, München 1962. 37 Richter an Höllerer, 1. 12. 1962, abgedruckt in: Richter, Briefe, 62 / 26, S. 430. 38 Richter an Arndt, 10. 1. 1963, HWR-A 72 / 86 / 523, Bl. 76. 39 So der Deutschlandkorrespondent Klaus Emmerich, in: Die Presse, Wien, vom 18. 7. 1965. 40 Regierungserklärung vom 18. 10. 1963, abgedruckt in: Hans Ulrich Behn (Hg.), Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland (= Deutsches Handbuch der Politik, Bd. 5), München und Wien 1971, S. 113–148, hier S. 117. 41 Richter an Mayer, 6. 1. 1966, abgedruckt in: Richter, Briefe, 66 / 1, S. 590. 42 Hans Werner Richter, Walter Höllerer – Das Lachen der Oberpfalz, in: ders., Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47, Berlin 2004, S. 141–149, hier S. 145); Embacher, Richter, S. 376–377. 43 Kölnische Rundschau vom 9. 12. 1965. 44 Tagebucheintrag vom 14. 10. 1966. 45 Vgl. Richter an Mayer, 6. 1. 1966, abgedruckt in: Richter, Briefe, 66 / 1, S. 590–591. 46 Richter an Raddatz, 24. 7. 1961, HWR-A 72 / 86 / 517, Bl. 201. 47 Raddatz an Richter, 8. 6. 1965, HWR-A 72 / 86 / 527, Bl. 476–480. 48 Richter an Gert Falckenberg, 10. 7. 1964, HWR-A 72 / 86 / 525, Bl. 132. 49 Siehe etwa Richters Tagebucheintrag vom 3. 12. 1966. 50 Hans Werner Richter, Von links in die Mitte, in: Martin Walser (Hg.), Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?, Reinbek 1961, S. 115–123, hier S. 121. 51 Günter Grass, Wer wird dieses Bändchen kaufen?, ebd., S. 76–80, hier S. 76. 52 Richter an Raddatz, 24. 7. 1961, HWR-A 72 / 86 / 517, Bl. 201. 53 Richter an Raddatz, 5. 9. 1961, HWR-A 72 / 86 / 517, Bl. 241. 54 Vgl. Richter an Puttkamer, 10. 9. 1965, HWR-A 72 / 86 / 530, Bl. 294. 55 Richter an Raddatz, 11. 5. 1965, zitiert bei Cofalla, Sinn, S. 102, Fn. 57; Richter an Erich Fried, 18. 7. 1966, abgedruckt in: Richter, Briefe, 66 / 15, S. 617.

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56 Vgl. Richter an Grass, 31. 5. 1961, abgedruckt in: Richter, Briefe, 61 / 5, S. 343–344. 57 Vgl. Klaus Röhler u. a., Das Wahlkontor deutscher Schriftsteller 1965, Berlin 1990. 58 Hans Werner Richter (Hg.), Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, Reinbek 1965. 59 Die Presse vom 10. 1. 1965. 60 Merkur vom August 1965. 61 Tagebucheintrag vom 14. 10. 1966. 62 Tagebucheintrag vom Juli 1968. 63 Tagebucheintrag vom 29. 12. 1968. 64 Tagebucheintrag vom 21. 11. 1966. 65 Heinrich Mann, Geist und Tat, in: Kurt Hiller (Hg.), Das Ziel. Aufruf zu tätigem Geist, München u. a. 1916, S. 1–8, hier S. 8. 66 Celan an Richter, 26. 1. 1965, abgedruckt in: Richter, Briefe, 65 / 8, S. 560. 67 Daniel Morat, Intellektuelle in Deutschland. Neue Literatur zur intellectual history des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 593–607, hier S. 599. 68 Hans Werner Richter, Günter Grass – Simon Dach als Geburtstagsgeschenk, in: ders., Etablissement, S. 115–129, hier S. 122. 69 Zitiert in: Der Spiegel vom 11. 8. 1969, S. 89. 70 Siehe Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005, S. 410–448. 71 Carl von Ossietzky, Alexanderschlacht, in: Die Weltbühne vom 15. 1. 1929, Nr. 3, abgedruckt in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 5 (1929–1930), Reinbek 1994, S. 28–33, hier S. 29. 72 Koeppen an Richter, 5. Mai 1956, abgedruckt in: Richter, Briefe 56 / 15, S. 228. 73 Kölnische Rundschau vom 9. 12. 1965. 74 Richter an Mansfeld, 18. 3. 1957, HWR-A 72 / 86 / 509, Bl. 536. 75 Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD: Die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Gangolf Hübinger und Thomas Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 222–238, hier S. 236. 76 Günter Grass, Vom Recht auf Widerstand, in: ders., Politische Gegenreden 1980–1983, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 58–67. 77 Frisch an Richter, 22. 1. 1965, HWR-A 72 / 86 / 527, Bl. 219.

Joachim Scholtyseck

Mauerbau und Deutsche Frage Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg

Der Politikwissenschaftler Ernst Vollrath, ein Schüler Hannah Arendts, hat gelegentlich argumentiert, es gebe in Deutschland eine besonders antagonistisch-komplementäre Politikperzeption: Diese oszilliere zwischen einer realpolitisch-herrschaftskategorialen einerseits, einer idealpolitisch-reflexionsmoralischen Wahrnehmung andererseits.1 Eine solche Kategorisierung lässt sich idealtypisch auch für die Intellektuellen der späten fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik vornehmen. Als die Mauer gebaut wurde, war die Bundesrepublik immer noch ganz wesentlich von Konrad Adenauer geprägt. Der schweizerische Publizist und Historiker Jean Rudolph von Salis hat in diesem Zusammenhang gar von einer »bundesdeutschen Ideologie« jener Jahre gesprochen. Diese war bestimmt durch ihren »scharfe[n] Antikommunismus, ihr[en] katholische[n] Konservatismus; ihr abendländisches Europäertum, ihr Bekenntnis zum Rechtsstaat, ihre kapitalistische Bürgerlichkeit, ihr tiefes Misstrauen gegen alles, was im Osten liegt, aber auch ihre Furcht vor der nationalistischen Hybris, die Hitlers Diktatur gekennzeichnet hatte«.2 Vor diesem Hintergrund sind die vielfältigen Debatten und Kontroversen zu sehen, die zunehmend ein Signum der Zeit wurden und das Ende der Jahre einer »gewissen Stille« ankündigten, in der sich die Westdeutschen vornehmlich dem Wiederaufbau des demokratischen Staatswesens und der Wirtschaft gewidmet hatten.3 Über Mauerbau und Kubakrise wurde nicht so ausgiebig gestritten wie über den Nationalsozialismus, die Atomrüstung und die innere Verfasstheit des Staates.4 Aber die seit 1958 zwischen Spannung und Entspannung immer neu aufflackernde BerlinKrise vor dem Hintergrund des Kalten Krieges spielte doch eine wichtige Rolle. Hans-Peter Schwarz hat angesichts der Indifferenz der Intellektuellen gegenüber dem Ost-West-Konflikt gar von ei-

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ner »Aversion« gesprochen, sich ernsthaft mit dem internationalen System auseinanderzusetzen, zumindest solange die »labile und mit Kriegsgefahr verbundene deutsche Frage […] im Tiefkühlfach der Geschichte eingefroren schien«.5 Außenpolitisches Engagement blieb die Ausnahme – wie beispielsweise der Blick in die von Wolfgang Weyrauch herausgegebene Anthologie Ich lebe in der Bundesrepublik zeigt. Auch die Spaltung Deutschlands kam in der deutschen Literatur kaum vor, wenn man von Arno Schmidts Roman Das steinerne Herz (1956) und Hans Erich Nossacks Buch Der jüngere Bruder (1958) einmal absah.6 Auch was den eigenen westdeutschen Staat anging, blieb wenig mehr als der von Dolf Sternberger proklamierte »Verfassungspatriotismus«, der einen vagen Orientierungspunkt bot. Mit anderen Worten: Es fehlte eine »ostentative Missionsidee«, die über eine fundamentale Kritik an Marxismus und SED-Diktatur wesentlich hinausging. Die vorherrschenden ideellen Angebote reichten offenbar nicht aus, um eine Gesellschaft dauerhaft positiv zu stimulieren, die bereits über ein Jahrzehnt politisch von einer Christdemokratie bestimmt wurde, die deutliche Verschleißerscheinungen zeigte. Das Land war zwar wieder aufgebaut, wirtschaftlich potent und fest in die politischen Strukturen des demokratischen Westens eingebaut, aber die Adenauer-Ära war »ein ziemlich braves, fast spießiges Land, noch stark verhaftet in den überkommenen Autoritätsstrukturen von Familie und Gesellschaft, eine zwar ordentlich funktionierende, aber keine besonders lebendige, die Bürger mobilisierende und einbeziehende Demokratie«.7 Rüdiger Altmann hat den Befund einer gewissen Ermattung der konservativen Sache im Jahr 1960 recht treffend beschrieben. Er bescheinigte Adenauer zwar ein »hohes taktisches Niveau«, sah jedoch keine Zukunftsperspektive in dessen Politik. Die westliche Politik hatte sich inzwischen mit dem Kalten Krieg arrangiert; die Volksaufstände 1953 in der DDR und in Ungarn 1956 hatten gezeigt, dass der Westen gegenüber sowjetischer Aggression machtlos war, weil die Einflusssphären in Europa abgesteckt waren und ein Atomkrieg nicht riskiert werden konnte. Adenauers Rezepte, so legte Altmann nahe, waren für die veränderte Lage unzureichend: »Seine Reden sind nicht nur wegen ihrer intellektuellen Enthaltsamkeit so gut verständlich, sondern auch wegen ihrer

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manchmal grotesken Banalität. Solange die Gewißheit besteht, daß sich hinter diesem geringen Wortschatz eine jahrzehntelange Erfahrung verbirgt, kann man das hinnehmen. Aber in Zukunft wird das nicht mehr der Fall sein. Dann wird man solche Einfachheit des politischen Ausdrucks als Einfältigkeit bezeichnen müssen.«8 Die Ermattung der bürgerlichen Sache korrespondierte mit dem Aufstieg der linken Intellektuellen. Sie profitierten nicht nur von der Ratlosigkeit ihrer Gegner, sondern verfügten auch über ein Arsenal von Argumenten, mit denen eine scheinbar legitimere Welterklärung möglich war. Besonders wirksam konnte das in einer Zeit werden, in der angesichts weitverbreiteter Kriegsfurcht der konservative Staat westlichen Zuschnitts am Ende seines Lateins zu sein schien. Ohne weltanschauliche Verankerung erwies es sich jedoch als schwierig, die westliche Freiheit jeden Tag erneut geistig zu verteidigen. Helmuth Plessner hat das einmal anthropologisch so gedeutet: »Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion. Zwischen ihr und der Kultur besteht daher trotz aller geschichtlichen Friedensschlüsse und der selten aufrichtigen Beteuerungen, wie sie z. B. heute so beliebt sind, absolute Feindschaft. Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück.«9 Zwar hatte die intellektuelle Linke die Religion weitgehend aufgegeben, aber es gelang ihr merkwürdigerweise nicht, sich »dem Geist« hinzugeben. Der Wunsch nach Versöhnung mit dem Schicksal war stärker. So verschrieben sich die meisten Linksintellektuellen einem Zeitgeist, der, aufbauend auf einem starken Harmoniebedürfnis, eine verquere Mischung aus humanistischen und sozialistischen Ideen propagierte und nicht selten mit einem schleichenden Realitätsverlust einherging. Bereits François Furet fand es deshalb nicht erstaunlich, dass »die Intellektuellen dem Zeitgeist folgen, sondern vielmehr, dass sie ihm kritiklos verfallen«.10 Diese Kritiklosigkeit, aus der heraus sich politisch engagierte Intellektuelle extremistischen und antidemokratischen Parteien hingaben und sich von diesen manipulieren und zu willfährigen

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Statisten haben degradieren lassen, ist ohne die rätselhafte Verführungskraft der Ideologien im »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) wohl kaum zu erklären. Sie wirkte besonders auf die jungen Linksintellektuellen in der Bundesrepublik. Für sie bot der Sozialismus in einer geläuterten Form und in bewusster Absetzung von der sowjetischen Herrschaft eine geistige Heimat, weil sich der bürgerliche Kapitalismus im Zusammenhang mit dem »Dritten Reich« scheinbar diskreditiert hatte. Umso enttäuschter waren sie, als in der Bundesrepublik, entgegen allen Erwartungen, eine bürgerliche und marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft ganz offenkundig erfolgreich war. Für geraume Zeit blieb ihnen wenig mehr als trotzige politische Nichtbetätigung. Der Mauerbau ermöglichte es, der eigenen Weltsicht wieder mehr Gewicht zu verleihen. Eine Zeitlang blieb allerdings, während sich das Unbehagen am »Alten« im Bonner Kanzleramt immer deutlicher artikulierte, noch unklar, wie die linke Alternative konkret aussehen sollte, zumal die triumphierend auftretende UdSSR und die in ihrer innenund außenpolitischen Schwäche sich zunehmend aggressiv gebärdende DDR eine Weiterführung der Außenpolitik unter dem Motto »Keine Experimente« nahe legten. Die Trias von »Bündnissolidarität, Gefolgschaftstreue und die Malaise der Abhängigkeit« führte dazu, dass bei manchen das Bedürfnis nach Harmonie im Verhältnis zur UdSSR wuchs: »Zu dauerhaft erschien ihre Machtposition in Mitteleuropa, zu groß ihr Schadenspotential, zu unzuverlässig auch die amerikanische Schutzmacht, als daß eine permanente, ganz unversöhnliche Spannung zu ertragen gewesen wäre.«11 Dieses Dilemma drückte Wolfdietrich Schnurre in einem Feuilleton aus, das sich am 3. Dezember 1960 in der Deutschen Zeitung mit der Drohpolitik Chruschtschows beschäftigte. Schnurre verhehlte nicht den romantischen Wunsch, ohne politische Grenzen leben zu wollen, ein Wunsch, dem er sich jedoch wachen Auges versagte: Denn »dann sehe ich sie wieder: die überm UNO-Pult hochgerissene Faust Chruschtschows, die Brille Ulbrichts, beschlagen vom Haß; dann höre ich sie wieder, die nächtlichen Probeschüsse der Amerikaner im Grunewald, das Dröhnen der ersten deutschen Düsenjäger am Unschuldshimmel der Bundesrepublik;

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dann rieche ich sie wieder, die für den Weltfrieden Totschlag übenden Volksarmisten auf den Kasernenhöfen der Zone und den im Mörtelstaub wohnenden Steppegeruch, der hoch über Berlin wie ein unsichtbares Banner gehißt ist; und da höre ich auf zu fragen, da klappe ich fröstelnd meinen Mantelkragen hoch«.12 Für andere machte gerade die offensichtliche Aggressivität der sowjetischen Führung ein Überdenken der Bonner Politik notwendig. Karl Jaspers stellte in einem Interview zur Deutschlandpolitik fest, dass die Forderung nach Wiedervereinigung »politisch und philosophisch irreal« sei, und löste damit einen Skandal im publizistischen Blätterwald aus.13 Rudolf Augstein analysierte im Juli 1961 die Konsequenzen des Scheiterns des »Roll back«. Seiner Ansicht nach hätte der Westen bereits das Signal geben müssen, »die verlorene Partie abzublasen und auf der Grundlage des Auseinanderrückens der Blöcke eine Friedensregelung für Mitteleuropa, allerdings jetzt schon ohne fixierbare Wiedervereinigung, zu versuchen«. Stattdessen zöge Bonn aus seiner gescheiterten Politik den Schluss, »nicht stark genug gewesen« zu sein, und setze auf atomare Aufrüstung. Augstein plädierte für eine Anerkennung der Grenzen Polens und der DDR, weil dann auch Berlin nicht mehr als »Agitations-Tribüne« gelten werde.14 Diese Meinung wurde nicht nur von Kritikern Adenauers geteilt. Golo Mann sah Anlass, sich von einer als irreal eingeschätzten Politik zu verabschieden, um einen möglichen »Menschheits-Selbstmord« zu verhindern. Die Sowjetunion müsse in ihrer Zone Verhältnisse schaffen, die den Wunsch nach Flucht unnötig machten. Er sei, so Golo Mann, nicht auf Kapitulation aus, aber auch »zynische Ohnmachtspolitik« führe nicht weiter: »Ich will auf Erhaltung des Friedens hinaus, wenn er in Ehren erhalten werden kann, unter für beide Seiten erträglichen Bedingungen; weil Krieg uns alle, samt allem Recht und allem Unrecht, verbrennen würde.«15

Keine Alternative in der Mauerkrise Die vorgestellten Ansichten stehen stellvertretend für zahlreiche besorgte Stimmen, die an der Wende zu den 1960er Jahren den Ausbruch eines Dritten Weltkrieges befürchteten. Die Sorge vor

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einer weiteren Verschärfung des Ost-West-Konfliktes und einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr bewog Martin Walser und andere, im August 1961 einen Sammelband mit dem Titel Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung? herauszugeben, in dem vorwiegend jüngere Intellektuelle für einen Regierungswechsel warben.16 Die Veröffentlichung, mit drei Nachauflagen innerhalb eines Monats ein Taschenbuch-Bestseller, ist als wichtiger Schritt und als »Anfangspunkt eines sich wandelnden Verhältnisses von Intellektuellen und Politik« in der Bundesrepublik gewertet worden.17 Sie bietet aber zugleich ein Zeugnis für die Weltabgewandtheit vieler Linksintellektueller, die ihren Realitätssinn zu verlieren begannen und die globalen Zusammenhänge des Kalten Krieges zugunsten eines exklusiv deutsch-deutschen Blicks vernachlässigten. Carl Amery forderte, die »Unvereinbarkeit der gegenwärtigen totalen Kriegsvorbereitung mit christlichem Weltverständnis« offen darzulegen. Der »Antikommunismus« gehöre zum alten Eisen: »Wir können es uns als Europäer nicht leisten, so zu tun, als sei die Weltgeschichte im Gegensatz zwischen Kommunismus und Antikommunismus auf ihrem Endpunkt angelangt.«18 Ähnlich sprach Paul Schallück von der »Versteinerung der Gesellschaft« und der »blödsinnigen und auch feigen Ideologie des Antikommunismus«.19 Peter Rühmkorf interpretierte die bisherige Ostpolitik im Kalten Krieg eher als »Ostspekulation«: »Niederrüsten wollte man den Gegner, an die Wand und in die Enge rüsten, ihn mit dem zu verhandeln man sich nicht stark genug fühlte – das Resultat: nicht um die Dicke einer Panzerplatte sind wir dem mit soviel Aufwand erstrebten Ziel, sind wir der Wiedervereinigung nahegekommen.«20 Die Publikation der Alternative war in mancher Hinsicht eine Aufkündigung des antitotalitären Grundkonsenses der Bundesrepublik, weil sie für blockübergreifende Verständigung und Dialog eintrat. Eine gewisse Ironie lag allerdings darin, dass sie just zu einem Zeitpunkt in die Buchhandlungen ausgeliefert wurde, als Ulbricht die Mauer bauen ließ. Der 13. August 1961 machte ein weiteres Mal auf schmerzliche Weise deutlich, dass der Westen und die Bundesrepublik jenseits des Eisernen Vorhangs keine Eingriffsmöglichkeiten hatten und stellte die westdeutschen Intellektuellen vor ein Dilemma. Das

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Vorgehen Ulbrichts machte jedenfalls manche Überlegungen obsolet, die in der Alternative angestellt worden waren. Der Mauerbau konnte als Bestätigung der konservativen Warnungen vor dem »Regime von Pankow« gelten, wurde aber von der überwiegenden Zahl der Linksintellektuellen als Nachweis interpretiert, dass die bisherige Deutschlandpolitik in der Sackgasse war und erst eine andere Politik neue Chancen eröffnen würde. Zweifellos war die erste Empörung groß. Zum großen Teil hatten sie selbst noch als Soldaten die Kriegsschrecken erlebt und waren überzeugte Pazifisten und Antimilitaristen. Wie sollten sie, geprägt durch den Zweiten Weltkrieg und einer daraus resultierenden »postheroischen« Weltsicht (Herfried Münkler), auf die sowjetisch-ostdeutsche Aggression reagieren? Vermehrt ließen sich nun die Schriftsteller der Gruppe 47 vernehmen, nachdem sie sich in den fünfziger Jahren, wie es HansPeter Schwarz mokant formuliert, »klugerweise aus der Politik ziemlich heraus[gehalten]« hatten.21 Angesichts der weitverbreiteten Ohnmachtsgefühle veröffentlichte Schnurre drei Tage nach dem Mauerbau gemeinsam mit Günter Grass einen Protestbrief an die Kollegen des Schriftstellerverbandes der DDR.22 Hans Werner Richter, Gründer der Gruppe 47 und unumstritten ihr führender wie väterlich-autoritärer Kopf, erlebte die »schrecklichen Tage« des Mauerbaus in der DDR.23 Richter war auch in der DDR einflussreich und als undogmatischer Antikommunist für die SEDFührung schon immer eine »lästige Reizfigur« gewesen.24 Noch unter dem Eindruck der Ereignisse schrieb er an Schnurre: »Jemand, der das dort nicht miterlebt hat, kann sich kaum davon eine Vorstellung machen. Es war schlimmer als zur Zeit Hitlers […]. Ich fuhr […] etwas fluchtartig zurück und alle liefen weinend hinter meinem Wagen her. Es war für mich als hätte man sie lebendig eingemauert.«25 Aber als Richter, der die DDR in diesen Tagen immer wieder mit dem »Dritten Reich« verglich, Schnurre für einen offenen Brief an den sowjetischen Parteichef Chruschtschow gewinnen wollte, reagierte dieser skeptisch: »Wo soviel politisch versäumt worden ist, wo soviel Falsches längst festgerastert ist, was sollen da die Schriftsteller machen? An Chrustschov schreiben? Der wischt sich den Arsch mit so ’ m Brief, wo er sie zu hunderten kriegt. […] Ich glaube, man kann nur eins tun: Die Schuldigen von

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den Unschuldigen trennen. Die ostdeutschen Schriftsteller sind schuldig, das wissen wir jetzt.«26 Daher wurde Richters Brief ohne weitere Unterschriften der Sowjetischen Botschaft in Bonn übergeben. Richter, ein entschiedener Antikommunist, war ratlos.27 Adenauers Politik der Stärke und der unerfüllbaren Maximalforderungen hatte seiner Ansicht nach versagt, aber er war sich nicht sicher, wie man »Ulbricht loswerden« solle. Sein Vorschlag, dass steter Tropfen den Stein höhle, hatte zum Ziel, eine »Erleichterung durch Änderung und Verbesserung der Staatsführung« zu erreichen – Formulierungen, die in mancher Weise die Gedanken Egon Bahrs in der Evangelischen Akademie von Tutzing am 15. Juli 1963 und seiner These vom »Wandel durch Annäherung« vorwegnahmen.28 Die Kritik an Adenauers offensichtlich intransigenten Kurs war nach dem Mauerbau groß. In der wissenden Rückschau und unter Kenntnis der Akten weiß man heute, dass es kaum eine Alternative zu dessen Politik des »Krisenpoker« gegeben hat, wenn man einmal von der rein hypothetischen und von niemand ernsthaft erwogenen Möglichkeit des Rückzugs aus Berlin absieht.29 Als Anhänger einer harten Berlinpolitik hatte Adenauer die kaum lösbare Aufgabe, die aus übergeordneten weltpolitischen Überlegungen auf Konzessionen drängenden USA und die auf Konfrontationskurs befindliche SED-Führung gegeneinander auszubalancieren. Die von vielen Intellektuellen gewünschte Neuformulierung der Deutschlandpolitik war zumindest 1961 noch kaum möglich, weil sich sogar die Sowjets vor Ulbrichts Karren spannen ließen und es keineswegs klar war, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden. Während die Bild-Zeitung in einer allgemein pessimistischen und von Kriegsfurcht gekennzeichneten Stimmung angesichts der Nachgiebigkeit der westlichen Großmächte am 25. September mit der Schlagzeile aufmachte »Wird Deutschland jetzt verkauft?«, wäre ein Eingehen auf die Forderung mancher Intellektueller nicht nur ein falsches Signal, sondern zugleich politischer Selbstmord gewesen. In den Tagen des Mauerbaus waren auch die führenden SPD-Politiker kaum bereit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die als ein auch nur partielles Nachgeben gegenüber Ost-Berlin hätten interpretiert werden können. Angesichts der offenbaren politischen Tatenlosigkeit nach dem

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Mauerbau schlugen zahlreiche Intellektuelle einen UNO-Appell vor. In ihrem öffentlichen Aufruf erklärten sie, dass »verschiedene Faktoren den gegenwärtigen Zustand in Deutschland herbeigeführt oder ermöglicht« hatten. Es läge ihnen fern »einseitige Anklagen zu erheben«, und es »sei wenig sinnvoll«, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte noch einmal aufzurollen.30 Zu den Unterzeichnern dieses ebenso kraft- wie hilflosen Briefes, der vor der ausdrücklichen Benennung des wahren Aggressors zurückscheute, zählten u. a. Hans Werner Richter, Axel Eggebrecht, Günter Grass, Wolfdietrich Schnurre, Walter Jens, Martin Walser, Peter Rühmkorf, Siegfried Lenz, Helmut Gollwitzer, Heinrich Böll, Paul Schallück, Wolfgang Weyrauch und Hans Magnus Enzensberger. Ein Erfolg dieser Aktion blieb, wie kaum anders zu erwarten war, aus. Ernst-Otto Maetzke kommentierte in der FAZ verächtlich, die Unterzeicher machten »sich mit ihren unbedarften Versuchen, die Weltachse zu schmieren, innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen lächerlich. Etwas anders wäre es, wenn der eine oder andere von ihnen bei Gelegenheit wieder einmal ein schönes Buch schriebe.«31 Günther Rühle legte wenig später in der gleichen Zeitung nach: Die jungen Schriftsteller litten offensichtlich darunter, die Republik nicht mitbegründet zu haben. Es sei zu einfach, sich angesichts der Bedrohung durch den Osten in »Wortspäße« zu retten oder die »Adenauer-Ära mit dem Neckermann-Katalog« zu identifizieren. Er attestierte »illusionistische Vorstellungen« und eine mangelnde Identifizierung mit den Ideen der Republik: »Stütze des Staats und damit der Freiheit sein heißt aber nicht, sich deklamatorische Bekenntnisse abnötigen, Briefe schreiben an die UNO und Chruschtschow, um mit dem Hinweis auf die Unschuld des eigenen Kindes das Herz des Diktators zu rühren.« Rühle bemängelte vor allem, dass der fortwährende Versuch, sich durch Kritik an der Bundesrepublik bei den ostdeutschen Kollegen anzubiedern, ebenso fruchtlos wie diffamierend sei. Erst durch ihre »Liebe zum Staat« rechtfertige sich die schriftstellerische »Kritik am Staat«.32 Alfred Kantorowicz, der in der NS-Zeit im Exil gewesen war und 1957 seinen Lehrstuhl aufgegeben und die DDR verlassen hatte, hielt derartige offene Briefe für »gutgemeint«, aber angesichts der sowjetischen Politik für »unbedacht«.33

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Die apologetischen Reaktionen der DDR-Schriftsteller, die noch im Duktus Stalins den Bau der Mauer verteidigten, riefen Wolf Jobst Siedler auf den Plan, den allein die Bereitschaft wunderte, überhaupt in einen Dialog über die Mauer hinweg einzutreten, während sich die westdeutschen Denker im Verkehr mit dem Spanien Francos strikte Zurückhaltung auferlegten: Ihn befremdete die »Bereitwilligkeit, mit den Intellektuellen der totalitären Linken zu reden, zu diskutieren, zu argumentieren. […] Sprechen, sagt man hüben und drüben, ist besser als schießen, wobei man von der einigermaßen rührenden Überzeugung ausgeht, daß irgendwelche Beziehungen zwischen der eigenen Gesprächigkeit und der Erhaltung des Weltfriedens bestehen. […] Die neue Linke, die sich gern ›heimatlos‹ nennt, ist auch darin heimatlos, daß sie keinen Katalog von Forderungen mehr hat.« Die westdeutsche Linke wolle und könne nicht akzeptieren, dass die DDR-Schriftsteller die Argumentation ihrer westdeutschen Kollegen nicht übernahmen und sich mit dem SED-Regime arrangiert hatten.34 Letztlich, so legte Siedler in der Zeit Anfang 1962 nach, sollte man nicht vergessen, »daß es sich bei den deutschen Linksintellektuellen nicht um die Ausgestoßenen der Gesellschaft, sondern um die einflußreichste und sozusagen marktbeherrschende Gruppe des deutschen Literatur- und Kulturbetriebs« handle. Diese hätten »so ziemlich alle Positionen erobert, in denen heute Kunst verwaltet und dirigiert wird«.35 Anfang September 1961 wurde innerhalb der Gruppe 47 darüber nachgedacht, analog zum erfolgreichen Taschenbuch Die Alternative auch einen Band über die Debatte zum Mauerbau herauszubringen. Die Resonanz war positiv. Unterschiedliche Meinungen herrschten lediglich darüber, ob nicht zuvor eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit der »Ostzone« geführt werden müsse. Die Befürworter einer sofortigen Publikation setzten sich durch. Der Band Die Mauer wurde von Hans Werner Richter herausgegeben und spiegelte den politischen Streit und die durch den Mauerbau aufgebrochenen Spannungen zwischen den Lagern wieder.36 Hans Werner Richter war der Meinung, es sei keineswegs ein Buch, das »die Fanfare des kalten Krieges« blase. An Gerhard Schoenberner, der kein Freund der Publikation war, schrieb er, der Reiz des Werkes liege in der »Verwirrung, Naivität und zum Teil

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groteske[n] Dummheit auf beiden Seiten […], es ist ein Buch der deutschen Tragödie, die immer wieder ihren Ursprung in dem Mangel und Unvermögen der Deutschen hat, politisch denken und handeln zu können. Es ist, wie gesagt, das erste gesamtdeutsche Buch und dementsprechend traurig und deprimierend.«37 Seine Meinung über die Urteilsfähigkeit seiner Kollegen war entsprechend gering. Klaus Wagenbach ließ er wenig später wissen, »deutsche Literaten« seien nun einmal mit »recht mangelhaften politischen Bewusstseinskategorien ausgerüstet«.38 Zahlreiche Linksintellektuelle, unter ihnen Axel Eggebrecht, Gerhard Schoenberner und Erich Kuby waren unzufrieden mit dem Band. Fritz J. Raddatz, den der vermeintlich anklagende Tonfall störte, warf gar die Frage auf, ob man durch die Dokumentation »nicht doch etwas an der Mauer mitgemauert« habe.39 Ungeachtet der Veröffentlichung stellte der Mauerbau die Linksintellektuellen vor eine Zerreißprobe. Ernst Bloch entschied sich Ende September, nicht nach Leipzig zurückzukehren und stattdessen in der Bundesrepublik zu bleiben. Wolfdietrich Schnurre trat am 12. Oktober aus dem PEN-Club aus, weil er die »Lethargie« des westdeutschen Zentrums beklagte, den Antrag auf den Ausschluss des DDR-Pendants zu stellen. Hans Werner Richter, stets um eine gemeinsame Linie bemüht, zeigte wenig Verständnis, und mit ihm missbilligten viele westdeutsche Linke diesen Schritt.40 Richter hielt daran fest, dass die Schriftsteller das »Gewissen der Nation« seien,41 auch wenn ihm Zweifel an der Erfüllung dieser Rolle blieben. Die bereits erwähnte Debatte um die »heimatlose« Linke, die durch den Mauerbau neu entflammt war, blieb monatelang Thema des Feuilletons und der jeweiligen Ressortchefs Karl Korn (FAZ), Georg Ramseger (Die Welt), Rudolf Walter Leonhardt (Die Zeit), Hans-Joachim Sperr (Süddeutsche Zeitung), Giselher Wirsing (Christ und Welt) und Friedrich Sieburg (Der Tagesspiegel). Ein in der Bundesrepublik neuartiger Kulturkampf war damit verkündet und ausgebrochen. Mauerbau und Kalter Krieg spielten darin bald nur noch eine untergeordnete Rolle, aber es war kein Zufall, dass diese Faktoren an seinem Beginn gestanden hatten.

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Vom antitotalitären Konsens zur Konvergenz der Systeme Der Mauerbau hatte der DDR inzwischen offenkundig eine Atempause verschafft. Sie war mittlerweile zur zweitstärksten Industriemacht des Ostblocks geworden und sollte als Vorbild für die sozialistischen Nachbarländer ein Motor des östlichen Bündnisses sein. Ulbricht sah den Bau der Mauer nur als »Zwischenstufe« auf dem Weg zu einem separaten Friedensvertrag mit der Sowjetunion, mit dessen Unterzeichnung er weiterhin rechnete. Sein Ziel war nach wie vor, die Rechte der Westmächte schrittweise abzubauen, um schließlich die Kontrolle des Westteils der Stadt zu übernehmen. Ost-Berlin reagierte entsprechend enttäuscht, als Chruschtschow auf weiteren politischen Druck verzichtete und sein Ultimatum im Oktober 1961 zurücknahm: Letztlich war die Sowjetunion nicht daran interessiert, der DDR mit der BerlinFrage den Hebel zu belassen, nach Belieben außenpolitische Krisen auszulösen. Die politische Beruhigung wirkte sich auch auf die Debatten der Intellektuellen aus. Die Bedrohungslage ging in dem Maß zurück, wie sich die innenpolitische Lage der SED-Diktatur stabilisierte. Der »zweite deutsche Staat« konnte zumindest kurzfristig mit seiner Politik zufrieden sein. Die territorialen Konsequenzen des Kalten Krieges waren ein weiteres Mal unter Beweis gestellt worden. Der antitotalitäre Konsens geriet in Misskredit: Wer noch gegen das »Regime von Pankow« wetterte und von der »Zone« oder »Zonenregime« sprach, geriet in Gefahr, als »Kalter Krieger« politisch nicht mehr ernst genommen zu werden. Das Diktum von Walter Jens, dass »die CDU die Mauer selbst gebaut« habe, wurde inzwischen von vielen geteilt. Symptomatisch für diesen Wandel war die Haltung Sebastian Haffners.42 Hatte dieser zum Zeitpunkt des Mauerbaus die Westalliierten ob ihres Nichtstuns noch verzweifelt angegriffen, war er 1963 zum Verfechter einer neutralistischen Deutschlandpolitik mutiert. Zugleich gab er seine Kolumnen in der Welt ebenso auf wie diejenigen in Christ und Welt; fortan schrieb er im Stern und in Klaus Rainer Röhls konkret.43 Bald gerieten auch die Vertriebenenverbände in eine argumentative Schräglage, weil ihre Forderung nach friedlicher Grenzver-

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änderung im Kern den Anspruch erhob, den Status quo zu verändern.44 Die Kuba-Krise hatte trotz aller Ängste vor den Gefahren eines atomaren Weltkrieges in Westdeutschland keineswegs die intensiven Debatten zur Folge, wie sie der Mauerbau provoziert hatte.45 Die Vorgänge in der Karibik wurden weniger als erfolgreiche Abwehr sowjetischer Aggression wahrgenommen denn als Bestätigung, dass zwischen zwei gleichrangigen Nuklearmächten nun eine friedliche Lösung umso dringender sei. Weitgehend unbeachtet blieb die 1964 ausgesprochene Warnung Richard Löwenthals, »daß die Sowjets mit dem Sonnenschein der Entspannung das erreichen könnten, was der kalte Wind ihrer Drohungen nicht vermocht hat: die legale Konsolidierung der deutschen Teilung und den Zerfall des atlantischen Bündnisses«.46 Anders als in Großbritannien oder Frankreich fehlte in der Bundesrepublik der Rückhalt eines intakten Nationalstaats. Deswegen war es relativ einfach, die scheinbar unveränderbaren Gegebenheiten des Ost-West-Konflikts zu akzeptieren und den vermeintlich kompromittierenden Nationalismus aufzugeben, zumal die europäischen Nachbarn von einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands ebenso wenig hielten wie von einer Wiedervereinigung. Ein unverkrampfteres Umgehen mit den Gegebenheiten des Kalten Krieges schien das Gebot der Stunde und passte zu den Signalen, die aus den USA kamen. Der junge John F. Kennedy legte mit seiner »Friedenspolitik« eine Vorgehensweise an den Tag, die Adenauer – inzwischen Mitte achtzig – erst recht als einen Mann der Vergangenheit erscheinen ließ. »Im Schatten der Mauer«47 wurde die DDR – das war die Folge der normativen Kraft des Faktischen – zunehmend respektiert, zum Teil sogar als alternatives Gesellschaftsmodell akzeptiert. Angesichts verschiedener Reformversuche galt sie sogar als experimentierfreudig und modern, während in der Bundesrepublik vermeintlich restaurative und rückwärtsgewandte Tendenzen beklagt wurden. Zwar war, als Journalisten der Zeit im Jahr 1964 auf Einladung Ulbrichts die DDR besuchen durften, dies noch weitgehend eine »Reise in ein fernes Land«.48 Aber die DDR konnte die Besuche westdeutscher Intellektueller als ein Zeichen für eine pragmatische Anerkennungsbereitschaft verbuchen. Für Marion Gräfin Dönhoff war es »das Erschreckendste« gewesen, »Schritt auf Tritt einer von

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Grund auf verschiedenen Weltauffassung« begegnet zu sein.49 Offensichtlich war hier die Bereitschaft, dem Totalitären ernsthaft zu widerstehen, auf dem Rückzug. Das nüchterne Fazit von Theo Sommer ging in eine ähnliche Richtung: Das System der DDR werde wohl nie so gut funktionieren, dass die Bevölkerung »wirklich glücklich« werde, »doch wird es wohl auch nie mehr so schlecht funktionieren, dass sich die Menschen in purer Verzweiflung dagegen auflehnen«.50 In der Konsequenz lautete die Forderung: Nicht länger die »Gegen-Revolution« in der DDR zu unterstützen, weil dies die »allmähliche Evolution« blockiere.51 Ernsthafte Gegenwehr gegen die Vorgehensweise der SED-Diktatur war angesichts der wirkungsmächtigen defätistischen Stimmung nur noch die Haltung einer Minderheit. »Endlich bewiesen: Es gibt keine DDR« lautete der Titel der Septemberausgabe 1963 der satirischen Zeitschrift Pardon, die bereits ein Jahr nach ihrer Gründung fast eine Millionenauflage erreichte und ein junges und gebildetes Publikum ansprach. Diese spielerische Kritik, die weder die Politik der Bundesrepublik noch diejenige der DDR ernst nahm, ging mit neuen Fernsehformaten einher wie dem NDR-Magazin »Panorama«, das die Berlin- und DDR-Politik der Bundesrepublik – zum Missfallen des Bundespresseamtes – medial ausgesprochen kritisch begleitete.52 Die Politik der SED-Diktatur war in dieser Hinsicht auf mittlere Sicht durchaus erfolgreich. Beflügelt durch den Zeitgeist gelang es ihr, sich in den 1960er Jahren durch die intensive Einflussnahme auf Parteien und Institutionen Gehör zu verschaffen, was sich spätestens in den 1970er Jahren politisch ummünzen ließ.53 Das Erfolgsmodell der Alternative aufgreifend legte Richter 1965 einen Sammelband mit Aufsätzen vor, in denen die Autoren noch eindringlicher für einen politischen Wechsel plädierten als 1961.54 Innenpolitische Fragen standen im Vordergrund, aber der Ost-West-Konflikt beanspruchte ebenfalls große Aufmerksamkeit. Richter selbst blieb ein harter Gegner des SED-Regimes, beharrte jedoch auf seiner Ansicht, dass eine neue Ostpolitik notwendig sei.55 Fritz J. Raddatz forderte von einer künftigen Regierung »Vernunft statt Hysterie« im Verkehr mit der DDR.56 Andere versuchten sich in einem problematischen Annäherungsversuch an das sowjetische System. Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher sahen einen

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»Erziehungsvorsprung der Russen« und sprachen mit einer gewissen Bewunderung von erfolgreichen sowjetischen Großprojekten. Das mochte zwar noch eine Folge des Sputnik-Schocks sein, aber es war auch ein beängstigend opportunistischer Kniefall vor der Faszination sowjetischer Macht.57 Noch heftiger war die Kritik, die Karl Jaspers 1966 in seinem Buch Wohin treibt die Bundesrepublik? äußerte. Das hier vertretene Zerrbild steht stellvertretend für zahlreiche Werke, in denen ein apokalyptisches Denken vorherrschte und in denen die Bundesrepublik auf dem Weg in einen Krieg gesehen wurde.58 Jaspers’ Buch stellte einen Einschnitt dar, weil es katalysatorisch wirkte. Bis Mitte des sechziger Jahre waren »die deutschen Intellektuellen kritisch und zugleich zahm«.59 Seither zeigte sich eine deutliche Naivität, aber auch die zunehmende Unfähigkeit, das Unrecht in den Diktaturen Mittel- und Osteuropas zu benennen. Wolfdietrich Schnurre hatte schon anlässlich des Mauerbaus geschrieben, man müsse »dem PEN mit seinen humanistischen Satzungssprüchen die Pistole auf die Brust setzen«, er wenigstens »habe keine Lust mehr, in einem gemütlichen Pseudo-Literaten-Club zu sein«.60 Die Mehrzahl der Intellektuellen schlug sich nun auf die Seite einer »littérature engagée« und fiel – das Jahr 1961 war hierfür beispielgebend gewesen – eher durch Appelle, Flugblattaktionen, offene Briefe und Demonstrationen auf als durch ihre schriftstellerische Arbeit. Wie sind die Vereinfachungen und Verschrobenheiten der Intellektuellen zu erklären, die die Bundesrepublik außenpolitisch als aggressiven und geradezu »faschistischen« Staat zeichneten?61 Richter hatte schon 1962 warnend bemerkt, die »junge Generation« der Schriftsteller habe zwar mehr Begabung als seine eigene, sei aber »leider, leider auch weniger tolerant, ein unverzeihlicher Nachteil in diesem Land«.62 Aber selbst Richter widerstand den ideologischen Verlockungen nicht immer, obwohl er noch 1962 erklärt hatte, dass ihm angesichts seiner Erfahrung mit dem »Dritten Reich« dogmatische Weltanschauungen fremd und »jede Form des normativen Kollektivs mit Generallinie, Fahne und Programm« suspekt blieben.63 Die Verführbarkeit des Geistes, die Raymond Aron in seinem L ’ Opium des Intellectuels treffend analysiert hat, mag hierfür ebenso ein Grund gewesen sein wie die

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Konkurrenz der Studentenbewegung, die auf einmal die intellektuelle Deutungsmacht an sich riss und die als allzu unpolitisch kritisierten Schriftsteller zu aggressiveren Stellungnahmen motivierte. Theodor Adorno zog 1969 skeptisch die Konsequenz aus der Entwicklung, als er meinte, der Studentenbewegung sei »ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt«.64 Die Ideologisierung im Banne einer neomarxistischen Renaissance lud zur weiteren Nivellierung des Systemgegensatzes zwischen Ost und West ein. Auch in diesem Fall zeigten die intellektuellen Debatten nicht nur Furcht, sondern, eng daran gekoppelt auch eine Aufbruchstimmung. Arnulf Baring hat diese, bisweilen von »Allmachtsphantasien« begleitete Situation so beschrieben: »Über Nacht verwandelte sich die Resignation in Rebellion.«65 In dem Maß, wie im »Fieber der Veränderung« (Klaus Hildebrand) die marxistische Ideologie wieder hoffähig wurde, wurde selbst die kommunistische Herrschaft nicht grundlegend verworfen, sondern lediglich als zwischenzeitliche Verirrung eines prinzipiell ebenbürtigen oder gar moralisch überlegenen Systems verstanden. Die sowjetische Herrschaft über die DDR bzw. Ostmittel- und Osteuropa wurde zwar nicht grundsätzlich gutgeheißen, aber bisweilen als notwendiges Bollwerk gegen den amerikanischen Imperialismus interpretiert. Ein gewisses antiwestliches Denken war hiermit unmittelbar verknüpft. Ein gewichtiger Teil der Intellektuellen lief Gefahr, den zentralen Erfolg der Ära Adenauer, nämlich die Integration in die Phalanx der westlichen Demokratien und des atlantischen Militärbündnisses, wieder aufzugeben. Kritik an der Westbindung gehörte schon fast zum guten Ton. »Wenn es einst in der Diktatur Todesmut erfordert hatte, gegen den Staat aufzustehen«, kritisierte Klaus Hildebrand diese Stimmung rückblickend, »so gehörte in dieser Republik nun fast Zivilcourage dazu, für ihn einzutreten.«66 Es war nicht verwunderlich, dass gerade außerhalb der Bundesrepublik die Sorge wuchs, dass die Deutschen schon wieder einen »Sonderweg« beschreiten könnten. Walter Laqueur, der aus Hitlers Deutschland nach England und in die USA hatte fliehen können, beschrieb diese intellektuelle Befindlichkeit, die er als engstirnig empfand, wie folgt: »Der Kern des Problems war zum einen die irrige Annahme vieler Intel-

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lektueller, dass Kritik ein Synonym für totale Verneinung sei. Neben diesem Negativismus gab es zum anderen die Selbstüberhebung der Intellektuellen […] Sie verabscheuten den Provinzialismus, das neue Spießertum der Nachkriegsgesellschaft, waren aber gleichzeitig Glieder dieser Gesellschaft. Auch ihre Kritik war provinziell und ignorierte die Erfahrungen anderer Zeiten und anderer Länder.«67 Im Dezember 1965, um nur ein Beispiel zu nennen, veranstaltete der Berliner SDS eine Ausstellung, in deren Verlauf Geld für das Rote Kreuz Nordvietnams und den Vietcong gesammelt wurde. Intellektuelle wie Günther Anders, Ernst Bloch, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Gollwitzer, Jürgen Habermas, Erich Kästner und Martin Niemöller protestierten öffentlich gegen die amerikanische Politik.68 Proteste gegen den »amerikanischen Imperialismus« konnten dann mitunter zum Aufruf für den nordvietnamesischen »Befreiungskampf« werden – und damit war ein weiterer Schritt zur Bejahung kommunistischer Regime getan. Auf dem schmalen Grat zwischen der Suche nach Verständigung mit den östlichen Nachbarn und der Billigung illegitimer Gewaltherrschaft gerieten nicht wenige Linksintellektuelle ins Straucheln. Es lag ganz auf dieser Linie, dass ein Schriftsteller wie Walter Kempowski, der konsequent auf die Verbrechen der SED-Diktatur verwies, in ihren Reihen »persona non grata« war. Es ist ein bis heute leider ungeschriebenes Kapitel der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte, wie – und warum – diese Schriftsteller eher zu »fellow travellers« der Despotie als zu Verfechtern der bürgerlichen Freiheit wurden. Gleiches gilt für die Frage, warum die »Konvergenztheorie«, die ein allmähliches Zusammenwachsen der Blöcke für theoretisch möglich erachtete, an Zustimmung gewann,69 während das Totalitarismuskonzept als angebliches Instrument des Kalten Krieges über Bord geworfen wurde. Sobald der »Sozialismus als Gegenmodell« gesellschaftsfähig wurde, avancierten die politischen Gegner jenseits des »Eisernen Vorhangs« zu potentiellen Partnern.70 Die Hoffnung der »radikalen Utopisten unserer Zeit« war, so kommentierte Richard Löwenthal, »zu den unterentwickelten Völkern« geflohen.71

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Resümee Die vorausgegangenen Schlaglichter auf die Ideenlandschaft der Bundesrepublik zur Zeit des Mauerbaus und danach zeigen vor allem eines: Eine umfassende und nüchterne Bestandsaufnahme der Ideengeschichte der Bundesrepublik Deutschland bleibt ein Desiderat der Forschung. In Anbetracht dieses Missstandes erscheint es umso angebrachter, statt eines Fazits einige Fragen aufzuwerfen, die bei der Vermessung der geistigen Landschaften der Bundesrepublik hilfreich sein könnten. Man wird künftig fragen müssen, warum liberalkonservative Appelle für die Westbindung im historischen Bewusstsein einen so geringen Niederschlag fanden. Liegt es an einer gewissen Provinzialität der Denkschule, wie ihnen von ihren Kritikern immer wieder vorgehalten wurde? Zog das geschichtspolitische Totschlagargument, dass ihr Denken eine Affinität zum verhängnisvollen Konservatismus habe, der als Steigbügelhalter Hitlers zur »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) der Jahre von 1933 bis 1945 geführt habe? Liegt es an der Theorieferne ihrer Protagonisten, die aus einer skeptischen Grundhaltung heraus bewusst keine Lehrgebäude hinterlassen wollten? Liegt es daran, dass die Befürworter einer starken und wehrhaften Bundesrepublik angesichts der Angriffe der sich entwickelnden 68er-Generation traumatisch und überkompensierend reagierten und zu wenig mehr als einer »entschiedene[n] Affirmation des Bestehenden« in der Lage waren?72 Lag es, mit anderen Worten daran, dass Konservative und Liberale in einer gewissen Selbstgerechtigkeit ihr antikommunistisches Bekenntnis als eine Haltung betrachteten, die keinerlei weitere Erläuterung bedürfe? Oder lag es nicht doch auch an einem Zeitgeist, der zumindest für eine gewisse Phase in den 1960er und 1970er Jahren den Befürwortern antitotalitärer Argumente einfach keinen Raum mehr ließ? All das wird Historiker künftig beschäftigen, wenn sie an der Ideengeschichte der Bundesrepublik schreiben.

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Anmerkungen 1 Ernst Vollrath, Die Kultur des Politischen. Konzepte politischer Wahrnehmung in Deutschland, in: Volker Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 268–290, bes. S. 275–282. Vgl. hierzu Jan-Werner Müller, Introduction: Putting German Political Thought in Context, in: ders. (Hg.), German Ideologies since 1945: Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic, New York / Houndsmill 2003, S. 1–20, hier S. 14. 2 Jean R. von Salis, Geschichte und Politik, Zürich 1971, S. 214. 3 Vgl. Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579–599, hier S. 585. 4 Zur Konflikt- und Protestgeschichte in der Bundesrepublik siehe Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des Geteilten Deutschlands, Berlin 2000, S. 319–358. Zur Ära Adenauer vgl. Dominik Geppert, Die Ära Adenauer, Darmstadt 22007, S. 94–98. 5 Hans-Peter Schwarz, Ost-West, Nord-Süd. Weltpolitische Betrachtungen zur deutschen Teilungsepoche, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 1–27, hier S. 7. 6 Per Øhrgaard, »ich bin nicht zu herrn willy brandt gefahren« – Zum politischen Engagement der Schriftsteller in der Bundesrepublik am Beginn der 60er Jahre, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 719–733, bes. S. 723 f. 7 Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 88. 8 Zitiert nach Eberhard Rathgeb, Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005, München / Wien 2005, S. 113–116, hier S. 115 f. 9 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 31975, S. 342. 10 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München / Zürich 21999, S. 15. 11 Hans-Peter Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 21985, hier S. 23, 29. 12 Wolfdietrich Schnurre, Ob Ulbricht weiß, wie der Brachvogel pfeift?, in: Deutsche Zeitung vom 3. 12. 1960, abgedruckt in: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961, S. 21–30, hier S. 30. 13 Karl Jaspers, Lebensfragen der deutschen Politik, München 1963. Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur Bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, S. 222–239; Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, München 42000, S. 66. 14 Jens Daniel (Rudolf Augstein), Geht Berlin verloren?, in: Der Spiegel vom 12. 7. 1961, wiederabgedruckt in Richter (Hg.), Die Mauer, S. 35–43, hier S. 37. Zu Rudolf Augstein und seinem publizistischen Kampf gegen die

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Joachim Scholtyseck Regierung Adenauer unter dem Pseudonym Jens Daniel siehe Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Biographie, München 2007, S. 170–212. Golo Mann, Das Ende der Bonner Illusionen, in: Die Zeit vom 18. 8. 1961. Martin Walser (Hg.), Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung?, Reinbek 1961. Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD: Die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Gangolf Hübinger / Thomas Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 222–238, hier S. 225 f. Carl Amery, Eine kleine Utopie, in: Walser (Hg.), Die Alternative, S. 7–13, hier S. 9 f. Paul Schallück, Versteinerungen, in: ebd., S. 55–60, hier S. 56 f. Peter Rühmkorf, Passionseinheit, in: ebd., S. 44–50, hier S. 48. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1949–1957, Wiesbaden 1981, S. 424. Abgedruckt in: ebd., S. 65 f. Richter an Fritz J. Raddatz vom 23. 8. 1961, in: Hans Werner Richter, Briefe von und an Hans Werner Richter 1947–1978, hg. von Sabine Cofalla, München 1997, S. 350. Manfred Jäger, Die Gruppe 47 und die DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 / 2007, S. 25–31, hier S. 26. Richter an Schnurre vom 23. 8. 1961, in: Richter, Briefe, S. 353. Schnurre an Richter vom 29. 8. 1961, in: ebd., S. 352 f. Richter an Chruschtschow vom 7. 9. 1961, abgedruckt in: ders., Die Mauer, S. 120–123. Richter an Christian Ferber vom 22. 9. 1961, in: Hans Werner Richter, Briefe, S. 358. Schwarz, Epochenwechsel, S. 253. Abgedruckt in Richter (Hg.), Die Mauer, S. 123–126. Ernst-Otto Maetzke, »Überraschung für Mongi Slim«, zitiert nach ebd., S. 128. Günther Rühle, Viele Briefe gingen kreuz und quer. Zu einigen Aktionen deutscher Schriftsteller, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 10. 1961. Zitiert nach Richter (Hg.), Die Mauer, S. 188. Wolf Jobst Siedler, Die Linke stirbt, doch sie ergibt sich nicht, in: Der Tagesspiegel vom 24. 9. 1961. Wolf Jobst Siedler, Staatsbeihilfe für die Aufsässigen. Ihre Schonbedürftigkeit, nicht ihre Provokationen sind der »Heimatlosen Linken« vorzuwerfen, in: Die Zeit vom 26. 1. 1962. An Paul Schallück schrieb Richter am 18. 10. 1961, er hoffe, dass »Ulbrichts Mauer nicht auch noch in die Gruppe 47« hineinwachse (Richter, Briefe, S. 372, Anm. 4). Richter an Schoenberner vom 16. 11. 1961, ebd., S. 383 f. Richter an Wagenbach vom 6. 10. 1962, ebd., S. 416. Fritz J. Raddatz an Richter vom 13. 11. 1961, ebd., S. 377, Anm. 9.

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40 Vgl. die Kritik Gerhard Schoenberners in: Vorwärts vom 21. 12. 1961 (»Bestenfalls sind sie Dilettanten«). 41 Vgl. sein Nachwort in: Richter (Hg.), Die Mauer, S. 184. 42 Walter Jens an Hans Werner Richter vom 31. 10. 1961, in: Richter (Hg.), Briefe, S. 373. 43 Ralf Beck, Der traurige Poet. Sebastian Haffner und die Deutsche Frage, Berlin 2005, S. 94–101. 44 Grundlegend dazu Matthias Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004. 45 Vgl. etwa Alfred Andersch, zitiert nach Richter, Briefe, S. 434. 46 Richard Löwenthal, Weltpolitischer Szenenwechsel, in: Der Monat (September 1963), wiederabgedruckt in: ders. Weltpolitische Betrachtungen. Essays aus zwei Jahrzehnten, Herausgegeben und eingeleitet von Heinrich August Winkler, Göttingen 1983, S. 61–76, Zitat S. 73. 47 Vgl. Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999. 48 Marion Gräfin Dönhoff / Rudolf Walter Leonhardt / Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964. 49 Marion Gräfin Dönhoff, Keine Anerkennung – aber viele Kontakte, in: ebd., S. 133–136, hier S. 134. 50 Theo Sommer, Die permanenten Provisorien, in: ebd., S. 140–143, hier S. 140. 51 Ebd., S. 142. 52 Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 278–311, hier S. 306–308. 53 Jochen Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960–1970: Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993; vgl. auch Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999. 54 Richter, Plädoyer. 55 Ende 1962 hatte er über Adenauers Deutschlandpolitik geschrieben: »Wenn der Alte hier gehen würde, dann schickten die Russen auch Ulbricht in die Wüste. Er geht ihnen schon lang auf den Wecker.« (Richter an Otto Richter vom 9. Dezember 1962, in: Hans Werner Richter, Briefe, S. 437). 56 Fritz J. Raddatz, Analyse, kaum Therapie, Richter, Plädoyer, S. 81–84, hier S. 83. 57 Inge Aicher-Scholl / Otl Aicher, Wohlstand ohne Konzept, in: Richter, Plädoyer, S. 104–114, hier S. 107. 58 Die Kritik von Karl Jaspers (Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966) ist damals von Martin Hirsch ebenso zurückgewiesen worden wie von Kurt Sontheimer, der Jaspers Argumentation in seinem Aufsatz »Deutsche Übertreibungen – über eine Be-

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Joachim Scholtyseck sonderheit unserer politischen Kultur« erneut behandelt hat (in: Peter R. Weilemann / Hans Jürgen Küsters / Günter Buchstab (Hg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz, Paderborn u. a. 1999, S. 661–665, hier S. 662 f.). Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie, S. 133. Schnurre an Richter vom 29. 8. 1961, Richter, Briefe, S. 352. Kurt Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976. Richter an Rudolf Walter Leonhardt vom 29. 3. 1962, Richter, Briefe, S. 402, Anm. 3. Hans Werner Richter, Fünfzehn Jahre, in: Almanach der Gruppe 47, Reinbek 1962, S. 10. Theodor W. Adorno an Herbert Marcuse vom 6. 8. 1969, abgedruckt in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Bd. 2: Dokumente, Hamburg 1998, S. 671. Arnulf Baring, Machtwechsel, Stuttgart 1982, S. 80. Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969, Stuttgart / Wiesbaden 1984, S. 417. Walter Laqueur, Was ist los mit den Deutschen? Berlin 1995, S. 134. »Erklärung über den Krieg in Vietnam«, in: Der Spiegel vom 15. 12. 1965. Vgl. Eckart Conze, Konfrontation und Détente. Überlegungen zur historischen Analyse des Ost-West-Konflikts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 269–282. Hans-Ulrich Thamer, Sozialismus als Gegenmodell. Theoretische Radikalisierung und Ritualisierung einer Oppositionsbewegung, in: Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2005, S. 741–758. Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, Stuttgart u. a. 1970, S. 33. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 296.

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Später Protest Die Intellektuellen und die Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik

Der Status des Intellektuellen ist eng mit der Meinungs- und Pressefreiheit verbunden. Einerseits benötigen Intellektuelle für ihre öffentliche Präsenz eine gewisse Meinungsfreiheit, da sie vorwiegend durch den kritischen Gebrauch von Wort und Schrift agieren. Andererseits erlangten sie ihre öffentliche Prominenz und ihren Status als Intellektuelle oft erst dadurch, dass ihnen das freie Wort abgeschnitten wurde, sie für die Meinungsfreiheit eintraten und die Zensur kritisch thematisierten. Dies scheint besonders evident, wenn man wie Jürgen Habermas die Geburt des deutschen Intellektuellen bereits mit Heinrich Heine und Ludwig Börne beginnen lässt, deren satirischer Spott stets mit dem Kampf gegen die Zensur verbunden war.1 Diese Spur lässt sich in Deutschland von frühen Pazifisten wie Carl von Ossietzky über die Spiegel-Affäre oder bis zu DDR-Intellektuellen wie Wolf Biermann fortführen. Zudem war der Aufstieg des Intellektuellen eng mit den Medialisierungsschüben seit dem späten 19. Jahrhundert verbunden. So war es kein Zufall, dass sich das verstärkte Aufkommen des Intellektuellen vor allem auf das späte 19. Jahrhundert datieren lässt, also exakt jene Zeit, in der sich die Massenpresse als mächtiger Akteur in der Öffentlichkeit etablierte und es prominenten Künstlern und Wissenschaftlern ermöglichte, durch sie kritisch zu intervenieren.2 Aber auch der Kommunikationsstil von Intellektuellen wies häufig eine Medienaffinität auf. Wie bereits Franz Neumann in den fünfziger Jahren feststellte, kam es auf den Mut zur Vereinfachung, Zuspitzung und Dramatisierung an, um so eine breite gesellschaftliche Empörung einzuleiten.3 Unübersehbar korreliert dieses Merkmal mit den medialen Ökonomien der Aufmerksamkeit. Die Macht der Intellektuellen war damit auch ein

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Resultat der neuen Macht der Medien. Wenn Intellektuelle für die Pressefreiheit eintraten, so verteidigten sie damit sowohl eine demokratische Öffentlichkeit als auch das Fundament ihres Betätigungsfeldes. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Rolle die Intellektuellen bei der Verfestigung der Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik spielten. Er analysiert damit sowohl die Formen des Intellektuellen-Engagements als auch die Bedeutung, die Medien und Meinungsfreiheit für die Intellektuellen in der frühen Bundesrepublik hatten. Dabei wird zunächst die Reaktion der Intellektuellen auf Einschränkungen der Pressefreiheit in der Ära Adenauer diskutiert. In einem zweiten Schritt erfolgt dann anhand der Spiegel-Affäre eine verdichtete Analyse der intellektuellen Intervention, um die Spezifika ihres Eingreifens zu untersuchen.

Die Intellektuellen und die Zensur in den 1950er Jahren In frühen Jahren der Bundesrepublik zeigten die Intellektuellen nur ein recht geringes Engagement für die Pressefreiheit, obwohl die gerade in dieser Zeit vielfach bedroht war. Trotz des Grundgesetz-Artikels 5, der die Meinungsfreiheit festschrieb und eine Zensur ausschloss, kam es unter Adenauers Regierung zu zahlreichen Versuchen, die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken. So wurde im März 1952 ein Entwurf des Bundesinnenministeriums für ein Bundespressegesetz bekannt, das formal auf eine Vereinheitlichung des Rechts zielte, tatsächlich aber mit seinen 64 Paragraphen vor allem Zeitungsverbote und die Einschränkung der Informationsfreiheit gegenüber »unzuverlässigen« Journalisten erleichtern sollte. Dies wurde mit dem Schutz der Demokratie begründet, da der demokratische Gedanke in Deutschland noch nicht gefestigt sei. Zu den Paragraphen, die eine Zensur rechtfertigten, zählte das Gebot, die »Wahrheit« zu schreiben, Rücksicht auf »sittliche und religiöse Gefühle« zu nehmen und die Wahrung des »Ansehens der Bundesrepublik« zu schützen. »Presseausschüsse« sollten dabei die Überwachung übernehmen.4 Tatsächlich scheiterte der Gesetzentwurf 1952 nicht am En-

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gagement von Intellektuellen, sondern an den massiven Protesten der Presse und der Journalisten- und Verlegerverbände. Der Spiegel sprach von einem »Maulkorb-Gesetz eines soliden Obrigkeitsstaates«, die Süddeutsche Zeitung nannte es ein »rechtes Polizeigesetz gegen die Presse«, und selbst ein konservatives Organ wie die Deutsche Zeitung beklagte das »Misstrauen gegen die Presse.«5 Die Medien besaßen selbst genügend kritisches Potential und Macht, um eine derartige Gefährdung der Grundrechte zu verhindern, so dass sie einer Schützenhilfe von Intellektuellen nicht bedurften. Ähnlich wie bei der zeitgleichen Verhinderung der Pläne für den Ausbau eines »Informationsministeriums« von Adenauers Staatssekretär Otto Lenz übernahm insbesondere der Spiegel eine Vorreiterrolle gegen die Einschränkung der Pressefreiheit. Bei der 1958 geplanten »Lex Soraya«, die den zivilrechtlichen Ehren- und Persönlichkeitsschutz stärken sollte und Haftstrafen für die Herabwürdigung ausländischer Staatsoberhäupter vorsah, zeichnete sich ähnliches ab. Neben der Presse war es zudem das Bundesverfassungsgericht, das seit 1957 auch der Meinungsfreiheit der Bundesregierung Grenzen setzte und eine öffentliche Kritik legitimierte.6 Ein gewisses Engagement von Intellektuellen lässt sich dagegen beim 1952 verabschiedeten »Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften« ausmachen, das im Jahr darauf in Kraft trat. Während die Christdemokraten und die Kirchen das Gesetz unterstützten, protestierten Sozialdemokraten, die Presse und die Verlegerverbände. Das PEN-Zentrum der Schriftsteller wandte sich schon bei der Einleitung des Gesetzes 1949 dagegen.7 Zudem unterzeichneten mehrere bekannte Schriftsteller bei dessen Verabschiedung eine Protestresolution, da das Gesetz die Freiheit der Literatur einschränkte. Andere schrieben in Artikeln gegen das Gesetz an, wie etwa Erich Kästner, der ebenso ironisch wie empört den Verweis auf die angebliche moralische Verwahrlosung der Jugend als Ablenkung von wirklichen materiellen Problemen der Jugend brandmarkte und das aus Weimar vertraute Gesetz mit dem Weg zur Bücherverbrennung verglich.8 Kästner zählte bekanntlich selbst zu den Autoren, deren Bücher Goebbels 1933 wegen »Dekadenz und sittlichen Verfall« den Flammen übergeben hatte. Immerhin wurde der Schriftsteller Anfang 1950 vor dem Ausschuss des Bundestags als Sachverständiger angehört.9

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Bezeichnend ist jedoch, dass sich die Schriftsteller ausgerechnet in einer Frage positionierten, die den Verkauf ihrer eigenen Bücher gefährdete, da eine Indizierung durch das Werbe- und Ausstellungsverbot fast einer Zensur gleichkam. Ihre Intervention forderte somit zwar grundsätzlich die Wahrung der Grundrechte, bezog sich aber prinzipiell auf ihr eigenes Betätigungsfeld. Zudem leiteten sie keine breite Empörung oder Protestbewegung ein. Vielmehr konnte die Regierungsmehrheit, trotz einzelner Gegenstimmen der FDP, das Gesetz umsetzen. Blickt man in einem zweiten Schritt von den Gesetzen und Gesetzesvorhaben auf die Ebene der Zensurpraxis in den fünfziger Jahren, so lassen sich regelmäßig vielfältige Formen der Zensur ausmachen, die man durchaus als Verfassungsbrüche bezeichnen kann und die Grenzen der Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik unterstreichen. Erstens herrschte seit 1949 quasi eine Vorzensur für alle Filme. Sie wurde über die staatlich anerkannte »Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft« (FSK) ausgeübt und erfolgte in den 1950er Jahren häufig durch direkte Eingriffe der Ministerien.10 In den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik verbot die FSK rund 150 Filme und ordnete in rund 900 Fällen Schnitte an (fünf Prozent Zensurquote).11 Zweitens bestand bei der Zeitschriftenpresse und Literatur eine Form der Nachzensur, die die »Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften« ausübte. Gestützt auf das Jugendschutzgesetz wurde sie auf Antrag des Bundesinnenministeriums und der Jugendministerien der Länder aktiv. Zwischen 1953 und 1963 kamen rund 600 Bücher und rund 1000 Zeitschriften, Comics, Groschenhefte und andere Medien auf ihren Index. Diese Zensur geschah überwiegend wegen der Darstellung von Nacktheit, aber auch dann, wenn wie in Ulrich Schamonis Roman Dein Sohn lässt grüßen eine »verzerrte« negative Darstellung der Gesellschaft und ihrer Eliten ausgemacht wurde, die Jugendliche für real halten könnten.12 Drittens kam es im öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen häufiger zu Sanktionen gegen kritische Berichte, die von der Absetzung der Moderatoren und Journalisten bis hin zur Nicht-Ausstrahlung der Sendung reichen konnten.13 Viertens kam es zu zensurartigen Eingriffen des Staates, indem er gezielt Fördermittel und Steuererleichterungen im Fall inopportuner Inhalte verweigerte. Auf diese

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Weise konnten selbst die Ministerien vorab Filminhalte verändern.14 Aber auch zahlreiche Theater, die etwa Stücke Bertolt Brechts aufführen wollten und deshalb Fördermittel gestrichen bekommen sollten, wurden so beeinflusst. Strukturell knüpfte dies an die Zensur der Weimarer Republik an, wobei in der frühen Bundesrepublik allerdings Eingriffe gegen die politische Tages- und Wochenpresse eine deutlich geringere Rolle spielten.15 Begründet wurde die Zensur weiterhin mit dem Schutz von Sitte und Moral, wobei trotz des Nationalsozialismus noch Begriffe aus Hygiene-Diskursen als Argumente dienten und von »Schmutz« und »Eiterbeulen« die Rede war. Hinzu kamen antikommunistische Argumentationsformeln, Verweise auf die Gefährdung der Wiederbewaffnung oder der Völkerverständigung. In vielen Fällen sollte die Zensur eine kritische Thematisierung des Nationalsozialismus verhindern. So wurden etwa Dokumentarfilme über Hitler oder Spielfilme über die Zusammenarbeit zwischen Schwerindustrie und Nationalsozialisten indiziert.16 Insofern gab es in der frühen Bundesrepublik für Intellektuelle durchaus ein reiches Feld, um kritisch gegen Zensur und für die Meinungsfreiheit einzutreten. Tatsächlich blieb ein mobilisierendes Engagement jedoch weitgehend aus. Am stärksten waren noch ihre Proteste gegen die Aufführungsverbote von Brechts Theaterstücken. Ein Grund für diese Zurückhaltung von (potentiellen) Intellektuellen dürfte sein, dass die Einschränkungen vor allem Filme betrafen, diese jedoch von allen Medien am geringsten ihr eigenes Betätigungsfeld waren. Kulturpessimistische Ressentiments gegen das Medium Film trugen wohl ebenso zur Zurückhaltung bei. Vergleichbare Eingriffe in Buchmanuskripte oder in die Tagespresse hätten sicherlich mehr Proteste ausgelöst. Gerade das Verbot oder der Schnitt von pazifistischen oder NS-kritischen Filmen hätte jedoch nahe liegende Ansatzpunkte geboten, um die politische Einschränkung der Medienfreiheit zu kritisieren. Stattdessen übernahmen erneut die Journalisten und allen voran Augsteins Spiegel die Aufgabe, diese Zensurpraktiken der Bundesregierung und der von ihr unterstützten Institutionen aufzudecken und dagegen zu mobilisieren. Von intellektueller Seite erfolgte eher eine pauschale Kritik am autoritären Gebaren oder dem katholischen Moralismus der 1950er Jahre.

