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German Pages 428 [430] Year 2013
studien zu literatur und erkenntnis band 5
studien zu literatur und erkenntnis band 5
christian vogel
vogel Stoische Ethik und platonische Bildung
isbn 978-3-8253-6266-9
5 Stoische Ethik und platonische Bildung
ie stoische Philosophie steht in ihren grundsätzlichen Annahmen zur Erkenntnistheorie, zur Ontologie und zur Psychologie dem Platonismus diametral entgegen. Wenn mit Simplikios ein Philosoph der neuplatonischen Schule das Werk eines Stoikers durch eine ausführliche Kommentierung würdigt und diesem im Curriculum des Philosophieunterrichts einen Platz einräumt, scheinen sich die gängigen Vorurteile gegen den Neuplatonismus als eine alles vereinnahmende und harmonisierende Philosophie zu bestätigen. Ein Blick auf das Bildungsverständnis des Neuplatonismus und den in den Texten ausführlich reflektierten erkenntnistheoretischen Grundlagen bietet jedoch Anlass sowohl zur Skepsis gegenüber diesen Vorwürfen als auch zu einer differenzierten Untersuchung des Verhältnisses von platonischer und stoischer Ethik in der Spätantike. Am Beispiel von Simplikios’ Kommentar zum Handbüchlein der Moral des Epiktet soll im vorliegenden Buch die Möglichkeit der Verwendung stoischer Texte als Vorbereitung für den Einstieg in das neuplatonische Bildungsprogramm dargelegt und begründet werden, ohne dass der Einsatz dieser Texte zu einer Vermischung der stoischen mit den platonisch-aristotelischen Theorien führt. So liefert Simplikios mit seinem Kommentar eine wissenschaftliche Ethik des Neuplatonismus, die mit der Darlegung und Beschreibung der Anweisungen Epiktets dem Unkundigen sowohl einen ersten Zugang in das philosophische Leben bietet als auch mit seinen weiterführenden Kommentierungen die rationalen Begründungen dieser Handlungsaufforderungen offenlegt.
vogel
Stoische Ethik und platonische Bildung Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Handbüchlein der Moral
Druckfarben cyan magenta gelb schwarz
Universitätsverlag
win t e r
Heidelberg
stu d i en zu literat ur u n d erken n tn is Herausgegeben von
j oachim küpp er g yburg radk e-uhlma n n a rbo g as t schm itt g reg o r vogt -s pira Band 5
christian vogel
Stoische Ethik und platonische Bildung Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Handbüchlein der Moral
Universitätsverlag
w i n ter Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
umschlagbild Ausschnitt aus: Antrum Platonicum – Stich von Jan Saenredam nach einem Ölgemälde von Cornelis van Haarlem. © The British Museum
isb n 978-3-8253-6266-9 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o13 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
Meiner Frau, meinen Kindern und meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Monographie stellt das Ergebnis meiner im Rahmen des von Frau Prof. Dr. Gyburg Uhlmann an der Freien Universität Berlin geleiteten Leibnizprojektes ‚Platonismus‘ angestellten Forschungen dar und wurde im Sommer 2012 unter dem Titel „Zum Verhältnis von platonischer und stoischer Ethik in der Spätantike: Simplikios‘ Kommentar zum Handbüchlein der Moral des Epiktet“ vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Den größten Dank möchte ich meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Gyburg Uhlmann für ihre Betreuung, ihre Förderung und vor allem für ihr Vertrauen aussprechen, welches mir erst die intensive und erkenntnis- sowie glückbringende Beschäftigung mit der antiken Philosophie und Literatur im Umfeld der von ihr am Lehrstuhl geleiteten Forschergruppen ermöglichte. Auch den Druck dieser Arbeit hat sie mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss aus ihren Leibnizpreisgeldern maßgeblich unterstützt. Ebenfalls zu großem Dank bin ich Herrn Prof. Dr. Arbogast Schmitt verpflichtet, der nicht nur die Erstellung des Zweitgutachtens übernahm, sondern mir auch jederzeit bei Fragen und Problemen in allen Belangen zur Seite stand. Die vielen aufschlussreichen Diskussionen mit Sandra Erker, Wolfgang Hoyer und vor allem mit Dr. Michael Krewet gaben meiner Arbeit entscheidende Impulse, für die ich ebenso von Herzen danke wie für die vielen Hinweise und sprachlichen Korrekturen durch Klaus Degen, Judith Kretzschmann und meine Frau Gina Madeleine Vogel. Schließlich bedanke ich mich bei den Herausgebern Herrn Prof. Dr. Joachim Küpper, Frau Prof. Dr. Gyburg Uhlmann, Herrn Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira und Herrn Prof. Arbogast Schmitt für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe ‚Studien zu Literatur und Erkenntnis‘ und bei Herrn Dr. Barth vom Universitätsverlag Winter in Heidelberg für die hervorragende Unterstützung bei der Drucklegung. Widmen möchte ich das Buch meiner Familie: meinen Eltern, die mich stets nach allen Kräften unterstützt haben, meinen Kindern, die mich in ungeahntem Maße glücklich machen und vor allem meiner Frau, dem „Jackpot meines Lebens“.
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung 1.1 Neuplatonischer Schmelztiegel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungen zum Epiktetkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 6 18
2 Theoretische Vorbesprechung 2.1 Erkenntnistheoretischer Hintergrund bei Simplikios . . . . . . . . 2.1.1 Inhalte und Gegenstände der Erkenntnis bei Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Erkenntnisvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Von der Propädeutik zur Wissenschaft . . . . . . . . . . . 2.1.4 Tugendgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bildung und Philosophie bei Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Eckpunkte der Epiktetschen Philosophie . . . . . . . . . . 2.2.2 Stoische Grundannahmen in Epiktets Philosophie . . . . . 2.2.3 Wege der Bildung bei Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Theorie und Praxis bei Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Anagogie bei Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ethik bei Simplikios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Erkenntnisgegenstände und Erkenntnisvermögen der wissenschaftlichen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Hilfs‚wissenschaften‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Formale Eignung des Handbüchleins für die Propädeutik . 2.3.4 Inhaltliche Eignung des Handbüchleins: stoische Apatheia als ‚zweitbeste Fahrt‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung der theoretischen Vorbesprechung . . . . . . .
19 19
3 Analyse des Kommentars 3.1 Das Proömium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 25 30 32 40 42 42 48 51 55 68 72 73 73 74 76 77 81 85 85
3.2
3.3
3.1.1 Erkenntnisgegenstand und Skopos . . . . . . . . . . . . . 85 3.1.2 Erkenntnisvermögen und Adressaten . . . . . . . . . . . . 89 3.1.3 Vorgehensweise bei der Analyse . . . . . . . . . . . . . . 94 Propädeutische Ethik für Anfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.1 Die Grundlagen der Seelenlehre in ontologischer, genealogischer und anthropologischer Perspektive als Begründung der Ethik – der Kommentar zum ersten Kapitel . . . 96 3.2.2 Glück und Unglück im Umgang mit Einzeldingen: die langsame Entwöhnung alter Verhaltensmuster . . . . . . . . . 134 3.2.3 Schulung des richtigen Unterscheidens bei Einzelgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.2.4 Über den richtigen Umgang mit kleinen Ärgernissen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2.5 Lenkung der Aufmerksamkeit von dem Ereignis auf die Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.2.6 Bildungsfortschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.2.7 Über den „naturgemäßen Gebrauch der Vorstellungen“ . . 164 3.2.8 Richtig Leben, um angemessen zu sterben . . . . . . . . . 169 3.2.9 Gottes Arztkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.2.10 Über die Unabhängigkeit der rationalen Vermögen von körperlichen Gebrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.2.11 Menschliche Potentiale (Dynameis) und deren Vervollkommnung (Aretai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.2.12 Eine Übung für den Umgang mit Verlusten . . . . . . . . 196 3.2.13 Möglichkeiten des Umgangs mit der Sorge um Verzicht . 200 3.2.14 Über das Streben nach Wissen und Anerkennung . . . . . 208 3.2.15 Über scheinbar gute Wünsche . . . . . . . . . . . . . . . 211 3.2.16 Das Gleichnis vom Leben als Gastmahl . . . . . . . . . . 214 3.2.17 Über das Mitleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.2.18 Das Gleichnis vom Leben als Schauspiel . . . . . . . . . 220 3.2.19 Einordnung von externem Unglück . . . . . . . . . . . . 222 3.2.20 Über den Umgang mit Neid (Phthonos) und Eifersucht (Zêlos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.2.21 Gewöhnung und Vorstellung als Weg und Mittel gegen emotionale Überreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Propädeutische Ethik für fortgeschrittene Anfänger . . . . . . . . 233 3.3.1 Die ersten Herausforderungen angehender Philosophen . . 234 3.3.2 Über die Irrelevanz des guten Rufs . . . . . . . . . . . . . 240 3.3.3 Die neuen Sorgen des fortgeschrittenen Schülers . . . . . 242 3.3.4 Neue Handlungsprinzipien: Erste Annäherungen an Gott . 255 3.3.5 Hinweise auf und Hindernisse für das richtige Meinen . . 260
3.4
3.5
3.6
3.7
3.3.6 Über das Schlechte (Kakon) . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Ableitung der Pflichten (Kathêkonta) . . . . . . . . . . . 3.4.2 Pflichten gegenüber den Göttern . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Pflichten gegenüber sich selbst in diversen gesellschaftlichen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Abwägen von Lüsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Eigene Erkenntnis vs. Mehrheitsmeinung . . . . . . . . . (Partielle) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Eigensinn vs. Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Gerechtes Streben nach gesellschaftlichen Funktionen . . 3.5.3 Die gerechte Ordnung von Seele, Körper und Besitz . . . 3.5.4 Erziehung durch angemessene Wertschätzung . . . . . . . 3.5.5 Training von Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.6 Ambiguität im Gegenstandsbereich der Ethik . . . . . . . 3.5.7 Das Ergon des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.8 Gerechte Verteilung von Lob und Tadel . . . . . . . . . . Ziele und Grenzen der Epiktetschen Ausbildung . . . . . . . . . . 3.6.1 Fehlende Schritte zur politischen Tugend . . . . . . . . . 3.6.2 Die drei Bildungszustände der Menschen . . . . . . . . . 3.6.3 Primat der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Funktion des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Der Abschluss des Handbüchleins: Ein ‚prayer to go‘ . . . 3.7.2 Das Abschlussgebet des Simplikios . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Die Funktion des Gebets im stoischen Denken . . . . . . 3.7.4 Die Funktion des Gebets im Platonismus . . . . . . . . . 3.7.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Schluss
264 283 283 299 322 331 334 335 336 341 342 344 345 346 347 349 352 352 356 360 366 366 369 370 376 382 386
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Stellenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
1 1.1
Einleitung Neuplatonischer Schmelztiegel?
Die von Karl Praechter in Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie verbreitete Ansicht, dass der Neuplatonismus ein harmonisierender Eklektizismus sei, der seine Gedanken aus den großen Schulen der Antike (ausgenommen der des Epikur) zusammensammelt und einer einheitlichen Anordnung unterstellt, deren Wesen wiederum Aspekte vieler Schulen enthält,1 prägt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das Bild dieser philosophischen Richtung. Das neuplatonische Verfahren bestehe demzufolge in einem wenig philosophische Erkenntnis fördernden „Zusammenstellen, Nummerieren, Einteilen und Rubrizieren.“2 So spricht auch Clemens Zintzen in seiner Einleitung zur Philosophie des Neuplatonismus von einer Einschmelzung zeitgenössischer religiöser Strömungen und Dogmatiken anderer Schulen in die neuplatonische Lehre3 oder verweist Matthias Gatzemeier in seinem Artikel zum Neuplatonismus in Jürgen Mittelstraß’ Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie auf die eklektizistische und synkretistische Übernahme epikureischer, stoischer, skeptischer, pythagoreischer und aristotelischer Theoreme in die eigene Schule, solange sie mit Platons Lehre verträglich gemacht werden könnten.4 Wenn nun mit Simplikios ein Philosoph der neuplatonischen Schule im sechsten nachchristlichen Jahrhundert5 das 1
2 3 4
5
Karl Praechter, Art. ‚Philosophie des Altertums‘, in: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 1, hg. von Karl Praechter, Darmstadt 1967, S. 590ff. Ebenda, S. 593. Clemens Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977, S. IXf. Matthias Gatzemeier, Art. ‚Neuplatonismus‘, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, hg. von Jürgen Mittelstrass, Stuttgart/Weimar 2004, Sp. 991–993. Angaben zu Simplikios’ Leben sind äußerst umstritten. Sehr wahrscheinlich ist, dass er im Jahr 480 in Kilikien geboren, in Alexandria von Ammonios und in Athen von Damaskios ausgebildet wurde und frühestens im Jahr 538 gestorben ist. Fraglich ist, wo und unter welchen Umständen er nach der Schließung der platonischen Akademie in Athen durch Justanian und seiner Emigration nach Persien wirkte und seine Texte verfasste: Ob er sich niederließ und eine eigene Schule gründete (so die berühmte These von Michel Tardieu, vgl. Michel Tardieu, Les paysages reliques: routes et haltes syriennes d’Isidore à Simplicius, Louvain u.a 1990, dazu auch Rainer Thiel, Simplikios und das Ende der neuplatonischen Schule in Athen, Stuttgart 1999 und Ilsetraut
2
EINLEITUNG
Werk eines Stoikers durch eine ausführliche Kommentierung würdigt und damit der stoischen Philosophie, die dem (Neu-)Platonismus in grundsätzlichen Annahmen zur Erkenntnistheorie, zur Ontologie, zur Psychologie diametral entgegensteht, im Curriculum des Philosophieunterrichts einen Platz einräumt, scheint sich der Eindruck zu bestätigen, dass hier verschiedene Dogmatiken schlicht einverleibt würden. Doch stehen der ungenauen Rede von der Verschmelzung und Harmonisierung, von dem Eklektizismus und Synkretismus auch Arbeiten gegenüber, die sich mit dem Aspekt der neuplatonischen Philosophie befassen, der den Fokus auf die anagogische, Schritt für Schritt zur Erkenntnis führende Methode des neuplatonischen Philosophieverständnisses legt und damit Erklärungsansätze für ein differenziertes Verständnis der verschiedenen Grundlagen liefert. Philosophieunterricht in der Spätantike Der Weg eines Schülers in die Philosophie erfolgte demnach nicht ungelenkt und willkürlich. Zentrum war die Lektüre von Platondialogen in einer bestimmten Reihenfolge, durch die der Schüler kontinuierlich zur Ausdifferenzierung seiner Erkenntnisvermögen angeregt werden sollte. Um die notwendigen Grundlagen und Voraussetzungen für diese Erkenntnisse zu erhalten, etablierten sich Gattungen, die vor der Lektüre der Dialoge die Schüler in die notwendige Verfassung versetzen sollten. Zuerst sind hier die Philosophenviten zu nennen, die, anstatt von Begriffen und Allgemeinheiten auszugehen, exemplarische Einzelfälle herausgreifen, um die vollendete Verwirklichung der dem Menschen seinem Wesen nach grundsätzlich zukommenden seelischen Möglichkeiten an einem einzelnen Menschen zu präsentieren und von dort in ersten Schritten zu den zugrunde liegenden, leitenden Prinzipien zu gelangen.6 Es folgen ‚protreptische‘ Schriften, die eine allgemeine Ein- und Hinführung zur Philosophie, d. h. zur Suche nach bestimmter Erkennt-
6
Hadot, Introduction Générale, in: Ilsetraut Hadot (Hg.), Commentaire sur le Manuel d’Épictète, Leiden/New York/Brill 1996, S. 1–182, hier: S. 28–50. Geschwächt wird die These u. a. von Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early ’Abb¯asid Society (2nd-4th/8th-10th centuries), London [u.a.] 1998 und Robin Lane Fox, Harran, the Sabians and the late Platonist "movers", in: Andrew Smith (Hg.), The Philosopher and Society in Late Antiquity, Swansea 2005, S. 231–244), umherzog oder später nach Athen zurückkehrte, ist ungewiss. Vgl. überblicksweise zu den Positionen Edward Watts, Where to Live the Philosophical Life in the Sixth Century? Damascius, Simplicius, and the Return from Persia, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 45, 2005, S. 285−315, sowie Han Baltussen, Philosophy and Exegesis in Simplicius. The Methodology of a Commentator, London 2008, S. 12–14 und S. 48–51. Vgl. Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 12–28.
Neuplatonischer Schmelztiegel?
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nis überhaupt und zur platonischen Philosophie im Besonderen, bieten.7 Auf einer Zwischenstufe zwischen den Ein- und Hinführungsschriften, die zum Teil als direkt dem Kommentar vorangestellter Teil auf einen bestimmten Kommentar bezogen waren, zum Teil von dem konkreten Kommentar losgelöst allgemein für die Beschäftigung mit Philosophie überhaupt werben wollten, stehen die Kommentare zu den aristotelischen Schriften. Diese befinden sich zwar nicht mehr wie die Einführungsschriften dem Erkenntnisniveau des Rezipienten entsprechend auf der Ebene von Meinung und Vorstellung,8 sondern richten sich an Schüler, die „das Wissen von der eigenen Bedürftigkeit nach bestimmter Erkenntnis und nach bestimmten Begriffen“9 bereits erlangt haben. Dennoch nehmen sie gegenüber der Philosophie Platons eine untergeordnete, propädeutische Stellung ein.10 Der Philosophieunterricht selbst, der den ‚protreptischen‘ Lehreinheiten folgte, setzte sich somit aus zwei Teilen zusammen, „einem vorbereitenden aristotelischen Teil, der eine Auswahl der aristotelischen Schriften unter ausdrücklicher Ausklammerung der zoologischen und exoterischen Schriften enthielt, und einem krönenden platonischen Teil,“11 dem zweistufigen Platonunterricht. Dieser erst stellt die hinreichenden Bedingungen für wirkliche Erkenntnis, d. h. für „konkrete begrifflich allgemeine Erkenntnisse von unterscheidbaren Sachverhalten“12 , dar. Für die Lektüre der Dialoge haben sich zwei Lektürephasen etabliert. Zum einen die ‚Anfängerstufe‘, zum anderen die ‚Stufe für Fortgeschrittene‘. Beide lehren dieselben Inhalte, doch richten sie sich mit Blick auf das Bildungsniveau der Schüler an unterschiedliche Zielgruppen. Während in der ersten Stufe die wichtigsten Lehrstücke der platonischen Philosophie nacheinander, einzeln und getrennt je für sich präsentiert, also die ethischen, politischen, psychologischen, logischen, physikalischen, metaphysischen und theologischen Inhalte sukzessive aufeinander aufbauend unterrichtet werden, wird im Fortgeschrittenenkurs, der sogenannten ‚Hohen Schule des Platonismus‘, das Verhältnis der Lehrstücke untereinander und als Teile eines komplexen Ganzen dargestellt.13 Der erste Zyklus umfasst seit Jamblichs Einteilung, in der genannten Reihenfolge, die Dialoge Alkibiades I., Gorgias, Phaidon,
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8 9 10
11 12 13
Bei den Philosophenviten und den Einführungsschriften ging es darum, die Schüler in die Lage zu versetzen, sich mit den platonischen Dialogen in erkenntnisfördernder Weise auseinandersetzen zu können. Hierfür ist die „Einsicht in die eigene Bedürftigkeit nach bestimmtem Wissen“ (ebenda, S. 41) unumgehbare Voraussetzung. Vgl. ebenda, S. 41. Ebenda, S. 40. Vgl. Ilsetraut Hadot, Der Philosophische Unterrichtsbetrieb in der Römischen Kaiserzeit, in: Rheinisches Museum für Philologie 146 N.1, 2003, 49–71, S. 64. Vgl. ebenda, S. 64. Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 41. Vgl. ebenda, S. 119.
4
EINLEITUNG
Kratylos, Theaitet, Sophistes, Politikos, Phaidros, Symposion und Philebos, der zweite Zyklus den Timaios und den Parmenides.14,15 Der Platz des Handbüchleins der Moral im neuplatonischen Bildungskonzept Unter Berücksichtigung dieses Curriculums lässt sich erkennen, dass eine explizite Erwähnung stoischer Philosophie ohne anschließende Kritik nur im vorbereitenden oder unteren Bereich des Philosophieunterrichts zu finden ist. So finden sich positive Erwähnungen gegenüber Epiktet nicht nur in Simplikios’ Kommentar zum Handbüchlein, sondern auch in Damaskios’ Vita Isidori,16 in Proklos’ Kommentar zu Alkibiades I.17 und in den Kommentaren Olympiodors zu Platons Dialogen Alkibiades I.18 und Gorgias19 , den ersten beiden Dialogen des Curriculums. Dieser Befund ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es fruchtbar sein könnte, den Vorwurf von der Harmonisierung, Verschmelzung oder Vermischung der stoischen mit der platonischen und aristotelischen Philosophie zu prüfen und zu differenzieren. Offenkundig gibt es eine Stufe unterhalb wahrhaft betriebener Philosophie, auf der die Griffigkeit, Bildhaftigkeit, Beispielhaftigkeit und Verständlichkeit, aber auch die Inhalte Epiktets einen Nutzen für die Hinwendung von Schülern zur Philoso-
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Vgl. ausführlich zum Aufbau des Philosophieunterrichts in der (neuplatonisch geprägten) Spätantike Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript; Gyburg Radke-Uhlmann, Philosophieunterricht und Hermeneutik im Neuplatonismus, in: Neschke-Hentschke, Ada et al. (Hg.), Basel 2010, S. 119–148; Ilsetraut Hadot, Der Philosophische Unterrichtsbetrieb in der Römischen Kaiserzeit und Leendert Gerrit Westerink, Anonymous Prolegomena to Platonic Philosophy, ed. L. G. Westerink, Prolegomena Philosophiae Platonicae, Amsterdam 1962, S. 69. Konkret zu der Reihenfolge der Dialoge im platonischen Curriculum vgl. Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript; André-Jean Festugière, L’ordre de lecture des dialogues de Platon aux Ve/VIe siècles, in: Museum Helveticum 26, 1969, S. 281–294 und Leendert Gerrit Westerink, Anonymous Prolegomena to Platonic Philosophy, ed. L. G. Westerink, Prolegomena Philosophiae Platonicae, Amsterdam 1962, S. 69. Es gab darüber hinaus noch systematische Traktate, die sich aus den Kommentierungen ergaben und ihre Funktion in einer „Art ‚Nachbearbeitung‘ der durch die Exegese in den Kommentaren erarbeiteten Erkenntnisse und [in] ein[em] Überblick oder Abriß der Zusammenhänge zwischen den nacheinander, diskursiv ermittelten Ergebnissen“ haben (vgl. Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 60). Vgl. Damaskios vita Isid. Frg. 109. Vgl. Prokl. in Alc. 287,9–13. Vgl. Olymp. in Alc. 101,7–18. Vgl. u. a. Olymp. in Gorg. ch. 17.
Neuplatonischer Schmelztiegel?
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phie hat.20 Wenn Aristoteles’ Logik dem angehenden Philosophen als Werkzeug dienen soll, so kann Epiktets Ethik die Anfänger dazu bringen, das Erlernen der Handhabung des Werkzeugs überhaupt in Betracht zu ziehen. Damit ermöglicht sie erst die Nutzung dieses Werkzeugs in der richtigen Weise. Entscheidend jedoch ist es, den (beschriebenen) Nutzen des stoischen Textes von der Erklärung des Nutzens, also das Lob des Simplikios gegenüber dem Handbüchlein von seinen Erklärungen im Kommentar zu unterscheiden. Diese Unterscheidung führt zu der Erkenntnis, dass der Text des Epiktet dort Anwendung findet, wo der Bereich des eigentlichen Philosophierens noch gar nicht betreten ist, während die Erklärungen der Paränesen (Mahnungen) im Wesentlichen keine stoischen Vermischungen mehr aufweisen, sondern auf Prinzipien zurückgeführt werden, die eindeutig dem platonischen und aristotelischen Denken zuzuschreiben sind.21 Mit Blick auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Neuplatonismus lassen sich eindeutig die Grenzen des Nutzens stoischer Philosophieprodukte für die neuplatonische Philosophie aufzeigen. Ziel dieses Buches wird es sein, ausgehend von den erkenntnistheoretischen Prinzipien des Neuplatonismus zunächst die Verschiedenheit zum Stoizismus klar herauszustellen, um anschließend darlegen zu können, warum und wie Epiktets Ethik dennoch auf Grundlage der neuplatonischen Anthropologie und Bildungskonzeption in den Philosophieunterricht eingebunden werden kann, ohne dessen Philosophie mit der platonischen zu vermischen, zu harmonisieren, zu verschmelzen.
