Ästhetisches Sorgen: Eine Theorie der Kunst 9783839454541

Ästhetik reflektiert Kunst, kaum aber deren konkrete Verwendungsformen. Um zu verstehen, was Kunst ist, muss sie jedoch

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German Pages 182 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
1. Was machen Menschen mit Kunst?
2. Mit Kunst feiern
3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern
4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis
Einleitung
4.1. Performance und Theater
4.2. Musik
4.3. Bildende Kunst
4.4. Lesungen
4.5. Kino
5. Die Praxis Kunst als private Praxis
5.1. Musik hören
5.2. Bilder aufhängen
5.3. Lesen
5.4. Filme und Videos sehen
6. Ästhetisches Sorgen
Einleitung
6.1. Das Allgemeine und das Besondere
6.2. Kunst und Politik
6.3. Ästhetische Innovation
6.4. »Hohe« und »populäre« Kunst
6.5. Horror
6.6. Produzieren und rezipieren
6.7. Kultur
6.8. Kunst und Leben
7. Ästhetik
Literaturverzeichnis
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Ästhetisches Sorgen: Eine Theorie der Kunst
 9783839454541

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Christian Zürner Ästhetisches Sorgen

Edition Kulturwissenschaft  | Band 241

Für Maike, Valentine und Justus

Christian Zürner (Dr. phil.), geb. 1968, ist Professor für Soziale Kulturarbeit an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg und E-Bassist mit internationaler Konzerterfahrung im Bereich Jazz und Weltmusik.

Christian Zürner

Ästhetisches Sorgen Eine Theorie der Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim­ mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel­ fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5454-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5454-1 https://doi.org/10.14361/9783839454541 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.

Was machen Menschen mit Kunst? ................................................. 7

2.

Mit Kunst feiern ................................................................... 27

3.

Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern .................. 31

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis ............................................ 55 4.1. Performance und Theater .......................................................... 57 4.2. Musik .............................................................................. 75 4.2.1. Konzerte .................................................................... 75 4.2.2. Musikalische Beschallungen öffentlicher Räume ............................. 83 4.3. Bildende Kunst ..................................................................... 84 4.3.1. Galerien .................................................................... 84 4.3.2. Markierungen bedeutsamer Räume durch Bildende Kunst .................... 92 4.4. Lesungen .......................................................................... 93 4.4.1. Literarische Lesungen ....................................................... 93 4.4.2. Gedichtlesungen............................................................. 101 4.5. Kino............................................................................... 103 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

Die Praxis Kunst als private Praxis ................................................ 113 Musik hören ........................................................................ 113 Bilder aufhängen ................................................................... 118 Lesen ............................................................................. 123 Filme und Videos sehen ............................................................127

6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5.

Ästhetisches Sorgen .............................................................. 133 Das Allgemeine und das Besondere .................................................147 Kunst und Politik .................................................................. 148 Ästhetische Innovation ............................................................. 151 »Hohe« und »populäre« Kunst .................................................... 153 Horror ............................................................................ 155

6.6. Produzieren und rezipieren .........................................................157 6.7. Kultur ............................................................................. 159 6.8. Kunst und Leben ................................................................... 161 7.

Ästhetik .......................................................................... 169

Literaturverzeichnis.................................................................... 173

1. Was machen Menschen mit Kunst?

Die hier formulierte Frage zielt keineswegs auf eine Kritik des funktionalistischen Missbrauchs von Kunst, sondern auf ein Verständnis eben der spezifischen Praxis, die Menschen vollführen, wenn sie Artefakte oder Performances produzieren oder rezipieren. Und diese Frage hat, so die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen, Ästhetik bislang wenig interessiert. Mit ihrer Profilierung als eigenständiger philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert konstituiert sich zugleich der ihr zugeordnete Gegenstand »Kunst«. Diese Konstitution aber erweist sich von Anfang an als verkürzt. Es scheint selbstverständlich, dass Kunst als Artikulation eines neu zu erforschenden, spezifisch »ästhetischen« Weltverhältnisses thematisiert werden muss und somit aus der Reflexion einer prekären Relation dieses ästhetischen zu theoretischen und moralisch-praktischen Weltverhältnissen heraus zu bestimmen ist. Während Ästhetik aus dieser relativen Autonomie seitdem bis in die Gegenwart philosophische Inspirationen bezieht bzw. Philosophie sich v.a. immer wieder selbst ästhetisch problematisiert1 , erfahren konkrete öffentliche oder private Vollzugsformen von Kunst jedoch kaum Beachtung. Sie werden zu einer Angelegenheit von Kultursoziologie, wohingegen die im Kontext von Erkenntnistheorie und -kritik herausgebildete Ästhetik lieber über die Qualitäten eines Gegebenen,

1

Vgl. Andrea Kern, Ruth Sonderegger: Einleitung. In: dies. [Hgg.; 2002]: Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-15, hier S. 10f.: »Die philosophische Ästhetik ist weder eine marginale Disziplin innerhalb der Philosophie noch ist sie die einzig wahre Philosophie; es zeigt sich vielmehr, daß theoretische und praktische Philosophie einerseits und Ästhetik andererseits nur im wechselseitigen Bezug aufeinander sinnvoll sind. Mit dieser Bestimmung des Ästhetischen begründet sich die Ästhetik nämlich nicht einfach als eine eigene philosophische Disziplin, die den Bereich der Philosophie nur um einen neuen Gegenstand erweitert – neben dem theoretischen und dem praktischen Bezug auf die Welt reflektierte die Philosophie dann auch noch die ästhetische Erfahrung –, sondern sie begründet sich durch einen ganz besonderen Gegenstand: nämlich durch einen Gegenstand, der selbst schon philosophischen Charakter hat, ohne doch Philosophie zu sein.«

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

»Erscheinenden«2 , weniger über Praktiken philosophiert3 (bzw. moralisch-praktische Aspekte von Kunst gerade in einer ihr attestierten heilsamen Abstinenz von Praxis lokalisiert). Die Thematisierung »ästhetischer Erfahrung« verändert, auch wenn ihr ein gehöriges Maß an aktivem Mitvollzug bescheinigt wird, hieran nur wenig, da sie als subjektive Resonanz auf ästhetisch Erscheinendes dessen Praxishemmung letztlich gewahrend affirmiert4 . Aber besonders aus einer philosophischen Untersuchung dessen, was Menschen mit ihr machen, ließen sich wichtige Impulse für ein Verstehen von Kunst gewinnen. Und von da aus wäre dann zu fragen, ob Kunst zureichend beschrieben werden kann als »Spiel von Sinnlichkeit und Vernunft«, »sinnliches Scheinen der Idee«, »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden« etc. bzw. welche Praktiken von Menschen, die immerhin nahezu alle täglich mit den unterschiedlichsten Formen von Kunst umgehen, denn mit solchen Definitionen verbunden sein sollen? Warum »vieles von dem, was die Kunst begeisternd, einnehmend und wichtig macht, philosophisch einfach belanglos«5 sein sollte, leuchtet nicht bzw. nur dann ein, wenn Ästhetik sich tatsächlich als »bewußtlose, teils verdeckte oder auch offene Selbstreflexion der Philosophie«6 genügen will. Für einen im Hinblick auf konkrete ästhetische Praktiken erweiterten Fokus allerdings wäre es erforderlich, einem a priori behaupteten »philosophischen Charakter«7 der Kunst mit Skepsis zu begegnen. Gleichzeitig aber fällt es deshalb so schwer, sich von dieser Zuschreibung zu verabschieden, weil sie das ästhetische Nachdenken über Kunst von Beginn an grundiert bzw. es überhaupt erst motiviert hat. So thematisiert Kant die Kunst im Rahmen vernunfttheoretischer Überlegungen und profiliert sie damit als ein irgendwie gegebenes Faszino2 3

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6 7

Vgl. Martin Seel [2003]: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Insofern überzeugt die von Georg W. Bertram [2014]: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, grundsätzlich verfolgte Intention. Dabei liegt die Pointe jedoch zunächst weniger in der These, dass »Kunst […] eine Praxis [ist], für die ein Bezug auf andere Praktiken wesentlich ist und die aus diesem Grund nicht in Abgrenzung von anderen Praktiken, sondern nur unter Rekurs auf die Art und Weise dieses Bezugs zu begreifen ist« (S. 12), als vielmehr in dem grundsätzlichen ästhetischen Verständnis von Kunst als einer Praxis. Allerdings bleibt die argumentative Durchführung bei Bertram so abstrakt, dass eine plausible Klärung des spezifischen Charakters dieser Praxis nicht gelingt. Die Profilierung der Kunst als einer »Praxis der Freiheit« (Bertram, S. 151ff.) wirkt dann lediglich wie die praktische Version vertrauter idealistischer Topoi, vermag aber nicht, die spezifischen Dynamiken konkreter Vollzüge von Kunst zu erhellen (zur eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Ansatz Bertrams vgl. Kapitel 6.). Vgl. Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel [Hgg.; 2013]: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin: Suhrkamp. Arthur C. Danto [1991]: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 92. Vgl. hierzu auch Brigitte Hilmer: Kunst als Spiegel der Philosophie. In: Kern, Sonderegger: Falsche Gegensätze, S. 112-130. Hilmer, a.a.O., S. 112. Vgl. Anm. 1.

1. Was machen Menschen mit Kunst?

sum, das zur Reflexion nötigt; als ein aus den pragmatischen Lebenszusammenhängen eigenartig herausgelöstes Ding, an dem sich das aufgeklärte menschliche Bewusstsein seiner Funktionsweisen kritisch zu vergewissern hat. Analysiert werden »ästhetische Urteile« in ihrem Bezug auf spezifische Gegenstände, die auf eine die philosophische Reflexion irritierende Weise »viel zu denken veran[lassen], ohne daß ih[nen] doch irgend ein bestimmter Gedanke d.i. Begriff adäquat sein kann«8 . Konsequent nehmen Kants Überlegungen dann auch bei der Naturästhetik als einer Ästhetik des Gegebenen, nicht Gemachten ihren Anfang: Eine adäquate Rezeption der Kunst darf diese demnach gerade nicht als ein Stück absichtsvoll produzierte Kultur auffassen, sondern muss sie gewahren als ein vorfindbares, bemerkenswertes Phänomen, das in die geschichtliche und gesellschaftliche Sphäre »genialisch« hineinragt: »Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.«9 Und so »muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich erscheinen; d.i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist.«10 Freilich widerspricht Hegel entschieden solcher ästhetischen Auszeichnung der Natur, beharrt auf einer philosophischen Priorisierung von Kunstschönheit als der »aus dem Geiste geborene[n] und wiedergeborene[n] Schönheit«11 und holt das Ästhetische damit zurück in den Kontext von Kultur und Geschichte. Aber während Kants rein systematisch angelegte Klärung menschlicher Vermögen dem unbegrifflichen Spiel der Kunst eher eine produktive intellektuelle Inspiration attestiert, avancieren Artefakte in Hegels geschichtlichem Denken zu Medien objektiver Erkenntnis des schrittweise zu sich selbst kommenden Geistes: »In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt«12 formuliert Hegel ebenso pathetisch wie lapidar. Der Fokus liegt hier aber auf den Werken als Trägern von Anschauungen und Vorstellungen, die es geistphilosophisch zu erhellen gilt, nicht jedoch auf dem Niederlegen als einer Tätigkeit, deren gesellschaftlicher Ort zu klären wäre. In den Vorlesungen über die Ästhetik werden die Kunstobjekte zwar als historisch sich wandelnde Kulturprodukte profiliert. Dies erfolgt jedoch nicht mit der Intention, ihre Verwendungszusammenhänge in den entsprechenden kulturellen Kontexten zu reflektieren und so dem Sinn einer sich in Kunst aussprechenden kulturellen Praxis philosophisch auf die Spur zu kommen, sondern um sie selbst als philosophisch gehaltvolle Gebilde unmittelbar für das eigene Denken – hier für die Konstruktion einer konsistenten 8 9 10 11 12

Immanuel Kant [2015]: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. 22. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 249f. (»Begriff« original gesperrt). Kant, a.a.O., S. 241f. (»durch welche« original gesperrt). Kant, a.a.O., S. 241. (»anzusehen« original gesperrt). Georg Wilhelm Friedrich Hegel [2016]: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke 13. 13. Auflage: Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 14 (Hervorhebung original). Hegel, a.a.O., S. 21.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Geistphilosophie – zu reklamieren: Kunst ist für Hegel »nur eine Art und Weise […], die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen«13 . Statt die Spezifik von Kunst aus ihrer Einbettung in bestimmte Praktiken heraus verstehen zu wollen, isoliert Ästhetik künstlerische Produkte zu spezifischen Bedeutungsträgern, mit deren Hilfe sich Philosophien veranschaulichen lassen. So aber ist dann allen ästhetischen Konzeptionen der Weg bereitet, denen Kunstwerke als Träger von nichtbegrifflichen Erkenntnissen gelten, und zugleich kann es nicht verwundern, dass der Zusammenhang dieser Kunstwerke mit konkreten Lebensvollzügen mehr und mehr zum Problem wird. Ein Kunstding, das gleichsam als unvermittelt begegnendes Symbol höchste Wahrheiten verbürgen soll, tut sich schwer, seinen Platz in den praktischen Kontexten zu finden bzw. muss, je mehr es der Illustration philosophischer Erkenntnis dient, notwendig an der Praxisferne des philosophischen Habitus partizipieren. Dies gilt für Heideggers Verständnis des Kunstwerks als ein »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden«14 , in dessen »Nähe […] wir jäh anderswo gewesen [sind], als wir gewöhnlich zu sein pflegen«15 , wie auch für Adornos leidenschaftliches Insistieren auf Kunst als »Antithesis zur Gesellschaft«16 . Wenn Adornos Dialektik diese »Antithesis« dabei als »gesellschaftliche« charakterisiert, sind »ungelöste[] Antagonismen der Realität«, die »in den Kunstwerken [wiederkehren] als die immanenten Probleme ihrer Form«17 gemeint. Nirgends aber geht es um gesellschaftliche Praktiken im Zusammenhang mit solchen Werken. Es ist bezeichnend, dass Adorno die Frage des konkreten gesellschaftlichen Verwendungszusammenhanges nur und regelmäßig im Hinblick auf die Produkte der Kulturindustrie – hier aber eben als fatale, verblendete Unterhaltung – aufgreift, sie niemals jedoch bei Werken »großer« Kunst stellt (und sie dort offenbar für deplatziert hält). Zugleich vollzieht Adornos Kunstphilosophie dann die Transformation einer ästhetisch verbürgten Erkenntnis zum nur durch Negation Gegebenen. Sie etabliert damit eine Denkbewegung, die – modifiziert zur ästhetischen Kritik an Darstellung oder Repräsentation – in vielfältigen Varianten wieder und wieder differenzphilosophisch durchgespielt wird18 . Konstitutiv bleiben dabei der vernunftkritische Rahmen, in dem sich das 13 14 15 16 17 18

Ebda. Martin Heidegger [1960]: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart: Reclam, S. 30. Heidegger, a.a.O., S. 29. Theodor W. Adorno [1997]: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 19. Adorno, a.a.O., S. 16 (Hervorhebung C.Z.). Vgl. etwa Jean-François Lyotard [1986]: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Übersetzt von Marianne Karbe. Berlin: Merve; ders. [1982]: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kranz. Berlin: Merve; Jacques Derrida [2008]: Die Wahrheit in der Malerei. 2. Auflage. Übersetzt von Michael Wetzel. Wien: Passagen; ders. [1972]: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 351ff.