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Dennoch gab es insbesondere ab 1956 einige Einzelaktionen von Intellektuellen. Als etwa die Bundesregierung in diesem Jahr über ihre Diplomaten einen der ersten Filme zum Holocaust, »Nacht und Nebel«, vom Filmfestival in Cannes verbannte, kritisierte Heinrich Böll dies auch im Namen anderer Intellektueller (wie Kogon, Richter, Andersch und Hildesheimer).17 Tatsächlich trugen die Interventionen dazu bei, dass der Film 1957 sogar ins deutsche Fernsehen kam. Insbesondere der »Grünwalder Kreis« von Hans Werner Richter, der sich gegen die Wiederbewaffnung formierte, zählte zu seinem Aufgabenkatalog, »sich überall und auf allen Gebieten für die Meinungsfreiheit einzusetzen«.18 Generell lässt sich festhalten, dass das Engagement von Intellektuellen gegen Wiederbewaffnung auch deren Engagement für die Meinungsfreiheit verstärkte. Das zeigte sich mit Blick auf den »Grünwalder Kreis« auch bei dessen Einsatz gegen einen Gesetzentwurf von 1956, der Äußerungen, die andere vom Wehrdienst abhalten könnten, mit Gefängnis bestrafen wollte.19 Bei dem medienpolitischen Engagement der Intellektuellen fällt jedoch auf, dass sie sich zugleich für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit engagierten, wenn ehemalige Nationalsozialisten oder die nationalistische Rechte sie in Anspruch nahmen. So richteten sich die Proteste von Künstlern und Schriftstellern etwa gegen die Filme des früheren NS-Propaganda-Regisseurs Veit Harlan, die dieser in den 1950er Jahren drehte. Erneut war es Erich Kästner, der sich 1952 mit Studenten in einem offenen Brief solidarisierte, die gegen die Aufführung von Harlans erstem Nachkriegsfilm protestierten.20 1957 unterschrieben 60 Künstler und Wissenschaftler einen Protest gegen die Aufführung des Harlan-Films »Anders als Du und ich«, der einen modernen Künstler als Homosexuellen darstellte und zugleich dessen Kunst als dekadent präsentierte.21 Obgleich die Abneigung gegen Harlan moralisch nachvollziehbar ist, war dies letztlich ein – nicht unproblematischer – Aufruf für eine Begrenzung der Meinungsfreiheit. Auch der »Grünwalder Kreis«, der rasch als »demokratische Feuerwehr« galt, ging ähnlich vor, als seine Mitglieder Strafanzeige gegen den Druffel-Verlag, der Bücher von früheren NS-Eliten druckte, erstatteten. Der Kreis prozessierte außerdem gegen Diffamierungen seitens der Deutschen Soldaten-Zeitung

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und forderte Strafandrohungen für die Verherrlichung des NSRegimes.

Intellektuelle Mobilisierungen für die Pressefreiheit um 1960 In den Jahren um 1960 wurden die Intellektuellen in vielen Bereichen aktiv. Dies zeigte sich auch bei ihrem Engagement für die Pressefreiheit. Der neue Aktivismus korrespondierte nicht nur mit dem generellen kulturellen und generationellen Umbruch, der sich vielfach seit Ende der 1950er Jahre abzeichnete und auch die Medien kritischer werden ließ.22 Dass sich insbesondere die Schriftsteller zu wirkungsmächtigen Sprechern aufschwingen konnten, lässt sich ebenso aus der literaturgeschichtlichen Entwicklung erklären. Bekanntlich erreichte die deutsche Literatur erst ab 1959 wieder internationale Bedeutung. Das Erscheinen von Günter Grass’ Blechtrommel, Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers und Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob gelten als Meilensteine, die das symbolische Kapital und die Autorität der deutschen Schriftsteller erhöhten.23 Die zeitgleiche Neuorientierung der SPD förderte die Geburt des bundesdeutschen Intellektuellen zusätzlich. Gerade nachdem die SPD eine stärker kompromissorientierte pragmatische Linie eingeleitet hatte, öffneten sich neue Räume und Notwendigkeiten für dessen Proteste. Das neue Engagement von Intellektuellen resultierte auch aus Einschüchterungsversuchen, die nun besonders unzeitgemäß wirkten. So erschien um 1960 das Handbuch Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik mit 452 Namen von Schriftsteller, Künstlern oder Professoren, wie Erich Kästner, Otto Dix oder Max Born.24 Gleichzeitig gewann der »Schmutz- und Schund«-Vorwurf neue Nahrung, als ein Beamter des Hessischen Ministeriums für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen, wohl ohne Wissen des Ministers, im September 1961 bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien beantragte, Günter Grass’ Novelle Katz und Maus wegen unsittlichen Inhalts zu indizieren. Bei der Prüfung stellten jedoch Gutachter wie Fritz Martini, Walter Jens, Kasimir Edschmid und

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Hans Magnus Enzensberger nachdrücklich fest, dass es sich bei Grass’ Texten um Kunst handele und sie deshalb nicht zensiert werden dürften.25 Insbesondere Enzensberger attackierte darüber hinaus den Antragssteller. Dieser vehemente Protest der Schriftsteller und der breiteren Medienöffentlichkeit gegen den Versuch, Grass’ Text zu indizieren, führte zum Rückzug des Antrages und verdeutlichte die neue Macht der Schriftsteller gegenüber einem latent fortbestehenden autoritären Moralismus. Gerade Grass’ internationale Reputation machte den Fall zu einem ersten Schlüsselereignis, bei dem Intellektuelle die Meinungsfreiheit verteidigten, auch wenn es hier erneut vornehmlich um ihr eigenes Arbeitsfeld ging. Dennoch zeigte etwa ihr Protest gegen Adenauers Versuch, ein regierungsnahes kommerzielles Fernsehen einzuführen, dass die Gruppe 47 und ihr Umfeld nun durchaus auch gegen Gesetzesvorhaben einschritten, die sie nicht direkt betrafen.26

Die Schriftsteller und die Spiegel-Affäre Das Ereignis, bei dem die bundesdeutschen Intellektuellen sich als solche durch ihren Einsatz für die Pressefreiheit etablierten, war zweifelsohne die Spiegel-Affäre.27 Die Intellektuellen, die hier hervortraten, kann man nach ihrer Profession grob in drei Gruppen unterteilen: in Schriftsteller, Professoren und Journalisten. Die Reaktionen der Schriftsteller auf die Verhaftungen der SpiegelRedakteure und die Durchsuchungen waren gerade in der Anfangsphase zentral. Dabei fallen vor allem drei Momente auf. Bemerkenswert ist erstens die Schnelligkeit ihres Eingreifens. Sofort nach Bekanntwerden der Polizeiaktion telegraphierten acht besonders prominente Mitglieder der Gruppe 47 von ihrer Jubiläumstagung in Berlin an Augstein: »Wir sind solidarisch mit Ihnen und überlegen, wie wir Ihnen helfen können.«28 Eine Resolution der Gruppe 47 erfolgte sogleich, noch vor allen anderen gesellschaftlichen Gruppen. Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass für die Festigung der intellektuellen Deutungsmacht weniger ihre Solidarität mit dem Spiegel entscheidend war als der frühe Zeitpunkt, durch den sie eine Definitionsmacht beanspruchten, obgleich sie die genaue Lage noch nicht kannten. Dabei lässt sich

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argumentieren, dass das schnelle und damit besonders prominente Eingreifen der Gruppe 47 und damit ihre Profilierung als Intellektuelle auf einem historischen Zufall beruhte: Hätte nicht zeitgleich in Berlin ein Treffen der Gruppe 47 stattgefunden, hätten sich die ansonsten nur lose verbundenen Schriftsteller kaum derartig schnell und pointiert auf eine Intervention verständigt. Verstärkt wurde die situative Empörung nicht zuletzt dadurch, dass Augstein sein Erscheinen bei diesem Treffen zugesagt hatte und nun aufgrund seiner Verhaftung fehlte, was zu einer Entgegnung geradezu verpflichtete.29 Zweitens fällt die kollektive Form der Kritik auf. Während Intellektuelle oft als autonome Individuen gefasst werden – mit dem Urbild von Zolas »J ’ accuse« vor Augen –, fehlte hier ein herausragender Wortführer, der dem Skandal eine Duellstruktur gab. Die Schriftsteller agierten aus unterschiedlichen Institutionen heraus, auch wenn sie durch ihre Unterschriften namentlich erschienen. Sie traten dabei in drei unterschiedlichen Gruppen kollektiv auf: der Gruppe 47 mit ergänzenden Unterschriften von einzelnen Künstlern, dem PEN-Zentrum und dem »Kongress für Freiheit der Kultur«. Natürlich gab es auch Einzelstimmen von Intellektuellen in den Medien. So warnte etwa erneut Erich Kästner sogleich in einem Interview vor der Einschränkung der Pressefreiheit. Aber insgesamt gab erst die Gruppe den Schriftstellern Stärke und Schutz, da sie einen breiten Konsens suggerierte. Diese Form des Gruppenprotestes knüpfte an ein französisches Vorbild von 1960 an: das »Manifest der 121« gegen den Algerienkrieg.30 Die Verfolgung der französischen Unterzeichner hatte die deutschen Schriftsteller zu einer grundsätzlichen Solidaritätserklärung angeregt, in der sie ihren uneingeschränkten Einsatz für die Meinungsfreiheit ankündigten, falls diese auf ähnliche Weise bedroht würde. Kurz vor der Spiegel-Affäre kündigten sie darin an: »Wir halten es für unsere Pflicht, mit derselben Rückhaltlosigkeit wie unsere französischen Kollegen politisch Stellung zu nehmen, wann immer es nötig scheint. Wir werden kein Gesetz anerkennen, das uns dieses Recht abspricht.«31 Drittens waren es die Inhalte und die Form ihrer kritischen Einmischung, die insbesondere die Stellungnahme der Gruppe 47 ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sicherten. Während die ande-

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ren frühen Stellungnahmen eher abwägend Bedenken äußerten, wählte sie eine knappe, zugespitzte Formulierung, die selbst wiederum als Tabubruch verhandelt wurde. Sie nannte die Aktion gegen den Spiegel einen »Akt staatlicher Willkür« und forderte Strauß auf, »jetzt endlich zurückzutreten«. Vor allem aber rechtfertigte sie den Geheimnisverrat als eine Pflicht: »In einer Zeit, die den Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar gemacht hat, halten sie [die Unterzeichner, FB] die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht, die sie jederzeit erfüllen würden.«32 Damit formulierten die Schriftsteller eine radikal-pazifistische Begründung, die von allen anderen Protesten abwich und polarisierte. Sie unterschied sich auch von den eher konsensorientierten Erklärungen des PEN-Zentrums, die zwar ebenfalls die Einschränkung der Pressefreiheit scharf verurteilten, aber stärker mit Begriffen wie »Besorgnis«, »Kompetenzüberschreitung« und »Rechenschaft« operierten. Die Provokation der Gruppe 47 war dagegen riskant, da sie zur Friedens- und Demokratiesicherung ein grundsätzliches Umdenken forderte. Tatsächlich führte sie zu einer vielfältigen Schelte in der Öffentlichkeit, in der sie als »Narren« und »Nihilisten« verspottet wurden, oder eben sogar als Reichsschrifttumskammer, wie der geschäftsführende CDU-Vorsitzende Josef Hermann Dufhues formulierte.33 Immerhin sieben Strafanzeigen gingen gegen die Resolution ein, die schließlich jedoch versandeten.34 Die Schriftsteller lockten durch ihre Formulierung Ressentiments hervor, die das problematische Verhältnis der Konservativen zur Pressefreiheit bloßstellten. Zu dieser riskanten Form des Protestes dürfte die Gruppe ebenfalls durch das französische »Manifest der 121« angeregt worden sein, dessen Unterzeichner mit ihrem Aufruf zur Desertion zum Teil harte Konsequenzen einstecken mussten.35 Die Schriftsteller traten damit für eine radikalliberale Form der Pressefreiheit ein. Ihr etwas später ergänzter Zusatz zu der Resolution, der Parallelen zu dem Prozess gegen Carl von Ossietzky hervorhob, rückte das Vorgehen zugleich eindringlich in den Kontext des Scheiterns von Weimar.36 Auch wenn die Resolutionen der Schriftsteller in ihrer Schärfe variierten, war zumindest die Einhelligkeit ihrer Kritik über politische Grenzen hinweg bemerkenswert. Selbst

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eher konservative Spiegel-Gegner, wie Hans Habe, schlossen sich ihr an.37 Über die Resolutionen hinaus wählten die Schriftsteller auch andere Formate, um ihre Kritik zu formulieren. So verwandten sie literarisch-künstlerische Formen, die sich vor allem der Ironie und Parodie bedienten.38 Diese Reaktionsweise lässt sich unterschiedlich deuten: als eine stilistische Abgrenzung vom Gros der Kritik; als Form der zynischen Resignation; oder als Zeichen, dass die Lage doch nicht zu ernst war, da bei einer tatsächlichen »Machtergreifung« kaum Ironie angebracht gewesen wäre. Auffällig ist zudem, dass sich zahlreiche Schriftsteller durch Leserbriefe positionierten, die einmütig das Verhalten der Regierung kritisierten. Diese solidarischen Noten erschienen vornehmlich im Spiegel selbst. Dementsprechend lässt sich argumentieren, dass die SpiegelAffäre unter den Schriftstellern eine Art Sog erzeugte, sich durch ein öffentliches Bekenntnis der Staatskritik anzuschließen und durch Abdruck in den Spiegel-Leserbriefspalten in den Kreis der Intellektuellen aufgenommen zu werden. Wer schwieg, riskierte, nicht dazu zu gehören. Die häufige Verwendung des Leserbriefformates zeigte aber auch, dass der Status der Schriftsteller noch so wenig gefestigt war, dass ihre Texte in den Zeitungen eher als solidarische Noten und weniger als Impulse galten, die man prominent im Feuilleton platzierte. Versucht man die Wirkung der Schriftsteller zu bewerten, die sich hier als Intellektuelle profilierten, so fällt das Urteil zwiespältig aus. Die Gruppe 47 gab der Debatte durch ihre rasante und scharfe Reaktion sicherlich eine polarisierende Dynamik.39 Allerdings lenkte ihre grundsätzliche Legitimation des Geheimnisverrates von den aktuellen Vorgängen ab und brach den an sich recht breiten Konsens über die Bedrohung der Pressefreiheit. Auch innerhalb der Intellektuellen verstärkte die zugespitzte Formulierung Unstimmigkeiten und eine unsichere Rechtfertigung in der Öffentlichkeit. Bei der Kerngruppe der Initiatoren führte die Resolution dazu, dass sich die Intellektuellen ihrer Rolle und Macht bewusst wurden. Zugleich zeigten die internen Briefwechsel ihre Spaltung über die Art des politischen Auftretens. Manche zweifelten, ob auf diese Weise die Demokratie gestärkt würde. Das galt besonders für pro-

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minente Schriftsteller wie Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass. Letzterer lehnte eine zugespitzte Positionierung mit der Begründung ab, es gebe »zwei Totengräber der Demokratie, die Rechtskreise und die Linksintellektuellen«.40 Der Begriff des »Linksintellektuellen« war damit auch bei jenen ein Schimpfwort, die öffentlich so bezeichnet wurden. Diese Beobachtung relativiert die Annahme eines überzeugten geschlossenen Eingreifens der Intellektuellen. Es kam vielmehr zu einer Selbstreflexion über ihr Handeln und einer inneren Differenzierung aufgrund unterschiedlicher Maximen.

Professoren als Intellektuelle? Besonders bemerkenswert war das politische Engagement, das die Professoren in der Spiegel-Affäre zeigten. Bekanntlich hatten sich Hochschullehrer in der frühen Bundesrepublik kaum öffentlich in politische Debatten eingemischt. Die berühmte Erklärung der Göttinger Atomwissenschaftler wird man nur bedingt als Handlung von Intellektuellen fassen können. Denn einerseits galt ihr Eingreifen einem Bereich, in dem sie eher als Experten sprachen. Andererseits ging es ihnen letztlich weniger um eine kritische Korrektur zugunsten des Allgemeinwohls als um die Sicherung ihres eigenen Arbeitsbereiches, der zivilen Atomforschung. Gleiches galt in gewisser Weise auch für das Engagement der Göttinger Professoren gegen den rechtsstehenden niedersächsischen Kultusminister Leonhard Schlüter 1955.41 Neuartig an der Spiegel-Affäre war zunächst das Ausmaß der professoralen Intervention. Mehrere hundert Professoren unterschrieben die zahlreichen Resolutionen, die von den einzelnen Hochschulen ausgingen. Darunter waren auch die Zeithistoriker Hans Rothfels und Waldemar Besson, vor allem aber Politikwissenschaftler, die sogar mit einer eigenen Resolution auftraten.42 Über die Resolutionen und Leserbriefe hinaus engagierten sich einige Professoren auch über Vorträge und Podiumsdiskussionen, die großen Zulauf hatten. Insbesondere die gleich nach den Verhaftungen einberufene Hamburger Podiumsdiskussion unter der Leitung Eugen Kogons, damals Professor in Darmstadt, bildeten den Auftakt für eine kritische Positionierung,

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die wiederum in der Presse und im Fernsehmagazin Panorama verbreitet wurde.43 Theodor Eschenburg folgte wenig später mit einem Vortrag, der vor einer Aushöhlung der Verfassung unter dem Vorwand des Staatsschutzes warnte.44 Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang auch, dass durchaus konservativ orientierte Hochschullehrer sich an den Interventionen beteiligten. Insgesamt lässt sich bilanzieren, dass die Spiegel-Affäre bei den Professoren ebenfalls eine Dynamik entfaltete, die zu einer politischen Positionierung zwang und viele Räume bot, sich als Intellektueller zu profilieren. Die Professoren sprachen dabei nicht als Experten, etwa in rechtlichen Fragen, sondern nahmen explizit die Rolle des Wächters ein. Was war charakteristisch bei ihrem Eingreifen? Auffällig ist zunächst der relativ späte Zeitpunkt ihres Handelns. Lediglich eine Erklärung von Kölner Professoren erfolgte unmittelbar nach den Verhaftungen, fand aber kaum Beachtung, vermutlich weil sich unter den vorwiegend naturwissenschaftlichen Unterzeichnern niemand von bundesweiter Prominenz befand.45 Da Professoren nicht ähnlich autonom wie die Schriftsteller waren, warteten sie prüfend ab. Dass ausgerechnet Kogon einen Vorstoß machte, lag nicht zuletzt an seiner Dreifachrolle als NS-Opfer, Publizist und Professor, die ihm eine andere Deutungskompetenz gab. Analysiert man vergleichend die Inhalte der zahlreichen Resolutionen, so fallen insgesamt die zurückhaltenden, vergleichsweise abwägenden Formulierungen auf. Das gilt insbesondere für die Erklärung der 54 Professoren der Universität Tübingen, die als erste die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf die Professorenproteste richtete. Wie andere Resolutionen argumentierte sie weniger mit der Gefährdung der Pressefreiheit durch den Deckmantel des Landesverrates als mit dem Verlust an Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Ansehen, der dem Staat durch das Verhalten der Politiker drohe. Indem sie auf den grundsätzlichen Legitimitätsverlust der Demokratie verwiesen, vermieden sie eine direkte Auseinandersetzung mit den juristischen Vorwürfen gegen den Spiegel.46 Andere Erklärungen waren deutlicher, aber dennoch wesentlich vorsichtiger formuliert als viele Presseberichte. Die Göttinger Professoren benutzten einen Fragekatalog, um die Verfassungsverstöße anzuklagen. »Weshalb wurde die Nummer 44

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des Spiegels in eindeutiger Verletzung des Artikels 5 des Grundgesetzes einer Vorzensur unterworfen?«, hieß es hier etwa.47 Andere forderten konstruktive Reformen, wie die Heidelberger Professoren, die ein neues Pressegesetz und eine Neufassung des Landesverratsparagraphen verlangten.48 Alle diese Formulierungen verrieten aber deutlich, dass zumindest ein Teil der Professorenschaft das Handeln des Staates als inakzeptabel auffasste. Neben den Gruppenresolutionen traten verschiedene Professoren einzeln als Leserbriefschreiber in Erscheinung, insbesondere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort sah der remigrierte Verfassungsrechtler und Emeritus Karl Loewenstein am 6. November die Ausschaltung des Spiegels als einen »Todesstoß« für die Pressefreiheit und Demokratie an, da dieser neben dem Bundesverfassungsgericht bisher die einzige Kontrollinstanz gewesen sei.49 Allerdings fanden sich unter den professoralen Leserbriefschreibern auch rechtsintellektuelle Verteidiger der Regierung. Gerade weil sich die Mehrheit der Medien auf die Seite des Spiegels stellte, wird man auch die Intervention von rechts als kritisches Eingreifen fassen müssen. Als Intellektuelle kann man dabei allerdings kaum jene Professoren bezeichnen, die aus ihrer engen Verbindung zur Politik heraus Strauß verteidigten, wie insbesondere der Würzburger Jurist August von der Heydte, obwohl dessen Vergleich zwischen dem Spiegel und der Gestapo eine denkbar scharfe Zuspitzung war.50 Die Rolle eines Rechtsintellektuellen nahm vor allem der Freiburger Historiker Gerhard Ritter ein, der in einem langen FAZ-Leserbrief so deutlich wie kaum jemand sonst das Eingreifen der Adenauer-Regierung rechtfertigte.51 Obgleich er ebenfalls die Verteidigung der Demokratie zur Maxime erhob, argumentierte er mit einem Vokabular, wie es bei der politischen Rechten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich gewesen war: Dem Spiegel warf er »Sensationshunger« und Geschäftemacherei vor, den Journalisten »höchste Verschlagenheit«. Angesichts der »innerpolitischen Führerlosigkeit« sah er die Autorität des Staates durch die Emotionen gefährdet, die die Presse mit ihrer »Hetze« auslöse. Es sei daher im Sinne der einfachen Staatsbürger, die Demokratie vor dem »Terror der Nachrichtenmagazine« zu schützen, gerade angesichts des Kalten Krieges sei das Eingreifen nötig gewesen. Ritter

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machte explizit deutlich, dass er für eine begrenzte Pressefreiheit eintrat. In einem weiteren Leserbrief Ritters hieß es: »Freiheit der Presse hat nur da und nur soweit einen Sinn, als es noch verantwortungsbewusste Redakteure gibt.«52 Eine derartige Verteidigung des starken Staates durch einen Professor förderte in gewisser Weise die Profilierung anderer Professoren als kritische Intellektuelle. Denn gut zwei Wochen nach Ausbruch der Affäre fehlten langsam die ernsthaften Gegner, um sich zu reiben und grundsätzliche Positionen zu klären. Insbesondere Karl-Dietrich Bracher profilierte sich dabei in einem öffentlichen Konflikt mit Ritter als Intellektueller. Der vierzigjährige Bracher, der seit drei Jahren den Bonner Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne hatte und durch sein Buch zur Auflösung der Weimarer Republik bereits eine größere Reputation hatte, antwortete auf Ritter ebenfalls mit einem ausführlichen FAZ-Leserbrief. Bracher unterstrich insbesondere, dass der routinierte Verweis auf die außenpolitische Bedrohung keine Rechtsbrüche legitimiere und Ritters Staatsideologie dem traditionellen Obrigkeitsstaat entspreche.53 Trotz der Altersunterschiede erklärt die generationelle Prägung diese Frontstellung nur teilweise. Zumindest stammte Bracher nicht aus der oft thematisierten Kohorte der »1945er«, also den um 1930 Geborenen, was für andere kritische Professoren in der Spiegel-Affäre noch weniger galt.54 Auch die biographische Erfahrung im Nationalsozialismus war nicht unbedingt entscheidend. So grenzte sich selbst der NS-belastete Marburger Emeritus Wilhelm Mommsen von Ritters Positionen in einem FAZ-Brief ab, der Lehren aus dem Nationalsozialismus einforderte; denn dessen Worte zeigten »eine sehr deutliche Abneigung gegen Pressefreiheit, eine Abneigung, die autoritärem und nicht demokratischem Denken entspricht«.55 Öffentliche Unterstützung erhielt Gerhard Ritter dagegen von Ludwig Dehio, der als »Vierteljude« im Nationalsozialismus ausgegrenzt worden war und nun mit Verweis auf die kommunistische Bedrohung das Vorgehen gegen den Spiegel rechtfertigte.56 Am Beispiel der Historiker zeigt sich somit, dass die SpiegelAffäre prominenten Professoren eine öffentliche politische Stellungnahme abverlangte. Auch wenn die traditionelle Fixierung auf

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den Staat, Kommunismusangst und eine klassische Pressekritik die Argumente durchzogen, so kündigte sich gerade in dem bislang konservativ dominierten Fach ein gewisser Einsatz für das demokratische Grundrecht der Pressefreiheit an. Die Professoren brachten weder neue noch besonders pointierte Argumente in die Debatte. Entscheidender war, dass sie untereinander öffentlich ihre Vorstellungen über demokratische Grundrechte austauschten. Wie bei den Schriftstellern fällt dabei auf, dass die Zeitungen den Professoren kein eigenes Debattenforum gewährten oder organisierten, sondern lediglich die Leserbriefspalten öffneten. Dies zeigt erneut die damaligen Grenzen der medial organisierten Debattenkultur. Die Wirkung der Proteste ist schwer präzise abzuschätzen. Insgesamt scheint sie aber größer als bei den Schriftstellern gewesen zu sein. Die hohe Reputation von Professoren in Deutschland, die auch ins konservative Lager reichte, war ein Grund dafür. Mit insgesamt rund 600 Unterschriften von Hochschullehrern war zudem eine kritische Masse erreicht, die kaum zu übergehen war, zumal sich prominente Köpfe hierunter befanden. Ebenso scheint die Wirkung auf die Studenten unübersehbar, da das Handeln der Professoren auch studentische Proteste legitimierte.

Journalisten als treibende Kraft Trotz des Engagements, das insbesondere Schriftsteller und Professoren zugunsten der Pressefreiheit aufbrachten, lässt sich deren Bedeutung zugleich relativieren. Die treibende Kraft für die Demokratisierung der Bundesrepublik waren sie auch bei der SpiegelAffäre nur bedingt. Die maßgeblichen Argumente brachten unmittelbar nach den Verhaftungen vielmehr die Journalisten auf. Selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung benannte bereits zwei Tage danach Punkte, die nicht weniger kritisch waren als die recht ähnlichen Argumente der Professoren zwei Wochen später.57 Mit Ausnahme der Gruppe 47 war bei den Intellektuellen dagegen eher entscheidend, wer sprach, als was formuliert wurde. Zu überlegen wäre, inwieweit man auch innerhalb der Profession der Journalisten von Intellektuellen sprechen sollte. Bei der

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Spiegel-Affäre deutete sich an, dass zumindest einzelne Publizisten zu Deutungsinstanzen avancierten. Anhand der Spiegel-Affäre, die auch für nachfolgende Generationen von Journalisten ganz wesentlich das Berufs-Ethos prägte, ließe sich dies herausarbeiten. Zum Teil lässt sich diese Berufsgruppe nicht von den anderen Intellektuellengruppen trennen. Rudolf Walter Leonhard etwa, der maßgeblich die pointierte Resolution der Gruppe 47 zu verantworten hatte, war Feuilletonchef der Zeit, Publizist und hatte in Cambridge gelehrt; auch Eschenburg agierte in einer Doppelrolle als Professor und regelmäßiger Autor der Zeit. Eine Schlüsselfigur, an der sich die Formierung journalistischer Intellektueller innerhalb der Spiegel-Affäre ausmachen lässt, war der Publizist Sebastian Haffner. Er war bis dahin politisch eher dem bürgerlichen Lager zuzuordnen und hatte sich durch Fernseh- und Pressekommentare einen Namen gemacht. Bereits in der ersten Panorama-Sendung zu der Affäre trat er mit einer scharfen Polemik gegen die Vorgänge auf.58 Es folgte ein langer Kommentar in der Süddeutschen Zeitung, der in seiner überspitzten Formulierung ebenfalls gezielt mobilisieren sollte. Haffner sprach von einem vom »Vernichtungswillen getragenen, kriegsähnlichen Überfall der Staatsgewalt auf eine Gruppe missliebiger Staatsbürger, wie sie dem Deutschen aus der nationalsozialistischen Zeit geläufig ist«.59 Haffner wirkte überzeugend, weil er keinem Lager zuzuordnen war und aus seiner biographischen Erfahrung seine Anklage glaubhaft erschien, dass sich Derartiges in einer Demokratie wie in England niemals hätte ereignen können. Die Spiegel-Affäre war für Haffner – wie für viele Intellektuelle – ein politisches Erweckungserlebnis, das ihn nach links rücken ließ. Im Gegensatz zu Bourdieus Verständnis des Intellektuellen, der Journalisten explizit als Handlanger der Macht ausgrenzt, lässt sich hier zeigen, dass gerade Journalisten die Aufgabe des kritischen Wächters übernahmen – auch wenn sie damit für ihre eigenen Arbeitsbedingungen kämpften.

Fazit und Ausblick Der Blick auf die Zensurpraxis der fünfziger Jahre verdeutlichte, dass in dieser Zeit ein reiches Betätigungsfeld für Interventionen

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von Intellektuellen bestand, diese jedoch eine große Zurückhaltung zeigten. In gewisser Weise übernahm daher die Presse – insbesondere der Spiegel – ihre Wächterrolle. Um 1960 änderte sich dies. Die Spiegel-Affäre bildete dabei insbesondere für Professoren und Schriftsteller ein Experimentierfeld, um Formen des politischen Protestes einzuüben. Vielleicht mit Ausnahme einiger Mitglieder der Gruppe 47 ging es dabei weniger um originelle Argumente als um eine stellvertretende Positionierung. Darüber hinaus war das Engagement ein wichtiger Schritt, um innerhalb der eigenen Profession das Verhältnis zu Pressefreiheit und Demokratie zu klären. Nach der Spiegel-Affäre rückte der »Kampf für die Pressefreiheit« stärker in den Vordergrund des intellektuellen Engagements. Das galt für die Auseinandersetzung mit den Notstandsgesetzen, aber noch stärker für die Springer-Kritik, die mit einem Kampf gegen Meinungsmonopole verallgemeinert wurde.60 Erinnert sei an den öffentlichen Brief von 1967, in dem die Schriftsteller der Gruppe 47 ihren Boykott der Springer-Presse bekannt gaben und alle Kollegen und Wissenschaftler dazu aufriefen, sich anzuschließen.61 Der Tod von Benno Ohnesorg radikalisierte auch bei den Schriftstellern die Auseinandersetzung, wobei sie Springer nun »faschistische Methoden« vorwarfen.62 Die Auseinandersetzung um die Pressekonzentration war jedoch eine Debatte, die längst maßgeblich von anderen Akteuren vorangetrieben wurde. Während die Experten in den Michel- und Günther-Kommissionen seit längerem um eine demokratische Medienstruktur rangen, prägten öffentlich die studentischen Aktionen gegen Springer den Protest. Gerade angesichts der Radikalität der studentischen Pressekritik wirkte die der Schriftsteller eher wie eine harmlose Ergänzung, auch wenn ihre medienkritischen Essays, Gedichte und Dramen die 68er-Generation weiterhin begleiteten und neue Debatten anstießen. Die Zeit jedoch, in der die Intellektuellen als Kämpfer für die Pressefreiheit in der ersten Reihe standen, waren die Jahre um 1960, die wiederum auch das Selbstverständnis der Intellektuellen maßgeblich prägten.

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Anmerkungen 1 Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt / M. 1987, S. 25–54. 2 Als Intellektuelle werden hier Personen gefasst, denen ein großer Intellekt, eine darauf beruhende Reputation und eine gewisse Autonomie zugeschrieben wird, wodurch sie kritisch und wirkungsmächtig in öffentliche Debatten eingreifen können. Zur Begriffsgeschichte und insbesondere zur pejorativen Verwendung in Deutschland: Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Frankfurt / M. 1982. Vgl. zur symbolischen Macht und Abgrenzung vom Experten: Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, Frankfurt / M. 1991. 3 Franz L. Neumann, Intellektuelle und politische Freiheit, in: Theodor Adorno / Walter Dirks (Hg.), Soziologica I., Aufsätze, Frankfurt / M. 1955, S. 157–170. Lepsius spricht von einer »Störung des normalen Ablaufs«, vgl. Rainer Maria Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie des Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285, hier S. 277. 4 Zitate nach: Norbert Frei, »Was ist Wahrheit?« Der Versuch einer Bundespressegesetzgebung 1951 / 52, in: Hans Wagner (Hg.), Idee und Wirklichkeit des Journalismus, München 1988, S. 75–91. 5 Zitiert im Spiegel vom 26. 3. 1952, S. 6; sowie nach: Stephan Buchloh, »Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich«. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, Frankfurt / M. 2002, S. 72 f. 6 So untersagte es 1957 ein Bundespressegesetz, da es Länderkompetenzen beschneide, und stärkte ein Jahr später im sogenannten »Lüth-Urteil« die Meinungsfreiheit, die es hier als »Grundlage jeder Freiheit überhaupt« bezeichnete. Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil in (rechts-)historischer Sicht. Die Grundlegung der Grundrechtsjudikatur in den 1950er Jahren, Frankfurt / M. 2004. 7 Erklärung 18. 11. 1949, abgedruckt in: Klaus Wagenbach u. a. (Hg.), Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin 1979, S. 90. 8 Erich Kästner, Der trojanische Wallach, in: Wagenbach (Hg.), Vaterland, S. 90–92. Hans Henny Jahn, Wolfgang Weyrauch, Hans Erich Nossack gehörten zu den Unterzeichnern. 9 Die Bundestagsanhörung erwähnt: Hans Schütz, Verbotene Bücher. Eine Geschichte der Zensur von Homer bis Henry Miller, München 1990, S. 185. 10 Gerrit Binz, Filmzensur in der deutschen Demokratie. Sachlicher Wandel durch institutionelle Verlagerung von der staatlichen Weimarer Filmprüfung auf die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft in der Bundesrepublik?, Trier 2006. 11 Buchloh, »Pervers«, S. 210. Die Schätzungen von Buchloh sind kaum quellenfundiert und mitunter sehr zugespitzt. Genaueren Aufschluss auf Basis von FSK-Akten verspricht die jüngst abgeschlossene Dissertation von:

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Jürgen Kniep: Filmbewertung und Filmzensur. Studien zum Umgang mit dem Kinofilm in der Bundesrepublik, 1949–1990, Ms. Diss. Freiburg 2008. Ebd., S. 132–136. Beispiele etwa in den Beiträgen von: Peter v. Rüden / Hans U. Wagner (Hg.), Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg 2005 (etwa S. 119 f. und 330). Vgl. etwa: Philipp von Hugo, Beobachten, bürgen und zensieren – Filmpolitik mit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, in: Moshe Zuckermann (Hg.), Medien – Politik – Geschichte, Göttingen 2003, S. 62–91. Zu den Zeitungsverboten in Weimar vgl. Klaus Petersen, Zensur in der Weimarer Republik, München 1995. Vgl. hierzu als Fallstudie: Ulrich Enders, Der Hitler-Film »Bis fünf nach zwölf«. Vergangenheitsbewältigung oder Westintegration? in: Friedrich P. Kahlenberg (Hg.), Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte, Boppard 1989, S. 916– 936; Buchloh, »Pervers«, S. 335; Kabinettsprotokolle vom 17. 11. 1953, Punkt C., in: http://www.bundesarchiv.de/kabinettsprotokolle/web/index. jsp. Zur Organisation des Protestes durch die Gruppe 47 vgl. Schallück an Richter 17. 4. 1956, in: Hans-Werner Richter, Briefe, hg. von Sabine Cofalla, München 1997, S. 226 f. Vgl. auch: Ewout van der Knapp, Enlightening Procedures: Nacht und Nebel in Germany, in: ders. (Hg.), Uncovering the Holocaust. The International Reception of Night and Fog, London 2006, S. 46–85, hier S. 49 f. Vgl. Erich Embacher, Hans-Werner Richter. Zum literarischen Werk und zum politisch-publizistischen Wirken eines engagierten Schriftstellers, Frankfurt / M. 1985, S. 357. Ebd., S. 362. Erich Kästner, Offener Brief an Freiburger Studenten, abgedruckt in: Wagenbach (Hg.), Vaterland, S. 110 f. Buchloh, »Pervers«, S. 203. Zur kritischen Wende der Medien im Zuge des Generationswechsel von 1958 vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006, S. 245–292. Wilfried Barner, Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 379–412. Arbeitsgruppe »Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik« im Komitee »Rettet die Freiheit.« (Hg.), Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik, München o. D. (1960). Zur öffentlichen Debatte um Grass vgl.: Andreas Paschedag / Petra Koslowski / Torsten Steinberg, Danziger Triologie, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik, Göttingen 1997, S. 11–44, hier S. 30 f.

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26 Abgedruckt in: Reinhard Lettau, Die Gruppe 47 – ein Handbuch, Neuwied 1967, S. 453; vgl. auch: Rita Leinecke, Die Gruppe 47 und die Öffentlichkeit, in: Peter Gondolla / dies., Die Gruppe 47 und die Medien, Siegen 1997, S. 64–86, S. 80. 27 Da ihr Ablauf bestens bekannt ist, braucht er nicht erneut dargestellt werden. Obgleich zahlreiche Monographien zu ihr vorliegen, steht eine archivgestützte Studie immer noch aus. Vgl. zum Ablauf besonders: Jürgen Seifert (Hg.), Die Spiegel-Affäre, 2 Bde., Olten 1966; David Schoenbaum, Die Affäre um den Spiegel – Ein Abgrund von Landesverrat, Wien 1968; Frank Bösch, Die Spiegel-Affäre, in: Haus der Geschichte (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007, S. 58–67. 28 Unterzeichnet von Andersch, Bachmann, Enzensberger, Grass, Jens, Johnson, Richter und Unseld; abgedruckt in: Der Spiegel 45 / 1962, S. 5. 29 Vgl. Selbstdarstellungen wie: Hans Werner Richter, Wie entstand und was war die Gruppe 47?, in: Hans A. Neunzig (Hg.), Hans Werner Richter und die Gruppe 47, München 1979, S. 41–176. 30 Die »Déclaration sur le droit à l ’ insoumission dans la guerre d ’ Algérie« vom 6. 9. 1960 erschien zuerst in der Vérité-Liberté. Als Volltext unter: http://www.monde-diplomatique.fr/2000/09/A/14199. 31 Erklärung zum »Manifest der 121«, Nov. 1960, abgedruckt in: Klaus Wagenbach u. a. (Hg.), Vaterland, S. 176. 32 Manifest der Gruppe 47, 28. 10. 1962, abgedruckt in: Seifert, SpiegelAffäre, Bd. 2, Dok. 5, S. 383. 33 Vgl. generell zur Rolle der Intellektuellen hier: Dorothee Liehr, Von der Aktion gegen den Spiegel zur Spiegel-Affäre. Zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt / M. 2002, S. 143 f. 34 Schoenbaum, Abgrund, S. 161. 35 Dies sieht auch: Liehr, Von der Aktion, S. 150. 36 Zusatz Manifest der Gruppe 47, 31. 10. 1962, in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 5, S. 383 f. 37 Ebd., S. 64 f. 38 Vgl. die Beiträge von Martin Walser, Wolfgang Ebert, Bazon Brock im Extrablatt von Pardon 1. 11. 1960; Wolfgang Ebert in: Die Zeit vom 9. 11. 1962. 39 So das Kernargument in: Liehr, Von der Aktion, besonders S. 34; Manfred Liebel, Die öffentliche Reaktion in der Bundesrepublik, in: Seifert (Hg.), Spiegel-Affäre, Bd. 2, S. 39–242. 40 Laut Andersch an Koeppen, 20. 1. 1963, zitiert nach: Richter, Briefe, S. 445. 41 Vgl. zu diesem Eingreifen der Göttinger Professoren die Beiträge von Mark Walker und Oliver Schael in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002. 42 Offener Brief von 29 Professoren der politischen Wissenschaften und des Staatsrechts, 22. 11. 1962, abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 19, S. 395. 43 Panorama Wortprotokoll in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, S. 408–419.

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44 Theodor Eschenburg, Die Affäre, in: Zeit-Sonderheft, Dez. 1962, S. 3–11. 45 Erklärung, 31. 10. 1962, abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 15, S. 392. 46 Erklärung, 19. 11. 1962, abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 17, S. 393. 47 Erklärung o. D. (Anfang Nov. 1962), abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 16, S. 392 f. 48 Erklärung, 1. 12. 1962, abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, Dok. 20, S. 398. 49 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 11. 1962, S. 7. Diese Zuschrift grenzte sich in ihrer Urteilsteilsbildung damit von den »Experten« ab, die in den gleichen FAZ-Leserbriefspalten scheinbar unpolitisch anhand von Paragraphen diskutierten, ob das Vorgehen gegen den Spiegel rechtens war. 50 August Freiherr von der Heydte, Landesverrat und Pressefreiheit. Warum ich den Spiegel angezeigt habe, in: Rheinischer Merkur vom 9. 11. 1962, S. 3. 51 Zu Gerhard Ritter vgl. Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001. 52 Leserbriefe Prof. Dr. Gerhard Ritter, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 11. und 16. 11. 1962, S. 8; der Marburger Professor und Philosoph Ebbinghaus flankierte Ritters Argumentation im gleichen Forum. Ritters Biograph Cornelißen warnt zwar zunächst davor, diese Briefe als Ausdruck von »traditionellen und restaurativen Vorstellungen« zu sehen, ordnet sie dann aber ebenfalls in Ritters Angst vor »Nihilismus« und dessen »urchristlichen Gehorsamsgebot gegenüber der Obrigkeit« ein. Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 432–434. 53 Leserbrief Prof. Dr. Gerhard Ritter, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 11. 1962, auch abgedruckt in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd.2, Dok. 24, S. 403. Die Debatte Ritter vs. Bracher vertieft auch: Liehr, Von der Aktion. 54 Zu den Ansätzen vgl. jetzt: Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006. 55 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 11. 1962, S. 8. 56 Ebd. 57 Vgl. Bruno Dechamps, Die andere Seite der Spiegel-Affäre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 10. 1962. 58 Panorama Wortprotokoll in: Seifert, Spiegel-Affäre, Bd. 2, S. 418 f. Zu Haffners Einsatz ausführlicher: Liehr, Von der Aktion, S. 163–171. 59 Süddeutsche Zeitung vom 8. 11. 1962, S. 6. 60 So wurde argumentiert, dass die ganze Presse, auch der Spiegel, nunmehr von Anzeigen der Großkonzerne abhängig sei; Günter Wallraff, Einige Erfahrungen, abgedruckt in: Wagenbach (Hg.), Vaterland, S. 280 f. 61 Okt. 1967, abgedruckt in: Wagenbach (Hg.), Vaterland, S. 251. 62 So Grass in Panorama: 25. 9. 1967, abgedruckt in: Wagenbach (Hg.), Vaterland, S. 250.

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Kein Neubeginn Hannah Arendt, die NS-Vergangenheit und die Bundesrepublik

Am 11. Juni 1965 schrieb Hannah Arendt an Karl Jaspers: »Und was die Bundesrepublik betrifft, so brauchen wir uns wohl darüber nicht weiter zu unterhalten. Der ist der Untergang an die Stirn geschrieben.«1 Und am 16. Januar 1966 – Jaspers hatte ihr die ersten Stücke seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik? übersandt – hieß es im gleichen Sinn: »Ich bin so überzeugt von der Vorläufigkeit dieses Gebildes und von den nicht wieder gutzumachenden Fehlern Adenauers, daß ich erleichtert bin, daß Du eine so eindeutige Haltung eingenommen hast.«2 An vielen anderen Stellen urteilte Arendt ähnlich. Vor allem in ihren Briefen nahm sie kein Blatt vor den Mund. Zusammenhängend, in der durchformulierten Form eines Aufsatzes, eines Vortrags oder eines Buches hat sie jedoch nie zur Bundesrepublik Stellung genommen. Den Bericht über ihre Reise durch Deutschland von Ende November 1949 bis Anfang März 1950 kann man nicht gut als Stellungnahme zur Bundesrepublik werten. Es handelt sich eher um eine Bestandsaufnahme über die Konfusionen, die der Nationalsozialismus in den Köpfen der Deutschen hinterlassen hat, also um einen Bericht über die Fortwirkungen des totalitären Regimes kurz nach seinem Ende.3 Die Bundesrepublik war gerade gegründet worden, die Währungsreform hatte stattgefunden, aber davon findet sich in dem Bericht kaum ein Wort. Gleichwohl ging viel von dem, was Arendt hier beschrieb, in ihr späteres Urteil über die Bundesrepublik ein. Die Laudatio auf Jaspers bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958 und die Rede, die sie ein Jahr später bei der Verleihung des Lessing-Preises der Stadt Hamburg hielt, handelten natürlich auch von den Deutschen und von der Bundesrepublik. Gleiches gilt für ihren Bericht über den Eichmann-Prozess (1963) oder für die

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Ethikvorlesung Über das Böse (1965), die posthum publiziert worden ist. Aber die Urteile über die Bundesrepublik und die Deutschen stehen in keinem dieser Texte im Zentrum. Gelegentlich hellte sich das Bild, das Arendt von der Bundesrepublik zeichnete, etwas auf. Aufmerksam registrierte sie, dass sich seit Mitte der 1960er Jahre an den Universitäten ein kritischer Geist ausbreitete und dass das Interesse für die NS-Vergangenheit ernsthaftere Züge annahm. »Die deutsche Jugend wird offenbar endlich deutlich und hört mit den dummen Schuldbekenntnissen auf.«4 Arendt freute sich über die positive Rezension ihres Eichmann-Buches, die Manfred Müller in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus publiziert hatte. Sie freute sich über die politische Haltung des Spiegel und über Hochhuths Stellvertreter, über Günter Grass und Uwe Johnson. Endlich, so meinte sie, entdecken die jüngeren Deutschen die Lust am politischen Handeln und fangen an, sich für die Wahrheit zu interessieren und der älteren Generation Paroli zu bieten.5 »Die erste Generation der ›Unschuldigen‹ hat nicht zu mucksen gewagt, weil ja die ehemaligen Nazis, wenn sie nicht zu arg kompromittiert waren, fest im Sessel saßen und wirkliche Opposition gefährlich war. Aber die jetzt heranwachsende Generation kann sich da mehr leisten. Die Zwanzigjährigen, kurz gesagt, haben es mit den Vierzigjährigen zu tun, die selbst nicht kompromittiert sind; sie wagen also die Schnauze aufzumachen und ziehen dabei wiederum die Älteren – die Vierzigjährigen natürlich, nicht die entsetzten Leute meiner Generation – mit sich.«6 Doch diese positiven Seiten waren nicht mehr als kleine Farbtupfer in einem insgesamt düsteren Bild. Kein Zweifel: Die Urteile, die Arendt über die Bundesrepublik äußerte, waren vernichtend. Der neue Staat hatte es in ihren Augen nicht geschafft, einen deutlichen Bruch mit der NS-Vergangenheit herbeizuführen. Aber, so dürfen wir fragen, was hat Arendt erwartet? Was war – mit Koselleck zu sprechen – der Erfahrungsraum für ihren Erwartungshorizont? Wie begründete Arendt ihr Urteil? Welche Beobachtungen und Annahmen standen im Hintergrund? Das Urteil von Arendt über die Bundesrepublik soll hier auf vier Ebenen etwas genauer betrachtet werden. Arendts Urteil bezog sich erstens auf das politische Personal: Die Übernahme alter

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Nazis in hohe Positionen der Bundesrepublik hielt sie für vollkommen unerträglich und unentschuldbar. Ihr Urteil bezog sich zweitens auf das politische System der Bundesrepublik und seine Institutionen: Arendt strafte es mit Desinteresse. Das Urteil galt drittens den Strafprozessen gegen NS-Verbrecher, die seit Anfang der 1960er Jahre zögerlich stattfanden und nach Arendts Auffassung zu skandalös niedrigen Strafen führten. Viertens schließlich richtete sich ihr Urteil auf den Zustand der Öffentlichkeit und den Gehalt der öffentlichen Diskussionen in der Bundesrepublik: Sie offenbarten in ihren Augen einen beängstigenden Mangel an politischer Urteilskraft.

Das politische Personal: Kontinuität und Gleichgültigkeit Im ersten Kapitel ihres Berichts von der Banalität des Bösen registrierte Hannah Arendt, dass erst nach der Ergreifung Eichmanns in der Bundesrepublik Deutschland ein vorsichtiges Interesse daran entstand, die NS-Massenmörder vielleicht doch noch in ihren Verstecken aufzustöbern, in denen sie – meist nicht einmal unter falschem Namen – lebten, und sie vor Gericht zu bringen. Für noch schlimmer als das Faktum, dass die Deutschen offenbar gar nichts dabei fanden, wenn die Mörder unter ihnen lebten, hielt Arendt die Kontinuität der Führungseliten über das Kriegsende hinweg: »Daß die Bundesregierung und die Länderverwaltungen, die Polizei, die Ministerien, der diplomatische Dienst und die Universitäten, kurz das gesamte deutsche öffentliche Leben, von ehemaligen Nazis in früher hohen Positionen durchsetzt war, wußte man zu Beginn des Eichmann-Prozesses. […] Aber der erschreckende Umfang dieser wechselseitigen Verstrickungen bzw. die Tatsache, daß sich unter den Belasteten im öffentlichen Leben auch Massenmörder befinden, ist erst im Verlauf der Prozesse der allerletzten Jahre an den Tag getreten.« Erst seitdem könne man sich »von dem Ausmaß des Unheils im Nachkriegs-Deutschland ein Bild machen«.7 Die Verbindung dieses Themas zum EichmannProzess liegt darin, dass im Jerusalemer Strafverfahren die »Komplicität der gesamten Beamtenschaft in den staatlichen Mi-

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nisterien, der Wehrmacht und des Generalstabs, der Justiz, der Industrie und der Wirtschaft« mit dem totalitären Regime nach Arendts Einschätzung absichtsvoll nicht zur Sprache gekommen war.8 Arendt vermutete hinter dem Verschweigen einen Handel zwischen Adenauer und Ben Gurion.9 Stellen wir diese Beobachtungen von Arendt in den Kontext ihrer Analyse der totalitären Herrschaft. Die Unmöglichkeit, nach dem Ende des Krieges in Deutschland einen neuen personalpolitischen Anfang zu machen, beruhte in einem zunächst ganz einfachen Sinn darauf, dass es buchstäblich keine politischen Akteure gab, die zu freiem und unbelastetem Handeln in der Lage waren. Dieser Zustand war eine Erbschaft der totalen Herrschaft, deren Originalität gegenüber einer gewöhnlichen Tyrannis nach Arendt darin bestand, dass sie die gesamte Bevölkerung vereinnahmt hatte. Es war das Charakteristikum »jener ungeheuerlichen Maschine des Verwaltungsmassenmordes«, dass man zu ihrer Bedienung »nicht Tausende und nicht Zehntausende ausgesuchter Mörder, sondern ein ganzes Volk gebraucht hat und gebrauchen konnte«.10 Alle, die unter ihr lebten, wurden von der totalitären Herrschaft zu Komplizen gemacht. »Totalitäre Herrschaft beraubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplicen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen.«11 Die »Komplizenschaft im Verbrechen« und die organisierte Schuld, in deren Herstellung die Nazis wahre Meister waren, sabotierten auch noch nach dem Ende des Terrorregimes die politische Urteilskraft und das freie politische Handeln.12 Die These von der »Komplicität« der gesamten Bevölkerung als Wesenszug der totalitären Herrschaft steht in Verbindung mit der Staatsformenlehre Montesquieus. Arendt ergänzte die bekannten Staatsformen der Monarchie, Republik und Tyrannis um den neuen Typus der totalitären Herrschaft, die etwas ganz anderes ist als die aus der Geschichte bekannten tyrannischen oder diktatorischen Regime. Der Nationalsozialismus hatte nach Arendt mit einem spezifisch deutschen Wesen oder einer typisch deutschen Charakterstruktur gar nichts zu tun. Die Behauptung, dass hinter dem Nationalsozialismus ein »deutsches Problem« steckt

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und dass die deutsche Geschichte seit Martin Luther auf Hitler zulief, hielt sie für absurd. Hinter dem Faschismus stand ihrer Ansicht nach kein nationales oder charakterliches Problem der Deutschen, sondern die allgemeine Krise der staatlichen Ordnung in Europa. Davon lenke die Behauptung einer »Gesamtschuld des deutschen Volkes« nur ab.13 Deswegen ist es auch ein grobes Missverständnis, Arendt zu unterstellen, sie operiere für die Zwecke der Analyse mit dem Begriff der Kollektivschuld.14 Es ist ganz anders: Nach Arendt übernehmen diejenigen, die in diesen Begriffen und Kollektivzuschreibungen redeten und dachten, die Sichtweise der Nazis. Schuld und Komplizenschaft waren in den Augen von Arendt nicht das gleiche. Von einer kollektiven Schuld der Deutschen zu reden, hielt Arendt für Unsinn, eine kollektive Komplizenschaft dagegen gab es ihrer Ansicht nach durchaus. Diese Behauptung hat damit zu tun, dass der Typus der totalen Herrschaft nach Arendts Analyse die Bevölkerung durch Terror und Ideologie in eine homogene Einheit, eine einheitliche Gefolgschaft, einen einzigen Körper verwandelt und sich auf diese Weise signifikant von der Willkürherrschaft der Tyrannis unterscheidet, die sich damit begnügt, die Verbindungen und Räume zwischen den Menschen zu zerstören und die Menschen zu vereinzeln.

Das politische System: Normalisierung post festum Wie kann es nach dem Ende der totalitären Herrschaft weitergehen, wenn es keinen spontanen Aufstand gegen sie gibt und wenn die Kräfte des Widerstands für dauerhaftes politisches Handeln zu schwach sind? Antwort: Was bleibt, ist ein »normaler« Neuanfang, oder – wenn wir es mit den Begriffen von Arendt, die sie in Vita activa (1958) entwickelte, sagen – ein Anfangen im Geist des Herstellens statt des Handelns. In diesem Anfang, der kein wirklicher Anfang ist, wird so getan, als wenn es sich beim gerade besiegten totalitären politischen System um eine gewöhnliche Tyrannis gehandelt hätte und der Krieg nichts weiter gewesen wäre als eine Variante der üblichen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen souveränen Staaten, an deren Ende die Sieger den Besiegten gegenüber die Bedingungen festlegen, unter denen es weitergeht,

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in denen die Besiegten im übrigen aber auf gleicher Augenhöhe behandelt werden. Arendt schrieb in Organisierte Schuld: »Wie auch immer das künftige Schicksal Deutschlands aussehen wird, es wird nie mehr enthalten können als die unseligen Folgen eines verlorenen Krieges; und solche Folgen sind der Natur der Sache nach temporär. Eine politische Antwort auf diese Verbrechen gibt es in keinem Fall; denn eine Ausrottung von 70 oder 80 Millionen Deutschen oder auch nur eine langsame Aushungerung, an die natürlich niemand außer ein paar psychotischen Fanatikern denkt, würde auch nur bedeuten, daß die Ideologien der Nazis gesiegt hätten, wenn auch die Macht und ›Recht des Stärkeren‹, sie zu praktizieren, auf andere Völker übergegangen sind.«15 Die Menschheitsverbrechen wurden durch die Art, wie es nach ihrem Ende politisch weiterging, post festum zum Bestandteil eines gewöhnlichen Krieges und einer durchschnittlichen Tyrannei. Die Kapitulation der Deutschen erschien wie eine normale Niederlage: Die Sieger stellten Bedingungen, sie forderten Reparationen und Gebietsabtretungen, wie sie das immer nach dem Ende von Kriegen getan hatten, und mit der Zeit würden sich diese Maßnahmen erschöpfen. Arendt suchte nach einer anderen Lösung. Aber eine über diese Normalität der Beendigung von Kriegen hinausgehende politische Antwort auf die Nazi-Verbrechen und das totalitäre Regime, die angemessen gewesen wäre, fand sie nicht. Nur in einem Brief an Jaspers vom August 1946 deutete sie kurz eine Überlegung in eine neue Richtung an. Sie forderte, »daß ein Übernehmen der Verantwortung in mehr bestehen müsse als in dem Akzeptieren der Niederlage und der damit verbundenen Konsequenzen«. Sie insistierte darauf, »daß ein solches Übernehmen der Verantwortlichkeit, das ja eine Vorbedingung für die Weiterexistenz des Volkes (nicht der Nation) ist, mit einer positiven politischen Willenserklärung an die Adresse der Opfer verbunden« sein muss.16 Dieser Gedanke ging, wie Arendt hinzufügte, auf ihren Mann Heinrich Blücher zurück, aber er wurde von ihr nicht wirklich aufgenommen oder ausgearbeitet, und er blieb in ihrem weiteren Denken ohne Resonanz. Bei allem Verständnis für Arendts Empörung über die Kontinuität des politischen Personals und für ihre Forderung nach

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einem politischen Neubeginn ist es doch irritierend, dass sie dem institutionellen Gefüge der Bundesrepublik keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nirgendwo hat sie die politische Ordnung des Grundgesetzes daraufhin untersucht, ob in ihr nicht immerhin der Versuch einer Reaktion auf die totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus enthalten war. Arendt verließ sich an dieser Stelle auf die Behauptungen von Jaspers und folgerte aus ihnen, dass die Bundesrepublik schlicht eine Neuauflage der Weimarer Republik war. In ihrem Vorwort zur englischen Übersetzung von Wohin treibt die Bundesrepublik? meinte sie, die Gefahr liege »in den dramatischen Folgen der Tatsache, daß 1945 kein neuer Staat entstanden und daß es niemals zum klaren Bruch mit der Vergangenheit, nicht einmal mit der Nazivergangenheit«, gekommen sei.17 Historisch gesehen sei nicht zu bezweifeln, »daß bei der Errichtung des Bonner Staates bewußt versucht wurde, nicht einen ›neuen Staat‹, sondern den Status quo ante Hitler zu schaffen, d. h. eine Restauration der Weimarer Republik«.18 Im Eifer der Kritik am ausgebliebenen Neuanfang übersah Arendt, dass das Grundgesetz in seiner Anlage und in einer Reihe von Einzelbestimmungen nicht die Weimarer Verfassung fortsetzt, sondern der ernstzunehmende Versuch ist, aus deren Versagen institutionelle Konsequenzen zu ziehen. Arendt nahm weder die Ewigkeitsklausel der Grundrechte zur Kenntnis, noch die Stellung des Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsgerichts, noch den Art. 16, der bestimmt, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ausschließlich auf Grund eines Gesetzes und nur dann eintreten darf, »wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird«.19 Arendt ging mit ihrem Urteil sogar noch einen Schritt über die Position von Jaspers hinaus, der durchaus anerkannte, dass das Grundgesetz aus dem Scheitern der Weimarer Republik Konsequenzen zu ziehen versuchte.20 Nach Jaspers war das Grundgesetz gleichsam auf halbem Wege stecken geblieben, weil es sich auf die Institutionenordnung beschränkte, von Angst vor der Souveränität des Volkes und von Sicherheitsdenken geprägt war. Deswegen verfehlte es die Dimension, die Jaspers zufolge für einen wirklichen Neubeginn nach der Katastrophe am wichtigsten gewesen wäre: die »Revolution der Denkungsart«.21

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Woher rührte Arendts Kurzsichtigkeit? Es zeugt von einem weitreichenden Fehlverständnis, Arendts Kritik der Bundesrepublik auf »ihr ausgesprochen elitär-konservatives Demokratieund Politikverständnis« und ihre »letztlich von den Bedingtheiten der praktischen Politik abstrahierende moralische Perspektive« zurückzuführen, wie Hans Mommsen argumentiert hat.22 Arendts Geringschätzung der institutionellen Ordnung der Bundesrepublik hat vielmehr damit zu tun, dass deren Konstitution nicht am Ende eines politischen Prozesses stand, in dem sich – wie im amerikanischen Modellfall – das Volk in einem langen Verfahren öffentlicher Diskussion und öffentlichen Handelns eine Verfassung und eine Regierung gab. In ihrem Revolutionsbuch von 1963 ließ Arendt keinen Zweifel daran, was sie von einer Verfassung hielt, die nicht mehr war als ein »Schriftstück«, ein von Verfassungsjuristen entworfener Text. Danach hat eine Konstitution, die den Völkern geschenkt oder oktroyiert wird, mit politischem Handeln nichts zu tun, sondern entstammt dem Geist des Herstellens. Sie hat keine Autorität im Volk, hinter ihr steht keine Macht, und sie konstituiert keine Macht. Deswegen wird es ihr nach Arendt im Zweifelsfall ähnlich ergehen wie vielen Verfassungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, die im Nu hinweggefegt wurden.23 Diese Übereinstimmung der Ausgangsbedingungen dürfte im Hintergrund von Arendts Annahme gestanden haben, dass die Bundesrepublik nichts als die Weiterführung der Weimarer Republik war und ihr deswegen auch ein ähnliches Schicksal bevorstand. Kurz: Der Beginn der Bundesrepublik war alles andere als ein Anfang, »dessen Autorität nicht angezweifelt werden kann«.24 Institutionen, hinter denen nicht die Macht der Bevölkerung steht, fehlt es in den Augen von Arendt immer über kurz oder lang an Trag- und Belastungsfähigkeit.