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21
Vgl. Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, ed. I. Hadot, Bd. I Chapitres I–XXIX, Paris 2001, S. XCIV–XCVII. Der Rückgriff und Zugriff auf die Grundlagen der platonisch-aristotelischen Philosophie erhält jedoch sein Maß der Differenziertheit vom Skopos des Kommentars, der sich auf die Ausbildung der ethischen und politischen Tugenden richtet, vgl. unten S. 84 sowie S. 32ff. Vgl. auch Charles Brittain und Tad Brennan, Simplicius – On Epictetus‘ Handbook 1–26, London 2002, S. 10: „Simplicius presents a systematic outline of Platonist metaphysics in the commentary, intended to introduce novices to the philosophical doctrines that are necessary for a rational understanding of ethics.“
6
1.2
EINLEITUNG
Forschungen zum Epiktetkommentar
Ilsetraut Hadot hat mit ihren zahlreichen Schriften zu dem Epiktet-Kommentar des Simplikios seit den späten 70er Jahren mit der Mahnung, auf die Hinweise in den Proömien der neuplatonischen Schriften zu der jeweils anvisierten Zielgruppe der Texte zu achten, maßgeblich zu einer richtigen Einordnung dieses Werkes beigetragen und damit die von Praechter angenommene inhaltliche Trennung einer (schlichteren) alexandrinischen von der (komplexeren) athenischen Richtung des spätantiken Neuplatonismus widerlegt.22 Hierbei verwies sie auf die verschiedenen Tugendstufen im Neuplatonismus und auf das Unterrichtskonzept des neuplatonischen Studiengangs. Der Kommentar ziele demnach auf die Ausbildung der sogenannten politischen Tugenden – welche sich auf der neuplatonischen Tugendskala im unteren, vorphilosophischen Bereich befinden23 – und diene damit der Vermittlung der sittlichen Grundhaltung, die überhaupt erst den Einstieg in das Studium der Philosophie ermöglicht. Damit sei der Epiktetkommentar dem Philosophiestudium (bestehend aus der Lektüre aristotelischer und platonischer Schriften in vorgegebener Reihenfolge) vorgelagert.24 Sowohl Michael Erler25 und Rainer Thiel26 in ihren Aufsätzen als auch Charles Brittain und Tad Brennan27 in ihrem Vorwort zur englischen Übersetzung folgen bei ihrer Einschätzung des Kommentars in diesen zentralen Punkten Hadot. In der Verortung des Kommentars auf propädeutischer Ebene, auf der es um die Einschulung ethischer und politischer Tugenden geht, herrscht demnach Einigkeit in der Forschung. Ein De22
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Vgl. Ilsetraut Hadot, Le problème du néoplatonisme alexandrin: Hiéroclès et Simplicius, Paris: Études Augustiniennes, 1978, außerdem die Einleitungen zu dies., Introduction Générale sowie dies., Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète oder dies., Arts libéraux et philosophie dans la pensée antique: contribution à l’histoire de l’éducation et de la culture dans l’Antiquité, Paris 2 2005. Die politischen Tugenden stehen im Neuplatonismus für einen vernunftgeleiteten Umgang mit Einzelgegenständen. Ausführlich zu den Tugendgraden vgl. unten Abschnitt 2.1.4, S. 32. Vgl. Ilsetraut Hadot, Le problème du néoplatonisme alexandrin, S. 147–165 (= dies., Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. LXXIII–C). Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker, in: Therese Fuhrer, Michael Erler und Karin Schlapbach (Hgg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, S. 105–122. Rainer Thiel, Stoische Ethik und Neuplatonische Tugendlehre. Zur Verortung der stoischen Ethik im Neuplatonischen System in Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Enchiridion., in: Therese Fuhrer, Michael Erler und Karin Schlapbach (Hgg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, S. 93–103. Charles Brittain und Tad Brennan, Simplicius – On Epictetus‘ Handbook 1–26, S. 1– 34.
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siderat hierbei ist jedoch die Erforschung dessen, wie genau Epiktet und sein Ausleger im Rahmen eines platonisch-aristotelischen Seelenverständnisses dem Philosophieanfänger dienlich sein können. Dieses Desiderat soll durch dieses Buch behoben werden, indem die erkenntnistheoretischen Grundlagen erörtert, die Art der zu vermittelnden Erkenntnisgegenstände bei Epiktet und bei Simplikios sowie die vorausgesetzten Erkenntnisvermögen im Rahmen der spezifischen Fortschrittserwartungen untersucht werden. Hierbei soll deutlich gemacht werden, inwiefern im neuplatonischen Unterrichtskonzept stoische und platonische Philosophie trotz ihrer Verschiedenheit Anwendung finden, ohne dass diese miteinander verschmolzen werden. Der Epiktetkommentar als alliage Denn trotz der Untersuchungen von Hadot führt eine Vernachlässigung der Unterscheidung der verschiedenen Funktionen des stoischen Textes (für Simplikios) und des Kommentars weiterhin zu ungenauen Zuschreibungen des Verhältnisses von Platonismus und Stoizismus bei Simplikios. Hadot selbst weist zwar mit Recht Eklektizismus- und Synkretismus-Vorwürfe gegenüber Simplikios zurück, doch sind die Gründe hierfür unbefriedigend: Für einen Eklektizismus sei das Bewusstsein des Autors vorausgesetzt, dass er sich für seine mélange Elemente aus verschiedenen Systemen zusammensucht. Dieses Bewusstsein sei jedoch bei Simplikios nicht gegeben, da er nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Lehre des Handbüchleins als genuin stoisch (und damit unplatonisch) zu identifizieren. Vielmehr betrachte er, wie die anderen Mittel- und Neuplatoniker auch, die stoischen (wie die aristotelischen) Lehren ganz selbstverständlich als Verlängerung des platonischen Unterrichts.28 Und da der Begriff des Synkretismus mittlerweile zu negativ konnotiert und nicht mehr treffend sei, schlägt sie den Begriff der Legierung (alliage) als Beschreibung für die Methode des Simplikios vor: „La notion stoïcienne de la σύγχυσις qui désigne un mélange d’éléments différents qui est tellement parfait que le nouveau corps ainsi constitué possède des qualités tout à fait nouvelles, me semble le plus appriorié, ou peut-être la notion d’alliage, par exemple de cuivre et de l’étain dont résulte un nouveau métal, le bronze.“29 Hadot zeigt an mehreren Interpretationsbeispielen, dass Simplikios nicht auf die stoischen Grundlagen für bestimmte Begrifflichkeiten oder Zusammenhänge ver-
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Vgl. Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. CIII. Ebenda, S. CIIIf.
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weist,30 und unterstellt Simplikios daraufhin „incompréhension“,31 „erreurs d‘interprétation“32 oder eine „méconnaissance flagrante du vocabulaire technique de cette école“.33 Gleichzeitig zeigt sie, dass Simplikios sehr wahrscheinlich, wie auch sein Lehrer Damaskios, nicht nur das Handbüchlein, sondern auch die Diatriben des Epiktet kannte,34 unterstellt ihm aber hierbei, diese durch die Augen eines Neuplatonikers gelesen und damit nicht ihrem Anliegen gemäß verstanden zu haben.35 Doch ein Hinweis des Damaskios’ über Thesebios, einen Schüler des Hierokles, zeugt davon, dass Damaskios wenigstens zwischen dem Nutzen der Epiktetschen Schriften und dessen stoischen Grundlagen zu unterscheiden wusste. Damaskios berichtet von Thesebios, wie dieser neben eigenen Lehren auch die Diatriben des Epiktet unterrichtete, um gänzlich ungebildete, aber nicht hoffnungslose Fälle in der Entwicklung der Ausbildung ihres Charakters zu helfen. Die eigenen Paränesen des Thesebios, den er als den „Epiktet unserer Zeit“ bezeichnet, orientierten sich hierbei an Epiktet, wären allerdings frei von den stoischen Doktrinen.36 Es spricht nicht viel dafür, dass das, was der Lehrer propagierte, dem Schüler verborgen geblieben sein sollte. In diesem Sinn scheint es vernünftig, auch bei Simplikios die Wertschätzung des Epiktetschen Textes von den Begründungen, die er für die Wertschätzung gibt, zu trennen. Die Paränesen mögen von einem stoischen Autor kommen, dessen diesseitsorientiertes Konzept der Philosophie als
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So verkenne er u. a. die stoische Bedeutung des Axioms, der Konjunktion oder des Triebes (Hormê), vgl. Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. CIV-CXXII. Ebenda, S. CXIII. Ebenda, S. CXV. Ebenda, S. CXVI. Vgl. Ilsetraut Hadot, Introduction Générale, S. 152–160. „Mais il les [scil. les Entretiens, C.V.] a apparemment lus avec les yeux d’un néoplatonicien et n’a jamais essayé de restituer patiemment la pensée propre de ce philosophe, comme A. Bonhöffer l’a fait à fin du XIXe siècle.“ (Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. CXVII). Vgl. Damaskios vita Isid. Frg. 109: Θεοσέβιος ὁ φιλόσοφος ἔλεγε πολλὰ ἀπὸ τῶν ᾿Επικτήτου σχολῶν, τὰ δὲ καὶ αὐτὸς ἐπετεχνᾶτο τῆς ἠθοποιοῦ διανοήματα Μούσης, ἱκανὰ πείθειν καὶ δυσωπεῖν τῶν ψυχῶν τὰς μὴ παντάπασιν ἀτέγκτους καὶ ἀτεράμονας· ἀποστρέφεσθαι δὲ καὶ ἀποδιδράσκειν τὰ χείρω τῆς ζωῆς εἴδη κατὰ δύναμιν, ἀσπάζεσθαι δὲ τὰ ἀμείνω καὶ μεταδιώκειν, καθόσον οἷόν τε παντὶ σθένει· τοιγαροῦν καὶ ἐν συγγράμμασι καταλέλοιπε τοιούτοις τισὶ τὰς ἑαυτοῦ νουθετήσεις οἵοις ᾿Επίκτητος πρότερον. καί μοι δοκεῖ ὁ ἀνὴρ γεγονέναι ἄντικρυς, ὡς ἕνα πρὸς ἕνα ἀντιβαλεῖν, ὁ τοῦ καθ’ ἡμᾶς χρόνου ᾿Επίκτητος, ἄνευ μέντοι τῶν Στωϊκῶν δοξασμάτων. ὁ γὰρ Θεοσέβιος οὐδὲν τοσοῦτον ὅσον τὴν Πλάτωνος ἀλήθειαν ἠσπάζετο καὶ ἐθαύμαζε.
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Lebenshilfe37 sich als besonders passend für den Zweck der Erweckung philosophisch völlig ungebildeter Schüler erweist, doch die psychologischen, ontologischen, erkenntnistheoretischen Begründungen für die Nützlichkeit der Anwendung der Anweisungen stellen sich, wie in den weiteren Ausführungen gezeigt werden kann, als gänzlich unstoisch heraus und verweisen auf aristotelische und platonische Einsichten. Die Rede von einer Vermischung, Legierung oder Assimilation38 stoischen Denkens mit platonischem Denken ist demnach mit Blick auf die philosophischen Grundsätze für die Charakterisierung des Werkes nicht geeignet. Der Kommentar, so kann gezeigt werden, steht in Bezug auf die leitenden Gedanken vollkommen im Geiste platonisch-aristotelischer Philosophie,39 während sich das 37
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Vgl. Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker und Barbara Wehner, Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, Stuttgart 2000, insb. S. 82–98. Vgl. Han Baltussen, Philosophy and exegesis in Simplicius, der bei Simplikios eine Strategie einer assimilierenden Harmonisierung aller nicht-christlicher griechischer Philosophie zum Zwecke des Widerstands gegen das christliche Denken sieht. Die grundsätzliche Gemeinsamkeit, die bei allen Unterschieden im Einzelnen die Basis sowohl für Platons als auch für Aristoteles’ Philosophie darstellt, besteht in der Einsicht, dass jedes Erkennen ein Erfassen von etwas Bestimmten ist und dass nur Bestimmtes erfasst werden kann. (Vgl. zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar 2003, S. 215–269) Die vermeintliche Priorisierung des Einzeldings in den Aristotelischen Kategorien lässt sich durch einen Blick auf den Skopos dieser Schrift erklären. Denn es geht dort um die Sprach- und Begriffsbildung, bei der das Einzelding als (zeitlicher, nicht sachlicher) Ausgangspunkt betrachtet wird. In den Beschreibungen seiner Methode zur wissenschaftlichen Forschung zeigt sich jedoch unzweideutig, dass er das Einzelding als etwas Zusammengesetztes aus Bestimmten und Unbestimmten, aus Eidos und Hyle, sieht, wobei dieses Einzelding nur anhand seines Eidos – dessen Verkörperung jedoch es nicht ist, sondern von wo her es seine Bestimmung, seine materielle Organisationsform hat – erkannt werden kann. In der Physik beschreibt Aristoteles sehr deutlich, dass der Einzelgegenstand mit seinen sinnlichen Merkmalen für die menschliche Begriffsbildung nur das „Frühere für uns“ ist und dieses nur zu einem konfusen Begriff führen kann. (Vgl. Aristot. phys. 184a1–24) Der Sache nach früher, für uns jedoch später, ist die Erkenntnis der nur begrifflich erfassbaren Identität, des Eidos. Die Hinwendung bei der Suche nach Erkenntnis von dem Einzelgegenstand und seinen sinnlich erfassbaren Eigenheiten auf die nur begrifflich erfassbaren sachlichen Bestimmtheiten und die Reflexion auf die Kriterien der Unterscheidbarkeit sind somit die Hauptanliegen beider Autoren. (Vgl. unten Abschnitt 2.1, S. 19ff.) Die Orientierung an diesen gemeinsamen Prinzipien in der Erkenntnistheorie bei Platon und Aristoteles führen auch zu gleichen Grundsätzen in der Anthropologie und Ethik. Demnach kann der Mensch erst über Gewöhnung und Einübung, dann über wissenschaftliche Reflexion auf die Prinzipien seine vernünftigen Vermögen kultivieren, damit gemäß der ihm spezifischen Natur tätig werden und dadurch sein Glücksempfinden nachhaltig steigern. (Vgl. ausführlich unten Abschnitt 2.1.4, S. 32ff.).
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EINLEITUNG
Handbüchlein als eines von vielen möglichen Werkzeugen erweist, um Schülern einen Zugang zu dieser Philosophie zu ermöglichen. Das Verhältnis von stoischer Apatheia und aristotelischer Metriopatheia Der Schlüssel zum richtigen Verständnis des Verhältnisses von Platonismus und Stoizismus im Neuplatonismus im Allgemeinen, im Epiktetkommentar im Besonderen ist der Blick auf die Grundlagen der Erkenntnistheorie. Anders als in den hellenistischen Philosophien liegt sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles der Maßstab des Wissens nicht im Einzelgegenstand, die Quelle des Wissens nicht in der Wahrnehmung. Stattdessen habe der Mensch denkend tätig werden, um überhaupt (auch am Einzelgegenstand) etwas für sich selbst Unterscheidbares und Identisches erkennen zu können.40 Ziel jeder platonischen Bildung – sowohl in den platonischen Dialogen selbst als auch in den mittel- und neuplatonischen Schriften und Unterrichtseinheiten – ist die Ausbildung dieses spezifisch-menschlichen Vermögens, die der Schüler nur durch die Hinwendung seiner seelischen Erkenntnisvermögen auf die ausschließlich denkend erfassbaren Gegenstände erreicht. Nur wer dieses nicht beachtet, kann dem Irrtum unterliegen, dass in den neuplatonischen Tugendgraden das stoische Apatheia-Konzept über dem aristotelischen Metriopatheia-Konzept steht, das stoische Konzept damit das anspruchsvollere darstelle, als ob man die Gefühlslehre von der Erkenntnistheorie trennen könnte. Sowohl Hadot als auch Brittain und Brennan gehen von einer Mischung von stoischem und aristotelischem Tugendideal in den neuplatonischen Bildungsgraden aus und ordnen die ‚stoische Apatheia‘ in den oberen Bereich der Seelenbildung zu den kathartischen Tugenden, die den Weg zur seelischen Beschäftigung mit intelligiblen Gegenständen ebnen, ein.41 Da es Simplikios mit der Schrift jedoch explizit ‚nur‘ um die Ausbildung der ethischen und politischen Tugenden geht, die auf einen angemessenen Umgang mit Einzelgegenständen zielen, stellt sich demnach zwangsläufig die Frage, warum er einen Text als Grundlage nimmt, der in Folge dieser Argumentation eigentlich auf eine höhere Stufe der neuplatonischen
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Vgl. Arbogast Schmitt, Denken und Sein bei Platon und Descartes: Kritische Anmerkungen zur ,Überwindung’ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg 2011, S. 91–151. Vgl. Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. LXXVII– LXXXI und Charles Brittain und Tad Brennan, Simplicius – On Epictetus‘ Handbook 1–26, S. 15. Die gleiche Einordnung findet man bei John M. Dillon, An Ethic For the Late Antique Sage, in: Lloyd P. Gerson (Hg.), The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1996, S. 315–335, S. 320f. und Gregor Staab, Pythagoras in der Spätantike, München/Leipzig: Walter de Gruyter, 2002, S. 168f.
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Tugendskala ausgerichtet ist.42 Als Antwort können dann nur noch die formalen Kriterien dienen, die eine ethische Schrift, die auf Anfänger zielt, nach Simplikios’ eigenen Ansprüchen aufzuweisen hat: Sie soll meinungsbildend sein, ohne auf Beweise zu bauen, d. h. kurz und knapp, anregend, reich an Bildern und Beispielen, lebensnah, verständlich und einprägsam.43 Damit entsteht unausgesprochen ein Widerspruch zwischen dem angeblich von den Neuplatonikern zugeschriebenen Inhalt der Schrift und dem Zweck, zu dem sie eingesetzt ist: Eigentlich ziele eine stoische Ethik auf die Ausbildung kathartischer Tugenden, weil sie aber so anfängerfreundlich geschrieben ist, werde sie für die leichtere Stufe, die Ausbildung der politischen Tugenden benutzt. Anders ausgedrückt lautet der implizite Vorwurf, dass der stoische Text auf die Ausbildung höherer Vermögen zielt, während der Kommentar diese höheren Ansprüche ablehnt und eine geringere Ausbildung anstrebt. Hier nun soll die entgegengesetzte These geprüft werden: Der zugrunde liegende Text Epiktets zielt aus neuplatonischer Sicht sowohl formal als auch inhaltlich auf eine Zielgruppe, die mittels Ge- bzw. Entwöhnung von ihren falschen (weil für sie letztlich schädlichen) Orientierungen im Handeln befreit werden soll. Der Kommentar stellt indessen den Lesern die rationale Grundlage für die Richtigkeit und Nützlichkeit der Anweisungen bereit. Während eine Orientierung am Epiktettext nur die ethischen Tugenden, d. h. die Tugenden auf der neuplatonischen Tugendskala, die dazu führen, dass man aus Gewohnheit, nicht aus Einsicht oft angemessen handelt, auszubilden vermag, hilft der Kommentar dabei, dem Schüler ein rational einsehbares Verständnis in die Prinzipien des Handelns zu verleihen, somit die politischen Tugenden auszubilden und ein Handeln aus Einsicht zu ermöglichen. Denn wenn im Platonismus das Ziel der Bildung in der Ausbildung des höchsten menschlichen Erkenntnisvermögen besteht und die einzelnen Tugenden Zwischenstufen auf diesem Weg darstellen, erweist sich die Behauptung als widersinnig, dass ein stoisches Konzept, welches Denken mit Vorstellen identifiziert und Einzelgegenständen die höchsten Grade der Bestimmtheit zuschreibt,44 auf eine der höheren Stufen stehe. Die behauptete Identität höherer Tugendstufen mit stoischen Konzepten wird dann oft nur beiläufig flankiert mit Bemerkungen, dass es durchaus unwesentliche Unterschiede gebe, z. B. dass das Göttliche im Stoizismus als körperlich, im Platonismus als unkörperlich verstanden werde,45 42
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Vgl.: Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. XCIII: „Pourquoi alors choisir un écrit stoïcien qui, normalement, selon le système éthique néoplatonicien, aurait pu être commenté dans la perspective de l’Apatheia?“. Vgl. ebenda, S. XCIII–XCVII. Vgl. zum Vorstellungsdenken in der Stoa unten S. 49. Vgl. Ilsetraut Hadot, Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. LXXXVIII: „Pour le néoplatonicien comme pour le stoïcien, l’homme véritable est identique au divin au lui; seulement [!], dans le stoïcisme, le divin est conçu comme corporel, dans le néoplatonisme comme incorporel.“
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oder dass im Platonismus ein transzendenter Aspekt hinzugefügt werde.46 Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten erweisen sich die Unterscheidungen als sehr bedeutsam, ob der Maßstab des Denkens und Erkennens immanent oder transzendent, körperlich oder unkörperlich ist. Denn davon hängt das gesamte Bildungskonzept ab. In platonisch-aristotelischer Tradition ist das Fühlen abhängig von dem Erkennen. Wenn Platoniker von Apatheia – auch wenn die Vokabel dem stoischen Begriffsrepertoire entlehnt ist – reden, dann sind gänzlich verschiedene erkenntnistheoretische Voraussetzungen und damit auch entsprechend andere ethische Ansprüche verbunden als im stoischen Konzept der Apatheia. Während die stoische Apatheia Ergebnis einer Gewöhnung, einer dauerhaften Verweigerung von Zustimmungen zu bestimmten passiv empfangenen Vorstellungen, also letztlich ein eingeübter und habitualisierter Umgang mit Vorstellungen ist, zeigt sich die platonische Apatheia auf der Ebene der kathartischen Tugenden als Ergebnis der Hinwendung auf intelligible Gegenstände.47 Die Abwendung von der Sinnlichkeit ist ohne das Ziel, nämlich die Hinwendung zum Intelligiblen (Noetischen), nicht denk- und nicht nachvollziehbar. Denn die Apatheia ist nicht Ergebnis verweigerter Zustimmung zu Vorstellungen, sondern Ergebnis der Ausbildung und Aktualisierung des höchsten menschlichen Erkenntnisvermögens. Auch mit dieser Aktualisierung gehen Empfindungen der Lust einher, doch sind diese Lüste in Abhängigkeit von dem Erkenntnisgegenstand eben keine sinnlichen Lüste. Das stoische Ideal der Apatheia als ein Ausschluss der (positiven wie negativen) Gefühle kann im platonischen Verständnis nur auf der untersten Ebene der Ausbildung, als ein erster Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis sinnvoll sein. Denn nur durch ein bewusstes Widerstreben, der Gewohnheit nach sinnlichen Lüsten zu folgen, kann der Einfluss dieser Lüste gebändigt werden. Wer (sinnlich) lustvollen Vorstellungen konsequent nicht mehr nachgeht (d. h. das Gefühl nicht zulässt), verliert nach einiger Zeit diesen Drang. Diese Art der rigorosen Entwöhnung von sinnlichen Lüsten führt zu einer Mäßigung der sinnlichen Begierden und schafft erst die Möglichkeiten, in bester und ungehinderter Weise rational tätig zu werden. Doch ohne die kontinuierliche Ausbildung der rationalen Vermögen durch Hinwendung auf intelligible Sachverhalte kann die Stufe der kathartischen Tugenden nicht erreicht werden. Allein durch Arbeit an Vorstellungen und Umgang mit Einzelgegenständen ist dieser Schritt jedoch nicht möglich. Damit passt aus neuplatonischer Sicht das Handbüchlein der Moral sowohl formal als auch inhaltlich auf diesen propädeutischen Platz. Für die positive Ausbildung rationaler Vermögen wären stoische Texte hingegen nicht geeignet, schon 46
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Vgl. John M. Dillon, An Ethic For the Late Antique Sage, S. 321: „Plotinus’s position here, which is after all only[!] the Stoic one, with a transcendent aspect addes is well illustrated [. . . ].“ Vgl. ausführlich zu den Tugendgraden Abschnitt 2.1.4, S. 32ff.
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gar nicht für die Ausbildung der kathartischen Tugenden.48 Auch Boethius’ ‚Philosophia‘ verwendet in den ersten Büchern seiner Consolatio ganz offenkundig Rezepte der stoischen Ethik als milde Medizin für den Anfang, obwohl sie sich zu Beginn49 ganz explizit über ihre Verstümmelung durch die Stoa beschwert. Doch könne diese erste Medizin den ‚Patienten‘ nur öffnen für die wahre Behandlung durch die Philosophie. Im fünften Buch, in dem die erkenntnistheoretischen und psychologischen Prinzipien in den Blick geraten, werden die stoischen Konzepte offen und scharf kritisiert.50 Hieran zeigt sich deutlich, dass trotz Verwendung stoisch klingender Paränesen keine Vermischung zwischen Stoizismus und Platonismus stattfindet, sondern dem platonischen Autor stets vollkommen 48
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Erler bemerkt treffend: „Nicht trotz, sondern wegen Epiktets Auffassung von Philosophie als ‚ars vitae‘ ist sein Encheiridion für Simplikios attraktiv.“ (Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker, S. 112) Denn die von ihm beschriebene Diesseitsorientierung der hellenistischen Philosophie führt dazu, dass Philosophie, auch wenn sie vorgibt eine Art der Apatheia anzustreben, hier als eine Form von Lebenshilfe für den richtigen Umgang mit Alltagsgegenständen und den damit zusammenhängenden Gefährdungen im Diesseits verstanden wird. Diese Funktion üben im Platonismus die politischen, nicht jedoch die auf die Theoria (der Wahrheit) zielenden kathartischen Tugenden aus. Vgl. Boeth. cons. I.p1: eandem tamen uestem uiolentorum quorundam sciderant manus et particulas quas quisque potuit abstulerant. – „Doch hatten die Hände gewisser Gewalttäter ihr [scil. der Philosophia] Kleid zerfetzt, und jeder von ihnen nahm die Einzelteile davon an sich, die er fassen konnte.“ Sowie ebenda, I.p3: nonne apud ueteres quoque ante nostri Platonis aetatem magnum saepe certamen cum stultitiae temeritate certauimus eodemque superstite praeceptor eius Socrates iniustae uictoriam mortis me astante promeruit? cuius hereditatem cum deinceps Epicureum uulgus ac Stoicum ceterique pro sua quisque parte raptum ire molirentur meque reclamantem renitentemque uelut in partem praedae traherent, uestem quam meis texueram manibus disciderunt abreptisque ab ea panniculis totam me sibi cessisse credentes abiere. in quibus quoniam quaedam nostri habitus uestigia uidebantur, meos esse familiares imprudentia rata nonnullos eorum profanae multitudinis errore peruertit. – „Haben wir nicht auch schon bei den Alten, vor der Zeit unseres Platon oft einen großen Kampf mit der Tollkühnheit der Dummheit geführt, und hat nicht damals, obgleich Platon selbst obsiegte, sein Lehrer Sokrates mit meinem Beistand den Sieg eines ungerechten Todes errungenen? Als dann der Pöbel der Epikureer und der Stoiker und die Übrigen dessen Erbe versuchten jeder für sich an sich zu reißen und sie an mir gegen meinen Einspruch und meinen Widerstand wie an einem Beutestück zogen, da zerrissen sie mein Kleid, welches ich mit meinen eigenen Händen zusammengeflochten hatte, und gingen in dem Glauben von dannen, dass sie mit ihren abgerissenen Fetzen mich selbst als Ganze nun bei sich trugen. Da nun wenigstens einige Spuren meines Wesens in diesen Fetzen zu sein schienen, glaubte der Unverstand, dass sie zu mir gehörten. Und einige von ihnen wurden durch den Irrtum der gottlosen Menge in ihr Unheil gestürzt.“ Vgl. ebenda, V, c4 sowie V, p5.