1. Was machen Menschen mit Kunst?

ästhetische Denken bewegt, sowie die philosophische Isolation der Kunst von den gesellschaftlichen und privaten Praktiken, in denen sie sich vollzieht. Dabei freilich bedingt das eine das andere, denn die Profilierung eines Kunstwerks oder einer Performance zur elaborierten Irritation des Intellekts interessiert sich nicht für die Frage, welche mit Kunst verbundene Praxis solcher Irritation entsprechen soll. Wenn Christoph Menke die Kunst in diesem Zusammenhang als ein »paradoxe[s] Können« beschreibt, »zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein«19 , resultiert aus seiner ästhetischen Subjekt- und Vernunftkritik folgerichtig eine Zurückweisung instrumenteller Ansprüche. Konsequent fährt Menke dann auch fort: »Deshalb ist die Kunst kein Teil der Gesellschaft – keine soziale Praxis«20 . Eine wie auch immer triftige Selbstreflexion des Denkens im Medium der Ästhetik aber darf nicht mit einer zureichenden Bestimmung von Kunst verwechselt werden. Letzterer müsste unbedingt daran gelegen sein, Kunst eben als spezifischen Teil der Gesellschaft in den Blick zu bekommen, in der sie in allen ihren Formen täglich im Umlauf ist. Und das Ausblenden dieser Perspektive zeugt entsprechend von philosophischer Überheblichkeit oder Kurzsichtigkeit. Die analytische Kunstphilosophie weist weit weniger vernunftkritisches Pathos auf und will sich dazu verpflichten, über formale Funktionsweisen und Strukturmerkmale von Kunstwerken nüchtern und präzise aufzuklären. Wenngleich sie damit auch der Gefahr einer Hypostasierung und Idealisierung von Kunst im Vergleich zu Ästhetiken der kontinentaleuropäischen Tradition weniger ausgesetzt ist, blendet sie doch ebenso wie diese Fragen nach der gesellschaftlichen und privaten Praxis Kunst weitgehend aus. Nelson Goodman thematisiert nicht, in welchen Zusammenhängen die »Sprachen der Kunst«21 Verwendung finden, welcher Sinn sich etwa hinter den »Exemplifikationen«22 von Kunst artikuliert bzw. inwiefern dieser Sinn sich eben durch eine solche Zusammenhänge einbeziehende Betrachtung näher bestimmen ließe. So aber bleibt es wiederum bei der – hier rhetorisch freilich weitaus nüchterner durchexerzierten – erkenntnistheoretischen bzw. -kritischen ästhetischen Tradition, wenn Goodman als »Hauptthese« vertritt, »daß die Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens – im umfassenden Sinne des Verstehensfortschritts – ebenso ernst genommen werden müssen wie die Wissenschaften und daß die Philosophie der Kunst mithin als wesentlicher Bestandteil der Metaphysik und Erkenntnistheorie betrachtet werden sollte.«23 Durch das Ausblenden von konkreten gesellschaftlichen Vollzü19 20 21 22 23

Christoph Menke [2013]: Die Kraft der Kunst. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp, S. 14. Ebda. Nelson Goodman [1973]: Die Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Übersetzt von Jürgen Schlaeger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goodman, a.a.O., S. 62ff. Nelson Goodman [1990]: Weisen der Welterzeugung. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 127.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

gen der verschiedenen »Weisen der Welterzeugung«, die Goodmans konstruktivistisches Grundanliegen eher hinsichtlich ihrer Analogien profiliert, wird unklar, wie diese »Weisen« sich etwa in den mit Kunst und Wissenschaft verbundenen Praktiken unterscheiden und ob sich in diesen konkreten Vollzügen nicht doch sehr unterschiedliche Intentionen manifestieren. Wird Kunst als ein Produkt von Menschen für Menschen verstanden, ist Goodmans analytische Isolation der Frage »was Kunst tut«24 von der, was Menschen in welchen Kontexten mit Kunst tun, nicht plausibel. Denn verschiedene »Weisen der Welterzeugung« vollziehen sich, auch wenn sie eine konstruktivistische Grunddynamik eint, dennoch in sehr unterschiedlichen öffentlichen bzw. privaten Kontexten; und es ist problematisch, wenn diese Kontexte im Hinblick auf ein Verständnis der spezifischen Symbole, die Goodman Kunst nennt, ausgeklammert werden. Obgleich Kunst hier nicht auf ein »metaphysisches Podest gehoben wird«25 , sondern in einem konstruktivistischen Modell neben der Wissenschaft gleichberechtigt agiert, bleibt die Frage nach dem spezifischen Sinn und dem Kontext einer konkreten Praxis dieser künstlerischen Welterzeugung prekär. Wiederum gelten Kunstwerke philosophisch als Dinge, aus denen sich Erkenntnisse gewinnen lassen, ohne dass nach ihrer konkreten Verwendung und einem sich darin möglicherweise aussprechenden differierenden Sinn dieser Dinge gefragt würde. Auch Arthur C. Dantos analytische Aufmerksamkeit konzentriert sich auf eine letztlich erkenntnistheoretische Grundierung der besonderen Qualität von Kunstwerken: ihre spezifische »Bezogenheit«, mit der sie »über etwas sind«26 und sich damit von »rein realen Dingen«27 unterscheiden – selbst wenn diese von den Artefakten äußerlich ununterscheidbar scheinen. Dabei spielt die Frage der Spezifik von konkreten Situationen, Zeiten und Orten, an denen diese Qualität in besonderer Weise ausgespielt wird, erneut keine Rolle, obgleich an diesen Gegebenheiten doch der Sinn solcher »Bezogenheit« genauer zu erhellen wäre. Geklärt werden müsste insbesondere, wieso die Kunst, für die die »spontane Fähigkeit des Künstlers, seine Art, die Welt sichtbar zu machen« nach Danto »wesentlich«28 ist, zugleich mit dem nicht eingehender begründeten programmatischen Terminus der »Verklärung« (Transfiguration) in Zusammenhang gebracht wird. Denn die künstlerische »Veräußerlichung« einer »Weise, die Welt zu sehen«29 , verlangte, als zunächst eher undramatisch erscheinender kommunikativer Akt, nicht unbedingt eine solch auffällige und pointierte Charakterisierung. Abermals bleibt die mit den Kunstobjekten verbundene Praxis in einer Weise vage 24 25 26 27 28 29

Goodman, a.a.O., S. 90. Arthur C. Danto [1993]: Die philosophische Entmündigung der Kunst. Übersetzt von Karen Lauer. München: Wilhelm Fink, S. 34. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 20. Danto, a.a.O., S. 17ff. Danto, a.a.O., S. 313. Danto, a.a.O., S. 315.

1. Was machen Menschen mit Kunst?

und intransparent, die im Interesse einer nicht auf vernunft- bzw. erkenntniskritische Qualitäten beschränkten philosophischen Analyse des Gegenstandes Kunst wenig zufriedenstellend ist. Dennoch ist Praxisferne nur die eine problematische Weise, Kunst ästhetisch zu bestimmen. Die andere, nicht weniger fatale, ist der Versuch, sie im Gegensatz dazu zur totalen Praxis zu erklären. Aber auch diese Variante ist durch die erkenntnistheoretische bzw. vernunftkritische Orientierung der Ästhetik bedingt. Denn Fundamentalkritik an einer durch Vernunft korrumpierten Gesellschaft motiviert dann die Propagierung eines umfassenden Lebensstils, der grundlegende Imperative dieser Gesellschaft ästhetisch unterläuft. Während Schopenhauer, ganz der vernunfttheoretischen ästhetischen Tradition verpflichtet, Artefakte als eine besondere Form der Erkenntnis, nämlich als ein »Erkennen ohne alle Beziehung auf ein Wollen«30 bezeichnet und ihr als einzig legitime Praxis »reine Kontemplation«31 , d.h. intermittierende Negation weltverhafteten Tuns zuordnet, entzündet sich Nietzsches Kritik an eben dieser als heilsam propagierten ästhetischen »Verneinung des Willens zum Leben«32 . Nietzsche variiert das lebensphilosophische Paradigma einer angesichts leidvoller Verstrickungen in den Weltwillen trostvollen33 ästhetischen Askese, indem er ihr gerade die üppigen Freuden dionysischer Affirmation des »künstlerische[n] Spiel[s]«, das der metaphysische »Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt«34 , entgegenstellt. Wenn sich in dieser Affirmation aber zugleich »eine neue Daseinsform«35 ankündigen soll, die sich vom »Fundamente aller Existenz«, dem »dionysischen Untergrunde der Welt«36 nährt, wird Kunst als spezifische Praxis von einer emphatischen programmatischen Ästhetisierung des Lebens überrollt. Eine normative »Metaphysik der Kunst«37 , in der der Mensch schließlich zur »menschgewordenen Dissonanz«38 erklärt wird, torpediert Bemühungen um ein deskriptiv orientiertes Verstehen differenzierter Bezüge der Praxis Kunst zu anderen Praktiken. Und wenn für Nietzsche »nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt« überhaupt »gerechtfertigt erscheint«39 , d.h. Existenz normativ als totale ästhetische Praxis eingefordert wird, lässt dies eine differenzierte Bestimmung der besonderen Praxis 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Arthur Schopenhauer [1987]: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. Stuttgart: Reclam, S. 278. Schopenhauer, a.a.O., S. 274. Schopenhauer, a.a.O., S. 385ff., S. 573f. Schopenhauer, a.a.O., S. 574. Friedrich Nietzsche [2014]: Die Geburt der Tragödie und ihr zugeordnete Schriften aus dem Nachlass. Hg. von Bernhard Greiner. 9. Auflage. Stuttgart: Kröner, S. 147. Nietzsche, a.a.O., S. 123. Nietzsche, a.a.O., S. 150. Nietzsche, a.a.O., S. 147. Nietzsche, a.a.O., S. 149. Nietzsche, a.a.O., S. 147.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Kunst kleingeistig und überflüssig erscheinen. Kennzeichnet ästhetisches Denken also einerseits das Fehlen einer konkreten, reflektierten Verortung der Kunst in den Vollzugsformen des alltäglichen Lebens (und mit welchem Recht wird sie philosophisch ausgespart?), werden im anderen Extrem diese Vollzugsformen sämtlich für den Bereich des Ästhetischen reklamiert. Statt einer problematischen Dekontextualisierung der Kunst zu gehaltvollen Zeichen bzw. Erscheinungen begegnet dann die Verflüssigung mit Kunst verbundener Praktiken in einem diffusen Gesamthabitus umfassender ästhetischer Existenzbewältigung. Letzteres setzt sich fort bis hinein in die philosophischen Darlegungen Michel Foucaults zu einer »Ästhetik der Existenz«, in denen grundlegende »Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verhalten, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt«40 , unter dem Begriff »Lebenskunst« thematisiert werden. Die Metapher vom »Leben als Kunstwerk«, die sich gerade nicht auf spezifisch künstlerische Praktiken, sondern auf einen kultivierten Stil individueller Lebensführung bezieht41 , trägt zur gravierenden Verunklarung eines präziseren und differenzierteren Verständnisses der spezifischen Praxis Kunst bei. Gleichwohl hat der fatale Charme dieser problematischen Metapher auch jenseits der Ästhetik weiterhin nicht nur in der Philosophie42 , sondern auch bis hinein in pädagogische Diskurse43 Konjunktur. 40

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Michel Foucault [2013]: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek u.a. 4. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 289. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. In: ders. [2008]: Die Hauptwerke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 1371-1582, hier S. 1416: »Da sind die Körperpflegen, die Gesundheitsregeln, die ausgewogenen körperlichen Übungen, die maßvolle Befriedigung der Bedürfnisse. Da sind die Meditationen, die Lektüren, die Aufzeichnungen über Gelesenes oder im Gespräch Vernommenes, auf die man später zurückgreift, das Überdenken von Wahrheiten, die man bereits kennt, aber sich noch besser zu eigen machen muß.« Wilhelm Schmid [2014]: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. 13. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wenn es dort heißt, das »Material« der Lebenskunst »ist kein Marmorblock, keine Leinwand, kein Notenblatt, und doch handelt es sich um jene Art von Material, das im Grunde von allen Künsten bearbeitet wird, ohne dass dies von allen so betont wurde wie im Falle des Happenings und der Performance: Das Leben« (S. 71, Hervorhebung original), steht ein solcher Satz symptomatisch für diese Verunklarung. Wobei sich im Gefolge einer diffusen Vermengung von Kunst und Leben umgekehrt dann, etwa im Rahmen der Begründungsansätze »Kultureller Bildung«, aus künstlerischen Praktiken umfassende Kompetenzen zur Lebensführung ableiten lassen sollen. Vgl. Christian Zürner [2015]: Lebenskunst als Lernziel Kultureller Bildung? (www.kubi-online.de/artikel/lebenskunst-lernziel-kultureller-bildung, letzter Zugriff: 10.06.2020).

1. Was machen Menschen mit Kunst?

Während in den Lebenskunstkonzepten das Leben als Kunstwerk aufgefasst wird, verfolgt die »Ästhetik des Performativen«44 die umgekehrte Intention, Kunst in Leben zu überführen. Auch ihr Programm bekennt sich dabei ausdrücklich zur Tradition ästhetischer Erkenntnis- bzw. Vernunftkritik und zielt nach eigenen Angaben dezidiert auf eine Überwindung der »Beschreibung und Beherrschung der Welt« durch »dichotomische[] Begriffspaare«45 . Im Zusammenhang einer innerhalb der Theaterwissenschaft vollzogenen Abkehr von »semiotischer Ästhetik«46 und deren Bemühen um ein Verstehen der Zeichenhaftigkeit (theatraler) Kunstwerke47 möchte sie Aufführungen nicht mehr als bedeutungstragende Symbole dechiffrieren, sondern sie als Ereignisse gewahrt wissen48 . An die Stelle von Hermeneutik, die Inszenierungen als Verweise auf repräsentierte Inhalte liest, tritt dann eine Beschreibung der vielfältigen Erfahrungen von Präsenz: »Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heißt also, sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.«49 Im Rahmen avancierter Performances gelten dann auch Handlungen agierender Personen nicht als einem Publikum inszenatorisch dargebotene dramatische Signifikanten, sondern als hinsichtlich ihrer irritierenden, Reaktionen provozierenden Selbstbezüglichkeit aufzufassende Akte der Wirklichkeitskonstitution. Damit ist dann den Rezipierenden die »Distanz« eines konventionellen Kunsterlebnisses »verwehrt«50 , weil die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern51 im Rahmen dieser ästhetischen Experimente zugunsten der gemeinschaftlich erfahrenen »leiblichen Ko-Präsenz«52 immer fragwürdiger wird. »Anstelle eines Kunstwerks« entsteht »ein Ereignis, in das alle Anwesenden involviert«53 sind. Aus dem ästhetischen Setting »Theater« wird ein Ereignisraum des sich vollziehenden Lebens selbst. Und während Nietzsche das Leben zur Kunst erklärt, soll hier Kunst zum Leben werden. Kulminationspunkt dieser »Ästhetik des Performativen« ist konsequenterweise dann auch das »Kollabieren des Gegensatzes von Kunst und Wirklichkeit«54 bzw. eine »Wieder-

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Erika Fischer-Lichte [2004]: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 362. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 19. Dieser engere ästhetische Bezugsrahmen wird in der Folge von Fischer-Lichte dann auch auf die Kunstformen Literatur und Malerei ausgeweitet und unter den Stichworten »Literatur als Akt« bzw. »Bildakte« dargelegt. Vgl. Erika Fischer-Lichte [2012]: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld: Transcript, S. 135-145 bzw. S. 147-159. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 29f. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 244. Vgl. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 270. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Studie das generische Maskulinum verwendet, das dabei jedoch ausdrücklich alle Geschlechtsidentitäten meint. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 58ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 19. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 307.

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verzauberung der Welt«55 . Gleichzeitig relativiert Fischer-Lichte diese freilich sehr euphorischen Thesen mit dem eigenartig aporetischen Resümée: »Auch wenn die Künstler daran arbeiten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben […] zu überschreiten, zu verwischen, ja zu annullieren, vermögen die von ihnen initiierten Aufführungen wohl auf die Autonomie von Kunst zu reflektieren, nicht aber sie aufzuheben. Denn diese wird durch die Institution Kunst garantiert.«56 Wenn das letzte Wort einer »Ästhetik des Performativen« jedoch in der resignativen Feststellung einer zwar propagierten, dann aber doch nicht recht gelingenden künstlerischen Grenzüberschreitung besteht, wäre eben nach jener merkwürdigen Grenze zu fragen, die sich ihrer Überschreitung hartnäckig in den Weg stellt: Der tautologische Verweis auf die »Institution Kunst« bedeutet hier einen argumentativen Zirkelschluss, der gerade nicht darüber aufklärt, welcher spezifische Sinn sich in den von dieser »Institution« kontrollierten Praktiken artikulieren könnte. Zusammenfassend betrachtet erweist sich die Problematik philosophischer bzw. ästhetischer Bestimmung von Kunst in einem Mangel an Aufmerksamkeit für die Spezifik ihrer konkreten Vollzugsformen. Indem sie entweder dazu tendiert, Kunst als exklusive Zeichen bzw. Erscheinungen von den konkreten Lebensvollzügen abzukoppeln oder diese Lebensvollzüge insgesamt ästhetisch zu grundieren, gelingt es den Ästhetiken nicht, jenen spezifischen praktischen Raum zu erschließen, den Kunst konstituiert und auf dessen Betrachtung wiederum gerade im Hinblick auf ein Verständnis dessen, was Kunst ist, nicht verzichtet werden kann. Allerdings gibt es einen in seiner Behutsamkeit und Differenziertheit bemerkenswerten philosophischen Ansatz, Kunst mit den Vollzugsformen des menschlichen Daseins zu verknüpfen: John Deweys Profilierung der »Kunst als Erfahrung«57 . Ihm geht es darum, aufzuzeigen, »wie im Kunstwerk die charakteristischen Werte dessen, was unsere alltäglichen Freuden bestimmt, entfaltet und hervorgehoben werden.«58 Dabei weist Dewey von Anfang an eine ästhetische Hal55

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Fischer-Lichte, a.a.O., S. 315ff. Auch Dieter Mersch [2002]: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, interessiert sich für performative Überschreitungen. Allerdings ist deren Ausrichtung eher ethisch als ontologisch konzipiert, und statt einer Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben steht hier hermeneutisch nicht einholbare Präsenz hinsichtlich ihrer Alterität und ihres Gegebenseins im Fokus. Für Mersch markieren solche Präsenzerfahrungen »Augenblicke des Mysteriums« (S. 298), so dass eine mit Kunst verbundene Praxis dann eher als besondere Momente stiftende Praxis ästhetischer Versenkung in solches Mysterium verstanden wird. Fischer-Lichtes Ansatz hingegen zielt nicht auf »Transzendenz«, sondern auf die Verflüchtigung ästhetischer Entrückung zugunsten einer performativen Neuentdeckung von Kunst als Leben. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 352 (Hervorhebung C.Z.). John Dewey [1988]: Kunst als Erfahrung. Übersetzt von Christa Velten, Gerhard vom Hofe und Dieter Sulzer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dewey, a.a.O., S. 18.