Strafprozesse: Eichmann und die Antiquiertheit des Rechts Wenn man Arendts Haltung zur Frage der Strafprozesse gegen Nazi-Verbrecher verstehen will, muss man sich zwei zentrale Punkte ihrer politischen Theorie in Erinnerung rufen: Erstens ihr

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Verständnis von Politik und zweitens ihre Behauptung, dass das herkömmliche Strafrecht mit der Ahndung totalitärer Verbrechen überfordert ist. Zu Arendts Politikverständnis: Politik entsteht nach Arendt aus dem freien Zusammenhandeln der Menschen, der Raum des Politischen etabliert sich zwischen den Menschen. Der Raum des Handelns ist immer gefährdet, und er bedarf der Sicherung durch die Möglichkeiten, die Versprechen und Verzeihen bieten, durch Institutionen, durch das Recht und durch Strafprozesse – und zwar gerade gegen jene, die, wie die Nazis, diesen Raum des politischen Handelns vollkommen abschaffen wollten. Bei der Strafe, erst recht bei der Todesstrafe, kommt die Gewalt ins Spiel. Sie ist das Element, das der Politik entgegensteht.25 Zum Strafrecht: Angesichts der Verbrechen der totalitären Regime waren die Mittel des normalen Strafrechts nach Arendt ganz ungeeignet und hilflos. Die totalitären Verbrechen kann »kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen«26: »Das Charakteristische der in Nürnberg abgeurteilten Taten des Naziregimes war, daß sie sich weder mit unseren Begriffen von Sünde und Vergebung − wie sie seit Jahrtausenden in den Zehn Geboten niedergelegt und scheinbar endgültig formuliert waren − fassen, noch mit den uns zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln aburteilen und bestrafen ließen.«27 Die Verbrechen der totalitären Herrschaft übersteigen das menschliche Maß des Verzeihens und Strafens nicht wegen ihres quantitativen Ausmaßes, sondern weil sie von einer ganz anderen Qualität waren als normale Gesetzesübertretungen. Arendt griff, um das zu benennen, zunächst auf Kants Wort vom radikal Bösen zurück und prägte dafür später, in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess, den Begriff der Banalität des Bösen. Ob radikal böse oder banal böse: In beiden Fällen gilt, dass das gewöhnliche Strafrecht für die Ahndung dieser Verbrechen untauglich war. Trotzdem befürwortete Arendt die Strafprozesse gegen NS-Verbrecher und votierte im Falle von Eichmann für die Todesstrafe. Wie passt das alles zusammen? In einem Brief an Karl Jaspers vom März 1951 schrieb Arendt: »Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, daß das Böseste, was

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der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat.«28 Das Wort vom radikal Bösen bezeichnet also den Sachverhalt, dass sich die Verbrechen von allen charakterlichen oder psychologischen Dispositionen, die sie herbeigeführt haben und die man für ihre Entstehung verantwortlich machen kann, abgelöst haben. Man kann die Verbrechen der totalen Herrschaft nicht mehr auf »die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag«, zurückführen.29 Deswegen waren ihnen gegenüber alle menschlichen Reaktionen, die sich auf diese hergebrachten Kategorien moralischen Denkens und Urteilens bezogen, machtund hilflos. In der Redeweise von der Banalität des Bösen waren es dann die Elemente der Beiläufigkeit und des Unspektakulären der Vernichtungsarbeit, die in den Vordergrund traten und für die das radikal Böse in Arendts Augen nicht mehr der angemessene Begriff war.30 Das empirische Phänomen der beiden Begriffsvarianten ist das gleiche. Es ist erstens das Verbrechen ohne Laster und charakterliche Niedertracht, das Verbrechen, das von den Tätern als belanglose, unspektakuläre, gedankenlose Arbeit verrichtet und betrachtet wird, und es ist zweitens das Verbrechen, das nicht gegen die Gesetze des Staates verstößt, sondern mit ihnen konform geht, in ihrem Auftrag ausgeführt wird. Wir haben es mit Unrecht in Gesetzesform zu tun, also mit Staatsverbrechen.31 Ihre Skepsis gegenüber dem Strafrecht im Angesicht des absolut oder banal Bösen führte Arendt aber keineswegs dazu, Politik und politische Verbrechen als Schicksal oder Unglück zu begreifen, dem man mit juristischen Mitteln grundsätzlich nicht beikommen kann. An Jaspers, der dem Eichmann-Prozess viel zurückhaltender als Arendt gegenüberstand, schrieb sie: »Ihnen wird das alles so klingen, als versuchte auch ich, das Politische mit Rechtsbegriffen einzufangen. Und ich gebe sogar zu, daß ich, was die Rolle des Gesetzes anlangt, angelsächsisch angesteckt bin. Aber davon abgesehen liegt es, scheint mir, in der Natur dieser Sache, daß wir nichts als Rechtliches in der Hand haben, um etwas zu beurteilen und abzuurteilen, was sich weder mit Rechtsbegriffen

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noch mit politischen Kategorien wirklich adäquat auch nur darstellen läßt. Das gerade macht den Vorgang selbst, nämlich den Prozeß, so aufregend. Die Frage ist: Wäre es anders, wenn wir ein Gesetz hätten gegen hostes humani generis und nicht nur gegen Mörder und Ähnliches?«32 Die Konsequenz, die Arendt aus der Überforderung des Rechts zog, bestand mithin nicht darin, dass man es mit Strafprozessen erst gar nicht versuchen sollte, weil dabei sowieso nichts Vernünftiges herauskommen könne und das Wichtigste verfehlt werde. Im Gegenteil. Arendt interessierte sich brennend dafür, wie der Gerichtshof in Jerusalem mit all diesen Widersprüchen zurechtkommen würde. Es war, genauer betrachtet, ein ganzes Bündel von Motiven, das Arendt nach Jerusalem trieb: Es war erstens die Frage, wie sich das Gericht in einem Fall aus der Affäre ziehen würde, der mit den herkömmlichen Mitteln des Rechts nicht zu fassen war. Arendt sah zweitens in diesem Prozeß für sich die einzigartige Chance, der totalitären Herrschaft direkt ins Gesicht zu sehen. Drittens interessierte Arendt die Frage, wie die Verbrecher nach dem Ende ihres Verbrecherregimes über ihre Taten sprachen und dachten. Was Eichmann in Jerusalem äußerte, das galt Arendt cum grano salis als durchaus repräsentativ für die Haltung der gesamten Bundesrepublik zum NS-Regime.33 Und schließlich waren viertens der Eichmann-Prozess und die internationale Debatte über ihn nach Arendt eine Art Lackmustest der politischen Urteilskraft, nicht nur in Israel und den USA, sondern auch in der Bundesrepublik. In ihrem Buch ließ Arendt keinen Zweifel daran, »daß dieser Prozeß im Interesse der Gerechtigkeit […] stattfinden mußte« und dass das Todesurteil gerechtfertigt war.34 Doch sie plädierte vehement dafür, dass die Strafprozesse bei Verbrechen gegen die Menschheit eigentlich vor internationalen Strafgerichtshöfen stattzufinden hätten. Aber da sich offenbar niemand für die Aburteilung der NS-Verbrecher interessierte, die Vereinten Nationen nicht, die Deutschen nicht, die Argentinier nicht, und auch sonst niemand auf der Welt, blieb die Sache nach Arendt an Israel und den Juden hängen. Freilich entstand daraus dann der Eindruck, dass Eichmann wegen seiner Verbrechen an den Juden abgeurteilt wurde und nicht wegen des Verbrechens gegen die Menschheit.

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Am 20. Dezember 1961 schrieb Arendt an Jaspers nach der Lektüre des Eichmann-Urteils, dass das Gericht zwar ein gerechtes Urteil gefällt habe, aber daran gescheitert sei, das Dilemma der faktischen Unzuständigkeit plausibel zu machen: »Statt einzugestehen, daß man Recht sprechen muß, auch wenn das Gesetz einen im Stich läßt, [ist] alles so konstruiert, daß es legal vielleicht gerade noch so geht, aber eben der Wirklichkeit überhaupt nicht entspricht.«35 Was für das Jerusalemer Gericht galt, traf erst recht auf die Bundesrepublik zu. Sie hatte weder das Format noch den politischen Willen, sich den Paradoxien des Rechts bei der Ahndung der NS-Verbrechen zu stellen. Nach Arendt mussten hier mehrere Dinge berücksichtigt werden: Die Frage nach dem Völkerrecht, das Landesrecht bricht, die Frage der Verjährung, mit der sich Jaspers in seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik? extensiv beschäftigt hatte, und das Problem des Rückwirkungsverbots und seine Antiquiertheit. Die grundlegenden Fragen nach den Möglichkeiten des Rechts angesichts der totalitären Verbrechen, die Arendt aufwarf, sind unvermindert aktuell. Es ist einigermaßen irritierend, dass sie in der ersten großen öffentlichen Auseinandersetzung über die Frage des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, in der Lawine von Stellungnahmen, Polemiken und Verrissen, die das Buch über Eichmann auslöste, so gut wie gar nicht vorkamen – weder in den USA noch in der Bundesrepublik. Die Kritiker nahmen die Banalitätsthese ins Visier, die despektierlichen Sätze über den deutschen Widerstand, die Passagen über die Rolle der Judenräte und – nicht zu vergessen – den Ton und die Rhetorik des Buches. Aber die Frage nach den Möglichkeiten und Zuständigkeiten des Rechts wurde nicht erörtert. Diese Dimension wird freilich auch nur dann sichtbar, wenn man das Buch in den Zusammenhang der politischen Theorie von Arendt stellt, wie sie in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in Vita activa und in Über die Revolution entfaltet wird. Dazu waren die Kritiker nicht in der Lage, oder sie waren daran nicht interessiert.36

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Urteilskraft: Kritik des Eskapismus Das Urteilen ist nach Arendt das genuin politische Vermögen des Geistes.37 Wohin auch immer Arendt in der Bundesrepublik ihren Blick richtete: von der Qualität der Urteilskraft entdeckte sie keine Spur, sondern immer nur Eskapismus und Opportunismus. Opportunismus hieß in den Augen von Arendt, dass es den Deutschen, jedenfalls in den ersten 15 Jahren nach dem Ende des Krieges, schlicht vollkommen gleichgültig war, dass die Mörder unter ihnen lebten. Sie wollten keine Schwierigkeiten, sie wollten bequem, in Ruhe und im Wohlstand leben. Die Toleranz gegenüber den Nazis lastete Arendt immer wieder der großzügigen Vergessensund Integrationspolitik Adenauers an. Von allerhöchster Stelle aus war damit nach Arendt der Opportunismus zur politischen Maxime der Bundesrepublik erhoben worden. Wenn Anfang der 1960er Jahre und angestoßen vor allem durch den EichmannProzess das Interesse in der Bundesrepublik für die NS-Vergangenheit zunahm, so steckte dahinter nach Arendt auch zunächst nur eine neue Variante im Arsenal der typisch opportunistischen Wendungen, die die Kompromittierten vollzogen. Alles passierte ohne Überzeugung, ohne Leidenschaft, aus purer Fügsamkeit und Gleichgültigkeit: »Die Haltung des deutschen Volkes zu seiner eigenen Vergangenheit, über die sich alle Kenner der deutschen Frage über 15 Jahre lang den Kopf zerbrochen hatten, hätte kaum deutlicher in Erscheinung treten können; den Deutschen selber ist es so und auch anders recht. Zwar machte es ihnen nicht viel aus, daß zahlreiche Mörder in ihrem Lande frei herumliefen, weil wohl kaum einer von ihnen ohne Befehl von oben weitere Morde begehen würde, aber wenn nun die Meinung der Welt bzw. ›das Ausland‹ partout darauf bestand, daß solche Leute bestraft werden sollten, dann waren sie auch durchaus bereit, solchem Verlangen entgegenzukommen, zumindest bis zu einem gewissen Grade.«38 Der Eskapismus war nach Arendt die zum Opportunismus dazugehörige Geisteshaltung. Es gab ihn gleichsam in einer kultivierten esoterischen Fassung und in einer populären exoterischen Form. In seiner populären Fassung hatte Arendt ihn bei ihrer ersten Deutschlandreise nach dem Krieg kennen gelernt und beschrieben. In der kultivierten Fassung des Eskapismus lassen sich

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mehrere Varianten unterscheiden. In einer ersten Variante trat er nach Arendt bei jenen Intellektuellen, Schriftstellern und Publizisten ihrer eigenen Generation zutage, die mit der Berufung auf die im Kern unbeschädigte deutsche geistige Tradition die nationalsozialistische Vergangenheit aus der deutschen Geschichte ausschließen wollten. Das kann man auf die pathetischen Höhenflüge der so genannten Schulddebatte in den ersten Jahren nach Ende des Krieges beziehen. Diese Haltung kommentierte Arendt mit Hohn und Sarkasmus. Aber Arendt traute auch den jüngeren Generationen, den Söhnen und Enkeln, nicht über den Weg.39 Sie empörten sich nicht, wie es angebracht gewesen wäre, sondern sie flüchteten in überflüssige Sentimentalitäten.40 Das war die zweite Variante des Eskapismus. Schließlich gab es eine dritte Version. Arendt sah sie bei jenen Vertretern der Sohnes- und Enkelgeneration am Werk, die seit Mitte der 1960er Jahre zu ihrer großen Freude dann doch endlich kritisch und deutlich wurden, z. B. bei Grass, Hochhuth, Johnson, Enzensberger. Der Eskapismus, den Arendt gleichwohl auch hier beobachtete, bestand im Generalisieren, Parallelisieren und Theoretisieren. Arendt sprach vom »scheinbaren Radikalismus, der nicht so sehr das Kind mit dem Bade ausschüttet als vielmehr durch Parallelen, bei denen sich irgendein Generalnenner darbietet, vieles Partikulare unter ein Allgemeines subsumiert, wobei das konkret SichEreignende als Fall unter Fällen verharmlost wird«.41 In einem Brief vom 28. Mai 1965 schrieb sie aus den USA an Jaspers: »A propos deutsche Schriftsteller: Sie sind augenblicklich alle hier, Grass, und Johnson habe ich kennengelernt, darüber mündlich. Und Enzensberger ist im Anzug. Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist oft zum Verzweifeln.«42 In der Wahrnehmung von Arendt waren diese Vertreter der Söhne- und Enkelgeneration theoretisch und habituell verstiegen. Dass sie »mit veralteten, durchweg aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriffen und Kategorien« hausieren gingen, dass sie so wenig neugierig auf die Wirklichkeit waren und sie nicht analysierten, zeugte in ihren Augen von einer deprimierenden theoretischen Sterilität.43 In die gleiche Rubrik gehörte ihrer Ansicht nach der klischeehafte Antiamerikanismus. Die Kur, die Arendt für nötig erachtete, bestand darin, daß die deutschen Intellektuellen und Schriftsteller »über-

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haupt einmal hierher kommen«, damit sie sich ihr Unverständnis für angelsächsische Tradition und amerikanische Wirklichkeit abgewöhnten. Das nämlich könne nicht durch Lesen, sondern nur durch Augenschein kuriert werden.44 Arendts Haltung zu den Söhnen und Enkeln wird auf eindrucksvolle und verdichtete Weise in einem kleinen Briefwechsel deutlich, den sie zur Jahreswende 1964 / 65 mit Enzensberger führte. Der Hintergrund des Briefwechsels ist schnell berichtet: Im Herbst 1964 erschien Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem. Das Buch wurde auch in Deutschland heftig diskutiert. Im gleichen Zeitraum publizierte Enzensberger einen Band eigener Essays unter dem Titel Politik und Verbrechen. Der erste Text daraus heißt Reflexionen vor einem Glaskasten und ist Enzensbergers Beitrag zum Eichmann-Thema. Zugleich entwickelt Enzensberger dort sein Verständnis von Politik und seine Faschismustheorie. Enzensberger holt dazu weit aus. Er bezieht sich auf Freuds Theorem vom Urvatermord und folgert aus ihm, dass alle Politik im Kern verbrecherisch sei, weil sie auf Mord beruhe. Auschwitz habe diesen Kern für alle sichtbar offengelegt. Es gibt daneben und darüber hinaus aber nach Enzensberger etwas, das auf gleicher Ebene angesiedelt ist wie Auschwitz, ja an Bedeutung darüber hinausgeht, weil es nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart betrifft: Das ist die Bombe, das »Gerät«, Hiroshima: »Dieses Gerät [die Bombe, HK] aber ist die Gegenwart und die Zukunft von Auschwitz. Wie will den Genozid von gestern verurteilen oder gar ›bewältigen‹, wer den Genozid von morgen plant und ihn sorgfältig, mit allen wissenschaftlichen und industriellen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, vorbereitet? […] Heute, da selbst der Faschismus nicht mehr zeitgemäß ist, da das nukleare Gerät selbst die Möglichkeit eines Eichmann in den Schatten stellt, wirkt noch die avancierteste Bande von Kriminellen wie ein Andenken aus alten Zeiten.«45 In den letzten Sätzen von Enzensbergers Essay ist dann nur noch die Rede von den »Endlösungen«, der »›Endlösung‹ von gestern und der Endlösung von morgen«, und Enzensberger macht deutlich, dass die Endlösung von morgen schlimmer ist als die Endlösung von gestern und dass, wer sich über die Endlösung von gestern empört, sich nicht mit der Endlösung von gestern aufhalten sollte, sondern daran gehen muss, die Endlösung von morgen zu verhin-

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dern – und zwar mit allen Mitteln: »Die ›Endlösung‹ von gestern ist nicht verhindert worden. Die Endlösung von morgen kann verhindert werden. […] Die ›Endlösung‹ von gestern war das Werk einer einzigen Nation, der deutschen. Das Gerät für die Endlösung von morgen ist im Besitz von vier Nationen. […] Die Planung und Verwirklichung der ›Endlösung‹ von gestern geschah insgeheim. Die Planung der Endlösung von morgen geschieht öffentlich. 1943 gab es Personen, die keine Mitwisser waren. 1964 gibt es nur noch Mitwisser […] Eichmann hat sich hauptsächlich mit Akten, Fahrplänen und Statistiken befaßt; dennoch hat er seine Opfer noch mit eigenen Augen gesehen. Den Planern des Letzten Weltkriegs wird dieser Anblick erspart bleiben.« Der letzte Satz des Essays schließlich lautet: »Der Glaskasten von Jerusalem steht leer.«46 Der Herausgeber der Zeitschrift Merkur, Hans Paeschke, hatte die Idee, Arendt zu fragen, ob sie nicht Enzensbergers Politik und Verbrechen rezensieren wolle. Arendt lehnte ab und nannte als Grund: »Es würde mir zu viel Mühe machen, das ganz Ausgezeichnete von dem Verfehlten zu scheiden.«47 Was war das Verfehlte des Buches? Arendt fand bei Enzensberger »eine hoch kultivierte Form von Escapismus: Auschwitz hat die Wurzeln aller Politik bloßgelegt, das ist wie: das ganze Menschengeschlecht ist schuldig. Und wo alle schuldig sind, hat keiner Schuld. Gerade das Spezifische und Partikulare ist wieder in der Sauce des Allgemeinen untergegangen.«48 Aus der Tatsache, dass die Politik des »Dritten Reiches« verbrecherisch war, zu folgern, es gebe den Unterschied zwischen Verbrechen und Politik nicht mehr, war nach Arendt ein fataler Kurzschluss mit desaströsen Folgen. Er hatte z. B. die Folge, die Strafverfahren gegen NS-Verbrecher abzuwerten und sich erst gar nicht näher mit ihnen zu beschäftigen. Enzensberger hielt offenbar nicht nur die Gerichtsverfahren schon von vornherein für vergeblich, ja für gefährlich und überflüssig, sondern erklärte in eins damit, dass derjenige, der sich wirklich mit Auschwitz beschäftigen will, sich nicht mit Auschwitz zu beschäftigen hat, sondern mit Hiroshima und mit der Bombe. Arendt dagegen wollte unbedingt nach Jerusalem zum Prozess gegen Eichmann, wollte sehen und hören, wie das Gericht mit der

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Herausforderung des Bösen zurechtkam. In dieser unterschiedlichen Haltung von Arendt und Enzensberger steckt mehr als ein unterschiedliches Temperament und mehr als eine unterschiedliche Einschätzung gegenüber einem tagespolitischen Ereignis. Es steht dahinter zum ersten ein anderer Politikbegriff und zum zweiten eine andere Vorstellung über den Umgang mit der beängstigenden Vergangenheit des Nationalsozialismus. Beide Aspekte sollen hier zum Schluss kurz behandelt werden.

Begriff und Erinnerung Am Grunde der Politik liegt nach Auffassung Enzensbergers das Verbrechen, der Mord. Insofern hat Auschwitz das Wesen der Politik zur Kenntnis gebracht, und die Bombe setzt das nur fort. In dieser Perspektive ist es reine Illusion zu erwarten, dass dem Unheil politisch begegnet werden kann. Nach Hannah Arendt hat dagegen politisches Handeln mit Mord und Gewalt nichts zu tun. Im Gegenteil: Wo die Gewalt das Regiment übernommen hat, ist es mit der Politik zu Ende. Die totalitäre Herrschaft hat nicht das Wesen der Politik zur Erscheinung gebracht, sondern zeigt umgekehrt, was passiert, wenn jede Möglichkeit politischen Handelns negiert und abgeschafft wird. Den Unterschied im Umgang mit der beängstigenden NS-Vergangenheit sieht man daran, wie Enzensberger und Arendt jeweils die Vergangenheitsbewältigung kritisieren und sich von ihr absetzen. Enzensberger spricht in seinem Essay vom »hochspezialisierten Geschwätz der ›Bewältigung‹«, mit dem die Auschwitz-Vergangenheit »exorziert« werden soll, »als wäre sie Vergangenheit, und zwar nationale: nicht gemeinsame Gegenwart und Zukunft. Dazu dient ein kompliziertes Ritual folgenloser, lokaler Selbstbezichtigung. Mit einem Ereignis, das die Wurzeln aller bisherigen Politik bloßgelegt hat, will dieses Ritual fertig werden (und das heißt letzten Endes: will es vergessen), ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, zu denen es die Beteiligten (Unbeteiligte gibt es nicht) zwingt. Daß eine solche ›Bewältigung‹ steril bleiben muß, daß sie nicht einmal die oberflächlichsten und nächstliegenden Folgen zeitigen kann, liegt auf der Hand; geschweige denn, daß sie die

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Voraussetzungen zu beseitigen vermöchte, die das Ereignis ermöglicht haben.«49 Worauf mögen diese Sätze gemünzt sein? Sie könnten einen Sinn ergeben, wenn sie auf die Erfinder des Wortes Vergangenheitsbewältigung bezogen wären, also auf die evangelischen Akademien, in deren Tagungs-Einladungen gegen Ende der 1950er Jahre dieser Terminus erstmals auftauchte.50 Enzensberger schrieb die zitierten Sätze im Jahre 1964, also nach dem Eichmann-Prozess und zu einer Zeit, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 begonnen hatte, stattfand. Demnach darf man diese Sätze wohl auch auf den Frankfurter Strafprozess beziehen.51 Dann dokumentieren sie den schlichten Unwillen, sich mit der Realität der NS-Verbrechen zu beschäftigen. Vielleicht hatte sogar Arendts Rede von der Banalität des Bösen dazu beigetragen, die Bedeutung dieser Gerichtsverfahren abzuwerten – mit Banalitäten, so der Gestus des Textes von Enzensberger, beschäftigen wir uns nicht, so wenig wie wir über das Wetter reden. Bei Arendt lagen die Dinge anders. Sie deutet es in ihrem Brief an Enzensberger an, wenn sie die Gefahr des Eskapismus und des Generalnenners nicht persönlich auf Enzensberger münzte, sondern meinte, die Gefahr liege »im Metier« begründet, also im Denken. Es besteht nach Arendt immer die Gefahr, dass im Denken das Heterogene auf einen nivellierenden Nenner gebracht wird und damit das Spezifische verlorengeht. Arendt will dieser Gefahr begegnen »durch den immer erneuten Versuch, sich am Konkreten festzuhalten und Unterschiede nicht zugunsten von Konstruktionen zu verwischen«.52 Dahinter steckt das Misstrauen gegen das vorschnelle Theoretisieren von Erfahrungen, gegen die das Besondere tötende Macht des Begriffs, unter dem verlorengeht, was es an Erfahrung gerade aufzuheben und zu bewahren gilt. Was Arendt hier im Sinn hatte, war die Antinomie zwischen Begriff und Erinnerung. In ihrer Kritik der Bewältigung und der Bewältigungsrituale schlug sie sich nicht auf die Seite des Begriffs, sondern auf die Seite der Erinnerung oder, wie sie sagt, der Konkretion. Das Medium der Erinnerung sind dann nicht der Begriff und die Theorie, sondern das Erzählen dessen, was sich ereignet hat, das story-telling.53 Poetisch denken, dichterisch denken ist deswegen das Ideal, dem Arendt anhängt. Im Erzählen wird

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den Leidenden und Ermordeten das Eingedenken zuteil, ihr Schicksal wird vor dem Vergessen bewahrt, das Erzählen ist der Ort des anamnetischen Gedächtnisses. Es geht darum, Geschichten zu erzählen, zu hören und zu lesen, und dann abzuwarten und zu sehen, was sich daraus ergibt.54 Die Wirkung, die Arendt mit story-telling verbindet, ist vielleicht am ehesten mit dem Begriff der Katharsis zu beschreiben. Es kommt nach Arendt nicht lediglich darauf an, dass wir nicht vergessen, wie es in vereinfachenden Reden der gegenwärtigen Erinnerungskulturkonjunktur oft heißt, sondern dass wir urteilen können. Insofern besteht das Ziel des anamnetischen Gedächtnisses in der Versöhnung mit der Wirklichkeit, das heißt, sagen zu können: Ja, so ist es gewesen, und wir können es nachträglich nicht mehr ändern, wir müssen es akzeptieren.55 In der Geschichte der Bundesrepublik hat es sehr lange gedauert, bis es ein Interesse für dieses Erzählen gab. Noch heute stehen wir Arendts Forderung eher skeptisch gegenüber. Unsere Neugier auf die Erzählungen der anderen großen Verbrechensgeschichte des 20. Jahrhunderts, für die Verbrechensgeschichten im Osten, die uns seit 1989 / 1990 leichter zugänglich sind, hält sich in Grenzen. In Umkehrung des Grundes, den Arendt bei Enzensberger ausmachte, führt nicht mehr das leichtfertige Generalisieren und Parallelisieren dazu, dass wir nichts hören wollen von den Schrecken und Abgründen, die sich ereignet haben. Jetzt ist es die übertriebene Angst vor der Parallele und dem Generalnenner, die das Interesse an der Realität der Unterdrückungen und der Leiden auf der Strecke bleiben lässt. Eine Ironie am Rande besteht darin, dass an dieser Stelle Arendt häufig unterstellt wird, was sie Enzensberger vorwarf: die Generalisierung. Arendt, so lautet der gängige Einwand, bringe zwei unvergleichbare Terrorsysteme, also das NSRegime und die Sowjetunion zu Stalins Zeiten, auf einen Nenner, den Generalnenner der totalen Herrschaft, und mache sich damit der Verharmlosung schuldig. Aus Angst vor solchen Generalisierungen und vor dem Generalnenner hüten wir uns heute vor diesen Erzählungen, aus Angst davor, dass mit jedem Bericht über die Leidenserfahrungen, die im GULAG oder am Ende der Welt, in Kolyma z. B., spielen, die Singularität der Vernichtung der europäischen Juden relativiert wird. Die Aufforderung von Arendt ist

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aktuell: Hören wir den Erzählungen zu, und warten wir ab, was sich daraus ergibt.

Anmerkungen 1 Hannah Arendt / Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, München 1993 (1985), S. 637. 2 Ebd., S. 656. 3 Der Bericht wurde 1993 vom Rotbuch-Verlag unter dem irreführenden Titel »Besuch in Deutschland« publiziert, der Obertitel wurde dabei zum Untertitel: Die Nachwirkungen des Naziregimes. Das englische Original ist 1950 unter dem Titel »The Aftermath of Nazi Rule« erschienen. 4 Arendt / Jaspers, Briefwechsel (Brief vom 19. 2. 1965), S. 617. 5 Vgl. ebd. (Brief vom 21. 3. 1967), S. 703. 6 Ebd. (Brief vom 14. 3. 1965), S. 623. 7 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Reinbek 1978 (1963), S. 44. 8 Ebd.. 9 Vgl. Arendt / Jaspers, Briefwechsel (Brief vom 14. 3. 1965), S. 621 f. 10 Hannah Arendt, Organisierte Schuld (1946), in: dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 31. 11 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (1951 / 1955), S. 727. 12 Hannah Arendt, Das ›deutsche Problem‹ ist kein deutsches Problem (1945), in: dies., In der Gegenwart, S. 15. 13 Arendt, Organisierte Schuld, S. 29. 14 Dazu neigt: Norbert Frei, Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Gary Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt / M. 2000. 15 Arendt, Organisierte Schuld, S. 31. 16 Arendt / Jaspers, Briefwechsel, S. 89. 17 Hannah Arendt, »Wohin treibt die Bundesrepublik?« Vorwort zu Karl Jaspers, The Future of Germany (1967), in: dies., In der Gegenwart, S. 67. 18 Ebd., S. 66. 19 Eigentlich müsste Arendt gerade dieser Artikel brennend interessieren, denn er ist die Reaktion auf das Problem der Staatenlosen und der Staatenlosigkeit im Zeitalter der Nationalstaaten, dem Arendt in ihren Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft eine scharfsichtige Analyse gewidmet hat. 20 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966, S. 141 ff. 21 Ebd., S. 190. 22 Hans Mommsen, Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann, in: Arendt, Eichmann in Jerusalem.

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23 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974 (1963), S. 188 ff. 24 Ebd., S. 238. Rödel, Frankenberg und Dubiel haben im Rekurs auf Arendt die Interpretation vorgeschlagen, dass die Gründung der Freiheit in der Bundesrepublik auf zwei getrennte Akte verteilt war. Die Erarbeitung und Verabschiedung des Grundgesetzes war danach ein »Vorgriff«, die eigentliche Gründung der öffentlichen Freiheit wurde später »nachgeholt«. (Siehe Ulrich Rödel / Günter Frankenberg / Helmut Dubiel, Die demokratische Frage. Ein Essay, Frankfurt / M. 1989, S. 77, 80.) Die Frage, ob diese Interpretation mit Arendts Auffassungen vereinbar ist, lasse ich hier auf sich beruhen. Interessant ist, dass Habermas in seinem Plädoyer für die europäische Verfassung eine ähnliche Vorgriffslogik ins Spiel gebracht hat, siehe: Jürgen Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Ach Europa, Frankfurt / M. 2008. Vgl. dazu Thorsten Thiel, Braucht Europa eine Verfassung?, in: Mandana Biegi / Jürgen Förster / Henrique Ricardo Otten / Thomas Philipp (Hg.), Demokratie, Recht und Legitimität im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2008. 25 Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München 2003 (1993). Es wäre deswegen aufschlussreich, der Rolle und Bedeutung des Strafens im Politikbegriff von Arendt detaillierter nachzugehen. Aber dazu ist hier nicht der Ort. Vgl. Adi Ophir, Between Eichmann and Kant: Thinking on Evil after Arendt, in: History and Memory 8 (1996), Heft 2; Jürgen Förster, Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns. Zur institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts, Phil. Diss., Aachen 2007. 26 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 701. 27 Ebd., S. 704. 28 Arendt / Jaspers, Briefwechsel, S. 202. 29 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 701. 30 Es ist viel darüber nachgedacht worden, worauf Arendt das Böse zurückführt und warum sie nach dem Eichmann-Prozess nicht mehr vom radikal Bösen spricht. Ich kann dem hier nicht nachgehen. Vgl. hierzu z. B. Christian Volk, Hannah Arendt über das Böse und die Zukunft des Politischen, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 16 (2007), Heft 1. 31 Andere Autoren haben über das Verbrechen ohne Laster ganz unabhängig von Arendt in soziologischen und psychologischen Untersuchungen sehr ähnliche Beobachtungen und Überlegungen formuliert, vgl. z. B. Alexander Mitscherlich, Zwei Arten von Grausamkeit, in: ders., Gesammelte Schriften V., Sozialpsychologie 3, hg. von Helga Haase, Frankfurt / M. 1983 (1976). 32 Arendt / Jaspers, Briefwechsel (Brief vom 23. 12. 1960), S. 453 f. 33 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 87. 34 Ebd., S. 15. 35 Arendt / Jaspers, Briefwechsel, S. 504. 36 Wie die zum Teil von erschreckender Unkenntnis zeugenden Beiträge des Sammelbandes von Gary Smith zeigen, ist das bis heute kaum besser geworden, siehe: Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited.

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Helmut König

37 Auf die philosophischen Herleitungen und Hintergründe von Arendts Theorie der Urteilskraft kann ich hier nicht eingehen. Sie sind enthalten in ihren Vorlesungen über Kants politische Philosophie aus dem Jahre 1970, die 1982 posthum veröffentlicht worden sind: Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. und mit einem Essay von Ronald Beiner, München / Zürich 1998 (1982). Der dritte, abschließende Teil ihres letzten Werkes Vom Leben des Geistes, der sich mit dem Urteilen beschäftigen sollte, kam nicht mehr zustande. 38 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 42. 39 Arendt gibt keine genauen Generationszuordnungen. Als »Söhne« lassen sich die Jahrgänge ab 1919 verstehen. Sie galten den Alliierten von vornherein als unbelastet, sie waren schlicht zu jung, um für den Nationalsozialismus verantwortlich zu sein. Die »Enkel« – das sind nach unserer gegenwärtigen Generationenrechnung die 68er. 40 Vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 298 f. 41 Hannah Arendt / Hans Magnus Enzensberger, Politik und Verbrechen. Ein Briefwechsel, in: Merkur 19 (1965), S. 385. 42 Arendt / Jaspers, Briefwechsel, S. 632. 43 Hannah Arendt, Adalbert Reif – Interview mit Hannah Arendt, in: dies., Macht und Gewalt, München 1970, S. 112. 44 Arendt / Enzensberger, Briefwechsel, S. 381. 45 Hans Magnus Enzensberger, Politik und Verbrechen, Frankfurt / M. 1978 (1964), S. 20 und 34. 46 Ebd., S. 37 und 38 f. 47 Arendt / Enzensberger, Briefwechsel, S. 381. 48 Ebd. 49 Enzensberger, Politik und Verbrechen, S. 19. 50 Helmut König / Michael Kohlstruck / Andreas Wöll, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen / Wiesbaden 1998, S. 7 ff. 51 Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999, S. 187. 52 Arendt / Enzensberger, Briefwechsel, S. 385. 53 Hannah Arendt, Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 2001 (1959), S. 31. 54 Ebd., S. 30. 55 Ausführlich behandle ich die Gedächtnistheorie von Arendt in meinem Buch Politik und Gedächtnis, das im Herbst 2008 bei Velbrück erscheint.

Wolfgang Kraushaar

Die Furcht vor einem »neuen 33« Protest gegen die Notstandsgesetzgebung

An die Notstandsgesetzgebung und die gegen ihre Verabschiedung gerichtete Bewegung möchte von den einstigen Akteuren heute kaum noch jemand erinnert werden. Denn dieses Kapitel steht eher für eine Blamage als für ein Ruhmesblatt. Als jener Schriftsteller, der vielleicht am ehesten als der exemplarische Intellektuelle der Bundesrepublik gelten kann, Hans Magnus Enzensberger, 2007 im Nouvel Observateur feststellte, dass er lediglich ein Ethnologe, ein teilnehmender Beobachter der 68er-Bewegung, gewesen sei1, war das für einige deutsche Feuilletons eine probate Gelegenheit, ihn mit einigen seiner Äußerungen aus der Zeit der Anti-Notstandsbewegung zu konfrontieren. Und siehe da: Der Enzensberger vom Mai 1968 war alles andere als ein distanzierter Beobachter; sondern klang damals eher nach einem Mann, der sich an die Spitze einer Bewegung stellen wollte. Auf einer Protestveranstaltung im Sendesaal des Hessischen Rundfunks, auf die noch zurückzukommen sein wird, hatte er erklärt: »Die Lehre ist klar: Bedenken sind nicht genug. Mißtrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser Ziel muß sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände!«2 Er forderte also, dass »französische Verhältnisse« – im Nachhinein als der »Pariser Mai« tituliert – auf die Bonner Republik übertragen werden sollte. Für die Süddeutsche Zeitung etwa gilt Enzensberger nun als der Mann, der nur so tat, als ob. Vielleicht ist dieses »Als ob« ja überhaupt eine zutreffende Beschreibung des Intellektuellen. Der Anstoß, Notstandsgesetze einzuführen, war bereits Ende der 1950er Jahre vom damaligen Bundesinnenminister Gerhard Schröder und der Union ausgegangen. Für den Fall, dass ein »äußerer Notstand« (gemeint war der Kriegsfall) oder ein »innerer Notstand« – hier war neben Naturkatastrophen auch an einen Generalstreik gedacht – eintrete, sollten die Grundrechte der Bun-

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desbürger beschnitten und die Bundesregierung mit besonderen Kompetenzen ausgestattet werden. Es werde außerdem erwogen, kündigte Schröder an, für den Verteidigungsfall eine Dienstpflicht zum zivilen Bevölkerungsschutz und eine Bereithaltungsverpflichtung für das beim Zivilschutz erforderliche Personal – etwa Ärzte und Pfleger – einzuführen. Die SPD hatte darauf zunächst mit Zurückhaltung und Misstrauen reagiert. Nicht wenige Sozialdemokraten befürchteten, dass die für den »inneren Notstand« vorgesehenen Maßnahmen einem Machtmissbrauch Tür und Tor öffnen würden. Um die für eine Änderung des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande zu bekommen, ohne die eine Einführung von Notstandsgesetzen nicht möglich gewesen wäre, war die Zustimmung eines erheblichen Teils der SPD-Abgeordneten nötig. Dieser Umstand bedingte die Stärke, zugleich aber auch die Verantwortung und damit die potentielle Angreifbarkeit der SPD. Da der Großteil ihrer Stimmen benötigt wurde, lag es in der Hand der SPD, ob das Gesetzesvorhaben gelingen oder scheitern würde. Schon auf einer Pressekonferenz am 18. Januar 1960 hatte Schröder den Entwurf der Bundesregierung für ein Notstandsgesetz bekanntgegeben. Danach sollte der Bundestag bzw. »bei Gefahr im Verzug« auch der Bundespräsident bei Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler berechtigt werden, den Ausnahmezustand »zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Ordnung des Bundes oder eines Landes« zu verhängen.3 In diesem Fall und für den so definierten Zeitraum solle die Bundesregierung ermächtigt werden, gesetzesvertretende Verordnungen zu erlassen und mit diesen die Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit sowie der Freizügigkeit einzuschränken. Auf Seiten der Linken stieß der Entwurf auf Bedenken. Kritik äußerten Gewerkschaftler, vor allem seitens der IG Metall, eine Reihe von Sozialdemokraten, die schon mit dem Godesberger Programm nicht einverstanden waren, Schriftsteller und Intellektuelle, linke Studenten, aber auch Professoren, insbesondere Juristen und Politikwissenschaftler, die in der öffentlichen Debatte besondere Kompetenzen in die Waagschale werfen konnten. Welches Konfliktpotential in der Frage der Notstandsgesetzge-

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bung lag, hatte frühzeitig auch die SED erkannt. Ihre Abteilung für Westarbeit stellte im November 1965 fest, dass die »Bewegung gegen die Notstandsgesetze […] zur größten und wirksamsten außerparlamentarischen Aktion um politische Forderungen seit Bestehen des westdeutschen Staates« geworden sei.4 Diese Einschätzung erschien zu diesem Zeitpunkt noch etwas gewagt, sollte sich aber in den drei darauffolgenden Jahren uneingeschränkt bewahrheiten. Wie tief die Vorbehalte reichten, zeigte sich vor allem auch an Reaktionen im akademischen Bereich. So veranstaltete der SDS zusammen mit vier anderen Studentenverbänden, darunter dem SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund) und dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) am 30. Mai 1965 in der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität unter dem Titel »Demokratie vor dem Notstand« einen Kongress, an dem mit Karl Dietrich Bracher, Thomas Ellwein, Jürgen Habermas, Helmut Ridder, Jürgen Seifert und dem späteren Bundesinnenminister Werner Maihofer Wissenschaftler durchaus unterschiedlicher politischer Couleur teilnahmen. In seiner Eröffnungsrede hatte der SDS-Bundesvorsitzende Helmut Schauer erklärt: »Hinter verschlossenen Türen haben die Fraktionsvorsitzenden und ihre Experten über eine Änderung des Grundgesetzes der Bundesrepublik beraten, mit der Absicht, das Parlament und selbst die Fraktionen zu bloßen Akklamationsmaschinen zu machen. Das war schon ein akuter Fall des inneren Notstands der Demokratie, mit dem Versuch zur Entmachtung des Parlaments durch einen exklusiven Notstandsausschuß. Wenn Entwürfe zu einer Verfassungsänderung fast wie eine Geheimsache behandelt werden, wird die demokratische Diskussion der Öffentlichkeit zur unmittelbaren Kritik.«5 Die am weitesten reichende Interpretation der Gefahrenlage stammte von dem Rechtswissenschaftler Maihofer, Ordinarius für Rechts- und Sozialphilosophie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. »Der Feind«, erklärte er, »steht in unserem Staate heute weder links noch rechts, sondern in der Mitte: bei jenen halben Demokraten und halben Autokraten, von denen man jedenfalls eines nicht erwarten kann: daß sie die Errungenschaften unserer freiheitlichen rechts- und sozialstaatlichen Demokratie aus Überzeugung und mit Entschlossenheit verteidi-

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gen.«6 Die antidemokratischen Kräfte waren für ihn weder auf Seiten der äußersten Rechten noch Linken auszumachen, sondern – wie er es formulierte – unter den »staatstragenden Kräften«. Wie stark die Bedenken weiter angewachsen waren, zeigte anderthalb Jahre später ein anderer, von der IG Metall finanzierter Kongress in Frankfurt. An der Abschlusskundgebung nahmen am 30. Oktober 1966 auf dem Römerberg mehr als 25.000 Menschen teil. Die Spannbreite der Redner reichte von dem IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner, über den Tübinger Philosophen Ernst Bloch, den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bis zu dem Gießener Rechtswissenschaftler Helmut Ridder. Bloch hatte seine Rede mit den programmatischen Worten begonnen: »Wir kommen zusammen, um den Anfängen zu wehren.« Und sie mit dem Satz beendet: »Die alten Herren mit ihrem Artikel 48 haben bereits die Vergangenheit verspielt, die neuen Herren mit ihrem Notstandsunrecht sollen nicht unsere Zukunft verspielen.«7 Durch Artikel 48 der Weimarer Verfassung war es dem Reichspräsidenten bekanntlich möglich gewesen, im Falle einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorübergehend die wichtigsten »Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft« zu setzen. Am Ende der Weimarer Republik war dieses Notverordnungsrecht dann von den Nationalsozialisten zu diktatorischen Zwecken missbraucht worden. In dieser Parallele, gezogen von einem Mann, der als Philosoph wie als Zeitkritiker eine beinahe unangreifbare Autorität besaß und im Jahr darauf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten sollte, zeichnete sich der Schatten ab, unter dem das Gesetzesvorhaben bis zu seiner Entscheidung stehen sollte. Der Verdacht, dass es dabei in Wirklichkeit um ein Instrumentarium zur Machtergreifung gehe, zu einem kalten, mit den Mitteln des Verfassungsstaates möglich werdenden Putsch, breitete sich immer mehr aus. Insbesondere unter namhaften Staatsrechtlern und Politologen stieß der Notstandsentwurf der Bundesregierung auf erhebliche Bedenken. Beim ersten Notstandshearing im November 1967, das von Fernsehen und Rundfunk direkt übertragen wurde, meldeten Professoren wie Wolfgang Abendroth, Eugen Kogon, Helmut Ridder vor Abgeordneten und Regierungsvertretern in Bonn erhebliche Einwände an.

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Mit Rudi Dutschke trat der wichtigste Protagonist des SDS in dieser Frage entschlossener als alle anderen auf. Er versuchte, alles auf eine Karte zu setzen und sämtliche der APO zur Verfügung stehenden Protest- und Aktionsformen in die Waagschale zu werfen. Auf der 22. SDS-Delegiertenkonferenz im September 1967 hatte er deshalb sogar vorgeschlagen, die zweite und dritte Lesung im Bundestag durch Blockadeaktionen zu verhindern, dafür jedoch keine Mehrheit gewinnen können. Die Delegierten waren offenbar klug genug zu wissen, dass dies bereits an der Bannmeile auf eine ebenso riskante wie überflüssige Konfrontation mit der Staatsmacht hinausgelaufen wäre. Wie nicht anders zu erwarten, spitzte sich die Auseinandersetzung zur zweiten und dritten Lesung im Mai 1968 weiter zu und nahm mitunter turbulente, zuweilen auch dramatische Züge an. Der Konflikt geriet zu einem Tauziehen zwischen einer durch die Mehrheit der SPD erweiterten, freilich von der Union definierten politischen Mitte und einer um Teile der Gewerkschaften, der Studenten- und der Professorenschaft gruppierten linken Minderheit und damit zugleich auch zu einer Art Generaltest für die Politikfähigkeit der APO. Auch einzelne Berufsgruppen machten mobil und schalteten sich ein. So zogen am 8. Mai rund fünfhundert Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter, von denen eine Delegation zuvor von Abgeordneten aller drei im Bundestag vertretenen Parteien zu getrennten Gesprächen empfangen worden waren, durch die Bundeshauptstadt. Auf ihren Transparenten waren Parolen zu lesen wie »1933 Ermächtigungsgesetz – 1968 NS-Verfassung«, »Für das Grundgesetz – Gegen NS-Gesetze« und »Nie wieder: Thron und Altar«. Einen Tag später übten 55 Professoren, denen die FDP ihren Fraktionssaal zur Verfügung gestellt hatte, scharfe Kritik an dem Gesetzesvorhaben. Der Berliner Soziologe Dietrich Claessens meinte, dass jede Notstandsregelung einen »Rückfall in ein archaisches Freund-Feind-Denken« darstelle, und der Kölner Rechtswissenschaftler und spätere Hamburger Justizsenator Ulrich Klug bezeichnete die Regierungsvorlage kurzerhand als ein »ganz elegantes Putsch-Instrument«. Nach wochenlangen Vorbereitungen fand am 11. Mai der mit großer Spannung erwartete »Sternmarsch auf Bonn« statt. An der

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vom Kuratorium »Notstand der Demokratie« organisierten Großdemonstration beteiligten sich mehr als 60.000 Menschen. Unter Parolen wie »Wir sind eine kleine radikale Minderheit«, »Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten« und »Nazi – Kiesinger« zogen die Demonstranten durch die Stadt. Die Demonstration stand jedoch politisch unter einem ungünstigen Stern. Denn zur selben Zeit führte der DGB in der Dortmunder Westfalenhalle eine Parallelveranstaltung gegen die Notstandsgesetze durch. Dadurch war die Protestbewegung an diesem Tag gespalten und der von SDS-Sprechern immer wieder erhobenen Forderung, die Gewerkschaften sollten zum Generalstreik aufrufen, der Wind aus den Segeln genommen. Auf der Großkundgebung im Hofgarten sprachen der Kuratoriums-Sekretär Helmut Schauer, der FDP-Bundestagsabgeordnete Wolfram Dorn, der VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann, der SDS-Bundesvorsitzende Karl Dietrich Wolff, der Gießener Staatsrechtler Helmut Ridder, die beiden Schriftsteller Heinrich Böll und Erich Fried sowie die beiden Gewerkschaftler Georg Benz und Werner Vitt. Im Anschluss daran zog ein Teil der Zuhörer zu einer weiteren Protestkundgebung in die Beethovenhalle. An diesem Tag schien jedoch alles vergeblich zu sein. Die ganzen Anstrengungen, das Protestpotential zu bündeln und am Ort der parlamentarischen Entscheidung noch einmal zu konzentrieren, stießen offenbar ins Leere. Einen Tag vor Beginn der abschließenden Bundestagsdebatte setzten einige linke Intellektuelle schließlich am 28. Mai im Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt eine Art Schlussakkord. Rund zwei Dutzend prominenter Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten traten in einer vom Fernsehen live übertragenen Protestkundgebung gegen das Gesetzesvorhaben auf. In der vom Aktionskomitee »Demokratie im Notstand« organisierten Veranstaltung waren die Professoren Theodor W. Adorno, Ernst Bloch und Alexander Mitscherlich sowie die Schriftsteller Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Rolf Hochhuth und Walter Jens zu hören. Zu Tumulten kam es, als der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein zu einer Generalkritik an dem vom SDS eingeschlagenen Kurs der Notstands-Opposition ansetzte. »Wir müssen uns doch vielleicht fragen«, hielt der liberale Publizist den in den Sendesaal

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eingedrungenen linksradikalen Studenten vor, »warum findet kein Generalstreik hier bei uns statt? Und die Antwort ist einfach: Diejenigen, die streiken sollen, […] sind nicht auf die Straßen zu bringen, um gegen die Notstandsgesetze zu streiken. Diese einfache Antwort müssen Sie sich, bevor Sie über Ihre weiteren Aktionen nachdenken, doch erst einmal zu Gemüte führen […] Machen Sie sich klar, daß Sie nichts bewirken werden ohne die Arbeiter, und zwar gar nichts. Und Ihr Weg die Arbeiter zu gewinnen, ist der falsche. Machen Sie sich das klar. Wir sind so hilflos wie Sie, aber wir wissen es. Sie wissen es noch nicht einmal.«8 Anschließend ging sein Beitrag im Trubel von Pfiffen, Zwischenrufen, Beifalls- und Unmutsäußerungen unter. Nachdem der Moderator Alexander Mitscherlich die Gemüter mehrmals vergeblich zu besänftigen versucht hatte, entschied sich die Regie des Hessischen Rundfunks, die Live-Übertragung vorzeitig zu beenden. Die Protest- und Widerstandsaktionen erlebten in dieser letzten Maiwoche ihren Höhepunkt. Wie bereits während der zweiten so stand auch während der dritten Lesung Frankfurt im Zentrum der bundesweiten Aktivitäten. Nachdem der Akademische Senat sämtliche Lehr- und Prüfungsveranstaltungen abgesagt hatte, um Zusammenstöße zwischen Notstandsgegnern und studierwilligen Studenten zu vermeiden, versammelten sich vor dem Hauptgebäude der Universität 2.000 Studenten. Als erstes besetzten sie das Rektorat und funktionierten es in eine Aktionszentrale um. Am Nachmittag zogen sie wie Tausende von Arbeitnehmern zum Römerberg. Dort forderte das SDS-Bundesvorstandsmitglied Hans-Jürgen Krahl ein letztes Mal zu einer Aktionseinheit zwischen Arbeitern, Schüler und Studenten auf. Er appellierte daran, die Aktivitäten noch einmal zu steigern, um doch noch in letzter Minute die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu verhindern. Dabei bezeichnete er die Gesetze als ein terroristisches Instrument zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in einer offenen ökonomischen und politischen Krise: »Regierung und Bundestag versuchen uns einzureden, die Notstandsgesetze treffen Vorsorge für die Demokratie in Notzeiten. In der Tat, die Notstandsgesetze treffen Vorsorge, aber Vorsorge für einen neuen Faschismus, Vorsorge für Zwangs- und Dienstverpflichtung, für Schutzhaft und Arbeitslager. Die Notstandsgesetze, sagt man uns,

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ergänzen das Grundgesetz. In Wirklichkeit sind sie das Grundgesetz einer zur Zwangskaserne abgeriegelten Gesellschaft; dieser Staat ist bereit, sich selbst zum faschistischen Führer zu machen.«9 Ganz ähnlich äußerte sich der Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli während der zur selben Zeit stattfindenden Besetzung der Frankfurter Universität und ihrer Umbenennung von Johann-Wolfgang-Goethe- in »Karl-Marx-Universität«. Dort versuchte er zunächst der Ansicht entgegenzutreten, dass sich Faschismus und Parlamentarismus zwangsläufig ausschließen müssten: »Die Möglichkeit eines parlamentarischen Faschismus, und d. h., die Möglichkeit eines antidemokratisch gewordenen Parlamentarismus, ist darin begründet, ob es gelingt, das Parlament soweit zu entmachten, daß die eigentlichen Entscheidungsgremien in, wie Pareto sagt, ›nichtöffentlich tagende Eliten‹ verlegt und die Entscheidungen von Masseneinflüssen freigehalten werden. Gelingt dieser entscheidende Schritt, und für Pareto ist das der eigentliche Kern eines modernen bürgerlichen Staates, so muß allerdings für die demokratisch freigesetzten Impulse der Bevölkerung immer ein Auffangorgan vorhanden sein, und dieses Auffangorgan ist das Parlament.«10 Aus dieser Sicht bestand die Aufgabe des Parlaments in nichts anderem als darin, einen Raum für die Fiktion einer Volksherrschaft zu schaffen. Die Parlamentarismuskritik hatte innerhalb der außerparlamentarischen Linken ohnehin eine zentrale Rolle gespielt. Die Funktionsfähigkeit der Volksvertretung war zur selben Zeit aber auch von namhaften Vertretern der Politikwissenschaft in Zweifel gezogen worden. Die Rede war, wie Wilhelm Hennis im Anschluss an die Bundestagswahlen 1965 formuliert hatte, von einem regelrechten »Prozeß der Entmachtung und Entleerung des Bundestags«11, von einer zunehmenden Entkoppelung von Legislative und Exekutive. Die politischen Entscheidungen fielen – wie es in meist unausgesprochener Anknüpfung an Carl Schmitts Diagnose vom Beginn der Weimarer Republik hieß12 – außerhalb der Volksvertretung, im Kabinett, den Einzelministerien, speziellen Ausschüssen oder anderen staatlichen Organen. Das Parlament, hieß es weiter, reduziere sich auf ein bloßes Akklamationsinstrument der Regierung, es verwandle sich zum rhetorischen Beiwerk einer kaum zu kontrollierenden Machtpolitik.

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Mit seinem 1967 erschienenen Traktat Die Transformation der Demokratie hatte Agnoli eine offenbar zeitgerechte Radikalkritik der Bonner Demokratie vorgelegt, die weit über die APO hinaus als autoritative Begründung der außerparlamentarischen Opposition rezipiert und in der Folge in gewisser Weise kanonisiert worden war.13 Sein Buch wurde gar als »Bibel der außerparlamentarischen Opposition« bezeichnet.14 Die demokratischen Parteien, Verfassung und Staat entwickelten sich, so lautete im Kern sein Vorwurf, in autoritär orientierte vor- oder antiparlamentarische Formen zurück. Agnoli bezeichnete diesen Prozess als »Involution«. Das Instrumentarium des Verfassungsstaates werde unter Beibehaltung seiner Normen verfeinert und im Dienste der Kapitalinteressen weiter perfektioniert. Das politische System nehme in der Folge in immer stärkerem Maße die Form eines korporatistischen Blocks an. Nicht mehr die offene Austragung gegensätzlicher Interessen sei angesagt, sondern das möglichst reibungslose Einfinden in staatliche Regelungsprozeduren. Der Antagonismus der Klassengesellschaft reduziere sich auf die scheinhafte Pluralität von Parteien, die in Wirklichkeit jedoch wie nach dem Muster einer Einheitspartei funktionierten. Aus Klassen- seien Volksparteien geworden, deren Konkurrenzgebaren immer mehr zum Schein werde. Und das Parlament, die eigentliche Krone der westlichen Demokratien, spiele »dem demos gegenüber« die Rolle eines »Transmissionsriemens der Entscheidungen politischer Oligarchien«.15 Damit löse sich die ursprünglich am Marktmodell orientierte parlamentarische Demokratie nicht einfach auf, sondern transformiere sich ohne Bruch ihres formal rechtsstaatlichen Selbstverständnisses in Organe eines autoritären Staates. Agnolis Analyse fügte sich so gut in ihre Zeit ein, weil sie unter den Rahmenbedingungen der Großen Koalition und auf dem Höhepunkt des Konflikts um die Einführung der Notstandsgesetze eine suggestive Qualität besaß. Sie legte nahe, dass gegen die angeblich drohende Gefahr eines »neuen Faschismus« nur der Klassenkampf eine wirksame Gegenwehr darstelle. Wenngleich er in seinem Text »nur« von »Fundamentalopposition« sprach, so hielt er in Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition nicht nur den Klassenkampf für den ersten Schritt zur Verwirklichung von Demokratie, sondern

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unter bestimmten Voraussetzungen auch den Umschlag von einer außerparlamentarischen Opposition »in einen offenen antiparlamentarischen Kampf« für denkbar und wünschenswert.16 Bei keinem anderen Theoretiker der APO ließen sich Antiparlamentarismus und Antistaatlichkeit so genau zurückverfolgen. Alle Protestanstrengungen erwiesen sich schließlich als vergeblich. In namentlicher Abstimmung verabschiedete der Bundestag am 30. Mai wie erwartet die Notstandsverfassung und die Notstandsgesetze. Das Ergebnis lautete: 384:100 Stimmen. Gegen das Gesetzesvorhaben hatten 53 Abgeordnete der SPD, 46 der FDP und einer von der CDU votiert. Nach der Notstandsverfassung waren nun die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, der Einsatz der Bundeswehr zur Bekämpfung von Aufständen im Inneren, eine Dienstverpflichtung von männlichen Bundesbürgern, Eingriffe in die Länderhoheit im Spannungs- und Verteidigungsfall sowie verschiedene Möglichkeiten zur Einschränkung der Legislative möglich. Die sogenannten einfachen Notstandsgesetze sollten die Versorgung der Bevölkerung im Kriegsfall und den Zivilschutz regeln. Mit dem Inkrafttreten der das Grundgesetz ergänzenden Notstandsverfassung erloschen auch die im Deutschlandvertrag geregelten alliierten Sicherheitsvorbehalte. Die Westmächte hatten erst drei Tage zuvor verlauten lassen, dass sie bei einer Verabschiedung der Gesetze auf ihre Vorbehaltsrechte verzichten würden. Das Ergebnis der Grundgesetzänderung war vielen Befürchtungen zum Trotz anders ausgefallen: »Sie unterschied sich deutlich von den ersten Gesetz-Entwürfen, die Schröder und Höcherl vorgelegt hatten. So geht die verabschiedete Notstandsverfassung von einer Differenzierung zwischen Spannungszeit, innerem Notstand und Verteidigungsfall aus, der jeweils abgestufte Vorgehensweisen von Regierung und Parlament entsprechen; der Eintritt des Spannungsfalls kann nur durch Zweidrittelmehrheit des Bundestages beschlossen werden; erst im Verteidigungsfall hat der Gemeinsame Ausschuss als Notparlament Gesetzgebungsbefugnis; schon in einem früheren Beratungsstadium waren das Notverordnungsrecht der Regierung sowie zahlreiche Eingriffe in den Grundrechtskatalog gefallen.«17 Auch wenn sich im Katalog der konkreten Notstandsgesetze eine Reihe nicht ganz unproblema-

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tischer Regelungen fanden (etwa die Möglichkeit, die Bundeswehr über den bloßen Objektschutz hinaus im Innern einzusetzen und in das Post- und Fernmeldegeheimnis einzugreifen), so fiel die Bilanz doch weitaus günstiger aus. Ein Missbrauch, so stellte der Historiker Michael Schneider knapp zwanzig Jahre später fest, könne zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden, einer »Machtergreifung«, wie von der APO und zahlreichen Kritikern befürchtet wurde, wäre damit jedoch wohl kaum Vorschub geleistet worden. In Wirklichkeit habe die Gesetzesnovellierung zentralen Anforderungen »an eine dem demokratischen Rechtsstaat angemessene gesetzliche Vorsorge für unterschiedliche Krisenfälle« entsprochen.18 Dass dieses Ergebnis so ausgefallen ist, lässt sich – obwohl dies von kaum einem ihrer Sprecher oder Akteure so gesehen worden ist – auch als ein Teilerfolg der APO begreifen. Die Wellen ihrer Proteste führten, verbunden mit der Expertenkritik ihrer Sachverständigen im Detail, zu erheblichen Veränderungen. Die größten Gefährdungen, die im Falle der ersten Gesetzesentwürfe durchaus nicht von der Hand zu weisen waren, konnten schrittweise entkräftet werden. Es hat insofern durchaus eine Form der Interaktion zwischen den innerparlamentarischen Befürworten des Gesetzesvorhabens und seinen außerparlamentarischen Gegnern gegeben. Eine Kommentatorin, die diesen Teilerfolg bereits im Frühjahr 1967 erkannt hatte, war erstaunlicherweise die spätere RAFMitbegründerin Ulrike Meinhof. In einer ihrer monatlichen konkret-Kolumnen hatte sie zum modifizierten dritten Entwurf der Notstandsverfassung geschrieben: »Was jetzt vorliegt, ist ein Kompromiß, dem Schröder schon nicht mehr zugestimmt hat, ein Beispiel durchaus für die Einflußmöglichkeiten einer außerparlamentarischen Opposition. Was jahrelang unverzichtbar schien, ist unter den Tisch gefallen. […] All diese ›Abschwächungen‹ stellen durchaus eine Ermutigung dar, die Auseinandersetzung weiterzuführen, am Beispiel der Notstandsgesetze für den Bestand der bundesdeutschen Demokratie einzutreten, die Attacken der Regierung auf das Freiheitsprinzip des Grundgesetzes schließlich noch vollständig zu verhindern.« Auch wenn es sich bei der Liberalisierung der Notstandsverfassung um einen »Pyrrhussieg der Linken« handle, so hätten die Notstandsgegner durchaus einen Grund, sich »ein bißchen darüber zu freuen«.19

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Die APO und die 68er-Bewegung insgesamt besaßen jedoch keinen Sinn für derartige Teilerfolge. Ihnen ging es um alles oder nichts. Der Verfassungsstaat wurde samt seiner Institutionen dämonisiert. In der Zuspitzung des gegen die Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie erhobenen Faschismusvorwurfs zeichnete sich eine Aufladung der außerparlamentarischen Bewegung von einer geradezu existentiellen Verve ab. Um einen angeblich drohenden »neuen Faschismus« zu verhindern, der durch die mit der Notstandsverfassung neu geschaffenen Instrumente der Exekutive überhaupt erst möglich werden würde, reichten die für eine Opposition üblichen politischen Handlungsformen immer weniger aus – es bedurfte einer gezielten revolutionär anmutenden Anstrengung, für die das Format der APO unpassend erschien. Kompromisse waren demgegenüber verschmäht worden. Sie wurden als rein taktisches Instrument des politischen Gegners angesehen und galten deshalb in den eigenen Reihen als unfreiwilliges Eingeständnis einer Kapitulation. Dem harten Kern der Notstandsgegner ging es vermutlich auch gar nicht darum, die in den ersten beiden Entwürfen vorhandenen Risiken zu entschärfen und damit die Gefährdungen der Demokratie zu vermeiden. Das Gesetzesvorhaben bot stattdessen eine probate Gelegenheit, den Verfassungsstaat als solchen anzugreifen und auf diesem Terrain die Systemfrage zu stellen. Aus dieser Perspektive dürfte der Kampf um die Notstandsgesetze eher ein Vehikel für andere, revolutionäre Absichten gewesen sein. Die Befürchtung, dass die neuen Gesetze missbraucht werden könnten, erwies sich jedenfalls als gegenstandslos. Die APO, die kaum etwas unversucht gelassen hatte, um die Furcht vor der Gesetzesinitiative der Großen Koalition zu steigern, stieß damit ins Leere. Sie rannte gegen ein Phantom an. Das Phantom besaß einen Namen, es lautete »neuer Faschismus«. Es war quicklebendig und geisterte in den Jahren darauf weiter umher. Es verlor zwar stetig an Bedeutung für die Aktivisten einer Bewegung, wirkte aber umso nachhaltiger ein auf die Mitglieder und Anhänger einer terroristischen Sekte, der RAF. Ein »neues 33« war weder 1968, 1969, 1970 noch in irgendeinem Jahr danach zustande gekommen. Eine erneute »Macht-

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ergreifung« blieb nicht nur aus, der Gedanke daran erscheint – je größer der zeitliche Abstand gewachsen ist – als hypertroph. Weder in der sozialliberalen oder christlichliberalen noch in der rot-grünen Ära ist eine Regierung auf die Idee gekommen, sich auf das Gesetzeswerk zu berufen und von irgendeinem der neuen Artikel Gebrauch zu machen. Der innere Notstand ist ebenso wenig wie der äußere erklärt worden. Die Exekutive hat ihre Handlungskompetenzen mit Ausnahme der Zeit des sogenannten Deutschen Herbstes, in der die Bundesregierung die Politik eines nicht erklärten Notstandes praktizierte, nie über Gebühr auszubauen versucht.

Resümee Vier Jahrzehnte später drängt sich die Frage auf, ob das Misstrauen gegenüber dem Staat, das seinerzeit so viele Intellektuelle umgetrieben und noch mehr Demonstranten auf die Straßen getrieben hat, nicht eher ein Zeichen von Hysterie war? Woher rührte eigentlich die Suggestivität, die von einer Planung für den Notstandsfall ausging? Ganz sicher kann man dafür keine monokausale Erklärung anführen. Jedoch lassen sich einige Faktoren benennen. 1. Die Gefahren einer subkutan wirksamen Kontinuitätslinie, die vom Nationalsozialismus in die Nachkriegsdemokratie führte, schienen sich durch die Personalpolitik des neuen Staates zu bestätigen. Die Tatsache, dass die Initiative zur Notstandsgesetzgebung mit Gerhard Schröder (CDU) von einem Mann ergriffen wurde, der Mitglied der NSDAP und der SA war, dass mit Kurt Georg Kiesinger der Bundeskanzler ebenfalls Parteimitglied war und es bis zum stellvertretenden Leiter der »Rundfunkpolitischen Abteilung« im Reichsaußenministerium unter Ribbentrop gebracht hatte, schien als weiterer Beleg für derartige Gefährdungspotentiale zu gelten. Diese Negativ-Identifizierung abstrahierte jedoch von den Gegebenheiten des bundesdeutschen Rechtsstaates und erwies sich bei genauerer Betrachtung als Ausdruck einer personalistischen Verkürzung. 2. Die Maßstäbe der Kritik wurden zumeist von Angehörigen

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einer Generation formuliert, die als Wissenschaftler und Intellektuelle den Nationalsozialismus nicht nur erlebt, sondern überlebt hatten. Die Tatsache, dass sich etwa jüdische Remigranten wie Adorno und Bloch oder ein ehemaliger Widerstandskämpfer wie Wolfgang Abendroth vor die Anti-Notstands-Bewegung stellten, spielte eine kaum zu überschätzende Rolle. Als NS-Überlebende verkörperten sie auf exemplarische Weise etwas vom Schicksal linker Intellektueller und vermittelten der Kritik an dem Gesetzesvorhaben eine besondere Form der Autorität. Sie bildeten eine lebensgeschichtliche Brücke zwischen zwei Generationen. 3. Die Quintessenz der politischen Analyse wurde jedoch nicht von ihnen, sondern von zwei weitaus Radikaleren, bemerkenswerterweise ehemaligen Rechten, gezogen, die nun meinten, sich an die Spitze einer antistaatlichen Bewegung stellen zu können. Es waren dies der frühere italienische Jungfaschist Johannes Agnoli, der 1967 zum führenden Theoretiker der APO avancierte, und das ehemalige Mitglied des Ludendorffbundes Hans-Jürgen Krahl, der seit 1966 als führender Kopf des Frankfurter SDS galt. Beide waren überzeugt, dass sich die Bundesrepublik mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze in einen autoritären Staat verwandle. In Krahls Worten hieß das: »Autoritärer Staat bedeutet, und das aktualisiert sich mit den Notstandsgesetzen, daß die Demokratie ohne politisch rechtlichen Legitimationsbruch in den Ausnahmezustand übergehen kann. Man kann ja demokratische Instanzen, etwa das Parlament, nicht nur terroristisch zerschlagen, sondern auch manipulativ ins Instrumentarium der autoritären Exekutive integrieren.«20 Agnoli und Krahl vertraten die Ansicht, dass der Staat damit den Faschismus als Handlungsoption für Krisenzeiten inkorporiert hätte. Der Rechtsstaat war in ihren Augen nicht mehr als ein trügerisches Gehäuse, in dem ein künftiger Faschismus lauerte. 4. Angesichts derartiger Bedrohungsszenarien konnte es nicht überraschen, wenn linke Intellektuelle die Überzeugung hegten, sie müssten innerhalb der Anti-Notstands-Bewegung eine besondere Rolle übernehmen. Für ein Wirksamwerden der außerparlamentarischen Opposition schien eine Koalition zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung, genauer dem SDS und der IG Metall, von zentraler Bedeutung zu sein. Daher hatten prominente

Die Furcht vor einem »neuen 33«

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Frankfurter Wissenschaftler in der Schlussphase der Protestbewegung so etwas wie das Zünglein an der Waage zu spielen versucht. Am 20. Mai 1968 hatten sich Adorno, Fetscher, Friedeburg, Habermas und Mitscherlich zusammengetan und Otto Brenner aufgesucht, um ihn in letzter Sekunde von der Notwendigkeit eines Bündnisses zu überzeugen. Dieser Versuch scheiterte jedoch ebenso wie die denkwürdige Veranstaltung acht Tage später im Sendesaal des Hessischen Rundfunks, bei der die wichtigsten Vertreter der linksliberalen Intelligenz noch einmal zusammengekommen waren, um den vermeintlichen Anfängen zu wehren. Das Scheitern dieser Vorstöße hatte allerdings nicht nur Enttäuschung zur Folge. Um auf politische Prozesse innerhalb des Staates Einfluss zu nehmen, gab es noch andere Optionen. Mit Ludwig von Friedeburg wurde einer aus der Besuchergruppe bei Brenner anderthalb Jahre später im hessischen Landeskabinett Minister. Um herauszufinden, dass er in dieser neuen Rolle als Bildungsreformer ebenfalls zum Scheitern verurteilt war, benötigte er allerdings wesentlich länger, genau genommen ein halbes Jahrzehnt. Dies war für ihn, wie er 1975 eingeräumt hat, kaum weniger ernüchternd als der Misserfolg vom Mai 1968.

Anmerkungen 1 »1968 galt ich als Enfant terrible der Linken. Das ist ulkig, denn in diesem Jahr war ich zehn Jahre älter als die militanten Linksextremen aller Mikroorganisationen. Ich hatte Teil an dieser Bewegung, die die Sitten erschütterte und die in Deutschland zwanghafte Autoritätsfrage ins Zentrum der Debatte rückte. Die Ethnologen sprechen von ›teilnehmender Beobachtung‹. In genau dieser Haltung war ich in der Bewegung dabei. Ich war Beobachter. Ich habe die meisten der späteren deutschen linksextremen Terroristen gekannt. Sie wollten mich anwerben. Ich versuchte, sie als Marxist zur Vernunft zu bringen: ›Eure Analyse ist wahnsinnig. Es stimmt nicht, es gibt keine revolutionäre Lage. Lernt die Geschichte.‹ Aber sie waren in einem Teufelskreis gefangen.« (Hans Magnus Enzensberger, zitiert nach: Gilles Anquetil / François Armanet, Les débats de l ’ Obs. Le plaisir de dire non, in: Le Nouvel Observateur vom 20. 9. 2007.). 2 Süddeutsche Zeitung vom 26. 9. 2007. 3 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 20. 1. 1960, S. 97–100.