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bewusst ist, dass die Grundlagen der hellenistischen Philosophie strikt abzulehnen sind, während einige ihrer ethischen Philosophieprodukte für den mit der Welt Hadernden nützlich scheinen. Die Erklärung hierfür ist jedoch in der platonischaristotelischen Philosophie zu suchen. Den Weg, den Boethius für denjenigen aufzeigt, der die Prinzipien der Philosophie aufgrund schwer zu ertragender Umstände vergessen hat, geht Simplikios nun für den Anfänger, der die Prinzipien in seinem Leben bisher nicht kennengelernt hat.51 Der Kommentar als meditative Übung Ilsetraut Hadot hat die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Kommentars stets mit der Formel „le commentaire comme exercice spirituel“ auf den Punkt gebracht.52 Grundlage hierfür ist folgende Passage aus dem Promömion: „Die Worte [von Epiktet] sind zwar deutlich, doch wäre es vielleicht nicht schlecht, sie soweit wie möglich zu entfalten. Denn der Kommentierende gerät in dieser Weise zugleich mit den Worten innerlich mehr in Einklang und versteht deren Wahrheit besser. Und diejenigen von den Lernbegierigen, die keinerlei Erfahrung mit Argumentationen haben, werden durch die Auslegung vielleicht eine anleitende Hilfestellung haben.“53 Mit Verweis auf die Einleitung des Epikur zu seiner Epitome,54 dergemäß sowohl ein Schüler als auch ein Experte die allgemeinen Grundzüge gut kennen und im Gedächtnis haben sollte, um erfolgreich am Einzelnen forschen zu können, schreibt Hadot, dass Simplikios diesen Kommentar auch für sich selbst und für andere fortgeschrittene Philosophen insofern als nützlich einstuft, als hierdurch vermittels purer Wiederholung der philosophischen Grundlinien ein weiteres Vor-
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Vgl. zu dem Aspekt der ‚praeparatio platonica‘ in neuplatonischen Texten auch Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker. Vgl. Ilsetraut Hadot, Le problème du néoplatonisme alexandrin, S. 164f. Dies., Introduction Générale, S. 51–60, dies., Simplicius – Commentaire sur le Manuel d’Epictète, S. XCVII-C. Simpl. in ench. (Ed. H) 194,56–60 (= Ed. D 2,24–29): Καὶ εἰσὶ μὲν οἱ λόγοι σαφεῖς· οὐ χεῖρον δὲ ἴσως κατὰ τὸ δυνατὸν διαπτύσσειν αὐτούς. ῞Ο τε γὰρ γράφων συμπαθέστερός τε ἅμα πρὸς αὐτοὺς γενήσεται καὶ τῆς ἀληθείας αὐτῶν κατανοητικώτερος, καὶ τῶν φιλομαθῶν οἱ πρὸς λόγους ἀσυνηθέστεροι, ἴσως ἕξουσί τινα χειραγωγίαν ἐκ τῆς ἑρμηνείας αὐτῶν. Vgl. Diog. Laert. vitae 10.35–37.
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dringen zur Wahrheit – wie bei einer Autosuggestion – gelingen könne.55 Richtig hieran ist zweifelsohne, dass der Kommentar im Platonischen nicht die Problembesprechung von Text und Inhalt zum Selbstzweck erhebt, sondern durch die Betätigung des rationalen Seelenvermögens beim Durchdenken und Argumentieren, wie jede andere Seelentätigkeit auch, Einfluss auf die Disposition der Seele hat. Dies gilt sowohl für den Schreibenden, wenn er von den Bildern und Beispielen des Epiktet zu den Prinzipien vordringt, als auch für den Lesenden, wenn er versucht, diesen Weg nachzugehen, die Fragen und Einwände selbst zu durchdenken. Allerdings gelingt dies – anders als gemäß hellenistischen Philosophien – nach platonisch-aristotelischer Erkenntnistheorie nicht durch Meditation und Autosuggestion, sondern durch diskursives Denken. Erler beschreibt zwar diesen Unterschied sehr treffend: „Erstrebt war nun [scil. im Hellenismus, C.V.] eine Haltung, die das Wissen zum unverlierbaren Bestandteil des Handelnden macht und ihm deshalb in jeder möglichen Situation zuhanden sein kann. Um an ein von Seneca und Marc Aurel verwendetes Bild zu erinnern: Es ging darum, dem Träger Wissen oder bestimmte Vorstellungen ‚einzufärben‘, wobei nur kontinuierliche Wiederholung die Farbe zum bleibenden Bestandteil werden lässt. Übung und Wiederholung hatte zwar auch schon Platon gefordert – auch er verwendet das Bild des Einfärbens. Bei ihm geht es allerdings dabei um ein selbstständiges Suchen nach Wahrheit und die Qualität des zu erwerbenden Wissens, das durch das Einfärben – d. h. durch Festigung im dialektischen Gespräch – ‚fest‘ und damit wertvoller wird und qua fest begründetem Wissen das Handeln bestimmt. Beim platonischen Einfärbeprozess dienen Texte deshalb keineswegs dem Memorieren fertiger Dogmen, sondern unterstützen nur den Erwerb und Sicherung von Wissen durch Anregung und Aufforderung zum Überprüfen.“56 55
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Vgl. Ilsetraut Hadot, Introduction Générale, S. 54f. „À une phase d’extension des connaissances succède donc toujours de nouveau une phase de concentration et de retour aux principes fondamenteaux. C’est un processus qui peut se répéter à l’infini. Car il ne s’agit pas de savoir, même si par cœur, les dogmes fondamentaux et leurs explications détaillées, mail il faut se pénétrer de leur vérité par des méditations et des exercices dialectiques répétés, par une sorte d’autosuggestion. C’est cela que Simplicius fait comprendre en disant que l’auteur du commentaire sur le Manuel ‚s’accordera intérieurement de plus en plus conscient de leur vérité.‘ Dans l’intention de Simplicius, son commentaire sur le Manuel d’Épictète est tout à la fois une introduction pour le débutant et un exercice d’approfondissement, de pénétration, pour l’auteur lui-même come pour le lecteur déjà averti. Il est entrepris non seulement pour fair apprendre quelque chose, mais aussi et surtout pour se transformer soi-même ainsi le lecteur.“. Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker, S. 109.
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EINLEITUNG
Doch schließt auch er sich dem Hadotschen Diktum vom Kommentar als meditative Übung an: „Simplikios erhofft also, durch die Kommentierung innerliche Affinität zu dem Kommentierten zu erlangen [. . . ] und dem lernwilligen Leser eine Handreichung für die anverwandelte Ausdeutung zu bieten. Ein Kommentar als meditative Übung: wir erinnern uns, was der Stoiker Epiktet verlangte, was aber auch schon im Epikureismus für philosophische Schriften postuliert wurde: Handreichungen für eigenen Test, Medizin für Autor und Leser, Hilfe zur Selbsthilfe zu sein. Man sieht: Nicht Platons Auffassung von der Funktion philosophischer Texte, sondern die hellenistische Position hat sich durchgesetzt.“57 Beide verkennen die grundlegenden erkenntnistheoretischen Unterschiede zwischen hellenistischer und platonisch-aristotelischer Philosophie, zwischen einem Vorstellungs- und einem Unterscheidungsdenken.58 Bei Epikur und Epiktet sind es die abstrakten Regeln, die die Essenz der theoretischen Lehre darstellen und, wenn sie auswendig gelernt und verinnerlicht sind, in der Anwendung am Einzelnen ihren Nutzen und Sinn offenbaren. Die aus den Vorstellungen abstrahierten und handlich verkürzten Regeln helfen, die Vorstellungen selbst zu sortieren. Für Simplikios hingegen stellt die durch Arrian auf ein Handbüchlein verkürzte Epitome der Epiktetschen Philosophie nicht die Essenz und die Grundzüge des Wissens dar. Im Gegenteil, sie sind Ausgangspunkt, jedoch nicht für ihre Anwendung (in der Praxis), sondern für den gedanklichen Aufstieg zu den zugrunde liegenden Prinzipien. Vom Beispiel, von der einzelnen Handlung, von der abstrakten Regel soll der Denkende versuchen durch Differenzierung zu den Grundlagen aufzusteigen. Der Kommentar ist damit eine Übung ganz im platonischen Sinn, so wie es auch Erler als Spezifikum der platonischen Übung beschrieben hat, dergemäß sich Festigung durch differenzierende Suche nach der Wahrheit und durch dialektische Gespräche – der Kommentar zeichnet nämlich Diskussionen, Einwände, Widersprüche nach – einstellt. Nicht das Auswendiglernen von Dogmen, sondern der Verweis auf die Gründe bindet das Erkannte.59 Wenn Denken sich nicht, wie im Hellenismus, im Umgang mit Vorstellungen erschöpft, sondern als Unterscheiden von für sich bestehenden Einheiten verstanden wird, kann bloße Mediation 57
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Michael Erler, Philosophie als Therapie – Hellenistische Philosophie als ’praeparatio platonica’ im Platonismus der Spätantiker, S. 112. Vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, insb. S. 535–552. Vgl. Plat. Men. 97e–98a, wo mit dem Bild der Notwendigkeit, die Bildwerke des Daidalos festzubinden, die Meinung von dem wissenschaftlichen Wissen abgegrenzt wird, dadurch dass sie flüchtig und ungebunden ist, während das Wissen als bleibend und dadurch wertvoller charakterisiert wird.
Forschungen zum Epiktetkommentar
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und Autosuggestion nicht zu einer Ausbildung der höheren Seelenvermögen führen. Der Kommentar gibt dem Leser zwar eine Hilfe an die Hand, die ihn weniger durch das bloße Aufzeigen der inneren Widersprüchlichkeit (Aporie), sondern eher durch durch das richtungsweisende Hinwenden zum angemessenen Handeln (Protrepsis) auf einen guten Weg bringen soll. Doch heißt dies nicht, dass dem Leser etwas vorgegeben wird, das er nur noch nachzuerzählen braucht. Denn der Leser muss die Argumentationen nachvollziehen und prüfen, wenn auch er in seiner seelischen Ausbildung profitieren soll. So fordert Simplikios beispielsweise den Leser in der Diskussion über das Böse explizit auf, die gegebene Argumentation genau nachzuverfolgen und auf Fehler zu untersuchen.60 Der Schüler wird wie in einem Gespräch zum eigenständigen Denken angeregt. Wissen wird nicht einfach übergeben, sondern Wissen muss der Schüler selbst erlangen, indem er die Gründe versteht. Der Kommentar dient damit nicht als Nachschlagewerk für Nichtverstandenes, sondern als Aufforderung zum aktiven Mitdenken und Nachvollziehen. Dies gilt für den Leser wie für den Autor des Kommentars, dessen Übung nicht in der Wiederholung von bekannten Lehrstücken besteht, sondern, so wie es Proklos für den Umgang mit Analogien beschreibt, in der denkenden Tätigkeit des Aufsteigens von den Abbildern zu den Urbildern.61
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Vgl. Simpl. in ench. (Ed. H) 338,393–394 (= Ed. D 79,1f.): Καί μοι πρόσεχε τὸν νοῦν ἐνταῦθα, μή τι παραλογισθεὶς αὐτὸς καὶ σὲ συνεξαπατήσω τὸν ἐντυγχάνοντα. Vgl. Prokl. in Parm. 675,30–676,2, ausführlich dazu Gyburg Radke, Das Lächeln des Parmenides. Proklos’ Interpretation zur Platonischen Dialogform, Berlin 2006, S. 202– 231.
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1.3
EINLEITUNG
Aufbau des Buches
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil der theoretischen Vorbesprechung soll die Grundlage für das Verständnis der Verschiedenheit und Vereinbarkeit von Platonismus und Stoizismus in der Spätantike gelegt werden. Hierfür werden in einem ersten Schritt (Kapitel 2) die erkenntnistheoretischen Fundamente des spätantiken Platonismus skizziert, um das im Hintergrund des Kommentars stehende Bildungskonzept des Simplikios erklären zu können. Anschließend (Kapitel 3) sollen die Eckpunkte von Epiktets Philosophie dargelegt und die sich daraus ergebenden Ziele der Bildung herausgearbeitet werden. Der dritte Schritt (Kapitel 4) zeigt nun, wie das Wissenschaftskonzept des Simplikios dazu führt, dass diese beiden grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen von Philosophie und Bildung sich miteinander verbinden lassen, ohne sie dabei unterschiedslos miteinander zu vermengen. Der zweite Teil des Buches widmet sich der Analyse des Kommentars, um im Einzelnen daran zum einen zeigen zu können, wie Simplikios die stoische Grundlage nutzt und zum anderen differenziert darzulegen, welche Erkenntnisvermögen an welchen Erkenntnisgegenständen geschult, welche Erkenntnisinhalte einem neuplatonischen Schüler auf dieser frühen Stufe der Philosophie, auf dem Weg von den ethischen zu den politischen Tugenden auf welche Weise vermittelt werden. Die textkritischen und editionsphilologischen Arbeiten wurden bereits vortrefflich von Hadot vorgenommen. Auch Brittain und Brennan geben in ihren Anmerkungen wertvolle Hinweise und Ergänzungen in Bezug auf die genannten Bereiche. Ziel dieses Buches ist keine derartige Analyse des Kommentars. Stattdessen liegt der Fokus auf der Nachzeichnung und Erklärung der Funktion des Kommentars mit Blick auf die Verschiedenheit und Vereinbarkeit von Epiktets stoischer Ethik und der neuplatonischen Begründungsdimension. Direkte und indirekte Bezüge zu Platon, Aristoteles, anderen Neuplatonikern und antiken Denkern wurden von Hadot und Brittain/Brennan belegt und sollen hier nur angeführt werden, wenn sie dem Forschungsziel dienen.
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Theoretische Vorbesprechung
2.1
Erkenntnistheoretischer Hintergrund bei Simplikios
Ziel dieses Kapitels ist die Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlagen, auf denen Simplikios aufbaut. Hierzu werden exemplarisch an einigen Schriften Platons und Aristoteles’ die grundlegenden Züge des unterscheidungsphilosophischen Ansatzes des Platonismus und Aristotelismus aufgezeigt. Die Differenzierung der verschiedenen Erkenntnisgegenstände, Erkenntnisinhalte und Erkenntnisvermögen (Kap. 2.1 und 2.2) ermöglicht ein genaueres Verständnis der unterschiedlichen Funktionen von propädeutischen und wissenschaftlichen Texten (2.3) und der Einführung von Tugendstufen (2.4) zur Beschreibung des Ausbildungsweges, den ein Mensch im neuplatonischen Verständnis zu durchschreiten hat, wenn er die ihm spezifischen Seelenvermögen entwickeln möchte. 2.1.1
Inhalte und Gegenstände der Erkenntnis bei Platon und Aristoteles
Platons Siebter Brief Im Siebten Brief beschreibt Platon das Problem des Erkenntnisweges explizit.62 Er führt an, dass das Ziel und die Orientierung auf dem Weg zur Erkenntnis stets die zu erkennende Sache selbst sein muss. Diese Kernaussage des platonischen Verständnisses verdeutlicht er am Beispiel des Kreises, dem gemäß das Wort, die Definition, das materielle Abbild und das gedankliche Erfassen des Kreises von dessen Natur und Wesen zwar verschieden, aber daran orientiert sind. Der Erkenntnisweg kann jedoch nach Platons Verständnis nicht beschritten werden, ohne bei den partikulären Instanzen des Wesens, d. h. den Wörtern, Definitionen und materiellen Abbildern, zu beginnen.63 Zudem bedürfe es zweierlei, um zur Erkenntnis der Natur der Dinge zu gelangen: Neben der Verwandtschaft zu der Sache – durch Erziehung und Gewöhnung könne aus einem Charakter ein passender Nährboden für die Erkenntnis geformt werden – bedürfe es einer guten Auffassungsgabe und ei-
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Vgl. Plat. epist. 342a7–344d2. Vgl. ebenda, 342d8–e2: οὐ γὰρ ἂν τούτων μή τις τὰ τέτταρα λάβῃ ἁμῶς γέ πως, οὔποτε τελέως ἐπιστήμης τοῦ πέμπτου μέτοχος ἔσται.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
nes guten Gedächtnisses,64 um nach menschenmöglicher Anstrengung die Namen und Definitionen, äußeren Erscheinungen und Wahrnehmungen so ‚aneinander zu reiben‘, dass (nach ‚wohlwollenden‘ und ‚neidlosen‘ Fragen und Prüfungen) die Einsicht (Phronêsis) in Bezug auf jeden Gegenstand und die Vernunft (Nous) ‚aufleuchte‘.65
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Vgl. Plat. epist. 343e1–344b1: ἡ δὲ διὰ πάντων αὐτῶν διαγωγή, ἄνω καὶ κάτω μεταβαίνουσα ἐφ’ ἕκαστον, μόγις ἐπιστήμην ἐνέτεκεν εὖ πεφυκότος εὖ πεφυκότι· κακῶς δὲ ἂν φυῇ, ὡς ἡ τῶν πολλῶν ἕξις τῆς ψυχῆς εἴς τε τὸ μαθεῖν εἴς τε τὰ λεγόμενα ἤθη πέφυκεν, τὰ δὲ διέφθαρται, οὐδ’ ἂν ὁ Λυγκεὺς ἰδεῖν ποιήσειεν τοὺς τοιούτους. ἑνὶ δὲ λόγῳ, τὸν μὴ συγγενῆ τοῦ πράγματος οὔτ’ ἂν εὐμάθεια ποιήσειέν ποτε οὔτε μνήμη— τὴν ἀρχὴν γὰρ ἐν ἀλλοτρίαις ἕξεσιν οὐκ ἐγγίγνεται—ὥστε ὁπόσοι τῶν δικαίων τε καὶ τῶν ἄλλων ὅσα καλὰ μὴ προσφυεῖς εἰσιν καὶ συγγενεῖς, ἄλλοι δὲ ἄλλων εὐμαθεῖς ἅμα καὶ μνήμονες, οὐδ’ ὅσοι συγγενεῖς, δυσμαθεῖς δὲ καὶ ἀμνήμονες, οὐδένες τούτων μήποτε μάθωσιν ἀλήθειαν ἀρετῆς εἰς τὸ δυνατὸν οὐδὲ κακίας. – „Der Durchgang durch all diese aber, wobei jeder einzelne Erkenntnisgegenstand nach oben und nach unten abgeschritten wird, führt mit Mühe zum Wissen, wenn sowohl der Gegenstand als auch der um die Erkenntnis Bemühte von guter Natur sind. Wenn sich der Erkennende jedoch in einem schlechten Zustand befindet, wie es bei dem Seelenzustand der meisten Menschen in Bezug auf das Lernen und die sogenannten Sitten von Natur aus der Fall ist, oder wenn diese verdorben wurden, dann könnte sie auch nicht einmal Lykeus zum sehen bringen. Kurz: Wer nicht mit der Sache verwandt ist, könnte weder durch eine schnelle Auffassungsgabe noch durch ein gutes Gedächtnis zum Wissen gebracht werden, denn in fremden Seelenzuständen fehlt die notwendige Grundlage hierfür. Folglich können weder diejenigen, die zwar in vielen anderen Dingen eine hohe Auffassungsgabe und ein gutes Gedächtnis haben, aber keine natürliche Anlage und Verwandtschaft zu den gerechten und schönen Dingen haben, noch diejenigen, die zwar diese Verwandtschaft haben, aber schlecht im Lernen und Merken sind, jemals die dem Menschen mögliche Wahrheit über Tugend und Untugend lernen.“ Vgl. ebenda, 344b1–c1: ἅμα γὰρ αὐτὰ ἀνάγκη μανθάνειν καὶ τὸ ψεῦδος ἅμα καὶ ἀληθὲς τῆς ὅλης οὐσίας, μετὰ τριβῆς πάσης καὶ χρόνου πολλοῦ, ὅπερ ἐν ἀρχαῖς εἶπον· μόγις δὲ τριβόμενα πρὸς ἄλληλα αὐτῶν ἕκαστα, ὀνόματα καὶ λόγοι ὄψεις τε καὶ αἰσθήσεις, ἐν εὐμενέσιν ἐλέγχοις ἐλεγχόμενα καὶ ἄνευ φθόνων ἐρωτήσεσιν καὶ ἀποκρίσεσιν χρωμένων, ἐξέλαμψε φρόνησις περὶ ἕκαστον καὶ νοῦς, συντείνων ὅτι μάλιστ’ εἰς δύναμιν ἀνθρωπίνην. – „Zugleich nämlich ist es notwendig, die Unwahrheit und die Wahrheit über das ganze Sein zu lernen, was, wie ich zu Beginn sagte, vieler Übungen und Zeit bedarf. Mit Mühe aber erleuchtet dann dem sich Anstrengenden, soweit es dem Menschen möglich ist, die Einsicht (Phronêsis) im Bereich des Einzeldings und der Intellekt ( Nous), wenn man all die einzelnen Erkenntnisse gegeneinander reibt – die Namen und die Definitionen und die Ansichten und die Wahrnehmungen -, und wenn dies von wohlwollenden Prüfern im neidlosen Gebrauch von Fragen und Antworten geprüft wird.“
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Aristoteles’ Physik Aristoteles beschreibt den Weg zur Erkenntnis nun ebenfalls als eine Aufgabe – und zwar als eine Aufgabe, bei welcher der Erkennende zunehmend mehr Unterschiede an dem äußeren Erkenntnisobjekt zu erfassen hat. Wie bei Platon66 meint auch bei Aristoteles Denken und Erkennen einen Akt des Unterscheidens.67 Während der Mensch über das grundsätzliche Vermögen zur Wahrnehmungserkenntnis, d. h. zur Erfassung von Wahrnehmungsunterschieden an ihn affiziierenden materiellen Gegenständen, von Geburt an verfügt, muss er das Vermögen zur Erfassung von nicht-wahrnehmbaren Erkenntnisgegenständen erst kultivieren. Im ersten Buch der Physik unterscheidet Aristoteles das uns als Menschen Frühere und leichter zu Erkennende von dem von Natur aus Früheren und leichter zu Erkennenden. Für uns sei zunächst das Verworrenere, Konfusere (ta synkechymena mallon) deutlicher und leichter zu erkennen.68 Erst wenn wir dessen Elemente und Ursachen erkennen, gelangen wir zu dem uns zwar Späteren, der Natur nach aber Früheren. Dieses Konfuse, uns leichter Zugängliche, nennt Aristoteles in der Physik das Allgemeine (Katholou), von dem aus wir im Lauf des Erkenntnisprozesses zum Einzelnen (ta kath’hekasta) fortschreiten müssen.69 Er bezieht sich hierbei auf den Erkenntnisinhalt. Dieses konfuse Allgemeine bezeichnet ein aus Wahrnehmungserkenntnissen zusammengesetztes Ganzes, welches Vieles umfasse und aus Teilen bestehe. Wie man einem Wort durch dessen Definition eine genauere Bestimmtheit verleiht, so kann das zunächst durch Orientierung an Wahrnehmungsinhalten erfasste konfuse Allgemeine durch Hinwendung zu den Ursachen und Elementen an Bestimmtheit gewinnen. Aristoteles illustriert diesen Erkenntnisprozess an dem Beispiel von Kindern, die zunächst alle Männer „Vater“ und alle Frauen 66
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Vgl. ausführlich hierzu Arbogast Schmitt, Denken und Sein bei Platon und Descartes, S. 109–116. Vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart 2 2008, S. 270, Fn. 253. Vgl. Aristot. phys. 184a,16–22: πέφυκε δὲ ἐκ τῶν γνωριμωτέρων ἡμῖν ἡ ὁδὸς καὶ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριμώτερα· οὐ γὰρ ταὐτὰ ἡμῖν τε γνώριμα καὶ ἁπλῶς. διόπερ ἀνάγκη τὸν τρόπον τοῦτον προάγειν ἐκ τῶν ἀσαφεστέρων μὲν τῇ φύσει ἡμῖν δὲ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριμώτερα. ἔστι δ’ ἡμῖν τὸ πρῶτον δῆλα καὶ σαφῆ τὰ συγκεχυμένα μᾶλλον. – „Der natürliche Weg geht von den für uns leichter zu erkennenden und deutlicheren Dingen zu den Dingen, die von Natur aus leichter zu erkennen und deutlicher sind. Denn diejenigen Dinge, die für uns erkennbar sind, sind nicht die schlechthin erkennbaren Dinge. Folglich ist es notwendig, so vorzugehen, dass man bei den Dingen beginnt, die von Natur aus undeutlicher, für uns aber zunächst deutlicher sind, und zu den Dingen führt, die von Natur aus deutlicher und erkennbarer sind. Für uns sind zunächst die Dinge deutlich und klar, die eher konfus sind.“ Vgl. ebenda, 184a23f.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