1. Was machen Menschen mit Kunst?

tung zurück, die Kunst »in einen Sonderbereich« abdrängt, »in dem sie fern von all jenen Mitteln und Zielen ist, die menschliche Bestrebungen, Mühen, Errungenschaften zum Ausdruck bringen.«59 Verbürgen soll dies eben die Lokalisierung des Ursprungs der Kunst in der menschlichen Erfahrung60 , die wiederum als »Resultat von Interaktion zwischen dem lebendigen Geschöpf und einem bestimmten Aspekt der Welt, in der es lebt«61 , definiert wird. Kunst, so Dewey, zeichnet sich dadurch aus, dass sie Erfahrungen ermöglicht, in denen diese Interaktion als besonders intensiv und dabei zugleich als besonders stimmig erlebt wird. Sie vermittelt diese Intensität und Stimmigkeit, insofern sie Ausdruck der Kongruenz von »Wesensmerkmalen der Umwelt«62 mit Grundbedingungen menschlichen Lebens ist, wie Dewey dies etwa am Phänomen von »Rhythmus« darzulegen versucht63 . Dies allerdings provoziert Fragen nach dem artifiziellen Charakter von Kunst, nach der kontrastiven Spannung, mit der sie als Kulturprodukt den naturhaften Gegebenheiten der Umwelt auch entgegentreten kann. Dewey verkennt (oder musste zeitbedingt verkennen), dass etwa »das Pulsieren des Blutes«64 nicht mit der präzisen rhythmischen Struktur eines Popsongs identifiziert werden kann. Den natürlichen Herzschlag kennzeichnen, gerade weil er natürlich ist, beständig auch Unregelmäßigkeiten und Extrasystolen, wohingegen die ästhetische Faszination des Artifiziellen gerade in der kunsthaften Elimination von Arrhythmien bestehen kann65 . Auch der Wechsel von »Ebbe und Flut« oder der »Zyklus des Mondes«66 lassen sich nur um den Preis einer hohen Abstraktion des Rhythmusbegriffes mit hochkonzentrierten periodisierten Zeitabfolgen musikalischer Kunstwerke oder etwa dynamisch wechselnden Szenarien von Performances vergleichen, die die behauptete »Unumgänglichkeit« eines »Naturalismus für die gesamte Kunst«67 fragwürdig erscheinen lässt. Konsequenterweise kommt Dewey dann auch nicht ohne eine zentrale normative Forderung an Kunstschaffende aus: »Die einzige, unbedingt einzuhaltende Bedingung ist es, einen gewissen Bezug zu den Eigenschaften und der Struktur der Dinge der Umwelt herzustellen. Andernfalls arbeitet der Künstler in einem rein privaten Bereich von Beziehungen, und dem Ergebnis fehlt die sinnvolle Aussage, selbst wenn es lebhafte Farben und laute Töne aufweist.«68 Hinsichtlich der kon59 60 61 62 63 64 65

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Dewey, a.a.O., S. 9. Vgl. Dewey, a.a.O., S. 11. Dewey, a.a.O., S. 57. Dewey, a.a.O., S. 171. Vgl. ebda. Dewey, a.a.O., S. 173. Die Tatsache, dass Musik den Herzschlag zu beeinflussen vermag, zeugt lediglich von ihrer Wirksamkeit auf den Puls, qualifiziert sie damit jedoch noch nicht notwendig zum Ausdruck naturhafter, organischer Bewegtheit. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 173. Dewey, a.a.O., S. 175. Dewey, a.a.O., S. 112f.

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kreten Vollzugsformen der mit Kunst verbundenen Praktiken gibt John Dewey mit dem wiederholt verwendeten Begriff der »Feier« zwar einen wertvollen (gleichwohl eher beiläufig formulierten) Hinweis. Zweifelhaft bleibt aber, ob es tatsächlich naturhafte »Grundmuster der Kunst«69 sind, die feiernd erfahren werden bzw. ob sich dieses Feiern aufgrund des artifiziellen Elementes von Kunst als »Verherrlichung der alltäglichen Erfahrung«70 zureichend verstehen lässt. Unklar bleibt schließlich, welcher Sinn sich in einer »feiernden Verherrlichung alltäglicher Erfahrung« denn artikulieren soll, wo und wie sie sich vollzieht bzw. inwiefern überhaupt solche Feier als Verherrlichung nicht doch gerade einen partiellen Bruch in der Kontinuität des alltäglichen Erfahrens darstellt. Bezeichnenderweise sind es zwei Theoriekonzepte jenseits der Ästhetik, Johan Huizingas »Homo Ludens«71 und Hannah Arendts »Vita activa«72 , die in ihrem Rahmen Kunst explizit als eine besondere, unterscheidbare Form der Praxis behandeln. Vor allem deshalb, weil es grundlegende Theorien zum Verständnis kultureller Praxis bzw. menschlicher Aktivität sind, von denen aus dann auch die Kunst als solche Praxis bzw. Aktivität begriffen wird, müssen sie hier diskutiert werden. Denn wenn Kunst von vornherein als Form von Praxis gilt, ist ein anderer Weg beschritten, als aus einem philosophisch-ästhetisch erarbeiteten Verständnis ästhetischer Objekte bzw. Ereignisse heraus gleichsam sekundär entsprechende Modi des praktischen Umgangs mit ihnen abzuleiten73 . Aber auch die spannungsvolle antithetische Bezogenheit beider Denkansätze, die die Kunst dann jeweils als ein Spiel des »Homo Ludens«74 bzw. als ein Herstellen des produktiven »Homo faber« profilieren75 , kann für die Frage nach der Praxis, die Kunst ist, weitere Hinweise liefern. Noch vor Johan Huizingas kulturwissenschaftlichen Untersuchungen gilt die Kunst freilich für Schiller als ein Spiel, wobei das in den Briefen »Über die ästhe69 70 71 72 73

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Dewey, a.a.O., S. 174. Dewey, a.a.O., S. 18. Johan Huizinga [2015]: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Übersetzt von Hans Nachod. 24. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Hannah Arendt [2013]: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 11. Auflage. München, Zürich: Piper. So geht etwa Seel in seiner »Ästhetik des Erscheinens« vor: »Bloße[s] Erscheinen« bedingt dabei »kontemplative Wahrnehmung«, aus »atmosphärischem Erscheinen« resultiert »korresponsive Anschauung« und dem »artistischen Erscheinen« von Kunstwerken entspricht »Verstehen« des im artistischen Erscheinen Artikulierten (S. 150ff.). Damit aber sind diese Verhaltensweisen eben lediglich praktische Derivate der hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Qualifikation spezifischer Wahrnehmungsdinge. Die Frage nach dem in solchen Verhaltensweisen ausgedrückten Sinn, besonders nach den privaten oder öffentlichen Kontexten, in denen das »Verstehen« einer künstlerischen »Vergegenwärtigung« von »Gegenwarten des menschlichen Lebens unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation« (S. 159, Hervorhebung original) bedeutsam sein könnte, stellt auch Seel nicht. Huizinga, Homo Ludens, S. 53f., S. 133-160, S. 173-189. Arendt, Vita activa, S. 201-212.

1. Was machen Menschen mit Kunst?

tische Erziehung des Menschen«76 entwickelte Modell Kants ästhetisches Denken weit über dessen erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen hinaus idealistisch auflädt: Aus dem in der »Kritik der Urteilskraft« analytisch beschriebenen Spiel von Sinnlichkeit und Vernunft im Rahmen eines spezifischen ästhetischen Weltverhältnisses, der Gewahrung des Schönen und Erhabenen, wird in Schillers Briefen die leidenschaftlich propagierte normative Anthropologie des überhaupt nur im Spiel zu sich selbst kommenden Menschen. Das »interesselose Wohlgefallen« am Schönen, dem Kant seinen Ort innerhalb einer genuinen ästhetischen Gerichtetheit des Bewusstseins zuordnet, steigert sich bei Schiller zum umfassenden Habitus ästhetischer Veredelung des Menschen jenseits aller »Fesseln der Notdurft«77 . Auf die (nicht nur soziologisch) gravierenden Folgen einer Ästhetik jedoch, die die Kunst nicht mit Elementen vitaler Bedürfnisse kontaminiert wissen will, hat Pierre Bourdieu hingewiesen: »Verständlich, daß die Teilnahmslosigkeit des reinen [ästhetischen, C.Z.] Blicks nicht zu trennen ist von einer generellen Haltung zur Welt, die als paradoxes Produkt der Konditionierung durch negative, nämlich fehlende elementare ökonomische Zwänge und Notwendigkeiten der Distanzierung gegenüber dieser Sphäre von Zwang und Notwendigkeit Vorschub leistet. […] Nichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar ›vulgäre‹ Objekte zu ästhetisieren, als die Fähigkeit […], die Prinzipien einer ›reinen‹ Ästhetik spielen [!] zu lassen.«78 Solange der Begriff des »Spiels« also, wie bei Schiller, eine Atmosphäre heiterer Selbstbezüglichkeit kultiviert, leistet er demnach einer ästhetischen Stigmatisierung der populären Kultur Vorschub. Denn, so bemerkt Bourdieu, durch eine »Reduktion der Dinge der Kunst auf die Dinge des Lebens […] bezeichnet der populäre Geschmack – nicht zuletzt durch die Ernsthaftigkeit (oder Naivität), die er in die Fiktion und die Repräsentation einführt – gewissermaßen a contrario die Tendenz des reinen Geschmacks, die ›naive‹ Verhaftung ans Gegebene zu suspendieren, um damit ein gleichsam spielerisches[!] Verhältnis zu den elementaren Zwängen des Daseins zu gewinnen.«79 Diese Stigmatisierung kann nur kritisch überwunden werden, wenn das »fröhliche Reich des Spiels und Scheins«80 konsequent

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Friedrich Schiller [2009]: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schiller, a.a.O., S. 120. Pierre Bourdieu [1987]: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 24 (Hervorhebung C.Z.). Ebda. (Hervorhebung original). Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 121.

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auf seinen Bezug zum alltäglichen Leben hin befragt und Kunst als eine im Hinblick auf diesen Alltag in spezifischer Weise sinnvolle Praxis transparent gemacht wird – eine Praxis, deren Intention »Hochkultur« und »populäre Kultur« teilen. Die abstrakte Qualifikation der Kunst als Spiel bei Schiller müsste – wenn denn der Spielbegriff für Kunst überhaupt angemessen ist – demnach zumindest um eine Betrachtung der konkreten Kontexte, Orte und Zeiten dieses Spielens ergänzt werden, um die sich darin artikulierende Geste in Bezug auf ihren Sitz im Leben genauer zu verstehen. Johan Huizingas Spieltheorie umgeht den elaborierten Kunstbegriff Schillers, insofern sie Spiel zunächst nicht normativ als eine distinguierte Kultiviertheit, sondern deskriptiv als Grundlage kultureller Existenz überhaupt qualifiziert: »Im Spiel haben wir es mit einer für jedermann ohne weiteres erkennbaren, unbedingt primären Lebenskategorie zu tun«81 . Kunst ist lediglich eine Spielform im Ensemble vielfältiger »gespielter« Praktiken (neben Recht, Krieg, Wissen etc.), wobei dem Spiel an sich allerdings ein ästhetischer Grundzug zuerkannt wird, den Huizinga in »dem Drang, eine geordnete Form zu schaffen, die das Spiel in allen seinen Gestalten belebt«82 , lokalisiert. Wenn Huizinga das Spielen im Gegensatz zu Schiller also einerseits entidealisiert und generalisiert, registriert seine Theorie andererseits, dass Spielen gleichwohl immer spezifische Orte und Zeiten voraussetzt: »Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer.«83 Diese temporale und lokale Exklusivität verdankt das Spiel dabei seiner Verwobenheit mit »der Sphäre des Festes und des Kults«84 . Von besonderer Bedeutung ist nun, dass das Spiel für Huizinga außerhalb der »Disjunktion« von »Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und Böse [liegt]«85 . Kunst als Spiel ist damit kein Spiel der Erkenntniskräfte, sondern bewegt sich gänzlich außerhalb eines erkenntnistheoretischen Rahmens und verweist auf eine grundlegende »Qualität des Handelns« als »Kulturfaktor«86 , die dabei allerdings auch nicht unter die Kategorien moralischer Wertmaßstäbe fällt. Wenn Spiel also keine Angelegenheit von Erkenntnis oder Moral ist, tut sich Huizinga dennoch schwer, es dann für den Bereich des Ästhetischen zu reklamieren. Das »schwankende Urteil«87 resultiert für ihn dabei aus dem Problem, die Bedeutung der Schönheit, die nicht »am Spiel als solchen [haftet]«88 , schlüssig zuzuordnen. So bleibt es dann bei einigen, eher 81 82 83 84 85 86 87 88

Huizinga, Homo Ludens, S. 11. Huizinga, a.a.O., S. 19. Huizinga, a.a.O., S. 18. Ebda. Wobei sich der Kult allerdings auf das »Primäre« des Spielens »aufgepfropft« habe (S. 27). Huizinga, a.a.O., S. 15. Huizinga, a.a.O., S. 12. Vgl. Huizinga, a.a.O., S. 15. Ebda. Hier wird zugleich die Differenz zu Schillers idealistischer Konzeption nochmals deutlich: Denn erkennt freilich auch dieser dem Spiel sein Eigenrecht gegenüber den Ansprü-

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aporetischen als analytisch aufschlussreichen Bemerkungen über die ästhetischen Qualitäten des Spiels, das in seinen »höher entwickelten Formen« von »Rhythmus und Harmonie [durchwoben]«89 sei. Huizinga hätte hier jedoch lediglich seiner eigenen Argumentation folgen müssen, um die Unangemessenheit der Frage zu erkennen: Denn der Kult, der als typischer und prägender Kontext des Spiels herausgearbeitet wird, sträubt sich gegen seine Reduktion auf ein ästhetisches Phänomen. Er ist so wenig ästhetisch, wie er moralisch oder vernünftig ist, weil diese in der Moderne ausdifferenzierten Sphären seine Intention überhaupt nicht abbilden können. (Vor allem der hier für den Bereich des Ästhetischen umstandslos veranschlagte Begriff der Schönheit repräsentiert – als moralisch und vernünftig nicht einholbare autonome Qualität – immer schon die für den Kult fragwürdige moderne Ausdifferenzierung unterschiedlicher Geltungsbereiche.) Huizingas Theorie registriert zwar sehr genau, dass es dem eigensinnigen Spiel um etwas Bedeutsames geht, auch wenn es sich in Distanz vom Alltag vollzieht. Aber es gelingt ihr nicht, plausibel zu machen, in welchem Verhältnis diese Bedeutsamkeit zum Alltag der Menschen steht und mit welcher Dynamik bzw. Geste sich diese Bedeutsamkeit dabei spielend artikuliert. Huizingas Verweis auf ein ästhetisches »Uninteressiertsein«90 im Sinne Kants steht sein Beharren auf einem »heiligen Ernst«91 des Spiels gegenüber. Letztlich kann Huizinga den Sinn des Spielens und damit dann auch den der Kunst nicht wirklich transparenter machen; einerseits nicht, insofern eben unklar bleibt, inwiefern derart ergreifende Vorgänge wie spielerisches Binden, Lösen, Fesseln, Bannen und Bezaubern92 tatsächlich »uninteressiert« sein können; besonders aber deshalb nicht, weil die Kunst als lediglich ein Spiel unter vielen in die Gesamtheit der rechtlichen93 , philosophischen94 , kriegerischen95 etc. Spiele der Kultur eingereiht wird und damit deren Qualität – einmal eben als Spielen überhaupt wie dann als spezifisches Spiel der Artefakte bzw. mit Artefakten – doppelt ungeklärt bleibt. Zudem lassen aber auch weitere Aspekte Zweifel an einer zureichenden Bestimmung der Kunst durch Huizingas Spieltheorie aufkommen: So erscheint eine durchwegs behauptete wettkämpferische Grundstruktur,

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chen von Vernunft und Moral zu, so besitzt es dieses eben nur als ein ästhetisches Spiel mit der Schönheit, das gegenüber den übrigen vergesellschafteten Lebensformen normativ und kritisch in Stellung gebracht wird. Huizinga ahnt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive jedoch, dass das Spiel der Schönheit ggf. entraten könnte, ohne dabei seine Qualität als eine immer schon gegebene, deskriptiv beschreibbare Dynamik von Kultur in ihren vielfältigen Formen einzubüßen. Huizinga, a.a.O., S. 15. Huizinga, a.a.O., S. 18. Huizinga, a.a.O., S. 27ff. Vgl. Huizinga, a.a.O., S. 19. Huizinga, a.a.O., S. 89ff. Huizinga, a.a.O., S. 161ff. Huizinga, a.a.O., S. 101ff.