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4 SED / Westabteilung, Konzeption und Maßnahmeplan zur Weiterführung des Kampfes gegen die Notstandsgesetze, 15. November 1965, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-DDR), DY / IV A2 / 2.028, Aktenband Nr. 4.2, S. 1. 5 Helmut Schauer, Eröffnung des Kongresses, in: Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (Hg.), Demokratie vor dem Notstand – Protokoll des Bonner Kongresses gegen die Notstandsgesetze am 30. Mai 1965, Sonderheft der Zeitschrift neue kritik, Frankfurt / M. 1965, S. 5. 6 Werner Maihofer, Die Demokratie vor dem Notstand, in: ebd., S. 11. 7 Diese Zeit läßt uns keine Zeit mehr. Rede von Professor Ernst Bloch, in: Deutsche Volkszeitung vom 11. 11. 1966, 14. Jg., Nr. 46, S. 11. 8 Der Spiegel vom 10. 6. 1968, 22. Jg., Nr. 24, S. 34. 9 Hans-Jürgen Krahl, Römerbergrede, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt / M. 1971, S. 151. 10 Johannes Agnoli, Autoritärer Staat und Faschismus, in: Detlev Claussen / Regine Dermitzel (Hg.), Universität und Widerstand. Versuch einer politischen Universität in Frankfurt, Frankfurt / M. 1968, S. 48. 11 Wilhelm Hennis, Haben wir ein faules Parlament? Wünsche an den neuen Bundestag – Die Reform ist unausweichlich, in: Die Zeit vom 22. 10. 1965, S. 7. 12 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München / Leipzig 1923. 13 Johannes Agnoli / Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, West-Berlin 1967. 14 Rudolf Walther, Vom Bewunderer Mussolinis zum Wortführer der APO, in: Die Zeit vom 31. 12. 2004. 15 Agnoli / Brückner, Die Transformation der Demokratie, S. 68. 16 »Es kann aber im Verlauf bestimmter politischer Prozesse zu einem Umschlag der außerparlamentarischen Opposition in einen offenen, antiparlamentarischen Kampf kommen […], sofern Parlamente trotz demokratischer Wahlakte, aus denen sie hervorgehen, antidemokratisch funktionieren, muß der Kampf für die Demokratie in antiparlamentarischer Praxis geführt werden.« (Johannes Agnoli, Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition, in: Neue Kritik, 9. Jg., 1968, Nr. 47, S. 31.) 17 Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958–1968), Bonn 1986, S. 273. 18 Ebd., S. 274. 19 Ulrike Marie Meinhof, Der dritte Entwurf, in: konkret, Nr. 4, April 1967, S. 2. 20 Hans-Jürgen Krahl, Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates, in: ders, Konstitution und Klassenkampf, S. 234.

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Verunsicherte Demokratisierer »Liberal-kritische« Hochschullehrer und die Studentenrevolte von 1967 / 68

»Es gehört heute weniger Mut dazu, mit roten Fahnen und LeninBildern über den Westberliner Kurfürstendamm zu ziehen, als sich, etwa vor einer studentischen Versammlung, als Liberaler zu bekennen.«1 Das schrieb der junge Zeit-Journalist Kai Hermann in einem seiner zeitgenössischen Kommentare zur Studentenbewegung und versuchte sich damit an der Deutung eines der intellektuell interessantesten Beziehungsgeflechte, das aus den tektonischen Verschiebungen der geistig-politischen Landschaft Ende der 1960er Jahre hervorging. »Das unverbindlichste aller politischen Bekenntnisse«, meinte der Berlin-Korrespondent der liberalen Wochenzeitung, »ist über Nacht zur Provokation geworden […]. Eine formal liberal verfasste Gesellschaft scheint ihre letzten Repräsentanten zum Teufel zu wünschen. Für die Rechten sind sie die Fellow-Travellers des Umsturzes, für die revolutionäre Linke die Inkarnation eines inhumanen Systems und zugleich dessen gefährlichste Strategen. Wer sie und was sie wirklich sind, scheinen die Liberalen selber nicht mehr genau zu wissen.«2 In der Tat: Viele von den so genannten »liberalen Kritikern«, wie es im zeitgenössischen Diskurs hieß, wurden durch die Herausforderung der Studentenrevolte und einer plötzlich wirkmächtig werdenden »Kritischen Theorie« fundamental verunsichert. Eigentlich hatten sie sich doch als im besten Sinne fortschrittlich verstanden, hatten sich zu jenen vorwärtsstrebenden Kräften gezählt, die nunmehr seit Jahren schon mit aufklärerischem Impetus und einer der praktischen Vernunft verschriebenen politischen Bildungsarbeit eine obrigkeitlichen Traditionen verhaftete Gesellschaft in eine liberaldemokratische umzuwandeln versuchten, die also, überspitzt formuliert, dem »Wirtschaftswunder« ein »Demokratiewunder« folgen lassen wollten.3

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Konfrontiert mit der Studentenbewegung, fanden sie sich urplötzlich im konservativen, ja »reaktionären« Lager wieder. Beispiele dafür sind Legion. Man denke nur an die beiden am OttoSuhr-Institut wirkenden Remigranten Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die auf weite Teile der »liberal-kritischen« Intelligenz großen Einfluss ausübten. Es war, wie Fraenkel im September 1967 bekannte, »nicht ganz leicht«, sich an die »ungewohnte Rolle« des »Konservativen« und »Reaktionärs« zu gewöhnen. Schließlich hatte er sich, wie er betonte, »fast ein halbes Jahrhundert«, also »vor, während und nach der Nazizeit«, »für die rechtsstaatliche Demokratie eingesetzt«.4 Bis zu dem Zeitpunkt, als Herbert Marcuses Liberalismuskritik unter Studenten eine ungeahnte Resonanz fand, galt eine solche Haltung gemeinhin gerade nicht als »reaktionär«, sondern ganz im Gegenteil als fortschrittlich – »liberal-kritisch« eben. Doch was genau verstand man eigentlich unter »liberal-kritisch«, bevor das geistig-kulturelle Erdbeben von 1967 / 68 die politische Landschaft erschütterte? Wie kann man das, was Hermann »das unverbindlichste aller politischen Bekenntnisse« nannte, bei aller inneren Heterogenität liberalen Denkens im Grundsätzlichen und seiner bisweilen irritierenden Anschlussfähigkeit für sozialistische und konservative Ideen zeitgeschichtlich näher fassen? Weiterhelfen könnte hier der ursprünglich aus dem US-amerikanischen Zusammenhang des New Deal stammende Begriff des Konsensliberalismus. Von den transfergeschichtlichen Studien des Tübinger Westernisierungsprojekts in den Forschungsdiskurs zur bundesrepublikanischen Ideenlandschaft eingeführt, charakterisiert er ein pragmatisch-pluralistisches Denken, das am parlamentarischen Kompromiss ebenso wie am sozialreformerischen Fortschritt orientiert ist, totalitarismustheoretisch grundiert und mit einer prononciert antikommunistischen Tendenz ausgestattet.5 In der Nachkriegszeit bezog der Konsensliberalismus seine Plausibilität und Durchsetzungskraft denn auch nicht nur aus der Katastrophe des jüngst vergangenen Nationalsozialismus, sondern vor allem aus der binären Codierung des sehr gegenwärtigen Kalten Krieges. Er kann daher, wie Michael Hochgeschwender vor kurzem noch einmal verdeutlicht hat, als »Fundamentalideologie von Westlichkeit« gelten.6 Zur Zeit der »Weltanschauungskämpfe

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der 1950er und 1960er Jahre« wirkte die konsensliberale Ideologie als »kohärenteste Alternative zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts«.7 In den Vereinigten Staaten erlangte sie den Höhepunkt ihrer kulturellen Hegemonie zu Beginn der 1950er Jahre, der Hochphase des Kalten Kriegs und zugleich eines US-amerikanisch dominierten Begriffs vom Westen.8 Was hat das nun mit der Bonner Republik zu tun? Die schon erwähnten Studien aus dem Umkreis des Tübinger Westernisierungsprojekts konnten zeigen, über welche Kanäle, will sagen: institutionelle Träger und intellektuelle Netzwerke, sich das konsensliberale Denken unter westdeutschen Eliten ausbreitete. Eine Schlüsselrolle spielten hier vor allem Remigranten, die sich vormals im Kosmos sozialistischer und kommunistischer Weltanschauungen bewegt hatten, bevor sie sich im US-amerikanischen, aber auch britischen Exil der Ideenwelt des Konsensliberalismus öffneten. Wieder können hier Fraenkel und Löwenthal als Beispiele dienen, die vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien einflussreiche Betrachtungen über das Verhältnis von »Deutschland und [den] westlichen Demokratien« anstellten.9 Doch rekrutierten sich transatlantische Mediatoren konsensliberalen Denkens vor allem auch aus jener Altersgruppe, die Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre erst im Begriff war, sich beruflich zu etablieren. Zwischen 1921 und 1932 geboren, waren sie zunächst der Indoktrinierungsmaschinerie des NS-Regimes ausgesetzt, um dann, wie Rolf Schörken formuliert, den Zusammenbruch des »Dritten Reiches« mit der »Aufmerksamkeit der Heranwachsenden« zu erleben.10 Aus dieser Erfahrung wuchs eine tiefe Skepsis gegenüber allem Totalitär-Übersteigerten und eine große Offenheit gegenüber der liberalen Gedankenwelt, die in der Regel als »unideologisch« und wirklichkeitsnah erschien, weil sie »praktischer Vernunft« verpflichtet blieb. Zu dieser Alterskohorte, die seit einigen Jahren unter dem Begriff der »45er-Generation« diskutiert wird, gehörten beispielsweise der Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher (geb. 1922), der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer (1928–2005) und der Soziologe Erwin K. Scheuch (1928–2003).11 Ursprünglich der »liberal-kritischen« Intelligenz angehörend,

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sollten sie, ähnlich wie Fraenkel und Löwenthal, sich nach der Studentenrevolte in der neuen Formation liberalkonservativer Intellektueller wiederfinden. Sie alle prägte ein entschiedenes Bekenntnis zur Staatsform der, wie sie mit Fraenkel sagten, »westlichen Demokratien«. Dieses Bekenntnis beruhte nicht nur auf der Erfahrung von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg, sondern auch auf dem direkten Kontakt mit der politischen Kultur der Vereinigten Staaten. Bracher begann sich in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager mit den »Katastrophen der Zeitgeschichte« auseinanderzusetzen.12 Nach seiner Promotion in Tübingen ging er 1949 zurück in die USA, wo er in Harvard an einem PostdocProgramm teilnahm, um sich dann ein Jahr darauf dem neu gegründeten Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft an der FU Berlin anzuschließen. In diesem Arbeitszusammenhang entstand seine große Weimar-Studie über das »Problem des Machtverfalls in der Demokratie«.13 Hier traf Bracher auch mit dem von ihm so bewunderten Ernst Fraenkel zusammen. Der sechs Jahre jüngere Kurt Sontheimer, der im Zweiten Weltkrieg als Flakhelfer gedient hatte, ging 1951 / 52 als Austauschstudent an die Universität von Kansas. Sein Auslandsaufenthalt fiel damit in jene Zeit, als der von den USA massiv geförderte deutsch-amerikanische Kulturaustausch seinen Höhepunkt erreichte.14 Wie Bracher habilitierte sich Sontheimer mit einer Arbeit zur Weimarer Republik, um dann 1962 an das Otto-Suhr-Institut berufen zu werden, an dem er, wie sein Schüler Wilhelm Bleek schreibt, »die kollegiale Nähe zu […] Fraenkel und […] Löwenthal [genoss]«.15 Der dritte im Bunde, Scheuch, scheint vielleicht auf den ersten Blick etwas aus der Reihe zu fallen. Bekanntlich war er weder Zeithistoriker noch Politikwissenschaftler, sondern Soziologe – und damit Vertreter des zweiten großen Modefachs der 1960er (und 1970er) Jahre. Doch gehörte er zusammen mit Bracher und Sontheimer zu den öffentlichkeitswirksamsten liberalen Hochschullehrern seiner Generation und griff, nicht selten Seite an Seite mit den beiden Politologen, in das gesellschaftspolitische Geschehen ein. So engagierte er sich mit Bracher gegen die Notstandsgesetze und veröffentlichte mit Sontheimer den Aufsatzband Der Überdruss an der Demokratie, der in Reaktion auf die Studentenrevolte entstand.16 Scheuch hatte von den dreien vielleicht

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sogar das innigste Verhältnis zu den USA. Ein Jahr früher als Sontheimer ging er als Student in die Vereinigten Staaten, machte dort seinen ersten Abschluss und heiratete eine amerikanische Kommilitonin. 1959 / 60 war er Stipendiat der Rockefeller Foundation und erhielt kurze Zeit später einen Ruf nach Harvard, wo er sich der politischen Soziologie zuwandte. 1964 folgte der gebürtige Kölner einem Ruf an die Universität seiner Heimatstadt, wo er sich zunächst empirischen Sozialforschungen zu Wählerverhalten und extremistischen Bewegungen widmete.17 So unterschied sich Scheuch zwar methodisch, nicht unbedingt aber im Themengebiet von den beiden geistesgeschichtlich orientierten Zeithistorikern Bracher und Sontheimer. Davon abgesehen war auch Scheuch die Analyse extremer Ideologien nicht fremd, wie an seinen Schriften zur Neuen Linken unschwer zu erkennen ist. Die Ideologie aber, die sich vor der Neukodierung des politischen Feldes durch die Studentenbewegung im Fadenkreuz der hier diskutierten Geistes- und Sozialwissenschaftler befand, war eine ganz andere: die »deutsche Sonderideologie« vom Staat.18 Vor dem eben skizzierten biographischen Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Wissenschaftler von der Überlegenheit des »westlichen«, insbesondere des amerikanischen und britischen Wegs in die Moderne zutiefst überzeugt waren. Die Ursachen für die »deutsche Katastrophe« wurden vorwiegend in spezifisch deutschen Traditionen gesehen, weniger in einer gemeineuropäischen Krise der Moderne während der Zwischenkriegszeit. Aus diesem Geschichtsbild, welches das konsensliberale Denken nationalspezifisch unterfütterte, ergab sich eine betont kritische Einstellung gegenüber dem Staat und eine besondere Wachsamkeit vor dem Wiederaufleben antidemokratischer Traditionen. Allzu sehr nur war man sich der Persistenz mentaler Strukturen bewusst, verfolgte man doch das »deutsche Sonderbewusstsein«, die verhängnisvolle Konfrontation von »westlicher Demokratie und deutschem Staat« bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück.19 Wie Bracher Ende 1967 mit Rekurs auf die geplante Notstandsgesetzgebung postulierte, konnte es für die Stabilisierung eines modernen Staates wie der Bundesrepublik nur eine Strategie geben: »mehr Demokratie mit vielschichtiger Partizipation der Bürger«, oder anders gesagt: »Demokratisierung des Staates«. Für

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die Politikwissenschaft, die Bracher nicht nur als Wissenschaft von der Demokratie, sondern auch als »Wissenschaft für die Demokratie« verstand, ergab sich aus der Demokratisierungsmaxime die gesellschaftliche Verpflichtung, durch »kritische, aufklärende Arbeit« darauf hinzuwirken, dass »anstelle einer verbrauchten […] National- und Staatsideologie obrigkeitlicher Prägung ein gesellschaftlich offenes, entschieden demokratisches, nicht länger unpolitisches Staatsverständnis Gemeingut« würde.20 Das war die Quintessenz von Brachers politisch-professioneller Position, mit der er sich, wie so viele andere »liberal-kritische« Intellektuelle seiner Generation, an jenem facettenreichen Demokratiediskurs beteiligte, der in der Bundesrepublik Ende der 1950er Jahre einsetzte und im darauf folgenden Jahrzehnt immer intensiver geführt wurde, ja sich schließlich gegen Ende der 1960er Jahre unter Einwirkung radikal-pluralismuskritischer Positionen wie der von Johannes Agnoli polarisieren sollte.21 Die entscheidende Gretchenfrage der Zeit: Nun sag, wie hast du ’ s mit der Demokratie? Oder prosaischer: Was hältst Du von Demokratisierung?, wurde zum Lackmustest, der Auskunft darüber gab, wer man war und wohin man gehörte. Während der Studentenrevolte aber, dieser Zeit fundamentaler Verunsicherung, erzeugte ein solcher Test, das klang beim eingangs zitierten Zeit-Redakteur schon an, eher Konfusion – zumal bei den vormals als »liberal-kritisch« Apostrophierten, die, wie Hermann schrieb, »den alten politischen Standort verloren und einen neuen noch nicht gefunden« hatten.22 Doch auch vor der Studentenrevolte ergab der Test mit der Gretchenfrage mehrdeutige Antworten, existierte doch etwa zwischen dem liberalismuskritischen Habermas und dem »liberal-kritischen« Bracher noch eine politische Schnittmenge, die nach »1968« zusehends kleiner wurde und während der 1970er Jahre fast vollständig zu verschwinden schien. Vor der Revolte teilte Bracher mit linken Intellektuellen nicht nur Staatsskepsis und Demokratisierungspostulat, wenn auch in verschiedener Ausprägung und aus unterschiedlichen Quellen gespeist, sondern auch, das war gewissermaßen die Kehrseite der Medaille, die Besorgnis, dass in der politischen Kultur der »zweiten Republik« die beiden deutschen Untugenden, nämlich Nati-

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onalismus und Etatismus, fröhliche Urständ feierten. An Indizien für so besorgniserregende Tendenzen mangelte es Bracher nicht: Zunächst einmal war da der rasante Aufstieg der NPD; aber auch die Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift wie Der Staat, die, so Bracher, »mit viel Sympathie für Carl Schmitt« Staatsideologie pflege, bereitete ihm Kopfschmerzen.23 Wie zu Weimarer Zeiten, warnte er, würde »der Staat von Demokratie abgehoben, ja ihr vielfach entgegengesetzt«. »Staatsschutz, Staatsbewusstsein, Staatsnotstand« – so lauteten seit einiger Zeit die »Schlüsselworte« der öffentlichen Debatte. Nicht erst die Notstandsdiskussion, schon die vom Schmitt-Schüler Rüdiger Altmann entworfene Vision der »formierten Gesellschaft«, entwickelt für den sich als »unpolitischen Wohltäter« und überparteilichen »Volkskanzler« gerierenden Erhard, zeigte Bracher, dass ein Verständnis vom Staat als »gutorganisiertem, nur auf Effizienz gestelltem Betrieb, in dem jedem auf gut autoritäre Weise der Platz angewiesen« werde, offenbar »immer noch [dem] Staatsideal allzu vieler« entsprach.24 Ende 1967 zog Bracher die ernüchternde Bilanz, dass Deutschlands »antipluralistische Staatstradition«, im deutschen »Sonderbewusstsein« so tief verwurzelt, anscheinend »noch immer populär« war, ja sich sogar in »Intoleranz und Verächtlichmachung missliebig-andersdenkender Minderheiten« äußerte.25 Welche Gruppe er hier vor allem im Sinn hatte, als er von »missliebig-andersdenkenden Minderheiten« sprach, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Am 9. Juni desselben Jahres hatte er die Art und Weise, wie die Polizei gegen die Anti-Schah-Demonstranten vom 2. Juni vorging, expressis verbis als »bewussten Terror gegen Andersdenkende« bezeichnet. Von den Bonner Professoren hatte er es übernommen, bei der vom AStA organisierten Trauerfeier eine Rede anlässlich der Erschießung Benno Ohnesorgs zu halten.26 Nicht nur der Polizeieinsatz an sich, sondern vor allem die »autoritären Verschleierungsversuche« von Seiten der Politik und der Medien offenbarten ihm mit erschreckender Sinnfälligkeit, »dass Ruhe und Ordnung um fast jeden Preis in der Werteskala dieses Staates und dieser Gesellschaft obenan stehen«. Er mockierte sich über jene »›Gartenzwergideologie‹, unter der sich der Bürger gemütlich geborgen fühlt, aber umso schärfer auf jede

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Störung der Ordnung reagiert«. Bezeichnenderweise fühlte sich Bracher bei der Presse des Springerkonzerns, der in seinen Augen »so viel Mitschuld an der Radikalisierung des politischen Klimas« trug, an die »Hetzkampagnen der Hugenberg-Presse« erinnert, an denen die Weimarer Republik einst zerbrochen sei.27 Ein liberaldemokratisch verfasster Staat wie die Bundesrepublik sei doch gerade auf den »kritisch Denkenden und zum unabhängigen Engagement bereiten Staatsbürger« angewiesen.28 Endlich schienen die Studenten jenem Bild vom politisch engagierten Bürger zu entsprechen, das liberal-kritische Intellektuelle seit Jahren als ideales Produkt ihrer politischen Bildungsanstrengungen entworfen hatten. Mit großem Unbehagen hatte man in den Jahren zuvor Studien wahrgenommen, die, vor allem im Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung entstanden29, unter Studenten eine weitgehende politische Indifferenz festgestellt hatten. Nicht nur Bracher erblickte im plötzlich aufblühenden politischen Engagement eine positive Entwicklung hin zu einer wahrhaft »lebendigen Demokratie«, also hin zu einer »konkreten Verwirklichung der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung« – so wie er sie in den »westlichen Demokratien« der Vereinigten Staaten und Großbritanniens exemplifiziert sah.30 Zwei Tage, bevor Bracher seine Trauerrede an der Universität Bonn hielt, hatte im benachbarten Köln Erwin K. Scheuch auf einer vom dortigen AStA organisierten Veranstaltung den protestierenden Studenten Rückendeckung gegeben. Er sah die »Zeit zum kritischen Protest« gekommen, in einer Gesellschaft, »die Ordnung über Wahrheit, und erst recht über Kritik zu stellen« pflege. »Mit dem Gummiknüppel junge Menschen in Ecken zusammentreiben und zusammenschlagen«: Das gehöre sicherlich nicht zu den Aufgaben einer Polizei in einer liberalen, pluralistischen Demokratie.31 Interessanterweise verwies Scheuch auf die gemäßigtere Reaktion US-amerikanischer Behörden auf Anti-VietnamkriegsDemonstrationen. Sicherlich seien viele auch in den USA über die Protestaktionen nicht erfreut, doch wie anders reagiere man dort. Hier schien sich wieder einmal, trotz der Selbstdiskreditierung in Vietnam, die demokratische Reife einer »westlichen Demokratie« zu zeigen, von der ein in obrigkeitlichen Traditionen ver-

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hafteter Staat wie die Bundesrepublik am 2. Juni weit entfernt wirkte.32 Wie Bracher sah er gerade in den Hochschulen einen prädestinierten Ort, die politisch-kulturelle Lücke zwischen der Bundesrepublik und den »westlichen Demokratien« zu schließen. Für den »liberalen Kritiker« Scheuch waren gerade sie der Ort, »an dem sich kritisches Bewußtsein real verwirklichen sollte«. Ja, sie waren gewissermaßen Entwicklungsagenturen für »kritisches Bewußtsein«. Ganz im Gegensatz zur traditionell-konservativen Mehrheit seiner Kollegen, aber auch zu der sich nur wenig später formierenden Gruppe liberalkonservativer Hochschullehrer, zu der er selbst gehören sollte, warb Scheuch offensiv für ein intergenerationelles Verständnis der gesellschaftlichen Ursachen der Studentenrevolte. Und die suchte er weniger bei den jüngeren als vielmehr bei den älteren Bürgern der Bonner Republik. »Warum protestieren diese jungen Menschen?«, fragte er. »Vielleicht haben die älteren Menschen hieran schuld?« Als wichtigsten Grund für das gewachsene »kritische Bewusstsein« nannte Scheuch die in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft herrschende eigentümliche »Ruhe« und bezog damit die »Unruhe an den Hochschulen« dialektisch auf ein Phänomen, das unter »liberal-kritischen« Intellektuellen schon seit einiger Zeit, verstärkt aber seit Bildung der Großen Koalition diskutiert wurde: Erstarrung und Immobilismus der Bonner Republik.33 Auf einer Ende Juli 1967 in Berlin veranstalteten Tagung zum Thema »Student und Politik im geteilten Deutschland« beklagte er, dass die westdeutsche Gesellschaft zusehends an Dynamik verliere, weil der stetige »Zuwachs an Regelungen und Richtlinien«, die ja immer auch »vorweggenommene Entscheidungen«, also ein weniger an Demokratie bedeuteten, mit einer Verselbständigung von Institutionen und einer Einschränkung des »Freiheitsspielraums des Individuums« einhergehe. In diesem Zusammenhang besonders hellhörig wurde Scheuch bei den Ausführungen des damaligen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, des CDU-Politikers Claus-Joachim von Heydebreck, der ebenfalls auf der Tagung sprach. Scheuch war vor allem über die irritierende Häufung folgender Worte gestolpert: »Staat, Amt, Rechtsordnung, Anhörung.« Hinter diesen Worten schimmerte seiner Ansicht nach

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ein fatales Verständnis von Demokratie durch, »die Vorstellung nämlich, Demokratie sei der Rechtsstaat, in dem sich Parteien in regelmäßigen Abständen Legitimität holen, um dann zwischenzeitlich autonom entscheiden zu können«. Das war für Scheuch nichts anderes als »Diktatur auf Zeit mit Volksbestimmung«.34 Explizit machte er darauf aufmerksam, dass sich ein derart konstitutionell-liberal verkürztes Demokratieverständnis signifikant von dem unterscheide, »was in der westlichen Welt unter Demokratie verstanden« werde.35 Vor diesem Hintergrund deutete er die autoritären Reflexe weiter Teile der westdeutschen Gesellschaft auf die studentischen Demonstrationen als spezifisch deutsche Reaktion auf ein transnationales Phänomen. Anstatt zu fragen, schrieb er Ende Juni in der Welt, »ob nicht die Gesellschaft selbst den Anstoß zu anstößigem Verhalten gegeben habe«, spreche aus vielen Reaktionen nur die altbekannte Haltung: »In Deutschland wird nicht rebelliert – oder zumindest nicht von normalen Deutschen.« Und werde der öffentliche Friede dennoch gestört: »dann Kopf ab. Oder zumindest Knüppel raus.« Scheuch dagegen wollte sich hier ein weiteres Mal an einer Erklärung versuchen, weshalb gerade aus »gutbürgerlichem« Hause stammende Studenten lauthals protestierten, ja warum diese »frühzeitigen Beamten«, wie er sie ironisch nannte, urplötzlich zu Mao Tse-tung zitierenden Rebellen mit »Jiu-Jitsu-Taktik« mutierten. Wie andere liberal-kritische Zeitanalytiker vermutete Scheuch eine der wesentlichen Ursachen in dem frappanten »Widerspruch zwischen Erwartungen und Realität«. Die jüngere Generation scheine die ältere schlicht beim Wort zu nehmen: Sie erwarte »praktische Demokratie und Freiheit dort […], wo wir Demokratie und Freiheit nur sagen«.36 Deutlicher noch, als dies bei Scheuch anklang, führte sein gleichaltriger Berliner Kollege Sontheimer die Studentenrevolte auf »demokratische Versäumnisse der Bundesrepublik« und die »Akkumulation undemokratischer administrativer Reaktionen« zurück. Wie man dem aufschlussreichen Kapitel über »Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik« entnehmen kann, das er 1968 seinem Weimar-Klassiker anfügte, fand der Politikwissenschaftler für die Bonner Republik nur wenig schmeichelhafte Worte. Von den salbungsvollen Elogen, die er von den späten

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1970er Jahren an über die Bundesrepublik verfassen sollte, war er noch weit entfernt. Unisono mit seinem Bonner Kollegen Bracher beklagte er eine »Renaissance der obrigkeitlichen Staatsideologie«. Wie schon zu Weimarer Zeiten sei die Demokratie »nicht von links, sondern […] in Wirklichkeit von rechts bedroht«.37 Bemerkenswerterweise erblickte er in der Revolte nicht nur die »Herausforderung an eine erstarrende Demokratie« und ein »autoritäres Bewusstseinsklima«, sondern zugleich die Gelegenheit, die »offene Situation von 1945« wiederherzustellen. Damals nämlich sei die Chance, sich ein »Bewußtsein der Freiheit« anzueignen, das mit der deutschen Staatstradition brach, also gewissermaßen verwestlicht war, noch nicht »vom Gewicht der schleichenden sozialen und ökonomischen Restauration erdrückt« worden.38 Was Sontheimer Restauration nannte, hatte Bracher in einem SpiegelArtikel vom März 1967 als »Ordnung wilhelminischen Zuschnitts« bezeichnet – eine patriarchalische Ordnung, die er für den »unfertigen, unsicheren Zustand des politischen Bewußtseins« der Westdeutschen mit verantwortlich machte, für eine politische Kultur also, die sich noch nicht entschieden genug an »westlichen Werten« orientierte.39 Inwieweit die »liberalen Kritiker« Demokratie auch im universitären Raum verwirklicht sehen wollten, dort also, wo die Studentenrevolte ihren Ausgang nahm, erläuterte Sontheimer in einem vielbeachteten Artikel, den er im März 1968 unter der Überschrift »Akademische Demokratisierung« in der Zeit veröffentlichte. Der Artikel stand im Zusammenhang mit konkreten Reformbemühungen am Otto-Suhr-Institut.40 Anders als etwa der »rechte Sozialdemokrat« Wilhelm Hennis, der eine wie auch immer geartete Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche, also die Anwendung des demokratischen Prinzips jenseits der staatlich-politischen Sphäre kategorisch ablehnte, befürwortete Sontheimer eine Demokratisierung der Universität. Die Verteidigung ihrer »anachronistisch und funktionsschwach gewordenen Struktur« war für ihn nichts anderes als »Reaktion«, ja wirkte auf ihn sogar wie »introvertierter Radikalismus«.41 Berücksichtigt man Sontheimers intensive Beschäftigung mit dem Phänomen der politischen Kultur, des »politischen Bewußtseins«, wie er damals noch sagte, kann sein Engagement für eine

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akademische Demokratisierung kaum überraschen. Allzu deutlich hatten ihm seine geistesgeschichtlichen Studien zur Weimarer Republik vor Augen geführt, als wie verhängnisvoll sich die Inkongruenz zwischen verfassungsmäßig festgelegter Staatsordnung und fragmentierter politischer Kultur für die Stabilität der ersten deutschen Demokratie erwiesen hatte. Für ihn lag es daher nahe zu vermuten, dass »eine bestimmte politische Organisation um so besser funktioniert, je näher der Sozialbereich [in diesem Fall also der universitäre; RB] an diese Form heranrückt«, wie er wenige Jahre später in einer Diskussion mit Bracher und Hennis (der das Gegenteil behauptete) argumentieren sollte.42 Während er eine Demokratisierung der formalen Entscheidungsstrukturen (Stichwort: Drittelparität) für sekundär hielt, wenngleich durchaus für notwendig, ging es ihm vor allem um eine »Zertrümmerung der ›autoritären‹ Lehr- und Geistesstruktur« der Universität. Als Idealbild schwebte ihm eine »in ihrer geistigen Struktur freiheitliche demokratische Universität« vor, die sich von einer bloß »auf Amt und Würden pochenden Autorität« verabschiedete und der »herrschaftsfreien« Auseinandersetzung Raum gab. Habe sich erst einmal eine »liberale Geisteshaltung« etabliert, könne sie, das war Sontheimers große Hoffnung, auf die Organisationsstruktur des Staates ausstrahlen und »den Geist der Politik durchdringen«.43 Wie er in den 1970er Jahren erkennen sollte, als er seine berüchtigte polemische Abrechnung mit der Neuen Linken schrieb44, war diese Hoffnung eine trügerische. Die politischen Institutionen hätten zwar eine »kaum erwartete […] Festigkeit bewiesen«, doch sei das »politische Bewusstsein des Landes weithin von […] einer Krise gekennzeichnet«.45 In dieser Diagnose stimmte er, wie so oft, mit Richard Löwenthal überein, der die Ansicht vertrat, es existiere eine paradoxe Gleichzeitigkeit von »kultureller Krise« und »andauerndem Funktionieren des gesellschaftlichen und politischen Systems«.46 Was Sontheimer und Löwenthal an der politischen Kultur der Bonner Republik beunruhigte, waren nun nicht mehr obrigkeitsstaatliche Traditionsüberhänge, sondern Aktualisierungen romantisch-utopischen Denkens von links, das neueste Kapitel der vermeintlichen Krankengeschichte eines antiwestlichen, »deutschen Sonderwegs«.

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Wie Bracher, Scheuch und Löwenthal (die letzteren beiden seit 1970 Aktivposten im Bund Freiheit der Wissenschaft) hatte Sontheimer nach den irritierenden Erfahrungen von »1968« seinen politischen Standort mittlerweile gewechselt. Er saß jetzt nicht mehr, wie zur Zeit der Revolte, »zwischen allen Stühlen«, wie Marion Gräfin Dönhoff die Lage der »kritischen Liberalen« Anfang 1968 treffend umschrieben hatte.47 Inzwischen hatte er, der bei der Neuen Linken spätestens seit dem Erscheinen seiner Anti-Kritik als »reaktionärer Renegat« verschrien war, einen Platz in der neuen intellektuellen Formation der Liberalkonservativen gefunden.48 Im Rückblick konnte er seine anfänglichen Sympathien für die Studentenbewegung kaum mehr selbst verstehen. Ja, er klagte sich mittlerweile sogar selbst »ein bisschen« an, wie er 1978 in einer Fernseh-Diskussion mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit bekannte. Dass er »als einer der Berliner Professoren« gelte, »die das mit einem gewissen Wohlwollen beobachtet haben«, war ihm fast schon etwas unangenehm. Und so flüchtete er sich in introspektive Mutmaßungen, dass er offensichtlich gar »nicht gemerkt« habe, »was sich da zusammenbraut«. Wie »einen Film« habe er »das alles« an ihm vorbeilaufen lassen. Und überhaupt: Eigentlich sei er gar nicht »innerlich engagiert« gewesen.49 Da klang die Erklärung, die er ein Jahr später in seinen bilanzierenden Betrachtungen zur »verunsicherten Republik« lieferte, schon plausibler. Weil die »liberalen Intellektuellen«, er selbst eingeschlossen, vor »1968« immer wieder »ihr gelegentliches Unbehagen an den Zuständen der Republik« artikuliert hätten, »konnten sie nicht gut in Opposition gehen zu den plötzlich rebellierenden studentischen Gruppen, zumal diese ihre Revolte unter dem Banner der wahren Demokratie betrieben und offenbare Schwächen und Verkrustungen der ›autoritären Demokratie‹ im Visier hatten«. Bald aber hätte man feststellen müssen, »dass mit der Jugendrevolte auch neue radikale, illiberale Elemente in die geistige und politische Auseinandersetzung getragen wurden«, die man als Liberaler »kaum gutheißen konnte«.50 In der Tat: Hatten ihn, wie andere liberale Kritiker auch, die extremen Formen des Studentenprotests immer schon abgeschreckt, begann er nach und nach die neulinke Ideologie als ernst-

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hafte Gefahr für die Existenz der Bundesrepublik wahrzunehmen. Es war also, dialektisch gedacht, nicht zuletzt die Studentenrevolte, die ihm die grundsätzliche Zustimmungsfähigkeit der Bonner Republik stärker zu Bewusstsein brachte. Zugleich natürlich auch ermutigt durch den erfolgreichen Regierungswechsel von 1969 (Sontheimer war Teil der Sozialdemokratischen Wählerinitiative) und eine unübersehbare Abschwächung autoritärer sowie rechtsradikal-nationalistischer Tendenzen wandelte er sich, zunächst zögerlich, dann immer entschiedener, von einem Kritiker zu einem »Apologeten des Status quo«.51 Nun wollte Sontheimer, und mit ihm viele seiner liberalkonservativen Mitkämpfer, jene Intellektuellen für die »Idee der verantwortlichen Demokratie« und die »Werte der westlichen Zivilisation« zurückgewinnen, die vom bösen Zauber »linker Theorie« verhext worden waren. Von Rudi Dutschke einmal gefragt, was das denn nun für Werte seien, für die er so standhaft einzustehen meine, antwortete er: »Für mich ist der zentrale ideologische Gehalt, wenn ich einen habe, der Liberalismus«.52 Es war derselbe Liberalismus wie vor »1968« – und zugleich ein anderer: derselbe, weil grundsätzlich noch immer dem konsensliberalen Kosmos zugehörig, mit dem er in den 1950er Jahren vertraut geworden war; ein anderer, weil im bundesrepublikanischen Kontext nun kaum mehr kritisch disponiert, sondern vor allem bewahrend, konservativ eben.

Anmerkungen 1 Kai Hermann, Liberale und Revolutionäre, in: Hans Dollinger (Hg.), Revolution gegen den Staat? Die außerparlamentarische Opposition – die neue Linke. Eine politische Anthologie, Bern / München / Wien 1968, S. 168–175, hier S. 168. 2 Ebd. 3 Arnd Bauerkämper / Konrad H. Jarausch / Marcus M. Payk (Hg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970, Göttingen 2005. 4 Professor Fraenkel: Die linksradikalen Gruppen handeln ohne Auftrag. [Ein Interview], in: Berliner Morgenpost vom 17. 9. 1967, S. 12. 5 Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er

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Jahre, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311–341, hier S. 323. Michael Hochgeschwender, Was ist der Westen? Zur Ideengeschichte eines politischen Konstrukts, in: Historisch-Politische Mitteilungen 11 (2004), S. 1–30, hier S. 27. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 69. Im Gegensatz zum frühen Liberalismus, wie man ihn vor allem in der anglo-amerikanischen Geschichte finden kann, und, dem Grundsatz des »laissez-faire« verpflichtet, ausgesprochen staatsfern war, verstand sich das konsensliberale Denken als etatistisch. Wie gesagt: Es war, wenn auch nicht ausschließlich, ein Kind des New Deal. Im Interesse individueller Freiheit und gesellschaftlicher Prosperität sollte der Staat auf die sozio-ökonomische Sphäre planend Einfluss nehmen. Libertär-freiheitliche Ideen wurden also bis zu einem gewissen Grad durch egalitär-sozialreformerische Ideen komplettiert, etwa im Sinne eines John Maynard Keynes, aber auch eines John Stuart Mill. In der Geschichte dieses so wirkmächtigen Konstrukts war die »Nähe von libertär-freiheitlicher und egalitärer Tradition« laut Hochgeschwender nie größer als in den 1950er und 1960er Jahren. Schließlich war im Westen die Tendenz zu permanenter sozialer Reform mit bedingt durch den Konkurrenzdruck, der vom kommunistischen Rivalen ausging. Mitte der 1960er Jahre allerdings wuchs in den USA der Unmut über »geistigen Konformismus« und »stromlinienförmigen Konventionalismus«. Vor allem die Ausbreitung neulinker Kritik und die Sezession konsensliberaler Intellektueller, die in ein sich neu formierendes neokonservatives Lager wechselten, ließen die hegemoniale Stellung des Konsensliberalismus zusehends erodieren. Der Vietnamkrieg tat ein Übriges. Vgl. Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 72–86; ders., Was ist der Westen?, S. 26 f. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, hg. von Alexander von Brünneck, erw. Ausg. Frankfurt / M. 1991 (zuerst 1964); Richard Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt / M. 1979. Rolf Schörken, Die Niederlage als Generationserfahrung, Weinheim / München 2004, S. 5. Vgl. Dirk Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233–263; ders., The »Weimar Syndrome« in the Federal Republic of Germany, in: Stephan Loos / Holger Zaborowski (Hg.), Leben, Tod und Entscheidung, Berlin 2003, S. 187–207, hier S. 192 ff.; sowie unlängst ders., German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007; vgl. ferner Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; sowie Riccardo Bavaj, »68er« versus »45er«. Anmerkungen zu einer »Generationsrevolte«, in: Heike Hartung u. a. (Hg.), Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln 2007, S. 53–76.

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12 Karl Dietrich Bracher, Experience and Concepts. Between Democracy and Dictatorship, in: Government and Opposition 15 (1980), Nr. 3 / 4, S. 289–296, hier S. 291. 13 Vgl. ders., Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 51971 (zuerst 1955); vgl. dazu auch Winfried Süß, Zeitgeschichte als Demokratiewissenschaft. Karl Dietrich Bracher und das Ende der Weimarer Republik, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 47–51. 14 Vgl. Karl-Heinz Füssel, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung, Wissenschaft, Politik, Frankfurt / M. 2004, S. 180, 197. 15 Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. Studienausgabe mit Ergänzungsteil, München 1968 (zuerst 1962); vgl. dazu auch Riccardo Bavaj, Hybris und Gleichgewicht. Weimars »antidemokratisches Denken« und Kurt Sontheimers freiheitlich-demokratische Mission, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 315–321, und Wilhelm Bleek, Kurt Sontheimer. Politikwissenschaft als öffentlicher Beruf, in: Hans Karl Rupp / Thomas Noetzel (Hg.), Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 2: Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft, Marburg 1991, S. 27–43, hier S. 31. 16 Vgl. Kurt Sontheimer / Gerhard A. Ritter / Brita Schmitz-Hübsch / Paul Kevenhörster / Erwin K. Scheuch, Der Überdruss an der Demokratie. Neue Linke und alte Rechte. Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt, Köln 1970. 17 Vgl. die von Scheuch zumindest autorisierten, wenn nicht sogar von ihm selbst verfassten biographischen Angaben in: Claus Grossner u. a. (Hg.), Das 198. Jahrzehnt. Eine Team-Prognose für 1970 bis 1980, Hamburg 1969, S. 529 f. 18 Karl Dietrich Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland [Eröffnungsvortrag zur Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in München Ende des Jahres 1967], in: Politische Vierteljahresschrift 9 (1968), H. 1, auch in: ders., Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971, S. 11–40, hier S. 14. 19 Ebd., S. 14. 20 Ebd., S. 37, 40. Hervorhebung im Original. 21 Vgl. Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 245– 277. 22 Hermann, Liberale und Revolutionäre, S. 168. 23 Bracher, Staatsbegriff und Demokratie, S. 30, 34. In seiner Skepsis gegenüber dieser Zeitschrift war er sich vor allem mit seinem liberalen Kollegen Christian Graf von Krockow einig, der die ersten Jahrgänge einer grundlegenden Kritik unterzogen hatte. Christian Graf von Krockow, Staats-

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ideologie oder demokratisches Bewusstsein. Die deutsche Alternative, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 118–131. Karl Dietrich Bracher, Wird Bonn doch Weimar?, in: Der Spiegel, 13. 3. 1967, Nr. 12, S. 60–68, hier S. 67 f. Ders., Staatsbegriff und Demokratie, S. 39. Ders., Rede anlässlich der Trauerfeier des AStA der Universität Bonn am 9. Juni [1967], in: Knut Nevermann, Der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anlässlich des Schah-Besuchs, hg. vom Verband Deutscher Studentenschaften, Köln 1967, S. 43–46, hier S. 43. Ebd., S. 44, 46. Auch bei dieser Gelegenheit betonte Bracher, dass er die Bonner Republik auf ebenjenem Weg verhängnisvoller Verführung sah, welche die »deutsche Leidensgeschichte« vor und nach der missglückten Revolution von 1848 »begleitet und verzerrt« habe: »dem Vorrang des Staates vor der Demokratie«. Ebd., S. 44. Ebd., S. 44. Vgl. insbes. Jürgen Habermas u. a., Student und Politik, Frankfurt / M. 1961; Ludwig von Friedeburg, Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln / Berlin 1965. Bracher, Rede anlässlich der Trauerfeier des AStA der Universität Bonn, S. 44. Erwin K. Scheuch, Rede anlässlich der Trauerfeier des AStA und der politischen Studentengruppen der Universität Köln am 7. Juni [1967], in: Nevermann, Der 2. Juni 1967, S. 78–81, hier S. 78 f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 79 f. Erwin K. Scheuch, Redebeitrag, in: Kuratorium Unteilbares Deutschland (Hg.), Student und Politik im geteilten Deutschland. Ergebnisse einer Diskussion, Bonn-Bad Godesberg [1967], S. 127–134, hier S. 131 f. Ebd., S. 130, 132. Erwin K. Scheuch, Warum die jungen Pensionäre revoltieren, in: Die Welt vom 28. 6. 1967, Nr. 147, S. 7. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik, in: ders., Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1968), S. 317–347, hier S. 321, 341, 344 f. Ebd., S. 345. Bracher, Wird Bonn doch Weimar?, S. 68. Kurt Sontheimer, Akademische Demokratisierung, in: Die Zeit vom 15. 3. 1968, Nr. 11, S. 17–18; vgl. auch Alexander Schwan / Kurt Sontheimer (Hg.), Reform als Alternative. Hochschullehrer antworten auf die Herausforderung der Studenten, Köln / Opladen 1969. Vgl. Wilhelm Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 194–227 (zuerst 1970); sowie Demokratisierung. Colloquium über einen umstrittenen Begriff, in: APuZ, B 18 / 71, 1. 5. 1971, S. 3–30; Sontheimer, Akademische Demokratisierung, S. 17.

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42 Demokratisierung – Colloquium über einen umstrittenen Begriff, S. 10. 43 Sontheimer, Akademische Demokratisierung, S. 18. 44 Ders., Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976. 45 Ders., Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren, München 1979, S. 7. 46 Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kulturkrise, S. 23. 47 Marion Gräfin Dönhoff, Die gesteinigte Demokratie. Wenn der Terror die Freiheit bedroht, in: Die Zeit vom 9. 2. 1968, Nr. 6, S. 1. 48 Kurt Sontheimer, Die Macht vor dem Tribunal der Intellektuellen (1988), in: ders., Von Deutschlands Republik. Politische Essays, Stuttgart 1991, S. 163–200, hier S. 191; vgl. auch ders., So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 133, sowie Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, bes. S. 94–100. 49 Kurt Sontheimer in: Die Linke lebt – ein Fernseh-Dialog. Daniel CohnBendit, Rudi Dutschke, Günther Nenning, Kurt Sontheimer und Mathias Walden diskutieren am 13. / 14. Juni 1978 im österreichischen Fernsehen drei Stunden und zwölf Minuten über den Mai 68 und die Folgen, in: Rudi Dutschke, Die Revolte. Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs, hg. von Gretchen Dutschke-Klotz, Jürgen Miermeister und Jürgen Treulieb, Reinbek 1983, S. 264–313, hier S. 297. 50 Sontheimer, Verunsicherte Republik, S. 82. 51 Michael Sontheimer, Kurt Sontheimer und die 68er. Persönliche Anmerkungen zu einer politischen Kontroverse, in: http://www.gsi.uni-muenchen.de/aktuell/docs/sontheimerbeitrag.pdf [S. 3]. 52 Kurt Sontheimer in: Die Linke lebt – ein Fernseh-Dialog, S. 297 f.

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Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« Die Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschule

»Bildungsplanung muß entscheidend dazu beitragen, die soziale Demokratie zu verwirklichen. […] Fragen der Personalstruktur stehen zunächst im Mittelpunkt. Für Hochschulen und staatliche Forschungseinrichtungen müssen wirksame Vorschläge für die Überwindung überalterter hierarchischer Formen vorgelegt werden. Soweit der Bund vorwiegend betroffen ist, werden entsprechende Maßnahmen beschleunigt getroffen«, formulierte Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung vom Oktober 1969.1 Was da seitens des Bundeskanzlers angekündigt wurde, musste sich in den Ohren vieler Hochschullehrer wie eine Kriegserklärung anhören. Dabei war nicht die Tatsache entscheidend, dass der Staat seinen Anspruch manifestierte, aktiv in die Reform der Hochschulen einzugreifen, sondern die Ankündigung, eine Demokratisierung in der Hochschule von oben durchsetzen zu wollen. Demokratisierung bedeutete hier vor allem: mehr Partizipation für alle Statusgruppen in der Universität, die Durchsetzung der paritätischen Mitbestimmung in den Hochschulgremien möglichst in Form einer Drittelparität sowie eine Ausweitung des Fächerkanons zugunsten der Sozialwissenschaften. Dies war für den Bundeskanzler und die sozialliberale Bundesregierung – neben dem weiteren Ausbau der Chancengleichheit in der Bildung – integraler Bestandteil eines innenpolitischen Reformprogramms, das sich in der Formel »Wir wollen mehr Demokratie wagen« manifestierte. Eine soziale und liberale Demokratie war das Leitbild dieses Gesamtkonzeptes, durch die ein höherer Grad an Partizipation und Emanzipation der Bürger erreicht werden sollte – im Sinne einer aktiven Bürgergesellschaft. Es ging also auch und vor allem um die Vorstellung und konkrete weitere Ausgestaltung der bundesdeutschen Demokratie und Gesellschaft in der Zukunft:

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»Wir schaffen das moderne Deutschland«, war der Slogan der SPD im Bundestagswahlkampf 1969 gewesen.2 Hier liegt der eigentliche Sprengstoff, der die massiven und stark polarisierten Debatten und Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschulen mit erklärt: Es ging um mehr als um die zukünftige innere Struktur der bundesdeutschen Universitäten, es ging um eine grundsätzliche Entscheidung über das zukünftige Gesicht einer demokratischen Gesellschaft. Die Debatten um die Demokratisierung der Hochschulen führten nicht nur zu einer starken Polarisierung innerhalb der Universitäten zwischen Befürwortern und Gegnern, sondern fanden auch ihren Niederschlag in breiten öffentlichen Diskussionen, die in der Regel über und in den Massenmedien sowie in einer schier unüberschaubaren Zahl von Buchpublikationen und Periodika ausgetragen wurden. Ähnlich wie die Auseinandersetzungen um die Ostpolitik spaltete die Frage nach der Demokratisierung der Hochschulen die (intellektuelle) Nation: Scheinbar unverrückbare Demarkationslinien zwischen Gegnern und Befürwortern der Reform brachen auf, die politischen Lager sortierten sich neu. Es ging um Deutungsmacht und Hegemonie in den und über die Universitäten. Im Zuge der Auseinandersersetzungen um die Demokratisierung der Hochschulen konstituierte sich im Jahr 1970 eine von Professoren unterschiedlicher politischer Couleur getragene Gegenbewegung, die versuchte verlorene Deutungsmacht zurück zu gewinnen: der »Bund Freiheit der Wissenschaft« (BFW). Zur Bewertung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, die als Aufbruch- und Reformära charakterisiert werden,3 erscheint ein Blick auf einen Teil der sich gegen die Mehrheitsmeinung organisierenden intellektuellen Elite besonders lohnend. Dies wird nach einem kurzen Abriss der Entwicklung bis 1969 / 70 im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Dabei geht es nicht so sehr um theoretische Konzepte von Staat, Demokratie und Universität, sondern um Strategien und politische Argumente in der Debatte, die gegen eine Demokratisierung der Hochschulen von den intellektuellen Wortführern ins Feld geführt wurden.

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Vorgeschichte der Hochschuldiskussion Um den politischen Umorientierungsprozess von einem Teil der Hochschullehrer, die sich in den 1960er Jahren zunächst aktiv am Reformprozess der deutschen Universitäten beteiligt hatten, besser einordnen zu können, ist ein kurzer Blick in die Vorgeschichte der Hochschulreformdebatten und -politik vor 1969 / 70 hilfreich. Die Debatten um eine Reform der Hochschulen setzten bereits in den 1950er Jahren ein. Sie sind vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen zu interpretieren: Die Geburtenrate stieg weiter an, eine Tendenz, die bis Mitte der sechziger Jahre anhalten sollte, was eine signifikante Erhöhung der zukünftigen Studentenzahlen bedeutete. Des Weiteren spielten wirtschaftliche Erwägungen eine wichtige Rolle, wonach die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Nationalstaaten durch eine Erhöhung der Akademikerzahlen gewährleistet werden sollte. In der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges wirkte der so genannte »Sputnik-Schock« von 1957, der eine zeitweilige sowjetische Überlegenheit in der Raumfahrt demonstrierte, dazu als eine Art Initialzündung. Ein weiteres Kennzeichen war, dass sich in den Universitäten bis zu den 1960er Jahren primär die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Führungsschichten reproduzierten – befördert durch ein sozial unausgewogenes Schulsystem. Die soziale Zusammensetzung der Studierenden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung war unausgewogen, Frauen und Arbeiterkinder stellten nur einen sehr geringen Prozentsatz. Von Beginn an wurden Expertengremien aus Politik und Wissenschaft ins Leben gerufen, die sich mit der aktuellen Situation kritisch auseinandersetzten und Lösungsansätze entwickelten: Dies waren u. a. die 1949 gegründete »Westdeutsche Rektorenkonferenz« und der 1957 initiierte »Deutsche Wissenschaftsrat«. Auch in den Gründungsgremien für neue Universitäten wie Bochum, Konstanz oder Bielefeld waren Hochschullehrer und Politiker zum Teil in Personalunion unter sich. Neben diesen für die Reformdiskussionen zentralen Institutionen waren die Kultusministerkonferenz sowie die Kultusministerien wichtige Akteure. Diese Gremien – besonders der »Wissenschaftsrat« – bestimmten auch in der Kernphase der Reformaktivitäten die Diskussionen

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und Ausrichtung der Hochschulpolitik. Dass die Universitäten expandieren mussten und sollten, wurde zwar grundsätzlich nur von ganz wenigen angezweifelt, über das Wie und das Warum gab es aber Kontroversen. Vor allem gegen Strukturveränderungen innerhalb der Institution wandten sich nicht wenige Ordinarien. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum »Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen« aus dem Jahr 1960 zielten auf den Aus- und Neubau von Universitäten, dies implizierte auch die Aufstockung des Personals, die Schaffung eines akademischen Mittelbaus sowie eine neue organisatorische Zusammenfassung der Fächer.4 Darüber hinaus sprach man sich gegen jede Beschränkung des Hochschulzugangs aus. Allerdings scheiterte der Versuch einer einheitlichen Studienreform 1966. Dieser stieß als Eingriff in die innere Struktur auf massiven Widerstand von Universitäten und Professorenschaft und verlief letztlich im Sande.5 Eine breite öffentliche Debatte, um Fragen der Bildungs- und Hochschulreform setzte Mitte der 1960er Jahr ein und sollte die nächsten Jahren nicht abbrechen. Eine Art Startschuss gab der Pädagoge und Philosoph Georg Picht, der 1964 in einer Artikelserie für die Wochenzeitung Christ und Welt »Die deutsche Bildungskatastrophe« ausrief.6 Er forderte eine Verdoppelung der Abiturientenzahlen und Lehrer sowie eine Expansion der Universitäten. Dadurch sollte ein drohender ökonomischer Niedergang der Bundesrepublik abgewendet werden. Ein Jahr später forderte Ralf Dahrendorf, von einem emanzipatorischen Standpunkt für Chancengerechtigkeit ausgehend, dass Bildung ein Bürgerrecht im Sinne eines demokratischen Grundrechtes sein müsse.7 Damit ist das Spektrum der Argumente, um die sich die zeitgenössische Diskussion drehte, abgesteckt: Expansion des Hochschulwesens als demokratische und / oder als ökonomische Notwendigkeit. Und dies war dann auch der Minimalkonsens, auf den sich die Mehrheit der Hochschullehrer verständigen konnte. Daneben gab es wenige, die alles beim Alten belassen wollten, aber auch andere, die für eine grundlegende Reform der Universität, des Studiums und der Lehrinhalte eintraten. Auch die organisierten Studenten im »Sozialistischen Deutschen Studentenbund« (SDS) und »Verband Deutscher Studentenschaften« (VDS) setzen sich bereits seit den fünfziger Jahren

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für eine Reform ein: 1958 diskutierte der VDS unter dem Motto »Restaurieren-reparieren-reformieren« Möglichkeiten einer Reform der Universitäten.8 Allerdings hatten die Beteiligten über die Zielrichtung einer solchen Reform weder einheitliche noch konkrete Vorstellungen. In den Jahren 1961 / 62 verlangten sie dann die Öffnung der Universitäten und setzten sich für eine Reform des Studiums und der Institution sowie für mehr Mitbestimmung ein – fanden aber bis 1967 / 68 wenig Gehör. Bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre waren die Möglichkeiten für alle Hochschullehrer – gleich welcher politischen Couleur –, die sich einer Hochschulreform nicht grundsätzlich verweigerten, relativ gut, die Stoßrichtung und die Umsetzung aktiv mit zu gestalten. Denn sie dominierten die entsprechenden Gremien. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur Frage nach der Demokratisierung der Hochschulen: Da universitätsinterne Lösungen am Widerstand der Mehrheit der Hochschullehrer gescheitert waren, oktroyierte die Politik die Mitbestimmung, und dies berührte die Grundfesten der deutschen Universitätstradition. Durch die Verabschiedung von Landeshochschulgesetzen – von denen bis 1970 elf erlassen wurden – versuchten verschiedene Landesregierungen die Demokratisierung von oben durchzusetzen. Darüber hinaus wurde von der sozialliberalen Bundesregierung ein bundeseinheitliches Hochschulrahmensgesetz angekündigt. Gleichzeitig unterstrich die Regierung ihren Anspruch, den Einfluss auf die Bildungspolitik auszubauen, durch die Gründung eines Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft 1969 sowie die Einberufung einer Bund-Länder-Kommission für Bildungsfragen ein Jahr später. All dies waren entscheidende Faktoren, die dazu führten, dass nicht nur konservative, sondern auch viele (links-)liberale Hochschullehrer, und zwar auch solche, die sich bis dahin für den Reformprozess engagiert hatten, sich neue Bündnispartner suchten, um ein intellektuelles, politisches und publizistisches Gegengewicht zu bilden und damit den erlittenen Machtverlust zu kompensieren. Eine weitere wichtige Rolle spielten die Ereignisse 1967 / 68, die von vielen Hochschullehrern nicht nur politisch missbilligt, sondern auch als einschneidende, mitunter traumatische Erlebnisse wahrgenommen wurden. So war ihre persönliche Integrität

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zum Teil massiv mit fragwürdigen Methoden verletzt worden: Institutsbesetzungen, andauernde Störungen der Lehrveranstaltungen, gewalttätige Demonstrationen, Telefonterror, Übergriffe bis hin zu physischer Gewaltanwendung − all dies trug dazu bei, dass nun auch ehemalige Reformbefürworter die Lager wechselten.9 Dies gilt für Wilhelm Hennis genauso wie für Richard Löwenthal oder Hermann Lübbe und viele andere.

»Bund Freiheit der Wissenschaft« Am 18. November 1970 fand in Bad Godesberg der Gründungkongress des »Bundes Freiheit der Wissenschaft« statt. Die Gründung des Bundes war lange vorbereitet worden. Bereits im April 1968 war unter Federführung von 25 Marburger Hochschullehren das »Marburger Manifest« publiziert worden.10 Darin hatten sich die Initiatoren gegen die »Politisierung und sogenannte Demokratisierung der Hochschulen« gewandt. Auch diese erste organisierte Kampagne war durchaus erfolgreich gewesen: Das Manifest wurde von 2.000 Hochschullehrern unterschrieben. Weitere Vorläuferzusammenschlüsse waren der »Frankfurter Kreis«, die »Wissenschaftliche Gesellschaft e. V.«, Die »Notgemeinschaft für eine freie Universität« sowie der »Donnerstagskreis, Bonn«. Die Resonanz auf den Gründungskongress des »Bundes Freiheit der Wissenschaft« überraschte selbst die Initiatoren: mehr als 1.500 Personen waren gekommen. Es dominierten Professoren, aber auch Hochschulangehörige anderer Statusgruppen, ebenso waren Politiker oder Journalisten erschienen. Hier sollte mehr als ein Signal gegen einen nach Meinung der Initiatoren verfehlten Weg der Hochschulreformen und damit der Zukunft der deutschen Universität gesetzt werden. Die Absicht der Gründung hat Hermann Lübbe in deutlichen Worten im Dezember 1970 noch einmal im Deutschen Sonntagsblatt zusammengefasst: »Die Absicht war, gegen die Bedrohung freier Wissenschaft eine Sammlungsbewegung aufzubieten. Das Programm: Kampagne der Information der Öffentlichkeit über die wahren Zustände an unseren Hochschulen; Solidaritäts-Aktionen gegen den Klein-Terror der Extremisten und ihrer Mitläufer; Unterstützung einer

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Politik der Reformen, die, statt konzessionistisch zu beschwichtigen, zukunftsfähige Verhältnisse durchsetzt – gegen reaktionäre Autonomie-Fetischisten, gegen die bildungspolitischen Schwarmgeister, gegen den Widerstand der ideologisch Radikalen, die sich gegen Reformen sperren, weil sie dem herrschenden System keine Zukunft, sondern revolutionär ein Ende bereiten wollen.«11 Unter den Professoren im Bund dominierten die 40- bis 50jährigen, es waren aber auch jüngere und wesentlich ältere darunter. Parteipolitisch waren CDU / CSU, SPD und FPD vertreten, allerdings mit einer eindeutigen Dominanz der Union, und auch bei den parteipolitisch Ungebundenen war das konservative Element signifikant. Den Gründungsaufruf hatten u. a. Wilhelm Hennis, Richard Löwenthal, Hermann Lübbe, Hans Maier, Ernst Nolte und Erwin Scheuch unterschrieben. Es war eine partei- und generationsübergreifende Allianz, die sich hier als Gegenbewegung konstituierte. Bis Mitte der 1970er Jahre, als der Bund auf seinem Höhepunkt stand, stieg die Zahl seiner Mitglieder auf ca. 5.000, wovon ca. 35 Prozent Professoren waren, sank dann jedoch wieder auf ca. 3.000 ab.12 Zum Vergleich: der »Bund demokratischer Wissenschaftler« – die entsprechende linke Organisation, der unter anderem Wolfgang Abendroth, Jürgen Habermas, Walter Jens oder Jürgen Seifert angehörten, hatte zum gleichen Zeitpunkt knapp 1.800 Mitglieder, allerdings war hier der Anteil der Professoren etwas höher.13 Zentral in der Argumentation des BFW und seiner Wortführer war die Rolle des Staates. Anders als Vertreter der Linken, die vor zu viel Staat warnten und die Autonomie der Hochschulen betonten, forderte der Bund einen starken Staat nach dem Motto »Keine Experimente«. Dieser Ruf erfolgte aber erst in dem Moment, als man sich in der Defensive befand. Solange die Einflussnahme auf die Richtung der Hochschulreform garantiert war, sollte eine staatliche Intervention auf das Allernötigste beschränkt bleiben. Einig war man sich auch in der Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse in Universität und Staat: eine falsch verstandene »Demokratisierung« und die nicht zuletzt daraus resultierende »Krise der Universitäten« könne schnell in eine Staatskrise umschlagen. »Wo Ideologien die Oberhand gewinnen, welche die Zerstörung des Bestehenden als Voraussetzung für die Verwirk-

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lichung utopischer Ziele betrachten, dient der Ruf nach Reformen nicht mehr der Modernisierung und Steigerung der Leistungsfähigkeit der Institution, sondern ihrer Lähmung und Vernichtung. Vor einer solchen Gefahr stehen heute die Hochschulen in der Bundesrepublik. Vor der gleichen Gefahr könnte morgen der Staat stehen«, war wörtlich im Gründungsaufruf des BFW zu lesen.14 Um weiteres Unheil abzuwenden, plädierte man für eine »sinnvolle« nicht näher beschriebene Reform – initiiert durch staatliche Stellen in Zusammenarbeit mit Experten. Den bisherigen staatlichen Reformbemühungen und den Reaktionen auf die Studentenunruhen stellte man ein negatives Zeugnis aus. Der Staat habe in seinem Veränderungswillen versagt und gegenüber den aufbegehrenden Studenten nicht hart genug durchgegriffen, so das einhellige Urteil. Die Antwort des Staates in Form von »Demokratisierungsbemühungen« wurde als Grundübel der vermeintlichen »Fehlentwicklung« ausgemacht. »Die unbegrenzte Mitbestimmung der Studenten ist das Brecheisen, mit dem die deutsche Universität aus den Angeln gehoben werden kann. Das Unbehagen der Öffentlichkeit und der staatlichen Instanzen angesichts des langsamen Fortschritts der ›Reformen‹ und ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Tabubegriff der Demokratisierung bildeten und bilden den Rauschschleier, hinter dem sich dieser Vorgang verbirgt«, heißt es im Gründungsaufruf des BFW.15 Dabei wurde immer wieder der Vergleich mit dem Bundeskanzleramt bemüht, das man schließlich auch nicht demokratisieren könne, ohne dass alles drunter und drüber ginge.16 Für die Universität bedeute dies, dass die Mitbestimmung von Nicht-Wissenschaftlern über Fach- und Personalfragen nicht nur einen Qualitätsverlust, sondern auch die Dominanz politischer Entscheidungskriterien sowie eine kommunistische Unterwanderung der Universität zur Folge haben würde. Solche Prozesse seien in Berlin und Bremen bereits in vollem Gang. Außerdem fürchtete man eine »Ideologisierung« der Hochschulen durch die Forderung nach »Demokratisierung« und eine unzulässige »Politisierung« der deutschen Wissenschaft: »Die Wissenschaft wird […] in Zukunft dann ja eine politische Macht allergrößten Ranges sein«, warnte Wilhelm Hennis in einer Fernsehdiskussion am 30. Juli 1970 im ZDF.17

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Wer ein richtiger Wissenschaftler sei, darüber wurde in der Regel nur oberflächlich reflektiert, vor allem mit Rückgriff auf Standesargumente. In einer Fernsehdiskussion vom Vorsitzenden der Bundesassistentenkonferenz, Tilman Westphalen, darauf angesprochen, kam Richard Löwenthal etwas ins Schwimmen: »Wenn ich also irgendwo eine straffe Grenze ziehen müsste, wenn ich sagen müsste, wo fängt der Wissenschaftler an, was natürlich, wie bei allen solchen Sachen in der Praxis nicht hundertprozentig scharf gesehen werden kann, so würde ich – roh gesprochen – bei der Promotion anfangen, und zwar aus dem Grunde, weil Promotion nicht ein Berufsabschluß […], sondern eine wissenschaftliche Prüfung ist.«18 Darüber hinaus wurde ein Szenario entworfen, dass die Universität und den Staat kurz vor ihrem Zusammenbruch sah. Dabei wurde streckenweise ein Bild gezeichnet, als stünde die kommunistische Revolution unmittelbar bevor. Die Gefährdungs- und Untergangsszenarien für die zweite deutsche Demokratie erinnerte viele der engagierten Professoren an die Endphase der Weimarer Republik, die nicht wenige Mitglieder des Bundes aus eigener Anschauung miterlebt hatten. Die Angst, dass Bonn doch Weimar werden könne, ging um. Wilhelm Hennis etwa machte dieses Argument stark.19 Die Bedrohung des Staates, der Demokratie, der Universität und der Freiheit der Wissenschaft wurden durch Vergleiche der Studentenbewegung und ihrer Methoden mit den marodierenden SA-Horden und den nationalsozialistischen Studenten kurz vor und nach der NS-Machtübernahme in den dunkelsten Farben gezeichnet. Dieses Szenario ist eben keine Erfindung von Götz Aly, der mit der These der Gleichsetzung der »68er« mit den so genannten »33ern« viel Kritik auf sich zog.20 Ähnlich argumentierten bereits zeitgenössisch viele führende Protagonisten, die sich im »Bund Freiheit der Wissenschaft« engagierten. »Er [gemeint ist Alexander Mitscherlich, D. M.] vergisst wohl auch, wie viele seiner und meiner nationalsozialistischen Altersund Studiengenossen von einem ähnlich wirren, aber ehrlichen Gemisch von Verzweiflung und idealisierter Hoffnung beseelt waren wie die ›revolutionären‹ Studenten von heute. […] Ganz bestimmt hat er vergessen, was das erste Kennzeichen jener künftigen ›Märzgefallenen‹ unter den Professoren war: daß sie wegsa-

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hen, als die Nazistudenten anfingen, ihre linksstehenden oder jüdischen Kollegen an der Durchführung ihrer Vorlesung zu hindern«, so Richard Löwenthal in einer Replik auf Alexander Mitscherlich in der Zeit vom Januar 1971.21 »Wehret den Anfängen und macht nicht noch einmal dieselben Fehler wie 1933« lautete die Botschaft derartiger Vergleiche. Erwin Scheuch, Wilhelm Hennis und viele andere argumentierten ähnlich. »Wenn ich gegen die ›neue Linke‹ und ihre Sympathisanten Stellung nehme, [dann, DM] weil ich sie für einen reaktionären Haufen halte«, so Scheuch in einer Fernsehdiskussion.22 Dass das subjektive Empfinden des Einzelnen Erinnerungen an die Endphase Weimarer Republik wach werden ließ, kann nicht widerlegt werden. Dennoch ist ein Stück Demagogie nicht von der Hand zu weisen, denn eine nüchterne und sachliche Analyse, die bei derartig hochrangigen Professoren vorausgesetzt werden sollte, musste ergeben, dass die bundesrepublikanische Demokratie in der Endphase der 1960er Jahre gefestigt und darüber hinaus auch die sozioökonomische Lage eine völlig andere als in den letzten Jahren von Weimar war. Trotz grundsätzlicher Übereinstimmungen in den Ausgangsanalysen und der Rolle des Staates innerhalb des Hochschulreformprozesses gab es unter den intellektuellen Wortführern des Bundes graduelle Unterschiede in der Analyse der Ursachen für die »Krise« und das vermeintliche Versagen des Staates. Hier kommen dann doch die unterschiedlichen politischen Prägungen, politisch-philosophischen Konzepte und Reformvorstellungen zum Tragen. Nachfolgend können nur einige Positionen streiflichtartig dargestellt werden. Diese waren aber repräsentativ für die Diskussionen innerhalb des Bundes. Hans Maier, der CSU nahestehend und später langjähriger bayerischer Kultusminister, rief in Anlehnung an Georg Picht, die »andere Bildungskatastrophe« aus. Er argumentierte, »dass die quantitative Expansion inzwischen durch die Erosion der Bildungsinstitutionen und den weitgehenden Verfall des Leistungsprinzips soweit weitgehend kompensiert worden ist, dass eine neue, eine andere Bildungskatastrophe« drohe.23 Maiers zentrales Argument war der Verfall des Leistungsniveaus. Den Grund dafür sah er in der seiner Ansicht nach völlig verfehlten und falsch verstandenen »Demokratisierung« der Hochschulen. Als Schuldige

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an der Situation wurden der Staat, die Studentenbewegung und die Medien ausgemacht. Die Studentenbewegung sei auf Revolte aus, links-marxistische Gruppen wollten die Universität mit Hilfe der paritätischen Mitbestimmung unterwandern und bedrohten den Staat. Der Staat schätze die Situation falsch ein und glaube, die Studentenbewegung durch Zugeständnisse bei einer »Demokratisierung« der Universität kanalisieren zu können, anstatt durchzugreifen. Denn selbst ein »Hochschul-Eldorado« würde, so Maier, »die Gegner der demokratischen Staatsform nicht bekehren«. Die Medien schließlich müssten Positionen, wie sie der BFW und Maier vertraten, einen größeren Raum geben, denn die »Revolte« mache bei den Universitäten nicht halt und deshalb dürften »Reform und Gegenwehr nicht auf die Universitäten beschränkt bleiben«.24 Etwas andere Schwerpunkte setzten Hermann Lübbe und Richard Löwenthal, zwei der prominenten ehemaligen Reformer und SPD-Mitglieder, die sich dem Bund angeschlossen hatten. Richard Löwenthal, SPD-Mitglied mit linkssozialistischer und antifaschistischer Vergangenheit, war seit 1961 Professor für Politische Wissenschaft und für Geschichte und Theorie der Auswärtigen Politik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Er besaß einen engen Kontakt zu Willy Brandt und war auch als dessen Berater tätig. Hermann Lübbe, Mitglied der SPD bis Ende der 1980er Jahre, hatte von 1963 bis 1969 den Lehrstuhl für Philosophie an der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum inne und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Reformuniversität Bielefeld, wo er als Professor für Sozialphilosophie tätig war. In den Jahren 1966 bis 1970 war er zudem Staatssekretär für Hochschulangelegenheiten in Nordrhein-Westfalen. Löwenthal kritisierte nicht, dass der Staat in den universitären Reformprozess und damit in die Hochschulautonomie eingegriffen habe, sondern dass dieser Eingriff ungenügend gewesen sei.25 So werde die Krise nicht gelöst, sondern nur »in neuen Formen institutionalisiert«.26 Löwenthal war einer der wenigen, die klare Forderungen und Vorstellungen bezüglich einer Reform der Universität benannten: Die Krise der Universität resultiere aus ihrer neuen Doppelfunktion als Ausbildungsanstalt für Wissenschaftler auf der einen und »Massenberufe« auf der anderen Seite. Da die

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alte deutsche Universität aber nur für Ersteres ausgelegt sei, waren seiner Ansicht nach Strukturveränderungen unumgänglich. Davon könnten auch die Hochschullehrer nicht ausgenommen werden. So wandte er sich gegen die Mitbestimmung der Studenten und des Mittelbaus in universitären Gremien, wollte ihnen aber eine solche in Fragen der Lehrplangestaltung zugestehen. Darüber hinaus müssten sich die Universitäten bei der Konzeption neuer, berufsbezogener Studiengänge des Sachverstandes externer Experten bedienen. Schließlich forderte Löwenthal ein neues Bildungsideal für die Universitäten. Denn die Massenuniversität habe aufgehört, »die Stätte der Erziehung einer Bildungselite im humboldtschen Sinne zu sein«.27 Nun müsse sie sich die Aufgabe stellen, die Studenten zu kritisch-aktiven Bürger heranzubilden. Auch Hermann Lübbe betonte die neue, ökonomisch notwendige berufsqualifizierende Funktion der Universität. Dennoch müsse die Freiheit der Wissenschaft sichergestellt werden. Lübbe lehnte allerdings jede Einschränkung der professoralen Autorität sowie jegliche Beteiligung der Studenten ab. Darüber hinaus wehrte er sich im Gegensatz zu Löwenthal gegen die zunehmende Bedeutung der Sozialwissenschaften auf Kosten der Geisteswissenschaften.28 Die Argumente und Vorschläge zielten auf das Festhalten an der Stoßrichtung des Reformkurses, wie er seit den späten 1950er Jahren bestimmend gewesen war: Expansion, Chancengleichheit und Ökonomisierung. Löwenthal und Lübbe stellten nicht die neuen Aufgaben der Universität und die notwendige strukturelle Reform der Institution in Abrede. Die Grenze war für sie jedoch bei der Infragestellung der universitären Hierarchien erreicht. Wilhelm Hennis, der während seines Lebens mehrfach die politische Richtung und Parteizugehörigkeit wechselte, war in den 1950er Jahren Mitarbeiter von Adolf Arndt gewesen und hatte bei Carlo Schmid habilitiert, 1962 wurde er Professor für Politische Wissenschaft in Hamburg und ab 1967 in Freiburg. Hennis hatte den SDS in Göttingen mitbegründet und noch in den 1960er Jahren zu den Befürwortern von Reformen gehört. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Ereignisse von 1968 und dem Reformansatz von Willy Brandt und seiner Regierung vollzog er jedoch eine Kehrtwende. In den 1970er Jahren war »Hennis der wohl schärfs-

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te intellektuelle Kritiker der ›demokratisierten‹ Reformpolitik.«29 Dies drückte sich auch in seinem Engagement im »Bund Freiheit der Wissenschaft« aus. Hennis forderte ebenfalls einen starken Staat. Er stellte neben der massiven Kritik an der Studentenbewegung30 die Rolle der Universität und Wissenschaft in Staat und Gesellschaft sowie theoretische Überlegungen zur »Demokratisierung« in den Mittelpunkt: »Die demokratisierte Gruppenuniversität ist doch nur eine Parodie auf den alten professoralen Elfenbeinturm. […] Nichts kommt den Sprechern der emanzipatorischen Hochschulpolitik weniger in den Sinn als eine Verpflichtung gegenüber dieser Gesellschaft, diesen konkreten Menschen, die für sie nur Spielmaterial für kritische Befreiungsaktionen darstellen.«31 Die Angst vor dem Verlust der politischen und letztlich auch wissenschaftlichen Definitionsmacht der Ordinarien an den Universitäten stand hinter derartigen Überlegungen und Befürchtungen.