„Mutter“ nennen und erst später genauer zu unterscheiden in der Lage sind.70 Die Differenzierungsaufgabe besteht darin, von dem konfusen Erkenntnisinhalt eines abstrakten Allgemeinen durch Erfassung der eigentlichen Unterschiede (und Ausklammerung der nur akzidentellen Eigenschaften) am Erkenntnisobjekt zu einer bestimmteren Erkenntnis zu gelangen. Wenn der Mensch die einer Sache akzidentellen, wahrnehmbaren Eigenschaften zunehmend zu vernachlässigen und somit den Fokus auf die der Sache wesentlichen Eigenschaften zu richten vermag, gelangt er demnach sukzessive zu einem bestimmteren Begriff. Philoponos verdeutlicht in seinem Kommentar zu jener die Physik einleitenden Passage, dass das dem Menschen zunächst nähere, konfuse Allgemeine im Gegensatz zum (bestimmten) Einzelnen ein unbestimmt Einzelnes und damit partikulär ist. Da jenes unbestimmt Einzelne aber Mehrerem zukommt, werde es von Aristoteles allgemein genannt.71 In Aristoteles’ Beispiel könnte dies die tiefe Stimme ihrer Väter sein, die die Kinder von ihnen abstrahieren und die für sie als konfuses Allgemeines für Vater steht. Dieses konfuse Allgemeine ist unterbestimmt gegenüber dem, was unter es fällt, weil durch die Abstraktion nicht alle Unterschiede des Bezeichneten erfasst werden können. Zugleich besitzt es Eigenschaften, die dem Wesen der unter es fallenden Dinge nicht zukommen: Die Tonlage der Stimme ist etwas dem Wesen des Vaters Äußerliches. Aristoteles’ Zweite Analytiken Neben dem konfusen Allgemeinen, das stets der Startpunkt des menschlichen Weges zur Erkenntnis ist, kennt Aristoteles einen weiteren Allgemeinbegriff. Er schreibt in den Zweiten Analytiken, dass er das Näherliegende der Wahrnehmung und damit uns Frühere und besser Erkennbare das Einzelne (ta kath’hekasta) nenne, das der Wahrnehmung Entferntere, schlechthin Frühere und besser Erkennbare hingegen das im höchsten Sinn Allgemeine (ta katholou malista) sei.72 Neben der Tatsache, dass sich Aristoteles im ersten Kapitel der Physik bei der Bezeichnung von Einzelnem und Allgemeinem auf den Erkenntnisinhalt und an dieser Stelle der Zweiten 70 71 72
Vgl. Aristot. phys. 184b12–14. Vgl. Philoponos in phys. 10,23–11,4. Vgl. Aristot. an post. 72a1–5: λέγω δὲ πρὸς ἡμᾶς μὲν πρότερα καὶ γνωριμώτερα τὰ ἐγγύτερον τῆς αἰσθήσεως, ἁπλῶς δὲ πρότερα καὶ γνωριμώτερα τὰ πορρώτερον. ἔστι δὲ πορρωτάτω μὲν τὰ καθόλου μάλιστα, ἐγγυτάτω δὲ τὰ καθ’ ἕκαστα· καὶ ἀντίκειται ταῦτ’ ἀλλήλοις. – „Ich nenne die der Wahrnehmung näheren Dinge die für uns ersten und erkennbareren Dinge, die der Wahrnehmung ferneren Dinge hingegen die schlechthin ersten und erkennbareren Dinge. Das Allgemeinste aber nenne ich das der Wahrnehmung am fernsten liegende, das Einzelne aber nenne ich das der Wahrnehmung nächste. Diese beiden sind einander entgegengesetzt.“
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Analytiken offensichtlich auf die Erkenntnisgegenstände bezieht,73 kann man in Aristoteles’ Werk eine Differenzierung von Allgemeinbegriffen erkennen. Allgemein nennt Aristoteles in den Zweiten Analytiken das, was sowohl gemäß allem als auch gemäß seiner selbst, also von sich selbst her (kath’hauto), sowie als es selbst, insofern es es selbst ist (hêi auto), existiert.74 Gemeint ist damit, dass dieses Allgemeine die (nicht wahrnehmbare) Bestimmung einer Sache ist, die ausschließlich dieser und zuerst dieser Sache zukommt und nach der sich alle Instanzen selbiger richten. Dieses Allgemeine ist weder unter-, noch überbestimmt: Ein Dreieck zu bestimmen, indem man ihm eine Außenwinkelsumme von 360◦ zuschreibt, wäre demnach nicht hinreichend, da diese Bestimmung auch anderen Figuren zukommt. Die Bestimmung einer ebenen Figur mit einer Innenwinkelsumme von 180◦ , wobei alle Innenwinkel kleiner als 90◦ sind, trifft zwar ausschließlich auf Dreiecke zu, aber nicht auf alle Dreiecke, sondern nur auf jene Dreiecke, die spitzwinklig sind. Was dem Dreieck primär zukommt, ist die Innenwinkelsumme von 180◦ . Diese kommt sowohl allen denkbaren Dreiecken (kata pantos) als auch dem Dreieck für sich selbst und insofern es es selbst ist (kath’hauto kai hêi auto) und diesem als erstem (kata touth’hyparchei prôton) zu.75 Aristoteles nutzt somit verschiedene Allgemeinbegriffe: Einen, welcher sich vor allem an Wahrnehmbarem orientiert, Mehrerem zukommt, aber stets abstrakt und unbestimmt bleibt (und damit ein konfuses oder abstraktes Allgemeines darstellt) und einen, welcher die Bestimmung einer Sache ausmacht, indem er ihr zuerst und für sich zukommt und an dem der Mensch sich als an einem primären bzw. reichen Allgemeinen bei der Erkenntnis der Instanzen dieser Sache orientiert. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Allgemeinbegriffen und damit verschiedenen Erkenntnisstufen bildet die Basis für die Methodik des neuplatonischen Philosophieunterrichts. Der Weg der Erkenntnis beginnt demnach stets bei einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen als die dem Menschen ersten Erkenntnisgegenstände und bei dem konfusen Allgemeinen als dem Menschen ersten Erkenntnisinhalt. Aber der Erkenntnisweg hört dort nicht auf. Denn „wenn wir aber“, so Simplikios in seinem Kommentar zur Physik, 73
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Bei den Erkenntnisgegenständen sind dem Menschen die (zum Teil materiellen, wahrnehmbaren) Einzeldinge zunächst näher, das (primäre) Allgemeine ist aber schlechthin früher und besser erkennbar (Zweite Analytiken), während bei dem Erkenntnisinhalt die Menschen zunächst bei dem (konfusen) Allgemeinen beginnen und zu dem der Natur nach früheren bestimmten Einzelnen voranschreiten (Physik). Vg. Aristot. an post. 73b26f.: καθόλου δὲ λέγω ὃ ἂν κατὰ παντός τε ὑπάρχῃ καὶ καθ’ αὑτὸ καὶ ᾗ αὐτό. Vgl. ebenda, 74a35f. Ausführlich zum ‚primären Allgemeinen‘ bei Philoponos und Simplikios vgl. Rainer Thiel, Aristoteles’ Kategorienschrift in ihrer antiken Kommentierung, Tübingen 2004, S. 39–58 sowie Christian Pietsch, Prinzipienfindung bei Aristoteles: Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart: Teubner, 1992, S. 52–57.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG „vom Konfusen zum Reinen und vom Zusammengesetzten zum Einfachen und Elementaren fortschreiten, dann dürften wir wohl als Voranschreitende dem Wissen näher sein, weil wir ja nicht nur das mittels der Wahrnehmung, sondern eben auch das mittels des Denkens Erkennbare und nicht nur die zusammengesetzten Ergebnisse, sondern auch deren verursachende Prinzipien erfassen.“76
Darauf baut die ‚anagogische‘ (d. h. den Schüler ‚hinaufführende‘, seine Seele zu seiner Natur hin befreiende und das Textverständnis vertiefende) Methode des gesamten neuplatonischen Philosophieunterrichts auf. Anagogie Sowohl Platon als auch Aristoteles beschreiben in ihren Texten, wie der Weg des Menschen zur Erkenntnis zwar bei dem (z. T. sinnlich wahrnehmbaren) Einzelgegenstand beginnt und beginnen muss, aber von dort nur durch die Ausklammerung der akzidentellen und durch die Konzentration auf die wesentlichen Eigenschaften zu der Erfassung eines nicht-sinnlichen und unabhängig von den Einzelgegenständen unterscheidbaren Allgemeinen und damit zu festem Wissen gelangen kann.77 Die ersten an den Einzelgegenständen erfassten Erkenntnisinhalte sind konfus, weil sie aus wahrnehmbaren und allgemeinen Erkenntnisinhalten zusammengesetzt sind. Erst die Fokussierung auf die für sich erkennbaren, nicht-sinnlichen Erkenntnisgegenstände ermöglicht demnach die Erfassung von konkreten Erkenntnisinhalten und somit Wissen.78 Während bisher der Fokus nur auf der Unter76
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Simpl. in phys. 17,21–25: ὅταν δὲ ἀπὸ τῶν συγκεχυμένων ἐπὶ τὰ εἱλικρινῆ καὶ ἀπὸ τῶν συνθέτων ἐπὶ τὰ ἁπλᾶ καὶ στοιχειώδη προέλθωμεν, τότε ἂν εἴημεν ἐγγυτέρω προσιόντες τῇ ἐπιστήμῃ, ἅτε μὴ μόνον τὰ κατ’ αἴσθησιν γνωστὰ ἀλλὰ καὶ τὰ κατὰ λόγον γνωρίζοντες καὶ μὴ μόνον τὰ σύνθετα ἀποτελέσματα ἀλλὰ καὶ τὰ αἰτιώδη τούτων στοιχεῖα. Vgl. auch zur ‚Methode des Mit-Sich-Aufhebens‘ Gyburg Radke, Die Theorie der Zahl im Platonismus. Ein systematisches Lehrbuch, Tübingen und Basel 2003, S. 209–222. Diese erkenntnistheoretische Hinführung zu den für sich erkennbaren Gegenständen ist nicht nur die Grundlage für eine Überwindung des Meinens zum Wissen, sondern auch die Grundlage für die Ausbildung und daraufhin mögliche Aktivierung der der menschlichen Seele spezifischen Vermögen. Damit steht die Anagogie, und auch das Hinaufführen des Menschen aus der Höhle ans Licht zur Philosophie (s. Platons Höhlengleichnis Plat. rep. 514a1–517a8) nicht nur für einen erkenntnistheoretischen Aufstieg, sondern auch, wie der Akzent im Neuplatonismus z. B. bei Porph. sent. 30 gesetzt wird, für den Aufstieg der Seele als Geschaffene zur Aktualisierung ihrer höchsten, d.h. ihrer göttlichsten Vermögen und damit für eine Hin- bzw. Rückführung zu ihrem göttlichen Ursprung (vgl. zur Funktion des Göttlichen im Platonimus unten S. 377 und 379).
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scheidung von Erkenntnisgegenständen und Erkenntnisinhalten lag, sollen im folgenden Unterkapitel die verschiedenen Erkenntnisvermögen beleuchtet werden, deren Verständnis für die platonisch-aristotelische Erkenntnistheorie grundlegend ist. 2.1.2
Erkenntnisvermögen
Meinung in Abgrenzung von Wahrnehmung und Wissen Der Weg zur Erkenntnis nimmt seinen Ausgang bei den wahrnehmbaren Gegenständen. Wenn bei der Erfassung eines Einzelgegenstandes nicht nur die sinnliche Wahrnehmung, sondern auch die menschlichen Verstandesvermögen beteiligt sind, sprechen Platon und Aristoteles von Meinungserkenntnissen. Während der Mensch durch seine Sinnesorgane nur das an einem Gegenstand erkennen kann, was auch sinnlich wahrnehmbar ist – also Töne, Farben, Formen, Konsistenzen etc. –,79 bezieht sich die Meinung auf nicht wahrnehmbare Funktionen (Erga bzw. Eidê), die sie an einem einzelnen aus Materie und Form zusammengesetzten Gegenstand, einem Syntheton aus Hylê und Eidos, erfasst. Mittels des Meinungsvermögens erkennt der Mensch eine Funktion an den Gegenständen und erschließt
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Das Wahrnehmungsvermögen ist sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles ein aktives Unterscheidungsvermögen der (nicht nur) menschlichen Seele. Dieses Vermögen ist in der Lage, die wahrnehmbaren (!) Eidê an den Gegenständen (ohne Materie) zu erfassen. (Vgl. Aristot. an. 424a17–24) Diese Eidê sind die spezifischen Wahrnehmungs‚gegenstände‘, die den Einzelgegenständen ihre (nicht wesensmäßige, sondern) wahrnehmbare Beschaffenheit verleihen. Neben den den einzelnen Sinnesorganen eigentümlichen Wahrnehmungsgegenständen (Idia: z. B. Sehsinn: Farbe, Hörsinn: Ton etc.) gibt es auch die gemeinsamen Wahrnehmungsgegenstände (Koina: z. B. Bewegung, Form, Ruhe etc.). Die Wahrnehmung wird hierbei als ein aktiver (!) Bewegungsvorgang der Seele verstanden (vgl. hierzu Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, S. 49–68), der eine qualitative Änderung bewirkt, die sich in Lust- und Unlustzuständen bemerkbar macht. Zu den spezifischen Leistungen der Wahrnehmung im Aristotelismus und Neuplatonismus vgl. ausführlich grundlegend ebenda, außerdem Viviana Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt am Main: Athenäum, 1987, S. 49–103 sowie Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, Heidelberg 2011, S. 232–298. Dieselben Funktionen lassen sich bereits bei Platons Beschreibungen des Wahrnehmungsvermögen finden, vgl. Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen und Basel: Francke, 2000, S. 66–88.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
somit ein Allgemeines an Wahrnehmbarem.80 Da das Meinungsvermögen damit das Vermögen reiner Wahrnehmung übersteigt, ist es ein Teil des rationalen Erkenntnisvermögens des Menschen. In Anlehnung an Platon81 bezeichnet Aristoteles die Meinung als etwas ihrer Natur nach Unbeständiges, deren Gegenstände sich anders als die Gegenstände des Intellekt (Nous) nicht notwendige, immer mit sich identische sind, sondern sich immer auch anders verhalten können.82 In Abgrenzung zum Gegenstand des Wissens, welcher beständig, bestimmt und notwendig in dem Sinn ist, dass er sich eben nicht anders verhalten kann – dies sind die wesenseigenen Merkmale des materielosen Eidos –, haftet dem Gegenstand der Meinung Materiales an. Denn das, „was allein über das Vermögen bestimmt ist, eine Bestimmtheit aufzunehmen, ist nichts anderes als die Materie [. . . ]. Die Materie ist also das Prinzip für die Andersheit.“83 Insofern die Meinung von einem Syntheton ausgeht, hierbei aber auf dessen sachliche Einheit, d. h. das der Materie die Form gebende Eidos, fokussiert, hat sie ein bereits an Materie aktualisiertes, dadurch auf ausschließlich eine Möglichkeit der Verwirklichung festgelegtes Eidos zur Grundlage und damit ein beschränktes Allgemeines zum Inhalt.84 Genau hierin besteht ihre Täuschungsanfälligkeit: Meinungen können wahr wie falsch sein, 80
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Vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, S. 325. Vgl. z. B. Plat. Tim. 51e–52a, wo die unveränderlichen Gegenstände des Denkens den veränderlichen Gegenständen des Meinens gegenübergestellt werden; ders. rep. 477e– 478e, wo die Meinung als das Vermögen definiert wird, dass die Dinge zwischen dem Seienden und Nicht-Seiendem zum Gegenstand hat; ders. Men. 97e–98a, wo die Meinung dadurch von dem wissenschaftlichen Wissen abgegrenzt wird, dass sie flüchtig und ungebunden ist, während das Wissen als bleibend und dadurch wertvoller charakterisiert wird. Vgl. Aristot. an post. 88b30–89a10; ders. metaph. 1039b34–1040a1. Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 410f. Dieses in der Materie auf eine Möglichkeit der Realisation eingeschränkte Eidos kann der Mensch durch das Meinungsvermögen erkennen, indem er am Syntheton die materiellen Beschaffenheiten als nur akzidentell erkennt und damit das dem Einzelgegenstand immanente Allgemeine (also das enhylon Eidos) freilegt. In der Lage hierzu ist der Mensch gemäß Philoponos, weil er Anteil an Spuren und Abbildern des Nous, an den sogenannten koinai Ennoiai hat, durch welche er ohne Syllogismus zum Schlusssatz gelangen kann. Vgl. Philoponos in de an. 3, 15f: τούτου τοίνυν τοῦ νοῦ εἰ καὶ μὴ μετέχομεν οἱ πολλοί, ἀλλ’ οὖν ἴχνη τινὰ καὶ ἰνδάλματα διαβέβηκεν καὶ εἰς ἡμᾶς· ταῦτα δέ ἐστιν αἱ κοιναὶ ἔννοιαι – „Wenn nun auch die meisten keinen Anteil an diesem [scil. Intellekt] haben, so erreichen doch auch uns gewisse Spuren und Abbilder davon. Dies sind die ‚gemeinsamen Gedanken‘ (koinai Ennoiai).“ Und ebenda, 5,17–20: πᾶν γὰρ ὅπερ ἴσμεν κρειττόνως ἢ κατὰ ἀπόδειξιν, ταῦτα κατὰ κοινὴν ἔννοιαν ἴσμεν. ἃ δὲ δείξεως δεῖται εἰς τὸ γνωσθῆναι ὑφ’ ἡμῶν, τούτων τὰ συμπεράσματα χωρὶς ἀποδείξεως ἔργον ἐστὶ τῆς δόξης εἰδέναι. – „All das, was wir besser als durch einen Beweis kennen, (er-)kennen wir durch die koinai Ennoiai. Die Leistung der Meinung ist es, ohne Beweis die Schlusssätze von den Erkenntnissen zu
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weil sie zum einen das tatsächlich formgebende Eidos korrekt aus dem Syntheton herauslösen können, zum anderen aber auch weitere (z. B. sinnlich wahrnehmbare) Eigenschaften des gegebenen Einzelgegenstandes fälschlicherweise auf dessen (scheinbares) Eidos ausdehnen und verallgemeinern können. Da das Meinungsvermögen sich nicht auf das rein intelligible Eidos für sich richtet, sondern stets auf an Materie gebundene Eidê bezogen ist, besteht die Gefahr, nicht unterscheiden zu können, welcher Aspekt des Syntheton zum Eidos gehört und was nur akzidentell mit dem Eidos aufgenommen wird. Der – beispielsweise – rote eckige Metalltisch ist eben nur eine der möglichen Instanzen des Eidos’ Tisch, und der nur meinende Mensch unterliegt der Versuchung, das Rote, Eckige oder Metallene des Tisches zum Eidos des Tisches dazuzuzählen oder gar in allem Roten, Eckigen, Metallenen kennen, die eines Beweises bedürfen.“ Wenn man Rauch sieht und den Schlusssatz aufstellt: „Es brennt“, besteht die spezifische Leistung der Meinung darin, das Wesen des Feuers unmittelbar am Rauch, an dieser einen Instanz des Feuers, abzulesen. Dies geschieht, indem sich die Seele, gereizt durch die Wahrnehmung, an die Begriffe des Seienden erinnert: Vgl. ebenda, 5.3–7: τοῦτον τὸν τρόπον καὶ ἡ δόξα ἐρεθιζομένη ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως προβάλλει τοὺς λόγους τῶν ὄντων. οὕτω καὶ τοὺς διδασκάλους φασὶ μὴ τὴν γνῶσιν ἡμῖν ἐντιθέναι, ἀλλὰ τὴν οὖσαν ἐν ἡμῖν καὶ οἷον κρυπτομένην ἐκφαίνειν· ἐπεὶ εἰ μὴ ἦσαν ἐν ἡμῖν οἱ τῶν ὄντων λόγοι, διὰ τί συναισθόμεθα, ὅταν τις παρὰ τὴν τῶν πραγμάτων φύσιν διαλέγηται. – „In dieser Weise präsentiert auch die Meinung, die von der Wahrnehmung gereizt worden ist, die Begriffe der seienden Dinge. So sagen sie auch, dass die Lehrer nicht die Erkenntnis in uns hineinpflanzen, sondern dass sie sie, als sei sie in uns verborgen, zum Vorschein bringen. Denn wenn die Begriffe der seienden Dinge nicht in uns wären, stellt sich die Frage, warum wir, wenn jemand gegen die Natur der Sachen redet, dies bemerken.“ Die Leistung der Meinung ist eine intellektuelle, keine ästhetische Leistung, weil der Mensch das gebundene enhylon Eidos, die koinai Ennoiai, das immanente Allgemeine an der Materie erkennt. Damit zählt auch das Meinungsvermögen zu den rationalen Seelenvermögen. Der Unterschied zu den höheren rationalen Vermögen besteht in der Beschränktheit des Erkenntnisobjekts. Die koinai Ennoiai sind eben nur Spuren und Schatten des Nous, das enhylon Eidos bzw. das immanente Allgemeine sind eben nur eine auf eine Möglichkeit der Realisierung festgelegte Variante des materielosen Eidos, des primären Allgemeinen. Im Unterschied zu der richtigen Meinung, der es gelingt, den Funken des Eidos durch Entfernen der Asche, d. h. der Materie, aufflammen zu lassen (vgl. ebenda, 4.32–5,2: ὥσπερ οὖν ὅταν τις μικρὸν τὴν τέφραν διορύξῃ, ὁ σπινθὴρ εὐθὺς ἀναλάμπει, καὶ οὐχ ὁ διορύξας τὸν σπινθῆρα ἐποίησεν, ἀλλὰ μόνον τὰ ἐμποδίζοντα ἔπαυσεν – „Wie nun, wenn jemand ein wenig die Asche durchgräbt, der Funke direkt wieder aufflammt und der Grabende diesen Funken nicht erzeugte, sondern lediglich die Hindernisse beseitigte.“), scheitert die falsche Meinung daran, das Materielle vom Allgemeinen zu lösen, vermengt kontingente, materielle Eigenschaften mit dem Begriff, so dass der Funke der koinai Ennoiai vor lauter Asche nicht aufzuflammen imstande ist. Fehlerhafte Erkenntnisse und falsche Verallgemeinerungen sind die Folge (vgl. hierzu auch Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 452–463).
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
künftig einen Tisch zu erkennen. Diese Ungenauigkeit kommt dadurch zustande, dass auf der Erkenntnisebene der Meinung an einem Gegenstand nur das „Dass“ (to hoti) eines Sachverhaltes erkannt werden kann, aber nicht das „Warum“ (to dihoti). Diese Unterscheidung zwischen dem „Dass“ und dem „Warum“ vollzieht Aristoteles im ersten Kapitel des zweiten Buches seiner Zweiten Analytiken.85 Philoponos hat im Erkennen der Schlusssätze ohne Beweisführung86 die spezifische Leistung der Meinung gesehen.87 Sie geht nicht den mühsamen Weg des Syllogismus, sondern gelangt von der Beobachtung eines Gegenstandes direkt zum Schlusssatz, also zum (vermeintlich) Allgemeinen. Diese Erkenntnisfähigkeit des Menschen erleichtert zwar den alltäglichen Umgang mit den Gegenständen in der Welt, doch ist sie auch fehleranfällig. Und derjenige, welcher eine Meinungserkenntnis mit Wissen verwechselt, bezeichnet etwas fälschlicherweise als Wissen, das sich auch anders verhalten könnte.88 Von der Meinung zum Wissen Um zu Wissen zu gelangen, ist es demnach entscheidend, über das „Dass“ hinauszugehen und nach dem „Warum“ zu fragen. Denn die Feststellung des „Dass“ stellt lediglich eine Etappe (und keineswegs das Ende) auf dem Weg zur Erkenntnis dar. Da die neuplatonische Philosophie einen anagogischen Weg beschreitet, gilt es jedoch auch auf dieser Etappe erzieherisch einzuwirken. Die Meinung steht zwar über dem Wahrnehmungsvermögen, stellt aber von den rationalen Erkenntnisvermögen die unterste Stufe dar. Anders als das diskursive Denken (Dianoia) 85
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Vgl. Aristot. an post. 89b25–31: ὅταν μὲν γὰρ πότερον τόδε ἢ τόδε ζητῶμεν [. . . ], οἷον πότερον ἐκλείπει ὁ ἥλιος ἢ οὔ, τὸ ὅτι ζητοῦμεν. σημεῖον δὲ τούτου· εὑρόντες γὰρ ὅτι ἐκλείπει πεπαύμεθα· καὶ ἐὰν ἐξ ἀρχῆς εἰδῶμεν ὅτι ἐκλείπει, οὐ ζητοῦμεν πότερον. ὅταν δὲ εἰδῶμεν τὸ ὅτι, τὸ διότι ζητοῦμεν, οἷον εἰδότες ὅτι ἐκλείπει καὶ ὅτι κινεῖται ἡ γῆ, τὸ διότι ἐκλείπει ἢ διότι κινεῖται ζητοῦμεν. – „Wenn wir nämlich danach suchen, ob dieses oder jenes ist [. . . ], also wenn wir uns z. B. fragen, ob die Sonne sich verfinstert oder nicht, dann fragen wir nach dem Dass. Ein Zeichen hierfür ist, dass wir aufhören zu suchen, wenn wir herausgefunden haben, dass sie sich verfinstert. Und dass wir, wenn wir von Anfang an wissen, dass sie sich verfinstert, dann nicht mehr nach dem Ob fragen. Wenn wir aber das Dass kennen, forschen wir nach dem Warum. Wenn wir z. B. wissen, dass sich die Sonne verfinstert und dass sich die Erde bewegt, fragen wir danach, warum sich die Sonne verfinstert und warum sich die Erde bewegt.“ Vgl. Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 452–463, ins. S. 458. Ausführlich zum praktischen Syllogismus als dem vom menschlichen Meinungsvermögen verrichteten Schluss vgl. ebenda, S. 512–522. Die Verdeutlichung dieser Einsicht stellt in den meisten Dialogen das Anliegen des platonischen Sokrates dar.