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mithin die These von »gespielter Kultur auf agonaler Grundlage«96 für die Kunst wenig plausibel bzw. mindestens zu wenig begründet. (Der kulturwissenschaftlich zweifellos triftige Hinweis auf das Phänomen des Dichterwettstreits97 genügt hier sicher nicht.) Wenn zudem das Spiel primär auf ein »soziales Spiel«98 verpflichtet werden soll, ergeben sich Schwierigkeiten, den Spielbegriff auf den seit der Moderne etablierten Diskurs um ästhetische Subjektivität bzw. die an Kunst sich entzündende ästhetische Erfahrung zu beziehen – zumindest solange letztere nicht als bloßes Resultat gesellschaftlicher Prägungen gelten soll. Schließlich aber spricht Huizinga in einem kulturkritischen Resümée seiner Ausführungen bestimmten künstlerischen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der »Arbeit und Produktion […] zum Ideal und bald zum Idol [wurden]«99 , den Spielcharakter ab. Namentlich Realismus, Naturalismus und Impressionismus seien der »Idee des Spielens fremder […] als alles, was je zuvor in der Kultur zur Blüte gelangt war«100 . Auch wenn dieses Urteil vor dem Hintergrund von Huizingas Spielverständnis erklärbar sein mag, dürfte eine umfassende Theorie der Kunst jedoch nicht bestimmte künstlerische Stile und Gattungen ausschließen bzw. hätte eben zu zeigen, dass die von ihr mit dem Begriff der »Kunst« verbundenen Praktiken sich nicht auf exklusive Kreise ausgewählter Artefakte beschränken lassen. Insgesamt erweist sich Huizingas Spielbegriff damit als zu unscharf, um den spezifischen Sinn mit Kunst verbundener Praktiken zu erhellen und dadurch das Phänomen Kunst selbst besser zu verstehen. Auch den in »Homo Ludens« angestellten Reflexionen gelingt es nicht, das Verhältnis von Kunst und Leben hinreichend zu klären bzw. die Theorie gibt keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem merkwürdigen Ernst des Spieles der Kunst. Beachtung verdient jedoch Huizingas Herauslösung der Kunst aus einem erkenntnistheoretischen bzw. moralischen Kontext sowie ihre Verknüpfung mit dem Kult und dem Fest, auf die zurückzukommen sein wird. Während Johan Huizinga die basale kulturelle Praxis Spielen als den Modus bestimmt, dessen Sphäre auch Kunst angehört, wo sie produziert und rezipiert wird, manifestiert sich für Hannah Arendt in Kunst das Herstellen als eine grundlegende Form menschlicher Tätigkeit. Arendt interessiert dabei das künstlerische Verdinglichen als spezifische Variante einer der drei Grundtypen menschlicher Aktivität. Die in allem (nicht nur im künstlerischen) Verdinglichen wirksame Grundgeste

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Huizinga, a.a.O., S. 139. Huizinga, a.a.O., S. 147ff. Dem entspräche dann der Poetryslam als dessen moderne Form. Vgl. Huizinga, a.a.O., S. 57. Huizinga, a.a.O., S. 208. Ebda. Huizinga sieht den Spielcharakter von Kunst dieser Perioden durch die Tendenz einer permanenten »Originalitätssucht« aufgrund des Zwanges zu marktförmiger künstlerischer Produktion mehr und mehr untergraben (S. 218f.).

1. Was machen Menschen mit Kunst?

wird von ihr als »Werktätigkeit von Homo faber, der die Welt herstellt«101 , beschrieben. Solches Herstellen von Welt als des durch »Haltbarkeit« und »Dauerhaftigkeit« gekennzeichneten »Gebilde[s] von Menschenhand«102 , das das menschliche Leben stabilisiert103 , unterscheidet sich von den beiden anderen Grundgesten der Aktivität: Arbeiten (als Produktion von kurzlebigen Verbrauchsgütern) und Handeln (als sozialer Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen). Diese drei Tätigkeitsformen konstituieren nach Hannah Arendt das aktive menschliche Leben gerade in seiner Alltäglichkeit, so dass weder das Herstellen überhaupt noch auch das spezifische Herstellen der Kunstdinge einen dem Alltag in der Weise entgegengesetzten Raum beansprucht, wie Huizinga ihn für das Spiel reklamiert. Dennoch wird die Kunst auch bei Arendt als besonderes Produkt des Herstellens profiliert, was seinen Ausdruck v.a. in elaborierten Verwendungszusammenhängen der Artefakte findet: »[D]ie angemessene Art des Umgangs mit den Dingen, die wir Kunstwerke nennen, [ist] sicher nicht das Brauchen und Gebrauchen; vor diesem müssen sie vielmehr sorgfältig bewahrt und daher aus dem Gesamtzusammenhang der gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände entfernt werden, um den ihnen gemäßen Platz in der Welt einnehmen zu können. So müssen sie auch den täglichen Bedürfnissen und Notdürften des Lebens entrückt werden, mit denen sie weniger in Berührung kommen als irgendein anderes Ding.«104 Solche Betonung einer erhabenen Zweckfreiheit der Kunstdinge als der »nutzlosesten aller Dinge«105 scheint zunächst idealistische ästhetische Topoi Schillers zu bewahren. Dabei bedingt die Herauslösung der hergestellten Kunstdinge aus den unmittelbaren pragmatischen Kontexten für Arendt andererseits eine mittelbar durchaus pragmatische Funktion: Indem sie sich nicht im herkömmlichen Sinne brauchen und gebrauchen lassen, kommt ihnen zu, durch ihr bloßes »Währen«106 in der Zeit die Welt in einer Weise zu stabilisieren, wie dies die zu je bestimmten Zwecken verfertigten Gebrauchsgegenstände nicht zu leisten vermögen: »Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet, und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bieten, kann sie nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert, d.h. insofern sie nicht nur die reine

101 102 103 104 105 106

Arendt, Vita activa, S. 165. Arendt, a.a.O., S. 161. Vgl. Arendt, a.a.O., S. 162. Arendt, a.a.O., S. 201. Arendt, a.a.O., S. 206. Arendt, a.a.O., S. 202.

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Funktionalität der für den Konsum produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen transzendiert.«107 Mit der Formulierung »Kunstwerke sind die beständigsten und darum die weltlichsten aller Dinge«108 geht Hannah Arendt auf Distanz sowohl zur fragilen ästhetischen Gegenwelt des schönen Spiels und Scheins wie zu religiösen oder mythologisierenden Deutungen der Kunst: Weil für diese gänzlich profane Stabilisierungsfunktion eine kultische Dimension nicht erforderlich ist, kann Hannah Arendt auch – gegen Huizinga – darauf beharren, dass »Kunst die Ablösung von Zauber, Religion und Mythos auf das glorreichste überstanden«109 habe. Indem Kunstschaffende Artefakte herstellen, verfertigen sie Welt in einer Art, durch die sich die Bedeutung einer stabilen Weltlichkeit für die Menschen zugleich am deutlichsten zeigt. Kunst solchermaßen als ein Herstellen von Welt zu qualifizieren, provoziert jedoch die Rückfrage, ob der Sinn von Kunst durch deren von Arendt letztlich behauptete konservative Funktion hinreichend geklärt werden kann. Es mag durchaus sein, dass Artefakte – freilich auf je unterschiedliche Weise – durch ihr Fortbestehen in der Zeit dazu beitragen, der Welt als einem von Menschenhand verfertigten Gebilde Stabilität zu verleihen110 . Aber genau jene dann mit dem Begriff »Kultur« bezeichnete Stabilität ist etwa im Namen einer Irritation durch die konkrete Zeit der ästhetischen Erfahrung kritisiert worden111 . Hieran anknüpfend wäre dann grundsätzlich zu fragen, inwieweit sich künstlerische Produktion gerade seit der Moderne überhaupt auf einen weltstabilisierenden Impuls verpflichten lässt oder nicht häufig(er) von der Intention einer kritischen Destabilisierung bzw. produktiven Verstörung geleitet ist. Dabei ließe sich nicht nur auf postmoderne ästhetische Dekonstruktionen des Ideals eines kulturellen und geschichtlichen Kontinuums oder auf einen von Adorno profilierten Widerstand der Kunst gegen die »Unwahrheit des Ganzen« verweisen. Auch der Sinn ästhetischer Innovation überhaupt müsste angesichts einer primär »währenden« Funktion der Kunst bei Arendt genauer bestimmt werden. Spannend aber wird die Charakterisierung der Kunst als ein Herstellen besonders im Hinblick auf die Praxis ihrer Rezeption. Denn während Produktion bzw. 107 108 109 110

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Arendt, a.a.O., S. 211. Arendt, a.a.O., S. 202. Ebda. Dies geschieht unweigerlich auch dort, wo, wie etwa in der Performancekunst, mit einer Ästhetik des Ereignisses gegen den Werkbegriff zu Felde gezogen wird. Spätestens die Rezeption solch transitiver Kunstereignisse durch den theoretischen ästhetischen Diskurs identifiziert bzw. konserviert sie im Feld der Kunst und reiht sie ein in das diskursiv aufbereitete ästhetische Archiv der »Kultur«. Susan Sontag [1968]: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Übersetzt von Mark W. Rien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 18: »Was wir sicherlich nicht mehr brauchen, ist die Umsetzung von Kunst in Gedanken oder (was noch schlimmer ist) von Kunst in Kultur.«

1. Was machen Menschen mit Kunst?

aufführende Reproduktion von Kunst offensichtlich etwas herstellen (auch da, wo Performancekunst Poiesis zugunsten von Ereignisräumen strategisch zu verbergen sucht), geht Hannah Arendt auf den Aspekt des Hörens, Lesens, Betrachtens etc. nicht näher ein. Zwar weist sie »Brauchen und Gebrauchen« grundsätzlich als unangemessene Umgangsweisen mit Kunstwerken zurück, beschreibt aber keine in ihren Augen adäquaten Praxisformen, durch die sich Welt in der Rezeption von Kunst »herstellen« lässt. Inwiefern aber kann die wahrnehmende Verarbeitung von Kunst als Herstellen verstanden werden, wenn damit mehr und anderes angesprochen sein soll als der kreative Beitrag der Rezeption zur Konkretion des Werkes? Was wird in der Erfahrung von Kunst hergestellt und wie? Handelt es sich, wie Hannah Arendt nahezulegen scheint, dabei tatsächlich nur um den emphatischen Nachvollzug künstlerischer Herstellung als weltstabilisierender Verdinglichung? Oder schwingen in dieser Erfahrung auch Qualitäten der Kunstdinge mit, die deren ästhetische Stabilisierungsleistung nicht nur in ihrer reinen, währenden Dinghaftigkeit, d.h. ihrer reinen Existenz, sondern in der Intention einer mit ihnen verbundenen spezifischen Praxis lokalisieren? Welche Dynamiken werden dabei ggf. entbunden? Wie bzw. was genau wird mit ihrer Hilfe stabilisiert? Und lassen sich aus einer Analyse dieses »Gebrauchens« nicht wiederum Rückschlüsse auf den Sinn künstlerischer Produktion überhaupt ziehen? Da Hannah Arendt jedoch die mit Kunst verbundenen Rezeptionspraktiken zu wenig berücksichtigt, reformuliert sie am Ende den vertrauten ästhetischen Lobpreis einer elaborierten Kreativität jenseits von Zwecken. Kunst ist dann, der geläufigen pathetischen Diktion folgend, das »höchste[] Schaffen, dessen er [Homo faber, C.Z.] fähig ist, das sich von Brauchen und Gebrauchen soweit emanzipiert hat, daß es nutzlose Dinge herstellt«112 . Das letzte Wort der Reflexion über Kunst bleibt die Glorifizierung künstlerischer Produktion als Ausdruck von geistiger Freiheit gegenüber dem Instrumentellen. Erscheint demnach auch der Begriff des Herstellens, ähnlich wie der des Spielens, zu unscharf, um die spezifische Geste der mit Kunst verbundenen Praktiken zu verstehen, ist dennoch ein entscheidender Impuls festzuhalten, der aus Hannah Arendts Theorie für das Nachdenken über Kunst gewonnen werden kann. Denn Artefakte im Kontext einer Typologie menschlicher Aktivitäten dem Bereich des Herstellens, nicht dem des zwischenmenschlichen Handelns zuzuordnen, bedeutet eine Zurückweisung von Deutungen kunstbezogener Praktiken als Formen des ästhetischen Kommunizierens. Freilich scheint es fast aussichtslos, Kunst gegen die ubiquitäre Attraktivität des Kommunikationsbegriffes verteidigen zu wollen. Hannah Arendt insistiert bezeichnenderweise jedoch darauf, sie als Praxis des weltstabilisierenden Verfertigens von Dingen, mithin des Herstellens von Welt, nicht des

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Arendt, Vita activa, S. 206f. (Hervorhebung C.Z.).

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Austausches von Mitteilungen über die Welt zu begreifen113 . Kunstwerke sind und bleiben Artefakte, artifizielle Dinge, deren Kunsthaftigkeit mit spezifischen Praktiken einhergeht, in denen sie ihre Wirksamkeit entfalten. Da diese Praktiken, auch wenn sie vor Publikum bzw. in Gemeinschaft ausgeübt werden, keine rein sozialen Praktiken sind, also mehr und auch anderes umfassen, als etwa Botschaften zu übermitteln114 oder eine »kunstvoll geschaffene Verdichtung von Beobachtungsverhältnissen«115 zu stiften (wozu Kunst natürlich auch genutzt werden kann), lassen sie sich entsprechend nicht nur als ästhetische Alternativen zur sprachlichen Verständigung oder als soziale Interaktion in künstlerischer Gestalt verstehen. Das freilich bedeutet nicht, dass die Kunst über dem Menschlichen steht – es bedeutet jedoch, dass sie eine Energie entfalten kann, die kommunikationstheoretisch nur schwer abbildbar ist.

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Arendt reagiert ausgesprochen gereizt auf Versuche, Kunst für Verständigungsprozesse zu reklamieren: »Die Weltlichkeit der künstlerischen Tätigkeit ändert sich natürlich auch nicht in der nicht-gegenständlichen modernen Kunst. Diese Nichtgegenständlichkeit hat nichts mit Subjektivität zu tun oder damit, daß der Künstler etwa ›sich ausdrücken‹ wolle; so reden nur die Scharlatane, nicht die Künstler. Jeder Künstler, ob er nun ein Maler oder ein Bildhauer, ein Dichter oder ein Komponist ist, produziert Weltdinge, und die Verdinglichung, die sein eigentliches Geschäft ist, hat nichts gemein mit der sehr fragwürdigen, jedenfalls aber ganz unkünstlerischen Praxis des Sich-Ausdrückens. Nicht die abstrakte Kunst, wohl aber der Expressionismus ist ein Unding« (a.a.O., S. 481, Anm. 90). Jürgen Habermas [1988]: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 4. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, weist der Kunstkritik die Aufgabe zu, solche Botschaften der Öffentlichkeit verständlich zu machen: »Sie [die Kunstkritik, C.Z.] holt den Erfahrungsgehalt des Kunstwerkes in die normale Sprache ein; nur auf diesem mäeutischen Wege kann das Innovationspotential von Kunst und Literatur für Lebensformen und Lebensgeschichten, die sich übers kommunikative Alltagshandeln reproduzieren, entbunden werden« (S. 244). Niklas Luhmann [1997]: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 117. Luhmanns systemtheoretische Konzeption von Kommunikation distanziert sich damit von der von Habermas propagierten, auf hermeneutischen Konsens bedachten kommunikativen Erschließung der Gehalte von Kunstwerken zugunsten einer »Liberalisierung des Urteils bei festgehaltenem Dingbezug«, bei der »[d]ie Selbigkeit des Dinges […] die Übereinstimmung der Meinungen [ersetzt]« (S. 124): »Kunst ermöglicht«, so Luhmann, »ein gleichsam spielerisches Verhältnis zu Fragen des vernünftigen Konsenses oder Dissenses. Sie vermeidet es damit, Dissentierende abzuwerten oder zu exkludieren. Und das kann geschehen, ohne daß man in Zweifel gerät, ob man über Dasselbe kommuniziert oder nicht« (S. 126). Freilich ist hier Kommunikation als Kommunikation über Kunst beschrieben. Diese ist aber nur deshalb möglich, weil »das Kunstwerk selbst ausschließlich als Mittel der Kommunikation hergestellt wird« (S. 41, Hervorhebung original).