Kampf um die Öffentlichkeit: Zur Medienpolitik des »Bundes Freiheit der Wissenschaft« Ein weiteres zentrales Ziel des Bundes war es, »zum Träger einer öffentlichkeitswirksamen Informationspolitik«32 zu avancieren. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Massenmedien im politischen Prozess, war dazu eine medienwirksame Kampagne unumgänglich, wollte man sich Gehör in der Öffentlichkeit verschaffen. Die Zeiten dafür waren günstig, weil die Reform der Universitäten nicht zuletzt vor dem Hintergrund von 1968 ein gesellschaftliches und mediales Topthema war. »Statt die Misere in uns hineinzufressen, werden wir sie künftig publizieren. Auch Professoren lernen allmählich, wie man das macht«, stellte Hermann Lübbe fest.33 Der Bund stand vor dem Problem, dass in den Medien eindeutig die Reformkräfte unterschiedlicher Couleur dominierten: Gegen die »Medienstars« von Frankfurter Schule und Studentenbewegung oder gegen einen Ralf Dahrendorf sollte ein Gegenpol gesetzt werden.34 Hinzu kam, dass die Mehrheit der linksliberalen Zeitungen

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und Fernsehmagazine in den Jahren 1969 bis 1973 der Reformpolitik der sozialliberalen Bundesregierung nicht nur positiv gegenüberstanden, sondern diese auch aktiv durch ihre Berichterstattung unterstützten.35 Der BFW verfolgte deshalb eine mehrgleisige Strategie: Erstens wurde versucht, eine Gegenöffentlichkeit durch eigene Publikationsorgane zu installieren. Dazu gründete man eine eigene Zeitschrift und initiierte eine Schriftenreihe (moderator, ab 1973 Freiheit der Wissenschaft, Hochschulpolitische Informationen). Ferner bediente man sich der Deutschen Universitätszeitung (DUZ), die, so erweckt es den Eindruck bei der Durchsicht, zeitweise als eine Art Verlautbarungsorgan des Bundes zweckentfremdet wurde. Zweitens ging es darum, die Präsenz in den überregionalen Zeitungen, dem Fernsehen und dem Rundfunk zu vergrößern. Bereits im Juni 1970 hatte in Bonn eine »Hochschulpolitische Tagung« stattgefunden, auf der die Gründung des Bundes avisiert wurde. Damit war ein Ziel erreicht: die Medien berichteten ausführlich über die geplante Gründung. »Die Prügelknaben schlagen zurück«, meinte die Zeit, »Aufstand der Professoren« war in der Welt am Sonntag zu lesen, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung gab sich vermeintlich sachlich unter der Überschrift »Professoren suchen den Weg in die Öffentlichkeit. Ziel: Richtige Reformen für lebenskräftige Universitäten«.36 Um kurz vor der eigentlichen Gründung die geballte Medienaufmerksamkeit auf dieses Datum zu konzentrieren, wurde der Gründungsaufruf wenige Wochen vorher in allen großen Zeitungen veröffentlicht. Das Echo war geteilt: Positiv und unterstützend waren die Reaktionen von FAZ und Welt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb hingegen zurückhaltend-nüchtern unter der Überschrift »Professoren blasen zum Sammeln«.37 Hier ließ man Hans Maier als Vertreter des Bundes sowie Peter Glotz, der die Inhalte genauso wie die Organisation des BFW ablehnte und das Ganze als »Seifenblase« bezeichnete, zu Wort kommen. Die Frankfurter Rundschau berichtete kritisch. Unter der Überschrift »Professoren-Bund will SPD verunsichern« wies der Autor daraufhin, dass es sich bei den Initiatoren um »verschreckte Reformer« handele, die die allgemeinen, von der Regierung geförderten »Liberalisierungstendenzen«

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stoppen wollten.38 Der Spiegel warf dem BFW unter anderem Panikmache durch eine überzogene Darstellung der politischen Verhältnisse an den Universitäten vor.39 In der Zeit wurde die Staatsbezogenheit der Argumentation besonders hervorgehoben und betont, dass durch die Gründung »eine Frontenbildung in der Hochschulpolitik« unvermeidlich geworden sei.40 Die Öffentlichkeitsarbeit des BFW orientierte sich an den Erfordernissen der modernen Mediengesellschaft. Infolge des Personalisierungstrends, der sich durch die zunehmende Medialisierung von Politik im Laufe der 1960er Jahre immer mehr durchsetzte, traten einzelne Protagonisten vermehrt in Erscheinung. So ist es sicherlich kein Zufall, dass Hans Maier und Richard Löwenthal besonders häufig in Funk, Fernsehen und Presse die Positionen des Bundes und ihre eigenen Vorstellungen darlegten und verteidigten. Da dem Bund daran gelegen war, sich als Vertretung eines möglichst breiten politischen und weltanschaulichen Spektrums zu präsentieren, boten sich die beiden geradezu idealtypisch für eine Personalisierung an: der dezidiert konservative, katholische Maier auf der einen, der Antifaschist und Sozialdemokrat Löwenthal auf der anderen Seite. Die Medienoffensive war zunächst erfolgreich. Es gelang in allen großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen, in Fernsehen und Rundfunk ein Forum zur Darlegung der eigenen Positionen zu finden und mit den politischen und intellektuellen Gegnern öffentliche Kontroversen auszufechten. So entspann sich in der Zeit eine heftige Kontroverse zwischen Richard Löwenthal und Alexander Mitscherlich, die auch im Fernsehen ausgetragen wurde und die Kernpunkte der Auseinandersetzungen nochmals aufnahm.41 Zentrale Dissenspunkte waren auch hier die Rolle des Staates, die Frage der Demokratisierung und die Analyse des Bundes über die aktuelle Situation an den Universitäten, die der BFW kurz vor einer Machtübernahme durch die »Roten Zellen« sah. Mitscherlich widersprach dieser Auffassung massiv und betonte, dass das »Beharren auf professorale Privilegien« notwendige Reformen behindere. Außerdem wunderte er sich, dass nach »25 Jahren Universitätspolitik, in welcher diese Universität von staatlichen Eingriffen verschont« werden sollte, plötzlich der Ruf nach dem Staat ertönt, dem man sich nun »überantworten« wolle.42

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Durch eine strategische Medienpolitik gelang es dem Bund, aus dem »Elfenbeinturm« herauszutreten und seiner Lobbypolitik in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, wenn auch erst mittelfristig mit dem gewünschten politischen Erfolg.

Schlussbemerkungen Dass sich in Phasen beschleunigten politischen und gesellschaftlichen Wandels wie den späten 1960er und frühen 1970er Jahren Gegen- und Beharrungskräfte formieren, ist grundsätzlich keine untypische Erscheinung. Dass es sich beim »Bund Freiheit der Wissenschaft« um eine intellektuelle Sammlungsbewegung handelte, die eine im weitesten Sinne konservative Gegenbewegung begründen wollte, ist deshalb auch in der Forschung unstrittig.43 Der Erfolg des Bundes muss in der Mittel- und Langzeitperspektive gesehen werden: Die Mitbestimmung und damit zumindest eine – wenn auch eingeschränkte – Demokratisierung der Hochschulen wurde zwar nicht verhindert, die Drittelparität aber schon. In der Langzeitperspektive konnte das intellektuelle Feld für die von Helmut Kohl 1982 proklamierte »geistig-moralische Wende« bereitet werden. Dies ist vor dem Hintergrund der krisenhaften ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im weiteren Verlauf der 1970er Jahre zu interpretieren. Der Ruf nach einem starken durchgreifenden Staat bei der Durchsetzung einer Hochschulreform und zum Schutz der vermeintlich von »links« bedrohten Demokratie erfolgte erst in dem Moment, als sich eine Vielzahl von Professoren durch Studentenbewegung und Landeshochschulgesetze sowie die angekündigten Maßnahmen der sozialliberalen Bundesregierung in die Defensive gedrängt fühlten. Dabei war für viele, angesichts des von ihnen subjektiv hergestellten Bezugs zur Endphase der Weimarer Republik, eine reale Sorge um die Zukunft der bundesdeutschen Demokratie handlungsleitend. Betrachtet man die Gründungs- und Hochphase des Bundes, die zeitlich fast parallel mit der Hochphase der Reformtätigkeit der

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sozialliberalen Regierung verlief, genauer, so müssen weitere Akzente in der Bewertung gesetzt werden. Die Gründung des Bundes gibt keinen Anlass dazu, eine Neubewertung des Zeitraums von den späten 1960er bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre vorzunehmen. Sie bestätigt eher die Etikettierung als Liberalisierungs-, Demokratisierungs- und Aufbruchszeit, zu der eben auch eine politische Polarisierung und kontroverse Debatten gehören. Denn die Formierung des Bundes symbolisiert die Kehrseite genauso wie sie als integraler Bestandteil der Wandlungsprozesse zu begreifen ist. Wie gefestigt die bundesrepublikanische Demokratie damals bereits war, zeigt sich daran, dass sie solche Gegenbewegungen von rechts und von links nicht nur aushalten konnte, sondern auch zu keinem Zeitpunkt wirklich in ihrer Existenz gefährdet war. Eine Umkehr war weder gesellschaftspolitisch und hochschulpolitisch möglich – auch wenn keine Drittelparität im Hochschulrahmengesetz von 1976 verankert wurde.

Anmerkungen 1 Willy Brandt, Erklärung der Bundesregierung vom 28. 10. 1969, in: Auftakt zur Ära Brandt. Gedanken zu Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. 10. 1969, Berlin 1999, S. 67–98, hier S. 83. 2 Vgl. dazu ausführlich Daniela Münkel, Willy Brandt und die »vierte Gewalt«. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt / M. / New York 2005, S. 256 ff. 3 Vgl. dazu u. a. Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003. 4 Vgl. Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, Teil I: Wissenschaftliche Hochschulen, Tübingen 1960; zur Bedeutung des Wissenschaftsrates vgl. Wilfried Rudloff, Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren, in: Stefan Fisch / Wilfried Rudloff, Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 153–188.

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5 Vgl. Wilfried Rudloff, Ansatzpunkte und Hindernisse der Hochschulreform in der Bundesrepublik der sechziger Jahre: Studienreform und Gesamthochschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 71–90, hier S. 74 ff. 6 Vgl. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, Freiburg 1964. 7 Vgl. Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965. 8 Vgl. Prisma 3 (1958), H. 4. 9 Vgl. zu den Angriffen und den Reaktionen von Hochschullehrern u. a. Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, S. 147 f; Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 97; Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 200 ff. 10 Vgl. Johannes T. Theißen, Die Rolle der Interessenverbände im Hochschulbereich unter besonderer Berücksichtigung von »Bund Freiheit der Wissenschaft« und »Bund Demokratischer Wissenschaftler, Diss. Bonn 1984, S. 74 ff. 11 Hermann Lübbe, Hochschulreform und Gegenaufklärung, Freiburg 1972, S. 69. 12 Vgl. Theißen, Interessenverbände, S. 110 f. 13 Vgl. ebd., S. 206 f. 14 Hans Maier / Michael Zöller (Hg.), Bund Freiheit der Wissenschaft. Gründungskongreß in Bad Godesberg am 18. November 1970, Köln 1970, S. 7. 15 Ebd., S. 9. 16 Vgl. u. a. Ernst Nolte, Die gegenwärtige Situation der deutschen Universität, in: Maier / Zöller, Bund, S. 20–35, hier S. 24. 17 Reform Universität oder Kader Hochschule? Ein Streitgespräch mit Ludwig von Friedeburg, Volker von Hagen, Wilhelm Hennis, Erwin K. Scheu, Thomas von der Vring, Bremen 1970, S. 39. In dieser Fernsehdebatte wurden von den vertretenen Mitgliedern des BFW die oben genannten Argumente alle nochmals mit Nachdruck vertreten. 18 Fernsehbericht des WDR vom 20 November 1970, Wochenendforum: »Ende – offen«, abgedruckt in: Maier / Zöller, Bund, S. 88–118, hier S. 92. 19 Vgl. dazu u. a. Schlak, Hennis, S. 153 f. 20 Vgl. Götz Aly, Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt / M. 2008. 21 Richard Löwenthal, Farbenblind gegen rote Intoleranz?, in: Die Zeit vom 8. 1. 1971. 22 Reform der Universität, S. 41. 23 Hans Maier / Michael Zöller (Hg.), Die andere Bildungskatastrophe. Hochschulgesetze statt Hochschulreform, Köln 1970, S. 8. 24 Ebd., S. 17. 25 Vgl. dazu ausführlich Richard Löwenthal, Hochschule für die Demokratie. Grundlinien für eine sinnvolle Hochschulreform, Köln 1971. 26 Vgl. Richard Löwenthal, Demokratisches Prinzip und Leistungsprinzip in der Hochschule, in: Maier / Zöller, Bund, S. 36–46, hier S. 38.

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Ebd., S. 44. Vgl. dazu ausführlich Hacke, Bürgerlichkeit, S.103 ff. Schlak, Hennis, S. 144. Vgl. dazu ausführlich Wilhelm Hennis, Die deutsche Unruhe. Studien zur Hochschulpolitik, Hamburg 1969; Schlak, Hennis, S. 146 ff. Wilhelm Hennis, Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft, in: Maier / Zöller, Bund, S.47–62, hier S. 57. Hermann Lübbe, Was zu tun ist, in: Maier / Zöller, Bund, S. 63–75, hier S. 68. Ebd. Vgl. dazu u. a. Clemens Albrecht, Massenmedien und die Frankfurter Schule, in. ders. u. a., Die Intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt / M. / New York 1999, S. 203–246. Vgl. dazu ausführlich Münkel, Willy Brandt, S. 80 ff. Die Zeit vom 7. 8. 1970; Welt am Sonntag vom 26. 7. 1970; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juli 1970. Süddeutsche Zeitung vom 18. 11. 1970. Frankfurter Rundschau vom 20. 11 1970. Vgl. Der Spiegel vom 23. 11. 1970. Vgl. Die Zeit vom 27. 11. 1970. Vgl. Die Zeit vom 11. 11. 1970, 8. 1. 1971, 22. 1. 1971. »Bund gegen studentische Untaten«, Die Zeit vom 22. 1. 1971. Vgl. u. a. Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478.

Jens Hacke

Der Staat in Gefahr Die Bundesrepublik der 1970er Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit

Der Blick auf die politische Zeitdiagnostik und die politische Publizistik der 1970er Jahre bietet ein düsteres Bild. Krisen und Probleme, wohin man schaut. Dabei drängt sich fast der Eindruck auf, dass die Bundesrepublik im dritten Jahrzehnt seit ihrer Gründung allerhärtesten Bewährungsproben ausgesetzt war, denen sie anscheinend wie durch ein Wunder entkommen sein muss. Zwei besonders prominente Begriffe dieser Zeit lauten »Legitimationsproblem« bzw. »Legitimationskrise« auf der einen, »Unregierbarkeit« bzw. »Regierbarkeitskrise« auf der anderen Seite. Unter diesen Schlagworten wurde das verhandelt, was man als unmittelbar existenzbedrohende Gefahren nicht nur für den westdeutschen Staat, sondern für die westlichen Demokratien insgesamt wahrzunehmen meinte. Was verursachte nun dieses virulente Krisenbewusstsein? Und: Warum kann ein Staatswesen, das seinen Historikern zufolge nach einem Vierteljahrhundert ganz offensichtlich eine success story »geglückter Demokratisierung« sowie »geglückter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierung« (Schwarz) repräsentierte1, bei einer Vielzahl von Intellektuellen das Empfinden auslösen, unmittelbar vor dem Abgrund zu stehen? Schon damalige Debattenteilnehmer haben die Gemeinsamkeiten der politischen Lager hinsichtlich der kritischen politischgesellschaftlichen Bestandsaufnahme unterstrichen. Claus Offe beispielsweise sah deutliche »Strukturähnlichkeiten« zwischen »neukonservativer Staatstheorie« und »sozialistischer Kritik spätkapitalistischer Gesellschaftsformationen«2 – und drückte damit gleichzeitig den entscheidenden Gegensatz aus: Gesellschaft versus Staat. Diese Beobachtung ist freilich nicht neu. Die Vordenker eines erneuerten Historischen Materialismus, eben genannter

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Claus Offe und Jürgen Habermas, teilten die schonungslose gesellschaftspolitische Situationsbeschreibung der konservativen Technokratie, wie sie von Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Ernst Forsthoff vorliegt, in ihren Grundzügen, weil sie aus neomarxistischer Perspektive deren analytisches Potential anerkannten.3 Die beiden Hüter der Kritischen Theorie schienen sie als realistisches Abbild bundesrepublikanischer Wirklichkeit zu verkennen, um sich kritisch dagegen zu wenden. Umgekehrt trafen sich konservative Demokratieskeptiker mit der politischen Linken in ihren Vorbehalten gegenüber dem bundesrepublikanischen Staat. Als die Systemkritik der Neuen Linken in den studentischen Protesten von 1968 ausbrach, fanden sie viele ihrer sorgsam gepflegten Ressentiments hinsichtlich des westdeutschen Defizits an Staatlichkeit bestätigt. Aus dieser Gemengelage entwickelte sich in den 1970er Jahren eine intensive Staatsdebatte, die nur mit Mühen in ein ruhigeres Fahrwasser geleitet werden konnte. Die Analyse dieses Krisendiskurses um den Staat soll in vier Schritten erfolgen: Zunächst sollen die allgemeinen Gründe und Umstände des Krisengefühls der 1970er Jahre dargelegt werden; dann gilt es, in einem zweiten und dritten Schritt zur Klärung der beiden Begriffe mit den dazugehörigen politisch-intellektuellen Optionen beizutragen, also zum einen – aus einer eher links orientierten Perspektive – muss das Problem der Legitimation bzw. der Legitimationsprobleme der Bundesrepublik diskutiert werden; und komplementär ist die eher konservative Thematisierung der Regierbarkeit bzw. die Furcht vor der Unregierbarkeit zu untersuchen. Ganz konventionell unternimmt dann der vierte und letzte Abschnitt den Versuch, zu einer historisierenden Bewertung dieser Debatte mit einigen thesenhaften Überlegungen zu kommen.

Das Krisengefühl der 1970er Jahre Es ist mittlerweile Usus geworden, das Jahr 1973 als entscheidende Zäsur, als Ende des »goldenen« Nachkriegszeitalters anzusehen.4 Der Ölschock beförderte die Einsicht in die »Grenzen des Wachstums«, die Reformeuphorie in den westlichen Staaten, die keynesianisch auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaats setzten, erhielt einen

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nachhaltigen Dämpfer. Für diese Zäsur spricht einiges, vor allem, dass sie schon von Zeitgenossen als solche eingeschätzt worden ist. Einer der Autoren der so genannten konservativen Tendenzwende, der Philosoph Robert Spaemann, sah in der Ölkrise »das wichtigste geistesgeschichtliche Ereignis der Nachkriegszeit« – und auch jüngere Politikwissenschaftler wie der Hennis-Schüler Bernd Guggenberger prognostizierten bereits 1975, »daß wir einst, aus der historischen Rückschau, das Jahr 1973 / 1974 als den entscheidenden Einschnitt für die Neuorientierung unserer gesamten politischen Kultur und der damit verbundenen Werte und Verhaltensweisen ansehen werden«.5 Wahrscheinlich wird man diese Prognose ebenso relativieren müssen, wie die entschlossenen Epocheneinteilungen der jüngeren Geschichtswissenschaft, wenn man in Rechnung stellt, dass die vermeintliche Globalkrise relativ schwache Spuren in den unmittelbaren Erfahrungen der Menschen hinterließ. Allerdings war die Auffassung verbreitet, dass in dieser Ära die »kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus« zu kulminieren drohten. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell diagnostizierte, »dass die drei Bereiche – Wirtschaft, politische Ordnung und Kultur – von einander widersprechenden, axialen Prinzipien beherrscht werden: die Wirtschaft vom Prinzip der Effizienz, die politische Ordnung vom Gleichheitsprinzip und die Kultur von der Idee der Selbstverwirklichung«.6 Ein konkret lebensweltliches Krisengefühl hinterließen überdies die kulturellen und gesellschaftlichen Folgen des Studentenprotests, die allgemein als sichtbarer Ausdruck von »Gesellschaftswandel und Kulturkrise« galten.7 Der studentische Protest und das Aufkommen der Neuen Linken wandten sich – wie überall in Europa und der westlichen Welt – nicht nur gegen überkommene gesellschaftliche Konventionen und die Selbstzufriedenheit einer Konsumgesellschaft, sondern sah im Staat und seinen wesentlichen Institutionen Repressionsmechanismen wirksam, aus denen es sich zu befreien galt. Der Marsch durch die Institutionen und die Utopie der Herrschaftsfreiheit waren in dieser Zeit mobilisierende Schlagworte, die ausdrücklich gegen das »System«, also gegen den Staat insgesamt gerichtet waren. Dabei galt es das herkömmliche staatsbürgerliche Pflichtethos im Sinne einer »Großen Weigerung« (Herbert Marcuse) zu untergraben. Die angestrebte

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Gesellschaftskritik wurde damit zur fundamentalen Staatskritik, da die protestierenden Studenten die »Demokratiedefizite der Mehrheit« kurzerhand auf den Staat und den Parlamentarismus projizierten.8 Insofern trugen sowohl ein globales Krisengefühl als auch gesellschaftlich-politische Entwicklungen dazu bei, dass in der Öffentlichkeit zahlreiche Stimmen laut wurden, die einen Bedarf nach grundlegendem Wandel artikulierten. Die Dramatik des Krisenbegriffs bringt es mit sich, dass Bedrohungslagen im Bewusstsein der Zeitnot debattiert werden. Dazu gehören »das Wissen um die Ungewissheit und der Zwang zur Vorausschau, um ein Unglück zu verhindern oder Rettung zu finden«.9 Im Folgenden soll ein Teilaspekt dieses Diskurses (nicht der kleinste!) thematisiert werden, nämlich: welchen Niederschlag dieses Krisenbewusstseins hinsichtlich der Akzeptanz des Staates und des Vertrauens in seine Leistungsfähigkeit fand. Die Krisensymptome schienen sich seit dem Anfang der 1970er Jahre zu mehren, allenthalben wurden Zweifel am Fortbestand und an der Zukunft der Demokratie laut, nicht nur im Blick auf bundesdeutsche Entwicklungen. Hier wich die optimistische Stimmung aus den Aufbruchsjahren der Regierung Brandt jäher Ernüchterung: das knapp gescheiterte Misstrauensvotum, die Agonie des angeschlagenen Kanzlers, die Guillaume-Affäre – all dies konnte auch als Krise der Bonner Demokratie interpretiert werden. International sah man das Modell der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts ebenfalls in der Bredouille: Watergate, Staatskrise in Dänemark, Patt-Situation in Schweden, politische Dauerkrisen in Italien, das Ende Allendes in Chile und die Juntas in Südamerika, die Krisen der Entkolonialisierung, die fortdauernde Bedrängnis des Kalten Krieges und die weltwirtschaftliche Störungsanfälligkeit – all diese Eindrücke bestimmen die Einschätzungen von Intellektuellen, die sich mit der Krise der westlichen Demokratie seit Anfang / Mitte der 1970er Jahre befassen.10 Es ist nun nicht ganz leicht, die breite intellektuelle Debatte dieser Jahre kohärent zu bündeln. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kann in diesem Kontext nur vom Höhenkammdiskurs der öffentlich intervenierenden Soziologen, Politologen und Philosophen ausgegangen werden, während die fraglos vorhandene

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reichhaltige allgemeine Publizistik zum Thema außen vor bleiben muss. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass mit Blick auf die verschiedenen Positionen eher die Struktur der Argumentation und nicht so sehr die Quantifizierung oder politische Lagerzuordnung von Interesse sein soll. Kriterium für die Berücksichtigung ist die Beschäftigung mit dem Staat. Hier kann man eine erste grobe Unterteilung vornehmen: Der neomarxistischen Linken geht es darum, die Entkopplung von Staat und Gesellschaft zu beschreiben; die Verselbständigung von politischem Entscheidungshandeln der Eliten, das Auseinandertreten von System und Lebenswelt und die dadurch bedingten Rationalitätsverluste sind die hervorstechenden Themen. Das eher liberalkonservative Lager (liberalkonservativ deswegen, weil es sich positiv auf das Grundgesetz bezieht und die bestehende Ordnung verteidigen will) denkt vom Staat her und sieht die Rationalität / Effizienz politischer Entscheidungen durch Partizipations- und Demokratisierungsansprüche gefährdet. Herrschaft soll möglich bleiben, Regierbarkeit ist nur gewährleistet, wenn die Exekutive handlungsfähig und der Charakter der Mischverfassung gewahrt bleibt. Sicherlich schließt diese zentrale Auseinandersetzung um den Staat an andere, vorher geführte Debatten an – die Notstandsgesetzgebung, den technokratischen Staat, die Bildungsreform, gesellschaftliche Demokratisierung etc. Sie lässt sich allerdings auch isolieren, denn sie ist nicht zu verstehen ohne den Bezug auf das »Spätkapitalismus«-Theorem, mit dem Claus Offe und Jürgen Habermas die »Legitimationsprobleme« der Bundesrepublik festzumachen suchten.

Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus lautet der bekannte Buchtitel von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1973, ein Werk, das nach seinem Weggang aus Frankfurt als erstes Ergebnis seiner Starnberger Zeit zu verstehen ist – und womöglich ein Buch, mit dem sich der »Hegel der Bundesrepublik« heute nicht mehr uneingeschränkt identifizieren wird.11 Um es vielleicht etwas drastischer

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zu formulieren: Es liefert einen eindrucksvollen Beleg, wie das – wenn nicht hybride, so doch zumindest sehr anspruchsvolle – Unternehmen des Direktors des Max-Planck-Instituts, die »Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« zu erforschen scheitern musste: Es ist – etwas provokant gewendet – nunmehr ein historisches Dokument sozialtheoretischer Reflexion, der sich die Wirklichkeit immer mehr entzog.12 Habermas schloss in seinen Hauptthesen dabei wesentlich an die Überlegungen an, die sein Assistent Claus Offe in seiner – über 50.000 mal verkauften! – Aufsatzsammlung über Die Strukturprobleme des kapitalistischen Staates entwickelt hatte.13 Zwei Gedanken bestimmen den Thesengang: zum einen die schon erwähnte Kritik am bundesrepublikanischen »spätkapitalistischen System«, zum anderen die immanente Kritik politischer Herrschaft überhaupt und die gegenläufige »Utopie der Herrschaftsfreiheit«, die Habermas zur Entwicklung einer »Theorie der kommunikativen Kompetenz« führen sollte. Kurz gesagt wendet sich Habermas gegen den Zusammenhang von Legitimität und Herrschaft, wie er insbesondere seit der Weberschen Herrschaftssoziologie Gültigkeit erlangt hat, und möchte zugleich einen substanziellen Begriff von Legitimität entwickeln, der sich nicht auf Verfahrenslegalität beschränkt, wie dies zeitgleich Niklas Luhmann insinuiert.14 Habermas’ Kritik am an den Kategorien der Weberschen Herrschaftssoziologie trifft sich dabei in Teilen mit Dolf Sternbergers Stoßrichtung, Legitimität kontraktualistisch als Form bürgerlicher Vereinbarung zu unterfangen. Allerdings wird sich Habermas erst sehr viel später auf Sternbergers republikanisch akzentuierte Grundlinie einlassen.15 Drei Auseinandersetzungen machen dieses Streben nach einem neuen Begriff von Legitimität deutlich: Erstens die Auseinandersetzung der »Frankfurter« mit Luhmann, die ihren Ausdruck in dem viel diskutierten Band Sozialtechnologie oder Theorie der Gesellschaft findet: Gegen die sozialtechnologische Apologie des Status quo, gegen eigenmächtigen Systemlogiken wird die Kritik bzw. normative Begründungsbedürftigkeit der Ordnung ins Feld geführt.16 Zweitens die Kontroverse zwischen Jürgen Habermas und Robert Spaemann über Herrschaftsfreiheit und gerechte Herr-

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schaft: Hier zeichnen sich schon die Missverständnisse zwischen linksliberalen Kritikern und liberalkonservativen Befürwortern der bundesrepublikanischen Ordnung ab, die beherrschend bleiben werden. Spaemann kritisiert Habermas Ideal des herrschaftsfreien Diskurses als potentiell illiberale politische Zielvorstellung eines antizipierten »vernünftigen« Konsenses. Habermas hingegen verwirft Spaemanns Ideal einer gerechten Herrschaft als platonische Idee, die sich verallgemeinerbaren Kriterien entziehe. Ihm geht es um eine zusätzliche Institutionalisierung von Diskursen, da die Institutionen der bestehenden parlamentarischen Demokratie ihm nicht hinreichend erscheinen, um eine normativ gewahrte Identität der Gesellschaft sozialintegrativ zu repräsentieren.17 Drittens stritten auf dem Politologentag 1975 Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas um den Legitimitätsbegriff: Hennis nahm das Tagungsthema zum Anlass für eine scharfe Kritik der Habermas / Offe-These von einer Legitimationskrise der Bundesrepublik. Er kritisiert die »Unidee von der Selbstorganisation der Gesellschaft«, da die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft die Bedingung der Freiheit sei. Hennis’ Fundamentalkritik gipfelt in dem Vorwurf, Habermas fehle »jeder Sinn für das institutionelle Moment aller politischen Herrschaft«. Habermas hingegen verteidigt seine zwei Jahre zuvor entwickelten Thesen über die Legitimationsprobleme und beharrt auf seinem Ideal einer »diskursiven Verflüssigung der weitgehend extern gesteuerten oder traditionsfest ablaufenden Interpretation unserer Bedürfnisse«. Aus dieser Auseinandersetzung entspringt schließlich Hennis groß angelegtes Projekt zur Regierbarkeit.18 Hintergrund und Entzündungspunkt für diese Auseinandersetzungen bleibt allerdings das Theorem von der Legitimationskrise im Spätkapitalismus. Deshalb sei dieses wenigstens noch einmal stichwortartig skizziert: Habermas und Offe gehen davon aus, dass zu Beginn der 1970er Jahren die systeminhärenten Widersprüche des Kapitalismus und der liberalen »Formaldemokratie« kulminieren: einerseits als ungelöste ökonomische Steuerungsprobleme, da im Spätkapitalismus »oligopolistische Marktstrukturen« das Ende des Konkurrenzkapitalismus bezeichneten und zugleich der Marktmechanismus durch (vergebliche) staatliche Interventionen stetig ausgehöhlt werde; andererseits als Entfremdung, die durch

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die zwingend scheiternde Rückkopplung des ökonomischen an das politische System bewirkt wird – der hier notwendige zusätzliche Legitimationsbedarf kann nicht gedeckt werden. Während der »Zuschnitt formaldemokratischer Einrichtungen und Prozeduren« bisher genügte, um »die Entscheidungen der Administration weitgehend unabhängig von bestimmten Motiven der Staatsbürger« zu fällen, hat das Auseinandertreten von System und Lebenswelt, hat die Dysfunktionalität der politischen Ordnung offenbar einen Grad erreicht, der ehemalige Passivität und Massenloyalität in eine Krise umschlagen lässt.19 Die wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen »distributiver Pazifizierung« (Offe) reichen nun nicht mehr aus.20 Was die Haltung von Habermas und Offe generell auszeichnet, sind zwei Aspekte: zum einen ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat, dessen institutionelle Macht man grundsätzlich mit dem Vorbehalt der »strukturellen Gewalt« versieht; zum anderen wähnt man sich mit fast geschichtsphilosophisch grundierter Sicherheit im festen Bewusstsein, inmitten einer historischen Krise zu stecken. Im marxistisch inspirierten Stufenmodell schien ein (zumeist mit der Vorsilbe »spät« versehener) liberaler, kapitalistischer, bürgerlicher Staat abgewirtschaftet zu haben – wobei der kritischen Linken selbst die »Alternative« im Zuge der 1970er Jahre mehr und mehr verloren ging. Auch das Argument, die formale Demokratie als verschleierte Klassenherrschaft zu begreifen, wurde zusehends stumpf, waren die Klassen im herkömmlichen Sinne doch kaum mehr zu identifizieren. Die Entgrenzung des Legitimitätsbegriffs, der sich nicht mehr nur auf Herrschaft, sondern auf die gesamte politische Ordnung bezog – und ihre generelle normative Anerkennungswürdigkeit – tat ein Übriges, um die Legitimitätsfrage als Existenzfrage zu intonieren. Die angestrebte »Rückbindung des normativen Geltungsanspruchs politischer Institutionen an vernünftige, intersubjektiv nachprüfbare Legitimationsansprüche« löst sich weitgehend von der konkreten politischen Praxis. Man hatte es nun mit unauflösbar erscheinenden Widersprüchen zu tun, die Habermas zu folgender Diagnose führten: »Die Rückkopplung des ökonomischen Systems an das politische, welche die Produktionsverhältnisse in gewisser Weise repolitisiert, schafft andererseits einen verstärkten

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Legitimationsbedarf: der Staatsapparat, der nicht mehr nur – wie im Liberalkapitalismus – allgemeine Produktionsbedingungen im Sinne von Bestandsvoraussetzungen des Reproduktionsprozesses sichert, sondern initiativ in diesen eingeschaltet wird, muß, wie der vorkapitalistische Staat, legitimiert werden, ohne daß jetzt die Möglichkeit bestünde, auf die im Laufe der Entfaltung des Kapitalismus untergrabenen und verbrauchten Traditionsbestände zurückzugreifen.«21 Angesichts der umfassenden, alternativlos erscheinenden Krisendiagnose vollzog sich langsam der Abschied von der Gesellschaftstheorie und eine Hinwendung zur »normativen Theorie« – und die Demokratisierungspotentiale entdeckte man fortan in neuen sozialen Bewegungen und im »zivilen Ungehorsam«.22 Die Linke wollte den Staat auf keinen Fall den Etatisten überlassen, die, wie Offe befürchtete, »nicht-politische Ordnungsprinzipien – Familie, Eigentum, Leistung, Wissenschaft – wieder in ihr Recht« setzten.23 Auch diese heute kaum mehr Furcht einflößende Aussicht führt vor, auf welche Weise sich mit den Jahren eine Verschiebung der Werteskala vollzogen hat.

Unregierbarkeit Für die konservativen Krisendiagnostiker stellte sich weniger das Problem der Legitimität von Herrschaft als vielmehr die zunehmende Schwerfälligkeit der Exekutive, Entscheidungen zu treffen, um eine Krise effizienter Staatstätigkeit zu überwinden. Möchte man es auf den Punkt bringen, dann wird hier nicht so sehr von der Gesellschaft, sondern vom Staat her gedacht. Dieser Umstand war in der Tradition konservativen Staatsdenkens besonders schwierig, denn viele taten sich bekanntermaßen schwer, diesen »verdächtigen Staat« zu akzeptieren. Zwar war für den SchmittAdepten Rüdiger Altmann nur schwer von der Hand zu weisen, »dass die Bundesrepublik in den zwanzig Jahren ihres Bestehens ein Staat geworden ist«. Im Ganzen bleibt für Altmann allerdings »die Stabilität der Bundesrepublik auch eine Kompensation ihrer geschwächten Staatlichkeit«. Er sah im Jahr 1969 durchaus Anzeichen für die Krisenanfälligkeit einer »durchfunktionalisierten

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Verfassung der Gesellschaft«: »Selbstverständlich kommt der Tag, wo die deutsche Politik Leistungen von höherer Qualität als bisher erbringen muss, wo sie andere Rechtfertigungen braucht als den Hinweis auf ›das Erreichte‹ und ihren guten Willen.«24 Dieser gefürchtete Moment der Bewährung schien nun, wenige Jahre später, gekommen. Die Krisenursachen waren vielfältig, denn ganz im Luhmannschen Sinne hatte man es mit einer Komplexitätssteigerung innerhalb politischer Prozesse zu tun. Natürlich war die Auffassung verbreitet, die Kritik von links selbst als Krisenursache zu interpretieren und vor übersteigerten Ansprüchen an den Staat zu warnen sowie die Loyalität zur staatlichen Ordnung einzufordern. So sprach Hermann Lübbe stellvertretend für viele, wenn er äußerte: »Radikal […] ist nicht ein auffällig aufgeregter politischer Verhaltensstil, sondern die Verweigerung der Anerkennung der Legitimität des Systems.«25 Für die Diffamierung der demokratischen Regeln und Verfahren als lediglich formal besaß er kein Verständnis; der Staat sollte wieder auf die Agenda und als Angelpunkt der politischen Reflexion ins Recht gesetzt werden.26 Abseits dessen lässt sich allerdings auf der eher liberalkonservativen Seite des politischen Lagers eine ganz grundlegende Besorgnis um den Zustand der westlichen Demokratie konstatieren. Auch hier war man nicht vor Alarmismus gefeit – und man teilte einige der wesentlichen Prämissen marxistisch inspirierter Legitimitätszweifler. Es ist bemerkenswert, dass sogar der Staatsrechtler Martin Kriele, bekanntlich der Ritter-Schule verbunden, seinen Debattenbeitrag in der Beck ’ schen Schwarzen Reihe Legitimationsprobleme der Bundesrepublik betitelte.27 Man muss nicht lange suchen, um auch hier Belege für eine gewisse Untergangsstimmung zu finden. Von bedrohlichen »Rissen« im Staatswesen war die Rede – und der Vergleich mit Weimar blieb ein allgemeiner Bezugspunkt. Auch der liberale Ralf Dahrendorf unterzog die »Krise der Demokratie« einer »kritischen Betrachtung«. Zwar wies er darauf hin, dass die Krisen der Diktaturen und des Ostblocks weitaus schwieriger seien, aber aus seiner Sicht war es durchaus möglich, »dass wir Zeiten entgegengehen, in denen vertraute demokratische Institutionen entweder Turbulenzen oder, schlimmer noch, dem Sog der Irrelevanz ausgesetzt sind. Wir sollten uns davor hüten«, warnte Dahrendorf in einer Ringvorlesung zum Thema »Über-

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forderte Demokratie?«, diese Institutionen »dann unkritisch, nämlich selbst dogmatisch zu verteidigen«. Dahrendorf brachte in diesem Vortrag zum Ausdruck, was rechts und links Common sense zu sein schien: Überforderung der Exekutive und Entfremdung der Bürger vom Gemeinwesen. Nicht nur schien in seinen Augen die Phase vorbei zu sein, »in der wir uns ständig wachsende Erwartungen im Hinblick auf privaten wie öffentlichen Wohlstand leisten konnten«. Angesichts der Einsicht in die Grenzen des Wachstums blieb es für ihn offen, »ob die modernen Marktwirtschaften wie Radfahrer sind, die umfallen, wenn sie stehen bleiben, oder wie Wohnwagen, in denen es auch im Stand noch gemütlich ist. Der Test steht noch aus.«28 Dahrendorf nimmt in der Debatte um Legitimität und Regierbarkeit eine Mittlerstellung ein. Von den Zugehörigen der verschiedenen politischen Lager wurde dies auch als unschlüssiges Lavieren wahrgenommen. Seiner liberalen Sympathie mit dem Tendenzwende-Kongress 1974 (an dem er als Schlussvortragender teilnahm) folgte späterhin eine Verurteilung der so genannten Neokonservativen, die er in seinem Beitrag zu den »Stichworten zur geistigen Situation der Zeit« scharf als selbstgenügsame Kulturpessimisten kritisierte. Dem Lager der Kritischen Theorie blieb er hingegen als liberaler Elitetheoretiker verdächtig.29 Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis war einer der besonders engagierten Debattenteilnehmer im liberalkonservativen Lager. In seiner Zurückweisung linker Legitimitätszweifel setzte er sich besonders vehement dafür ein, die wahrgenommene Krise unter dem Gesichtspunkt der Regierbarkeit zu betrachten und als ein Bündel lösbarer Probleme zu analysieren. Das bereits erwähnte, von ihm initiierte zweibändige Kompendium zur Regierbarkeit bringt dieses Bestreben zum Ausdruck.30 Trotz schriller Zwischentöne geht es ihm um Pragmatismus und praktische Vernunft in Einzelfragen, nicht um die Entfaltung eines großen theoretischen Rahmens. So sind es die klassischen Themen der Regierungslehre, des Parteiensystems, der Bürgertugenden und -pflichten, die die Perspektive auf die Situation bestimmen. Damit hatte das Paradigma eines stabilitätsvertrauenden Konservatismus, der Exekutivhandeln als effiziente Steuerung von technokratischen Ingenieuren begriff, an Plausibilität verloren. Denn das Vertrauen

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in die Machbarkeit der Sachen, das noch Schelskys epochemachenden Aufsatz über die »wissenschaftliche Zivilisation« auszeichnete, war geschwunden – und Schelskys postideologische Prognose vom Ende der Politik war widerlegt, die Reflexion über politische Entscheidungen war angesichts neuer ideologischer Optionen wieder notwendig geworden.31 Die Defizienzen des politischen Systems wurden zwar auch auf liberalkonservativer Seite mit den zunehmenden Entfremdungserscheinungen zwischen Staat und Bürgern, zwischen staatlicher Leistungsfähigkeit und den Erwartungen der Einzelnen erklärt. Allerdings wurde die grundlegende Infragestellung des liberalkapitalistischen Staates (wie es damals im Jargon hieß) vermieden, und kleinteiliger auf zwei Ebenen angesetzt: zum einen beim Bürger und seiner Einstellung zum Staat, zum anderen beim politischen System. Es schien der überwältigende Erfolg der staatlichen Ordnung zu sein, der utopische Erwartungen hervorrief. Das Versprechen von stetig zunehmendem Wohlstand und fortschreitender Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit musste dann eine Vertrauenskrise verursachen, sobald erste Rückschläge spürbar wurden. »In ihrem Kern sind Krisen dieser Art Krisen des Vertrauens in die Fähigkeit der Verantwortlichen, das Fällige zu tun, soweit dieses Tun im Zumuten von Pflichten, Verzichten und Lasten besteht.« Lübbe fordert zum Ausstieg aus der »Erwartungsspirale« auf und plädiert für Realismus und Selbstbeschränkung nicht nur auf Seiten der Bürger, sondern im Rahmen der politischen Kommunikation insgesamt. Die Parteien beugten sich laut Lübbe vorschnell und wider besseren Wissens den kurzsichtigen Erfordernissen der politischen Auseinandersetzung: »Parteien, die aus Konkurrenzangst den Bürgern den Anblick der Grenzen des Mehr und Besser ersparen möchten, nehmen ihn im Grunde nicht ernst, sondern für kindisch.« (Diese »anspruchsinflationierende Wirkung« der Parteienkonkurrenz diagnostizierte übrigens auch Claus Offe.)32 Aber wo war anzusetzen, um Rationalität wiederzugewinnen? Für Lübbe und Hennis konnte das nur in einer Pflege der politischen Tugenden gelingen, durch »Staatsfreundschaft«, durch Identifikation mit dem Gemeinwesen. In den Umbruchzeiten, in denen man sich wähnte, wollte man an einem klassischen

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Staatbegriff festhalten bzw. ihn wiedergewinnen: »Wenn der Staat noch immer das ist, was schon die klassische politische Philosophie unter ihm verstand: der Mensch groß geschrieben, so hängt seine Regierbarkeit von der Art und Weise ab, in der die Bürger sich auf ihn einlassen.«33 In diesen Worten klingt schon durch, dass die Diskutanten der Regierbarkeit keinesfalls einseitig einen starken Staat forderten, sondern ebensoviel Bürgersinn und Einsicht des einzelnen verlangten. Welche Rolle dem Staat nun zukommen solle, war schon aus der dilemmatischen Lagebeschreibung nicht klar, machte der Staat doch den »Eindruck eines tönernen Riesen«, von dem man oft meinte, »dass er vor Kraft nicht laufen« könne.34 Auf der einen Seite hieß es, ihn von Aufgaben zu entlasten, also Sozialausgaben zurückzusetzen und allgemein zu entstaatlichen; auf der anderen Seite erschien eine Aufrüstung seines »sittlichen Profils« dringend nötig, wie Hennis dies bewusst altmodisch im Hinblick auf die »Weisheit der Gesetze«, Kraft der Institutionen, »Qualität der Herrscher« und »die Tugend der Bürger« formulierte. Über welchen Transmissionsriemen eine solche Restitution politischer Werte allerdings in einer »Bürgergesellschaft« bewerkstelligt werden und Effekte zeitigen sollte, darüber konnte man sich in der Abwehrschlacht gegen die Linke keine Gedanken mehr machen. Der Appell an Tugend und Sittlichkeit wirkte somit etwas rückwärtsgewandt und unbeholfen – zumal man den Wandlungen im Parteiensystem überfordert gegenüberstand. Immerhin waren die 1970er Jahre von einem bemerkenswerten Aufschwung des politischen Engagements gekennzeichnet: Zehntausende Neumitglieder strömten in die Volksparteien CDU und SPD, und die Wahlkämpfe erreichten einen völlig neuen, mobilisierenden Eventcharakter – seien es nun die so genannten »Willy-Wahlen« von 1972 oder Helmut Kohls bemerkenswerter Wahlerfolg des Jahres 1976 mit der Kampagne »Freiheit statt Sozialismus«. Angesichts dieses Wandels stellte Wilhelm Hennis’ Aufsatz über Parteienstruktur und Regierbarkeit deswegen eine gewisse Ratlosigkeit aus: Nachdem man jahrelang bewundernd auf den Pragmatismus der ideologiefrei scheinenden »Allerweltsparteien« der angelsächsischen Welt geschaut hatte, während man in Deutschland mit uralten Milieubindungen zu kämpfen hatte, kriti-

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sierte man nun den Trend zur verwechselbaren Volkspartei in den 1970er Jahren. Dieser Parteityp, so Hennis, schaffe Regierbarkeitsprobleme, weil die alten soziologischen Bindungen sich auflösten und man keine spezifische geistige Verortung mehr ausmachen könne. Es gebe keine Weltanschauung mehr, auf die man sich noch unproblematisch beziehen könne; die deutschen Parteien, so Hennis’ erstaunliche Folgerung, schwebten »in einer wabernden Schicht von Sentiments und Emotionen, Stimmungen und Vorurteilen«; sie taugten weder zur Identifikationsbrücke noch wirkten sie auf konstruktive Weise an der politischen Meinungsbildung mit – sie stünden vielmehr der Gesellschaft gegenüber.35 Diese Beobachtungen widersprechen nicht unerheblich der ansonsten vorgebrachten These von einer Reideologisierung von Politik und Gesellschaft; außerdem verkennen sie die sich bereits Ende der 1970er Jahre abzeichnende Erweiterung des Parteienspektrums. Hennis’ provokantes Beharren auf Führung und Gefolgschaft innerhalb der Parteien und auf der »bescheidenen und dienenden Funktion der Parteibasis« vertieften selbstredend den Graben zwischen ihm und der Linken, auch seiner ehemaligen Partei SPD. Trotz dieser Inkonsistenzen, trotz der Heftigkeit der intellektuellen Auseinandersetzung markierte die Regierbarkeitsdebatte womöglich einen letzten Höhepunkt des grundsätzlichen Streits um die Bundesrepublik. Die »neokonservative Krisenliteratur«, gab Claus Offe zu, hatte am Ende der 1970er Jahre »die Reste ihres linken Pendants nahezu vollständig aus dem Bereich öffentlicher Aufmerksamkeit verdrängt«.36 Allerdings gab Offe nun den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit zurück und erkannte in den Protagonisten der Regierbarkeitsdebatte »Umrisse einer neukonservativen Systemopposition in der Bundesrepublik«. Mit Hilfe gezielter publizistischer Strategien hätten Konservative die linke Domäne der Krisentheorie besetzt, um plausibel zu machen, dass die Krise dazu nötige, »uns weniger Demokratie zu leisten«.37 Hier deutet sich eine Kehre an: Fortan wurde die Legitimitätsfrage nicht mehr gestellt und das Spätkapitalismus-Theorem still und leise verabschiedet. Mit der sukzessiven Entdeckung der Institutionen und des Staates führte Habermas die Linke in den 1980er Jahren langsam an den »Verfassungspatriotismus« heran.

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Abschließende Überlegungen Was bleibt nun von dem aufgeregten Grundsatzstreit über den Staat? Auf beiden Seiten wird nicht ganz klar, warum die jeweils aufgeführten Krisensymptome gerade in den 1970er Jahren virulent werden sollen. Die Dramatik der Lage ist aus historischer Perspektive kaum nachzuvollziehen, insbesondere wenn man spätere, weitaus tiefere Einschnitte der wirtschaftlichen Entwicklung berücksichtigt. Es ist auffällig, wie in der Ära nach 1968 Konflikte dazu benutzt werden, intellektuelle Lager neu zu markieren; die Bissigkeit solcher Positionskämpfe ist heute nur noch schwer darstellbar. Aber vielleicht werden diese Debatten verständlicher, wenn man problematisiert, was in ihnen – im Vergleich zu rezenten Krisendiagnosen – unterbelichtet bleibt. Zunächst einmal ist selten die Rede von sozialen Problemen oder Verwerfungen; man hatte es also weder mit einer Krise der Arbeitsgesellschaft zu tun, noch beklagte man gesellschaftliche Wohlstandsgefälle oder forderte Verteilungsgerechtigkeit ein. Auch Fragen der Migration bzw. der Integration von Immigranten spielen keine Rolle – obwohl die damit verbundenen Probleme die Erfahrungswelt der 1970er Jahre beherrschten. Was rückblickend am meisten erstaunt, ist die verschwommene Gestalt der Bundesrepublik als Staat. Sie scheint – nur drei Jahrzehnte nach Kriegsende, ein Dutzend Jahre nach dem Mauerbau – in ihren gesellschaftlichen Problemen schon vollständig universalisiert und präsentiert sich auf den Spuren Forsthoffs als »paradigmatischer Staat der Industriegesellschaft« bzw. des Spätkapitalismus.38 Dieser Betrachtung entspricht ein sehr funktional geprägtes Bild des Staates: Rationalität, Legitimation, Regierbarkeit – dies sind alles Begriffe, die nach Objektivierung und Verallgemeinerung streben. Andererseits können wir als basso continuo dieser Diskussion die Klage über eine fehlende sittliche, ja auch emotionale Ausstrahlung des Staates wahrnehmen. Es ist womöglich nicht überinterpretiert, dies als Sehnsucht nach individueller staatlicher Identität und nach emotiver staatsbürgerlicher Identifikation zu deuten. Selbst Habermas kreist mit der Frage seiner Hegelpreis-Rede »Können komplexe Gesellschaften eine vernünf-

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tige Identität ausbilden?« (1974) um dieses Defizit.39 Es klingt eine merkwürdige Idealisierung goldener vergangener Zeiten durch, wenn der Hennis-Schüler Bernd Guggenberger konstatiert, dass der Staat »nicht mehr der Inbegriff und Garant der politischen Einheit« sei und keine »ganzheitliche Identifikation« mehr ermögliche. Diese »emotionale Leistungsschwäche des Staates«, wie es Guggenberger bezeichnenderweise nennt40, spielte in anderen, stärker zivilreligiös geprägten westlichen Demokratien kaum eine Rolle. Eine ästhetische Repräsentation des demokratischen Staates wird noch nicht eigens thematisiert41, nichtsdestoweniger beklagt man lagerübergreifend den Verlust der Fähigkeit zur Sinnstiftung. Insofern spiegelt die Diskussion um den Staat auch ein Erfahrbarkeitsdefizit wider und kreist um eine auf das Funktionale reduzierte Begründung der eigenen Staatsform. Die vorübergehende Ausblendung der historischen Entstehungs- und Legitimationsbedingungen der Bundesrepublik wurde dann in einem mühsamen Selbstanerkennungsprozess nachgeholt. In diesem Sinne lassen sich die Debatten der 1980er Jahre um die nationale Identität der Deutschen und den Ort der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschen Geschichte als eine logische Fortsetzung verstehen. Allerdings sollte die Existenzberechtigung und die Krisenfestigkeit des bundesrepublikanischen Staates im Historikerstreit – bei allen Meinungsverschiedenheiten – nicht mehr in Frage stehen. An die Stelle einer »sozialtechnologischen« und politischen Bestimmung der staatlichen Ordnung trat nun für einige Zeit – trotz sich nicht erkennbar verändernder wohlfahrtsstaatlichen Herausforderungen – das Problem der geschichtspolitischen Begründung des Staates.

Anmerkungen 1 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 151–174, hier S. 152, 163. – vgl. weiterhin Richard Löwenthal / Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974. 2 Claus Offe, »Unregierbarkeit.« Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ›Geistigen Situation

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der Zeit‹. 1. Bd.: Nation und Republik, Frankfurt / M. 1979, S. 294–318, hier S. 294. Frühe Auseinandersetzungen mit den »Positivisten« und »Technokraten« finden sich in Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt / M., 41972; ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt / M. 1968; ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt / M. 1970, sowie bei Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt / M. 1972. – Die Charakterisierung »neomarxistisch« ist hier nicht herabsetzend gemeint. Habermas selbst erschrak zwar, als ihn sein Freund Apel »zum ersten Mal öffentlich einen Neomarxisten nannte«, überlegte sich aber, »dass er recht hatte«, und bestand fortan darauf »als Marxist zu gelten«. (Siehe Jürgen Habermas, Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt / M. 1981, S. 516. So vor allem Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München und Wien 1995, S. 324 ff. Robert Spaemann, Über nichtrationale Voraussetzungen des Vernunftgebrauchs, in: Michael Zöller (Hg.), Aufklärung heute, Zürich 1980, S. 116; Bernd Guggenberger, Sind wir noch regierbar? Zur Dialektik von Stärke und Schwäche des modernen Staates, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Der überforderte schwache Staat. Sind wir noch regierbar?, Freiburg 1975 S. 40. Daniel Bell, Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt / M. 1991 (zuerst 1976), S. 10. Richard Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt / M. 1979. So Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt / M. 2008, S. 88. Reinhart Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt / M. 2006, S. 203–217, hier S. 205. Ob die 1970er Jahre »psychologisch«, wie Tony Judt meint, »das deprimierendste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts« waren, sei dahingestellt. Jedenfalls verstärkte »der abschüssige und anhaltende wirtschaftliche Niedergang […] in Verbindung mit der weitverbreiteten politischen Gewalt das Gefühl, Europas ›gute Zeiten‹ seien, vielleicht auf Jahre, vorbei«. (Siehe Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München / Wien 2006, S. 540). Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt / M. 1973. Zum überhöhten Anspruch des Starnberger Projekts vgl. die rückblickenden Betrachtungen von Claus Offe: »Die Bundesrepublik als Schattenriss zweier Lichtquellen«. Ein Gespräch mit Claus Offe, in: Ästhetik & Kommunikation, 36. Jg., 2005, Heft 129 / 130, S. 149–160, hier S. 154 f. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. So einfach macht es sich Luhmann freilich nicht. Er begreift »die Legitimation von Entscheidungen als einen institutionalisierten Lernprozeß,

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als laufende Umstrukturierung von Erwartungen, die den Entscheidungsprozeß begleitet«. Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt / M. 1983 (zuerst 1969), S. 36. Vgl. insbesondere Dolf Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität, in: ders., ›Ich wünschte ein Bürger zu sein‹. Neun Versuche über den Staat, Frankfurt / M. 1967, S. 51–67. Von Sternberger übernahm Habermas bekanntermaßen später den Begriff Verfassungspatriotismus. Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt / M. 1971. Die Debatte ist abgedruckt in Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart 1977, S. 104–141. Die Auseinandersetzung ist dokumentiert in: Peter Graf Kielmansegg (Hg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme. Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Duisburg, Herbst 1975 (PVSSonderheft 7), Opladen 1976. Für Nachweise siehe Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, ebd., S. 218, sowie Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, ebd., S. 54. – Zur Auseinandersetzung zwischen Habermas und Hennis vgl. Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, S. 164–174. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 55. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, S. 112 f. Ebd., S. 54. Vgl. zu dieser Tendenz etwa Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat (1983), in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt / M. 1985, S. 79–99; sowie kommentierend Jürgen Kaube, Ich hab ’ s! Die kanonische Avantgarde ist unsere Rettung. It was twenty years ago today: Jürgen Habermas lehrte seine Band das Nachdenken über die Tendenzwende und gab zwei Bücher heraus, die kurzfristig Epoche machten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 1999, S. 60. Claus Offe, »Unregierbarkeit«, S. 311. Rüdiger Altmann, Der Verdacht, ein Staat zu sein (1969), in: ders., Abschied vom Staat. Politische Essays, Frankfurt / M. 1998, S. 91–103, hier S. 91, 103. Hermann Lübbe, Legitimität und Regierbarkeit (1974), in: ders., Endstation Terror. Rückblick auf lange Märsche, Stuttgart 1978, S. 82–86, hier S. 83 f. Dies äußert Hennis in der Vorbemerkung seines Legitimitätsaufsatzes. Er sieht »ein Thema wieder in den Mittelpunkt gerückt, das aufgrund politischer Verklemmungen weitgehend verdrängt, zumindest in die ›rechte Ecke‹ gedrängt war: Staat und Herrschaft. Es ist der Linken zu danken, dass über das Selbstverständliche der Politik wieder gesprochen werden darf.« (Hennis, Legitimität, S. 10). Martin Kriele, Legitimationsprobleme der Bundesrepublik, München 1977.

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28 Ralf Dahrendorf, Krise der Demokratie? Eine kritische Betrachtung, in: Daniel Frei (Hg.), Überforderte Demokratie?, Zürich 1978, S. 55–72, hier S. 72 und S. 60 f. 29 Vgl. Ralf Dahrendorf, Zukunft der Freiheit, in: Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik, Stuttgart 1975, S. 94–108; ders., Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung. Eine notwendige Abgrenzung, in: Habermas (Hg.) Stichworte, S. 213–228. 30 Wilhelm Hennis / Peter Graf Kielmansegg / Ulrich Matz (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, 2 Bde., Stuttgart 1977 / 79. 31 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf / Köln 1965, S. 439–480. 32 Lübbe, Legitimität und Regierbarkeit, S. 85; Claus Offe, »Unregierbarkeit«, S. 307. 33 Wilhelm Hennis, Zur Begründung der Fragestellung, in: ders. / Kielmansegg / Matz (Hg), Regierbarkeit, S. 16. 34 Ebd., S. 12. 35 Wilhelm Hennis, Parteienstruktur und Regierbarkeit, in: ders. / Kielmansegg / Matz (Hg), Regierbarkeit, S. 188 ff. 36 Offe, »Unregierbarkeit«, S. 295. 37 Claus Offe, Neukonservative Klimakunde. Eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Hennis, in: Merkur 32 (1978), S. 209–225, hier S. 218. 38 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971. 39 Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt / M. 1976, S. 92–126. 40 Bernd Guggenberger, Herrschaftslegitimierung und Staatskrise. Zu einigen Problemen der Regierbarkeit des modernen Staates, in: ders. / Michael Th. Greven / Johano Strasser, Krise des Staates? Zur Funktionsbestimmung des Staates im Spätkapitalismus, Darmstadt / Neuwied 1975, S. 45 f. 41 Vgl. zu diesem Aspekt Hans Vorländer (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003.