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und der Intellekt (Nous) bezieht sich die Meinung auf wahrnehmbare Gegenstände, sofern diese Syntheta sind, wobei der Erkenntnisfokus nicht auf dem bloß Wahrnehmbaren, sondern im besten Fall auf dem rational Erfassbaren, der Einheit, der Formursache des Syntheton liegt. In diesem Bereich ist jedoch die Täuschungsund Fehleranfälligkeit besonders hoch, weil das der Sache kontingent anhaftende, wie das Eckige des Tisches, für den Ungeübten nur schwer von der wirklichen Formursache geschieden werden kann. Platon und Aristoteles haben darauf hingewiesen, dass der Mensch in der Betätigung seiner Erkenntnisvermögen nach der Geburt zunächst nur auf die Wahrnehmungsvermögen zurückgreifen kann, weil die vernünftigen Vermögen erst ausgebildet werden müssen. Dadurch ist es der Mensch gewohnt, in der Begegnung von Einzelgegenständen auf deren sinnliche Merkmale zu achten. Diese sinnlichen Merkmale sind es, aus denen der einen Einzelgegenstand erfassende, aber nicht auf die (Form-)Ursachen ‚blickende‘ Mensch ein konfuses Allgemeines bildet. Es ist die Aufgabe von Lehrern, den Umgang mit diesen Gegenständen zu schulen, ‚wohlwollend‘ und ‚neidlos‘ bei Lernenden zu prüfen und sie immer wieder zu widerlegen,89 Stück für Stück die den Funken hindernde Asche zu entfernen,90 bis das der Sache akzidentell Anhängende nicht mehr zu ihr gezählt wird. Da in der platonisch-aristotelischen Psychologie die unterschiedlichen Erkenntnisvermögen der Seele nicht Ausdruck mehrerer Seelen, sondern eines einzigen, sich nur auf verschiedene Gegenstände beziehenden Unterscheidungsvermögens sind und diese unterschiedlichen Erkenntnisvermögen aufeinander aufbauen, ist die Schulung des Meinungsvermögens Teil der Ausbildung des dem Menschen höchsten und spezifischen Unterscheidungsvermögen – dem intelligiblen Denken.91 Während das Wahrnehmungsvermögen bloß das sinnlich Wahrnehmbare am Gegenstand unterscheidet, das Meinungsvermögen sich optimalerweise auf das enhylon Eidos, also auf das immanente Allgemeine bezieht, haben Dianoia und Nous – diskursives Denken und Intellekt – materiell ungebundene Eidê zum Erkenntnisziel, wobei die Dianoia, weil sie z. B. noch an die Vorstellung gebunden ist, diese Eidê nur in einem Nach- und Nebeneinander zusammensetzen kann, während der Nous sich in der Tätigkeit seiner Erkenntnis dem Eidos angleicht und dieses damit für sich selbst erkennt.92 Der Weg führt bei dem Menschen von den materiell gebundenen Erkenntnisvermögen graduell zu der aus sich selbst heraus tätigen, freien, von materiellen Bedingungen unabhängigen Erkenntnis des Nous. Und „[j]e bestimmter diese Vermögen über bestimmte Tätigkeiten, die sich auf bestimmte und nicht auf unbestimmte Gegenstände richten, ausgebildet werden, desto leichter wird sich dieser Weg bis zu seiner Vollendung vollziehen.“93 89 90 91 92 93
Vgl. Plat. epist. 344b3–c1. Vgl. Philoponos in de an. 4,30–5,5. Vgl. Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 415–436. Vgl. ebenda, S. 424. Ebenda, S. 423.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Der Erkenntnis folgend, dass dem Menschen zwar das Vermögen zur höchsten Erkenntnis gegeben ist, dieses Vermögen aber erst ausgebildet werden muss, entwickelten die Neuplatoniker auch ihr Konzept der anagogischen Pädagogik. Es bedarf in der Regel guter Lehrer und guter Erzieher, um die jungen ungeübten Menschen zunächst an höhere Erkenntnistätigkeiten zu gewöhnen, sie also mit ‚höheren‘ Erkenntnisgegenständen zu konfrontieren, so dass sie in die Lage versetzt werden, die Lust daran für sich zu entdecken. Die Rolle der Lehrer und Erzieher ist die eines Begleiters auf dem Weg zur Erkenntnis, da das Wissen den Lernenden nicht einfach ‚eingeflößt‘ oder wie ein Gegenstand übergeben werden kann. Lehrer und Erzieher sollten sich damit in Anlehnung an Sokrates als Hebammen verstehen.94 Wenn der Schüler jedoch keine „Verwandtschaft zur Sache“95 hat, z. B. aufgrund einer fehlgeleiteten Erziehung, nutzt auch alle Anstrengung des Lehrers nichts mehr.96 2.1.3
Von der Propädeutik zur Wissenschaft
Während wissenschaftliche Texte und Unterrichtseinheiten im platonischen Verständnis auf die Erkenntnis des Seins, auf die Erkenntnis von konkreten Inhalten zielten, in denen das rationale Vermögen des Menschen in die Richtung gelenkt wird, denkbare Gegenstände rein für sich zu erkennen und die dem Denken zugrunde liegenden Prinzipien zu erfassen, bereiten die Texte und Schulungen der Propädeutik diesen Weg erst vor. Auf einer unteren Stufe wird in einer ‚protreptischen‘ Weise der Schüler zunächst auf die Suche nach der Erkenntnis vorbereitet, indem er seine eigene Bedürftigkeit nach Wissen, nach Erkenntnis entdeckt.97 Hierzu gehört die Freilegung der Erkenntnis bei dem Schüler, dass sein vermeintliches Wissen auf keiner festen Grundlage beruht und in Wahrheit einem doppelten Unwissen entspricht. Der Schüler weiß nicht nur einfach nicht, sondern er weiß nicht einmal, dass er nicht weiß.98 ‚Protreptische‘ Schriften haben nicht nur das Ziel, diesen Zustand des doppelten Nichtwissens zu überwinden, sondern wollen auch von dem Zustand des einfachen Nichtwissens in die richtige Richtung weisen. Sie sind ausnahmslos noch auf Gegenstände bezogen, die sich unterschiedlich verhalten können. Sie betreffen demnach die Meinungsebene und versuchen den 94 95 96
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Vgl. Plat. Tht. 149a1–151d3. Vgl. Plat. epist. 344a2f. Deshalb empfiehlt Sokrates auch in der Politeia (vgl. Plat. rep. 540e6–541a7) im Sinn der schnellsten und leichtesten Einrichtung des besten Staates alle Kinder, die älter als zehn Jahre sind, aufs Land zu schicken, da sie bereits von den Gewohnheiten und Gebräuchen der Eltern verdorben sind. Zu den ‚protreptischen‘ Schriften im antiken Platonunterricht vgl.: Gyburg RadkeUhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 40–45. Zum doppelten Unwissen und dessen Konsequenzen vgl. Plat. Alk. 1 117d8–118a6.
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Schüler dahin zu führen, dass er sich nicht nur auf das „Dass“ von Sachverhalten konzentriert, sondern auch nach dem „Warum“ fragt, dass er das Konfuse seiner abstrakten Erkenntnis begreift und sich auf die Suche nach den Prinzipien macht. Dies ist die „Verwandtschaft zur Sache“, die Platon im Siebten Brief als notwendige Bedingung für das Erreichen von Erkenntnis voraussetzt. Die ‚protreptischen‘ Schriften haben die Aufgabe, jene notwendige Bedingung zu erfüllen, und in gewisser Weise zählen auch schon die Philosophenviten zu diesen Schriften.99 Sie führen dem Leser an einem Exemplum eine vollendete Lebensführung vor Augen und sprechen damit den noch ungeschulten Lehrling ohne die Verwendung ihm fremder und schwieriger Begriffe auf der Meinungsebene an. Er kann hier am Einzelnen (dem dargestellten Leben eines Philosophen) etwas Allgemeines (ein vollkommenes, glückliches, richtiges Leben) erkennen. Eine höhere Stufe der propädeutischen Schriften im neuplatonischen Philosophieunterricht stellen die logischen Schriften des aristotelischen Organons und deren Kommentierungen dar. Hier geht es darum, die zweite notwendige Bedingung, die Platon im Siebten Brief erwähnt, für die Erkenntnis bereitzustellen. Neben der Verwandtschaft zur Sache brauche der Schüler eine Leichtigkeit im Lernen und ein gutes Gedächtnis, um beim „Aneinanderreiben“ der Wörter und Definitionen, der Vorstellungen und des Wahrgenommenen in Prüfung und Konfrontation mit Widerrede zur Erkenntnis des Gegenstandes zu gelangen.100 Die Logik dient im Neuplatonismus der inhaltlichen Erkenntnis, sie ist ein Werkzeug der Philosophie, nicht Philosophie selbst, da sie den Erkenntnisinhalt nicht in sich selbst trägt, sondern nur zu ihm führt.101 Ziel ist die Schulung der „Geschmeidigkeit und Schnelligkeit des rationalen Schlussfolgerns,“102 also eben die Herstellung einer Eumatheia, um die heuristische Arbeit bei dem Umgang mit den erfassten Gegenständen zu erleichtern. Die sich der Propädeutik anschließende Wissenschaft, die Philosophie selbst, habe hingegen das Ziel der Erkenntnis in sich selbst, d. h. das „Ziel der begrifflichen Erfassung intelligibler Sachunterschiede, solcher, die für die Erkenntnis des Sinnlich-Wahrnehmbaren leitend sind, und solcher, die an und für sich in ihrer begrifflichen Konstituiertheit erkannt werden sollen.“103 Für diesen Bereich kann im platonisch-aristotelischen Verständnis die Beschäftigung mit Epiktets Handbüchlein der Moral – allein aufgrund des gewählten Gegenstandsbereiches des Handelns in der Gesellschaft – nicht von Nutzen sein.104 99
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Vgl. ausführlich zu den Philosophenviten Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 12–39. Vgl. Plat. epist. 344a2–c1. Vgl. Gyburg Radke-Uhlmann, Philosophieunterricht und Hermeneutik im Neuplatonismus, S. 120f. Ebenda, S. 121. Ebenda, S. 130. Vgl. unten Abschnitt 3.1.1, S. 85 und Abschnitt 3.1.2, S. 89.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
2.1.4
Tugendgrade
Da in platonisch-aristotelischer Tradition jeder Erkenntnisakt mit einem Gefühl von Lust und Unlust verbunden ist,105 führt der Weg zum materiell ungebundenen Erkennen nicht nur zu der dem Menschen höchsten Erkenntnis, sondern auch zu der dem Menschen höchsten Lust. Doch die Art der Lustempfindung ist dem Menschen nicht in die Wiege gelegt, sondern hängt an seinem Charakter und damit von Akten der Gewöhnung und Erziehung ab. Nicht jeder Mensch empfindet die gleiche Art von Lust am selben Gegenstand. Da die Art der Lust den Nutzen der Lust für das Wohl des Menschen bestimmt, kann auch in diesem Bereich einer propädeutischen Ethik eine wichtige Aufgabe zukommen. Denn hier besteht das Ziel darin, die Schüler dahin zu bringen, dass sie Lust an den Gegenständen empfinden, die ihrem Wohl zugutekommen und Unlust an denen, die ihnen schaden. Lust und Erkenntnis Es ist die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Schlechten auf der einen Seite und dem Lustvollen und Unlustvollen auf der anderen Seite,106 die den Platonikern erlaubt, zum einen erklären zu können, warum verschiedene Menschen an verschiedenen Tätigkeiten Lust empfinden, selbst wenn diese Tätigkeiten ihnen schaden, zum anderen eine Wertigkeit von Lüsten einzuführen, die für die Lusterziehung als Maßstab dienen kann. Da die Lust den Erkenntnisakt begleitet, liegt es nahe, sie anhand der verschiedenen Erkenntnisgegenstände zu differenzieren.107 Die eine Art der Lust begleitet die Erkenntnis von sinnlich Wahrnehmbarem, wie z. B. die Lustempfindung, die bei dem Schmecken von Süßem auftritt. Eine weitere Art von Lust begleitet die Erkenntnis von Allgemeinem im Einzelnem, z. B. die Lustempfindung, die sich einstellt, wenn man Unrecht gesühnt meint oder wenn man sich geehrt fühlt. Eine andere Art von Lust begleitet die Erkenntnis von nur rational erfassbaren Sachverhalten, wie die Lustempfindung, die das Lösen von Mathematikaufgaben oder das Begreifen begrifflicher Zusammenhänge begleitet.108 Die ersten beiden Arten von Lüsten, die an der Wahrnehmung und an der Meinung 105
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Vgl. Aristot. eth. Nic. 1174b20–1175a5, außerdem Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, S. 283–293, sowie grundlegend zur aristotelischen Gefühlstheorie Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, zu Platons Gefühlstheorie vgl. Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, S. 96–100. Nicht alles, was Lust bewirkt, ist auch gut: Vgl. z. B. Plat. Gorg. 499b4–500b6; ders. rep. IX. Buch. Zum ontologischen Unterschied vgl. ders. Phil. 53d3–55c4. Wie es auch Platon explizit z. B. in Plat. rep. 479e–480a tut. Vgl. zum Zusammenhang von den verschiedenen Erkenntnistätigkeiten und den begleitenden Lüsten bei Platon: Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre
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hängen, können zwar lustvoll, aber gleichzeitig auch schädlich sein.109 So schadet der dauerhafte Genuss von Süßem nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele, indem sie bei Gewöhnung daran einen Habitus (Hexis) ausbildet, wodurch sie sich auf das Stillen dieses Bedürfnisses fixiert und sich durch diese Konzentration für andere, nützliche Lüste unempfänglich macht.110 Wer sich den Freuden hingibt, die aus Ruhm, Anerkennung und Vergeltung entstehen, läuft Gefahr, sich auf nur scheinbar Ruhmvolles und scheinbar Gerechtes zu fokussieren, wenn er seine zugrunde liegende Meinung nur aus Einzelinstanzen gewonnen hat, ohne sie zu überprüfen. Die Lust hingegen, die die intellektuelle Tätigkeit begleitet, ist die höchste, dauerhafteste und eigenständigste Lust, die ein Mensch empfinden kann. Denn diese Lust stellt sich genau dann ein, wenn der Mensch sein ihm eigentümliches und spezifisches Ergon (etwa Werk, Leistung, Funktion) vollendet,111 d. h. wenn er intellektuell tätig ist, also sich durch den Akt des Erkennens den Gegenständen des Denkens (Noeta) angleicht. In den Tätigkeiten des vernünftigen Denkens (also der Energeia der Dianoia oder des Nous) entspricht der Mensch seiner ihm spezifischen Natur. Dieses Denken kann aus sich selbst heraus tätig werden und somit ist die dieses Denken begleitende Lust auch die erstrebenswerteste, denn sie ist für sich selbst erstrebenswert und hat kein Übermaß. Die an Einzelinstanzen hängenden Lüste der Wahrnehmung und der Meinung bergen – wenn sie nicht als die dem Menschen erste, sondern als dessen letzte erstrebenswerte Lüste beurteilt werden – durch eine Gewöhnung an und ausschließliche Konzentration auf die Tätigkeiten, die durch diese Lüste begleitet werden, die Gefahr in sich, dass der Mensch einen charakterlichen Habitus (Hexis) ausbildet, der die Natur des Menschen (Physis) ersetzt und an dem sich die Vollendung der Erkenntnistätigkeit und auch die sich einstellende Lust orientiert. Dank Vorstellung und Erinnerung entsteht in dieser Weise in dem Menschen ein Streben nach ausschließlich diesen Lüsten, welches mehr einem Heilen von Unlüsten nacheifere112 als es ein Streben nach (für den Menschen) natürlich Lustvollem darstelle. Der Mensch besitzt zwar, sofern er Mensch ist, die grundsätzliche Möglichkeit (Dynamis der ersten Stufe) seine spezifische Erkenntnistätigkeit auszuführen, doch
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anthropologische Begründung, S. 92–100 und zu Aristoteles zur Lust an Wahrnehmungen: Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 267–277, S. 298– 317, S. 402–406, zur Lust an Meinungen: ebenda, S. 436–441, zur Lust an der intelligiblen Erkenntnistätigkeit: ebenda, S. 426–436. Vgl. z. B. Plat. rep. IX. Buch, in dem die scheinbaren Vorteile eines tyrannischen Lebens verhandelt werden. Vgl. zu den ‚falschen‘ Lüsten Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 277–279. Lust als Telos der Energeia vgl. Aristot. eth. Nic. 1174b14–1175a1. Vgl. ebenda, 1154a25–b31, dazu Michael Krewet, Die Theorie der aristotelischen Gefühle, S. 433–437.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
muss diese Möglichkeit zunächst zu einem Vermögen (Dynamis der zweiten Stufe) ausgebildet werden. Wolfgang Bernard hat die Aristotelischen Unterscheidungen der der seelischen Möglichkeits- und Verwirklichungsstufen gründlich untersucht und wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es gibt [scil. bei Aristoteles] zwei Arten von Potentialität und zwei Arten von Aktualität, die zusammen drei Stufen fortschreitender Verwirklichung ergeben, da die potentia secunda gleich dem actus primus (erste Entelechie) ist.“113 Anschaulich wird diese Unterscheidung an einem Beispiel des Klavierspielens. Hierbei entspricht die Dynamis erster Ordnung der allgemeinen und grundsätzliche Möglichkeit eines jeden Menschen, Klavier spielen zu können. Um aus dieser grundsätzlichen Möglichkeit ein konkretes Vermögen (Dynamis zweiter Ordnung) des Klavierspielens zu machen, sind ein langer Lernprozess und viele qualitative Veränderungen in der Zeit bei dem Lernenden notwendig. Wenn der Pianist aber einmal das Vermögen zum Klavierspielen besitzt, so ist der Unterschied zwischen dem Spielen und dem Nichtspielen lediglich der des Aktualisierens seines ausgebildeten Vermögens und des Nichtaktualisierens seines Vermögens. Es bedarf nur eines Klaviers und schon kann der Pianist sein Vermögen verwirklichen. Er muss nicht mehr lernen, muss seine seelische Hexis nicht grundlegend verändern, sondern lediglich sein bereits kultiviertes Vermögen durch die kunstvolle Betätigung der Tasten aktualisieren. Seelenbildung durch Lusterziehung Der Mensch also, der nicht dahingehend ausgebildet worden ist, Unterscheidungen im nicht-sinnlichen Bereich zu tätigen, kann dieses Vermögen auch nicht aktualisieren. Dementsprechend kennt er auch die Lust nicht, die diese Tätigkeit begleitet und somit können auch diese Lust bzw. die ihr vorausgehende Tätigkeit nicht zum Ziel des Strebens von diesem Menschen werden. Ziel einer guten Lusterziehung muss es sein, diejenige Lust „schmecken zu lernen“,114 die den Menschen nützlich 113
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Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, S. 55. Die erste Stufe der Potentialität ist die Dynamis im Sinn einer Possibilitas (grundsätzliche Möglichkeit), die zweite Stufe der Potentialität (konkretes Vermögen) ist die Dynamis im Sinn einer ersten Vollendung (Entelechia) dieser Möglichkeit. Die Tätigkeit (Energeia) ist die Aktualisierung des Vermögens, also die zweite Vollendung (zweite Entelechia), vgl. den Basistext Aristot. an. 416b32 – 418a6, sowie dazu erläuternd Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, S. 49–68. Vgl. zu der Wendung „Lüste schmecken“ und deren Quellen unten S. 367, insb. dort Fn. 970.
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ist, die ihn zu sich selbst führt, die seine eigene spezifische Vollendung begleitet. „Lust und Unlust“, so unterstreicht Arbogast Schmitt, „ist also nichts, was einfach in uns da ist, und mit dem wir dann irgendwie umgehen müssen, ihr Entstehen liegt vielmehr zu einem guten Teil in unserer Hand, denn es liegt an uns, wieviel Intelligenz wir bei unseren Erfahrungen einzusetzen bereit sind.“115 Dementsprechend muss das Ziel einer guten Ethik sein, die Erkenntnisvermögen des Menschen richtig auszubilden, angefangen bei der Wahrnehmung, über die Meinung bis hin zum rationalen und intelligiblen Denken. Im Bereich der Wahrnehmung bedeutet das, die Aufmerksamkeit auf die Bestimmtheit und Unterscheidbarkeit von Wahrnehmbarem zu richten. Wer bei dem Genuss eines Glases guten Weines die etlichen Geschmacksnuancen zu differenzieren in der Lage ist, wird eine weitaus größere Wahrnehmungsfreude bei dem Trinken erfahren als jemand, der nur zwischen süß und sauer unterscheiden kann. Wer im Bereich der Wahrnehmung auf das Erkennen von Bestimmtem gut geschult ist, wird im Bereich der Meinung das nur rational Erkennbare leichter von dem sinnlich Wahrnehmbaren trennen können. Und wer das (immanente) Allgemeine in den Dingen gefunden hat, kann sich auf die Suche nach dessen zugrunde liegender Formursache begeben und von dort versuchen, die Bedingungen des Denkens und Erkennens selbst ausfindig zu machen. Je unabhängiger die Erkenntnis von äußeren (d. h. sinnlichen) Gegenständen ist, desto unabhängiger, dauerhafter und selbständiger ist auch die begleitende Lust. Wer daran gewöhnt ist, diese Lust ‚zu schmecken‘, wird sein Streben auch danach ausrichten. Wer hingegen ausschließlich die Lüste der Wahrnehmung und der Meinung kennt, strebt auch nur nach diesen Lüsten und läuft Gefahr, sich nachhaltig selbst zu schaden. Dem Menschen ist demnach zwar die grundsätzliche Möglichkeit zur höchsten Erkenntnis gegeben, aber dieses Vermögen erster Stufe bedarf einer Ausbildung. Je besser die dem Menschen spezfischen Vermögen ausgebildet sind, desto besser ist die eigene seelische Verfassung (Hexis) und desto häufiger gelingt die Aktualisierung der spezifischen menschlichen Vermögen in Bezug auf entsprechende Objekte. Und desto höher ist die begleitende Lust: „So ist in jedem Fall die beste Tätigkeit diejenige, bei der sich die in der besten Verfassung befindliche Seele auf das beste der ihr zugeordnteten Objekte richtet. Dies wird dann auch die vollkommenste und angenehmste sein. Lust gibt es bei der Wahrnehmung, ebenso bei Überlegungen und Denken; am lustvollsten ist das Vollkommenste und am vollkommensten ist die Tätigkeit, bei der sich das eine in 115
Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, S. 344.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG gutem Zustand befindet und das andere das edelste der zugeordneten Objekte ist. Die Lust macht nun die Tätigkeit vollkommen.“116
Bestheiten auf verschiedenen Ebenen Indem Platon und Aristoteles also dafür argumentieren, dass die Menschen ihre Seelenvermögen auf unterschiedlichen Stufen bestmöglich ausbilden, sind sie auch an deren maximalem Lustempfinden interessiert. Der Aufruf zur Tugend (Aretê), d. h. zur Orientierung an der Verbesserung der eigenen Vermögen, ist damit ein Aufruf zum Glück. Nun kann sich der Mensch auf verschiedenen Ebenen in einem guten Zustand befinden: Sein Körper kann in einem guten und gesunden Zustand sein, sein Wahrnehmungsvermögen kann schärfer und differenzierter sein, seine Fähigkeit, Allgemeines an Einzelnem zu erkennen, kann trefflich sein und seine Fähigkeit, intelligible Sachverhalte für sich zu unterscheiden, kann gut ausgebildet sein. Je besser diese Zustände sind, desto angenehmer ist die eigentümliche Lust derer spezifischer Tätigkeiten. ‚Lüste schmecken zu lernen‘ bedeutet also, seine Seelenvermögen zunächst bestmöglich auszubilden. Denn wenn jemand sein Geschmacksempfinden nicht gut ausgebildet hat, wird er an einem exzellenten Wein oder an fein gewürztem Essen nicht die dem Objekt angemessene größtmögliche Lust empfinden können, da er nicht die Unterschiede erkennt und nicht entsprechend tätig wird. Er bleibt in diesem Bereich unter seinen Möglichkeiten, die er mit seinem Wahrnehmungspotential besitzt, sowohl unter seinen Erkenntnis- als auch unter seinen Lustempfindungsmöglichkeiten. Tugendstufen Aus den Unterscheidungen im Bereich der Erkenntnisinhalte und seelischen Erkenntnisvermögen ergeben sich unterschiedliche Niveaus, auf denen die Seele ihre Fähigkeiten ausbauen und verbessern kann. Auch Simplikios erwähnt in seinem Proömium zum Epiktetkommentar verschiedene Tugendgrade, die sich aus Unterscheidungen ergeben, die Mittel- und Neuplatoniker einführten, um ein differenzierteres Verständnis der platonischen Texte zu gewinnen. Platon spricht in seinen Dialogen von unterschiedlichen Tugenden (Aretai), die ausgebildet werden können und verweist damit auf die unterschiedlichen Seelenvermögen mit ihren 116
Aristot. eth. Nic. 1174b18–22: καθ᾿ ἑκάστην δὴ βελτίστη ἐστὶν ἡ ἐνέργεια τοῦ ἄριστα διακειμένου πρὸς τὸ κράτιστον τῶν ὑπ᾿ αὐτήν. αὕτη δ᾿ ἂν τελειοτάτη εἴη καὶ ἡδίστη. κατὰ πᾶσαν γὰρ αἴσθησίν ἐστιν ἡδονή, ὁμοίως δὲ καὶ διάνοιαν καὶ θεωρίαν, ἡδίστη δ᾿ ἡ τελειοτάτη, τελειοτάτη δ᾿ ἡ τοῦ εὖ ἔχοντος πρὸς τὸ σπουδαιότατον τῶν ὑπ᾿ αὐτήν: τελειοῖ δὲ τὴν ἐνέργειαν ἡ ἡδονή.