2. Mit Kunst feiern

In einer unter dem Titel »Die Aktualität des Schönen« veröffentlichten Sammlung von Vorlesungen arbeitet Hans-Georg Gadamer »Spiel«, »Symbol« und »Fest« als »die anthropologische Basis unserer Erfahrung von Kunst« bestimmende Begriffe heraus1 . Mit dem Topos des Festes, der u.a. auch von Huizinga und Dewey mehrfach ins Spiel gebracht, dabei aber nicht eingehender präzisiert wird, trifft Gadamer einen für das Verstehen der Praxis Kunst äußerst produktiven Topos – um ihn sogleich erneut fragwürdig zu ästhetisieren und zu idealisieren. Hierin entspricht er einer problematischen Tendenz der philosophischen, besonders aber der ästhetischen Rezeption des Festbegriffs2 , im Rahmen derer das Fest aufgrund eines ihm attestierten »transgressiven« Charakters eher als programmatische Projektionsfläche kulturkritischer Denkentwürfe bzw. als Paradigma einer »subversiven Ästhetik«3 fungiert und weniger als konkrete, empirische Praxis interessiert. Gadamer bedient zwar nicht unbedingt eine subversive ästhetische Idee, vollzieht mit seinen Ausführungen aber deutlich die Dekontextualisierung des Festes zum selbstbezüglichen ästhetischen Ereignis. Was das Fest und die Kunst vereine, so heißt es bei ihm, sei beider Fähigkeit, aufgrund ihrer je »eigene[n] Festlichkeit Zeit vor[zugeben] und damit Zeit an[zuhalten] und zum Verweilen [zu] bring[en] – das ist das Feiern«4 . Statt aber nun nach den kulturgeschichtlichen Gründen dieser Verwandtschaft zu fragen, versucht Gadamer, eine festliche »Eigenzeit«5 der Kunst rein aus der ästhetischen Struktur ihrer Gebilde abzuleiten. »Der berechnende, disponierende Charakter, in dem man sonst über seine Zeit verfügt, wird im Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht.«6 Dies vermag das Artefakt, weil es, wie 1 2

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Hans-Georg Gadamer [1977]: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart: Reclam. Zur ästhetischen Rezeption des »Festes« über Nietzsche bis hin zu Georges Bataille vgl. Bernhard Teuber: Fest/Feier. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel [Hgg.; 2010]: Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe. Bd. 2. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, S. 367-380. Teuber, a.a.O., S. 371ff. Gadamer, Die Aktualität des Schönen, S. 56. Gadamer, a.a.O., S. 55. Gadamer, a.a.O., S. 56.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Gadamer schreibt, »zentriert auf eine Art Mitte hin«7 zu einem Gewahren nötigt, in dem die instrumentelle Verfügung über Zeit überwunden ist: »[A]lle seine Teile [sind] nicht einem bestimmten dritten Zweck untergeordnet […], sondern [dienen] der eigenen Selbsterhaltung und Lebendigkeit«8 . Was die Erfahrung der Kunst wie die der aus einer pragmatischen, zielgerichteten Handhabe von Zeit herausfallenden »Begehung des Festes«9 vermittle, sei, »daß wir zu weilen lernen«. Denn das sei, so Gadamer weiter, »vielleicht die uns zugemessene endliche Entsprechung zu dem, was man Ewigkeit nennt.«10 So aber wird eine im Fest (und mit ihm in der Kunst) kulturgeschichtlich aufgehobene existenzielle Notwendigkeit zugunsten der emphatischen Reformulierung des Ideals ästhetischer Zweckfreiheit übersehen. Denn die ästhetische »Eigenzeit« des Kunstwerkes ist kein geheimnisvolles ästhetisches Phänomen, das seine glückliche Entsprechung im selbstgenügsamen Weilen der Festgemeinschaft findet, sondern der Niederschlag konkreter Feste und ihrer Funktionen in der Kunst. Nicht die Kunst, die den Menschen »so etwas wie eine [ästhetische, C.Z.] Eigenzeit […] auferlegt«11 , gesellt sich in zwangloser Affinität zur Feier, sondern Menschen feiern im Rahmen von Festen etwas mit Kunst, d.h. unter Nutzung ästhetischer Praktiken. Die scheinbar ästhetische Festlichkeit der Kunst ist somit primär durch die im Kern nichtästhetische Funktion des Festes als eines spezifischen persönlichen, gesellschaftlichen bzw. kulturellen Ereignisses geprägt, statt aus gestalterischem Eigensinn heraus ihrerseits festliche ästhetische Orte zu konstituieren. Gewiss verleihen Gedichtrezitationen oder Musik den Festen »festlichen« Charakter. Aber sie tun es paradoxerweise gerade nicht einfach dadurch, dass sie »ästhetisch« sind, sondern weil ihre spezifischen ästhetischen Gesten umgekehrt von den existenziellen nichtästhetischen Intentionen des Festes motiviert sind. Das Fest ist nicht nur entlastendes »Moratorium des Alltags«12 , sondern als »Feier« ein »außeralltägliches Ereignis, das sich sowohl von seinen äußeren Formen als auch von seinem Inhalt her deutlich vom alltäglichen Verlauf des individuellen und sozialen Lebens abhebt« und den »an ihr Beteiligten das Woher, Warum und Wozu ihres Lebens, ihrer Gruppe oder der Institution, der sie – immer oder nur partiell – angehören, bewußt [macht]«13 , mithin von der besonderen Zeit und dem besonderen Ort der Feier aus »der alltäglichen Wirklichkeit Sinn und Bedeutung

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Gadamer, a.a.O., S. 56f. Gadamer, a.a.O., S. 57. Gadamer, a.a.O., S. 54. Gadamer, a.a.O., S. 60. Gadamer, a.a.O., S. 59. So seine Charakterisierung in der »Kleinen Philosophie des Festes« bei Odo Marquard [2003]: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam, S. 194-204. Vgl. die von der soziologischen Festforschung vorgeschlagene Differenzierung bei Wilfried Gebhardt [1987]: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 63.

2. Mit Kunst feiern

zuspricht«14 , als »Fest« im engeren Sinne dabei »ekstatischer« bzw. »ungeordneter«15 . Die strikte Unterscheidung zwischen Fest und Feier ist allerdings kritisch revidiert und als Oberbegriff der des Festes vorgeschlagen worden16 . Denn weder entbehrt feierliche Sinnstiftung und Stabilisierung etwa im Rahmen einer Geburtstagsparty spontaner, »ekstatischer« Momente, noch verzichtet festlich-rauschhafte Ekstase auf die Affirmation sinnstiftender Elemente. Damit wird deutlich, dass das »außeralltägliche Ereignis« der Feier bzw. des Festes zwar besondere (ästhetische) Formen und Praktiken kennzeichnen, diese Ereignisse aber nicht eigentlich ästhetischer Natur sind, sondern einen Ort bzw. eine Zeit der existenziellen Daseinsbewältigung darstellen. Menschen feiern etwas mit Kunst, aber sie feiern nicht die Kunst. Um den Topos des Festes für ein Verständnis der Praxis Kunst produktiv werden zu lassen, darf daher gerade nicht mit idealisierten, ästhetisierten Festbegriffen17 gearbeitet, sondern müssen konkrete, empirische Feste und Feiern betrachtet werden. Dieser Zugang ist zugleich deshalb reizvoll, weil er ermöglicht, Kunst nicht, wie häufig in der philosophischen Ästhetik, von einem umfassenden denkerischen Gesamtkonzept her (und letztlich als dessen ästhetischen Teil) zu bestimmen, sondern von ihren konkreten, empirischen Verwendungsformen auszugehen: Wenn es Orte und Zeiten gibt, an bzw. bei denen Kunst offensichtlich nicht fehlen darf, sind es Feste und Feiern. Warum? Als Hypothese wird zugleich formuliert, dass sich aus dieser festlichen bzw. feierlichen Funktion entscheidende Impulse für eine allgemeine Theorie der Kunst gewinnen lassen. Im Hinblick auf diese allgemeine Theorie ist methodisch dabei in drei Schritten vorzugehen: Während zunächst die Bedeutung von Kunst innerhalb konkreter Feiern und Feste untersucht wird, muss im Anschluss daran gefragt werden, ob sich die dabei herausgearbeiteten Elemente auch außerhalb solch konkreter und expliziter feierlicher bzw. festlicher Kontexte, d.h. im Rahmen von Kunst als »autonomer« öffentlicher Praxis erkennen lassen. Schließlich gilt das Interesse dann dem Aufzeigen dieser Elemente in Formen des privaten, nichtöffentlichen Vollzugs der Praxis Kunst.

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Gebhardt, a.a.O., S. 82. Vgl. Gebhardt, a.a.O., S. 54. Vgl. Michael Maurer: Prolegomena zu einer Theorie des Festes. In: ders. [Hg.; 2004]: Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln u.a.: Böhlau, S. 19-54, bes. S. 32ff. Einen solchen vertritt etwa auch Rüdiger Bubner [1989]: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Er bezeichnet Feste als »die außergewöhnlichen Momente in unserem Leben, in denen dieses selbst, ästhetisch verwandelt, vor uns tritt« bzw. als »ästhetisch entlastete und bereicherte Darstellungsformen« (S. 143.).

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3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

Das Fest bzw. die Feier stellt eine Zäsur im alltäglichen Lebensvollzug dar, während der sich Menschen, Menschengruppen oder Institutionen in einer besonderen Form grundlegender Selbstverständnisse bzw. Orientierungen ihres Tuns oder Ausrichtungen und Situationen ihrer Existenz vergewissern. Zugleich aber verleihen sie von diesem nichtalltäglichen Ereignis aus dem Alltag »Sinn und Bedeutung«. Wenn also die Bedeutung der Feier, die sich aus ihrem öffentlichen oder privaten Anlass ergibt, selbst auch nicht ästhetischer Natur ist, fungiert Kunst dabei gleichwohl als ideale und gleichsam unersetzbare ästhetische Repräsentantin feierlicher Bedeutsamkeit. Wie aber lässt sich diese zugleich existenzielle Bedeutsamkeit gerade hinsichtlich ihrer ästhetischen Vermitteltheit näher beschreiben1 ? Was geschieht, wenn die Rede anlässlich etwa der Feier eines Jahrestages, einer Preisverleihung, des feierlichen Gedenkens an historisch einschneidende Ereignisse oder auch des Beginns eines neuen Lebensabschnittes in eher privatem Kreis mit dem Zitat eines Gedichtes beginnt? (Und es gibt kaum rhetorische Beiträge zu Feierlichkeiten jedweder Art, die sich dessen enthalten!) Was bedeutet es, wenn das Gesagte dann »musikalisch eingerahmt« wird? Wie artikuliert sich hier ästhetisch eine feierliche Bedeutsamkeit? Sie betrifft zunächst sowohl das Was als auch das

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Jochen Hörisch hat eine umfassende Theorie der »Bedeutsamkeit« vorgelegt. Obwohl es ihm dabei nicht um eine spezifisch ästhetische Bedeutsamkeit geht, sondern seine Überlegungen den Zusammenhang von »Zeit, Sinn und Medien« umkreisen, liefert seine knappe Beschreibung des Bedeutsamen auch eine für den feierlichen Einsatz von Kunst triftige Phänomenologie: »Es gehört nicht zu unseren alltäglichen, wohl aber zu unseren reizvollsten kognitiven und emotionalen Erfahrungen, wenn wir gewahren, dass da ›etwas‹ ebenso Unbestimmtes wie Weitreichendes ist (ein Klang, ein Bild, ein Affekt, ein Ereignis, ein Verschwinden, eine Stimmung). […] Dies da, dieser Ton, diese rätselhaften Worte, dieses schwer zu identifizierende Phänomen, von dem ich nicht genau weiß, was es ist und bedeutet, fasziniert mich, verlangt meine Aufmerksamkeit und schlägt mich in Bann« (Jochen Hörisch [2009]: Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München: Carl Hanser, S. 17). Bezeichnend ist dabei, dass Hörisch zur grundlegenden Charakterisierung des Bedeutsamen hier immer wieder auf Kunst zurückgreift.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Wie des Feierns, d.h. Inhalt und Form. Wie im Begriff der Bedeutsamkeit angelegt, der Referenz und Relevanz verbindet, verweist der künstlerische Beitrag im Rahmen einer Feierlichkeit auf einen konkreten Anlass, dessen Gewichtung er durch eine spezifische ästhetische Geste zugleich unterstreicht. Durch diese besondere Geste unterscheidet sich Kunst von anderen ästhetischen Elementen einer Feier, die, wie etwa der Blumenschmuck, Bedeutsamkeit ornamental evozieren. Das Gedicht oder das Musikstück markieren nicht, wie die festliche Dekoration, die das Erscheinungsbild einer Räumlichkeit durch besondere Gestaltungsmittel verwandelt, rein ästhetische Zäsuren im Alltag, sondern ihnen ist eine existenzielle Dynamik eigen, die sich nicht im Gestalten und im Ornament erschöpft. Es ist die musikalische oder lyrische Geste einer Bekräftigung, die im Rahmen einer Feier die alltäglichen Lebensvollzüge unterbricht und für die die besondere ästhetische Ausgestaltung des Raumes lediglich ein angemessenes Umfeld schafft. Wie kann aber diese bekräftigende ästhetische Geste näher charakterisiert werden? Als ästhetische Geste könnte sie z.B. eine Geste des Ausdrucks sein, die etwa dem in einer Festrede rhetorisch Entfalteten zusätzlich besondere Gewichtung verleiht, indem sie das Gesagte um eine künstlerische Ebene des Bedeutsamen expressiv erweitert. »Kunst bringt etwas zum Ausdruck«2 heißt es bei John Dewey, der diesen spezifischen Ausdruck dann, was seine Theorie für den hier diskutierten Zusammenhang besonders wichtig macht, in Beziehung setzt zum Feiern: »Die Augenblicke, in denen das Geschöpf am lebendigsten und zugleich am ausgeglichensten und konzentriertesten ist, sind die Augenblicke, in denen es sich im umfassendsten wechselseitigen Verkehr mit der Umwelt befindet, wenn sinnenhaftes Material und geistige Beziehungen am vollkommensten miteinander verschmolzen sind.«3 Diese Momente werden nach Dewey eben in der »Kunst als Erfahrung« ausgedrückt. Ist für eine Erfahrung prinzipiell konstitutiv, dass sie sich als »ein Produkt […] einer kontinuierlichen und sich steigernden Interaktion eines organischen Subjekts mit der Welt«4 fassen lässt, so kulminiert eine idealerweise als »Ganzes«5 konzipierte Erfahrung entsprechend in einer besonders gelungenen und dichten »Verschmelzung« von Subjekt und Welt, die gerade ästhetisch zum Ausdruck kommt. Dies sind die Momente, in denen Kunst als die Gestalt gewordene »vollständige gegenseitige Durchdringung des Ich und der Welt der Dinge und Ereignisse«6 zur Erfahrung »erhöhte[r] Vitalität«7 führt und dadurch zu einer »Feier des Lebens einer Zivilisation«8 wird. Dass diese künstlerische Leistung im Rahmen einer dyna2 3 4 5 6 7 8

Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 156. Dewey, a.a.O., S. 122. Dewey, a.a.O., S. 257. Dewey, a.a.O., S. 47. Dewey, a.a.O., S. 28. Ebda. Dewey, a.a.O., S. 377 (Hervorhebung C.Z.).