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Die Grenzen des Wachstums und die Grenzen des Staates Konservative und die ökologischen Bedrohungsszenarien der frühen 1970er Jahre1

»Kein exponentieller Vorgang auf diesem Planeten, der irgendwie mit Materie verknüpft ist, kann ins Unendliche verlaufen, weil die ihm zur Verfügung stehende Materie endlich ist.«2 Diese Überlegung zu den natürlichen Grenzbedingungen exponentieller Wachstumsprozesse stammt nicht aus dem 1972 veröffentlichten Bericht, den ein Forscherteam des Massachusetts Institute of Technology (MIT) für den Club of Rome unter dem Titel »Die Grenzen des Wachstums« erstellte, sondern sie wurde schon ein Jahr zuvor von Max Himmelheber in der konservativen Zeitschrift Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken veröffentlicht. Sie zeigt eine inhaltliche und argumentative Nähe zwischen einem deutschen Öko-Konservatismus und den international große Wirksamkeit entfaltenden digitalen Weltmodellrechnungen von Dennis Meadows und seinen Kollegen.3 Im Folgenden wird es darum gehen, das Verhältnis von Konservatismus und ökologischem Grenzdiskurs näher zu bestimmen. In der Bundesrepublik der ersten Hälfte der 1970er Jahre beobachteten viele Zeitgenossen entweder in kritischer Abgrenzung oder in emphatischer Zustimmung eine »konservative Tendenzwende«. Wie Axel Schildt gezeigt hat, vollzog sich eine »Neuformierung der Kräfte der Gegenreform« um die Debatten über die Bildungs- und Ostpolitik, die »innere Sicherheit« sowie den Wertewandel. Den »Durchbruch zur konservativen Tendenzwende«, so Schildt, markierten jedoch die »Grenzen des Wachstums«, die in der ersten Ölkrise 1973 / 74 augenfällig bestätigt zu werden schienen.4 Insofern die Jahrzehnte des exzeptionellen Nachkriegsbooms zu Ende gingen, gelten die frühen 1970er Jahre in der deutschen und internationalen Zeitgeschichtsforschung als

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Wendepunkt und Stimmungsumschwung.5 Darüber hinaus werden sie auch in der Geschichte der Umweltpolitik und der Ökologiebewegung zumeist als Epochenwende beschrieben.6 Da sich die Transformation der »Naturpolitik« in der Bundesrepublik als »Positionsverschiebung des Naturschutzes aus dem konservativen in einen progressiv-linken Kontext« vollzog, spielen die Konservativen in der Umweltgeschichtsschreibung zu den 1970er Jahren jedoch eine eher untergeordnete Rolle.7 Auch in Studien zu den »Grenzen des Wachstums« und ihrer Wirkungsgeschichte kommen konservative Rezipienten zumeist gar nicht oder nur am Rande vor.8 Angesichts dieser Forschungslage lohnt es, genauer danach zu fragen, wie konservative Intellektuelle in der Bundesrepublik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf die »Grenzen des Wachstums« reagierten und welchen Stellenwert das ökologische Argument und die Debatte über die Begrenztheit von Wachstumsmöglichkeiten in dem Prozess einnahm, der zeitgenössisch und bisweilen auch in der Forschung als »konservative Tendenzwende« bezeichnet wurde. Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die MIT-Studie vorgestellt (1.) und die »konservative Tendenzwende« genauer eingegrenzt (2.), um dann verschiedene Typen konservativer Reaktionen auf die »Grenzen des Wachstums« herauszuarbeiten (3.), die abschließend auf die jeweiligen Einstellungen zum Staat bzw. zu Reichweite und Grenzen staatlicher Gestaltungskompetenz zurückgeführt werden (4.).

»Grenzen des Wachstums« Der Bericht für den Club of Rome, der unter dem Titel Limits to Growth veröffentlicht und noch innerhalb desselben Jahres in zwölf Sprachen übersetzt wurde, erreichte eine Millionenauflage und löste eine intensive Debatte aus.9 Maßgeblich von dem italienischen Industriellen Aurelio Peccei unter Mitwirkung von Alexander King 1967 gegründet, versammelte der Club of Rome Unternehmer, Wissenschaftler und Ökonomen, die sich – nicht eben bescheiden – der Definition und letztlich auch Lösung der »Weltproblematik« verschrieben.10 Eine Erfassung wesentlicher Entwick-

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lungstendenzen in globaler Perspektive versprach Meadows mit den Mitteln von Jay W. Forresters kybernetischem Weltmodell und entsprechenden Computersimulationen zu leisten. Forresters Theorie stabiler Systeme, in denen in Regelkreisen zwei Größen einander in negativer Rückkopplung wechselseitig in Schach halten und so ein dynamisches Gleichgewicht erzeugen, wurde zur Grundlage von Prognosen über die Entwicklung der Weltbevölkerung, der Nahrungsmittelproduktion, der Rohstoffe und der Umweltverschmutzung.11 Die Kernthese von Meadows besagte, dass der Prozess des industriellen Wachstums bestimmte natürliche Regelkreise außer Kraft gesetzt und dadurch exponentielle Wachstumsprozesse einzelner Größen wie insbesondere der Weltbevölkerung und der Umweltverschmutzung ermöglicht habe. Angesichts der Begrenztheit ökologischer und natürlicher Ressourcen werde dieses Wachstum aber innerhalb der nächsten hundert Jahre an endgültige Grenzen stoßen. Um die damit verbundenen katastrophalen Konsequenzen zu vermeiden, müsse sofort umgesteuert und der »Übergang vom Wachstum zum Gleichgewicht« gefunden werden.12 Gegenüber populären Deutungen, die von einer plötzlichen Schockwirkung der »Grenzen des Wachstums« ausgehen, muss betont werden, dass diese Schlussfolgerungen alles andere als neu waren. Inhaltlich bot der Bericht wenig, was nicht schon in der internationalen Welle öko-apokalyptischer Schriften seit dem Ende der 1960er Jahre enthalten gewesen wäre. Publikationen wie Die Bevölkerungsbombe, Wachstumswahn und Umweltkrise, Der entfesselte Fortschritt, Kein Platz für Menschen, Das Selbstmordprogramm, Der Zukunftsschock oder Planspiel zum Überleben bildeten vielmehr die diskursive Vorbereitung, aufgrund derer der Bericht erst seine Wirkung entfalten konnte.13 Dass diese Wirkung die der anderen Mahnrufe bei weitem übertraf und die »Grenzen des Wachstums« zum omnipräsenten Schlagwort wurden, lag neben der geschickten publizistischen Strategie und einer eingängigen sprachlichen Präsentation mit handlichen Beispielen vor allem an der wissenschaftlichen Autorität, mit der die Experten des MIT auftraten sowie dem exakten Erkenntnisanspruch des kybernetischen Modells und der Computersimulation.14 Mit ihrem Anspruch, Prognosen für die Entwicklung der Welt in den nächsten hundert Jahren zu geben, schlossen sie zudem an die kyberne-

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tische Steuerungs- und Planungseuphorie der 1960er Jahre an. Entscheidend für die Wirkung waren schließlich die lange Zeitdimension der Analyse und die globale Perspektive auf das »Raumschiff Erde« – eine Metapher, die sich großer Beliebtheit erfreute, seit die ersten Bilder der Erde aus dem All ihre Größe und Verletzlichkeit schockartig klargemacht hatten.15 Die anschließende Debatte über die »Grenzen des Wachstums« war intensiv und kontrovers.16 Kritik kam – abgesehen von konkreten wissenschaftlichen Einwänden gegen die Modellbildung – vor allem aus drei verschiedenen Richtungen:17 Ökonomen bemängelten die mangelnde Komplexität der wirtschaftstheoretischen Annahmen wie zum Beispiel die Ausblendung des Preismechanismus,18 Marxisten sahen im Club of Rome »Vertreter des Monopolkapitals«, die mit dem Hinweis auf die Grenzen des Wachstums gesellschaftliche Verteilungsspielräume einschränken wollten,19 und Advokaten der Dritten Welt befürchteten, der Bericht könne als Legitimation zur Fortschreibung ungleicher Weltverhältnisse und zur Verhinderung wirtschaftlichen Wachstums in den Entwicklungsländern dienen.20

Eine »konservative Tendenzwende«? Im Unterschied zur genau eingrenzbaren Debatte über die »Grenzen des Wachstums« handelt es sich bei der so genannten »konservativen Tendenzwende« um ein wesentlich schwerer zu fassendes Phänomen. Aus zwei Gründen wird den folgenden Überlegungen zunächst keine exakte Definition des »Konservatismus« vorangestellt. Zum einen handelte es sich beim Konservatismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um eine derart heterogene Ideenkonstellation, dass man kaum noch so etwas wie eine kohärente konservative Ideologie bestimmen kann.21 Zum anderen stellten die frühen 1970er Jahre eine begriffliche Sattelzeit dar, in der die Semantik des Begriffs neu verhandelt wurde. Um die Bedeutungsvielfalt dieser Debatten nicht zu überdecken, wird zunächst von dem einfachen Befund ausgegangen, dass der Begriff »konservativ« zu Beginn der 1970er Jahre Konjunktur hatte. Eine ganze Reihe intellektueller Beobachter nutzte ihn als Selbst- und

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Fremdbeschreibung und diagnostizierte eine »konservative Tendenzwende«. Bereits die Metaphorik, mit der diese beschrieben wurde, verdeutlicht, dass es sich dabei um ein schwer zu klassifizierendes Wahrnehmungsphänomen mit uneindeutigen Grenzen handelte. Zu Beginn der 1970er Jahre bemühte sich der 1939 in Wien geborene und nach seinem Studium in die Bundesrepublik übergesiedelte Publizist und Lektor Gerd-Klaus Kaltenbrunner um eine Erneuerung des Konservatismus und die Formulierung einer »konservativen Theorie«. Bei seinen Versuchen meinte er, einen Aufschwung des Begriffes »konservativ« konstatieren zu können: Seit kurzem werde »auch von den nicht eben im Geruch des Konservatismus stehenden Massenmedien die Tatsache notiert, daß konservatives oder gar ›rechtes‹ Denken in der Bundesrepublik Deutschland wieder ›gefragt‹ ist. ›Man trägt wieder konservativ‹, schrieb die Zeit am 29. März 1974 auf der Titelseite, und einige Tage darauf brachte die Welt einen Artikel von Norbert Hinske unter der Überschrift ›Progressiv ist nicht mehr chic‹.«22 Die Modemetaphorik verweist auf einen oberflächlichen Eindruck, der sich aus kaum empirisch gesicherten Einzelbeobachtungen speist.23 Dass »man« etwas trägt, heißt bei weitem nicht, dass alle etwas tragen, sondern höchstens, dass die Mehrheit, vielleicht aber auch nur bestimmte Kreise oder eine in besonderer Weise herausgestellte und intensiver wahrgenommene Gruppe von Menschen etwas trägt. Ähnlich, wenn auch in kritischer Absicht, konstatierte Martin Greiffenhagen 1974 einen »politischen Klimawechsel«: Der Zeitgeist wehe »nicht mehr von links, sondern von rechts«.24 Und noch zu Beginn der 1980er Jahre wählte Iring Fetscher die gleiche Ausdrucksweise, als er erklärte: »Seit einigen Jahren wird bei uns von der ›Tendenzwende‹ gesprochen. Damit ist gemeint, daß der ›Geist‹ nun endlich wieder von rechts wehe.«25 Mit den Metaphern der Windrichtung des Zeitgeistes und des Debattenklimas versuchen Greiffenhagen und Fetscher ihrem Eindruck von der Struktur und Bewegungsrichtung der Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum Ausdruck zu verleihen. Dabei deutet die Wahl der Klimametaphorik – genauso wie die der Mode – auf den Versuch, einen weitreichenden Deutungsanspruch ohne großen Begrün-

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dungsaufwand zu plausibilisieren. Wie beim Klimawandel handelt es sich auch bei der »Tendenzwende« um einen Begriff, für den leicht viele Indizien angeführt werden können, doch niemals genügend Argumente beizubringen sind, als dass jeder Zweifler dazu gezwungen wäre, seine Angemessenheit anzuerkennen. Darüber hinaus wurde der Begriff der »konservativen Tendenzwende« immer politisch instrumentalisiert: Während Kaltenbrunner den Begriff nutzte, um diejenigen Stimmen zu unterstützen, die antraten, um eine angebliche diskursive und mediale Hegemonie des Linksliberalismus zu überwinden, riefen Greiffenhagen und andere zur publizistischen Gegenwehr auf. Jenseits von intellektuellen Selbst- und Fremdbeschreibungen gibt es härtere Kriterien, anhand derer man versuchen kann, eine »konservativen Tendenzwende« nachzuweisen. Bei genauerer Betrachtung der Wahlergebnisse in den 1970er Jahren wird das angeblich »rote« oder gar »sozialdemokratische« Jahrzehnt sehr viel konservativer.26 Die CDU / CSU erzielte eindrucksvolle Siege bei den Landtagswahlen und verfehlte 1976 im Bund nur knapp die absolute Mehrheit. Nun war allerdings unter rechten Intellektuellen umstritten, ob es sich bei der CDU / CSU überhaupt noch um eine konservative Partei handelte.27 Auch diese Intellektuellen eröffneten jedoch eine publizistische Offensive, die die TendenzwendenDeutung stützt.28 Neben dem Tendenzwende-Kongress, der am 26. und 27. November 1974 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste stattfand, und diversen Einzelpublikationen fällt vor allem die verstärkte Gründung von Periodika ins Auge, die Gravitationszentren für den kurzfristigeren Austausch auf der politischen Rechten bildeten: 1969 gründete die Deutschland-Stiftung, die den rechten Flügel in der CDU / CSU stärken und noch weiter rechts stehende Kräfte an die Partei binden sollte, das Deutschland-Magazin. 1970 folgten die Gründungen der konservativen Zeitschriften Criticón und Konservativ heute, 1971 der öko-konservativen Scheidewege sowie 1972 der stärker tages- und außenpolitisch orientierten Zeitbühne. Darüber hinaus rief Kaltenbrunner 1974 die Herderbücherei »Initiative« ins Leben, deren erster Band den Untertitel Signale einer Tendenzwende trug und die in 37 Bänden bis 1980 diverse Themen aus konservativer Sicht beleuchtete.29

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Konservative Reaktionen auf die »Grenzen des Wachstums« Welche Rolle spielte die wachsende Verbreitung der Annahme natürlicher Wachstumsgrenzen für das Phänomen, das zeitgenössisch und historiographisch als konservative Tendenzwende begriffen wird? Da das konservative Lager zu Beginn der 1970er Jahre sehr heterogen war, ist die Frage so allgemein nicht zu beantworten. Vielmehr können gerade anhand der unterschiedlichen Reaktionen auf die »Grenzen des Wachstums« zumindest vier Gruppen von Konservativen unterschieden werden: Tendenzwenden-, Öko-, Hardcore- und Neo-Konservative. Die Untersuchung der Haltungen zur Ökologie dient also im Folgenden dazu, das unübersichtliche Feld des Konservatismus in den frühen 1970er Jahren genauer zu strukturieren und den semantischen Raum von »konservativ« zu vermessen.

a) Tendenzwenden-Konservative Kaltenbrunner und einige der Autoren, die mit ihm in der HerderBücherei »Initiative« eine Neubelebung des Konservatismus bzw. die Ausformulierung einer konservativen Theorie oder Haltung in Bezug auf verschiedene Politikfelder versuchten, nutzten den Verweis auf die Ökologie und die »Grenzen des Wachstums« zur Motivation ihres Unternehmens. Für Kaltenbrunner war es schwer einzusehen, wie die von den »Grenzen des Wachstums« auferlegten Möglichkeiten »durch eine progressiv-emanzipatorische Theorie und Praxis bewältigt werden können.« Dazu benötige man vielmehr eine Erneuerung von »Grundsätzen, Einsichten und Tugenden, die man in einem sehr bestimmten Sinn für konservativ erklären kann«.30 Der Verweis auf die Grenzen des Wachstums und die immer sichtbarer zutage tretenden ökologischen Kosten des technisch-industriellen Wachstums diente Kaltenbrunner und anderen Tendenzwende-Autoren dazu, die Idee des Fortschritts und damit auch partizipatorisch-emanzipatorische Politik grundsätzlich in Frage zu stellen. Die drohende Umweltkatastrophe motivierte nicht nur ihre

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Kritik des Wertewandels und die Forderung nach einer Rückkehr zu klassisch konservativen Werten, sondern auch und vor allem den Ruf nach einem starken Staat. Schon in seiner Studie zum Staat der Industriegesellschaft hatte der Staatsrechtler Ernst Forsthoff die mangelnde Souveränität des bundesdeutschen Staates vor dem Hintergrund der »technischen Realisation« der Industriegesellschaft konstatiert.31 Für den Schüler Carl Schmitts hingen Stabilität und Legitimität der Bundesrepublik nicht vom Staat, sondern wesentlich von wirtschaftlichem Wachstum und Vollbeschäftigung ab, so dass eine schwerwiegende Krise drohe, wenn das Wachstum ausbleibe. Eine der möglichen Gefährdungen der Legitimation durch Wachstum machte Forsthoff in den ökologischen Bedrohungen aus, die sich aufgrund ihres grenzüberschreitenden Charakters einzelstaatlichen Regelungen systematisch entzögen.32 Mit noch deutlicherem Bezug auf die drohende Umweltzerstörung führte Klaus Hornung Forsthoffs Gedanken weiter: Wenn Freiheit und Selbsterhaltung auseinanderzutreten drohten, stelle sich die existentielle Entscheidungsfrage, »wie Freiheit ohne Selbstzerstörung oder, anders ausgedrückt, wie Selbsterhaltung in Freiheit möglich sei.«33 Darauf gab Hornung, wie andere Autoren der publizistischen Initiative um Kaltenbrunner, die Antwort, dass »substantielle Freiheit« nur noch erhalten werden könne durch »substantielle Institutionen«.34 Neben der Forderung nach einem stärkeren Staat waren einige Autoren sogar bereit, sich den sozialistisch imprägnierten Begriff der »Planung« anzueignen35 oder forderten angesichts der die Grenzen des Staates auch geographisch übersteigenden Probleme der Rohstoffversorgung eine globale Lösung zum Beispiel durch einen »Weltenergieplan, einen Weltrohstoffplan, einen Welternährungsplan und einen Umweltschutzplan, also einen globalen Überlebensplan für den Planeten.«36 Den Tendenzwenden-Konservativen dienten die zeitgenössische Aufregung über die Grenzen des Wachstums und die globale ökologische Bedrohung als willkommene Anlässe, traditionelle konservative Forderungen im Lichte neuer Problemlagen auf die Agenda zu bringen. Der Verweis auf die Umwelt hatte dabei eher instrumentellen Charakter, und Ökologie stand als Thema nicht im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. So beschäftigte sich über-

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haupt nur der zehnte von 37 in den 1970er Jahren erschienenen Initiative-Bänden (unter dem Titel »Überleben und Ethik. Die Notwendigkeit bescheiden zu werden«) explizit mit der Umwelt.37 Dementsprechend hieß es rückblickend in einer Bewertung des publizistischen Erfolgs der Reihe, man habe sie gegründet, als »der Schock der Ölkrise der Bevölkerung in die Knochen gefahren« und der »Glauben an die Machbarkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse« plötzlich ins Wanken geraten seien.38 Öko- und Ölkrise erschienen eher als Faktoren, die auf publizistischen Erfolg hoffen ließen, denn als intrinsische Motivationskräfte.

b) Öko-Konservative Der instrumentelle Gebrauch des ökologischen Arguments unterschied die Tendenzwenden- von den Öko-Konservativen, die sich vor allem in den Scheidewegen zu Wort meldeten und für die Natur, Umwelt und Ökologie schon vor der Publikation des Club of Rome entscheidende Themen gewesen waren. Die konservative Technikund Fortschrittskritik hatte eine lange Tradition und in der Heimatschutzbewegung eine deutlich ökologisch bewahrende Ausrichtung. Daher wurde auf der politischen Rechten auch reklamiert, dass es sich beim Naturschutz um einen im eigentlichen Sinne »konservativen«, wenn nicht gar »reaktionären« Gedanken handele: »Denn er setzt jenem Wollen und Machen, das auf Veränderung der Welt gerichtet ist, Grenzen.«39 Im Spektrum der Rechtsintellektuellen formulierte Friedrich Georg Jünger in seinen Illusionen der Technik bereits 1939 und später in Die Perfektion der Technik explizit ökologische Argumente, die in der Bundesrepublik vielfach zum Bezugspunkt eines ökologischen Konservatismus wurden.40 Zusammen mit Max Himmelheber gab er ab 1971 die Zeitschrift Scheidewege heraus, in der zumeist ältere Konservative die »Theorien und Praktiken des Raubbaues an Erde und Mensch, die sich mit dem Mantel des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts umgeben«, bekämpften.41 Die Öko-Konservativen begrüßten den Bericht von Meadows und seinen Kollegen, weil er in publikumswirksamer Weise bestätigte, was sie schon immer gedacht und gesagt hatten. So urteilte Gerhard Helmut Schwabe: Das

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Buch »war ein erstes Alarmsignal für die Öffentlichkeit und vor allem für ihre Meinungsmacher. Das könnte ihm historischen Rang verleihen, obwohl es in der Sache so gut wie nichts bringt, was nicht schon seit Jahrzehnten bekannt gewesen wäre.«42 Zwar, so sekundierte Himmelheber, könne man an verschiedenen Befunden des Berichts berechtigterweise Kritik üben, aber an den basalen Erkenntnissen der entkoppelten Regelkreise, der langen Zeitverzögerungen, mit denen Gegenmaßnahmen wirkten, und der grundsätzlichen Begrenztheit der Rohstoffbasis sei nicht zu rütteln.43 Wenn die Autoren der Scheidewege ihre öko-apokalyptischen Konkurrenten aus anderen politischen Lagern kritisierten, dann richteten sie sich vor allem gegen die ihrer Ansicht nach oberflächliche und unzureichende Ursachenanalyse. Mit einem für konservative Rhetorik im 20. Jahrhundert typischen Überbietungs- bzw. Vertiefungsgestus lokalisierten sie die Ursachen der exponentiellen Wachstumsprozesse in einem durch die technische Zivilisation hervorgerufenen Missverhältnis zwischen Mensch und Natur. So hieß es im Bussauer Manifest, das 1975 von Himmelheber, Schwabe, Jürgen Dahl, Michael Lohmann und Gert Kragh auf dessen Hof in Bussau verabschiedet wurde: »Nahezu alle unter dem Stichwort ›Umweltschutz‹ angebotenen Gegenmaßnahmen bewegen sich im Rahmen jenes Denkens und Handelns, das selbst die Ursache der Krise ist. In Wirklichkeit geht es aber um eine grundsätzliche Revision unserer einseitig quantitativ ökonomisch bestimmten Wertmaßstäbe.«44 In dieser Perspektive nahm sich auch der Unterschied zu staatssozialistischen Systemen marginal aus, da in ihnen die gleiche »Anbetung« des Wachstums vorherrsche, die überwunden werden müsse, um aus dem instrumentellen Verhältnis zur Natur zu einem dauerhaft bewahrenden zurückzukehren.45 Dies könne entweder über drakonische Maßnahmen, die letztlich von einer Weltregierung erlassen werden müssten, oder aber durch eine neue Moral sowie individuelle Einsicht und Taten geschehen.46 Grundsätzlich interventions- und regulierungsskeptisch votierten die Bussauer für eine neue Ethik des »Rückschritts zum Überleben« (Max Himmelheber).47 Um die ökologischen Probleme der Gegenwart zu lösen, müssten ganz andere Prinzipien des Wirtschaftens und Lebens in kleinen zyklisch geschlossenen

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Wirtschaftseinheiten (wieder-)hergestellt und so die Entfremdung von Mensch und Natur überwunden werden.48 Mit einer Reihe von Maßnahmen, wollten die Bussauer eine intensivere Verbindung der Menschen zum Landleben herstellen, weil letztlich nur die unmittelbare Naturerfahrung zur ethisch-ökologischen Wende führen könne.49

c) Hardcore-Konservative Nostalgisch-romantischer Ökokonservatismus dieser Art wurde von den Hardcore-Konservativen milde belächelt oder harsch zurückgewiesen. Am wortgewaltigsten tat dies Armin Mohler, der 1967 erster Konrad-Adenauer-Preisträger für Publizistik der Deutschland-Stiftung wurde. Auch wenn er den Autoren der Scheidewege ehrenvolle Motive zugestand, beklagte er sich doch über die modische »Öko-Klage«, das »Gejammer« und »monströse Geschwätz« der Umweltschützer. Vor diesem seien leider auch die konservativen oder rechten Intellektuellen nicht gefeit, weil sie oft nicht begriffen, dass es »die gute alte Zeit nie gegeben« habe.50 Zwar betonte auch Mohler, die Konservativen seien nicht gegen die ursprünglich konservative Idee des Umweltschutzes, gab aber zu bedenken, dass auch »Ideen leben« und »krank werden« könnten, wenn sie von den falschen Menschen vertreten würden.51 Viele rechte Intellektuelle gingen auf Distanz zur Umweltdebatte, weil sie »physiognomisch misstrauisch« seien: »Sie sahen hinter den durchaus honorigen Herrn der ›Scheidewege‹ plötzlich Gestalten auftauchen, die sie von ganz anderen Schauplätzen her schon kannten. Im grünen statt im roten Gewand kamen nun die Revolutionäre aus Prinzip einher […] Ebenfalls das grüne Tuch übergestülpt haben sich jene Fanatiker, die schon immer die Welt aus einem Punkte kurieren wollten und nun mit ein paar den Illustrierten entnommenen Zahlen sowohl den Weg in den Abgrund wie den einzigen Ausweg more geometrico aufzeigen wollen. Die Lebensuntauglichen aller Sorten sind jetzt durch den Hinweis auf den Weltuntergang in sechs Monaten noch wirkungsvoller davon dispensiert, in ihrer konkreten Welt das Nötigste zu tun.«52 Im Unterschied zu ihnen wisse der Konservative, dass nicht

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nur Menschen, sondern auch Völker und ganze Zivilisationen sterben könnten, was es im Ernstfall »mit Haltung« und nicht als »ökologische Tränensuse« zu tun gelte.53 Der Verfasser des apologetischen Handbuchs zur »konservativen Revolution« aktualisierte in der Ökologiedebatte der 1970er Jahre also die Gedankenfiguren des heroischen Realismus Oswald Spenglers und die »Verhaltenslehren der Kälte« (H. Lethen) aus der Zwischenkriegszeit, um eine explizit konservative Position zu formulieren. Entsprechend negativ wurden die »Grenzen des Wachstums« in den konservativen Zeitschriften oft besprochen. Die Zeitbühne publizierte eine Besprechung des Ökonomen und Meadows-Kritikers Wilfried Beckermann, der den Bericht zurückwies als »ein Kompendium logischer Irrtümer, falscher Annahmen, frommer Motivation; […] mit Tautologien überzuckert, die seit dem Schöpfungstage gültig waren.«54 Grundsätzlich beschäftigten sich nur wenige Artikel in der Zeitbühne mit der Umweltproblematik, und die, die es taten, kritisieren vor allem die Annahme einer drohenden Bevölkerungsexplosion und Nahrungsmittelknappheit.55 In Criticón wandte sich Hans Bader gegen die »linke Usurpation« einer konservativen These, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe.56 Denn hinter den Angriffen auf das »Gefühlskostüm zartbesaiteter Wohlstandsbürger« verberge sich der Anspruch auf die »globale Diktatur einer linken Intellektuellen- und Technokratengruppe, die nur durch rabiateste Manipulation von Millionen Menschen in den Industrienationen denkbar« sei.57 Anders als in der Tendenzwendeliteratur erschien die ökologische Krise hier nicht als willkommener Anlass zur Stärkung des Staates, sondern im Gegenteil gerade als Gefährdung von Freiheiten durch einen von links befürchteten Staatsinterventionismus. Die Schwierigkeiten vieler Konservativer, die »Grenzen des Wachstums« anzuerkennen und das politische Denken und Handeln an ihnen auszurichten, resultierten daraus, dass die Sozialdemokratie, die schon vorher Natur und Umwelt zum Wahlkampfthema erhoben hatte, 1972 mit dem Begriff der Lebensqualität auch eine programmatische Abkehr von der vorherigen Wachstumsideologie zu vollziehen suchte. Wiederum in Criticón kritisierte Robert Hepp die »Weniger ist mehr«-Ideologie des SPD-Wahlprogramms bzw. ihres Vordenkers Erhard Eppler, weil

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sie stärkere Staatsinterventionen, Einschränkungen individueller Freiheiten und eine soziale Umverteilungspolitik von oben nach unten bedeuten würde.58 Unter Verweis auf die »Limits of [sic] Growth« diagnostizierte er eine Verschwörung von amerikanischen Liberalen und europäischen Sozialdemokraten, um die »Lebensqualität« bestimmter Gesellschaftsgruppen nicht zu erhöhen, sondern vielmehr zu senken: »Und wenn ein auf öffentlichen Wohlstand bedachter Finanzminister die Steuerschraube so anziehen sollte, daß ich meinen Mittelklassewagen abstoßen müßte und gezwungen wäre, mich bei der Fahrt zur Arbeit der weiter ausgebauten Massenverkehrsmittel zu bedienen, wie käme ich am Freitagabend zu meinem Wochenendhaus in der Eifel? Wird mir die Bundeswehr einen Hubschrauber zur Verfügung stellen? Oder soll Hintertupfing an das Frankfurter Straßenbahnnetz angeschlossen und mit Frankfurter Wochenendmenschen überschwemmt werden?«59 Die »Weniger ist mehr«-Ideologie erschien hier als Gefährdung individueller Besitzstände, die im Boom der Nachkriegsjahrzehnte erworben worden waren und gegen die Linke verteidigt werden mussten. In Konservativ Heute versuchte Franz Riedweg sogar zu zeigen, dass der Terminus Lebensqualität eine »unglückselige Verquickung« sei, weil »Qualität« ein materialistischer, ökonomisch kommerzieller Begriff sei, der das Leben unzulässig auf seine rein physisch-materiellen Aspekte reduziere.60 Grundsätzlich nahm auf der politischen Rechten der positive Bezug auf Ökologie und die »Grenzen des Wachstums« ab, je näher die Texte dem tages- und parteipolitischen Diskurs kamen. Im Deutschland-Magazin zum Beispiel, das auf allen Feldern gegen die Politik der sozialliberalen Koalition polemisierte, spielte Ökologie weder programmatisch noch inhaltlich eine Rolle. So sprach der konservative Hoffnungsträger Franz Josef Strauß für weite Teile der Partei, als er in der Hochphase der Ölkrise 1973 vor dem Deutschen Bundestag einen Zielkonflikt zwischen den Forderungen der Umwelt- und der Energiepolitik ausmachte.61 Die Ölkrise stellte auf der politischen Rechten keine Bestätigung der ökologischen Sorgen dar, sondern im Wesentlichen eine Wachstumsbedrohung, der begegnet werden müsse, um die Legitimation der Freiheit durch Wohlstand nicht zu gefährden. Daher plädierte Strauß für einen massiven Ausbau der Kernenergie und verstärkte

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Technikförderprogramme, also gerade nicht für die von den ÖkoKonservativen propagierte Abkehr vom technologischen Wachstumspfad.62 Schließlich hatte sich in den 1970er Jahren eine breite Strömung des Konservatismus längst von der traditionellen Fortschrittskritik losgesagt und befürwortete Wachstum und technologischen Fortschritt, was Strauß in dem berühmten Diktum auf den Punkt brachte, in der Gegenwart bedeute, konservativ zu sein, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.63 Dementsprechend sah ein Öko-Konservativer wie Herbert Gruhl, der mit seinem bekannten Buch Ein Planet wird geplündert direkt an die MIT-Studie angeschlossen hatte, auch bald keinen Platz mehr für sich in der CDU / CSU.64

d) Neo-Konservative Der Begriff »neo-konservativ« bezeichnet zumeist eine intellektuelle Position oder Gruppe, die in der Tradition früherer Formen des Konservatismus steht, sich aber inhaltlich oder personell deutlich von ihnen unterscheidet. Daneben wird der Terminus oft auf die biographische Entwicklung einzelner Intellektueller angewendet, die sich einmal der politischen Linken oder auch dem liberalen Spektrum zugehörig gefühlt hatten und sich jedoch von einem bestimmten Punkt an – zumeist durch ein konkretes Ereignis motiviert – als Konservative sahen oder als solche gesehen wurden.65 Betrachtet man in diesem Sinne den Zusammenhang von Neo-Konservatismus und Ökologie, empfiehlt es sich, zwischen Autoren zu unterscheiden, die sich den Begriff des Konservatismus nur in Bezug auf Fragen von Natur und Umwelt aneigneten und ihn so für das eigene politische Lager nutzbar machen wollten, und solchen, die tatsächlich ins konservative Lager wechselten. Als Beispiel für die zweite Gruppe kann Hermann Lübbe dienen, der als sozialdemokratischer Staatssekretär von 1966 bis 1970 im nordrhein-westfälischen Kultusministerium tätig war, aber vor allem in Reaktion auf die Hochschulreform und die Studentenbewegung ins »liberalkonservative« Lager wechselte.66 Wie der bereits oben zitierte Bruno Hepp beschäftigte er sich in Criticón mit

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dem Begriff der Lebensqualität, plädierte jedoch dafür, die Begriffsprägung ernst zu nehmen, weil sie »der ideologische Programmtitel für die nunmehr als fällig sich aufdrängende konservative Alternative gegen den Fortschritt in seiner harten Bedeutung als Produktivitätswachstumsvorgang« sei.67 Ein wesentlicher Charakterzug des Konservativen war für Lübbe der Versuch, Unverzichtbares gegen zukünftige Gefahren zu schützen und kommende Katastrophen zu vermeiden. Eine solche Katastrophe werde vom Club of Rome mit guten Gründen prognostiziert, und man müsse »Kassandra ernst nehmen, wenn sie unrecht behalten« solle.68 Wenngleich Ökologie nicht ausschlaggebend für Lübbes intellektuellen Positionswechsel war, erkannte er doch gerade als Neo-Konservativer das Potential der »Grenzen des Wachstums«, linke und liberale Intellektuelle zu einer ähnlichen Denkbewegung zu motivieren. Tatsächlich machten liberale oder auch linke Autoren die ökologische Bedrohung zum Ausgangspunkt einer Neubewertung und positiven Aneignung konservativer Ideen. Für Erhard Eppler, der von 1968 bis 1974 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit war und in den 1970er Jahren die theoretischen Debatten der Sozialdemokratie beeinflusste, hatten die Berechnungen des MIT gezeigt, »daß wir an einem historischen Wendepunkt stehen: von einem Zeitalter der Grenzüberwindung zu einem Zeitalter der Grenzbestimmung, von einem Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten zu einem der möglichen Begrenzungen, von einem Zeitalter partiellen Überflusses zu einem Zeitalter, wo wir erkennen, was überflüssig ist«.69 Angesichts der destruktiven Folgen des industriellen Wachstums müsse nun eine Anstrengung unternommen werden, das Bewahrenswerte zu bewahren. Eppler definierte dies als »konservatives« Unterfangen, indem er die Unterscheidung von Struktur- und Wertkonservatismus einführte: Während der Strukturkonservatismus Wachstum mit Fortschritt gleichsetze und versuche, »ohne Abstriche das ökonomische System mit seinen Machtstrukturen zu erhalten«, beharre der Wertkonservatismus auf dem »unaufhebbaren Wert des einzelnen Menschen« und verstehe Freiheit »als Chance und Aufruf zu solidarischer Verantwortung«.70 In der Gegenwart lokalisierte Eppler technokratisches Denken bei den Strukturkonservativen in der CDU / CSU und den

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Wirtschaftsverbänden, während er den guten Wertkonservatismus sogar in Teilen der Studentenbewegung ausmachte und den Begriff des Konservativen für linke Selbstbeschreibungen öffnete. Ähnlich argumentierte Iring Fetscher 1973 in seinen »Konservativen Reflexionen eines Nicht-Konservativen«: Nachdem konservative Ideologie bisher immer der Rechtfertigung des Status quo, das heißt vor allem der Abwehr des Emanzipationsanspruchs breiter Schichten durch die Herrschenden gedient habe, sei angesichts der ökologischen Bedrohung eine neue Situation eingetreten.71 Weil die durch das kapitalistische wie auch das sozialistische Wirtschaftssystem hervorgerufene Umweltzerstörung die Lebensqualität aller bedrohe, zwängen sich konservative Betrachtungsweisen jedem verantwortungsbewussten Politiker auf.72 Für manche liberale wie auch linke Intellektuelle waren die negativen Folgen des Wachstums und die ökologischen Bedrohungsszenarien der späten 1960er und frühen 1970er Jahre wahrscheinlich der erste Punkt, an dem sie begannen, Ideen des Begrenzens von Zukunftsperspektiven und des Bewahrens von Bestehendem attraktiv und plausibel zu finden. Gerade deshalb lokalisierten einige von ihnen – bei weitem nicht alle – gerade in der Ökologiedebatte eine wesentliche Ursache für das Phänomen der »konservativen Tendenzwende«.73

Die Grenzen des Staates und die Reichweite des ökologischen Arguments Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse stellt sich die Beziehung zwischen den »Grenzen des Wachstums« und der so genannten »konservativen Tendenzwende« wesentlich komplexer dar, als es die Annahme einer linearen Begünstigung oder gar Verursachung konservativer Denkweisen durch die ökologischen und energiepolitischen Bedrohungsszenarien der frühen 1970er Jahre vermuten lässt. Konservative Positionen differenzierten sich vielmehr anhand ihrer verschiedenen Reaktionen auf die »Grenzen des Wachstums« aus: Vor allem die Öko-Konservativen, die sich um die Zeitschrift Scheidewege sammelten, begrüßten den Bericht als computergestützte Bestätigung ihrer schon länger gehegten

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Befürchtungen zum Schicksal der technischen Zivilisation. Auch wenn sie Einzelaspekte kritisierten, zogen sie ähnliche, grundsätzlich wachstumskritische Konsequenzen und forderten eine weltweite ethische Erneuerung. Auch die Vertreter der »konservativen Tendenzwende« bezogen sich in ihren Programmschriften oft auf die ökologische Bedrohung der Menschheit, diese nahm bei ihnen aber keine zentrale Position ein. Vielmehr propagierten sie eine konservative Umorientierung in allen Politikfeldern, wofür das ökologische Argument oft nicht mehr als einen willkommenen Anlass bot. Vor allem den klassisch konservativen Forderungen nach einem stärkeren Staat konnte durch den Verweis auf den von der Ökokrise erzeugten Handlungsbedarf Nachdruck verliehen werden. Für die Hardcore-Konservativen hingegen spielte Ökologie nur eine geringe Rolle, und sie lehnten die Inhalte des Club of RomeBerichts grundsätzlich ab. Dies lag entweder daran, dass sie hinter der Ökologiebewegung linke Weltherrschaftphantasien lokalisierten oder durch umweltpolitische Maßnahmen die eigene Wachstumsideologie bzw. die Legitimation von Freiheit durch Wohlstand in Gefahr sahen. Je näher die untersuchten Texte aktuellen politischen Fragen kamen, umso deutlicher wurde diese Tendenz eines technokratischen Konservatismus, der auf Wachstum und Fortschritt setzte. Die Ölkrise fungierte hier nicht als Bestätigung der ökologischen Bedrohungsszenarien,74 sondern sie ließ vielmehr den Zielkonflikt von Umwelt- und Energiepolitik offenbar werden, im Rahmen dessen grundsätzlich für Energiesicherheit optiert wurde. Die Ursachen für die Heterogenität konservativer Reaktionen auf die »Grenzen des Wachstums«, lagen zum einen in ihrer Nähe oder Ferne zur Tagespolitik und zum anderen in ihrem Verhältnis zum Staat. Hier stand auf der politischen Rechten die traditionelle Idee des starken Staates in der Nachkriegszeit zunehmend einer liberaleren Auffassung gegenüber, der zufolge es galt, die Freiheit des Einzelnen gegen die Eingriffe vor allem linker Staatsinterventionen zu schützen. Im Zeichen des Ost-West-Konfliktes kam diese Perspektive idealtypisch in der polarisierenden Wahlkampfparole »Freiheit statt Sozialismus« zum Ausdruck. Während die Tendenzwenden-Konservativen jene die Grenzen des Staates geographisch wie figurativ überschreitenden ökologischen Probleme

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zum Anlass nahmen, einen stärkeren Staat zu fordern, um die Gefahr abzuwenden, sahen andere Konservative gerade in dieser Konstruktion, vor allem wenn sie von links kam, einen Trick, um »sozialistische« Allmachtsphantasien und Freiheitsbeschränkungen auf dem Wege einer Öko-Diktatur durchzusetzen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums waren für einige Linke und Liberale die »Grenzen des Wachstums« und die ökologischen Bedrohungsszenarien tatsächlich der Anlass, von ihrer »Fortschritt durch Wachstum«-Perspektive abzurücken und konservative Politikkonzepte neu zu erschließen. Dies führte jedoch meist nicht dazu, dass sie ins gegnerische Lager übergelaufen wären. Vielmehr eigneten sie sich – wie Eppler und Fetscher – den Konservatismus-Begriff selektiv an und deuteten ihn für ihre Zwecke um. Weil die Übernahme konservativer Werte für Linksliberale gerade vor dem Hintergrund der ökologischen Bedrohung sinnvoll erschien, begriffen einige die »konservative Tendenzwende« insgesamt als eine Folge der Debatte um die ökologischen Grenzen des Wachstums. Von hier aus dürfte diese Deutung auch in die historische Betrachtung der mentalen Transformationsprozesse der 1970er Jahre eingeflossen sein. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, schieden sich an der Frage der ökologischen Bedrohung jedoch die konservativen Geister, so dass man nicht von einer einfachen kausalen Wirkung der »Grenzen des Wachstums« auf die »konservativen Tendenzwende« ausgehen kann.

Anmerkungen 1 Für Hinweise und Kritik danke ich Constantin Goschler, Jens Hacke und Daniel Morat. 2 Max Himmelheber, Grenzen des technischen Fortschritt, in: Scheidewege 1 (1971), S. 30–56, hier S. 32. 3 Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 4 Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478, hier S. 459; so auch Hans Maier, Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus? Die Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 1–17, hier S. 5.

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5 Siehe zum Beispiel Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2004, S. 48–51, oder Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 507–571. 6 Siehe Patrick Kupper, Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348; Kai F. Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004, S. 18 u. 154–181; Franz-Josef Brüggemeier / Jens Ivo Engels (Hg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt / M. 2005, S. 13; und die Kontinuitätslinien betonend Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2007, S. 32, 73. 7 Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980. Paderborn 2006, S. 24. 8 Nils Freytag, »Eine Bombe im Taschenbuchformat«? Die »Grenzen des Wachstums« und die öffentliche Resonanz, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe 3 (2006), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Freytag-2006. Patrick Kupper, »Weltuntergangs-Visionen aus dem Computer«. Zur Geschichte der Studie »Die Grenzen des Wachstums« von 1972, in: Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 98–111; Helga Nowotny, Vergangene Zukunft. Ein Blick zurück auf die »Grenzen des Wachstums«, in: Volkswagen-Stiftung (Hg.), Impulse geben – Wissen stiften. 40 Jahre Volkswagen-Stiftung, Göttingen 2002, S. 655– 694; Friedemann Hahn, Von Unsinn bis Untergang. Rezeption des Club of Rome und der Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre, Diss., Freiburg 2006. 9 Kupper, »Weltuntergangs-Visionen«, S. 100; Nowotny, Vergangene Zukunft, 2002; Hahn, Unsinn, 2006. 10 Jürgen Streich, 30 Jahre Club of Rome. Anspruch − Kritik – Zukunft, Basel / Boston / Berlin 1997, S. 34 und passim. 11 Jay W. Forrester, Der teuflische Regelkreis. Das Globalmodell der Menschheitskrise, Stuttgart 1972; Meadows, Grenzen, S. 15. 12 Ebd. 13 So argumentiert Kai F. Hünemörder, Kassandra im modernen Gewand. Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Uekötter / Hohensee, Kassandra, S. 78; Hünemörder, Frühgeschichte, S. 19; Literaturnachweise ebd.; siehe auch Kupper, Weltuntergangs-Visionen, 2004, S. 108. 14 Ebd., S. 110. 15 Siehe zum Beispiel Erhard Eppler, Ende oder Wende, Stuttgart / Berlin / Mainz 21975, S. 9; ähnlich auch Max Himmelheber, Rückschritt zum Überleben. Erster Teil, in: Scheidewege 4 (1974), S. 61–92, hier S. 64; Gerhard Helmut Schwabe, Wachstum, in: Scheidewege 6 (1976), S. 506– 519, hier S. 518. Sabine Höhler verfasst zur Zeit eine Studie zum Thema »Spaceship Earth«.

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16 Siehe zur unmittelbaren Rezeption zum Beispiel Horst E. Richter (Hg.), Wachstum bis zur Katastrophe? Pro und Contra zum Weltmodell, Stuttgart 1974; Henrich von Nussbaum (Hg.), Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum »Bericht des Club of Rome«, Düsseldorf 1973; Willem L. Oltmans, Die Grenzen des Wachstums, Reinbek 1974. 17 Kupper »Weltuntergangs-Visionen«, S. 103–105. 18 Hahn, Unsinn, S. 117. 19 Kupper »Weltuntergangs-Visionen«, S. 104; Richter, Wachstum, S. 9. 20 Kupper »Weltuntergangs-Visionen«, S. 105. 21 Siehe Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 18; einführend zur Geschichte des Konservatismus Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. 22 Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Vorwort, in: ders. (Hg.), Die Herausforderung der Konservativen. Absage an Illusionen München 1974, S. 7–16, hier S. 7. 23 Eine ähnliche Metaphorik auch bei Johano Strasser, Die Zukunft der Demokratie. Grenzen des Wachstums, Grenzen der Freiheit? Reinbek 1977, S. 12. 24 Martin Greiffenhagen, Freiheit gegen Gleichheit? Zur ›Tendenzwende‹ in der Bundesrepublik, Hamburg 1975, S. 7; vom Klimawechsel spricht auch Eppler, Ende, S. 119; in Forschung ebenso Schildt, Die Kräfte, S. 459; Maier, Fortschrittsoptimismus, S. 15 f. 25 Iring Fetscher, Der Neokonservatismus und seine Widersprüche, in: ders. (Hg.): Neokonservative und »Neue Rechte«, München 1983, S. 11–34, S. 20. 26 So argumentiert bereits Schildt, Die Kräfte, S. 462–469. Die Begriffsprägungen bei Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001; Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1–37. 27 Zur Programmentwicklung der CDU siehe Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart 2002, S. 10–72. 28 Siehe dazu ausführlich Schildt, Die Kräfte, S. 460. 29 Clemens Podewils (Hg.), Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik, Stuttgart 1975; Tendenzwende auf dem Buchmarkt?, in: Criticón 7 (1977), S. 226 f. 30 Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Der schwierige Konservatismus. Definitionen – Theorien – Porträts, Herford / Berlin 1975, S. 8. 31 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 164; siehe zu Forsthoff auch Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004, S. 135–138. 32 Forsthoff, Staat, S. 168. 33 Klaus Hornung, Überleben in Freiheit. Entscheidungsfragen politischer Ordnung an den »Grenzen des Wachstums«, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner

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(Hg.), Überleben und Ethik. Die Notwendigkeit, bescheiden zu werden, Freiburg 1976, S. 112–140, S. 126. Ebd., S. 128. Gerd Albers, Umweltbewußtsein. Mode oder Umkehr, in: Podewils (Hg.), Tendenzwende?, S. 25–39. Max Himmelheber, Zur Energiekrise, in: Scheidewege 4 (1974), S. 121– 124, S. 121. Lediglich in Band 19 ging es noch unter dem Titel »Adieu, ihr Städte!« um die »Suche nach einer wohnlicheren Welt«. Tendenzwende auf dem Buchmarkt, S. 226. Gerhard Helmut Schwabe, Naturschutz, in: Scheidewege 1 (1971), S. 78– 96, S. 79. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920–1960, Göttingen 2007, S. 224–239. Caspar v. Schrenck-Notzing (Hg.), Lexikon des Konservatismus, Graz / Stuttgart 1996, S. 478 f. Gerhard Helmut Schwabe, Menschheit am Wendepunkt, in: Scheidewege 5 (1975), S. 298–319, S. 296. Himmelheber, Rückschritt. Erster Teil, S. 76 f. Bussauer Manifest zur umweltpolitischen Situation, in: Scheidewege 5 (1975), S. 469–486, S. 469. Schwabe, Wachstum, S. 507–509; Ders., Fünfzig Thesen zur Umweltkrise, in: Scheidewege 2 (1972 / 73), S. 26–37, S. 36; ders., Menschheit, S. 310. Himmelheber, Rückschritt. Erster Teil; ders., Rückschritt zum Überleben. Zweiter Teil, in: ebd. 4 (1974), S. 369–393. Schwabe, Wachstum, S. 87. Schwabe, Menschheit, S. 314. Armin Mohler, 12 Thesen zur Öko-Klage, in: Criticón 7 (1977), S. 85–88, S. 87; siehe auch ders., Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978. Mohler, 12 Thesen, S. 86. Ebd., S. 86. Ebd., S. 39. Wilfred Beckermann, Umweltkatastrophe. Ein Mythos, in: Zeitbühne, 2.1 (1973), S. 24–31, S. 31. John Maddox, Nahrung für acht Milliarden, in: Zeitbühne 2.12 (1973), S. 16–18; Bevölkerungsexplosion, in: ebd. 2.6 (1973), S. 43; Bevölkerungsexplosion, in: ebd. 2.5 (1973), S. 41. Hans Bader, Grenzen des Wachstums, in: Criticón, 2 (1972), S. 254–256, S. 254. Ebd., S. 255. Robert Hepp, Der Umschlag in Lebensqualität, in: Criticón 2 (1972), S. 243–251. Ebd., S. 250. Franz Riedweg, »Qualität des Lebens«, in: Konservativ heute 4.1 (1973), S. 6–10.

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61 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 7. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 85, Bonn 1973, S. 3913–3923, hier S. 3920. 62 Ebd., S. 3916 u. 3921. 63 Greiffenhagen, Freiheit, S. 7. Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 256 bestimmt den »technokratischen Realismus« nach 1945 als Hauptströmung des Konservatismus in der Bundesrepublik; siehe zur systematischen Unterscheidung zwischen ökologischem und technokratischem Konservatismus auch Michael Großheim, Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995. 64 Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt / M. 1977. 65 Jerry Z. Muller, German Neo-Conservatism ca. 1968–1985. Hermann Lübbe and Others, in: Jan-Werner Müller (Hg.), German Ideologies since 1945. Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic, New York 2003, S. 162. 66 Vgl. Hacke, Philosophie. 67 Hermann Lübbe, Lebensqualität oder Fortschrittskritik von links, in: Criticón 4 (1974), S. 6–11, S. 7. 68 Ebd., S. 9. 69 Eppler, Ende, S. 18. 70 Ebd., S. 28–29. 71 Iring Fetscher, Konservative Reflexionen eines Nicht-Konservativen, in: Merkur 27 (1973), S. 911–919, S. 911. 72 Ebd., S. 912; siehe auch ders., Neokonservatismus. 73 Martin Greiffenhagen, Neokonservatismus in der Bundesrepublik, in: ders. (Hg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek 1974, S. 7–22, S. 11 macht das ökologische Argument stark und Eppler sieht »konservative Tendenzwende« als im Kern »wertkonservativ«. Bei Hermann Glaser, Die Mitte und rechts davon. Bemerkungen zur Tendenzwende in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (1974), S. 14–36 kommt Ökologie nicht vor und Strasser, Zukunft, S. 60 negiert ihre Bedeutung für den Ruf nach einem »starken Staat«. 74 Anders Karen R. Merrill, The Oil Crisis of 1973–1974. A Brief History with Documents, Boston / New York 2007, S. 23, oder Schildt, Konservatismus, S. 246.

Holger Nehring

Die nachgeholte Stunde Null Intellektuelle Debatten um die Atombewaffnung der Bundeswehr 1958–1960

Anfang 1958 rief die SPD die Kampagne »Kampf dem Atomtod« ins Leben, um damit eine »Volksbewegung« gegen die von der Regierung Konrad Adenauers beschlossene Atombewaffnung der nur wenige Jahre zuvor gegründeten Bundeswehr zu verhindern. Mit der Wende der SPD zu einem außenpolitischen Konsens mit der CDU wandte sich die Partei jedoch schon bald wieder von dem Vorhaben ab.1 Die Kampagne war maßgeblich von intellektuellen Interventionen begleitet, in denen es nicht nur um das Für und Wider der Atombewaffnung ging, sondern auch unterschiedliche Verständnisse des noch jungen bundesdeutschen Staatswesens verhandelt wurden. Trotz der kurzen Dauer spiegeln sich in ihr wichtige Kennzeichen eines Streits um den Staat in der Bundesrepublik allgemein. Im Januar 1958 publizierte der junge Rundfunkjournalist Horst Krüger im Zusammenhang mit diesen Debatten einen offenen Brief unter dem provokativen Titel: »Das Nein ist kein Programm. Offener Brief eines Nonkonformisten« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.2 Adressat des Schreibens war der anonyme »Herr S.«, einer jener »nonkonformistischen« Intellektuellen, zu denen auch Pazifisten, Antiklerikale, wirkliche Demokraten, literarische Utopisten, Linkssozialisten, die (als ehemalige Kommunisten) nichts mehr als den Kommunismus fürchteten, überzeugte Christen, militante Antifaschisten und bürgerliche Individualisten gehörten. Sie alle lehnten die junge Bundesrepublik ab, weil sie ihren hohen moralischen Standards nicht gerecht wurde. Mit seiner Analyse beschrieb Krüger ziemlich exakt jenes Milieu, aus dem sich die kritisch an den Debatten der Atomrüstung der späten 1950er und frühen 1960er Jahre beteiligten Intellektuellen speisten.3 Trotz mancher Sympathie tadelte Krüger jedoch die Nonkon-

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formisten für ihre überzogenen Erwartungen an den neuen Staat. Außerdem hätten, so Krüger, die Intellektuellen übersehen, dass Utopien sich innerhalb einer liberalen Ordnung nicht realisieren ließen, ohne diese Ordnung selbst zu gefährden. Die von Krüger imaginierte Katastrophe trat aber nicht ein: die Bundesrepublik entwickelte sich zu einem liberalen Staatswesen. Wie kam es, dass diese Legitimitätskrise der Bundesrepublik gelöst wurde? Dieser Beitrag sucht die Gründe dafür in der Struktur der von den Intellektuellen in die Debatte gebrachten Ideen vom bundesdeutschen Gemeinwesen. Der Blick richtet sich auf drei Personen bzw. Personengruppen, welche durch ihr Engagement die Bewegungen besonders prägten und deren Analyse Rückschlüsse auf allgemeinere Kennzeichen der Debatte um den bundesdeutschen Staat erlaubt. Dieser Beitrag wird sich erstens mit den Naturwissenschaftlern beschäftigen, die im April 1957 die »Göttinger Erklärung« unterzeichneten, sich aber schon ab 1959 allmählich aus der Bewegung zurückzogen und – wie Carl Friedrich von Weizsäcker in einer Artikelserie der Zeit, die dann später in Buchform publiziert wurde – Anfang der 1960er Jahre das Leben mit der Bombe für möglich erklärten.4 Zum zweiten soll ein Blick auf liberalprotestantische Eliten das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Streit um den Staat in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre hinein ein Streit um einen als vor allem katholisch wahrgenommenen Staat war. Das Augenmerk gilt nicht zuletzt dem Philosophen Günther Anders, der in seiner Bedeutung für die Ideengeschichte der Bundesrepublik weit unterschätzt wird. Er hat sich in der Kampagne »Kampf dem Atomtod« und in der frühen Ostermarschbewegung engagiert und sie mit vielen Beiträgen begleitet. Gerade dadurch half er, eine intellektuelle Kultur auszubilden, die nicht nur auf den Streit um den Staat der 1960er Jahre verwies, sondern schon Anfang der 1960er Jahre zentrale Interpretamente der Debatten der 1970er und 1980er Jahre vorwegnahm. Eine weitere Gruppe wird hier nicht berücksichtigt, da sie in den Beiträgen von Dominik Geppert und Joachim Scholtyseck über die »Gruppe 47« in Erscheinung tritt: das Münchner »Komitee gegen Atomrüstung« von Hans Werner Richter. Nach einer kurzen Vorstellung des konzeptionellen Rahmens sollen die Protagonisten und ihre Vorstellungen vom Staat vorge-

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stellt werden, in einem zweiten Teil werden dann einige der diesen Gruppen gemeinsamen Themen herausgearbeitet, die wichtige allgemeinere Erkenntnisse über den Streit um den Staat in der Bundesrepublik bieten können.

Die Neuvermessung des Politischen Die Deutung Krügers, es habe sich bei den Protesten um eine fundamentale Bedrohung der bundesrepublikanischen Ordnung gehandelt, hat sich bis vor kurzem hartnäckig gehalten. Letztlich hat die historische Forschung damit die zeitgenössischen Debatten der 1950er und 1960er Jahre repliziert, wie sie besonders von den »Cold War Liberals« im Kreis des »Kongresses für kulturelle Freiheit« vertreten wurde.5 In letzter Zeit hat man das Engagement staatskritischer Intellektueller dagegen gern als Geschichte einer »Liberalisierung« beschrieben. Ulrich Herbert und andere haben die Ambivalenzen der Positionen kritischer Intellektueller in ein grobes Modernisierungs-Paradigma eingefügt, welches vom Ende des Zweiten Weltkriegs über das kritische Engagement der 1950er und 1960er Jahre und über »1968« in die Bundesrepublik der Gegenwart führt.6 Zumindest für die hier analysierten Intellektuellen scheint das Etikett wenig hilfreich zu sein, denn mit ihm lassen sich Überbleibsel der Technik- und Modernekritik der 1920er und 1930er Jahre, die sich besonders bei Anders finden, kaum fassen. Die hier untersuchten Intellektuellen waren zwar »45er«, aber nicht in dem Sinne einer Alterskohorte, wie es von der Liberalisierungsschule um Ulrich Herbert postuliert wird.7 Sie waren »45er« in einem ganz fundamentalen Sinne, denn sie sahen ihr Engagement und ihre Kampagne als Möglichkeit, die Ziele zu realisieren, auf die sie zwar 1945 gehofft hatten, die sie aber nicht verwirklichen konnten.8 Sie betrachteten ihren Protest als nachgeholte Stunde Null, versuchten also die Bundesrepublik genau in jener Phase neu zu gründen, als sie durch die Schaffung der Bundeswehr, die Einführung der Wehrpflicht, die Atombewaffnung und schließlich im Zuge des Mauerbaus im August 1961 ihr Gesicht als Staat gewann. Bezeichnenderweise ging es den hier vorgestellten In-

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tellektuellen nicht um einen Streit um den »Atom-Staat«, den der Populärwissenschaftler Robert Jungk, auch seinerzeit schon am Rande der Protestbewegungen engagiert, 1977 kritisierte.9 Es ging ihnen auch nicht um die Institutionenordnung des bundesdeutschen Staates. Die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die seinerzeit wichtigen Naturrechtsdebatten und der Charakter des Staatsrechts spielten in den Interventionen der hier untersuchten Intellektuellengruppen keine Rolle.10 Vielmehr problematisierten sie die Moralität der Person und den Schutz dieser Moralität vor und durch den Staat – ein Argument, das durch die Orientierung auf 1945 als »Stunde Null« und die prägenden Erfahrungen von Exil, innerer Emigration oder gar (im Falle einiger der Wissenschaftler) Kollaboration seine besondere Bedeutung gewann. Sie gaben dadurch einem Gefühl der Verletzlichkeit Ausdruck, welches sich aus der Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkriegs speiste und nun auf die atomare Bedrohung im Kalten Krieg übertragen wurde.11 Im Folgenden sollen deshalb die Positionen der Intellektuellen nicht einfach in Bezug zu einer essentialistisch gedachten Position des bundesrepublikanischen Mainstreams analysiert werden. Denn als solche erscheinen sie erst ex post. Vielmehr geht es darum, die Positionen der Intellektuellen als Bestandteil einer Neuvermessung nicht nur der bundesrepublikanischen Außen- und Verteidigungspolitik, sondern des Politischen an sich zu analysieren. Die Argumentation orientiert sich dabei an der von Pierre Rosanvallon in Anlehnung an Hannah Arendt und Claude Lefort entwickelten Demokratietheorie, die Demokratie nicht auf ihre institutionellen Komponenten reduziert, sondern als Feld und als Projekt analysiert, das immer wieder neu vermessen wird. Es geht also um die Frage, wie Repräsentation erreicht werden kann, und zwar sowohl im wörtlichen Sinne durch Wahlen und Abgeordnete, als auch im symbolischen Sinne von Interessen und Wünschen der Bevölkerung und ihrer semantischen Deutung.12 Die Aushandlung des Politischen war von einer besonderen historischen Zeitstruktur bestimmt. Für die Kritiker der Regierung erschien ein langfristiger Zeithorizont angesichts der Dringlichkeit der Aufgabe und des Grades der von den Atomwaffen ausgehenden Gefahr nicht akzeptabel. Es ging ihnen – sowohl in der Wahl der Protestform als auch

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symbolisch – um »Bewegung«. Für die Kritiker der Proteste dagegen erschien genau diese Sicht zu kurzfristig gedacht, da sie letztlich die Machtkonstellation des Ost-West-Konflikts ignoriere. Auf der Sachebene spiegelte sich diese Spannung im zeitgenössischen und von einigen Historikern wissenschaftlich salonfähig gemachten Vorwurf wider, die in den Protesten engagierten Intellektuellen hätten sich gegenüber dem ideologischen Ost-West-Konflikt indifferent verhalten und somit einen Mangel an außenpolitischem Realismus walten lassen.13 Aus der hier gewählten Perspektive führt eine solche Aufrechnung zwischen Realismus und Idealismus nicht weiter, weil es in der Debatte um die Atombewaffnung ja gerade darum ging, die Begriffe »realistisch« und »idealistisch« innerhalb einer solchen Neuvermessung des Politischen abzustecken.14 Ein »Liberalismus der Angst« der »Cold War Liberals« stand einem »Liberalismus der Erlösung« gegenüber, welche die Kritiker der Adenauer-Regierung in den Debatten der Atombewaffnung vertraten.15 Die Kritiker der Adenauerschen Politik vertraten also eine wesentlich durch das »Pathos des Neuanfangs« gekennzeichnete Position von Demokratie und Republikanismus, wie sie Arendt als charakteristisch für die post-revolutionären Gesellschaften der Vereinigten Staaten und Frankreichs im späten achtzehnten Jahrhundert ausgemacht hat.16 Über diesen beiden Polen spannte sich die Debatte über die Atombewaffnung der Bundeswehr auf, die in diesem Beitrag aus der Perspektive ihrer Kritiker nachgezeichnet werden soll. Die Debatte endete nicht mit der geographischen, aber doch geistigen Verabschiedung der Kritiker aus der Geschichte der Bundesrepublik: sie lernten, mit der Bombe und dem bundesdeutschen Staatswesen zu leben.