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jeweiligen Bestzuständen. Wenn Platon von Tugenden redet, an denen Tiere und auch äußerst junge Kinder Anteil haben, die sich ohne Vernunft von Natur aus einstellen,117 von Tugenden, die den Kindern, noch bevor sie fähig sind, ihre Vernunft zu gebrauchen, durch Gewöhnung anerzogen werden, so dass sie über die richtigen Dinge Lust und Unlust empfinden,118 von Tugenden, wonach sich der Mensch in seinen Handlungen und Gefühlen dem vernünftigen Seelenteil unterordnet,119 von Tugenden der Philosophen, wonach die Seele sich in einem Reinigungsprozess von ihrer Fokussierung auf körperliche Dinge löst und sich auf sich selbst konzentriert120 und schließlich von der Tugend, die in der Erkenntnis besteht, dass man nur durch eine Annäherung an Gott den schlechten Dingen entkommen kann,121 so führt er mögliche Bestheiten von Lebensweisen des Menschen an, ohne systematisch die Tugenden den Lebensweisen zuzuordnen. Die Mittel- und Neuplatoniker haben in Anschluss an den systematischen Ausführungen Aristoteles’ ein System von Gradabstufungen der Tugenden entwickelt.122 Im Fokus der Analysen der Neuplatoniker stehen vor allem die Tugenden, in denen der vernünftige Seelenteil vorherrschend tätig ist, d. h. die sogenannten politischen , kathartischen und theoretischen Tugenden.123 Grundlage für eine Einführung von Tugendstufen ist die Vorstellung einer einheitlichen Seele mit mehreren Seelenteilen. Die einzelnen Tugenden stellen seelische Dispositionen dar, die sich im Grad der Ausbildung der verschiedenen Seelenvermögen und in den Bezugsobjekten ihrer jeweiligen Betätigungen unterscheiden. Während auf der ersten Tugendstufe,124 der der natürlichen Tugenden, keine rationalen Seelenvermögen tätig sein müssen, so dass auch Tiere und Kleinstkinder diese, nämlich durch ein von der Natur gegebenes optimales ‚Mischungsverhältnis‘ (Kraseis: Temperamente, Charakter), erreichen können, müssen auf der zweiten Tugendstufe, der der ethischen Tugenden, die vernünftigen und unvernünftigen Seelenvermögen in gleicherweise tätig sein. Diese Tugenden können den Kindern durch Eingewöhnung und Erziehung zukommen. Die dritte Tugendstufe, die der politischen Tugenden, bezeichnet eine Vorherrschaft der vernünftigen Seelenvermögen über die unver117 118 119 120 121 122
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Vgl. z. B. Plat. leg. 963e1–8. Vgl. ebenda, 653a5–c4. Vgl. Plat. rep. 441c9ff. Vgl. Plat. Phaid. 67b5–69d5. Vgl. Plat. Tht. 176a5–e1. Vgl. hierzu ausführlich Othmar Schissel von Fleschenberg, Marinos von Neapolis und die neuplatonischen Tugendgrade, Athen: Sakellarios, 1928. Hier können auch die feinen Unterschiede unter den Platonikern vor allem in der Interpretation und Einführung höherer Tugendstufen nachgelesen werden. Vgl. u. a. Plot. enn. I.2; Porph. sent. 32; Olymp. in Alc. 4,15–5,16;Damaskios in Phaid. 138–144. Ich orientiere mich in der folgenden Aufzählung an den ersten fünf Stufen des (Simplikios-Lehrers) Damaskios in seinem Phaidon-Kommentar (Kap. 138–142).
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nünftigen. Letztere werden den vernünftigen untergeordnet und dienen ihnen als Werkzeuge. Auf der vierten Stufe lösen sich die vernünftigen Seelenvermögen in ihrer Fokussierung von ihren materiellen Werkzeugen, sinnbildlich wird der Bezug zum Körper wie eine Fessel abgelegt. Dieser Reinigungsprozess mündet in den kathartischen Tugenden. Es geht hierbei nicht um eine Loslösung der naturgegebenen Bindung des Körpers von der Seele (dies entspräche dem Selbstmord oder dem natürlichen Tod), sondern um eine Loslösung der selbstgewählten Bindung der Seele von dem Körper.125 Folgt nach dem Reinigungsprozess eine aktive Hinwendung zum und Angleichung an den Nous, zum rein Intelligiblen bzw. Göttlichen, hat die Seele ihre theoretischen Tugenden erreicht.126 Sukzessive werden in dieser Abfolge nicht die unvernünftigen Seelenteile abgewertet, sondern die vernünftigen kultiviert. Es entsteht hierbei kein Nebeneinander gleichwertiger Tugenden, sondern aufeinander aufbauende, aufsteigende Tugendstufen, weil auf jeder höheren Tugendstufe eine höhere Bestimmtheit verwirklicht wird. Das Körperliche ist dasjenige, was bestimmbar und formbar, selbst aber unbestimmt ist. Auf den unteren Stufen ist der Einfluss des Körperlichen auf die Tätigkeiten der Seele noch groß. Mit jeder Stufe nimmt dieser ab und damit die Bestimmtheit der tätigen Seele zu. Das Ergon des Menschen Das Wesen des Menschen, so wie es im Platonischen Dialog Alkibiades I. dargelegt wird, ist die Seele, die den Körper gebraucht, nicht der Körper und auch nicht die Mischung aus Körper und Seele. Der Unterschied zu Pflanzen und Tieren besteht für den Menschen darin, dass seine Seele neben dem Nährvermögen und dem Wahrnehmungsvermögen auch ein Denkvermögen besitzt. Die spezifische Leistung des Menschen, sein Ergon, besteht damit in der Betätigung dieses Denkvermögens, die dann erst am lustvollsten sein kann, wenn der Mensch dieses Ergon bestmöglich ausgebildet hat. Da die Tugend die Vollendung eines Vermögens ist, ist der Mensch tugendhaft, wenn er dieses Denkvermögen in bester Weise aktualisieren kann. Und am reinsten denkt der theoretisch lebende Mensch: „Das, was jedem Einzelnen seiner Natur nach eigen ist, ist für ihn auch das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies das Leben nach der Vernunft (kata noun), wenn doch die Vernunft ganz beson125
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Vgl. hierzu: Rainer Thiel, Philosophie als Bemühung um Sterben und Tod. Tugendlehre und Suizidproblematik bei Platon und den Neuplatonikern, in: Antike und Abendland 47, 2001, S. 21–40. Oberhalb der theoretischen Tugenden unterscheidet Damaskios beispielsweise noch paradigmatische und priesterliche Tugenden, die für das hier angestrebte Forschungsziel jedoch nicht zuträglich sind (vgl. Damaskios in Phaid. Kap. 143f.).
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ders das menschliche Wesen darstellt Also ist dieses Leben auch das glückseligste.“127 Der den Tugendstufen hinaufführende Weg ist folglich ein Weg zu einer bestmöglichen Verwirklichung des menschlichen Ergons. Es gilt für denjenigen, der das ihm größtmögliche Glück anstrebt, seine vernünftigen Seelenvermögen Stück für Stück zu kultivieren. Am Anfang bedarf es hierbei noch Lehrer und Erzieher, um dem Menschen durch Gewöhnung einen Habitus anzuerziehen, der die Betätigung unserer höheren Vermögen in ein Lustempfinden münden lässt. Denn die Meisten, so Aristoteles „leben nach der Leidenschaft und erstreben die ihnen gemäße Lust und das, was ihnen diese verschafft. Sie fliehen aber die entgegengesetzten Schmerzen. Von dem Schönen und dem wahrhaft Lustvollen hingegen haben sie nicht einmal einen Begriff, da sie diese nie geschmeckt haben. [. . . ] Es ist nämlich gar nicht möglich, bzw. ist es nicht leicht, das, was seit so langer Zeit den Charakter prägte, durch das Wort wieder umzuwandeln. [. . . ] Rede und Belehrung wird nun aber nicht bei allen Menschen ihre Wirkung entfalten. Stattdessen ist es nötig, die Seele des Hörers zuvor durch Gewöhnung zu bearbeiten, so dass sie sich in der richtigen Weise freut und in der richtigen Weise hasst, so wie auch die Erde bearbeitet werden muss, die den Samen nähren soll. [. . . ] Es muss also der Charakter schon in gewisser Weise mit der Tugend verwandt sein. Er muss das Schöne lieben, das Schändliche verabscheuen. [. . . ] Folglich ist es nötig, dass die Erziehung und die Beschäftigungen durch Gesetze geregelt werden. Denn das, woran man sich gewöhnt hat, wird nicht mehr als unlustvoll empfunden werden.“128
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Aristot. eth. Nic. 1178a5–8: τὸ γὰρ οἰκεῖον ἑκάστῳ τῇ φύσει κράτιστον καὶ ἥδιστόν ἐστιν ἑκάστῳ· καὶ τῷ ἀνθρώπῳ δὴ ὁ κατὰ τὸν νοῦν βίος, εἴπερ τοῦτο μάλιστα ἄνθρωπος. οὗτος ἄρα καὶ εὐδαιμονέστατος. Ebenda, 1179b13–1180a1: πάθει γὰρ ζῶντες τὰς οἰκείας ἡδονὰς διώκουσι καὶ δι’ ὧν αὗται ἔσονται, φεύγουσι δὲ τὰς ἀντικειμένας λύπας, τοῦ δὲ καλοῦ καὶ ὡς ἀληθῶς ἡδέος οὐδ’ ἔννοιαν ἔχουσιν, ἄγευστοι ὄντες.[. . . ] οὐ γὰρ οἷόν τε ἢ οὐ ῥᾴδιον τὰ ἐκ παλαιοῦ τοῖς ἤθεσι κατειλημμένα λόγῳ μεταστῆσαι· [. . . ] ὁ δὲ λόγος καὶ ἡ διδαχὴ μή ποτ’ οὐκ ἐν ἅπασιν ἰσχύει, ἀλλὰ δεῖ προδιειργάσθαι τοῖς ἔθεσι τὴν τοῦ ἀκροατοῦ ψυχὴν πρὸς τὸ καλῶς χαίρειν καὶ μισεῖν, ὥσπερ γῆν τὴν θρέψουσαν τὸ σπέρμα. [. . . ] δεῖ δὴ τὸ ἦθος προϋπάρχειν πως οἰκεῖον τῆς ἀρετῆς, στέργον τὸ καλὸν καὶ δυσχεραῖνον τὸ αἰσχρόν. [. . . ] διὸ νόμοις δεῖ τετάχθαι τὴν τροφὴν καὶ τὰ ἐπιτηδεύματα· οὐκ ἔσται γὰρ λυπηρὰ συνήθη γενόμενα.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Später, wenn der Charakter des Menschen durch Gewöhnung entsprechend vorbereitet ist, so dass dieser den Geschmack des wahrhaft Lustvollen kennengelernt hat, liegt es an ihm selbst, seinem spezifischen Wesen gemäß tätig zu werden. Die Einführung von Tugendgraden erlaubt es den Neuplatonikern, genau zu benennen, welche Vermögen durch die Arbeit mit dem Text ausgebildet und vollendet werden sollen. Der Sinn und Nutzen dieser Differenzierung ergibt sich aus der fehlenden expliziten Systematik der platonischen Dialoge. Platon lässt seine Figuren auf unterschiedlichen Niveaustufen agieren. Der Erzieher, der Lehrer passt sich dem Niveau des jeweiligen Schülers an, um dessen Beschränktheit in seinen Erkenntnistätigkeiten (z. B. durch ausschließliche Fokussierung auf bloß Partikuläres) durch Ähnliches zu heilen: „Die Therapie durch das Ähnliche besteht demnach notwendigerweise in einer Aufhebung dieser Beschränkung der Erkenntnistätigkeit und in der Aktualisierung höherer Vermögen.“129 Durch das System der Tugendgrade können die Neuplatoniker das jedem Dialog zugrunde liegende Erkenntnisniveau und das Vermögen, welches vollendet werden soll, zuordnen. 2.1.5
Fazit
Ziel der Bildung des Menschen stellt im Neuplatonismus die Ausbildung seiner intelligiblen Vermögen dar, so dass der Mensch seinem Ergon gemäß in bester Weise tätig werden kann. Die Einsicht in die verschiedenen Funktionen der einzelnen Seelenvermögen des Menschen und in die Notwendigkeit einer sukzessiven Ausbildung der seelischen Vermögen erlaubt und fordert von den Lehrern, die Schüler mit Erkenntnisgegenständen zu konfrontieren, an denen sie entsprechend ihres jeweiligen Ausbildungsstandes etwas erkennen können. Der Weg von der Orientierung der Meinung an sinnlich Wahrnehmbarem über die Orientierung der Meinung an Allgemeinem bis hin zur Erfassung von für sich erkennbaren Prinzipien ist der dem Menschen natürliche Weg. Denn das dem Menschen Erste der Erkenntnis ist von dem der Sache nach Ersten verschieden. Simplikios kann aufgrund der erkenntnistheoretischen Grundlagen dem Schüler mit guten Gründen zu einer Beschäftigung mit Epiktets Handbüchlein raten, welches in einfachen und prägnanten Worten und Beispielen leicht einsehbare Regeln für den Umgang mit Einzelgegenständen im Alltag liefert. Denn hierin sieht er eine vorzügliche Möglichkeit für philosophisch nicht vorgebildete Schüler, ihre seelischen Fähigkeiten im Bereich der ethischen und politischen Tugenden zu kultivieren, d. h. eine see-
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Gyburg Radke-Uhlmann, Der antike Platonunterricht, unveröff. Manuskript, S. 154.
Erkenntnistheoretischer Hintergrund bei Simplikios
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lische Disposition herzustellen, die den Schülern den Weg in den philosophischen Unterricht, der den Umgang mit intelligiblen Gegenständen schult, ebnet.130
130
Vgl. unten Abschnitt 3.1.2, S. 89, außerdem hierzu Ilsetraut Hadot, Le problème du néoplatonisme alexandrin, S. 147–165, sowie Rainer Thiel, Stoische Ethik und Neuplatonische Tugendlehre.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
2.2
Bildung und Philosophie bei Epiktet
Um vor dem platonischen Hintergrund zu verstehen, was Bildung und Philosophie für Epiktet bedeutet, ist es wichtig, vor der Erläuterung seiner Paränesen auch auf die zugrunde liegenden Prinzipien seines Denkens zu verweisen. Nachdem die Eckpunkte der Epiktetschen Philosophie (3.1) und dessen stoische Grundlagen (3.2) aufgezeigt sind, folgt die konkrete Darlegung des Epiktetschen Bildungskonzeptes (3.3). Da sich in dem Verständnis der Funktionen von Theorie und Praxis im Rahmen von Bildung und Philosophie die Unterschiede zum platonischen Denken besonders deutlich zeigen lassen, sollen die möglichen Verständnisse theoretischer Beschäftigung bei Epiktet in einem weiteren Schritt analysiert werden (3.4). Weil schließlich im Gegensatz zu der alten Stoa Epiktet ein Fortschrittsmodell der Bildung des Menschen entwirft und sich damit oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem später entwickelten neuplatonischen Anagogiedenken aufdrängen, sollen abschließend die Anagogievorstellungen des Epiktet auf ihre Grundlagen hin geprüft werden (3.5). 2.2.1
Eckpunkte der Epiktetschen Philosophie
Die Unterscheidung zwischen eph’hêmin und ouk eph’hêmin Die grundlegende Unterscheidung Epiktets ist die Einteilung der Dinge in diejenigen, die eph’hêmin (wörtlich: bei uns) sind, d. h. über die wir Menschen gebieten können, und diejenigen Dinge, die ouk eph’hêmin (wörtlich: nicht bei uns) sind, die also nicht in unserer Hand liegen.131 Die ‚Dinge‘, die zu der Gruppe der eph’hêmin-Seienden gehören, sind die seelischen Tätigkeiten des Menschen (hêmetera Erga), ouk eph’hêmin hingegen sind alle anderen ‚Dinge‘, wie der Besitz, der Körper, der gute Ruf, ‚Dinge‘ also, die nicht zu den menschlichen Tätigkeiten zählen. Das höchste Vermögen des Menschen, welches sowohl sich selbst als auch alle anderen Dinge zu betrachten vermag, ist die Dynamis logikê. Dieses Vermögen liege vollständig in seiner Hand und sei der göttliche Teil in ihm.132 Dies ist bei Epiktet grundsätzlich das Vermögen zu begehren, zu meiden, zu wählen, abzulehnen, in einem Wort: das Vermögen die eigenen Vorstellungen (Phantasiai) zu gebrauchen. Hierin sei der Mensch gänzlich frei.
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Vgl. Epikt. ench. c. 1. Vgl. Epiktet diss. I.9; zum ‚Gott in uns‘ vgl. auch ebenda, II.8,14.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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Die Prohairesis Dieser Bereich stellt die Prohairesis des Menschen dar, die, anders als bei Aristoteles, für das gesamte seelische Vermögen des Menschen steht,133 das sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass es frei ist und weder durch äußere Gegenstände noch durch andere Menschen noch durch Zeus beeinflusst werden könne.134 Der Mensch ist bei Epiktet im Wesentlichen seine Prohairesis,135 deren Freiheit sich in der Freiheit der menschlichen Vermögen, d. h. bei Epiktet in der Freiheit der Begierde (Orexis), des Impulses/des Triebes (Hormê) und der Zustimmung (Synkatathesis) widerspiegelt.136 Das Gegenstück zur Prohairesis sind die äußeren Dinge (ta ekta), über die der Mensch in keiner Weise verfügt.