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

mischen Geste des Ausdrucks erbracht wird, begründet Dewey mit der künstlerisch gelungenen »Organisation von Energien«9 , insofern »Kunst […] in ihrer Form eben jene Beziehung von aktivem Tun und passivem Erleben, von abgegebener und aufgenommener Energie [vereinigt], die eine Erfahrung zur Erfahrung macht«10 . Künstler zeichnet also eine »besondere Empfänglichkeit für einen gewissen Aspekt des vielgestaltigen Universums der Natur und des Menschen aus«, verbunden mit dem »Drang, es durch Ausdruck in einem bevorzugten Medium neuzuschaffen«11 . Das Feierliche der Kunst lokalisiert Dewey im dadurch freudig getönten ästhetischen Ausdruck einer als besonders stimmig und beglückend empfundenen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Insofern die Kunst diese in der alltäglichen Erfahrung zwar immer schon angelegte, selten aber gepflegte Stimmigkeit in ihren Werken kultiviert, kann sie als »Verherrlichung der alltäglichen Erfahrung«12 gelten bzw. »können wir entdecken, wie im Kunstwerk die charakteristischen Werte dessen, was unsere alltäglichen Freuden bestimmt, entfaltet und hervorgehoben werden«13 . Dabei lässt sich Deweys Verständnis von ästhetischem Ausdruck im Hinblick auf solch integrative Erfahrung der harmonischen Vermittlung von Menschen und Umwelt konkretisieren. Wichtig ist hier das Element der Form: Was den ästhetischen Ausdruck von bloßer Expressivität unterscheidet, ist die Sublimierung letzterer durch künstlerische Formgebung, so dass in der Kunst sich eben nicht ein »Antrieb, der im Innern in heftiger Bewegung gärt«14 , schlicht seine Bahn bricht, sondern im ästhetischen Schaffensprozess durch die Arbeit mit dem Material der Töne, Worte oder Farben verändert, »geordnet«15 und zu einer stimmigen Gestalt objektiviert wird. Indem dies geschieht, gehen der naturhafte Impuls und seine ästhetische Kultivierung eine produktive Wechselwirkung ein, da Kunst ohne natürlichen Impuls aus der Umwelt nicht zu haben ist, der naturhafte Antrieb aber ohne seine ästhetische Formung nicht zu einer »Feier des Lebens« werden könnte. Kunstwerke »verbinden«, wie Dewey erläutert, »Natürliches und Kultiviertes«16 und schaffen auf diese Weise jene glückliche Erfahrung der Kongruenz von Mensch und Umwelt. Für den hier diskutierten Zusammenhang von Kunst und Fest bzw. Feier ist nun bedeutsam, dass Deweys ästhetische Fokussierung dieser Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt eine auffällig elementare Ebene der menschlichen Existenz tangiert, die nicht bruchlos in der weit abstrakteren Dialektik von Natur und Geist aufgeht. Zu sehr klingt bei ihm ein nahezu

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Dewey, a.a.O., S. 188ff. Dewey, a.a.O., S. 62. Dewey, a.a.O., S. 311 (Hervorhebung C.Z.). Dewey, a.a.O., S. 18. Ebda. Dewey, a.a.O., S. 90. Vgl. Dewey, a.a.O., S. 91. Vgl. Dewey, a.a.O., S. 77.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

biologischer Zug des menschlichen Überlebens in der Natur an, als dass sich seine Ausführungen in die lange Reihe der ästhetischen Konzeptionen einfügen ließen, denen die Kunst vor allem als ein theoretisches, erkenntniskritisches Korrektiv des Herrschaftsanspruches instrumenteller Vernunft gilt. Deweys Argumentation zielt nicht primär auf eine ästhetische Selbstkritik des Denkens, sondern vor allem auf ein Bewusstsein für die existenzielle Verortung des Menschen in einer Welt, die sein Leben zugleich ermöglicht und bedroht. Die ästhetische Feier erscheint dabei als der Moment, in dem »der Mensch Stoffe und Energien der Natur in der Absicht nützt, sein Leben zu erweitern.«17 Gleichwohl muss auch der bei Dewey abermals abstrakte und ästhetisierte Topos der Feier auf eine Betrachtung konkreter Feierlichkeiten rückbezogen werden, um daraus kritische Fragen an seine Konzeption abzuleiten. Durch Kunst, so ließe sich zusammenfassen, umgeben sich Menschen mit Objekten und Ereignissen, die für die Erfahrung einer harmonischen »Wechselbeziehung zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt«18 einstehen und für das Leben so immer wieder feierliche Momente als beglückende Impulse bereithalten. Zugleich stützt Kunst damit auch die menschliche Existenz, »[d]enn erst wenn ein Organismus an den geordneten Beziehungen seiner Umwelt teilhat, sichert er sich die für sein Leben notwendige Stabilität.«19 Wendet sich aber der Blick ab von einem abstrakt Feierlichen der Kunst und hin zu den konkreten Feiern und den gefeierten Anlässen, denen die Kunst feierliche Bedeutsamkeit verleiht, vermag Deweys Konzeption nicht voll zu überzeugen. Dies liegt vor allem daran, dass sie um den Begriff der »Erfahrung« kreist. Denn laut Dewey müsste es die Erfahrung des »in den realen Lebensprozessen« bereits »Vorgezeichneten«20 , wenn auch noch nicht künstlerisch Artikulierten sein, das als dann ästhetisch ausgestaltetes Kunstwerk Menschen feiern lässt. Allerdings erschöpfen sich die meisten Feiern nicht in einer grundlegenden »Feier des Lebens«, sondern sie verdanken sich besonderen, oft freudigen, oft aber auch mit Unsicherheit behafteten, bisweilen von Krisen bedrohten Situationen, Übergängen und Einschnitten im Leben, die durch festliche Zäsuren im Alltag begleitet und abgesichert werden. Würde Deweys Verständnis gefolgt, bedeutete etwa die Rezitation eines Gedichtes oder der Vortrag eines Musikstückes im Rahmen einer Feierlichkeit eine bekräftigende Geste insofern, als der ästhetische Ausdruck eines stimmigen Verhältnisses der Menschen zur Umwelt durch eine energetisch wirksame, lebensbejahende Gestimmtheit den gefeierten Anlass grundsätzlich positiv grundierte. Im Falle einer markanten Zäsur im Leben würde der möglichen Krisenanfälligkeit des Anlasses also mit der feierlichen künstlerischen Affirmation eines Alles ist gut begegnet. Auch wenn dies

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Dewey, a.a.O., S. 35. Dewey, a.a.O., S. 23. Ebda. Vgl. Dewey, a.a.O., S. 34.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

bis zu einem gewissen Grad plausibel scheint, darf doch nicht übersehen werden, dass sich diese prinzipielle Affirmation des Lebens kaum allein aus einer Erfahrung legitimieren lässt. Auch ein noch so gelungener Ausdruck künstlerischer Vermittlung von Mensch und Umwelt ist nicht gleichbedeutend mit der Erfahrung des tatsächlichen Gelingens einer konkret eingegangenen Partnerschaft, eines Berufseinstieges, des Lebensweges in einer neuen Dekade, des Erfolges einer Institution. Da sich Lebenspläne prinzipiell immer mit Kontingenz konfrontiert sehen bzw. von Krankheit, existenziellen Krisen oder Misserfolgen bedroht sind, bedeutet die künstlerische Geste der Affirmation im Rahmen einer Feier weit weniger den Ausdruck einer gemachten Erfahrung als die Anrufung der Umwelt, mit der ein glückliches Eingebundensein in die Welt nicht artikuliert, sondern hergestellt 21 werden soll. Anders gesagt: Das Alles ist gut der feierlichen künstlerischen Affirmation meint, als Alles soll gut sein, die Geste einer Beschwörung, nicht aber die ästhetische Artikulation eines Zustandes der Welt. Mag Kunst als ästhetische Kultivierung und Sublimierung der erfahrbaren Umweltimpulse auch bis zu einem gewissen Grad »in den realen Lebensprozessen vorgezeichnet«22 sein, so vermögen diese ästhetischen Impulse doch niemals vorausweisend für ein real glückendes Leben einzustehen. Wohl kann die nach Dewey ästhetisch aufgegriffene und von menschlicher Hand nach- und neugeschaffene Vielfältigkeit der Welt damit abstraktes Symbol für das Ideal eines gelingenden Lebens sein. Das tatsächliche und konkrete Gelingen des Leben von Individuen oder Gemeinschaften, das in einer konkreten Feier immer auch als zukünftiges und ungewisses auf dem Spiel steht (andernfalls bedürfte es keines feierlichen Gewahrens der besonderen Situation), kann jedoch niemals ästhetisch in Erfahrung gebracht werden bzw. niemals (außer, wenn ein Erfolg gefeiert wird23 ) bereits in Erfahrung gebracht worden sein. Was aber die Erfahrung von Kunst vermittelt, ist, wie Gadamer in einem fast leichtsinnig anmutenden Einwurf – freilich ohne Konsequenzen für sein eigenes Kunstverständnis – gesehen hat, die Geste einer »Beschwörung«24 . Da diese Geste aber seit der Moderne keine ontologi21

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Hier kommt erneut die Spezifik der von Hannah Arendt für die Kunst reklamierten Tätigkeitsform des »Herstellens« in ihrer Doppeldeutigkeit zum Ausdruck, die sie selbst zwar nicht gesehen hat, die ihren Begriff aber umso ergiebiger macht: Kunst ist nicht, was sie nach Dewey wäre, »Handeln« im Sinne einer Kommunikation von Erfahrung, sondern Herstellen, das im Akt des kreativen Verfertigens ästhetischer Objekte bzw. Provozierens ästhetischer Ereignisse und selbst noch im Akt ihrer Rezeption immer auch eine produktive Beeinflussung von Existenzbedingungen intendiert. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 34. Und selbst hierin spricht sich immer auch das Element eines gefeierten Dankes aus, der weniger an Menschen als an das Schicksal bzw. als an eine Welt gerichtet scheint, die diese glückliche Fügung der Dinge zugelassen hat. Für Gadamer ist »die Erfahrung des Schönen, und insbesondere des Schönen im Sinne der Kunst, […] die Beschwörung einer möglichen heilen Ordnung, wo immer es sei« (Die Aktualität des Schönen, S. 43). Gadamers konservative Hermeneutik vermag es weder, sich vom Ideal

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

sche Relevanz mehr beanspruchen kann, muss sie als (mehr oder weniger bewusst) intendierte Geste einer (vergeblichen) existenziellen Intervention verstanden werden, die der Kunst gleichwohl immanent bleibt. Eignet ihr im Rahmen einer Feier also kaum der von Dewey veranschlagte Charakter einer »Verherrlichung der alltäglichen Erfahrung«, sondern stellt sie eher einen Versuch der im Rahmen einer feierlichen Zäsur des Alltags intendierten ästhetischen Einwirkung auf die Umwelt dar, erscheint auch die abstrakte Allgemeinheit in Deweys Konzept problematisch. Dieses kennt prinzipiell nur eine grundlegend positive Gestimmtheit ästhetisch artikulierter »Freuden«25 , »Vitalität«26 oder »Lebenskunst«27 . Unbeschadet einer fraglos zuletzt immer lebensdienlichen Intention ästhetischer Feierlichkeit wird diese Fokussierung einer abstrakten und im Rahmen aller Anlässe stets irgendwie plausiblen »freudigen Feier des Lebens« den vielfältigen subtilen ästhetischen Affirmationen des konkret Gefeierten nicht gerecht. Abgesehen vom fragwürdigen Bezug auf die »alltägliche Erfahrung« ist es eben nicht nur ein permanentes »Verherrlichen«, das die Geste des Beschwörens charakterisiert, sondern, je nach Anlass, möglicherweise eben auch ein Bannen oder eine Abwehr von Gefährdungen, ein schützender Zuspruch, ein Hilferuf etc. Es zeigt sich erneut, wie durch einen ästhetisierten, aus den konkreten Lebenszusammenhängen von Individuen und Gemeinschaften herausgelösten Begriff der Feier im plakativen Glanz eines unscharfen Topos eben die Bezüge der Kunst verlorengehen, die in der realen Feier stets den Hintergrund des Ästhetischen bilden. Schließlich fällt aber auch noch ein dritter Punkt ins Gewicht, der für das implizite Fortwirken einer im Kern »herstellenden«, nicht »expressiven« Intention der Kunst in feierlichem Rahmen, d.h. gegen ihre Deutung als »Ausdrucksakt«28 spricht. Dieser Punkt betrifft Kommunikation. So spielt bei Dewey der Aspekt der Kommunikation eine entscheidende Rolle, insofern die Kunst eine Weise ist, Erfahrungen der integralen Ganzheit, die entsprechend auch für alle Menschen von Bedeutung sind, zu kommunizieren: »Kunstwerke [sind] die einzig möglichen Mittel zur vollständigen und ungehinderten Kommunikation von Mensch zu Mensch in einer Welt voller Klüfte und Mauern, die die Gemeinsamkeit der Erfahrung einschränken.«29 Diese Einschätzung steigert sich dann zu einem Bild mit fast eschatologischen Konnotationen:

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der Schönheit zu lösen, noch den Pfad einer erkenntnistheoretischen Version von Ästhetik zu verlassen und Kunst dann folgerichtig als eine – freilich prekäre – Praxis der »Beschwörung« zu konzipieren, in deren Kontext die Frage nach Wahrheit und Erkenntnis ihre zentrale Bedeutung verliert. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 18. Dewey, a.a.O., S. 383. Dewey, a.a.O., S. 388. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 72ff. Dewey, a.a.O., S. 124.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

»Kunst ist die Ausweitung der Macht von Riten und Zeremonien, um Menschen durch eine Kunstfeier, an der alle teilhaben, im Hinblick auf alle Ereignisse und Situationen des Lebens zu verbinden. Diese Aufgabe ist der Lohn und das Siegel der Kunst. Daß die Kunst Mensch und Natur vereint, ist eine vertraute Tatsache. Die Kunst macht den Menschen auch bewußt, daß sie untereinander eine Einheit bilden, eine Einheit im Hinblick auf ihren Ursprung und ihre Bestimmung.«30 Zwar bemerkt Dewey einen Bezug der Kunst zu kultischen Riten und Zeremonien, aber dieser Bezug wird dann von jeglicher Verankerung in konkreten, bestimmbaren Anlässen im Lebenslauf abgetrennt und zu einer diffus ganzheitlichästhetischen Kunstfeier hypostasiert, in der es allen um alles gehen soll. Kernelement dieser Kunstfeier ist dabei eine universale Verständigung31 , über die sich die Feierenden gegenseitig der beglückenden Erfahrung eines Lebens im Einklang mit der Umwelt als gemeinsamer Existenzgrundlage kommunikativ vergewissern. Nun übersieht allerdings eine solche Profilierung der Kunst als des hervorragenden Mediums eines umfassenden Einschwingens auf gemeinsame Erfahrung ein zentrales Moment, das den ästhetischen Diskurs seit der Moderne wie eines seiner Leitmotive durchzieht: Denn gerade für die Erfahrung von Kunst ist auch konstitutiv, dass sie als Erfahrung der Störung von Kommunikation gilt. Diese Störung besitzt dabei zwei unterschiedliche Akzentuierungen. Die eine, die ihren Ursprung im romantischen Unsagbarkeitstopos findet, kultiviert eine reizvolle Alterität des Ästhetischen, wobei solche Alterität für ein ebenso als bestimmt wie zugleich als unbestimmbar empfundenes Anderes steht. Diese Spur wird in den frühromantischen Reflexionen etwa Wilhelm Heinrich Wackenroders gelegt, der über das Hören von Musik schreibt: » [M]it kühner Sicherheit wandeln wir durch das unbekannte Land hindurch, – wir begrüßen und umarmen fremde Geisterwesen, die wir nicht kennen, als Freunde«32 , wobei deren fremdartige Erscheinung dennoch zu dem Ausruf nötige: »Das ist’s, was ich meyne!«33 Die irritierende Erfahrung dieser »dunkeln, phantastischen Bedeutsamkeit«34 ist anderen allerdings nicht oder