Vom Denken zum Handeln Hannah Arendt schlug 1961 in einer Erörterung darüber, wie die deutsche »Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts« zu schreiben sei vor, dass man das biographisch tun könne, und zwar in dem man zwei totale Kehrtwendungen nachweise: »zuerst, als man vom Denken ins Handeln floh, und dann erneut, als das Handeln oder

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besser Gehandelthaben sie in das Denken zurück zwang«.17 In der hier vorgelegten Argumentation soll, in Anlehnung an Daniel Morats Vorschlag in seiner Studie zu den Gebrüdern Jünger und Martin Heidegger, diese Deutung aufgegriffen, aber anders gewendet werden. Die Relevanz der intellektuellen Interventionen in den Protesten gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr soll aus der Kehrtwendung vom Denken zum Handeln erklärt werden.18 Im Fall von Anders und einiger Theologen war die Phase des Denkens durch wirkliche bzw. innere Emigration erzwungen. Im Fall der Physiker war sie eher freiwillig beziehungsweise nachträglich als »Widerstand« stilisiert.19 Wichtig für die Argumentation ist, dass der imaginäre Fluchtpunkt der Argumentationen aller hier untersuchten Personen und Personengruppen in der Vergangenheit lag: im Jahre 1945, gleich ob sie damals bereits entsprechend aktiv waren oder nicht. Es ging ihnen darum, auf die Kontingenz des deutschen Gemeinwesens hinzuweisen und ganz im Sinne des humanitär-moralischen Diskurses der unmittelbaren Nachkriegsjahre auch noch Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre eine Berücksichtigung individueller Sicherheit zu fordern.20 Alle hier untersuchten Intellektuellen konnten bei ihren Versuchen, das Politische der Bundesrepublik im Rückgriff auf 1945 neu zu vermessen, auf die symbolische Repräsentativität ihrer Interventionen verweisen, denn sie und nicht die CDU-geführte Bundesregierung vertraten den in Meinungsumfragen dargestellten »Volkswillen« und wurden damit zu den nicht gewählten aber doch repräsentativen Sprechern der westdeutschen Bevölkerung.21 Die ersten, die sich in den Diskussionen zu Wort meldeten, waren Naturwissenschaftler, die für sich eine besondere Art der Kompetenz in Anspruch nahmen. In der »Göttinger Erklärung« vom 4. April 1957 verurteilten sie Adenauers Titulierung von taktischen Atomwaffen als Weiterentwicklung der Artillerie. Sie verbanden damit eine massive Kritik am bundesrepublikanischen Staatswesen der Adenauer-Ära. So verwiesen Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn, Max Born, Friedrich von Laue und andere auf die grundsätzlichen Gefahren, welche die Einmischung des Staates in die Kernforschung bringen würde. Allerdings befürchteten sie zugleich ein Verbot jeglicher Kernforschung durch die Alli-

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ierten. In ihren Aufrufen zu den Gefahren der militärischen Nutzung der Kernkraft definierten sich die Wissenschaftler als verantwortliche Experten und beanspruchten, indem sie auf ihre gesellschaftliche und politische Funktion verwiesen, zugleich die Rolle des um das Gemeinwesen besorgten Intellektuellen für sich. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis, so argumentierten sie, gehörten zum Kernbestand des Politischen in der noch jungen Bundesrepublik: »Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen«, stellten sie fest und verwiesen auf die »Verantwortung für die möglichen Folgen unserer Tätigkeit«, die politische Interventionen notwendig mache. Dabei bekannten sie sich »zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegenüber den Kommunisten vertritt«.22 Der Spiegel schloss daran nur wenige Wochen später eine Serie über die angebliche Verweigerungshaltung der Physiker während des Nationalsozialismus an, welche ihr Engagement unter dem Titel »Und führe uns nicht in Versuchung: Vom gespaltenen Atom zum gespaltenen Gewissen« zusammenführte.23 Die Naturwissenschaftler sahen sich also selbst als Intellektuelle, die durch die Umstände dazu gezwungen wurden, die Bundesregierung von der Schreckens-Tat der Nuklearbewaffnung abzuhalten.24 Modern gesprochen könnte man dies als Forderung nach Technikfolgenabschätzung durch den Staat bezeichnen; doch ein genauerer Blick vermag ein wesentlich ambivalenteres Bild zu zeichnen. Es ging den Wissenschaftlern – anders als in den späten 1970er und den 1980er Jahren – nicht um eine Fundamentalkritik am Atomstaat. Vielmehr, und davon zeugte ihr Rekurs auf das »Gewissen« als zentrale Eigenschaft des modernen Forschers, betrieben sie auch eine Vergangenheitspolitik, die direkt auf 1945 und die Debatte um die deutsche Physik in der Zeit des Nationalsozialismus zurückverwies. Mit ihrer Aufforderung zur Tat strebten sie danach, die eigene nicht zuletzt durch technologische Großforschung bedingte Mitwirkung an staatlicher Politik rückgängig zu machen. Es handelte sich gewissermaßen um einen Akt der Selbst-Entnazifizierung, der zugleich die Bundesbürger aufforderte, sich auch von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren. Die Forderung, staatliches Handeln müsse rational

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und wissenschaftlich sein, kann auch als Externalisierung des eigenen moralischen Dilemmas verstanden werden: So stellte Robert Jungk in seinem Bestseller Heller als Tausend Sonnen gerade die amerikanische Physikergemeinschaft als allzu staatstreu dar. Deutsche Physiker dagegen hätten Verantwortung und Vernunft im Handeln gezeigt – und gerade deshalb die Tat (sprich: die Entwicklung der Atombombe) nicht vollbracht, obwohl sie, so die Implikation, sie hätten vollbringen können.25 Die wissenschaftshistorische Forschung hat diese Deutung mittlerweile als Mythos ausgewiesen – dadurch tritt freilich die Besonderheit dieser Argumentation umso deutlicher zutage: der Rekurs auf die Sittlichkeit der Bürger, ohne den Staat selbst zum Thema zu machen. Diese Neuvermessung des Politischen unter Einbeziehung der Naturwissenschaften und der Medizin zeigte sich besonders im wohl prägnantesten Motiv der Kampagne »Kampf dem Atomtod«, einem Porträt Albert Schweitzers, der im April 1957 in einem weithin beachteten Appell die Beendigung des atomaren Wettrüstens gefordert hatte. Damit versuchte die Kampagne, an die immense Popularität des bekannten Mediziners und Philanthropen anzuknüpfen und seine durch den Friedensnobelpreis seit 1952 beglaubigte moralische Autorität in den Dienst der Friedensbewegung zu stellen.26 Eine bildliche Verdichtung der Gefahren atomarer Rüstung im Zusammenhang einer Kritik des bundesdeutschen Staates gelang damit aber nicht. Anders als die Bezeichnung »Kampf dem Atomtod« suggerieren mag, griffen die Naturwissenschaftler die Erfahrung von massenhafter Gewalt und Tod im Zweiten Weltkrieg gerade nicht auf.27 Deshalb konnte die Bundesregierung mit dem Porträt Adenauers leicht kontern: der Kanzler genoss eine vergleichbar hohe moralische Autorität wie Albert Schweizer. Dazu sprach er noch, mit einer Spitze gegen die kommunistische Friedensrhetorik, die »Furcht vor dem Atomtod« ganz unbefangen an und offerierte seine Politik der Sicherheit und Stärke als Lösung.28 Die besonders bei Carl Friedrich von Weizsäcker erkennbare enge Verbindung der Naturwissenschaftler zum deutschen Protestantismus führt zur zweiten Gruppe, die im Zusammenhang mit den Debatten zur Atombewaffnung untersucht werden soll: bruderschaftliche oder ihnen nahestehende Kreise um Martin

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Niemöller und den Dortmunder Kirchenpräsidenten Heinz Kloppenburg, zu denen Gustav Heinemann und Johannes Rau, aus der Gesamtdeutschen Volkspartei kommend, engen Kontakt hatten, aber auch die junge Ulrike Meinhof oder der Lutheraner Helmut Gollwitzer.29 Protestanten haben immer ein prekäres Verhältnis zum deutschen Staat gehabt, und die Frage der Atombewaffnung ließ Konflikte wieder aufbrechen.30 Sie verband sich mit einer massiven Kritik an dem vermeintlich katholischen Adenauer-Staat. Doch auch die Theologen thematisierten den Staat selbst und seine Organe nicht. Vielmehr ging es um die Sittlichkeit des Bürgers, hier verstanden als die Sittlichkeit des Christen. Theologisch auf Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth zurückgreifend, die auf die Notwendigkeit hingewiesen hatten, die Königsherrschaft Christi im Hier und Jetzt zu verwirklichen, verwiesen sie auf die zentrale Bedeutung des Gewissens als unhintergehbaren moralischen Kompass in der Debatte um die Atombewaffnung. Dabei griffen sie praktisch wörtlich auf Motive zurück, die schon die Diskussion um die »deutsche Schuld« sowie um die Neuordnung der evangelischen Kirche und des deutschen Staatswesens bestimmt hatten.31 Denn die Herausforderung einer von deutschem Boden möglicherweise ausgehenden Massenvernichtung durch Nuklearwaffen sei eine genauso große Herausforderung wie die »jüdische Frage zur Zeit des Kirchenkampfes«.32 Die Lösung sahen die Bruderschaftler darin, die theologische Metaphysik des Staates durch eine evangelische Doktrin zu ersetzen, welche auf politischen Tugenden aufruhte.33 Das war nichts weniger als die Forderung, das Denken »vom Staat her« durch ein Denken »ohne den Staat« zu ersetzen. Die Situation der evangelischen Kirche als »Klammer« im geteilten Deutschland mag eine solche Deutung begünstigt haben.34 Gegen Lutheraner wie Walter Künneth und Hans Asmussen, welche die Schutzfunktion des bundesdeutschen Staates gegen den »potentiellen Massenmord des freiheitlichen Geistes durch den Kommunismus« betonten35, hoben Kritiker der Atombewaffnung hervor, dass gerade der Staat im nuklearen Zeitalter die Bevölkerung nicht mehr schützen könne – das habe schon der rein konventionell geführte zweite Weltkrieg und die Erfahrung des Bombenkrieges gezeigt. Wie auch die Naturwissenschaftler versuchten die

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Theologen ihr Engagement als Widerstand ex post zu deklarieren und stellten sich direkt in die Tradition der Bekennenden Kirche im totalitären Staat des Nationalsozialismus. Der Philosoph Günther Anders verhandelte die gleichen Themen wie die Naturwissenschaftler und die Theologen – und kam ebenso wie sie ohne einen irgendwie näher explizierten Begriff des Staates aus. Anders ist einer der am meisten vernachlässigten Philosophen in der Ideenlandschaft der frühen Bundesrepublik, obwohl seine öffentlichen Interventionen für die Friedens- und Ökologiebewegung besonders während der 1970er und 1980er Jahre bedeutender waren, als die so oft hervorgehobene Frankfurter Schule. Anders, Sohn des berühmten Psychologenpaares Clara und Wilhelm Stern, war der erste Mann Hannah Arendts gewesen, hatte bei dem Phänomenologen Edmund Husserl und bei Martin Heidegger studiert. Seine mögliche Habilitation über ein musiktheoretisches Thema hatte Theodor Adorno abgeblockt. Trotz enger Verbindungen zur Frankfurter Prominenz im kalifornischen Exil, blieb er auch seit seiner Rückkehr nach Wien eher ein Außenseiter.36 Weit tiefer als die in der Bewegung engagierten Wissenschaftler und Theologen hatte Anders unter der nationalsozialistischen Diktatur gelitten. Gleichzeitig blieb er durch seine intellektuelle Verbindung zu Heidegger eng den Traditionen deutscher Existenzialphilosophie verpflichtet, die sich gerade während jener Zeit durch ein Bekenntnis zur Tat ausgezeichnet hatte.37 Er gehörte damit zu jenen Philosophen und bundesrepublikanischen Intellektuellen, die mit Heidegger gegen Heidegger dachten. Zentrum seines Denkens blieb die Frage der Tat und die Überwindung der Gelassenheit. Angesichts des nuklearen Wettrüstens war für Anders das Nachdenken über den Staat obsolet geworden. Es handelte sich um eine globale Bedrohung, die gerade aus territorial-staatlicher Perspektive nicht sachadäquat erfasst werden könne.38 Wie auch für andere Intellektuelle war der Fluchtpunkt seiner Überlegungen die, wie er es formulierte, »Kehre« von 1945.39 Nach der Erkenntnis der Gräueltaten von Auschwitz und besonders der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki ging es um die Rettung nicht nur der Menschheit, sondern besonders um die Rettung dessen, was den einzelnen Menschen als Menschen ausmachte: seine

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Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln, die auch Arendt zur gleichen Zeit politiktheoretisch reflektierte.40 Es ging fundamental um die Rettung des Humanen in der post-apokalyptischen Vorkriegszeit nach Auschwitz und Hiroshima.41 Diese Gleichsetzung von Auschwitz und Hiroshima, die sich in der von den »68ern« vorgetragenen Kritik am bundesdeutschen Staatswesen wiederfinden sollte, ergab sich aus Anders’ Interpretation der Gegenwart. Er charakterisierte sie als ein »Zeitalter der zweiten industriellen Revolution«, die durch den Massenkonsum das Individuum einnebele – eine Deutung, die an konservative Technikkritiker jener Zeit nahtlos anschloss.42 Im Unterschied zu diesen nutzte Anders diese Erkenntnis allerdings, um das Bild eines durch die technologischen Möglichkeiten der Moderne – und besonders die Atombombe – potentiell mit absoluter Macht ausgestatteten Staates zu imaginieren und zu kritisieren. Dieser würde gleichsam automatisch einen totalitären Charakter entwickeln, wenn man nicht gegensteuere.43 Das Problem dabei sei, so Anders, die Unsichtbarkeit dieser absoluten Macht. Man könne sich aufgrund der großen Zerstörungskraft der Atomwaffen das, was man hergestellt habe, gar nicht mehr vorstellen.44 Die atomare Allmacht bilde das außenpolitische Pendant zum innenpolitischen Terror des totalitären Staates. Genau deshalb hielt Anders die Güterabwägungen zwischen der Erhaltung menschlicher Freiheit durch nukleare Abschreckung und der Zerstörung menschlichen Lebens durch die Bombe, die Karl Jaspers zur gleichen Zeit entwarf, für verfehlt: »Denn nicht nur vor der Tat endet sein Buch; nicht nur vor dem Aufruf zur Tat; sondern sogar vor der Billigung eines solchen Aufrufs.«45 Aus der Eingespanntheit des Einzelnen ergab sich für Anders – übrigens ganz analog zu Arendts Deutung Eichmanns – das Ende der Politik im eigentlichen Sinne. Denn die Tat sei im technischen Objekt schon eingeschlossen: die Existenz der Bombe bedeute bereits totalitäre Gewalt. Gewissenhaftigkeit – die akkurate Ausführung von Anweisungen – habe in dieser technischen Gesellschaft das Gewissen ersetzt.46 Um die Handlungsfähigkeit des Menschen in dieser Situation zu rehabilitieren, forderte Anders einen »Mut zur Angst«.47 Nur so könne der Totalitarismus des Atomzeitalters überwunden werden. Es ging Anders also letztlich

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darum, aus seiner Theorie der anthropologischen Verspätung des Menschen gegenüber den technologischen Entwicklungen die Notwendigkeit des Vor-Denkens abzuleiten.48 Zentraler Parameter zur Stimulation der Tat war für Anders das »Gewissen«, wie sich besonders in seinem publizierten Interview mit dem HiroshiomaPiloten Claude Eatherly zeigte.49 Arendt kommentierte kritisch in einem Brief an ihren Mann Heinrich Blücher, Anders habe sich der Anti-Atombewegung angeschlossen, zusammen mit Heidegger, der eben keine Volksbewegung auslassen könne.50 Doch Anders wollte gerade keine Gelassenheit, keine Seinsphilosophie und abstrakte Ethik. Die Erkenntnis der Daseinssituation musste für ihn direkt in die (staatsbürgerliche) Praxis führen. Sein Insistieren auf der Rationalität von Angst und sein Hinweis auf die völlige Bedeutungslosigkeit von Grenzen in der durch Atomwaffen entgrenzten Welt machten ihn in den immer noch durch den Gedanken der Territorialität bestimmten 1950er Jahren zu einem Außenseiter der allgemeinen Debatten.

Denken ohne den Staat Das zentrale Thema in diesen Diskussionen war nicht die direkte Auseinandersetzung mit dem bundesdeutschen Staat. Wenn der Journalist Friedrich Siebung in seinen »Selbstgesprächen auf Bundesebene« feststellte, dass es der Bundesrepublik an der Vorstellung ihrer selbst fehlte, so war die Fokussierung auf Moral in gewisser Weise die in jener Situation einzig mögliche Kritik am bundesdeutschen Staatswesen.51 Ziel war der Schutz des Individuums vor dem Staat, um auf diese Weise in der Vergangenheit erlittene Verletzungen und noch offene Wunden zu heilen. Es ging in diesem Streit um den Staat vor allem darum, die Handlungsfähigkeit des Einzelnen vor dem Staat zu sichern. Überhaupt überrascht an all den vorgetragenen Argumenten, dass sie sich nicht auf den Begriff von Pazifismus oder, leicht modifiziert, Nuklearpazifismus reduzieren lassen. Natürlich ging es um die Auseinandersetzung mit der Frage, wer unter welchen Umständen Krieg führen durfte.52 Aber nach dem Zweiten Weltkrieg und im

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nuklearen Zeitalter ging es vor allem darum, wie man den Staat auf friedliche Verhaltensweisen hin orientieren konnte. Die drei hier vorgestellten Gruppen setzten also fundamentaler an und definierten ihre Position im Streit um den Staat als eine von unveräußerlichen und überall gültigen Menschenrechten – eine Entwicklung, die man übrigens auch in anderen westeuropäischen Ländern beobachten kann.53 Und doch hatte diese Debatte eine besonders deutsche und besonders bundesdeutsche Resonanz: Die Agentur, welcher die Aktivisten die Regulierung dieser Motivation übertrugen war das »Gewissen«, der »innere Gerichtshof« des Aufklärers Immanuel Kant und zentrale Kategorie der lutherischen Theologie, die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils auch im Katholizismus eine Aufwertung erfuhr.54 Es war das Gewissen, das in den Gesetzeskodierungen der meisten westlichen Länder den Bürgern erlaubte, unter extremen Verhältnissen das Gesetz zu brechen.55 Diskussionen im westdeutschen Protestantismus aufgreifend, sahen die hier betrachteten Intellektuellen das Gewissen direkt an Vorstellungen deutscher Schuld und Verantwortung gebunden. Diese Intellektuelle gebrauchten die gleiche Sprache und Semantik, die den Widerstand gegen Hitler als »Aufstand des Gewissens« interpretierte, und leisteten so gewissermaßen Widerstand ex post.56 Mit den Protesten gegen Atomwaffen versuchten sie, sich von der deutschen Schuld zu distanzieren. Als Vorbild diente dabei der Widerstand des 20. Juli, als negatives Beispiel diejenigen, welche die Last der deutschen Schuld nicht hatten ertragen können und angesichts der bedingungslosen Kapitulation im Jahre 1945 den Freitod gesucht hatten.57 Appelle an das Gewissen angesichts des »Massenselbstmords« im Falle einer nuklearen Katastrophe waren damit in der Bundesrepublik aufs engste miteinander verknüpft. Wer sich dem kollektiven Suizid im Atomzeitalter auslieferte, leugnete die Verantwortung, die sich aus den deutschen Erfahrungen der 1930er und frühen 1940er Jahre ergaben.58 Dabei war es politisch besonders brisant, dass die Intellektuellen diesen »inneren Gerichtshof« nicht nur zur Erinnerung an den vergangenen Widerstand benutzten, sondern ihn zur Kritik der Gegenwart öffentlich machten. Die Grenzen zwischen moralischem oder religiösem Bekenntnis und politischem Betrieb wur-

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den somit verwischt; es kam zu einer Politisierung des Gewissens.59 Die Intellektuellen dagegen behaupteten eine Identität der menschlichen Person und des Staatsbürgers und widersprachen damit einem zentralen Element moderner Staatlichkeit, nämlich der Trennung der privaten Meinung des Gewissens von der öffentlichen Aufgabe der Regierung. Zugleich wurde durch die Gewissensentscheide die deutsche Schuld gewissermaßen sublimiert und zugleich wach gehalten. Dagegen stand für die Befürworter der Adenauerschen Politik fest, dass der »homo privatus« gar kein verantwortliches Gewissen haben konnte, sondern nur der Staatsmann. Entsprechend argumentierte der konservative evangelische Theologe Künneth, dass nur der Staatsmann aufgrund seiner kraft Amtes großen Verantwortung für Volk und Nation politisch gewissenhaft handeln konnte.60 Anders ging, wie wir gesehen haben, am weitesten, indem er die Betäubung des »Gewissens« durch bürokratische »Gewissenhaftigkeit« feststellte und zur Gewissens-Tat aufforderte: nämlich zum Protest nicht unbedingt gegen den Staat, sondern gegen die herrschenden Verhältnisse. Er setzte sich für ein aktives und selbstbestimmtes Leben ein und plädierte für den Mut zur Angst, um das Gewissen zu aktivieren. Diese Gedanken, sollte Hans Jonas, ein anderer Heidegger-Schüler, in seinem Prinzip Verantwortung später als »Heuristik der Furcht« bezeichnen, um seinerseits den Planungsstaat der 1970er Jahre in seine Schranken zu weisen.61

Die ausgebliebene Katastrophe Angesichts dieser Befunde täte die Ideengeschichte der Bundesrepublik gut daran, zu einer mittlerweile zwar wieder oft zitierten, aber nur selten konsequent zu Ende gedachten Beobachtung von Hans-Peter Schwarz zurückzukehren: nämlich die Geschichte der Bundesrepublik als die einer ausgebliebenen Katastrophe zu schreiben.62 Aus der Sicht der hier vorgelegten Interpretation geht es nämlich um mehr als das Erstaunen darüber, dass der Bundesrepublik ein Scheitern erspart geblieben ist. Im Vergleich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist es überraschend, dass hin-

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sichtlich der Konstituierung eines demokratischen Gemeinwesens eine Katastrophe auch im Denken ausblieb – dass sie also gerade nicht gedacht wurde. Letztlich ging es den Kritikern darum, die in den 1920er und 1930er Jahren dominierenden »Verhaltenslehren der Kälte« ad acta zu legen und das innengeleitete Gewissen wieder neu zu entdecken. Dabei behielten die Intellektuellen der 1950er und frühen 1960er Jahre den Gestus der »Sachlichkeit« aus den 1920er Jahren bei. Sie sahen aber angesichts der atomaren Bedrohung Sachlichkeit gerade nicht als Ausklammerung der Moral.63 Vielmehr wurde die Sache nun zum Hauptbeweggrund moralischen Handelns. Das zeigt sich an der an Heidegger geschulten Argumentation von Anders besonders deutlich: Sein Argument von der Leibhaftigkeit des Menschen als Grenze fand sich in den 1920er Jahren in den neusachlichen Diskursen über eine Verhaltenslehre der Kälte und galt dort gerade als Argument gegen die Bedeutung von Moral im menschlichen Handeln. Dagegen las es Anders als Grundlage einer Moral im Atomzeitalter, die zwischenmenschliche Wärme gerade notwendig mache.64 In den Untergangsszenarien der Intellektuellen ging es im Gegensatz zur Weimarer Republik, wie Anders formulierte, um die »Apokalypse ohne Reich«, also ohne Erlösung; trotz massiver Kritik am Gemeinwesen, entwarfen die in der Debatte gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr beteiligten Intellektuellen gerade keinen die Gesellschafts- und Werteordnung der Bundesrepublik transzendierenden Gegenentwurf.65 Das Ergebnis dieser Debatten zu Beginn der 1960er Jahre war das Exil der Kritiker und die Eingrenzung des Politischen auf die durch den Kalten Krieg vorgegebenen Positionen. Protest tendierte in der Bundesrepublik mehr denn zuvor zur Grenzüberschreitung, denn die Grenzen waren nun klarer gezogen. Deshalb betrachteten sich viele Linke auch als »heimatlos«, konnten aber dem deutschen Staat nicht gefährlich werden, eben weil sie ihn gar nicht eigens problematisierten.66 Der von manchen befürchtete Streit um den Staat wurde dabei zur Debatte um das Gemeinwesen und half so, zivilgesellschaftliche Praktiken auszubilden.67 Paradoxerweise war es die – in die Grenzerfahrung des Kalten Krieges hineingelesene – Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkriegs, die das gestattete. Diese Katastrophenerfahrung führte zu

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einer grundsätzlichen Staatsskepsis. Der Staat, so die implizite Argumentation, konnte die Menschen dort nicht schützen, wo sie am verwundbarsten waren; er schien ihre persönliche Sicherheit und individuelle Integrität nicht garantieren zu können. Daraus ergab sich ein fundamentales Legitimitätsdefizit des westdeutschen Staates. Aber es führte gerade nicht zum Kampf um den Staat, weil die aus diesem Gefühl der Verwundbarkeit resultierenden Theorien des Gemeinwesens den Staat außen vor ließen. Bestandteil einer Ideengeschichte sollte auch eine Analyse der Geschichte der Zeitstrukturen sein, die den bundesdeutschen Debatten um das Staatswesen zugrunde lagen. Ideengeschichtlich bleibt der Gesichtspunkt der Spannung zwischen »zu früh« und »zu spät«, also aus der Perspektive des »Kairos«, dem richtigen Augenblick, der griechischen Mythologie von großem Interesse.68 Waren die intellektuellen Debatten der 1920er Jahre unter der Perspektive »zwischen den Kriegen« verhandelt worden, als Nachkrieg und Vorkrieg zusammenfielen, argumentierten die in der Debatte um die Atombewaffnung der Bundeswehr beteiligten Intellektuellen gerade aus der Perspektive eines Krieges, der noch nicht stattgefunden hatten, man sich also in einer Vorkriegszeit befand. War Anders’ Beobachtung, dass die Körperlichkeit des Menschen seine letzte Grenze sei, im Zusammenhang mit den neusachlichen Debatten der 1920er Jahre auf die Preisgabe des Körpers gerichtet gewesen, zielte sie im Kontext der Vorkriegsimaginationen der frühen 1960er Jahre darauf, diesen Körper durch moralisches Handeln zu schützen – dieses moralische Handeln schien nur aus dem Geist des politischen Protests möglich.69 Widerstand gegen den Staat musste in diesem Sinne nicht mehr den Staat selbst thematisieren. Er war gewissermaßen ein existentialistisches a priori der Lebensführung, welcher allerdings nicht auf die Gegenwart bezogen war, sondern auf die Zukunft, um genau dadurch die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Dadurch verschliffen sich sowohl der Inhalt als auch die zeitlichen Dimensionen des Widerstandsbegriffes, so dass die staatlichen Institutionen unangetastet blieben.70 Diese Unklarheit war denn auch typisch für spätere Diskussionen um den bundesdeutschen Staat, in denen die Furcht vor der Rückkehr des NS-Staates dominieren sollte. Man redete zugleich vom nachholenden und zukünftigen

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Widerstand. Genau dieses Denkmuster wurde dann von den »68ern« zur Vorstellung radikalisiert, zugleich in einer Demokratie und einer »faschistischen Diktatur« zu leben. In den Interventionen zur Neubegründung des Staates der Bundesrepublik »von unten«, von den Bürgern (hier verstanden als cives) her, zeigte sich damit ein Grundkonflikt, auf den der heute fast vergessene Philosoph Klaus Heinrich in seiner 1961 erschienenen Habilitationsschrift zum Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen hinwies: die Proteste – die mit dem Widerstand gegen die Atombewaffnung beschäftigten Bewegungen – machten das Stehenbleiben zur Katastrophe, nicht die mögliche Zukunft.71 In diesem Schritt, der sich aus der Reflektion auf »1945« und auf Gewalterfahrungen ergab und der die Apokalypse ihrer traditionellen Bedeutung als schrecklicher und doch Erlösung bringender Wendepunkt entkleidete und sie nun als ganz und gar weltliche Erscheinung definierte, liegt ein Grund für die im Vergleich zur ersten Nachkriegszeit trotz einiger schriller Rufe überraschende Ruhe der innenpolitischen Landschaft der Bundesrepublik, die dem westdeutschen Staat – anders als der belagerten Weimarer Republik − eine Bewährung erlaubte und ihr einen Kampf um den Staat ersparte. Die Besonderheit der hier untersuchten Episode lag darin, dass Intellektuelle meinten, sich um den Staat streiten zu können, ohne den Begriff des Staates genauer mit Inhalt zu füllen. Paradoxerweise lernten sie gerade durch ihren Protest gegen die Atombewaffnung, mit der Bombe zu leben, und durch die Betonung des Gewissens gegenüber dem Staat, mit der jungen Bundesrepublik ins Reine zu kommen. Das verengte zum einen den Raum des Politischen in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, zum anderen lag darin aber eine für die bundesdeutsche Demokratie nicht unerhebliche Chance.

Anmerkungen 1 Hans Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer: Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren, Köln 3 1984. 2 Horst Krüger, Das Nein ist kein Programm. »Offener Brief« eines Nonkonformisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 1. 1958, S. 6.

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3 Siehe dazu Holger Nehring, Die Proteste gegen Atomwaffen in der Bundesrepublik und Großbritannien, 1957–1964 – ein Vergleich zweier sozialer Bewegungen, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 31 (2004), S. 81–108. 4 Siehe dazu schon Carl Friedrich von Weizsäcker, Mit der Bombe leben. Die gegenwärtigen Aussichten einer Begrenzung der Gefahr eines Atomkrieges, Hamburg 1958. 5 Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Anselm DoeringManteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, Göttingen 1999. 6 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg). Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945– 1980, Göttingen 2002, S. 7–49; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945– 1973, Göttingen 2006. Zur Historisierung dieses Programms siehe Holger Nehring, Die eigensinnigen Bürger. Legitimationsstrategien im politischen Kampf gegen die militärische Nutzung der Atomkraft in der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre, in: Habbo Knoch (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 117–137. 7 Dirk Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233–263; Herbert, Liberalisierung, S. 23. 8 Dirk Moses hat dieses Interpretament in seinem jüngsten Buch zwar präzisiert, es zugleich wieder auf die Frage von Nationalkultur im nach-nationalsozialistischen Deutschland eingegrenzt. Siehe dazu A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007, S. 38–54. 9 Robert Jungk, Der Atomstaat, München 1991. 10 Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004. 11 Siehe dazu Holger Nehring, The Politics of Security. The British and West German Protests against Nuclear Weapons and the Social History of the Cold War, 1957–1964, Oxford 2008. 12 Siehe dazu Pierre Rosanvallons Antrittsorlesung am Collège de France: Pour une histoire conceptuelle du politique, Paris 2003. 13 Siehe dazu Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel. 1957–1963, Stuttgart 1981 und Heinrich-August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2: Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, München 2000. 14 J. G. A. Pocock, Verbalizing a Political Act: Toward a Politics of Speech, in: Michael Schapiro (Hg.), Language and Politics, Oxford, 1984, S. 38–39. 15 Judith Shklar, Liberalism of Fear, in: dies., Political Thought and Political Thinkers, Chicago 1998, S. 3–20; Ira Katznelson, Desolation and Enlightenment. Political Knowledge after Total War, Totalitarianism and the Holocaust, New York 2003. 16 Hannah Arendt, On Revolution, New York 1963, S. 21–28, 31, 66.

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17 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München / Zürich 22000, S. 13. 18 Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007, S. 9. 19 Siehe dazu Mark Walker, Legenden um die Deutsche Atombombe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 45–74. 20 Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe: German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley 1997. 21 Siehe dazu Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267–318, hier S. 314, 316; zur Bedeutung von Meinungsumfragen bei der Herstellung von Repräsentativität siehe Anja Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2007, S. 429–436. 22 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 31959, S. 50–52. 23 Der Spiegel vom 8. 5. 1957, S. 44–53; 15. 5. 1957, S. 42–49; 22. 5. 1957, S. 37–43; 29. 5. 1957, S. 42–48; 5. 6. 1957, S. 40–48; 12. 6. 1957, S. 46–51; 19. 6. 1957, S. 42–48. 24 Siehe dazu Carl Friedrich von Weizsäcker, Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–1981, München 1984, S. 34–36; Hedwig Born und Max Born, Der Luxus des Gewissens. Erlebnisse und Einsichten im Atomzeitalter, München 1969, S. 179. Zur Interpretation als Gewissensprotest in der Öffentlichkeit s. Ein Alarmruf, in: Die Welt vom 13. 4. 1957. 25 Robert Jungk, Heller als Tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, München 1992 [zuerst 1956], S. 128, 136; s. dagegen Walker, Legende, und allgemein Mitchell G. Ash, Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten: Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903– 923. 26 Albert Schweitzer warnt! Atomwaffen sind ein tödliches Experiment! Darum keine Atomwaffen!, Plakat des Arbeitsausschusses Kampf dem Atomtod, 1958, in: http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/JahreDesAufbausInOstUndWest_plakatKampfDemAtomtod/ [10. 3. 2008]; Aktion »Kampf dem Atomtod«, Albert Schweitzer an die Hamburger, 1958: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn [AdsD], 6 / PLKA019212. Zur Resonanz in der Öffentlichkeit s. Wissende haben gesprochen und wurden abgekanzelt, in: Die Freiheit (Mainz) vom 15. 4. 1957 sowie Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968–1973, hg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, Allensbach / Bonn 1974, S. 370. 27 Geyer, Der Kalte Krieg, hier S. 314 und 316; Benjamin Ziemann, The Code of Protest: Images of Peace in the West German Peace Movements, 1945–1990, in: Contemporary European History 17 (2008), S. 237–261. 28 Vgl. das vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Auftrag gegebene Plakat »Nur kontrollierte Abrüstung in Ost und West schafft

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die Furcht vor dem Atomtod aus der ganzen Welt.«, 1957: AdsD, 6 / PLKA010669. Siehe dazu Frank-Michael Kuhlemann, Nachkriegsprotestantismus in Westdeutschland. Religionssoziologische und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven, in: Bernd Hey (Hg.), Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel, Bielefeld 2001, S. 17–43; Ulrich Möller, Im Prozess des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957– 1962, Neukirchen-Vluyn 1999. Frank-Michael Kuhlemann, Protestantismus und Politik. Deutsche Traditionen seit dem 16. Jahrhundert in vergleichender Perspektive, in: Manfred Hettling u. a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte?, München 1991, S. 301–311. Siehe dazu Armin Boyens, Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 – Entstehung und Bedeutung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 374–397. Siehe dazu Hans Rücker, 1934–1964: Ist Barmen noch aktuell?, in: Stimme der Gemeinde 16 (1964), S. 269–273 sowie Matthew D. Hockenos, A Church Divided: German Protestants confront the Nazi Past, Bloomington / Indianapolis 2004. Siehe dazu die Erklärung des Konvents der Kirchlichen Bruderschaften im Rheinland, Wermelskirchen, Ostern 1957, in: Es geht ums Leben! Der Kampf gegen die Bombe 1945–1963. Eine Dokumentation, hg. von Günther Heipp, Hamburg 1963, S. 61–62 sowie die Frankfurter Erklärung der Kirchlichen Bruderschaften vom 4. 10. 1958, in: ebd., S. 82– 83. Claudia Lepp, Die evangelische Kirche als »Klammer« im geteilten Deutschland. Rollenerwartungen und Rollenwandel 1948–1969, in: Joachim Mehlhausen / Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Zwei Staaten – Zwei Kirchen? Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Leipzig 2000, S. 66–84. Siehe dazu Hans Asmussen, Krieg und Frieden, Osnabrück 1961, S. 61. Zur Biographie s. Konrad Paul Liessmann, Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolutionen, München 2002 sowie Daniel Morat, Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006) H. 2, http:// www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Morat-2-2006 [5. 3. 2008]. Zur Machtpolitik der »Frankfurter Schule« s. Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt / M. 1999. Morat, Tat, S. 503. Günther Anders, Thesen zum Atomzeitalter [1959], in: ders., Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München 1983, S. 93. Günther Anders, Mensch ohne Welt. Schriften zur Literatur und Kunst, München 1984, s. Kap. XI. Siehe dazu den Beitrag von Helmut König in diesem Band.

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41 Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen, hg. von Elke Schubert, Berlin 1987, S. 42. 42 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 99–101 und Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, 248–250. Zum Hintergrund der Technikkritik s. Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. 43 Günther Anders, Über Verantwortung heute [1959], in: ders., Die atomare Drohung, S. 44. 44 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, S. 16–18. 45 Anders, Verantwortung, S. 46. Vgl. dazu Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit, München / Zürich 1983, S. 275. 46 Siehe zu diesem Problem aus rechtshistorischer Warte die kluge Arbeit von Devin O. Pendas, The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965: Genocide, History and the Limits of the Law, Cambridge 2007. 47 Anders, Verantwortung, S. 45 und ders., Thesen, S. 97–98. 48 Ludger Lütkehaus, Philosophieren nach Hiroshima. Über Günther Anders, Frankfurt / M. 1992, S. 22. 49 Siehe dazu seinen Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly, in: Hiroshima ist überall, München 1982, S. 91–360. 50 Brief Hannah Arendts an Heinrich Blücher vom 1. 6. 1958, in: Hannah Arendt / Heinrich Blücher, Briefe 1936–1968, hg. v. Lotte Köhler, München / Zürich 1996, S. 473. 51 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, S. 121. 52 Siehe dazu den Überblick bei Wolfgang Huber, Frieden V: Kirchengeschichtlich und ethisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin / New York 1983, S. 618–646. 53 Siehe dazu Nehring, Politics of Security. 54 Wolfgang Bieser, Beiträge zur geistigen Lage Westdeutschlands. Die Chancen eines neuen Zeitalters in Europa aus dem Geist des Widerstands. Gedanken zum 20. Juli 1958, in: Junge Kirche 19 (1958), S. 512–516; Erklärung der Katholiken zum Streit gegen die atomare Bewaffnung (21. Mai 1958): AdsD, NL Martin Stankowski, Mappe 17. 55 J. B. Schneewind, The Invention of Autonomy: A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, S. 345–349. 56 Siehe dazu Annedore Leber, Das Gewissen steht auf: 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945, Berlin (West) 1955; Eckart Conze, Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 483– 508. 57 Siehe dazu die Bemerkungen bei Richard Bessel, Nazism and War, London 2004, Kap. 4.

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58 Anders, Hiroshima ist überall, S. 222; Helmut Gollwitzer, Zum Ergebnis der bisherigen Beratungen, in: Günther Howe (Hg.), Atomzeitalter – Krieg und Frieden, Berlin 1959, S. 246–265. 59 Siehe dazu die Argumentation in Heinz Dieter Kittsteiner, Das Deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert, in: Richard Faber (Hg.), Politische Religion – Religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 227–242. 60 Walter Künneth, Die evangelisch-lutherische Theologie und das Widerstandsrecht, in: Europäische Publikation e. V. (Hg.), Vollmacht des Gewissens, Bd. 1, Frankfurt / M. / Berlin 1960, S. 169–170. 61 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt / M. 1979, besonders S. 8, 82, 186–187. 62 Hans-Peter Schwarz, Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken: Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 151–174. 63 Siehe dazu Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt / M. 1994, S. 13 und 267, und Willibald Steinmetz, Anbetung und Dämonisierung des ›Sachzwangs‹. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur, in: Michael Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt / M. 1995, S. 293–333. 64 Anders, Antiquiertheit des Menschen, S. 31. 65 Anders, Atomare Drohung, S. 207. 66 Zur Verwendung des Begriffs s. Karljosef Kreter, Sozialisten in der Adenauer-Zeit: Die Zeitschrift »Funken«. Von der »heimatlosen Linken« zur innerparteilichen Opposition in der SPD, mit einem Vorw. von Jürgen Seifert, Hamburg 1986. 67 Siehe dazu Jan-Werner Müller, Another Country. German Intellectuals, Unification and the Nazi Past, New Haven 2000, S. 42. 68 Ich danke Helmut König für die Anregung, in diese Richtung zu denken. Siehe dazu auch die an diesem Begriff ausgerichteten Passagen des Buchs von Immanuel Wallerstein, Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth-Century Paradigms, Philadelphia, PA, 22001. 69 Anders, Antiquiertheit des Menschen, S. 31; zu den 1920er Jahren s. Lethen, Verhaltenslehren, S. 13. 70 Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt / M. 22000. 71 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen, Frankfurt / M. 1964, Kap. IV.

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Gefährliche Intellektuelle? Staat und Gewalt in der Debatte über die RAF

Als Heinrich Böll im Januar 1972 im Spiegel seinen Artikel »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« veröffentlichte, war die Provokation ebenso beabsichtigt wie gelungen. Mit seinem berühmt gewordenen Diktum vom Kampf der »6 gegen 60.000.000?« wies er auf das Missverhältnis von Hysterie und realer Bedrohung hin.1 Er prangerte insbesondere den Umgang der Springer-Presse mit dem Thema an und hatte sich damit einen Gegner ausgesucht, der seinerseits alle Register zog, um Böll »und Seinesgleichen« an den Rand der demokratischen Diskursgemeinschaft zu drängen. Dabei störte es wenig, dass Böll auch international über eine erhebliche Reputation verfügte und gerade zum Präsidenten des internationalen PEN-Clubs gewählt worden war – den Nobelpreis für Literatur sollte er im Herbst 1972 erhalten. Bölls bürgerlicher Habitus und seine prinzipiell fehlende Tuchfühlung mit radikalen Milieus ließen es wenig plausibel erscheinen, dass er tatsächlich Sympathien für die RAF und ihre Methoden hegte. Doch gerade wegen seiner Bürgerlichkeit avancierte Böll zum Prototyp des deutschen Linksintellektuellen, dem von konservativer Seite bürgerlicher Selbsthass unterstellt wurde. Zusätzlich zu dem ohnehin polemischen Artikel wirkte vor allem die Überschrift als Provokation. Die Beschränkung auf die Nennung des Vornamens der »Bandenführerin« suggerierte eine persönliche Nähe. Dass es nicht Böll sondern die Spiegel-Redaktion war, die den Titel offenbar ohne Bölls Wissen ausgewählt hatte, spielte dabei keine Rolle. Böll wurde auf diese Weise zum Inbegriff der »Sympathisanten«.2 »Die Bölls«, so schrieb das Magazin Quick am 2. Februar 1972, seien »gefährlicher als die Terroristen«. Zeitweise glaubten sogar Polizei und Staatsanwaltschaft, dass Böll mit den Terroristen gemeinsame Sache machte und durchsuchten sein Haus in der Eifel. Dass dabei keinerlei Hinweise auf eine aktive Unterstützung ge-

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funden wurden, beruhigte die Gemüter jedoch nicht. Seine Verantwortung und die Verantwortung der vermeintlichen intellektuellen Sympathisanten wurden ohnehin auf anderer Ebene gesehen. So schrieb Karl Friedrich Fromme im August 1977 in der FAZ: »Die Sympathisanten, die nie einem Terroristen Nachtlager und Reisegeld gegeben haben, sind die wirklich Gefährlichen. Sie haben zwar ›nichts getan‹; sie haben nur ihre Meinung gesagt, sie haben nur nachgedacht.«3 Neben der inhaltlichen Ablehnung von Positionen der so genannten linken Intellektuellen kommt in dem Zitat aus der FAZ die fast schon physisch zu spürende Abneigung gegen linke »Salonanarchisten« zum Ausdruck, die zwar selbst nicht zu dem geringsten Risiko bereit seien, so die Unterstellung, aber stets mit ätzender Kritik das Klima vergifteten und den Boden für andere bereiteten. Böll kommt in der gesamten Debatte um die Rolle der Intellektuellen als geistige Brandstifter eine Schlüsselfunktion zu. Zum einen war er der prominenteste und auch international bekannteste deutsche Intellektuelle, zum anderen meldete er sich sowohl mit explizit politischen als auch fiktional verarbeitenden Texten zum Thema zu Wort. Schließlich wurde seine zentrale literarische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, die 1974 erschienene Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum, 1975 von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta verfilmt. Damit bildet Böll auch eine Brücke zur filmischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. Dies ist insofern von Bedeutung, als im Kontext der Terrordebatte Filme und ihre Regisseure die intellektuelle Verständigung über politische Gewaltphänomene um eine wichtige Ebene erweiterten. Bezog sich der Begriff des Intellektuellen lange Zeit fast ausschließlich auf Schriftsteller, Publizisten und andere Personen, die ihre Position in Texten niederlegten, erscheint es für die 1970er Jahre unabdingbar Filmschaffende, Regisseure und Drehbuchautoren in den Kreis der Intellektuellen einzubeziehen. Der Neue deutsche Film, wie er in den 1960er Jahren entstanden war, hatte von Beginn an den Anspruch erhoben, gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen und aktiv in gesellschaftliche Debatten einzugreifen. Das Terrorismus-Thema spielte dabei eine besondere Rolle. Vor allem Margarethe von Trotta und Volker

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Schlöndorff haben sich über viele Jahre hinweg mit der RAF beschäftigt. Der Episodenfilm »Deutschland im Herbst« von 1977 / 78, an dem neben Schlöndorff mit Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz, Alexander Kluge und anderen eine Reihe der namhaftesten deutschen Regisseure beteiligt war, erschien zumindest in der Außenwahrnehmung als eine Art politisches Manifest des Neuen deutschen Films. Mit von Trottas »Die bleierne Zeit«, in dem sie das Leben und das Verhältnis zweier Schwestern beschreibt, die unweigerlich an Gudrun und Christiane Ensslin erinnern, erlangte nicht zufällig einer dieser »Terrorismus-Filme« erhebliche internationale Beachtung. 1981 erhielt er unter anderem den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig. Gerade an der Person Bölls wird deutlich, dass die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Terrorismus untrennbar verbunden ist mit dem Sympathisanten-Vorwurf und mit der Frage nach der Legitimität der Kritik am Staat. Dabei kam der Frage, ob und inwieweit der Terrorismus tatsächlich eine existenzielle Bedrohung des Staates darstellte, eine zentrale Rolle zu. Je gefährlicher die Bedrohungslage dargestellt wurde, umso weniger legitim erschien die Kritik. Das Aufbauschen oder die Verharmlosung der Bedrohung waren somit unmittelbarer Teil der politischen Argumentationsstrategie. Dies macht zudem deutlich, dass die Sympathisanten-Debatte mehr und mehr Teil einer innenpolitischen Auseinandersetzung um ein ursprünglich einmal auf Demokratisierung ausgerichtetes sozialliberales Regierungsprojekt wurde. Vor allem nach 1977, insbesondere nach der Wahl Heiner Geißler zum CDUGeneralsekretär, verschärfte sich diese Debatte erheblich, und es ging zunehmend weniger um den Terrorismus als solchen als um eine innenpolitische Positionierung.4 Die Komplexität der gesamten Auseinandersetzung würde es nahe legen, sich entweder auf die publizistische oder auf die filmische Seite zu konzentrieren. Sowohl das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Ebenen als auch deren unterschiedlichen Akzentuierungen kämen auf diese Weise jedoch nicht in den Blick.

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Linke Theorie und Gewalt »Ist die Frankfurter Schule an allem Schuld?«5 frage der Journalist Werner Birkemeier am 17. Dezember 1977 in der Stuttgarter Zeitung und bezog sich dabei auf ein Zitat des CSU-Bundestagsabgeordneten Graf Stauffenberg, der kurz und bündig befunden hatte: »Die Frankfurter Schule hat gelehrt, daß Gewalt gegen Sachen gerechtfertigt ist, und natürlich hat das zum nächsten Schritt der Gewalt gegen Personen geführt.«6 Intellektuell wesentlich subtiler und fundierter erhob Kurt Sontheimer den Vorwurf der linken Verantwortung für den Terrorismus in einer für die Linke besonders schmerzlichen Art und Weise. Schmerzlich vor allem deshalb, weil Sontheimer ursprünglich gar kein Konservativer gewesen war. Die 68er Proteste hatte er zunächst mit Sympathie verfolgt. Anfang der 1970er Jahre schwenkte er aber um und rechnete schließlich in seinem 1976 erschienenen Buch Das Elend der Intellektuellen mit den vermeintlichen Wirrungen linker Theoriebildung und deren Folgen für die bundesdeutsche Gesellschaft ab. Darin wurde der Zusammenhang zwischen Theorie und Gewalt lediglich als Möglichkeit angedeutet, in Fernsehinterviews spitzte Sontheimer seine Aussagen noch einmal zu und behauptete, dass der »Terrorismus […] seinen geistigen Nährboden in linken, revolutionären Theorien« habe.7 Diese Aussagen führten zu einer Replik von Jürgen Habermas und einem veröffentlichten Briefwechsel.8 Dabei bestätigte Sontheimer seine These und führte weiter aus, dass er nicht behaupte, »daß linke Theorien, wie sie seitdem [gemeint ist der Studentenrevolte, JR] propagiert werden, zum Terrorismus führen; ich behaupte auch nicht, daß eine direkte, also kausale Verantwortung linker Intellektueller für terroristische Akte besteht – wie könnte ich? –, aber ich habe die Überzeugung gewonnen, daß der politische Terrorismus, den wir seit der Studentenrevolte in Deutschland kennengelernt haben, ohne die radikale Politisierung in der Studentenbewegung, ohne den von linken Theorien ausstaffierten geistigen Hintergrund der Akteure, ohne das durch ein neues kritisches Bewußtsein bis zum Überdruß geschürte Unbehagen an unseren politischen Verhältnissen nicht zureichend erklärt werden kann.«9

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Dieser letzte Punkt war in dem Vorwurf an die so genannte »linke Theorie« ohne Zweifel der problematischste und derjenige, der Sontheimer in Habermas Augen zu einem Vertreter der »Gegenaufklärung« werden ließ. Kritisches Denken, so Habermas in seiner Replik auf Sontheimer, bilde den Kern von Aufklärung, so dass es aus einer aufklärerischen Perspektive nie ein zuviel an Kritik geben könne. Die Aufgabe des Intellektuellen sei »die Analyse der neuen und weithin unbegriffenen Lage«. Kritisches Denken sah Habermas dafür als entscheidende Grundlage an. Wer dagegen dessen zersetzende Wirkung betonte, so Habermas’ Argumentation, begebe sich auf die Seite der »Gegenaufklärung«. Während sich die Vorwürfe an die linken Intellektuellen relativ klar auf einen Kern hin fokussieren lassen – das Übermaß an Kritik am Staat, an gesellschaftlichen Institutionen und Zuständen sowie schließlich die vermeintlich fehlende Distanzierung vom Terrorismus –, erweist sich die Gegenposition als wesentlich komplexer. Statt die Positionen hier im Einzelnen zu rekapitulieren soll der Versuch einer Systematisierung gemacht werden. Dabei kristallisieren sich fünf Punkte heraus, die der Einfachheit halber jeweils bestimmten Personen zugeordnet werden. Die beiden ersten Punkte finden sich in großer Klarheit in einer Rede von Oskar Negt auf dem Angela-Davis-Kongress von 1972.10 Dabei ist der erste Punkt derjenige, der am ehesten den Vorwurf der grundsätzlichen Komplizenschaft oder der Solidarität mit den Gewalttätern zu rechtfertigen schien. Wer von Gewalt spreche und sie mit Entrüstung verurteile, ohne gleichzeitig und in erster Linie von Vietnam zu sprechen, so Negt, sei ein Heuchler. Negt und viele andere mit ihm verweigerten damit die gängige Trennung zwischen der Gewalt, die von einer Armee eines demokratisch legitimierten Staates ausgeübt wurde, und der Gewalt einer kleinen Tätergruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen demokratisch legitimierten Staat mit gewalthaften Mitteln herauszufordern. In fataler Nähe zu einem ubiquitären Faschismusbegriff fragte Negt zudem, wo der Unterschied zwischen einer Strafexpedition der Nazis in Ouradour und Lidice und der Vernichtung eines vietnamesischen Dorfes sei. Angesichts dieser Vergleiche konnten die Morde der RAF gewissermaßen als marginal erscheinen, und tatsächlich wurde dieses Argument von der RAF selbst zur Recht-

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fertigung verwandt. Negt drehte es jedoch sehr klar um und wollte alle diese brutalen und illegitimen Gewaltakte verurteilt wissen. Es ging ihm darum, gegen eine Fixierung auf die Gewalt der RAF Stellung zu beziehen und daraus ein universelles Argument gegen jede illegitime Gewaltanwendung zu machen. Daran, dass die Gewalt der RAF ebenso illegitim wie politisch fatal war, ließ Negt jedoch nicht den geringsten Zweifel. Dies ist das zweite Element der linken Auseinandersetzung mit der Gewalt der RAF. Wer glaube, »mit exemplarisch gemeinten Aktionen, mit spektakulären Gefangenenbefreiungen, Bankeinbrüchen, Bomben legen unter hiesigen Verhältnissen eine revolutionäre Situation herstellen zu können, errichtet eine undurchdringliche Mauer zwischen sich und der gesellschaftlichen Erfahrung«.11 Die Fanale, die mit den Bomben gesetzt werden sollten, seien allenfalls Irrlichter und der Kampf völlig aussichtslos. Er beruhe auf einer selbstmörderischen Illegalitätsromantik, die nicht das Geringste mit einem revolutionären Kampf zu tun habe. Im Ergebnis führten die Aktionen der RAF nur zu einer Kriminalisierung aller linken Politikansätze. Hier lag in der Tat das größte Eigeninteresse all jener, die sich als Vertreter einer linken Politik verstanden, sich von dem Terrorismus abzusetzen. Denn letztlich werde der Terrorismus von Seiten des Staates bzw. einer konservativen Politik – dies wird oft mehr oder weniger gleichgesetzt – instrumentalisiert, um alle Formen linker Politik zu diskreditieren. Negt widmete einen langen Teil seiner Rede der direkten Auseinandersetzung und Verurteilung der terroristischen Gewalt. Dies ist insofern von Bedeutung, als es zu den Hauptvorwürfen an die Adresse der Intellektuellen gehörte und in gewisser Weise die Basis des Sympathisantenvorwurfs bildete, dass sie sich nicht hinreichend von den Aktionen der RAF distanzierten. In seiner Auseinandersetzung mit Sontheimer griff auch Habermas diesen Punkt auf und fragte, welchen Grund es gebe, sich von etwas zu distanzieren, mit dem er ohnehin nichts zu tun habe.12 Diese ostentative Weigerung sich zu distanzieren, die als Sympathie (miss-)verstanden wurde, jedoch als verweigerte Demutshaltung gemeint war, bildete damit ein drittes, wichtiges Element in Kontext der linksintellektuellen Argumentation in Bezug auf die Gewaltfrage. Die Forderung nach Distanzierung impliziere fälschlicherweise, so

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Habermas, dass es überhaupt eine Nähe gebe. Die gesamte auf Marx zurückgehende Tradition der deutschen Arbeiterbewegung habe individuelle Terrorakte stets abgelehnt. Die Neue Linke sei zwar nicht umstandslos in diese Tradition einzuordnen. Gleichwohl gebe es auch hier nicht die geringste Brücke zu den Terrorakten. Der zitierten Rede von Negt wies Habermas in dieser Hinsicht eine Schlüsselfunktion zu.13 Ohne sich der These von den Terroristen als »Hitlers children« anzuschließen,14 sah er die Praxis der RAF seinerseits eher in einer Linie zu Sorel, Pareto und Mussolini, in einer Verselbständigung der »direkten Aktion«, in einer Ersetzung von Moral durch einen Kult der Gewalt. Der Bezug auf diese Traditionslinie beinhaltete unübersehbar den Versuch rechte statt linke Ahnherren zu finden und ist insofern unmittelbarer Teil einer innenpolitischen Auseinandersetzung. Habermas versuchte, das Phänomen der RAF mit den Mitteln der Gesellschaftstheorie und von daher als Produkt der Gesellschaft und ihrer Wandlungsprozesse zu verstehen. Dies verweist auf das vierte Element der linksintellektuellen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, nämlich das Bestreben, den Prozess der gesellschaftlichen Selbstaufklärung auch in der Auseinandersetzung mit der Gewalt weiter zu treiben. Gesellschaftskritik, so die Stoßrichtung des Arguments, sollte damit zu einer Lösung des Gewaltproblems beitragen anstatt als dessen Ursache denunziert zu werden. Habermas eigene Gedanken dazu sind nicht sehr klar und kaum präzise zusammenzufassen. Entscheidend und interessant ist aber, dass Habermas auch um den Preis einer alles andere als klaren oder ausgegorenen Gedankenführung den Anspruch auf eine theoretisch-kritische Gesellschaftsanalyse aufrecht erhalten will. Eine Fortsetzung dieses Anspruches findet sich später in den vom Innenminister in Auftrag gegebenen »Analysen zum Terrorismus«, an denen eine Vielzahl hochkarätiger Kriminologen wie Fritz Sack, Sebastian Scheerer, Heinz Steinert beteiligt waren.15 Auch hier war der Anspruch sehr klar, den Terrorismus als ein gesellschaftliches Phänomen aus der deutschen Geschichte heraus zu erklären. Viele dieser Analysen sind bis heute hoch interessant und gehören zu den profundesten Auseinandersetzungen mit dem Phänomen. Gleichwohl blieb zwischen der Gesellschaftsanalyse und der Erklärung der konkreten

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terroristischen Gewalt in diesen Modellen bei allen theoretischen und empirischen Anstrengungen eine Art »missing link«. Das letzte und vielleicht wichtigste Element der linksintellektuellen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Terrorismus und seinen Folgen betraf schließlich das Rechtsstaatsverhältnis. Nikolas Büchse hat kürzlich die These vertreten, dass es 1977 zu einer Versöhnung der staatskritischen Linken mit dem Staat gekommen sei.16 Er macht dies unter anderem an den 1977 und 1978 bei rororo erschienenen Briefen zur Verteidigung der Republik bzw. zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit fest, in denen sich die gesamte Garde der linken bzw. linksliberalen Intellektuellen wie Heinrich Böll, Jürgen Habermas, Jean Amery, Günter Grass, Hellmut Gollwitzer, Dorothee Sölle, Klaus Staeck, Dieter Hildebrand, Siegfried Lenz, Martin Walser und viele andere mehr zu Wort meldete. Der Schock des Deutschen Herbstes, so Büchse, habe eine »Rückbesinnung auf politische Grundwerte als eigentlichen Kern der Demokratie« erzwungen.17 Eine solche Entwicklung war in der Tat zu beobachten. Dennoch scheint der Begriff der »Versöhnung mit dem Staat« unangemessen. Vielmehr ging es um die Verteidigung bürgerlicher, grundgesetzlich garantierter Freiheitsrechte gegen einen Staat, der diese Freiheiten zunehmend einschränkte. Insofern fand eine Rückbesinnung auf die Verfassung und damit verbunden eine Neuentdeckung des Wertes der Rechtstaatlichkeit statt. So kam es durchaus zu einem neuen, positiveren Staatsbezug, aber in einem klar definierten, rechtsstaatlichen Sinne. In der Auseinandersetzung mit der CDU, die von Heiner Geißler zunehmend auf einen konfrontativen Kurs getrimmt wurde, versuchte die Linke, eine neue rechtsstaatlich-republikanische Identitätsbestimmung. Gegenüber einer, wenn nicht revolutionären, so doch stark auf Veränderung drängenden Grundhaltung, bedeutete diese Neubesinnung auf die bürgerlichen Freiheiten und die Grundwerte des liberalen Rechtsstaates ohne Zweifel eine massive Veränderung.

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Die Ausweglosigkeit des Terrorismus: filmische Perspektiven Helmut Schelsky hat Böll 1975 in einer scharfen Polemik vorgehalten mit seiner Erzählung und dem Drehbuch zu dem gleichnamigen Film »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« lediglich »die literarische Fassung seines Anti-BILD-Aufrufes« geliefert zu haben.18 Tatsächlich ist unübersehbar, dass vor allem der Film eine klare These verfolgt. Dies gilt mit Nuancen auch für andere Filme, die sich mit der Frage der terroristisch-politischen Gewalt der 1970er Jahre auseinandersetzen. Lässt sich daher über den künstlerischen Wert mancher dieser Filme streiten, sind sie dadurch nicht weniger als Beiträge zu der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu lesen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive sind die Filme bislang noch kaum genutzt worden.19 Der filmische Paralleldiskurs weist dabei klare Verbindungen zu den anderen, in der publizistisch-politischen Öffentlichkeit stattfindenden Debatten auf. Er verdoppelt diese aber nicht einfach, sondern setzte andere Akzente. In seiner Auseinandersetzung mit den Filmen zum Thema »Terrorismus« der 1970er Jahre greift Walter Uka bis in die ausgehenden 1960er Jahre zurück. Er bezieht somit Filme in diesen Komplex mit ein, die von der eigentlichen Terrorismus-Problematik noch entfernt sind. Dies gilt etwa für den Film »Rote Sonne« von Rudolf Thome aus dem Jahr 1969. Der Film spielt in einer Frauenwohngemeinschaft, die beschlossen hat, die jeweils neuen Liebhaber nach kurzer Zeit umzubringen. Gleichzeitig planen die Frauen einen Bombenanschlag und führen dazu eine erfolgreiche Testsprengung durch. Der Film hat jedoch nichts von einem politischen Manifest. Er bleibt vollkommen im Surrealen. Auch als sich am Ende des Films zwei der Protagonisten gegenseitig erschießen, ist dies eher eine groteske Verzerrung theatralischer Wirkung, als dass hier tatsächlich Dramatik aufkäme. In einer noch surrealeren Gewaltszene endet Michelangelo Antonionis Film »Zabriskie Point« aus dem Jahr 1970. Der Film spielt zu Zeiten der Studentenproteste in den USA. Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Studenten und der Polizei, bei der ein Polizist erschossen wird, flieht einer der Stu-

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denten, da er – selbst im Besitz einer Waffe – Angst hat, von der Polizei verdächtigt zu werden. Aus diesem Vorfall entwickelt sich zwar der Handlungsstrang, doch geht es in dem Film in erster Linie um das Lebensgefühl der Zeit. In stark ästhetisierten Bildern, unterlegt mit der Musik von Pink Floyd, explodieren am Ende zunächst eine Villa und dann die gesamte moderne Medien- und Konsumwelt. Mit Mitteln der Wiederholung, des Perspektivenwechsels, der Verlangsamung und anderem wirkt die Gewalt hier als ein betörendes und befreiendes Schauspiel. Wenn Habermas sich von Seiten der Theorie her darum bemühte, jede Verbindung zwischen der Gesellschaftskritik der ausgehenden 1960er Jahre und der terroristischen Gewalt zu leugnen, verwiesen die Filme darauf, wie das Drängen auf radikale Veränderung die Idee der Gewalt potenziell mit hervorbrachte. In sehr unterschiedlicher Weise blieb diese Idee in »Rote Sonne« ebenso wie in »Zabriskie Point« jedoch eine teils grotesk verzerrte, teils surreale Phantasievorstellung. Gewalt erschien hier als eine gedachte Möglichkeit, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den Folgen stattfinden würde. In »Zabriskie Point« folgte die finale Gewaltphantasie zwar dem Motiv der polizeilichen Überreaktion. Doch wurden die Insignien der Konsumwelt letztlich nur im Kopf zur Explosion gebracht. Betrachtet man dagegen die Filme, die insbesondere in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der realen Gewalteskalation gedreht wurden, stößt man auf eine vollkommen veränderte Perspektive und eine ebenso veränderte Ästhetik. Von zentraler Bedeutung sind die Filme von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta. Schlöndorff hat das Thema über 30 Jahre lang immer wieder beschäftigt: der Regisseur hat fast so etwas wie einen Zyklus zum Thema politische Gewalt und Terrorismus geschaffen. Von 1969 mit dem Film »Michael Kohlhaas« über »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach« (1971), »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (1975), die Mitarbeit an »Deutschland im Herbst« (1977 / 78) bis hin zu »Die Stille nach dem Schuss« (2000) hat er immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln die Entstehung und die Folgen politisch-terroristischer Gewalt in Szene gesetzt. Margarethe von Trotta hat – abgesehen von der gemeinsamen Arbeit mit Schlöndorff an »Die verlorene Ehre der

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Katharina Blum« – mit »Das zweite Erwachen der Christa Klages« (1977 / 78) und »Die bleierne Zeit« (1981) zwei der wichtigsten Filme zu dem Themenkomplex gedreht. Ein spielerischer, grotesker oder surrealer Umgang mit dem Thema Gewalt findet sich in den Filmen, die in den 1970er und 1980er Jahren dazu gedreht worden so gut wie gar nicht mehr.20 Die reale Gewalt veränderte auch den filmischen Umgang damit. Die Filme waren durchweg von großer Ernsthaftigkeit und transportierten eine drückende Atmosphäre. Bereits in Schlöndorffs Verfilmung der Kleistschen Novelle »Michael Kohlhaas« war von einem Lebensgefühl der Leichtigkeit, das sich noch in Rudolf Thomes »Rote Sonne« findet, nichts mehr zu spüren. In etwas plumper Analogiesetzung beginnt der Film mit aktuellen Filmszenen von Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei und steigt dann in die eigentliche filmische Erzählung ein. Durch den selbst hergestellten Aktualitätsbezug lässt sich der Film als Warnung lesen, erlittenes Unrecht selbst zum Anlass zu nehmen, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen. Drei Sichtweisen auf den Konflikt zwischen dem Staat und den »Rebellen« beziehungsweise den potenziellen Gewalttätern waren hier bereits angelegt, die sich in ähnlicher Form auch in anderen Filmen gerade bei Schlöndorff und von Trotta wiederfinden. Erstens wurde der Staat als prinzipieller Verursacher des Unrechts dargestellt, der dem Zuschauer in der Regel anonym beziehungsweise in Form der Polizei als wenig sympathischer Vollstreckerin staatlichen Willens entgegentritt. Bei »Michael Kohlhaas« war der Staat der historische Obrigkeitsstaat. In den vorangestellten Aufnahmen der aktuellen Proteste erscheint die Polizei ganz in dieser Tradition. Zweitens wird den »Rebellen« grundsätzlich ein ehrenwertes Motiv zuerkannt. Michael Kohlhaas ist Unrecht geschehen, und er kämpft für sein Recht. Drittens aber führen die Mittel, die die »Rebellen« einsetzten, in die Katastrophe. Michael Kohlhaas wird schließlich selbst nur noch zum gnadenlosen Rächer, der seine Familie, sich selbst und andere ins Unglück stürzt. Auffällig ist, dass zwischen 1969 und 1971 eine ganze Reihe von Filmen entstand, die sich an historischen Stoffen mit »Sozialrebellen« in einem weiteren Sinne befassten und Gewalt hier als ein verständliches, letztlich aber in die Irre führendes Mittel

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zeigten. Bezeichnenderweise erschienen 1971 auch Eric Hobsbawms historische Studien über die »Sozialrebellen« auf deutsch. Die Frage, unter welchen sozialen und politischen Umständen Menschen zu Gewalt greifen und wann diese gerechtfertigt erscheint, erwuchs aus den Protesten der ausgehenden 1960er Jahre auf vielen Ebenen. Nachdem in den Filmen Gewalt zunächst als Denkmöglichkeit und surreale Phantasie in Szene gesetzt worden war, bildete die historische Auseinandersetzung den nächsten Schritt der Annäherung an das Thema. Die Frage, inwieweit der Zuschauer die Situation einer Londoner Anarchistengruppe aus dem frühen 20. Jahrhundert, wie sie in »Malatesta« dargestellt wurde, oder die Geschichte von Räubern und Wilderern im 19. Jahrhundert, die in anderen Filmen erzählt wurden, in die Gegenwart übertrug, blieb diesem letztlich selbst überlassen. Bezeichnend ist, dass sich neben Schlöndorff auch Reinhard Hauff zunächst einem historischen Stoff widmete, bevor beide dann das Thema Terrorismus direkt in ihren Filmen aufgriffen.21 In der Rückschau lässt sich die Erzählung und der Film »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« als nächster Schritt der Annäherung an das Terrorismus-Thema lesen. Für den zeitgenössischen Zuschauer verwies die gesamte Atmosphäre auf die Zeit der Suche nach Mitgliedern der RAF, obwohl der von der Polizei gesuchte Ludwig Götten für den Zuschauer nicht als »Terrorist« identifiziert wird. Im Zentrum des Films steht daher auch nicht der Verfolgte, sondern Katharina Blum, die mit dem Gesuchten eine Nacht verbracht hat. Sie gerät durch eine rüde und rücksichtslos agierende Polizei und vor allem durch die Boulevardpresse so stark unter Druck, dass sie schließlich den Reporter, der ihr immer stärker zusetzt, erschießt. »Der Staat« beziehungsweise die Polizei wird hier zwar auch mit wenig Sympathie gezeigt, doch steht vor allem die Presse am Pranger – ähnlich wie Böll bereits in seinem Spiegel-Artikel die Bild-Zeitung der Aufforderung zur Lynchjustiz bezichtigt hatte. Die Frage, ob Götten eigentlich zu Recht oder zu Unrecht des Raubmords bezichtigt wird, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage nach etwaigen Motiven. Allerdings wird Götten, gespielt von Jürgen Prochnow, dem Zuschauer als eine Art romantischer Held, der Bonnie-und-Clyde-Geschichte entsprungen, vorgestellt. Die Verbindung zum Terrorismus entsteht eher im

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Geist des Zuschauers, so dass der Schritt zur Romantisierung nicht vollzogen, aber doch angedeutet wird. Der Untertitel des Films »Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann« zielt vor allem auf Katharina Blums Griff zur Waffe, der aus dem zunehmenden Druck der Polizei und der immer massiver werdenden Verfolgung durch den Boulevard-Journalisten plausibel gemacht wird. Somit geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit den Motiven terroristischer Gewalt, sondern um mögliche Folgen einer gesellschaftlichen Hysterie. Eine Romantisierung politischer Gewalt, aber vor allem deren Ausweglosigkeit zeigte sich besonders deutlich in den weiteren Filmen Margarethe von Trottas zu dem Thema. »Das zweite Erwachen der Christa Klages« von 1977 / 78 verfolgte den Weg einer jungen Frau, die gemeinsam mit zwei Komplizen einen Banküberfall begangen hat, um Geld zur Erhaltung eines Kinderladens zu beschaffen. Nachdem der eine verhaftet und der andere auf der Flucht erschossen wurde, findet die Protagonistin in einer landwirtschaftlichen Kooperative in Portugal Aufnahme, wo sie fern aller Probleme auf ein neues Leben hofft. Doch nachdem der Kinderladen das gestohlene Geld abgelehnt und ihre Vergangenheit sie in Portugal eingeholt hat, endet der Film mit dem völligen Scheitern der jungen Frau. So klar hier eine edle Motivlage für den Schritt in Gewalt suggeriert wird, so deutlich wird auch die Sinnlosigkeit und das Selbstzerstörerische dieses Weges. Die Zeit in Portugal lässt die Möglichkeit eines anderen Lebens in einer romantisierten Idylle kurz aufscheinen, doch die einmal erfolgte Grenzüberschreitung zur Gewalt hat die Flucht in eine Idylle unmöglich gemacht. Mit der »bleiernen Zeit« rückte von Trotta schließlich am nächsten an die realen Figuren der RAF heran. Ohne dokumentarischen Anspruch zeigte sie das Leben und die Beziehung zweier Schwestern, Marianne und Juliane, die deutliche Züge der Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin tragen. Der Film wird ganz aus der Perspektive von Juliane, einer engagierten Journalistin, erzählt und schildert, wie sie sowohl persönlich als auch in ihrem eigenen politischen Engagement unter dem eingeschlagenen Weg ihrer Schwester leidet. Die Perspektive der Juliane bringt unweigerlich eine Grundsympathie für die Schwester mit sich, die aber

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auf eine schwere Probe gestellt wird. Marianne wirkt allein auf ihren Kampf fixiert, instrumentalisiert ihre Schwester auf jede erdenkliche Weise und verrät somit alle ehemaligen Gemeinsamkeiten. Das destruktive Moment des Weges in die Gewalt steht damit gänzlich außer Frage, auch wenn Juliane trotz allem an ihre Schwester gebunden bleibt. »Das zweite Erwachen der Christa Klages« und »Die bleierne Zeit« waren unverkennbar aus einer linksintellektuellen Perspektive gedreht, die einerseits gemeinsame Wurzeln des Engagements für Projekte wie die Kinderläden, für eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, für die Palästinenser und für den Kampf gegen alle Ungerechtigkeiten in der Welt zu sehen glaubte. Gerade dadurch erscheint der Ablösungs- und Distanzierungsprozess so quälend, auch wenn auf der anderen Seite kein Zweifel an dem Irrweg der Gewalt gelassen wird. Die Perspektive ist dabei die des linken Milieus, dessen Gefühl und dessen Wut, instrumentalisiert und verraten worden zu sein, klar artikuliert wird. Die Selbstbespiegelung, das Gefühl der Verzweiflung und des Leidens an einem als verfolgungswütig dargestellten Staat und einer Gewalt, die wiederum für das Verhalten des Staates verantwortlich gemacht wird, ging schließlich auch in die Perspektive von »Deutschland im Herbst« ein. Fassbinder inszeniert sich hier als Verzweifelten, der aus der gesamten Situation keinen Ausweg mehr weiß. Als Hauptleidtragende des Terrorismus erschienen hier letztlich jene, deren Hoffnungen auf eine veränderte Gesellschaft und deren unmittelbaren Lebensumstände durch den Terrorismus zerstört werden. Die Distanzierung vom Terrorismus ist dabei eindeutig, denn nicht die getöteten Opfer, sondern diejenigen, die sich in ihren gesellschaftspolitischen Ansätzen und Anliegen verraten fühlen, werden in ihrer tragischen Situation thematisiert. Was die Frage des Staatsverständnisses angeht, das hier zum Ausdruck kam, war unübersehbar, dass die Polizei als Verfolgungsinstrument eines Staates gezeigt wurde, der den Kampf gegen den Terrorismus unter dem Primat seiner Exekutivgewalt führt. Ob es die Vollzugsbeamten im Gefängnis oder die Polizisten sind, die Katharina Blum beschatten und bedrängen, stets erscheint die Exekutive als rabiat und mit wenig menschlichen Zügen. Von einer »Versöhnung mit dem Staat« war somit auch hier

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wenig erkennbar. Vergleichbar den Briefen zur Verteidigung der Republik findet sich aber auch in den Filmen eine gewisse Rückbesinnung auf den demokratischen Rechtsstaat. Am deutlichsten erkennbar war dies vielleicht in einigen Episoden von »Deutschland im Herbst«. Das Gespräch, das Fassbinder mit seiner Mutter über die Frage des Umgangs mit dem Terrorismus führt, ist zwar von schwer erträglicher Penetranz, letztlich aber ein klares demokratisches Bekenntnis. So liest etwa auch die Rezensentin der FAZ den Film als ein Dokument, in dem die »heimatlose Linke« ihre Verstörung zum Ausdruck bringe und über die Kritik am Staat letztlich das Ziel habe, »Demokratie herzustellen«.22 Neben Fassbinders Inszenierung seiner eigenen, paranoiden Furcht vor dem Staat brachte der Film auch Ausschnitte der Rede des Bundespräsidenten Walter Scheel anlässlich der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer, in der er ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Kritik für die Demokratie hinwies. Das Bewahren der grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte und der Bezug auf den demokratischen Rechtsstaat waren auch hier die klaren Fluchtpunkte.