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Vgl. zur Prohairesis als Disposition der menschlichen Seele, sofern sie Grundlage für alles ist, was den Menschen ausmacht, vgl. Anthony A. Long, Epictetus: a Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002, S. 107–130; Charles Brittain und Tad Brennan, Simplicius – On Epictetus‘ Handbook 1–26, S. 22–24; zur Prohairesis als seelische Verfassung, die sowohl eine gute als auch eine schlechte Wahl treffen kann vgl. Richard Sorabji, Epictetus on Proairesis and Self, in: Theodore Scaltsas und Andrew S. Mason (Hgg.), The Philosophy of Epictetus, Oxford, New York 2007, S. 87–98, zur Prohairesis bei Epiktet als gesamtes geistiges Wesen des Menschen, aufgefasst nicht von der Seite des Denkens, sondern von der des Wollens, vgl. Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890, S. 118–121. Vgl. Epiktet diss. I.1,24: τὸ σκέλος μου δήσεις, τὴν προαίρεσιν δὲ οὐδ’ ὁ Ζκῆσαι δύναται. Zur Epiktetschen Prohairesis als Antwort auf die Debatte um den stoischen Determinismus vgl. Robert F. Dobbin, Prohairesis in Epictetus, in: Ancient Philosophy 11, 1991, S. 111–135. Vgl. z. B. Epiktet diss. III.1,40: ὅτι οὐκ εἶ κρέας οὐδὲ τρίχες, ἀλλὰ προαίρεσις. oder ebenda, II.10,1: Σκέψαι τίς εἶ. τὸ πρῶτον ἄνθρωπος, τοῦτο δ’ ἔστιν οὐδὲν ἔχων κυριώτερον προαιρέσεως, ἀλλὰ ταύτῃ τὰ ἄλλα ὑποτεταγμένα, αὐτὴν δ’ ἀδούλευτον καὶ ἀνυπότακτον. Vgl. ebenda, I.17,21–25: ἄνθρωπε, προαίρεσιν ἔχεις ἀκώλυτον φύσει καὶ ἀνανάγκαστον. [. . . ] δείξω σοι αὐτὸ πρῶτον ἐπὶ τοῦ συγκαταθετικοῦ τόπου. μή τίς σε κωλῦσαι δύναται ἐπινεῦσαι ἀληθεῖ; οὐδὲ εἷς. μή τίς σε ἀναγκάσαι δύναται παραδέξασθαι τὸ ψεῦδος; οὐδὲ εἷς. ὁρᾷς ὅτι ἐν τούτῳ τῷ τόπῳ τὸ προαιρετικὸν ἔχεις ἀκώλυτον ἀνανάγκαστον ἀπαραπόδιστον; ἄγε ἐπὶ δὲ τοῦ ὀρεκτικοῦ καὶ ὁρμητικοῦ ἄλλως ἔχει; καὶ τίς ὁρμὴν νικῆσαι δύναται ἢ ἄλλη ὁρμή; τίς δ’ ὄρεξιν καὶ ἔκκλισιν ἢ ἄλλη ὄρεξις καὶ ἔκκλισις;
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Faktoren des Glücks und Unglücks Die spezifische Tätigkeit der Prohairesis ist der Gebrauch der Vorstellungen,137 durch den der Mensch seine Prohairesis seiner Natur gemäß ausbilden könne, indem er immer auf die richtigen, d. h. auf die prohairetischen, ihm obliegenden Dinge fokussiere. Dann befinde sich der Mensch in seinem Bestzustand. Er könne aber auch, indem er sich auf die falschen, d. h. die aprohairetischen, ihm äußeren Dinge fokussiert, seine Prohairesis schlecht ausbilden, dann befinde er sich in einem schlechten, nicht naturgemäßen Zustand. Tugend und Untugend liegen demnach genauso vollständig im menschlichen Bereich, wie Glück und Unglück. Das eigene Glück ist davon abhängig, ob man sein Begehren (Orexis) und sein Meiden (Ekklisis) auf die Dinge richtet, die eph’hêmin sind oder nicht. Denn der Mensch werde unglücklich, wenn er das Begehrte nicht erlangt, oder wenn ihm etwas, was er zu meiden sucht, widerfährt. Glücklich hingegen werde der Mensch, wenn er erlangt, was er begehrt und er nicht in solche Situationen gerät, die er meidet.138 Da Dinge, die grundsätzlich nicht dem Menschen obliegen, sich stets anders verhalten können, als er es sich wünscht, ist es, wenn er seine seelischen Vermögen auf Dinge richtet, die ouk eph’hêmin sind, wahrscheinlich, dass er etwas Begehrtes nicht erlangt bzw. mit etwas konfrontiert wird, das er eigentlich meidet. Bereits ohne gehandelt zu haben, ist es so unvermeidlich, dass der Nährboden für das eigene Unglück gelegt ist, indem man sich beispielweise auch nur abstrakt wünscht, nicht krank, nicht arm oder nicht unbeliebt zu werden. Die Vorstellung und deren Bewertung Die erste Aufgabe eines jeden, der anstrebt, Philosoph zu werden und damit all den Übeln dieser Welt aus dem Weg zu gehen, sei es, die Phantasiai entsprechend zu gebrauchen und bei jeder einzelnen Vorstellung stets zu prüfen, ob sie in seiner Hand liegt oder nicht. Die Phantasia selbst ist zunächst das, was sie (in Kohärenz zum Vorgestellten) ist: eine bloße Vorstellung, ein Abdruck in der Seele ohne jeglichen Wert. Wie sie dem Menschen entgegenschlägt, darüber habe dieser keine Verfügungsgewalt. Diese setzt erst ein, wenn der Mensch sie gebraucht, indem er ihr einen Wert beimisst. ‚Ich bin krank‘, ‚Ich könnte sterben‘, ‚Ich könnte verhungern‘ – das sind Phantasiai bei Epiktet. Er macht zwar keine erkenntnistheoretischen Exkurse, verdeutlicht aber, dass nicht das Zustandekommen der Vorstellung dem Menschen obliegt, sondern deren Gebrauch, deren Einordnung, deren Bewer-
137 138
Vgl. Epiktet diss. I.1. Vgl. Epikt. ench. c. 1.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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tung. Bei allem, was einem Menschen widerfährt, solle er sagen: „Du bist bloß eine Vorstellung, ein Eindruck, aber gewiss nicht das, was Du zu sein scheinst.“139 Dieses Phainomenon, also das, was eine Vorstellung zu sein scheint, beinhaltet erst die Bewertung.140 Diese kommt gemäß Epiktet dadurch zustande, dass der Mensch einen abstrakten Wertbegriff (Prolêpsis) richtig oder falsch auf die Vorstellungsinhalte anwendet und er sich dadurch eine Meinung bildet.141 Die Meinung wiederum spiegelt sich im Bereich des Strebens und Meidens wider. Dass der Mensch Gutes zu erstreben habe, sei nicht und von niemandem anzweifelbar, die Fehler, welche ihn unglücklich machen, geschehen jedoch demnach in der Subsumtion der Wahrnehmungsinhalte. Derartige Vorkonzepte, die natürlichen Prolêpseis (bzw. emphytoi Ennoiai), seien dem Menschen angeboren, sie widersprächen einander nicht und die Menschen könnten unter ihnen auch unmöglich Widersprüche finden.142 139
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Ebenda, c. 1.5,1–2: εὐθὺς οὖν πάσῃ φαντασίᾳ τραχείᾳ μελέτα ἐπιλέγειν ὅτι ‘φαντασία εἶ καὶ οὐ πάντως τὸ φαινόμενον’. Das Phainomenon ist damit das Maß einer jeden Handlung (vgl. Epiktet diss. I.28,10). Vgl. ebenda, II.11 und I.22. Allgemein zu den Ennoiai und Prolêpseis in der Stoa vgl. Francis H. Sandbach, Ennoia and prolêpsis, in: Anthony A. Long (Hg.), Problems in stoicism, London 1971, S. 22–37. Vgl. Epiktet diss. II.11,2–4: ὀρθογωνίου μὲν γὰρ τριγώνου ἢ διέσεως ἡμιτονίου οὐδεμίαν φύσει ἔννοιαν ἥκομεν ἔχοντες, ἀλλ’ ἔκ τινος τεχνικῆς παραλήψεως διδασκόμεθα ἕκαστον αὐτῶν καὶ διὰ τοῦτο οἱ μὴ εἰδότες αὐτὰ οὐδ’ οἴονται εἰδέναι. ἀγαθοῦ δὲ καὶ κακοῦ καὶ καλοῦ καὶ αἰσχροῦ καὶ πρέποντος καὶ ἀπρεποῦς καὶ εὐδαιμονίας καὶ προσήκοντος καὶ ἐπιβάλλοντος καὶ ὅ τι δεῖ ποιῆσαι καὶ ὅ τι οὐ δεῖ ποιῆσαι τίς οὐκ ἔχων ἔμφυτον ἔννοιαν ἐλήλυθεν; Epiktet spricht hier von den angeborenen Grundbegriffen als Ennoiai, nutzt aber einige Zeilen später unterschiedslos bei der Frage der Anwendung dieser Grundbegriffe den Begriff der Prolêpseis: ebenda, II.11,10: νῦν δ’ ἐπεὶ δοκεῖς ὅτι καὶ καταλλήλως ἐφαρμόζεις τὰς προλήψεις τοῖς ἐπὶ μέρους, εἰπέ μοι, πόθεν τοῦτο λαμβάνεις; Vgl. außerdem zur Gemeinsamkeit und Natürlichkeit der natürlichen Prolêpseis: ebenda, I.22,1–4: Προλήψεις κοιναὶ πᾶσιν ἀνθρώποις εἰσίν· καὶ πρόληψις προλήψει οὐ μάχεται. τίς γὰρ ἡμῶν οὐ τίθησιν, ὅτι τὸ ἀγαθὸν συμφέρον ἐστὶ † ἐστι καὶ αἱρετὸν καὶ ἐκ πάσης αὐτὸ περιστάσεως δεῖ μετιέναι καὶ διώκειν; τίς δ’ ἡμῶν οὐ τίθησιν, ὅτι τὸ δίκαιον καλόν ἐστι καὶ πρέπον; πότ’ οὖν ἡ μάχη γίνεται; περὶ τὴν ἐφαρμογὴν τῶν προλήψεων ταῖς ἐπὶ μέρους οὐσίαις, ὅταν ὁ μὲν εἴπῃ ‘καλῶς ἐποίησεν, ἀνδρεῖός ἐστιν’· ‘οὔ, ἀλλ’ ἀπονενοημένος.’ ἔνθεν ἡ μάχη γίνεται τοῖς ἀνθρώποις πρὸς ἀλλήλους. Sowie ebenda, I.22,9–10: Τί οὖν ἐστι τὸ παιδεύεσθαι; μανθάνειν τὰς φυσικὰς προλήψεις ἐφαρμόζειν ταῖς ἐπὶ μέρους οὐσίαις καταλλήλως τῇ φύσει [. . . ]. Zur Identität von Prolêpseis und koinai Ennoiai und deren Apriorität bei Epiktet vgl. grundlegend Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa, S. 188–199. Damit würde sich Epiktet von der Tabula-Rasa-Vorstellung des menschlichen Geistes, wie sie Aëtios für die Stoa beschreibt (vgl. J. von Arnim SVFII 83: Οἱ Στωϊκοί φασιν· ὅταν γεννηθῇ ὁ ἄνθρωπος, ἔχει τὸ ἡγεμονικὸν μέρος τῆς ψυχῆς ὥσπερ χάρτην εὔεργον εἰς ἀπογραφήν· εἰς τοῦτο μίαν ἑκάστην τῶν ἐννοιῶν ἐναπογράφεται [. . . ]), abheben.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Epiktet nennt hier als Beispiel die Einsicht, dass das Gute nützlich oder das Schlechte zu meiden sei.143 Diese Prolêpseis haben den Status von evidentem Wissen, welches dem Menschen damit bereits vor jeder Erfahrung vorliegt. Allerdings ist dieses Wissen ein rein formales, für sich leeres und nutzloses Wissen, welches seinen Wert für den Menschen erst aus der Anwendung bezieht. Diese Anwendung besteht in der Zergliederung (Diarthrôsis) und Ausarbeitung (Exergasia) der Prolêpseis und deren Einsatz in der Bewertung der Einzelgegenstände.144 Ohne diese Zusammenfügungen und richtigen Anwendungen seien die Prolêpseis nur abstraktes Wissen.145 Jeder Steit, jeder Krieg und alles Unglück dieser Welt hingen an der falschen Anwendung der Prolêpseis auf die Einzelgegenstände (ta epi merous onta), also an den Meinungen, die es nun anstelle der materiellen Einzeldinge zu prüfen gelte.146
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Dass sich diese Position des Epiktet keinesfalls auf die alte Stoa rückübertragen lässt, zeigt Francis H. Sandbach, Ennoia and Prolepsis in the Stoic Theory of Knowledge, in: The Classical Quarterly 24, No. 1, 1930, S. 44–51. Vgl. die fiktive Einbeziehung der Ilias-Helden in Epiktet diss. I.22. Vgl. ebenda, II.11,18: τοῦτο γάρ, οἶμαι, ἐστὶν ὃ εὑρεθὲν ἀπαλλάσσει μανίας τοὺς μόνῳ τῷ δοκεῖν μέτρῳ πάντων χρωμένους, ἵνα λοιπὸν ἀπό τινων γνωρίμων καὶ διευκρινημένων ὁρμώμενοι χρώμεθα ἐπὶ τῶν ἐπὶ μέρους διηρθρωμέναις ταῖς προλήψεσι. Sowie ebenda, II.17,10f.: ἀγαθὸν καὶ κακὸν καὶ συμφέρον καὶ ἀσύμφορον τίς ἡμῶν οὐ λαλεῖ; τίς γὰρ ἡμῶν οὐκ ἔχει τούτων ἑκάστου πρόληψιν; ἆρ’ οὖν διηρθρωμένην καὶ τελείαν; Zur Exergasia der Prolêpseis vgl. u. a. ebenda, IV.4,26: λάλει σεαυτῷ, γύμναζε τὰς φαντασίας, ἐξεργάζου τὰς προλήψεις. Vgl. allgemein zur Zergliederung der Prolêpseis grundlegend Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa, S. 188–199, sowie zur Anwendung der Prolêpseis die Ausführungen zu der beispielhaften Anwendung auf den Streit zwischen Achill und Agamemnon bei Robert F. Dobbin, Epictetus -Discourses: Book 1. Transl. with introd. and comm. by . R. F. Dobbin, Oxford 1998, S. 188–194 und Barbara Wehner, Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, S. 157–159. Vgl. Epiktet diss. II.17,13 oder I,22,5–9, insb. I,22,9: Τί οὖν ἐστι τὸ παιδεύεσθαι; μανθάνειν τὰς φυσικὰς προλήψεις ἐφαρμόζειν ταῖς ἐπὶ μέρους οὐσίαις καταλλήλως τῇ φύσει [. . . ]. Vgl. ebenda, I.11; insb. I,11,39: ᾿Απὸ τῆς σήμερον τοίνυν ἡμέρας οὐδὲν ἄλλο ἐπισκοπήσομεν οὐδ’ ἐξετάσομεν, ποῖόν τι ἐστὶν ἢ πῶς ἔχει, οὔτε τὸν ἀγρὸν οὔτε τὰ ἀνδράποδα οὔτε τοὺς ἵππους ἢ κύνας, ἀλλὰ τὰ δόγματα.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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Der richtige Gebrauch der Vorstellungen Wenn ein Mensch merkt, dass er unter Schmerzen leidet, so ist die Erkenntnis der Tatsache, dass er Schmerzen hat, das eine, nämlich die Phantasia. Dass er hingegen vermeiden möchte, Schmerzen zu haben, ist das andere, nämlich das Phainomenon, dass der Schmerz als etwas Schlechtes erscheint und damit zu meiden ist. Hierfür müsse er sich stets in Gedanken rufen, dass der Schmerz als solcher ohne Wert ist. Denn es gebe genügend Situationen, in denen der Mensch Schmerzen in Kauf nimmt und es gebe genügend Menschen, die Schmerzen als nichts Schlechtes betrachten. Von Natur aus könne dem Schmerz der negative Wert also nicht beiliegen. Damit seien all die Dinge, die sich in der menschlichen Seele als Vorstellung abdrücken, zunächst indifferent. Der Eindruck des Guten und Schlechten entstehe erst durch das eigene Zutun einer Wertung. In einem schlechten Zustand befindet sich der Mensch, wenn er sein Begehren auf externe Dinge richtet, in einem guten Zustand, wenn er es auf prohairetische, d. h. ihm obliegende Dinge richtet. Das einzige richtige Begehren, d. h. ein Begehren, das der menschlichen Natur entspricht und zu seinem Glück und zum Vermeiden jedes Unglückes führt, besteht demnach darin, sich zu wünschen, dass der Mensch die ihm obliegenden Tätigkeiten so einsetzt, dass er in seinen Zielen nicht gehindert werden kann. Richtet sich der Mensch also mit seiner Begierde das, was eph’hêmin ist, auf das, was eph’hêmin ist, d. h. auf den Gebrauch der Vorstellungen, wird er gut und glücklich, richtet er jedoch das, was eph’hêmin ist, auf das was nicht eph’hêmin ist, wird er schlecht und unglücklich. Dies ist der Kern der Epiktetschen Ethik. Bildungsgrade Eine wichtige von Epiktet eingeführte (und auch von vielen Neuplatonikern wie Proklos,147 Olympiodor148 und Simplikios149 geschätzte) Unterscheidung ist die Differenzierung von Bildungsgraden bei den Menschen. So bricht Epiktet die stoischdichotomische Einteilung der Menschen zwischen dem völlig Ungebildeten und dem vollends ausgebildeten Philosophen auf, indem er den fortgeschrittenen bzw. bereits lernenden Schüler einführt.150 Diese Differenzierung beinhaltet zwangsläufig ein in gewissem Sinne anagogisches Bildungsmodell, innerhalb dessen es wenigstens sinnvoll ist, die Gewohn- und Geübtheiten der Schüler zu berücksichtigen und die an sie gestellten Ansprüche entsprechend anzupassen.151 147 148 149 150 151
Vgl. Prokl. in Alc. 287,9–13. Vgl. Olymp. in Alc. 101,7–18. Vgl. unten den Abschnitt 3.2.6, S. 157. Vgl. Epikt. ench. c. 5 und c. 48. Vgl. unten Abschnitt 2.2.5, S. 68.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
2.2.2
Stoische Grundannahmen in Epiktets Philosophie
Epiktet betreibt zwar keine erkenntnistheoretischen Exkurse, doch ist deutlich zu erkennen, welches erkenntnistheoretische Modell seinen Anweisungen zugrunde liegt. Vorstellungsdenken Im Hintergrund steht auch bei Epiktet die stoische Annahme, dass sich die Vorstellungen von den äußeren Gegenständen her vermittels der Wahrnehmung in die Seele des Menschen passiv einprägen152 und die Freiheit des Menschen im spontanen Umgang mit diesen passiv-eingeprägten Vorstellungsinhalten einsetzt.153 Neben einer ersten ,Vorstellungsstufe‘ folglich, „die unmittelbar mit dem Wahrnehmungsvorgang selbst verbunden ist, spricht die Stoa auch von einer zweiten ,Vorstellungsstufe‘ die selbst nicht mehr unmittelbar mit dem Wahrnehmungsvorgang in Verbindung steht (φαντασίαι οὐκ αἰσθητικαί), sondern vielmehr als ein ,aktives Denken‘ (διάνοια) von Gegenständen, die zuvor einen Abdruck in der Seele hinterlassen haben, und anderen Gegenständen, die mittels der ,logischen Verknüpfung‘ (λόγος) erfaßt werden, aufzufassen ist. Zu diesen logischen Verknüpfungen gehören z. B. auch die Beweise. Es handelt sich damit um eine Vorstellung, über die der Mensch frei verfügen und deren Akte er spontan tätigen kann. In ihr kann er 152
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Vgl. Diog. Laert. vitae 7.45,9–46,6 und 7.49–50,4; dazu Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, Stuttgart 1995, S. 69; außerdem Michael Krewet, Die stoische Theorie der Gefühle. Ihre Aporien. Ihre Wirkmacht, Heidelberg 2013, S. 29f.: „Dem Erkennen und Denken durch die Vorstellung liegt in der stoischen Lehre zunächst eine Wahrnehmung zugrunde. Die Vorstellung resultiere aus einem ,Abdruck in der Seele‘ (τύπωσις ἐν τᾖ ψυχῇ), den der Mensch allein passiv-rezeptiv erleidet und der in der menschlichen Seele eine ,Veränderung hinsichtlich der Qualität‘ (ἀλλοίωσις) verursache. An anderer Stelle heißt es auch, daß die Vorstellung ein ,Erleiden in der Seele‘ (πάθος ὲν τᾖ ψυχῇ γιγνόμενον) sei. Die Stoa interpretiert diese erste ,qualitative Veränderung‘ rein passiv und sieht sie nicht etwa wie Aristoteles in Verbindung mit einem aktiven Moment des Angleichens der aktualen und aktiven Wahrnehmungstätigkeit an den aktualen Wahrnehmungsgegenstand.“ Vgl. ausführlich hierzu Gerard Watson, The Stoic Theory of Knowledge, Belfast 1966; John M. Rist, Stoic Philosophy, Cambridge 1969; Marion Clausen, Maxima in sensibus veritas?: die platonischen und stoischen Grundlagen der Erkenntniskritik in Ciceros Lucullus, Frankfurt am Main [u.a.] 2008, S. 61–114, sowie Michael Krewet, Die stoische Theorie der Gefühle. Ihre Aporien. Ihre Wirkmacht, S. 29–52.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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das zunächst passiv Erlittene nun aktiv adaptieren. Sie ist schon der stoischen Lehre zufolge von dem unmittelbaren ,Erleiden‘, ja ,Erleben‘ des Affiziertwerdens distanziert.“154 Auf die erste Vorstellung als das Material des Denkens hat der Mensch demnach keinen Einfluss, aber auf deren Analyse, Beleuchtung, Kombination und Bewertung. Hierin besteht gemäß stoischer Philosophie das Denken. Diesen philosophischen Ansatz hat Arbogast Schmitt in Abgrenzung zum unterscheidungsphilosophischen Ansatz des Platonismus und Aristotelismus, der sich nicht an den äußeren Gegenstandseinheiten, sondern an den für sich unterscheidbaren begrifflichen Sacheinheiten orientiert und damit stets auf den eigenen Akt des Unterscheidenkönnens reflektiert, als ‚Vorstellungs- bzw. Bewusstseinsphilosophie‘ bezeichnet.155 Dieser vorstellungsphilosophische Ansatz liegt Epiktets Denken zugrunde. Die Hylê für den Menschen ist bei ihm das Leben,156 sind die ihm äußeren Dinge.157 Dies ist das Material, welches für sich stets indifferrent ist und auf welches der Mensch auch keinen Einfluss habe. Der Gebrauch des Materials hingegen ist demnach nicht indifferent.158 Die Erga des Menschen, seine Tätigkeitsfelder sind die Bereiche des Wünschens (Orexis), des Strebens (Hormê) und der Zustimmung (Synkatathesis).159 Als das spezifische Ergon des Philosophen nennt Epiktet das Prüfen der Vorstellungen, also des passiv eingeprägten Materials, d. h. diese zu 154 155
156 157 158 159
Ebenda, S. 31f. Vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, insb. S. 52–64, sowie zusammenfassend ebenda, S. 536f.: „Ausgangspunkt einer Vorstellungsphilosophie ist die Überzeugung, daß das Denken sich an den Gegenständen, die es in der Wahrnehmung vor sich hat, orientieren müsse. Sie geben die Einheit vor, auf die alle möglichen Erfahrungen mit ihnen bezogen werden müssen, und sie enthalten in umfassender Vollständigkeit alles das, was das Denken über sie denken kann. Dieser Ausgangspunkt bringt auf den Begriff, was der ‚gesunde Menschenverstand‘ oder ‚das natürliche Bewußtsein‘ denkt. Man glaubt dann einen Gegenstand richtig zu erkennen, wenn das, was man denkt, genau dem äußeren Gegenstand entspricht. Aus dieser Auffassung ergibt sich, daß die eigene Leistung des Denkens die Vergegenwärtigung, Repräsentation des Wahrgenommen ist. Denken wird zum Vorstellen oder zu einer ausgezeichneten Form des Vorstellens. [. . . ] Die Vorstellung erhält ihre Inhalte aus einem ihrer eigenen Aktivität vorhergehenden Akt der Empfindung, Wahrnehmung, aus Gefühl oder Intuition. Ihre eigene Leistung besteht in der Verdeutlichung, Verarbeitung des ihr Gegebenen. Die Reflexion auf die Art und Weise, wie sie den ihr gegebenen Gegenstand durch Zergliederung und Wiederverbindung nach ihren eigenen Gesetzen vor sich verdeutlicht, bildet die eigentliche Aufgabe einer kritischen Erkenntnistheorie.“ Vgl. Epiktet diss. I.15. Vgl. ebenda, I.29. Vgl. ebenda, II.5. Vgl. ebenda, I.4.
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untergliedern und zu ordnen und nichts Ungeprüftes zuzulassen.160 Denken ist also bei ihm nicht das Erfassen von Bestimmtem, Intelligiblem, für sich erkennbare Sacheineinheiten, sondern der bewusste Umgang mit Vorstellungen. Damit steht Epiktet eindeutig den platonisch-aristotelischen Grundlagen der Erkenntnistheorie entgegen. Wenn in der Forschung bei Epiktet eine Nähe zu Sokrates hervorgehoben wird,161 so berührt sie nie diese grundlegenden erkenntnistheoretischen Unterschiede, die sich zwischen dem platonischen Sokrates und dem eindeutig stoischen Epiktet zeigen lassen. Stattdessen beruht die Nähe entweder auf Gemeinsamkeiten in ethischen Anforderungen auf einer bestimmten Ebene oder auf formalen Ähnlichkeiten in der philosophischen, dialektischen Methode des Gesprächs, des Widerlegens, des Hinführens zur Selbsterkenntnis.162 Der Status und die Qualität des jeweils zu Erkennenden werden jedoch in jenen Studien, die die Ähnlichkeiten zwischen Sokrates und Epiktet aufzeigen, nicht differenziert genug analysiert. Oikeiôsis-Lehre Epiktet baut auch auf den Annahmen der in der Stoa entwickelten sogenannten Oikeiôsis-Lehre auf. Der Logos, der die gesamte Natur ordnend und verwaltend durchzieht, eignet sich demnach zu Beginn eines jeden Lebens in einem ersten Trieb sich selbst an. Es ist die göttliche Natur in jedem Lebewesen, die automatisch durch diese Aneignung das für es Zuträgliche und Abträgliche erfasst. Hierbei macht das Kind wie das Tier von Natur aus in seinem Streben stets instinktiv und unbewusst alles richtig. Diese erste Stufe der Oikeiôsis hat nun der erwachsene Mensch dadurch zu veredeln, dass ihm aufgrund des ihm entsprechend gegebenen Vermögens diese steuernde Ordnung bewusst wird und er sich so dispositioniert, dass er sich seelisch in Einklang mit dieser Ordnung befindet. In diesem bewussten Nachvollzug der göttlichen Struktur in der Natur besteht das naturgemäße Leben des erwachsenen Menschen.163 Die Verinnerlichung dieser Lehre durch Epiktet wird dadurch deutlich, dass der Mensch seiner Lehre nach sein ihm eigenes Ziel 160 161
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Vgl. Epiktet diss. I.20. So z. B. Anthony A. Long, Epictetus, insb. S. 67–96; Francesca Alesse, La stoa e la tradizione socratica, Neapel 2000; Paul A. Van der Waerdt, The Socratic Movement, Ithaca u.a 1994 oder Amand Jagu, Épictète et Platon: Essai sur les relations du stoïcisme et du platonisme à propos de la morale des Entretiens, Paris 1946. Vgl. zum nicht-platonischen Sokrates bei Epiktet Klaus Döring, Sokrates bei Epiktet, in: Klaus Döring und Wolfgang Kullmann (Hgg.), Studia Platonica. Festschrift H. Gundert, Amsterdam 1974, S. 195–226 und ausführlich zur Epiktetschen Gesprächsstrategie Barbara Wehner, Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben. Vgl. Diog. Laert. vitae 7.85f. ausführlich zur Oikeiôsis-Lehre vgl. Gyburg RadkeUhlmann, Rhetorische Machtdiskurse. Leben und Selbsterhaltung in der antiken Stoa, hg. von der Forschungsgruppe „Leben“ an der FEST in Heidelberg, in: dies., Tübingen
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nur erreicht, wenn er den Gebrauch seiner Vorstellungen auch verstehend begleitet. Den Gebrauch der Vorstellungen habe der Mensch mit dem Tier gemeinsam, da er aber zusätzlich die Dynamis parakolouthêtikê – das Vermögen zu verstehen – besitzt, sei das naturgemäße Leben für den Menschen ein anderes, nämlich ein verstehendes. Der Mensch beginne wie das Tier, der Natur instinktiv zu folgen, er habe aber bei der Theorie, d. h. hier bei dem die göttlichen Werke verstehenden Handeln zu enden, um in Einklang mit seiner Natur zu sein.164 2.2.3
Wege der Bildung bei Epiktet
Drei Bereiche der Philosophie „Gebt mir einen Jüngling, der mit solch einer Intention in den Unterricht kommt, der sich in diesem Bereich meisterlich geschlagen hat und nun sagt: ‚All die anderen Dinge lasse ich hinter mir, es genügt mir, wenn es mir einmal möglich sein wird, ein Leben frei von Hinternissen und Schmerzen zu führen und dass ich mich mit aufrechtem Kopf wie ein Freier gegenüber den Dingen verhalte und gen Himmel schaue wie ein Freund Gottes, der nicht vor dem fürchtet, was auch immer geschehen mag.‘ Es soll sich einer von Euch als ein derartiger zeigen, damit ich sagen kann: ‚Komm her, junger Mann, zu den Dingen, die Dein sind. Dir ist es bestimmt, der Philosophie Ehre zu machen, Dein sind diese Besitztümer, diese Bücher, diese Reden.‘ Und wenn er diesen Bereich durchgearbeitet und bewältigt hat, soll er wiederkommen und sagen: ‚Ich will zwar frei von Emotionen und Unruhe sein, aber ich will auch wie ein Frommer, wie ein Philosoph, wie ein aufmerksamer Mensch wissen, wie es sich gehört, sich den Göttern, den Eltern, den Brüdern, dem Vaterland, den Freunden gegenüber zu verhalten.‘ Komm auch in den zweiten Bereich: auch dieser soll nun Dein sein. ‚So, nun habe ich auch schon den zweiten Bereich gründlich studiert, und würde gerne fest und unerschütterlich werden und zwar nicht nur in wachem Zustand, sondern auch wenn ich schlafe, wenn ich trunken oder melancholisch bin.‘ Du bist ein Gott, Mensch, Du hast große Pläne! Aber nein : ‚Ich möchte wissen, was Chrysipp in seinen Büchern über das Lügner-Paradox schreibt.‘ “165
Hier zeigt Epiktet sehr deutlich, welche Voraussetzungen ein Schüler der Philosophie mitzubringen hat, um die einzelnen Bereiche der Philosophie durchzugehen. Epiktet unterteilt die Philosophie in drei Bereiche (Topoi), die genau in dieser Reihenfolge angegangen werden sollen. Der erste Bereich ist der Bereich des Begehrens (Orexis) und Meidens (Ekklisis), der zweite Bereich der des Strebens (Hormê) und Abwendens (Aphormê) und der dritte Bereich der der Zustimmung (Synkatathesis bzw. Prosthesis und Epochê).166 Während sich das Begehren und Meiden für die Wünsche, die der Mensch hat, und damit für das Zustandekommen der Pathê verantwortlich zeigt, das Streben und Abwenden sich auf das konkrete Handeln im gesellschaftlichen Rahmen bezieht, wobei die Beziehungsgeflechte als Orientierung zum pflichtgemäßen Handeln innerhalb der Gesellschaft dienen (Kathêkonta), stellt der dritte Topos den Bereich der Logik dar. Hier wird die theoretische Festigkeit erlangt und die Täuschungsanfälligkeit abgelegt. Dieser Bereich entfaltet seine volle Kraft jedoch erst, wenn der Charakter bereits gefestigt ist. Vorher bietet die Beschäftigung mit der Logik nur ein leeres, formales Gerüst, das für den Ungebildeten nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich ist, da es zu Eitelkeit und Aufgeblasenheit führe, die ihn von der Beschäftigung mit dem Hauptgeschäft der Philosophie abhält.167
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Vgl. Epiktet diss. II.17,29–34: Δότε μοι ἕνα νέον κατὰ ταύτην τὴν ἐπιβολὴν ἐληλυθότα εἰς σχολήν, τούτου τοῦ πράγματος ἀθλητὴν γενόμενον καὶ λέγοντα ὅτι ‘ἐμοὶ τὰ μὲν ἄλλα πάντα χαιρέτω, ἀρκεῖ δ’ εἰ ἐξέσται ποτὲ ἀπαραποδίστῳ καὶ ἀλύπῳ διαγαγεῖν καὶ ἀνατεῖναι τὸν τράχηλον πρὸς τὰ πράγματα ὡς ἐλεύθερον καὶ εἰς τὸν οὐρανὸν ἀναβλέπειν ὡς φίλον τοῦ θεοῦ μηδὲν φοβούμενον τῶν συμβῆναι δυναμένων.’ δειξάτω τις ὑμῶν αὐτὸν τοιοῦτον, ἵνα εἴπω· ἔρχου, νεανίσκε, εἰς τὰ σά· σοὶ γὰρ εἵμαρται κοσμῆσαι φιλοσοφίαν, σά ἐστι ταῦτα κτήματα, σὰ τὰ βιβλία, σοὶ οἱ λόγοι. εἶθ’, ὅταν τοιοῦτον ἐκπονήσῃ καὶ καταθλήσῃ τὸν τόπον, πάλιν ἐλθών μοι εἰπάτω ‘ἐγὼ θέλω μὲν καὶ ἀπαθὴς εἶναι καὶ ἀτάραχος, θέλω δ’ ὡς εὐσεβὴς καὶ φιλόσοφος καὶ ἐπιμελὴς εἰδέναι τί μοι πρὸς θεούς ἐστι καθῆκον, τί πρὸς γονεῖς, τί πρὸς ἀδελφούς, τί πρὸς τὴν πατρίδα, τί πρὸς ξένους’. ἔρχου καὶ ἐπὶ τὸν δεύτερον τόπον· σός ἐστι καὶ οὗτος. ‘ἀλλ’ ἤδη καὶ τὸν δεύτερον τόπον ἐκμεμελέτηκα. ἤθελον δ’ ἀσφαλῶς καὶ ἀςίτως καὶ οὐ μόνον ἐγρηγορώς, ἀλλὰ καὶ καθεύδων καὶ οἰνωμένος καὶ ἐν μελαγχολίᾳ.’ σὺ θεὸς εἶ, ὦ ἄνθρωπε, σὺ μεγάλας ἔχεις ἐπιβολάς. Οὔ· ἀλλ’ ‘ἐγὼ θέλω γνῶναι, τί λέγει Χρύσιππος ἐν τοῖς περὶ τοῦ Ψευδομένου’. Vgl. ebenda, I.4 und III.2. Vgl. ebenda, II.17,27: καὶ τί ἔτι λέγεις πεπαιδεῦσθαι; ποίαν παιδείαν, ἄνθρωπε; ὅτι συλλογισμοὺς ἔπραξας, μεταπίπτοντας; οὐ θέλεις ἀπομαθεῖν, εἰ δυνατόν, πάντα ταῦτα καὶ ἄνωθεν ἄρξασθαι συναισθανόμενος ὅτι μέχρι νῦν οὐδ’ ἥψω τοῦ πράγματος.