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Dewey, a.a.O., S. 318. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Gadamer, der, in offensichtlicher ästhetizistischer Verkennung des spezifischen und auch exklusiven Charakters realer Festlichkeiten, das Fest der Kunst zum »Inbegriff wiedergewonnener Kommunikation aller mit allen« verklärt (Die Aktualität des Schönen, S. 15). Auch hier ist ein letztlich religiös-heilsgeschichtlicher Unterton unüberhörbar, wenn Gadamers Ideal einer erneuerten universalen Verständigung das festliche Ereignis damit in die Nähe eines ästhetischen Pfingstwunders rückt, mit dem die babylonische Sprachverwirrung der Menschheit gleichsam durch Kunst überwunden wird. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Phantasien über die Kunst. Für Freunde der Kunst. In: ders. [1991]: Gesammelte Werke und Briefe. Bd. 1: Werke. Hg. von Silvio Vietta. Heidelberg: Carl Winter, S. 147-252, hier S. 206. Ebda. Wackenroder, a.a.O., S. 217.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

allenfalls andeutungsweise mitteilbar, wobei Wackenroders paradoxes Grundanliegen genau deshalb darin besteht, den unbegrifflichen Gehalt des musikalischen Erlebnisses dennoch über das Medium einer zwar literarisch bzw. poetisch getönten, dabei aber stets reflektierenden Sprache möglichst verständlich zu kommunizieren. Die Frühromantik arbeitet sich damit an der bohrenden Ungewissheit ab, ob das Gehörte denn auch von anderen so gehört bzw. mit ebensolcher Bedeutsamkeit versehen wird. Wenn Dewey oder Gadamer hier schlicht Universalkommunikation im Rahmen einer idealtypischen Kunstfeier behaupten, fallen sie offensichtlich hinter solch triftige frühromantische Reflexionen zurück; dies vor allem auch deshalb, weil bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts Zweifel an Vorstellungen einer freudigen ästhetischen Versöhnung der Menschen angesichts der Schwierigkeit angemeldet werden, diese Kunsterfahrungen gerade mit dem gesellschaftlichen Commonsense zu vermitteln. Es sind genau diese Zweifel, die sich dann bei Adorno zu einer ästhetischen Fundamentalkritik an einem kommunikativ reproduzierten gesellschaftlichen Ganzen steigern35 . Die »Ästhetische Theorie« setzt dem das Nichtidentische entgegen, mit dessen Konzeptionierung der romantische Topos der »bestimmten Unbestimmbarkeit«36 exakt aufgegriffen wird. Gleichzeitig legitimiert Adorno die frühromantische Intention einer sprachlichen Vermittlung ästhetischer Erfahrung: »Ihr [der Ästhetik, C.Z.] Gegenstand bestimmt sich als unbestimmbar, negativ. Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.«37 Deweys Ideal einer freudigen Verständigung aller mit allen sieht sich so mit der Antithese eines dialektischen Bruches von Kommunikation konfrontiert: »Die Kommunikation der Kunstwerke […] geschieht durch Nicht-Kommunikation«38 . Gewiss ließe sich mit einigem Recht die Frage stellen, ob nicht auch Adornos »Ästhetische Theorie« insgeheim von einer Kunstfeier im Sinne Deweys träumt, deren Freude dann im utopischen kollektiven Durchdringen ästhetischer Negativität im Hinblick auf das von ihr rettend bewahrte Nichtidentische und eine damit aus gleichsam »messianischer«39 Perspektive anvisierte Korrektur der fundamentalen gesellschaftlichen Verhärtung bestünde. 35

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 218: »Die hermetischen Gebilde üben mehr Kritik am Bestehenden als die, welche faßlicher Sozialkritik zuliebe formaler Konzilianz sich befleißigen und stillschweigend den allerorten blühenden Betrieb der Kommunikation anerkennen.« Vgl. Adorno, a.a.O., S. 113. Ebda. Adorno, a.a.O., S. 15. So schreibt Adorno im Aphorismus »Zum Ende«: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint […]. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird« (Theodor W. Adorno [1997]: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 283).

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

Für den hier erörterten Zusammenhang ist aber vor allem wichtig, dass die Erfahrung der Kunst, was bei Dewey kaum thematisiert wird, eine Erfahrung des Hermetischen sein kann, die sich nicht bruchlos in die »Vitalität« menschlicher Kommunikationsformen integrieren lässt. Und diese Störung der Kommunikation durch ästhetische Hermetik ist dann schließlich auch der zentrale Impuls für eine in Auseinandersetzung mit der Kunst entfaltete Vernunftkritik in ihren verschiedensten Spielarten. Was aber bedeutet diese Erfahrung des Hermetischen der Kunst für deren Präsenz im Rahmen einer Feier bzw. eines Festes? Welchen Sinn macht es, wenn hier die »Kommunikation aller mit allen« gerade eine Störung erfährt? Ein möglicher Sinn erhellt sich nur, wenn die Frage nach dem hermetischen Was dieser Kommunikation mit der nach dem Wie und v.a. der nach dem Wer der Empfangenden verknüpft wird. Das Wie zeigt sich in der künstlerischen Form als der besonderen Gestalt, die im ästhetischen Produktionsprozess einem möglichen Kommunikationsinhalt gegeben wird. Gemäß Dewey wäre die Form die Art und Weise, in der ein naturhafter Impuls in einem Kunstwerk kultiviert und damit zu einem kommunikativ vermittelten Ausdruck (»[d]a die Objekte der Kunst expressiv sind, teilen sie etwas mit«40 ) der stimmigen Wechselbeziehung des Menschen als eines Lebewesens mit seiner Umwelt würde. Weil Dewey Form jedoch als kultivierte Verschmelzung von Geschöpf und Umwelt betrachtet, ist ihm der Gedanke von künstlerischer Form als einem Besonderen, dem Alltag gegenüber Differierenden, fremd. Künstlerische Form kann dann in der Tat nur die »Verherrlichung alltäglicher Erfahrung« sein und deren Profilierung als exklusive Praxis letztlich nur den Inbegriff einer verfehlten Kultur darstellen: »Die Kunst wird in einen Sonderbereich verwiesen, in dem sie fern von all jenen Mitteln und Zielen ist, die menschliche Bestrebungen, Mühen, Errungenschaften zum Ausdruck bringen. Wer es unternimmt, ein Werk über die Philosophie der Kunst zu schreiben, muß daher zunächst einmal zwischen den Kunstwerken als verfeinerten und vertieften Formen [!] der Erfahrung und den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die bekanntlich die menschliche Erfahrung ausmachen, eine erneute Kontinuität herstellen.«41 Der Aspekt einer Entfremdung durch Form findet in einer philosophischen Profilierung des »organischen Platzes der Kunst in der Zivilisation«42 keinen Platz. Der poetische Vers ist hier stets die versöhnliche Durchdringung der Alltagssprache als menschlicher Errungenschaft mit einem in der Natur vielfältig angelegten Rhythmus und somit Ausdruck einer Geschöpf und Umwelt umfassenden Ganzheit, nicht jedoch Kennzeichen einer besonderen Sprache, die niemand im Alltag so sprechen

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Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 123. Dewey, a.a.O., S. 9. Dewey, a.a.O., S. 390.

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würde. Wird solche besondere Sprache allerdings im Rahmen einer Feier als einer besonderen Zäsur im Alltag verwendet, muss diese feierliche Zäsur als Zäsur genauer betrachtet und ihre Intention beleuchtet werden. Handelt es sich hier tatsächlich, wie Dewey behauptet, um das feierlich intensivierte ästhetische Konstatieren und kollektive Kommunizieren einer (im Alltag immer schon implizierten) Erfahrung organischer Ganzheit? Oder liegt nicht näher, dass sich die besondere ästhetische Form aus der mit dem besonderen Anlass der Feier gegebenen Intention ergibt, einen markanten Einschnitt im Leben abzusichern und dazu die Welt und das Schicksal positiv zu beeinflussen? Das aber würde bedeuten, dass die Kunst als geformtes ästhetisches Objekt bzw. Ereignis im Kern nicht der kultivierten kommunikativen Vermittlung einer kollektiven Erfahrung und ursprünglich auch nicht der Kommunikation zwischen Menschen, sondern der (magischen) Kommunikation zwischen Menschen und ihrer Umwelt gilt. Die dem Alltag entfremdete Sprache des Gedichts ist, als Beschwörung, eine Sprache, die niemand spricht, weil sie in ihrer Besonderung der Anrufung der Natur, des Schicksals, von Schutzmächten etc. vorbehalten ist und nicht der zwischenmenschlichen Verständigung dient43 . Die Erfahrung ästhetischer Hermetik, in der sich die Verfremdung durch Form zugleich potenziert, resultiert, als Erfahrung eines faszinierenden Ineinanders von dunkler Bestimmtheit und Unbestimmbarkeit, aus der wahrgenommenen Gerichtetheit z.B. eines Gedichtes bei gleichzeitiger Irritation über dessen unergründlich bleibenden Gehalt. Denn dieser Gehalt ist keine Aussage oder kein Ausdruck, sondern ein an die Welt gesandter geheimnisvoller Impuls, der seine Erfüllung darum auch nicht in allgemeinverständlicher Entzifferung, sondern in einer Wirksamkeit seines spezifischen Codes findet. Dessen Besonderheit und Verschlüsselung macht ihn dabei als im Rahmen des Kultes einst genutztes magisches Instrument der Einwirkung auf die Umwelt erkennbar. Die Zitation eines Gedichts im Rahmen einer Feier ist damit Erbe der kultischen Anrufung derjenigen Mächte, die es im Kontext des gefeierten Anlasses positiv zu beeinflussen gilt. Und die Erfahrung des Ästhetischen als einer Störung von Kommunikation könnte (nicht nur im Kontext einer konkreten Feierlichkeit) ihren Reiz also gerade darin finden, dass die Erfahrenden sich dieser kultischen Dimension in der Kunst insgeheim bewusst sind und sich demgemäß zugleich als existenziell Angesprochene wie als Beiwohnende eines Kommunikationsaktes empfinden, der letztlich nicht ihnen gilt. Wie plausibel auch immer dieses kultische Element zu einer Angelegenheit der Rezeptionspsychologie erklärt werden kann, so behauptet doch ein Objektives in der ästhetischen Alterität seinen Anspruch auf eine Intention der Kunst, die von primär soziologisch bzw. kommunikationstheoretischen Konzeptionen des Ästhetischen nicht abgebildet werden kann. 43

Vgl. Heinz Schlaffer: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 40. Heft 1-2/2008, S. 21-42.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

Die zweite, etwas anders akzentuierte Version einer ästhetischen Störung von Kommunikation beruft sich nicht auf den romantischen Unsagbarkeitstopos »bestimmter Unbestimmbarkeit« und kreist darum auch nicht um einen spezifischen, sich jedoch entziehenden Gehalt der Kunst. Ihr zentrales Element ist nicht Hermetik, sondern Vieldeutigkeit, die dann eher im pragmatisch-semiotischen Kontext einer Komplexitätssteigerung von Information thematisiert wird44 . Auch die einer solchen Vieldeutigkeit zuerkannte Funktion unterscheidet sich von derjenigen der Hermetik. Denn wird letztere als ästhetische Opposition zur Gesellschaft veranschlagt, agiert erstere bezüglich ihrer Fähigkeit progressiver multipler Perspektivierung auf die Welt in einer Allianz mit der Wissenschaft gleichsam an vorderster gesellschaftlicher Front45 . Umberto Eco schreibt: »In einem kulturellen Kontext, in dem die zweiwertige Logik […] nicht mehr das einzig mögliche Erkenntnisinstrument ist, sondern sich die mehrwertigen Logiken durchsetzen, […] ist es bemerkenswert, daß eine Poetik des Kunstwerks auftritt, die kein notwendiges und vorhersehbares Ergebnis kennt, in der die Freiheit des Interpretierenden als ein Element jener Diskontinuität auftritt, die die moderne Physik nicht mehr als mangelndes Wissen, sondern als unausmerzbaren Aspekt jeder wissenschaftlichen Verifikation und als verifizierbares und unbestreitbares Verhalten der subatomaren Welt anerkannt hat.«46 Kunst kongruiert mit einer solchermaßen elaborierten Wissenschaft also insofern, als das »offene Kunstwerk« sich nur in einer Vielzahl unterschiedlicher, dabei jedoch gleichermaßen legitimer Interpretationen jeweils unterschiedlich konkretisieren lässt. Damit ist, ebenso wie durch die Erfahrung einer Hermetik der Kunst, dem Ideal einer ästhetischen Universalkommunikation widersprochen. Die Intention einer ästhetischen Beeinflussung der Welt zeigt sich hier allerdings in anderer Weise. Aufgabe von »Kunstwerken in Bewegung«47 , wie Eco ästhetische Objekte nennt, die nicht nur ausdrücklich zur multiplen Rezeption geschaffen sind, sondern deren Aufführung konzeptionell bereits dezidiert werkverändernde Entscheidungsspielräume für die Ausführenden vorsieht, ist es weniger, Welt zu »erkennen, als Komplemente von ihr hervorzubringen, autonome Formen, die zu den

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Umberto Eco [1977]: Das offene Kunstwerk. Übersetzt von Günter Memmert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Diese von der Gesellschaft ausdrücklich honorierte Rolle unterscheidet solch ästhetische Progressivität von der gerade bei Adorno profilierten Avanciertheit der Kunst, die als kritische Avantgarde freilich nicht mit entsprechendem Rückhalt rechnen kann, sondern »es auf sich nehmen« muss, »ungehört zu verhallen« (vgl. Theodor W. Adorno [1997]: Philosophie der neuen Musik. Gesammelte Werke. Bd. 12. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 126). Eco, Das offene Kunstwerk, S. 48f. (Hervorhebung original). Eco, a.a.O., S. 42.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

schon existierenden hinzukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren.«48 Was die Kunst damit bereithält, sind ästhetische »Strukturen«49 , die Modi einer komplexen Welt exemplifizieren bzw. ästhetische Modelle weltlicher Komplexität erzeugen. Von entscheidender Bedeutung dabei ist allerdings, dass diese ästhetisch modellhafte Welt bei aller »Offenheit« des Kunstwerks gleichwohl »immer noch die vom Künstler gewollte [Welt]« bleibt und das »Kunstwerk in Bewegung« keineswegs eine »amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen«50 intendiert. Eco will diese ästhetische Welt des Werkes sogar (idealerweise) als »gelungen«51 bzw. als ein »organisches Ganzes«52 charakterisiert wissen. Wenn die vom »offenen Kunstwerk« gestatteten Eingriffe sich aber stets einer letztlichen Bestätigung seiner dadurch gleichwohl unangetasteten gelungenen Ganzheit verschrieben sehen, wird die unabsehbare Komplexität und Kontingenz der Realität, mithin die tatsächliche »Offenheit« der nicht gemachten Welt in ihrem von Menschenhand »hergestellten« ästhetischen Modell gleichsam symbolisch durch die garantierte Stabilität der »gelungenen Struktur« bewältigt. Ähnlich wie die Performance, die in ganz ähnlicher Weise ein »Modell des Lebens«53 sein möchte und der realen Unverfügbarkeit des Lebens dadurch beizukommen versucht, dass sie als Poiesis Ereignisse kunstvoll herbeiruft, erscheinen »offene Kunstwerke« dann als schillernd katalysierende Gebilde, die Kunstschaffende in die Welt entlassen, um deren bedrohliche Komplexität in stets »organische Ganzheit« verbürgenden Modellen zu bannen. Stellt die Gedichtrezitation im Rahmen einer Feier bzw. eines Festes also kein expressives Ornament, keine schmückende Aussage, sondern ein feierliches affirmatives Tun dar, vollführen ebenso die musikalischen Beiträge eine ästhetische Geste der Bekräftigung, deren Gerichtetheit und Dichte über schmückende Einrahmung hinausgeht. Auch da, wo nicht schon durch den auf einen Anlass bezogenen Text eines Liedes oder Titel eines Musikstücks der Charakter des Besingens oder klanglichen Affirmierens offenkundig wird, fungiert die »reine« Musik als Medium nicht primär der ausdrucksvollen ästhetischen Kommunikation mit den Versammelten, sondern des strategischen Herstellens einer der Intention des Festes gemäßen ästhetischen Gerichtetheit. Im Falle des Vortrags literarischer Texte verändert sich die Geste intendierter poietischer Beeinflussung der Welt zur sozialen Geste des Zusprechens von Geschichten, wobei der Lauf der Welt sich im feierlichen Rahmen hier gleichsam selbst narrativ kundgibt. Künstlerische Beiträge im Rahmen von Festen und Feiern kultivieren damit ästhetisch eine ursprünglich kultische 48 49 50 51 52 53

Eco, a.a.O., S. 46 (Hervorhebung original). Eco, a.a.O., S. 14. Eco, a.a.O., S. 54f. Vgl. Eco, a.a.O., S. 14. Eco, a.a.O., S. 14. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 360.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