Fazit Kaum ein anderes gesellschaftspolitisches Thema in der Geschichte der Bundesrepublik hat die intellektuelle Linke so sehr in Bedrängnis gebracht wie der Terrorismus. Stellung bezog nicht nur die gesamte Bandbreite der »üblichen Verdächtigen«. Zudem griffen Vertreter des Neuen deutschen Films aktiv in die Auseinandersetzung ein und erweiterten die Debatte, die Schriftsteller, Universitätsangehörige und andere Publizisten in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern führten, durch das Medium des Films. Die filmische Auseinandersetzung brachte insofern eine eigene Qualität ein, als sie aufgrund der Eigengesetzlichkeiten dieses Mediums sowie der Fiktionalität der Darstellung besondere Entfaltungsmöglichkeiten hatte und neue Perspektiven lieferte. Der politisch und theoretisch argumentierende Diskursbeitrag der Texte wurde in den Filmen durch eine vornehmlich subjektiv-emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema ergänzt. Auf beiden Ebenen wurde die besondere Bedrängnis deutlich, der sich das linksintel-

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lektuelle Milieu durch den Terrorismus und die Reaktionen darauf ausgesetzt fühlte. Es wurde auch deutlich, dass dabei mehr auf dem Spiel stand, als die Frage des Umgangs mit dem Terrorismus selbst. Es ging auf der einen Seite um den Vorwurf, dass der Terrorismus Ausdruck des Strebens nach radikaler Gesellschaftsveränderung war, wie sie von einer linken Minderheit propagiert wurde. Dem stand auf der anderen Seite der Verdacht gegenüber, dass die Konservativen den Terrorismus nutzten, um die staatliche Macht in obrigkeitsstaatlicher Tradition zu Lasten der bürgerlichen Freiheiten auszubauen. Nicht zuletzt war damit auch der Wechsel von moralischen Frontstellungen verbunden. Hatte »die Linke« ihren Protest der 1960er Jahre auf den Anspruch moralischer Überlegenheit im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt begründet und die Konservativen dabei moralisch in die Defensive gedrängt, sahen nun umgekehrt die Konservativen die Chance, in der Auseinandersetzung mit der terroristischen Gewalt aus der Defensive herauszukommen und die moralische Integrität ganz für sich zu beanspruchen. Die Umkehr des Anspruchs auf moralische Überlegenheit trug erheblich dazu bei, die Auseinandersetzung für die Linksintellektuellen so quälend zu machen und die Verbindungen zwischen gesellschaftsverändernden, bisweilen auch in der Diktion der Zeit »revolutionären« Zielen und terroristischer Gewalt so weit wie möglich zu leugnen. Die Filme erscheinen in diesem Punkt unverkrampfter als die Texte. Hier wurde auf unterschiedlicher Ebene ein solcher Zusammenhang immer wieder einbezogen. Fanden sich zunächst eher groteske, surreale und vor allem bei »Zabriski Point« sogar faszinierte Umgangsweisen mit dem Thema, verdüsterte sich vor dem Hintergrund der realen Gewalt die gesamte Atmosphäre zusehends. Gewalt führte allein zu Zerstörung und Selbstzerstörung. Die Metapher der »bleiernen Zeit« wurde hier nicht nur in von Trottas gleichnamigem Film spürbar. Klaus Weinhauer hat argumentiert, dass sich die reale gesellschaftliche Entwicklung mit dieser Metapher nicht erfassen lässt, und verweist auf die neue, konstruktive Politisierung, die aus der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus entstanden sei.23 In diesen Kontext ist auch die Neubesinnung der Linksintellektuellen auf das Grundgesetz und den Rechtsstaat zu verstehen. Nachdem

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von konservativer Seite die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« gegen die Bestrebungen nach mehr oder weniger radikaler gesellschaftlicher Veränderung in Stellung gebracht worden war, erhoben die Linksintellektuellen Anspruch auf die Rolle als Verteidiger der Grundrechte. Die grundgesetzlich verankerten Rechte waren damit für beide Seiten zum zentralen Bezugspunkt geworden. Der Streit um den Staat hatte sich damit bis auf weiteres in eine Auseinandersetzung um das Grundgesetz verwandelt.

Anmerkungen 1 Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?, in: Der Spiegel vom 10. 1. 1972, S. 54–57. Vgl. dazu auch die Dokumentation: Frank Grützbach (Hg.), Heinrich Böll: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen, Köln 1992. 2 Zu Bölls Auseinandersetzung mit der Springerpresse und seine Rolle in der »Sympathisanten-Debatte« vgl. Hanno Balz, Der »Sympathisanten«Diskurs im Deutschen Herbst, in: Klaus Weinhauer / Jörg Requate / HeinzGerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 70er Jahren, Frankfurt / M. 2006, S. 320–350. 3 Karl Friedrich Fromme, Sie können dafür, in: FAZ vom 2. 8. 1977 4 Vgl. in diesem Zusammenhang die von der Bundesgeschäftsstelle der CDU herausgegebene Zitatensammlung: Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Auswahl von Zitaten, hg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1977. Mit Zitaten von Helmut Schmidt bis zur RAF wird hier versucht, wenn schon nicht einen ideologischen Zusammenhang, so doch eine auf unterschiedlichen Ebenen liegende gemeinsame Verantwortung zu konstruieren. 5 Werner Birkemeier, Ist die Frankfurter Schule an allem Schuld? Anmerkungen zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Terrorismus, in: Hat sich die Republik verändert? Terrorismus im Spiegel der Presse, hg. vom Arbeitsstab »Öffentlichkeitsarbeit gegen den Terrorismus« im Bundesministerium des Innern, Oldenburg 1978, S. 112–125. 6 Zit. nach ebd., S. 112. 7 Zit. nach Jürgen Habermas, Stumpf gewordene Waffen aus dem Arsenal der Gegenaufklärung, in: Freimut Duve / Heinrich Böll / Klaus Staeck (Hg.), Briefe zur Verteidigung der Republik, Reinbek 1977, S. 54–72, hier S. 59. 8 Der Fortgang des Briefwechsels ist abgedruckt in: Hat sich die Republik verändert? Terrorismus im Spiegel der Presse, hg. vom Arbeitsstab »Öffentlichkeitsarbeit gegen den Terrorismus« im Bundesministerium des Innern, Oldenburg 1978, S. 65–92. 9 Ebd., S. 67.

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10 Oskar Negt, Im Zeichen der Gewalt. Rede zum Angela-Davis-Kongress 1972, abgedr. in: Wissenschaft und Frieden 19 (2001), Heft 2, S. 43–47. 11 Ebd., S. 45. 12 Dazu konkret: Habermas an Sontheimer, abgdruckt in: Hat sich die Republik verändert? S. 80 f. 13 Habermas, Stumpf gewordene Waffen S. 61. 14 So der Titel des Buches von Jillian Becker, Hitler ’ s children. The Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang, Philadelphia 1977. 15 Analysen zum Terrorismus, hg. vom Bundesministerium des Innern, 4 Bde., Opladen 1981–84. 16 Nicolaus Büchse, Von Staatsbürgern und Protestbürgern. Der Deutsche Herbst und die Veränderung der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Habbo Knoch (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 311–332. 17 Ebd., S. 330. 18 Helmut Schelsky, Heinrich Böll – Kardinal und Märtyrer, in: ders., Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 21975, S. 342 ff. 19 Als eine der wenigen Ausnahmen vgl. Walter Uka, Terrorismus im Film der siebziger Jahre. Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der realen Gegenwart, in: Klaus Weinhauer / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 70er Jahren, Frankfurt / M. 2006, S. 382–398. 20 Die Suche nach den Wurzeln der deutschen Geschichte durch die Geschichtslehrerin Gabi Teichert in der von Alexander Kluge geschriebenen und inszenierten Episode in »Deutschland im Herbst« hat zwar eindeutig groteske Züge, doch findet hier keine konkrete Auseinandersetzung mit der Frage der Gewalt statt. 21 Reinhart Hauff drehte 1978 »Das Messer im Kopf« und 1985 den Film »Stammheim« nach der Vorlage von Stefan Aust, Der Baader-MeinhofKomplex, Hamburg 1985. 22 Brigitte Jeremias, »Deutschland im Herbst« – Im Kino angelaufen, in: FAZ vom 4. 4. 1978. 23 Klaus Weinhauer, Terrorismus in der Bundesrepublik der siebziger Jahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (2004), S. 219–242.

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Nachrüstung und Selbstanerkennung Staatsfragen im politisch-intellektuellen Milieu der »Blätter für deutsche und internationale Politik«1

»History is what hurts« Frederic Jameson Die Debatte um die Nachrüstung amerikanischer Mittelstreckenraketen wühlte Anfang der 1980er Jahre nicht nur die Republik auf, sie hatte auch kollaterale Effekte, die die Staatsbilder und -vorstellungen der verschiedenen Kritikergruppen berührten. Denn es ging hier ja nicht allein um eine Konfrontation mit der bundesdeutschen Politik, sondern gerade indem diese einer vehementen Kritik unterzogen wurde, definierten und modifizierten sich auch die Kritikerpositionen selbst. Niklas Luhmann hatte mit Blick auf die integrativen Mechanismen oppositionellen Verhaltens bemerkt, es ginge diesen Bewegungen letztlich darum, im Dagegensein dazu zu gehören – und genau diese Perspektive ist aufschlussreich, wenn man sie auf die Akteure der Friedensbewegung anwendet. In der Nachrüstungsdebatte bündelten sich viele der in den zurückliegenden Jahren akkumulierten Staatsbilder, um durch die Gestalt eines unberechenbaren Rüstungsstaates ergänzt zu werden, der das Überleben der Deutschen auf einem künftigen Schlachtfeld Mitteleuropa aufs Spiel zu setzen bereit war. Wenn die grüne Bundestagsabgeordnete Petra Kelly im Oktober 1983 auf der Bonner Hofgartenwiese während einer der großen Demonstrationen gegen die Nachrüstung ausrief, »der Staat ist nicht alles«, schien sie den Nerv des Protestes getroffen zu haben.2 Solche Staatsvorbehalte wurden von den politisch-intellektuellen Milieus geteilt, die der Debatte ihre Argumente lieferten. Wie weit die Staatskritik ging, zeigte sich symptomatisch in einem Kongress, den der AStA der Universität Bielefeld im Frühsommer 1986 ausgerichtet hatte und

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der beanspruchte, die intellektuellen Ergebnisse von »10 bis 15 Jahren Widerstand« nachzuarbeiten. Seine Titellosung lautete: »Kein Staat mit diesem Staat«. Doch der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass der Tagungstitel mit einem Fragezeichen versehen war. Den Veranstaltern ging es nicht allein um die Auflistung allgegenwärtiger staatlicher Repressionen, die sie mit der »Fremdheit eines Staatsgebildes« konfrontierten, »das nicht ihres ist«. Zur Diskussion standen auch »alte und neue Schwachpunkte ›linker‹ Staatskritik«. Eingeleitet wurde der Konferenzreader3 von einem Beitrag des Gießener Hochschullehrers Helmut Ridder, der danach fragte, »was für eine Demokratie« die Bundesrepublik denn eigentlich sei. Die Erkundungen Ridders führten zu einem ernüchternden Befund über die spätkonstitutionellen Defizite bundesdeutscher Demokratie – aber was der Verfassungsrechtler im Übrigen vortrug, wich von der Widerstandsrhetorik des Kongressaufrufs deutlich ab. Mit ätzender Polemik propagierte Ridder, für viele Leser ungewohnt, die selbstverständliche Vereinbarkeit demokratischer Verfassungsmaximen mit den Anliegen politischer Grundsatzkritik. Staatskritik lebte hier offenbar aus einem ganz anderen Fundus als die gewohnten spätmarxistischen Deduktionen oder der basisdemokratische Antietatismus. Dennoch hatten die Veranstalter gerade diesen Beitrag dem Reader vorangestellt. Es gab offenbar ein Gespür für die tektonischen Verschiebungen in der intellektuellen Landschaft und für die Defizite der eigenen Staatspolemik. Solche Verunsicherungen, die nach Klärung drängten, ließen sich in der Stationierungsmelancholie der mittleren 1980er Jahre vielfach beobachten. Die »Krise des Staatsgedankens«, so könnte man sagen, hatte in den »Wende«-Jahren auch die bundesdeutsche Linke – bis hin zu den Kommunisten – eingeholt.4 Die Nachrüstungsdebatte zeigte sich in dieser Hinsicht janusköpfig; sie führte zu vehementen Erschütterungen des Staatsvertrauens – und sie provozierte und beschleunigte intellektuelle Klärungsprozesse, die bei aller Ambivalenz jene späten Bekenntnisse zur Bundesrepublik vorbereiten halfen, die nach 1989 / 90 die Leitorgane füllten. Dieser widersprüchliche Prozess lässt sich in dem der zeitgenössischen Diskussion entnommenen Begriff der »Selbstanerkennung« zusammenfassen.5 Prägnanter als die doch sehr anspruchsvolle For-

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mulierung von der nachholenden »intellektuellen Gründung« der Bundesrepublik bezeichnet er den Doppelaspekt eines Vorgangs, der nicht allein in einem veränderten Staatsverständnis, sondern zugleich in einer veränderten Kritikerhaltung seinen Ausdruck fand. Diese intellektuellen Transformationen soll im Folgenden am Beispiel der damals in Köln erscheinenden Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik diskutiert werden (denen übrigens der besagte Aufsatz des langjährigen Mitherausgebers Helmut Ridder entnommen worden war).6 Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass es sich um ein Stück »Selbsthistorisierung« handelt, denn der Autor selbst war seit 1981 für elf Jahre als einer von zwei, später drei Redakteuren der Blätter tätig. Zudem hat der Fall eine besondere Pikanterie, denn die Blätter, die damals im Pahl-Rugenstein Verlag (prv) erschienen, hingen als bündniskommunistische Unternehmung finanziell und politisch gleichsam am Tropf der SED und der DKP; ein Sachverhalt, der, wie man sich denken kann, dem hier zu diskutierenden Projekt »Selbstanerkennung« eine besondere Note verleiht. Um die politisch-intellektuellen Staatsverständnisse der Opposition zu charakterisieren, wird zunächst eine Typisierung zweier konträrer Haltungsmodelle vorgestellt; dann werden drei häufig als krisenhaft wahrgenommene Aspekte der Nachrüstungsdebatte skizziert, die gleichsam den Irritationsrahmen des Konflikts beschreiben; und schließlich werden am Fallbeispiel der Blätter sowohl die Ambivalenzen wie die Entwicklungstendenzen der dort verhandelten Staatsbilder illustriert.

Nachholende Reverenz oder fortwirkender Grundvorbehalt? In der alten Bundesrepublik bestand eine besonders enge Verknüpfung von Staatsbildern und außen- oder sicherheitspolitischen Konfliktlagen. Da der westdeutsche Teilstaat in seiner Existenz und Sicherheit stark von internationalen Konstellationen abhängig war, schlugen die entsprechenden Konfliktlagen schneller als in anderen europäischen Staaten auf staatspolitische Grund-

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fragen durch und waren geeignet, immer wieder aufs Neue die gründungsrationalen und konstitutiven Richtungsentscheidungen dieser Staatlichkeit in Frage zu stellen.7 Im politisch-intellektuellen Staatsverhältnis der Oppositionskräfte begünstigte diese Konstellation – vereinfacht gesagt – zwei konträre Haltungsmodelle. Wenn man der Staatsgründung und den folgenden Strukturentscheidungen nicht schon von vornherein zugestimmt hatte, konnte man ihr mit wachsendem Zeitabstand und zunehmender Konsolidierung nachholende Reverenz erweisen und dies in eine historische Legitimierungsgeste »nach hinten« verlängern.8 Das kam in sukzessiven Anerkennungsakten des oppositionellen politisch-intellektuellen Milieus zum Ausdruck, die ihren derzeitigen historiographischen Abschluss im Ankunfts-Narrativ gefunden haben; eine Haltungsformung, die inzwischen den intellektuellen Mainstream der Republik prägt.9 Während die durchaus bestehenden Ausgangsirritationen sich so allmählich verbrauchten, konnte man aus diesen jedoch auch eine entgegengesetzte Haltung gewinnen. In Anbetracht der nicht ausgestandenen Begründungsprobleme eines als Provisorium konzipierten Teilstaats drängte sich dann ein fortwirkender Grundvorbehalt auf, der bei jeder neuerlichen Richtungsentscheidung in Anschlag gebracht werden konnte. Er entsprang nicht zuletzt politischen Enttäuschungen, die unter den zeitgenössischen Stichworten der »Spaltung«, der »Restauration«, der »Remilitarisierung« und – generell – der nicht gezogenen »Lehren« und der »verpassten Chancen« mit einer Delegitimierung »nach hinten« einhergingen. Diese Perspektive begünstigte einen spezifischen Oppositionstyp, aus dessen Sicht die Legitimation der Republik in den zahlreichen großen politischen Richtungskonflikten immer aufs Neue wieder zur Disposition stand, weil die Traditionslasten der Vergangenheit – des NS-Regimes nicht weniger als der defizitären Weimarer Republik oder des obrigkeitsstaatlichen Kaiserreichs – einfach zu schwer wogen und die Zeitgenossen nicht bereit zu sein schienen, den so dringend erforderlich Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen. Diese Haltung beschränkte sich nicht auf die Kommunisten; ihre »Opposition aus Prinzip« (Otto Kirchheimer) war nur eine – freilich extreme – Teilmenge der sehr viel größeren Opposition des Dauervorbehalts.10 Während die eine Haltung in die Republik hineinführte, schien die

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andere auf ihrer Schwelle zu verharren. Welche Evolutionen lassen sich im Spiegel der Nachrüstungsdebatte beobachten?

Dreierlei Staatswahrnehmungen Die Nachrüstungsdebatte war dazu angetan, der letztgenannten Haltung vermehrten Einfluss zu verschaffen. Tatsächlich wurde in einer Reihe staatspolitischer Grundfragen der bestehende – zum Teil schon angekratzte – Basiskonsens erheblich erschüttert. Drei gravierende Momente lassen sich dabei hervorheben, und sie fanden in verschiedenen Staatswahrnehmungen ihren speziellen Ausdruck. A. Unter starken Vorbehalt stellte die Debatte nicht weniger als die Staatsräson der Bundesrepublik, indem sie deren grundlegendes Verteidigungsdilemma hervorhob: Es bestand einfach keine Aussicht, das Territorium der Republik im Konfliktfall effektiv schützen zu können – schon gar nicht mit Atomwaffen, die jedoch im Normalfall den Abschreckungsfrieden sicherten. Obwohl regierungsseitig alles getan wurde, diese strategische Zuspitzung der Debatte zu verhindern, steuerte die Friedensbewegung zielbewusst auf diese Schwachstelle zu. Die Atomwaffen, aber auch die Abschreckungsstrategie oder die bündnispolitische Abhängigkeit von der atomaren Garantiemacht USA gerieten unter Kritik – wenn man nicht die Bündnismitgliedschaft der Bundesrepublik generell in Frage stellte (wie Oskar Lafontaine) oder einer Position der »Äquidistanz« zu den »Supermächten« das Wort redete. Die häufig in apokalyptischen Bildern gezeichnete Bedrohung des »Überlebens« zeigte der intellektuellen Kritik gleichsam die andere Seite des »Sicherheitsstaats« (Joachim Hirsch), dessen Expansion seit den 1970er beobachtet worden war.11 Anders als in den frühen 1960er Jahren drang diese Irritation bis in die politische Elite vor, und anders als damals bestand ein Effekt der Protestbewegung nun nicht mehr darin, »mit der Bombe leben« zu lernen, nachdem man seinen Protest dokumentiert hatte.12 Die Legitimationskrise der Sicherheitspolitik konnte bis Ende der 1980er Jahre nicht überwunden werden, und sie wurde begleitet von einem umfassenden Repertoire an sicherheits- und verteidigungspolitischen Alternativen.

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B. Der Raketenkonflikt wirkte um so nachhaltiger, als er sich mit dem Zweifel verband, ob der Staat überhaupt noch imstande sei, die ihm von Hobbes aufgegebene Grundleistung zu erbringen, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. War der Staatsvertrag damit obsolet geworden? Das Gefahrenbewusstsein, eine hoch moralisch aufgeladene Politik der »ersten Person« sowie das basisdemokratische Bewegungsdenken, dass sich in den 1970er Jahren Geltung verschafft hatte, verbanden sich mit einem rapide sinkenden Institutionenvertrauen in die Entscheidungskraft und -kompetenz der repräsentativen Demokratie. Ähnlich wie in der Umwelt- und in der Anti-Atom-Bewegung wurde in den intellektuellen Kommentierungen der Friedensbewegung über jene Aporie des Repräsentativprinzips diskutiert, die darin bestand, dass mit irreversiblen Entscheidungen über Menschheits-, Gattungs- und Überlebensfragen die »Grenzen der Mehrheitsdemokratie« erreicht waren.13 Aber was galt jenseits dieser Grenzen? Wie unterschiedlich die Antworten auch ausfielen, häufig bekräftigten sie antipolitische und antietatistische Affekte, setzen auf »Widerstand« und »zivilen Ungehorsam« oder appellierten – in ihrer mildesten Form – an den vermehrten Einsatz plebiszitärer Verfahren. C. In einer Perspektive existenzieller Bedrohung, allseitiger Betroffenheit und eines blockübergreifenden »Rüstungswahnsinns« war es kein Wunder, dass auch die innerstaatlichen Freund-FeindBilder des Kalten Kriegs an Bindekraft verloren. Damit schwand jener antitotalitäre Gründungskonsens, der sich im Konstrukt der »wehrhaften«, »abwehrbereiten«, »streitbaren« oder »militanten Demokratie« manifestiert hatte.14 In der Bewegungsdemokratie des Nachrüstungsprotests entwickelte sich eine relativ dauerhafte Kooperation aus »alter« und »neuer« Friedensbewegung, die auch das parteikommunistische Spektrum (»Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit« – KOFAZ) umfasste und zumindest bis zum Ende der Aktionsphase 1984 vorhielt.15 Wie man damals vermutete (und heute weiß), zehrten die einschlägigen Organisationen dieses Spektrums in nicht geringem Maße von verdeckter Alimentierung durch die SED. Die Raketendebatte provozierte daher die Frage, wie mit den subventionierten Parteigängern jenes weltpolitischen Lagers zu verfahren sei, dessen

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»Vorrüstung« im Mittelstreckenbereich ja erst die »Nachrüstung« des westlichen Bündnisses notwendig gemacht habe. Indem sich die politischen Kräfte – etwa der SPD – den Argumenten dieser (Gegen-)Seite öffneten, sie tolerierten oder sogar mit ihr kooperierten, so die Befürchtung, trugen sie zur »Erosion der Abgrenzung« und letztlich zur Schwächung der bundesdeutschen und westlichen Verhandlungsposition bei. Die Mittelstreckendebatte stellte sich in dieser Sicht zugleich als ein innerstaatlicher Ordnungskonflikt ersten Ranges dar.16 Bilanziert man diese knappen Eindrücke, ergibt sich nicht allein die von Clemens Albrecht konstatierte »Entzauberung« des Staates, sondern unter dem Vorzeichen basisdemokratischer Mobilisierung und existenzieller Politikbegriffe schien auch die repräsentative Demokratie viel von ihrer Legitimation eingebüßt zu haben.17 Gewiss konnte man im Sinne einer »Demokratisierung« oder »Fundamentalliberalisierung« auf beeindruckende Aktivitäten, einen sich rasch entwickelnden sicherheitspolitischen Sachverstand und ein vermehrtes Partizipationsverlangen verweisen. Doch ließ sich das als Ausdruck einer »Selbstanerkennung« verstehen, aus der der Verfassungsstaat gestärkt hervorging – oder dünnte dieser hier zum allzuständigen Adressaten einer imperativen Forderungsdemokratie aus?

Das politische und das intellektuelle Regime der Blätter Um diese Fragestellung noch zu verschärfen, soll nun der Fall der Blätter diskutiert werden, die ihrer Herkunft nach als Musterfall des eingangs entworfenen zweiten Haltungsmodells – fortwirkender Grundvorbehalt – gelten dürfen. Zunächst wird das politische, dann das intellektuelle Regime der Zeitschrift skizziert, um anschließend auf zwei konfligierende Staatsbilder einzugehen. A. Das politische Regime, unter dem die Blätter für deutsche und internationale Politik antraten, kann als eine verblüffend exakte Spiegelung der offenen deutschen Frage analysiert werden, die auch dann noch virulent blieb, als vehement von ihrem Ende die Rede war. Das ergab sich aus der Gründungsgeschichte der

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Zeitschrift. In ihren Reihen hatten sich 1956 Mitglieder des neutralistischen »Deutschen Klubs 1954« zusammengefunden, in dem mit Karl Graf von Westphalen, Hermann Etzel und Paul Neuhöffer Adenauer-kritische Kräfte aus der CDU und der Bayernpartei einerseits und der KPD andererseits tonangebend waren. Dazu kamen Theologen aus der Bekennenden Kirche (wie Hans Iwand oder Ernst Wolf) und politisch engagierte Einzelpersönlichkeiten (wie Hermann Rauschning, Günther Anders oder Robert Scholl).18 Der Gründungsimpuls verdankte sich der Kritik an Westintegration und Wiederbewaffnung, zielte aber grundsätzlich auf die Legitimationsschwächen der jungen Bundesrepublik. Doch die politische Struktur dieses publizistischen Unternehmens war selbst nicht vor vergleichbaren Glaubwürdigkeitsproblemen gefeit. Kritisierten die Blätter-Autoren die Doppelbödigkeiten der westdeutschen Staatskonstruktion, die als Neugründung und provisorischer Teilstaat gleichwohl legitimer Nachfolgestaat des Reichs (minus Hitler) sein und für »das ganze Deutschland« (in den Grenzen von 1937) sprechen wollte, so wurzelten Zeitschrift und Verlag in einer ähnlich zwiespältigen Struktur. Denn beide waren – wie eine Reihe anderer Zeitschriften (Das Argument oder konkret) – von der SED verdeckt protegierte, »bündnispolitische« und daher gleichsam grenzüberschreitende Gründungen mit einer ganz speziellen Hintergrundloyalität,19 die mit dem Ausweis eines imposant breiten Autorenspektrums gleichwohl beanspruchten, »keiner Partei und keiner politischen Orthodoxie verpflichtet« zu sein (so die Herausgeber-Erklärungen von 1972 und 1987). So verstand sich nicht allein die offizielle Staatsideologie der alten Bundesrepublik im Sinne des viel kritisierten »Alleinvertretungsanspruchs« der Hallstein-Doktrin als »gesamtdeutsch«, sondern auch das hier skizzierte oppositionelle Gegenmilieu konstruierte spiegelbildlich dazu eine eigentümlich »gesamtdeutsche« Struktur.20 Dabei handelte es sich freilich nicht (nur) um ein Abhängigkeits- und Folgeverhältnis gegenüber der Ostberliner Zentrale, denn die Verlagsleitung – in Person Paul Neuhöffers jahrelang mit der Redaktionsleitung identisch – bemühte sich, im Dreiecksverhältnis zwischen SED, KPD / DKP und »Moskau« selbstständig zu agieren. Das generelle Einverständnis mit der vorgegebenen deutschlandpolitischen Linie konnte man dabei voraussetzen, aber

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innerhalb dieses Rahmens vertrat der Redaktions- und Verlagsleiter einen selbständigen Kurs, der sich von allzu engen parteipolitischen Direktiven fern zu halten versuchte und selbstbewusst für die – auch finanzielle – Unterstützung der ihm vordringlich erscheinenden Projekte warb.21 Brisant wurde dieses Lavieren in dem Moment, als mit dem beginnenden Reformkurs der Sowjetführung in den 1980er Jahren Differenzen zur SED-Führung sichtbar wurden. – Mit dieser Positionierung, die zeitweise mit dem Anspruch kokettierte, eine »prv-Kultur« neben die linksliberale »Suhrkamp-Kultur« zu setzen, machten sich die Blätter in einem breiteren Milieu politisch-intellektueller Kritik interessant und erreichten im Zuge der Notstands- und Studentenbewegung schließlich Abonnentenziffern, die jene der Konkurrenz auf dem linken Zeitschriftenmarkt dauerhaft übertrafen.22 B. Was diese Doppelstruktur bedeutete, enthüllt jedoch erst ein Blick auf das intellektuelle Regime der Zeitschrift. Natürlich ließ sich in den politischen Tendenzaussagen zu ost- und deutschlandpolitischen Fragen leicht der jeweilige Kurs der DDR oder der Sowjetunion identifizieren. Auch in der Nachrüstungsdebatte machte sich die Zeitschrift für die sowjetische Position stark. Zudem saß mit Gerhard Kade ein führendes KOFAZ-Mitglied in den Reihen ihrer Herausgeber, das später von Stasi-General Markus Wolf als »IM Super« annonciert wurde, und im Verlag firmierten die beiden Geschäftsführer des Komitees formell als Lektoren.23 An Bindungen fehlte es also nicht, aber die intellektuelle Pointe lag an anderer Stelle. Es soll hier die These vertreten werden, dass sich die Blätter auf einer Art Sonderweg nach Westen befanden, und Schlüsselbegriff dieses seit Mitte der 70er Jahre bemerkbaren Prozesses war der der »Selbstanerkennung«. Seinen Ausdruck fand das in der – maßgeblich vom Mitherausgeber Ridder beeinflussten – Auffassung, die Bundesrepublik müsse ein ganz »normaler westeuropäischer Staat« werden.24 Damit war keine nur taktisch kalkulierte Referenz an die bundesdeutsche Staatlichkeit ausgesprochen, deren oberster Sinn und Nutzen etwa in dem indirekten Effekt hätte bestehen können, auch der DDR die Weihen eines völkerrechtlich gleichberechtigten Staatssubjekts zuteil werden zu lassen. Vielmehr ging es darum, einem spezifischen Verständnis von »Verwestlichung« im Verfassungs- und politi-

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schen Denken Nachdruck zu verleihen – nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen. Dies geschah freilich nicht unkonditioniert, denn der Ruf nach einer bundesdeutschen Staatsnormalität war immer auch von der Forderung nach »Umgründung« begleitet, die den »geistigen Westwall« (Ridder) schleifen und die verfassungsrechtlich bestehenden Handlungsräume (wieder) öffnen sollte. Welche schleichende Wirkung solche Überlegungen erzielten, lässt sich – um ein Beispiel zu nennen – im Umgang mit dem Konzept der »wehrhaften Demokratie« zeigen.25 Im Blätter-Milieu wurde die wertpolitische Überwölbung des Verfassungsverständnisses in Form einer superlegalen Ordnung – die viel zitierte »freiheitlich-demokratische Grundordnung« – grundsätzlich in Frage gestellt. Jenseits dessen traten jedoch – auch im Herausgeberkreis – unterschiedliche Verfassungsinterpretationen zueinander in Gegensatz. Während die eine Position das positive Verfassungsgesetz als bindende Rechtsnorm betonte, verwies die andere auf antifaschistische Gründungs- und Hintergrundintentionen als »Wesensgehalt« des Grundgesetzes, wodurch den einschlägigen politischen Folgerungen (beispielsweise nach einem NPD-Verbot) die Weihen von »Verfassungsaufträgen« zuerkannt wurden. Öffnete die erste Auffassung den Weg ins (links-)liberale Spektrum der intellektuellen Öffentlichkeit, band die zweite Position die Blätter an das Herkunftsmilieu. Diese Differenzen waren immerhin so gravierend, dass sie in der ebenfalls im Pahl-Rugenstein Verlag erscheinenden Zeitschrift Demokratie und Recht dazu führten, dass die Redaktion 1984 von dem Kollegium um Ridder, dem damals auch die heutigen Bundesminister Frank-Walter Steinmeier und Brigitte Zypries angehörten, an den Juristenkreis um Gerhard Stuby und Norman Paech überging.26 Im Blätter-Milieu schwelte diese Auseinandersetzung während der 1980er Jahre, ohne offen ausgetragen zu werden. Die Artikeldebatte (Art. 23 vs. Art. 146 GG) um den Weg zur deutschen Vereinigung 1990 bildete einen der letzten markanten Anlässe, die bestehenden Auffassungsunterschiede zu artikulieren.27 Danach verlor sich die Schärfe der Kontrapositionen allmählich, wenn auch nicht ohne Erschütterungen im – inzwischen erweiterten – Herausgeberkreis nach sich zu ziehen.28 Auf diesem Hintergrund ist es unmöglich, die Evolution der Zeitschrift in diesen Jahren als

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Konflikt- oder Konversionsgeschichte zu erzählen, die von Erweckung, Bekenntnis und Umkehr handelt, oder die es gestattet, die scharfen Zäsuren von Siegen oder Niederlagen zu zeichnen. Vielmehr herrschen die Grautöne der Ambivalenz vor. Immerhin lassen sich jedoch konkurrierende Staatsbilder erkennen, deren Gewichtung sich allmählich verändern sollte.

Fundamentaloppositionelle Ansichten und republikanisches Selbstverständnis Was bedeuteten die subkutanen Differenzen für die Leitfrage nach den Staatsbildern, und welche Aufschlüsse gewährt dabei die in den Blättern intensiv geführte Nachrüstungsdebatte? Wer erwartet hatte, die Blätter würden sich den identitätspolitisch aufgeladenen Positionen der Friedensbewegung öffnen, Neutralitäts- und andere Ausstiegszenarien in eine europäische »Mittellage« propagieren oder Klagen über ein »besetztes Land« und seine »Souveränitätsdefizite« mit Widerstandsappellen beantworten, sah sich – weitgehend – getäuscht. Auch die eingangs zitierte alternativ-autonome Parole »Kein Staat mit diesem Staat« wurde im BlätterMilieu so nicht geteilt. – Welches Staatsbild vertraten also die Blätter in diesen Jahren? Für die Blätter erschien das Stationierungsjahr 1983 doppelt vom Unheil gerahmt. Zwei Themenhefte zu Jahresbeginn (Rückblick auf 1933) und zum Jahresende (Vorschau auf das »OrwellJahr« 1984)29 bildeten den Hintergrund einer extremen Dramatisierung der Nachrüstungsdebatte, die vor historisch fragwürdigen Analogien (»Anti-Reagan-Koalition«), intentionalen Zuschreibungen (»Plan Euroshima«), antimilitaristischem Verschwörungsverdacht (»Enthauptungsstrategie«) und apokalyptischen Zuspitzungen (»Es geht ums Überleben«) nicht zurückschreckte. Hinter solchen publizistischen Fanfaren verbargen sich indessen die Ambivalenzen eines im Umbruch befindlichen Staatsverständnisses. Implizit wurde in den teils alarmistischen, teils nüchternen Beiträgen um die Vermittlung zweier polarer Perspektiven gerungen, an denen sich die Dialektik der Selbstanerkennung, die sowohl Staatsbild wie Kritikerposition veränderte, gut aufzeigen lässt.

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A. Zum einen galt der Staat in jener Tradition, die Neuhöffer 1969 einmal als »mehr oder weniger marxistisch, hauptsächlich jedoch in der Linie einer antiimperialistischen Propaganda«30 skizziert hatte, als Agentur von Wirtschafts- und Systeminteressen. In dieser spätmarxistischen Perspektive, die aus dem Repertoire des zeitgenössischen Stamokap-Theorems schöpfte, herrschten die Regeln der Machtmechanik; hier obwaltete die Logik von »politischen Kräften«, »Lagern«, »Gegenmacht« und »Bewegungen«.31 In der herrschaftskritischen Sicht hatte der Staat, obwohl übermächtig, im Grunde kein eigenes Profil, sondern war wesentlich eine instrumentelle »Resultante politischer Kräfteverhältnisse«. »Staat« war hier der machtvoll sich versagende Adressat, an den sich die Erwartungen einer vielgestaltigen Forderungsdemokratie »von unten« richteten. Im Zuge der Nachrüstungsdebatte wurden diese Erwartungen einerseits mittels einer Rhetorik des »Überlebens« radikalisiert, mit der Forderungen nach »atomwaffenfreien Zonen«, Abrüstungsmaßnahmen und gelegentlichen Voten für eine Auflösung der Militärblöcke vorgetragen wurden; andererseits folgte die Zeitschrift einer strikten Bündnis- und Aktionsorientierung, die auf den »Minimalkonsens« des Stationierungsstopps (»Krefelder Appell«) abzielte. Die publizistische Stärke, aber auch die subtile An- und Selbstbindung der Zeitschrift kam in diesem Wechselspiel von Dramatisierung und Disziplinierung paradigmatisch zum Ausdruck. Diese Form von »Minimaximalismus« kann geradezu als ein strategisches Framing begriffen werden, mit dem sich die sichtbare publizistische Vorder- und die weniger einsichtige organisatorisch-finanzielle Hinterbühne der Blätter-Konstruktion verknüpfen ließ. Als »Orientierungsorgan« der Friedensbewegung konnten sich die Blätter eine breite öffentliche Resonanz verschaffen. Zugleich war es umso schlüssiger, wenn sie sich angesichts der Brisanz und des Aktionsdrucks der anstehenden »Überlebensfragen« allen jenen – meist »innersozialistischen« – Themen verschlossen (dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan oder der Polenkrise), die von diesen Kern- und Aktionszielen »ablenken« konnten. Galt das für die Nachrüstungsdebatte im Kleinen, so war es auch das generelle Redaktionsprinzip, sich »antikommunistisch« ausbeutbarer Themen zu enthalten;32 ein Argumentations-

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prinzip, das jedenfalls nicht dazu führte, die Förderungswürdigkeit des Blattes in Ost-Berlin aufs Spiel zu setzen. Unter den Vorzeichen von Staatskritik und Bewegungsdemokratie ergaben sich auf dieser Ebene vielfältige Anknüpfungen an die im Umkreis der Friedensbewegung verhandelten Themen – zur Existentialisierung des Politischen mit ihrem impliziten Wahrheitspathos; zum rousseauistischen Impuls einer verbreiteten Kritik des Repräsentationsprinzips; zur romantischen Staatsauffassung, die sich am Formalgedanken prozeduraler Legitimationserzeugung rieb. Gleichwohl wurden solche intellektuellen Affekte im Zaum gehalten durch eine realpolitische Nüchternheit, die beispielsweise dazu führte, die unausgeschöpften Potentiale einer angesichts der Gattungs-, Zukunfts- und Menschheitsfragen strittig gewordenen »Mehrheitsdemokratie« für wichtiger zu nehmen als das Erörtern ihrer »Grenzen«. Daran war ein konkurrierendes Staatsverständnis nicht unschuldig. B. Der instrumentalistischen Staatsauffassung stand eine andere Sicht zur Seite, die den demokratischen Staat als Konzentrat des Politischen mit eigenständigen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet sah, dessen Bindung an das und Übersetzung aus dem Reich der Systemzwänge keineswegs so eindeutig und gradlinig war, wie es in der ersten Sicht erscheinen mochte. Gewiss fiel es zunächst schwer, sich mit den Attributen einer bundesdeutschen Staatsräson anzufreunden, die Helmut Kohl 1983 demonstrativ mit dem atlantischen Bündnis verknüpft hatte, aber die Blätter näherten sich allmählich der Einsicht in die komplexen Bedingungsgefüge staatlichen Handelns wie in die Vorzüge einer multilateralen Einbindung der Bundesrepublik.33 In dieser Perspektive widersprach die Zeitschrift der verbreiteten Kritik an den Souveränitätsdefiziten des Staats und insistierte darauf, dass souverän über Vollzug oder Ablehnung der Raketenstationierung entschieden werden könne und müsse. Diese und ähnliche Positionen hoben sich von jenem »schwachen Staatsbegriff« ab, der für die Debatte der 1980er Jahre diagnostiziert worden ist. Eigenstruktur, Selbstbindung, Akteursrelevanz und Alternativität – das waren die vier Bestimmungen dieser Staatsauffassung, die über ein allein taktisch oder realpolitisch motiviertes Verständnis hinausgingen.34 Darin zeigten sich

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Wirkungen der zeitgenössischen Debatte über den »Eurokommunismus« und Korrespondenzen mit der wenig später beginnenden Reformpolitik der Gorbatschow-Ära. Die Erdung des Staatsbildes hatte sich hier verändert, und das war umso bedeutsamer, als diese Bestimmungen nicht mehr (nur) ein machtpolitisch-instrumentelles Selbstverständnis zum Ausdruck brachten, sondern sich als Ergebnisse einer verfassungspolitischen (Selbst-)Aufklärung verstehen ließen. Die Eigenarten dieser intellektuellen Transformation lassen sich am besten illustrieren, wenn man sie zur zeitgenössischen Rezeption des von Dolf Sternberger in die Diskussion gebrachten Begriffs des »Verfassungspatriotismus«35 in Beziehung setzt und als einen milieuspezifischen Versuch analysiert, fundamentaloppositionelle Ansichten mit einem republikanischen Selbstverständnis in Übereinstimmung zu bringen. Das zeigte sich zunächst in der verfassungspolitischen Verortung patriotischer Zugehörigkeit. Die Zeitschrift bezog sich hier exklusiv auf die real existierende »Staatsnation« in den Grenzen von 1949 (nicht 1937) – stand damit im Widerspruch nicht nur zum herrschenden verfassungspolitischen Konsens der »Fortbestands- und Kernstaatstheorie«, sondern auch zu jenen Stimmen in der bundesdeutschen Linken, die um die Wende zu den 1980er Jahren die »deutsche Frage« zu thematisieren begann, und zu jenen Kräften innerhalb die Friedensbewegung, die mit nationalpolitischer Geste deutsch-deutsche Standortfragen aufwarfen.36 Wenn die Blätter dazu auf Abstand gingen, klang darin natürlich das Echo der alten »Anerkennungspartei« aus den 1960er Jahren nach, die Werbung machte für die »Normalisierung der Beziehungen« zwischen den beiden deutschen Staaten. Aber es ging um mehr als parteipolitische Auftragstaktik oder innerdeutsche Realpolitik. Diese Haltung verstand sich als Ausdruck eines aufgeklärten westeuropäischen Verständnisses von Verfassungsstaatlichkeit, das sich nach Auffassung der Blätter in der bundesdeutschen Außen- wie Innenpolitik erst noch durchsetzen musste, um den Status westlicher Verfassungsnormalität zu erlangen. Die »Verwestlichung« und »Westorientierung«, die sich in der intellektuellen Entwicklung des Blätter-Milieus beobachten ließ, ist also hinsichtlich der Selbstbeschreibung der Akteure mit dem

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Topos einer »Ankunft im Westen« nur unvollständig erfasst. Denn in der nicht unbescheidenen Sicht der Vordenker im BlätterKosmos stellten sich die Verhältnisse geradezu umgekehrt dar. Sie selbst verstanden sich als Anwälte einer westlichen »Staatsnormalität«, die sie der bundesdeutschen Staatlichkeit (und ihren demokratischen Vorläufern) nur bedingt einzuräumen bereit waren und die daher jene besagte »Umgründung« der Republik voraussetzte. Auf diese Weise ließen sich Verfassungsfreundschaft und Radikalkritik unter einen Hut bringen. Solche Anwandlungen schlugen sich beispielsweise auch in einem veränderten Wortgebrauch nieder. War früher das angestrebte »breite Bündnis« mit einem ironisch gegen die Politik der Abgrenzung gewendeten »Volksfront«-Vokabular umschrieben worden,37 betrachteten die Blätter sich nun als Teil eines – vom italienischen Vorbild abgezogenen – bundesdeutschen »Verfassungsbogens«. Das war eine Nuancierung, die wiederum eine Rezeption der zeitgenössischen Eurokommunismus-Debatte erkennen ließ, ohne indessen ausdrücklich auf solche innerkommunistischen Kontroversen Bezug zu nehmen. Folgenreicher als der veränderte Sprachgebrauch war die stillschweigende intellektuelle Transformation der ja weiterhin bestehenden parteipolitischen Bindungen, so dass sich das verfassungspolitische Argument letztlich als Kippfigur erwies. Dies zeigte sich darin, wie über die Rolle einer »Opposition aus Prinzip« (Kirchheimer) gedacht wurde.38 Sie galt als unverzichtbar für das Funktionieren bürgerlicher Verfassungsstaatlichkeit, denn – wie Helmut Ridder argumentierte – nur eine radikale (in traditioneller Lesart: sozialistisch-kommunistische) Alternative erhalte »das Bewusstsein davon lebendig, dass jeder politische und ökonomische Status quo sich damit bescheiden muss, nur die Alternative eines verfassungsmäßig erreichbaren Besseren zu sein«.39 Die Pointe der darin verborgenen Umadressierung bestand darin, dass zwar einerseits die bestehenden politischen Loyalitäten bekräftigt, anderseits aber der Erwartungshorizont so weit geöffnet wurde, dass im Grunde jegliche sich intellektuell ausweisende Radikalkritik zum Essential einer funktionierenden Demokratie erklärt werden konnte.

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Ende gut, alles gut? Staatsanerkennung durch Grundsatzkritik Was war das Ergebnis? Vereinfacht gesagt, während die Blätter bis in die 1970er Jahre eine, wie es damals gern hieß, »kryptokommunistische« Bündnis-Zeitschrift gewesen waren, die einem weiten Kreis von Autoren offen stand, verwandelten sie sich in dem hier betrachteten Zeitraum allmählich in eine Zeitschrift, in der – natürlich – auch kommunistische bzw. marxistische Autoren schrieben,40 die sich aber vor allem um Positionen bemühte, die auf dem oppositionellen politischen Markt anschlussfähig waren. Systemkritik, die jedenfalls für den kommunistischen Kern des west-östlichen Blätter-Milieus weltanschauliches Credo und politischer Zweck gewesen war, verwandelte sich in ein schlichtes Attribut des – wie Ridder einmal lakonisch notierte – »Gebrauchmachens von Grundrechten«.41 Und »Selbstanerkennung«, von den Blättern als Zielprojektion verfassungsstaatlicher Normalität der Bundesrepublik konzipiert,42 offenbarte eine Kehrseite, die sich in einer veränderten Selbstthematisierung der Kritikerposition zeigte. In Anlehnung an Michael Walzer kann man dies als Übergang von einer »externen« zu einer »internen« oder »verbundenen« Haltung beschreiben.43 Ende gut, alles gut? Wenn hier von einer intellektuellen Kippfigur gesprochen worden ist, so besagt das nichts anderes, als dass der letzte entscheidende »Sprung ins Offene« immer noch ausstand. Denn die innere (intellektuelle) Kündigung zog die Annullierung des ost-westlichen Verbundes nicht automatisch nach sich; dazu waren die beschriebenen Distanzierungen viel zu subtil und dezent. Die andere Seite eines ernüchterten und vielseitiger gewordenen Redaktionsprogramms bestand schließlich auch darin, die Mechanismen der Selbstverleugnung des Hintergrundkonsenses und der Selbstüberschätzung der vermeintlichen redaktionellen Gestaltungsfreiheit aufrechtzuerhalten. Bildlich gesprochen kann man sagen, während in den ersten Jahrzehnten Kommunisten ohne Parteibuch – die so genannten »Panzerschrankkommunisten« – die Geschäfte der Zeitschrift führten, saßen nun ehemalige Kommunisten mit Parteibuch – »Weltanschauungsverlierer« – auf den gleichen Sesseln.44 Ratifiziert wurde dieser Ablösungsprozess

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erst mit dem Zusammenbruch des SED-Staats. Die Blätter hatten sich zwar 1988 mittels Gründung einer unabhängigen BlätterGesellschaft GbR« gegen etwaige politische Übergriffigkeiten der »befreundeten« Parteien abgesichert,45 aber der endgültige Schritt in die Unabhängigkeit erfolgte erst 1990, als es gelang, die Zeitschrift aus der Konkursmasse des Pahl-Rugenstein Verlags herauszulösen und in eine eigene Blätter-Verlagsgesellschaft zu überführen.46 Die Auseinandersetzung um die Nachrüstung, die sich als Indikator und Triebkraft tiefgehender Konsenskrisen im Staatsverhältnis der Oppositionsbewegungen (und darüber hinaus) begreifen lässt, führte zu ambivalenten Ergebnissen. Sie bestärkte jene Staatsdistanz, die bereits in den Debatten der 1970er Jahre herangewachsen war; sie illustrierte, wie fragil das institutionelle Staatsverständnis in den neuen sozialen Bewegungen und bei ihren intellektuellen Sprechern war; sie beförderte jene antietatistischen Staatswahrnehmungen, die sich in Basisbewegungen und der Erfolgsgeschichte der »Grünen« niederschlugen, um noch heute in einem Staatsbild ohne Staat den wissenschaftlichen Diskurs über Zivilgesellschaft oder Politikbegriff zu prägen; sie hatte aber auch das paradoxe Resultat einer Staatsanerkennung durch Grundsatzkritik, als deren Medium die verfassungspolitische Selbstaufklärung intellektueller Akteursgruppen (hier am Beispiel des Spezialfalls der Blätter) verstanden werden kann. Die Blätter stehen in diesem Zusammenhang für eine vergleichsweise staatsfreundliche Transformation des zweiten Haltungsmodells (Grundsatzkritik minus Dauervorbehalt), ohne die Affirmationen des ersten Modells schlichtweg zu wiederholen. Wenn man das ironisch als einen Sonderweg nach Westen bezeichnen kann, so wirft gerade dieser Fall grundsätzliche Fragen nach den normativen Implikationen, Spannweiten und Grenzen einer Idee des Westens, der Verwestlichung oder der Westernisierung auf.47 Insofern bilden die Ambivalenzen und Aporien von Staatlichkeit, die im Zuge der Nachrüstungsdebatte wahrgenommen und artikuliert wurden, nur Vorboten jener Krisen des Staatsgedankens, die sich im Kontext der in den späten 1980er Jahren so bezeichneten »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) ankündigten und heute mit den Schlagworten der »Klimakatastrophe« oder der »Globalisierung« versehen werden.

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Anmerkungen 1 Jan Hansen danke ich für seine Zu- und Mitarbeit an diesem Beitrag; Carlo Bredthauer, Bernd Greiner, Karl-Heinz Heinemann, Wolfgang Kraushaar und Detlef Siegfried für ihre Diskussionsbereitschaft. 2 Zit. n. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, Stuttgart 2006, S. 99. 3 Dieter Hummel u. a. (Hg.), »Kein Staat mir diesem Staat?« Freiheitsrechte, Repression und staatliche Hilfe in der Demokratie. Kongreß in Bielefeld, 30. 5.–1. 6. 1986. Beiträge zur Vorbereitung, AStA-Eigendruck: Bielefeld 1986. 4 Vgl. u. a. das Spiegel-Streitgespräch »Ist dieser Staat unser Staat?«, Der Spiegel, Dez. 1985; »Gewalt – Monopol und Einzelhandel«, in: Freibeuter 25 (1985) und 26 (1986); das Themenheft »Unser Staat?«, in: beiträge zur feministischen theorie und praxis 13 (1985); »Führen alle Wege zum Staat?«, Vorgänge 9 / 1985; »Anarchistische Staatskritik«, in: graswurzelrevolution, April 1986. 5 Vgl. die Belege bei Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen, Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland seit den siebziger Jahren, Köln 1990, S. 33 ff. 6 Ridder war seit 1962 Mitherausgeber der Zeitschrift. Vgl. Helmut Ridder, Die Bundesrepublik: Was für eine Demokratie ist das? In: Blätter 4 / 1985, S. 430–441. 7 Umgekehrt können diese Grundentscheidungen als Ausdruck einer »schubweisen Staatsgründung« gesehen werden, die erst mit den Ostverträgen und der KSZE-Akte 1975 zu einem gewissen Abschluss kam. Vgl. Arnulf Baring, Gründungsstufen, Gründungsväter. Der lange Weg der Bundesrepublik Deutschland zu sich selbst, in: Merkur 5 / 1979, S. 424– 431; als kritische Pointierung vgl. Ulrich Albrecht, Die dreimal nach rechts gegründete Republik. Zur Entwicklung des Militärpotentials der Bundesrepublik, in: Blätter 7 / 1979, S. 781–800. 8 So Clemens Albrecht, Schwanengesänge auf den Staat. Die Frankfurter Schule und ihre Bundesrepublik, in: Vorgänge 1 / 2007, S. 31–39, im Anschluss an Heinz Bude. 9 Vgl. Jan-Werner Müller, Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity, New Haven / London 2000. 10 Als zeitgenössisch eingefärbtes Gruppenporträt intellektueller Haltungen zur Bundesrepublik vgl. den programmatischen Titel von Peter Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985. 11 Vgl. Joachim Hirsch, Der Sicherheitsstaat. Das »Modell Deutschland«, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, Frankfurt / M. 1980. 12 Vgl. Holger Nehring, Der eigensinnige Bürger. Legitimationsstrategien im politischen Kampf gegen die militärische Nutzung der Atomkraft in der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre, in: Habbo Knoch (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 118–137.

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13 Vgl. Bernd Guggenberger / Claus Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1984. 14 Vgl. Horst Meier, Parteiverbote in der demokratischen Republik, BadenBaden 1995; Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und innere Sicherheit, Opladen 1991; Ulrich Rödel / Günter Frankenberg / Helmut Dubiel (Hg.), Die demokratische Frage, Frankfurt / M. 1989, S. 166 ff.; in zeitgenössischer kritischer Wahrnehmung vgl. Ulrich K. Preuß, Legalität und Pluralismus, Frankfurt / M. 1973. 15 Vgl. Thomas Leif, Die strategische (Ohn-)Macht der Friedensbewegung. Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen in den achtziger Jahren, Opladen 1990. 16 So Jeffrey Herf, War by Other Means: Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles, New York 1991. 17 Vgl. Albrecht, Schwanengesänge. 18 Vgl. Blätter 1 / 1956; zur Geschichte der Zeitschrift vgl. das ausführliche Editorial und die Beiträge der Jubiläumsausgabe zum fünfzigsten Jahrgang in: Blätter 11 / 2006. Zum politischen Milieu vgl. den Parallel- und Vergleichsfall der »Deutsche Volkszeitung« (DVZ), dazu Dirk Mellies, Trojanische Pferde der DDR? Das neutralistisch-pazifistische Netzwerk der frühen Bundesrepublik und die Deutsche Volkszeitung, 1953–1973, Frankfurt / M. / New York 2007. Zum Generationenprofil der Gründer vgl. die Beobachtungen bei Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle im westlichen Deutschland (1945–1956), in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 258–288, hier S. 270 ff. 19 Zur SED-Sicht des Verlagsprofils mit einem »linksliberal antiimperialistischen Anstrich« und »kritisch-liberalen, links-sozialdemokratischen oder allgemein-demokratischen Positionen« vgl. das Schreiben Albert Nordens an Erich Honecker vom 30. 5. 1978, zweite Anlage (SAPMO-BA, DY 30 / IV B 2 / 2.028 / 11, Bl. 110). 20 Mit Blick auf die KPD / DKP hat Hans-Peter Müller zutreffend von einer »eigenartigen Sondersituation« gesprochen, die »eine Art gesamtdeutscher Option« bewahrt habe. Vgl. Hans-Peter Müller, Die Westarbeit der SED am Beispiel der DKP, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Baden-Baden 1995, S. 1868–1926, hier S. 1869. 21 Diese Implikationen des Bestehens auf dem nicht-marxistischen Zuschnitt der Blätter übersieht Wolfgang Kraushaar, Unsere unterwanderten Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 4. 1998, S. 45, in seiner Interpretation des Besprechungsprotokolls über »die Beratung vom 6. Januar 1969 zu Problemen der ›Blätter für deutsche und internationale Politik‹« im Arbeitsbüro Norden (SAPMO-BA, DY 30 / IV 2 / 10.03 / 133, Bl. 149–154). 22 Die Blätter hatten eine Abonnentenziffer von ca. 12.–13.000 (1980 / 81), vergleichbare Zeitschriften wie die Frankfurter Hefte gaben 5.000 (1983), die Vorgänge 4.500 (1983), die Kommune 7.500 (1983) und die Neue

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Gesellschaft 6.500 (1983) als Auflagenhöhe an. Vgl. die Nachweise in: Ulrich ’ s international periodicals directory. New York 221983, sowie persönliche Auskünfte. Vgl. Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 342; zum KOFAZ vgl. Richard von Hüllen, Der »Krefelder Appell«, in: Jürgen Maruhn / Manfred Wilke (Hg.), Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Friedensbewegung. München 2001, S. 216–253. Zu Ridder (1919–2007) vgl. Helmut Ridder im Gespräch mit Joachim Perels, Stationen im Leben eines Juristen, in: Neue Politische Literatur 3 / 2005, S. 365–382; Ekkehart Stein / Heiko Faber (Hg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für Helmut Ridder, Neuwied / Frankfurt / M. 1989; unbefriedigend Frieder Günther, Denken vom Staat her, München 2004, bes. S. 94 f. Zum Normalitäts-Topos vgl. schon Ridder, »Das Notwendige so früh wie möglich zu tun …«, in: Deutsche Volkszeitung vom 27. 11. 1975. Ein vergleichbarer unterschwelliger Dissens – auch mit Wolfgang Abendroth – bestand hinsichtlich der »Sozialstaats-Klausel« des Grundgesetzes. Vgl. das Editorial, in: Demokratie und Recht 4 / 1984. Dazu Frank-Walter Steinmeier u. a., »Das ganze Deutschland soll es sein«, Blätter-Sonderdruck 371, Bonn 1990 (der Beitrag war aus Umfangsgründen nicht in der Zeitschrift abgedruckt worden): »Es führt keine demokratische Brücke von der Verfassung der BRD zur Verfassung des neuen Deutschland.« (ebd. S. 39). Ridder legte im Zuge eines Streits um die Verleihung des DemokratiePreises der Blätter an Daniel J. Goldhagen (vgl. Blätter 4 / 1997) seine Mitarbeit im Herausgeberkreis nieder. Beide Hefte entstanden unter der redaktionellen Regie d. Verf. Aktennotiz über die Beratung am 6. 1. 1969 zu Problemen der Blätter für deutsche und internationale Politik. (Arbeitsbüro Albert Norden, Politbüro des ZK der SED), SAPMO-BA, D Y 30 IV 2 / 10.03 / 133, Bl. 149–154, hier Bl. 149. Wieweit dieses instrumentalistische Staatsverständnis in die (partei-)politische Kultur der damaligen Bundesrepublik hineinreichte, dokumentierte die Programmdebatte um den sog. »Orientierungsrahmen 85« der SPD. Vgl. dazu Wilhelm Hennis, Organisierter Sozialismus. Zum »strategischen« Staats- und Politikverständnis der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977. Es gebe »Arbeit genug im eigenen Land« lautete beispielsweise die redaktionelle Antwort auf die Herausforderungen der menschen- und grundrechtlichen Proklamationen im berühmten »Korb 3« des KSZE-Vertrags; vgl. Blätter 2 / 1978, S. 142 ff. Natürlich fand die dritte Zweckbestimmung des NATO-Bündnisses, die dessen erster Ratssprecher Lord Ismay formuliert hatte, den größten Zuspruch: »to keep the Germans down.« (Dass damit das Bündnis auch Züge eines »Systems kollektiver Sicherheit« und nicht nur eines Verteidigungsbündnisses trug, entging sogar einem scharfsinnigen Kritiker wie Ridder.)

Nachrüstung und Selbstanerkennung

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34 Wie es traditionell in den Beratungen mit der SED in den 1960er Jahren propagiert worden war. Vgl. »Zur Situation der Zeitschrift B. Aussprache mit P. N. am 7. 12. 1963« (SAPMO-BA, BY 1 / 4143, o. B.). 35 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 5. 1979. 36 Vgl. Herbert Ammon / Peter Brandt (Hg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek 1981; Dan Diner, Die »nationale Frage« in der Friedensbewegung. Ursprünge und Tendenzen, in: Reiner Steinweg (Red.), Die neue Friedenbewegung. Analysen aus der Friedensforschung, Frankfurt / M. 1982, S. 86–112. 37 Noch die »Stoppt-Strauß-Kampagne« der Zeitschrift war 1979 voll von »Volksfront«-Appellen. 38 Vgl. Otto Kirchheimer, Wandlungen der politischen Opposition (1957), in: ders., Politik und Verfassung. Frankfurt / M. 1964, S. 123–150, hier S. 130 ff. 39 Ridder, Die Bundesrepublik, S. 439. 40 Nahmen solche Ansinnen Überhand, pflegte man sie in der Redaktion mit der Bemerkung zu ironisieren, der Beitrag kommunistischer Autoren habe im Rahmen ihrer parlamentarischen Repräsentanz zu verbleiben. Zum politischen Milieugefühl eines »Totalitarismus light« vgl. etwa Stephan Wackwitz, Neue Menschen. Bildungsroman, Frankfurt / M. 2005, bes. 237 ff.; ders., Der Sound der großen Brüder: Merkwürdiges Wiedersehen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20. 5. 2007, S. 38. 41 Helmut Ridder, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes, in: Das Argument, SH 32, Berlin 1979, S.15. 42 Vgl. exemplarisch Klaus Naumann, Selbstanerkennung. Nach 40 Jahren Bundesrepublik: Anstöße zur Bewältigung einer »Erfolgsgeschichte«, in: Blätter 9 / 1988, S. 1046 ff. 43 Vgl. Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn, Berlin 1990, bes. S. 43 ff. (»Die Praxis der Gesellschaftskritik«). 44 Vgl. zur Differenz von ehemaligen und Ex-Kommunisten: Klaus Naumann, Hannah Arendt und die Ex-Kommunisten. Ein Text von Hannah Arendt (Kommentar), in: Mittelweg 36 2 / 1993, S. 30–40. 45 Mitte der 1980er Jahre setzten, offenbar aus finanziellen Gründen, Konzentrationsprozesse im Verbund der »befreundeten« Verlage ein. Weltkreis- und Röderberg-Verlag wurden mit prv fusioniert; später wurde erwogen, den Verlag unter das Dach des parteieigenen Plambeck-Verlags aufzunehmen. Vgl. die Rede Neuhöffers vor der erweiterten Belegschaft, Januar 1987 (Privatarchiv), sowie die Erklärung zur Gründung der »Blätter-Gesellschaft«, in: Blätter 10 / 1989, S. 1181 f. 46 In den Blättern der 1990er Jahre vermag ich beim besten Willen keine »spätkommunistische Gruppierung« am Werk zu sehen; so aber Paul Nolte, Jürgen Habermas und das bundesrepublikanische Geschichtsgefühl, in: Ästhetik und Kommunikation, 122 / 123, 2004, S. 21–29, hier S. 25. 47 Vgl. Philipp Gassert, Ex Occidente Lux? Der Westen als nationaler Mythos, in: Vorgänge 2 / 2001, S.15 ff.

Die Autoren Riccardo Bavaj, geb. 1976, lehrt Europäische Geschichte an der University of St. Andrews (Schottland) und veröffentlichte zuletzt: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Berlin 2005. Frank Bösch, geb. 1969, ist Professor für Fachjournalistik Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Jüngste Veröffentlichung: Die Politik der Sensationen. Skandale im Kaiserreich und viktorianischen Großbritannien, München 2008. Dominik Geppert, geb. 1970, ist Heisenberg-Stipendiat der DFG und lehrt als Privatdozent Neuere / Neueste Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zuletzt ist von ihm erschienen: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007. Rüdiger Graf, geb. 1975, lehrt als Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum. Aktuelle Publikation: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. Jens Hacke, geb. 1973, Historiker und Politikwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zuletzt erschienen: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Hans Jörg Hennecke, geb. 1971, Politikwissenschaftler und Heisenberg-Stipendiat der DFG, lehrt als Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen. Letzte Buchveröffentlichung: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005.

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Autoren

Helmut König, geb. 1950, ist Professor für Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und publizierte zuletzt: Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik, Frankfurt / M. 2003. Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, arbeitet als Politikwissenschaftler und Zeithistoriker am Hamburger Institut für Sozialforschung. Jüngst erschien: Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008. Daniela Münkel, geb. 1962, lehrt als Privatdozentin Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hannover und publizierte zuletzt: Willy Brandt und die vierte Gewalt. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt / M. 2005. Klaus Naumann, geb. 1949, ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung und veröffentlichte zuletzt: Generale in der Demokratie. Generationengeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007. Holger Nehring, geb. 1974, lehrt Europäische Zeitgeschichte an der University of Sheffield in England und veröffentlichte zuletzt: The Politics of Security. The British and West German Protest against Nuclear Weapons and the Social History of the Cold War, Oxford 2008. Jörg Requate, geb. 1962, Historiker, lehrt als wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent an der Universität Bielefeld. Aktuelle Publikation: Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt / M. 2008. Joachim Scholtyseck, geb. 1958, ist Professor für Neuere / Neueste Geschichte an der Universität Bonn und veröffentlichte unter anderem: Die Außenpolitik der DDR, München 2003.