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Einstiegsbedingung Doch bereits vor dem Eintritt in den ersten Bereich müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Ein Großteil der Diatriben besteht aus diesem Grund aus Beschimpfungen oder Ermahnungen der jeweiligen Gesprächspartner, die sich, da sie bereits Vorstellungen von dem Guten, Nützlichen, Gerechten, Schönen oder Anständigen haben, einbilden, sich damit nicht weiter befassen zu müssen und sich lieber mit spielerischen und reizvollen Fragen der Logik beschäftigen wollen. Der Grund für die Einbildungen dieser Schüler seien die natürlichen Prolêpseis, eine Art Grundverständnis für moralische (und theologische, aber nicht mathematische) Begriffe, mit dem jeder Mensch zur Welt komme. Dass das Gute nützlich sei, das Gerechte etwas Schönes sei, darüber gebe es keinen Streit, das wisse jeder. Während die alten Stoiker davon ausgingen, dass sich diese Grundbegriffe im Lauf der natürlichen Entwicklung des Menschen, ob nach dem 7. oder dem 14. Lebensjahr, naturgemäß einstellten, lenkt Epiktet die Frage von der Aneignung dieser Grundbegriffe nun auf deren Anwendung:168 „Denn wer sagt Dir, Theopomp, dass wir von all diesen Dingen keine natürlichen Vorbegriffe hätten? Aber es ist nicht möglich, dass einer diese Begriffe mit den jeweiligen Dinge zusammenbringe, ohne sie vorher zergliedert zu haben und genau geprüft zu haben, welche der Sachen dem jeweiligen Begriff unterzuordnen sei. [. . . ] Was ist denn die Ursache [scil. für die unterschiedlichen Anweisungen von Ärzten]? Etwa etwas anderes, als dass sie nicht in der Lage sind, den Vorbegriff des Gesunden in angemessener Weise auf die Teile anzuwenden? Und genauso verhält es sich bei den Dingen des Lebens. Wer von uns schwadroniert denn nicht über das Gute und Schlechte und Zuträgliche und Schädliche? Wer von uns hat keinen Vorbegriff für jedes davon? Aber ist dieser Begriff auch deutlich gegliedert und vollständig?“169 Der Mensch habe von Natur aus bereits eine gewisse Schulung im Bereich der moralischen Begriffe erhalten und wende diese Begriffe ganz selbstverständlich, 168
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Vgl. hierzu auch Robert F. Dobbin, Epictetus -Discourses: Book 1. Transl. with introd. and comm. by . R. F. Dobbin, S. 189f. Epiktet diss. II.17,7–11: τίς γάρ σοι λέγει, Θεόπομπε, ὅτι ἐννοίας οὐκ εἴχομεν ἑκάστου τούτων φυσικὰς καὶ προλήψεις; ἀλλ’ οὐχ οἷόν τ’ ἐφαρμόζειν τὰς προλήψεις ταῖς καταλλήλοις οὐσίαις μὴ διαρθρώσαντα αὐτὰς καὶ αὐτὸ τοῦτο σκεψάμενον, ποίαν τινὰ ἑκάστῃ αὐτῶν οὐσίαν ὑποτακτέον. [. . . ] τί τὸ αἴτιον; ἄλλο γε ἢ ὅτι τὴν τοῦ ὑγιεινοῦ πρόληψιν οὐ δύναται καλῶς ἐφαρμόσαι τοῖς ἐπὶ μέρους; Οὕτως ἔχει καὶ ἐνθάδ’ ἐπὶ τῶν κατὰ τὸν βίον. ἀγαθὸν καὶ κακὸν καὶ συμφέρον καὶ ἀσύμφορον τίς ἡμῶν οὐ λαλεῖ; τίς γὰρ ἡμῶν οὐκ ἔχει τούτων ἑκάστου πρόληψιν; ἆρ’ οὖν διηρθρωμένην καὶ τελείαν;
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
unreflektiert auf die Einzeldinge an, ohne sich ernsthaft zu fragen, ob dies auch wirklich richtig sei.170 Diese grundlegende Einbildung, aufgrund des schlichten Meinens stets richtig zu urteilen, müsse zunächst überwunden werden. Der Schüler müsse erkennen, dass in der Anwendung der moralischen Begriffe auf die einzelnen Gegenstände Streit, Unstimmigkeiten und Kriege entstehen und aus dieser Einsicht die ernsthafte Suche nach etwas Höherem als der Meinung entwickeln: „Du kannst uns sicherlich etwas Besseres für die Anwendung der Begriffe auf die Einzelgegenstände zeigen, etwas das höher ist als Dein bloßes Meinen? Tut denn nicht auch ein Wahnsinniger etwas anderes als das, was ihm gut zu sein scheint? Und genügt jenem dies als Kriterium? Nein, es genügt nicht! Dann komm nun und lass uns sehen, ob es etwas Höheres als das Meinen gibt! Dies also ist der Anfang der Philosophie: die Wahrnehmung von den wechselseitigen Widersprüchen bei den Menschen und die Suche nach der Ursache dieser Widersprüche und die Verurteilung und das Misstrauen in das bloße Meinen.“171 Die erste Aufgabe des Philosophieschülers ist es also, seine Einbildung abzulegen, dass er seine moralischen Urteile selbstverständlich richtig fällt. Es sei unmöglich, etwas zu lernen, wenn man bereits zu wissen glaube.172 Der Schüler müsse in den Philosophieunterricht wie in den Unterricht der Musik oder der Geometrie gehen, frei von der Einbildung, bereits alles zu wissen. Andernfalls könne er noch so viele
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Vgl. Epiktet diss. II.11,6–10: τούτου δ’ αἴτιον τὸ ἥκειν ἤδη τινὰ ὑπὸ τῆς φύσεως κατὰ τὸν τόπον ὥσπερ δεδιδαγμένους, ἀφ’ ὧν ὁρμώμενοι καὶ τὴν οἴησιν προσειλήφαμεν. — † Διὰ γάρ, φησίν, οὐκ οἶδα ἐγὼ τὸ καλὸν καὶ τὸ αἰσχρόν; οὐκ ἔχω ἔννοιαν αὐτοῦ; — ῎Εχεις. — Οὐκ ἐφαρμόζω τοῖς ἐπὶ μέρους; — ᾿Εφαρμόζεις. — Οὐ καλῶς οὖν ἐφαρμόζω; — ᾿Ενταῦθά ἐστι τὸ ζήτημα πᾶν καὶ οἴησις ἐνταῦθα προσγίνεται. ἀφ’ ὁμολογουμένων γὰρ ὁρμώμενοι τούτων ἐπὶ τὸ ἀμφισβητούμενον προάγουσιν ὑπὸ τῆς ἀκαταλλήλου ἐφαρμογῆς. ὡς εἴ γε καὶ τοῦτο ἔτι πρὸς ἐκείνοις ἐκέκτηντο, τί ἐκώλυε αὐτοὺς εἶναι τελείους; νῦν δ’ ἐπεὶ δοκεῖς ὅτι καὶ καταλλήλως ἐφαρμόζεις τὰς προλήψεις τοῖς ἐπὶ μέρους, εἰπέ μοι, πόθεν τοῦτο λαμβάνεις; — ῞Οτι δοκεῖ μοι. ebenda, II.11,12f. ῎Εχεις οὖν δεῖξαί τι ἡμῖν πρὸς τὸ αὐτὰς ἐφαρμόζειν ἄμεινον ἀνωτέρω τοῦ δοκεῖν σοι; ὁ δὲ μαινόμενος ἄλλα τινὰ ποιεῖ ἢ τὰ δοκοῦντά οἱ καλά; κἀκείνῳ οὖν ἀρκεῖ τοῦτο τὸ κριτήριον; — Οὐκ ἀρκεῖ. — ᾿Ελθὼν οὖν ἐπί τι ἀνωτέρω τοῦ δοκεῖν τί τοῦτό ἐστιν † ῎Ιδ’ ἀρχὴ φιλοσοφίας· αἴσθησις μάχης τῆς πρὸς ἀλλήλους τῶν ἀνθρώπων καὶ ζήτησις τοῦ παρ’ ὃ γίνεται ἡ μάχη καὶ κατάγνωσις καὶ ἀπιστία πρὸς τὸ ψιλῶς δοκοῦν. Vgl. ebenda, II.18,1: τί πρῶτόν ἐστιν ἔργον τοῦ φιλοσοφοῦντος; ἀποβαλεῖν οἴησιν: ἀμήχανον γάρ, ἅ τις εἰδέναι οἴεται, ταῦτα ἄρξασθαι μανθάνειν.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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Einführungen und Abhandlungen der Philosophen lesen – er werde keinen Schritt vorankommen.173 Es ist die richtige Anwendung der natürlichen Grundbegriffe, die den Menschen bei Epiktet vollkommen macht.174 Somit zeichnet sich die philosophische Bildung bei Epiktet durch ein Erlernen der richtigen Anwendung der natürlichen Grundbegriffe auf die einzelnen Fälle aus: „Was heißt denn nun sich zu bilden? Zu lernen, wie man die natürlichen Grundbegriffe richtig auf die jeweiligen Teile anwendet. Und übrigens zu unterscheiden, dass von den Dingen, die einen uns obliegen, die anderen nicht.“175
2.2.4
Theorie und Praxis bei Epiktet
Grundlage für die Bildung sind bei Epiktet die natürlichen Grundbegriffe bzw. der koinos Nous, eine Art common sense, dessen Besitz für jeden (normalen) Menschen die hinreichende Bedingung für den Unterricht darstellt.176 Doch wie genau hängen Theorie und Praxis im Philosophieunterricht Epiktets zusammen? Während im Neuplatonismus die ethischen und politischen Tugenden (nur) die ersten sind, die ausgebildet werden müssen, um überhaupt sinnvoll in den philosophischen Unterricht und damit die Ausbildung der höheren, kathartischen und theoretischen Tugenden einsteigen zu können, scheint die Theorie in der stoischen Philosophie im Allgemeinen, bei Epiktet im Besonderen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Hier erscheint sie als Mittel zum Zweck der Praxis, während eine Beschäftigung mit der Theorie ohne deren Anwendung in der Praxis als überflüssige, von dem Wesentlichen ablenkende Spielerei gilt. Bereits innerhalb der von 173
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Vgl. ebenda, II.18,39: ταύτην οὖν, ὅπερ λέγω, τὴν οἴησιν τὴν τοῦ δοκεῖν εἰδέναι τι τῶν χρησίμων ἀποβάλλοντας ἔρχεσθαι δεῖ πρὸς τὸν λόγον, ὡς πρὸς τὰ γεωμετρικὰ προσάγομεν, ὡς πρὸς τὰ μουσικά: εἰ δὲ μή, οὐδ᾿ ἐγγὺς ἐσόμεθα τῷ προκόψαι, κἂν πάσας τὰς εἰσαγωγὰς καὶ τὰς συντάξεις τὰς Χρυσίππου μετὰ τῶν ᾿Αντιπάτρου καὶ ᾿Αρχεδήμου διέλθωμεν. Vgl. ebenda, II.11,8–10: Οὐ καλῶς οὖν ἐφαρμόζω; — ᾿Ενταῦθά ἐστι τὸ ζήτημα πᾶν καὶ οἴησις ἐνταῦθα προσγίνεται. ἀφ’ ὁμολογουμένων γὰρ ὁρμώμενοι τούτων ἐπὶ τὸ ἀμφισβητούμενον προάγουσιν ὑπὸ τῆς ἀκαταλλήλου ἐφαρμογῆς. ὡς εἴ γε καὶ τοῦτο ἔτι πρὸς ἐκείνοις ἐκέκτηντο, τί ἐκώλυε αὐτοὺς εἶναι τελείους; ebenda, I.22,9: Τί οὖν ἐστι τὸ παιδεύεσθαι; μανθάνειν τὰς φυσικὰς προλήψεις ἐφαρμόζειν ταῖς ἐπὶ μέρους οὐσίαις καταλλήλως τῇ φύσει καὶ λοιπὸν διελεῖν, ὅτι τῶν ὄντων τὰ μέν ἐστιν ἐφ’ ἡμῖν, τὰ δὲ οὐκ ἐφ’ ἡμῖν. Vgl. ebenda, III.6,8: τί ἐστιν ὁ κοινὸς νοῦς, ῞Ωσπερ, φησίν, κοινή τις ἀκοὴ λέγοιτ’ ἂν ἡ μόνον φωνῶν διακριτική, ἡ δὲ τῶν φθόγγων οὐκέτι κοινή, ἀλλὰ τεχνική, οὕτως ἐστί τινα, ἃ οἱ μὴ παντάπασιν διεστραμμένοι τῶν ἀνθρώπων κατὰ τὰς κοινὰς ἀφορμὰς ὁρῶσιν. ἡ τοιαύτη κατάστασις κοινὸς νοῦς καλεῖται.
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Epiktet überlieferten und erhaltenen Gedanken lassen sich scheinbar widersprüchliche Ansätze zur Rolle der Theorie in der philosophischen Ausbildung zeigen. Adolf Bonhöffer, der sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in drei Bänden177 am ausführlichsten mit der Philosophie des Epiktet befasste, konstatierte bereits den schwankenden Ausdruck Epiktets über die Notwendigkeit der theoretischen Bildung, die einerseits am Anfang, andererseits am Ende der Erziehung zu stehen habe, und löste diese Entdeckung nur halbherzig auf, indem er sie umschrieb, ohne sie zu erklären: „gewissermaßen“ teile Epiktet die Logik bis „zu einem gewissen Grade“ in einen leichten, propädeutischen Teil ein und in einen schwereren, systematischen Teil für diejenigen, die bereits eine „gewisse Stufe“ sittlicher Vollkommenheit erreicht hätten.178 Ziel des Kapitels ist es, in diese Problematik einzuführen, diesen „gewissen Graden“ eine größere Bestimmtheit zu verleihen und das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Epiktet genauer zu beleuchten. Epiktets Aussagen zur Theorie „Zuerst“ , so zitiert Arrian Epiktet in den Lehrgesprächen, „üben uns die Philosophen in der Theorie (epi tês theorias), da sie ja leichter ist, dann erst führen sie uns zu den schwierigeren Dingen. Denn in diesem Bereich gibt es ja nichts, das uns daran hindert, dem Gelernten zu folgen. Im Bereich des Lebens (epi tôn biotikôn) hingegen gibt es viele Dinge, die uns ablenken. Folglich macht sich derjenige lächerlich, der sagt, dass er in diesem Bereich beginnen wolle, denn es ist nicht leicht bei dem Schwierigeren anzufangen.“179 Zwei – zumindest aus platonischer Sicht erstaunliche – Erkenntnisse lassen sich aus diesem Zitat ziehen: Zum einen stelle der Bereich der theoretischen Betrachtungen für Epiktet den leichten Teil der Philosophie dar, zum anderen gebe es die Notwendigkeit, die theoretische Ausbildung den praktischen Tätigkeiten voranzustellen. Die Beschäftigung mit der Theorie ist folglich das Erste, worin der angehende Philosoph Übung und Unterricht bedarf. 177
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Vgl. Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa, Adolf Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epictet, Stuttgart 1894 sowie ders., Epiktet und das Neue Testament, Gießen 1911. Vgl. Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa, S. 21; sowie Adolf Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epictet, S. 123. Epiktet diss. I.26,3–4: πρῶτον οὖν ἐπὶ τῆς θεωρίας γυμνάζουσιν ἡμᾶς οἱ φιλόσοφοι ὅπου ῥᾷον, εἶτα οὕτως ἐπὶ τὰ χαλεπώτερα ἄγουσιν: ἐνταῦθα γὰρ οὐδέν ἐστι τὸ ἀνθέλκον ὡς πρὸς τὸ ἀκολουθῆσαι τοῖς διδασκομένοις, ἐπὶ δὲ τῶν βιωτικῶν πολλὰ τὰ περισπῶντα. γελοῖος οὖν ὁ λέγων πρῶτον βούλεσθαι ἐπ᾿ ἐκείνων: οὐ γὰρ ῥᾴδιον ἄρχεσθαι ἀπὸ τῶν χαλεπωτέρων.
Bildung und Philosophie bei Epiktet
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Andererseits antwortet Epiktet einem Schüler, der ihn fragt, ob Theoreme nicht nutzlos seien, dass es auf den Zustand desjenigen ankomme, der sie gebraucht. So wie Medikamente für den einen nützlich sind, für den anderen nicht, gebe es bei den Theoremen und Syllogismen keine allgemeingültige Aussage über deren Nutzen. Für Ungebildete seien Theoreme nutzlos: „Versetze Dein Denken (Dianoia) [erst] in einen ruhigen Zustand und bringe es derartig gefestigt in den Unterricht und Du wirst erkennen, welche Stärke der Logos besitzt.“180 Auch in den Einteilungen der Topoi des Philosophieschülers mahnt er, dass der dritte Bereich der Philosophie, also derjenige, welcher sich auf die richtigen Zustimmungen bezieht, um Fehler und Voreiligkeit im Urteil zu vermeiden, denjenigen vorbehalten sein sollte, die bereits fortgeschritten sind. Die Beschäftigung mit logischen Problemen sei für den sittlich Ausgebildeten reserviert, um den letzten Grad an Sicherheit zu erreichen. „Ist es wirklich das, was Du brauchst?“, leitet er einen ganzen Fragekatalog an einen seiner Schüler ein: „Hast Du denn die anderen Dinge schon verdaut? Bist Du überhaupt schon sicher im Umgang mit Kleingeld? Wenn Du ein schönes Mädchen siehst, hältst Du da Deiner Vorstellung stand? Wenn Dein Nachbar etwas erbt, bist Du dann auch nicht betrübt? Fehlt Dir also wirklich nichts anderes als diese letzte Sicherheit?“181 Im Werk Epiktets gibt es demnach zwei Aussagen bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Die erste fordert dazu auf, sich zunächst mit der Theorie zu beschäftigen, da diese leichter zugänglich ist, um sich dann dem schwierigeren Teil, dem praktischen Leben zuzuwenden. Die zweite hingegen empfiehlt, sich zunächst durch die Praxis zu festigen, sein Begehren und Streben zu schulen, bevor man sich den Theoremen, der Syllogistik und der Logik widmet.
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ebenda, II.21,22:ἠρεμήσατε τῇ διανοίᾳ, ἀπερίσπαστον αὐτὴν ἐνέγκατε εἰς τὴν σχολήν: καὶ γνώσεσθε οἵαν ἰσχὺν ὁ λόγος ἔχει. ebenda, III.2,8: σοὶ οὖν τοῦτο λείπει; τὰς ἄλλας ἐκπεπόνηκας; περὶ κερμάτιον ἀνεξαπάτητος εἶ; ἐὰν ἴδῃς κοράσιον καλόν, ἀντέχεις τῇ φαντασίᾳ; ἂν ὁ γείτων σου κληρονομήσῃ, οὐ δάκνῃ; νῦν οὐδὲν ἄλλο σοι λείπει ἢ ἀμεταπτωσία;
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THEORETISCHE VORBESPRECHUNG
Erste Theoriestufe: Grundlagen für Einsteiger In der Philosophie Epiktets lassen sich zwei Einsatzbereiche der Theorie aufzeigen. Ein Bereich der Theorie hilft bei dem Erfassen der Wirklichkeit, so dass es bei dem Abgleich von Schein und Sein zu keinen Fehlern kommt,182 der andere Bereich erstellt die formalen Regeln, nach denen sich der Gebrauch von erfassten Vorstellungen Logos-gemäß zu richten hat. Im ersten Fall geht es um die Anwendung von Regeln auf gegebenes Material, im zweiten um die Suche nach dem und die Erstellung des Kanon, nach dem sich der Mensch richten müsse, um frei von Täuschung zu sein.183 Somit öffnen sich die beiden Bereiche, die je einer theoretischen Schulung bedürfen: erstens eine Schulung zur Einteilung von Vorstellungen durch das Lernen von Regeln, und zweitens eine Schulung zur Konstitution und Handhabe von abstrakten Regeln untereinander. Die Theorie, die der Mensch zunächst zu lernen habe, ist die, die ihm die Regeln an die Hand gibt, mit deren Hilfe er die Wirklichkeit vermessen könne. Das sei der leichte Teil der Philosophie, der allem weiteren vorausgeht. Leicht sei er deshalb, weil er intuitiv einleuchtend, schnell zu verstehen ist und den gesunden Menschenverstand anspricht. Ein guter Philosophieschüler hingegen zeichne sich aber nicht dadurch aus, dass er diesen Teil begriffen hat und referieren kann, sondern dadurch, dass er das Begriffene in der Praxis anwendet. Denn selbst wenn es einem Menschen beispielsweise einleuchtet, dass er zwangsläufig unglücklich wird, wenn er Dinge begehrt, deren Eintreten nicht in der eigenen Hand liegt, so ist es keineswegs selbstverständlich, dass er, wenn die eigene Frau oder das Kind stirbt, wenn sich andere Menschen über ihn lustig machen oder wenn er ins Gefängnis kommt und die Todesstrafe erwartet, darüber nicht doch unglücklich wird und lamentiert. Die Regelkunde besteht in der Wiederholung und Erinnerung der intuitiv bekannten Vorbegriffe und deren Zergliederung durch konsequente Anwendung. Diese Vorbegriffe stehen hierbei für den Messbecher, die Waagschale, an der die Einzeldinge bemessen bzw. abgewogen werden sollen. Neben dem ersten Misstrauen an den verschiedenen Meinungen stelle nämlich nun die Suche nach einem Messinstrument für die Richtigkeit der Meinungen für Epiktet den Beginn der Philosophie dar.184 182
Vgl. Epiktet diss. I.27,1: Τετραχῶς αἱ φαντασίαι γίνονται ἡμῖν· ἢ γὰρ ἔστι τινὰ καὶ> οὕτως φαίνεται ἢ οὐκ ὄντα οὐδὲ φαίνεται ὅτι ἔστιν ἢ ἔστι καὶ οὐ φαίνεται ἢ οὐκ ἔστι καὶ φαίνεται. λοιπὸν ἐν πᾶσι τούτοις εὐστοχεῖν ἔργον ἐστὶ τοῦ πεπαιδευμένου. Vgl. ebenda, II.11. Vgl. ebenda, II.11,13: ῎Ιδ’ ἀρχὴ φιλοσοφίας· αἴσθησις μάχης τῆς πρὸς ἀλλήλους τῶν ἀνθρώπων καὶ ζήτησις τοῦ παρ’ ὃ γίνεται ἡ μάχη καὶ κατάγνωσις καὶ ἀπιστία πρὸς τὸ ψιλῶς δοκοῦν, ἔρευνα δέ τις περὶ τὸ δοκοῦν εἰ ὀρθῶς δοκεῖ καὶ εὕρεσις