Praxis des Herstellens54 stabiler, günstiger Weltbezüge55 . Solch ästhetisches Kultivieren ist nicht identisch mit einer »Ästhetisierung des Kultes«. Denn während letztere ihn eben zur primär ästhetischen Angelegenheit erklärt, ihn gleichsam als ästhetisches Faszinosum umspielt (oder das Ästhetische selbst zum Gegenstand kunstreligiöser Verehrung macht), emanzipiert sich das ästhetische Kultivieren kultischer Praxis zwar von allen konkreten Kulten, hält in den ästhetischen Gesten der Kunstwerke und Performances aber gleichwohl an der Intention eines existenziellen (ursprünglich kultischen) menschlichen Sorgens um Nichtästhetisches fest. Kunst verbürgt damit keinerlei metaphysische Relevanz noch irgendwelche Offenbarungen. Sie kultiviert ästhetisch die ursprünglich kultische Intention, menschliche Existenz in der Welt durch feierlich sorgendes Einwirken auf eine immer auch bedrohliche Welt bzw. durch feierliches Verkehren mit der Welt auf spezifische Weise abzusichern. Diese prekäre Intention ist nicht kognitiv, nicht moralisch und auch nicht »ästhetisch«, ihre brisante Kultivierung darf sich das aufgeklärte Bewusstsein jedoch nur »ästhetisch« gestatten. Diese ästhetische Kultivierung einer Praxis kultischen Sorgens, die hier zunächst im Rahmen expliziter Feste und Feiern herausgearbeitet werden soll, lässt sich nicht nur bei lyrischen, literarischen oder musikalischen Beiträgen erkennen. Sie zeigt sich auch in der Malerei, der Skulptur, dem Theater, dem Tanz und dem Film. Die weit weniger hohe Präsenz von Malerei oder Skulptur als eigens fokussierter programmatischer Elemente (nicht als Bestandteile des ornamentalen Rahmens) bei Feierlichkeiten resultiert nicht nur daraus, dass die Statik beider sie für die Dramaturgie einer Feier ungeeigneter erscheinen lässt. Natürlich bietet sich die temporale Dynamik von Lesungen oder musikalischen Aufführungen hier weit eher an. Grund der weniger starken Präsenz dürfte die im Vergleich zu anderen Kunstformen besonders manifeste Dinghaftigkeit sowohl von Bildern wie von Skulpturen sein: Die Positionierung eines Gemäldes oder einer Skulptur als fokussierte Teile der feierlichen Dramaturgie würde unweigerlich das befremdliche Empfinden einer Verehrung unbelebter Gegenstände nach sich ziehen. Damit aber würde sich die Feier zu offensichtlich ihres kultischen Erbes bewusst, von dessen archaischen Formen sie sich – als von Mitgliedern einer aufgeklärten Kultur zelebriertes Ereignis – freilich zu distanzieren sucht. Während der Vortrag von Gedichten bzw. Gedichtteilen, literarischen Zitaten oder musikalischen Beiträgen 54 55

Wann immer dieser Begriff im Folgenden verwendet wird, rekurriert er auf die von Hannah Arendt vorgeschlagene Typologie. Im Herausstellen dieser Weltbezüge hat Deweys »naturalistische« Ästhetik ihre grundsätzliche und volle Berechtigung. Allerdings vernachlässigt der gesättigte, Ganzheitlichkeit und Erfüllung transportierende Begriff »Erfahrung« eben den Aspekt der Kontingenz, der Bedrohung und der strategischen kultischen Absicherung. Weil die reale Erfahrung der Welt zutiefst unheimlich sein kann, versuchen Menschen, ihre Existenz durch Kunst »ästhetisch« zu schützen.

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aufgrund ihrer immateriellen Qualität sublimiert genug erscheint, um Kultur in Form abstrakter Werte, Haltungen und Ziele, kurz gesagt also Geist zu repräsentieren, steht die feierliche Zentrierung ästhetischer Objekte immer in Gefahr, tabuisierten Kult zu reaktivieren. Noch die Präsentation des elaboriertesten Gemäldes oder der filigransten Skulptur als programmatische Bestandteile einer Feierlichkeit transportiert genügend gefährliche Reminiszenzen an den Tanz um das goldene Kalb, an eine verderbliche, verhängnisvolle Substitution des Geistes durch Materie. Diese Substitution ist, gerade im Rahmen von Feiern, die kultivierte Pietät inszenieren wollen, daher nur legitim, wenn sie sich zugleich selbst erkennbar relativiert und keine erfüllte Präsenz suggeriert: indem etwa bei einer Trauerfeier das Bild als Vergegenwärtigung der verstorbenen Person zwar eine sichtbare Schlüsselfunktion erhält, gleichwohl aber auf eine schmerzhafte Absenz verweist; indem die ästhetische Faszination eines eingeweihten Denkmals durch die evidente Würde des Erinnerten und durch das strenge Ethos des Gedenkens kontrolliert wird; indem natürlich die besonders bei religiösen Feierlichkeiten immer im Fokus stehenden sakralen Gegenstände und Kunstwerke als zeichenhafte Verweise auf eine göttliche Offenbarung zu gelten haben, von der sie nicht ablenken dürfen. In dem Maße jedoch, in dem feierliche Bewusstwerdung bzw. feierliches Bekennen einem eher lustvollen Zelebrieren von Erfüllung und v.a. Triumph weicht, werden dann, wie etwa bei Preisverleihungen, auch ästhetische Objekte wichtiger. Den Kulminationspunkt stellen hier begeistert gefeierte Pokale bei Sportveranstaltungen dar, die dafür aber kaum noch als gestaltete ästhetische Objekte wahrgenommen werden. Der Oscarfigur etwa, die demgegenüber mehr Reminiszenzen an eine künstlerische Skulptur aufweist, haben sie jedoch ihre Einmaligkeit voraus. Sie belässt ihnen andererseits ein Stück jener von Benjamin behaupteten ästhetischen Aura, die der Oscar durch seine aufgrund mehrfacher Verleihung offensichtliche Reproduzierbarkeit einbüßt. Bezüglich der Präsenz theatraler Elemente bei Feierlichkeiten ließe sich zunächst auf die prinzipielle Inszeniertheit56 von derlei Ereignissen und damit auf eine Theatralität der Feier bzw. des Festes insgesamt als eines Geschehens verweisen, das als »bewusstes Exponieren von etwas oder jemandem« bzw. im Hinblick auf »bewusstes Anschauen« des bzw. der Exponierten konzipiert ist57 . Allerdings verunklart eine extensive sozial- und kulturwissenschaftliche Verwendung des Theatralitätsbegriffes, die den Topos von der Welt als einer Bühne gleichsam akademisch reformuliert und sanktioniert, Grenzen zwischen alltäglichen, eher soziologisch zu fassenden performativen Praktiken und spezifisch ästhetischen In-

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Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 331. Vgl. Matthias Warstat: Theatralität. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat [Hgg.; 2014]: Metzler Lexikon Theatertheorie. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, S. 382-388, hier S. 382.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

tentionen und Kontexten von Theater als Kunst. Auch wenn die Feier bzw. das Fest gewiss im Ganzen als inszenierte »Schau-Handlung« beschrieben werden kann und sich damit kulturwissenschaftlich einer »verwirrenden Vielfalt heterogenster Schau-Handlungen«58 zuordnen lässt, ist damit noch nicht das Besondere eines genuin künstlerisch- theatralen Beitrages im Programmablauf erfasst. Mag die Feier bzw. das Fest insgesamt auch kunstvoll inszenierte kulturelle Praxis sein – sie bleibt doch etwas anderes als Kunst, die in ihrem Rahmen bestimmte Funktionen übernimmt und besondere, unterscheidbare Akzente setzt. Auffallend ist, dass sich, wenn nicht ohnehin nur aus der dramatischen Textgrundlage zitiert wird, solche künstlerisch-theatralen Akzente bei Anlässen, die die Dignität öffentlicher Bedeutsamkeit beanspruchen, zumeist auf effektvoll platzierte symbolische Handlungen konzentrieren, also keine expliziten Theaterstücke (oder Auszüge davon) dargeboten werden. Bei privaten Familienfeiern hingegen – mit der Ausnahme von Beerdigungen – gehört das Aufführen kleiner, meist humorvoller Szenen als Formen konventionellen Theaterspielens fast schon zur Selbstverständlichkeit. Auch symbolische Handlungen tragen dabei alle Insignien künstlerischer Performances, beziehen sich als Symbole im Rahmen von Feierlichkeiten allerdings auf einen konkreten Anlass und einen rhetorisch markierten Kontext, im Hinblick auf den sie energetische Präsenz im Raum zirkulieren lassen59 , statt eine Atmosphäre irritierender ästhetischer Selbstbezüglichkeit zu zelebrieren60 . Wenn also als dramaturgischer Höhepunkt des ökumenischen Versöhnungsgottesdienstes zum Reformationsjahr 2017 in der Michaeliskirche Hildesheim ein Sperrkreuz von einer Gruppe von Menschen zu einem Kruzifix aufgerichtet wird, bedeutet diese Performance als zugleich theatraler Beitrag eine symbolische Handlung. Was aber heißt symbolisch? Die Faszination dieser kleinen Aufführung liegt hier nicht lediglich darin, dass sie ein eindrucksvolles Bild für die erhoffte Überwindung konfessionellen Barrieren durch eine wahrhaft ökumenische Communitas darstellt, sondern dass sie eindrucksvoll suggeriert, dieser Wandel sei durch die Aktion auf magische Weise initiiert worden. Es spielt dabei keine wesentliche Rolle, dass die Aktion innerhalb eines Gottesdienstes als einer spezifischen religiösen Feier erfolgt. Denn die Geste, die die Performance als ästhetisches Kultivieren einer magischen Praxis qualifiziert, ist älter als der religiöse Traditionszusammenhang, der sich ihrer hier zwar bedient, sie aber nicht ersinnt61 . Wo immer, auch in säkularen Kontexten, 58 59 60 61

Warstat, a.a.O., S. 386. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 169. Vgl. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 26f. Der Gottesdienst überhaupt hält eine Fülle von theatralen Gesten bereit, für die sich die Theologie besonders im Rahmen ästhetisch orientierter Betrachtungen der Liturgie interessiert. Vgl. etwa David Plüss [2007]: Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes. Zürich: Theologischer Verlag, bes. S. 177 (Gottesdienst als kultischer Gestenraum).

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im Rahmen einer Feier »symbolisch« z.B. Bäume gepflanzt oder Grundsteine gelegt werden, bedeutet die symbolische Handlung immer zugleich theatrale Praxis einer Beschwörung von Wachstum bzw. Bestand62 . Warum aber sind im Rahmen solch öffentlich bedeutsamer Feierlichkeiten nun v.a. symbolische Handlungen, bei Hochzeiten und Geburtstagen als privaten Familienfeiern etwa aber konventionelle Sprechtheatereinlagen sehr beliebt63 ? Gewiss träten schon rein formal dramatisch inszenierte Dialoge, zumal gut gespielt, in rhetorische Konkurrenz zur Festrede als dem (dabei meist prominent besetzten) appellativen Zentrum des Ereignisses, wohingegen symbolische Handlungen als primär visuelle Akzente eher wie deren ästhetisches Komplement wirken (so dass sich beides wechselseitig hervorhebt). Symbolische Handlungen (etwa Schlüsselübergaben oder Eröffnungszeremonien) mögen daher bisweilen von knappen Formeln ritualisierten Sprechens begleitet sein, nicht aber von elaborierten dramatischen Dialogen. Mit Fischer-Lichte ließe sich zudem argumentieren, dass die symbolische Handlung als eine Performance jene irritierende Authentizität beansprucht64 , die im Sprechtheater der Qualität des kunstvoll inszenierten ästhetischen Scheins weicht. Während also das Aufrichten eines Kreuzes oder das Pflanzen eines Baumes sich zwar als inszeniert zu erkennen gibt, sind derlei Aktionen gleichwohl nicht fingierte Realität, sondern stellen den vielleicht unbewussten, gleichwohl hier und jetzt tatsächlich unternommenen Versuch dar, den Lauf der Welt symbolisch, und damit ästhetisch zu beeinflussen. Der schauspielend professionell erzeugte Schein und die damit als solche auch bewusst präsentierte theatrale Fiktion hingegen würden, zumindest im Rahmen der Dignität öffentlicher Feierlichkeiten, wohl so sehr auf veranschaulichende Repräsentation im Sinne von Schillers »Schaubühne als einer moralischen Anstalt« verpflichtet, dass eine Szene dramatischen Sprechtheaters hier wie ein merkwürdiges theatralisch-pädagogisches Exempel wirken müsste. (Ein typisches Beispiel, wie Theaterszenen als pädagogische Exempel genutzt, aber zugleich rhetorisch kontrolliert werden, stellt ihre Verwendung in Gottesdiensten dar. Hier dienen sie in der Regel als Ausgangspunkte für Predigten, die über den Sinn des Gespielten dann theologisch aufklären. Damit freilich wird die rhetorische Konkurrenz der Rede durch das Theater beseitigt, da letzteres dem gepredigten Wort erkennbar als veranschaulichendes Medium dient 62

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Und zugleich ließen sich derlei Aktionen im Grunde stets zu Choreographien von künstlerischen Performances im Sinne der »Ästhetik des Performativen« weiterentwickeln – was unterstreicht, dass, wie noch zu zeigen sein wird, die faszinierende Kraft angeblicher »ästhetischer Selbstbezüglichkeit« in Wahrheit von einem raffinierten künstlerischen Spiel mit dem Empfinden unbestimmter außerästhetischer Wirksamkeit als Referenz auf einen ursprünglich kultischen Sitz im Leben der performativen Geste herrührt. Natürlich gibt es jedoch auch etwa im Rahmen von Hochzeitsfeiern symbolische Handlungen – etwa das gemeinsame Durchsägen eines Baumstammes durch das Brautpaar. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 294ff.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

und ihm somit untergeordnet ist). Die Faszination symbolischer Handlungen aber besteht darin, dass die Sphäre exemplifizierenden ästhetischen Scheins hier auf irritierende Weise zugunsten außerästhetischer Wirksamkeit transzendiert werden soll. Gerade für die suggestive Sanktionierung der Autorität öffentlicher Feierlichkeiten eignen sich daher theatrale Formen, die, wie symbolische Handlungen, die magischen Praktiken des Kultes beerben (wobei sie Handlungen sowohl an als mit Dingen vollziehen). Im Rahmen von Familienfeiern hingegen wird gerne explizit Theater gespielt, d.h. in Form (meist vergnüglicher) Szenen konventionellen Sprechtheaters dargeboten. Solche Freude am offensichtlichen ästhetischen Schein besitzt auch hier das Element des (schelmischen) pädagogischen Exempels, fügt sich als solches aber weit besser und stimmiger in die v.a. unterhaltsame Gesamtdramaturgie des Festes ein. Bezeichnend ist ja, dass Theater sehr häufig bei Geburtstagen oder Hochzeiten zum Einsatz kommt. Bei Taufen, deren Charakter aufgrund der gefeierten Reinheit des Täuflings eine Üppigkeit und rauschhafte Ausschweifung verbietet, die z.B. einer Hochzeitsfeier als Affirmation der für das Paar zugleich erhofften Fruchtbarkeit eigen sein darf, ist es hingegen kaum anzutreffen, und auch bei Beerdigungen wirkt es eher deplatziert. Aber die Hochzeitsfeier erschöpft sich nicht in der Ekstase des Festes, sondern trägt auch die Elemente der sinnstiftenden, vergewissernden Feier in sich, durch die und in der für die frisch Vermählten das Gute herbeigerufen und das Schlechte abgewehrt werden soll. Worin aber liegt dann die kultische Schutzfunktion z.B. des aufgeführten Sketches? Victor Turner zeichnet den Weg »Vom Ritual zum Theater« als eine Entwicklung nach, innerhalb derer das Sprechtheater sich einerseits zwar »vom ehemaligen Ritual gelöst«65 hat und zu einer »kulturellen Darstellungsform«66 wird, andererseits jedoch am irritierenden »Anspruch, ein Mittel der Kommunikation mit unsichtbaren Mächten und der letzten Wirklichkeit«67 zu sein, nicht aufgibt. Solche Zuspitzung ist freilich erklärungsbedürftig. In einer fast an Adorno erinnernden Diktion formuliert Turner: »Vor allem seit dem Aufstieg der Tiefenpsychologie kann es [das Theater, C.Z.] geltend machen, immer noch die Wirklichkeit hinter den Masken des Rollenspiels darzustellen, selbst seine Masken seien gewissermaßen »Negationen der Negation«. Sie stellen das falsche Gesicht dar, um die Möglichkeit eines wahren Gesichts zum Ausdruck zu bringen.«68 Damit aber würde das Theater erneut auf die traditionelle erkenntnistheoretische Tradition der Ästhetik verpflichtet bzw. als erweiterte Form der Aufklärung profiliert. Aber stellt die verbreitete Praxis des Theaterspielens etwa bei Hochzeiten – trotz aller ihr gewiss eigenen Freude am humorvollen Dekonstruieren und Vorführen – tatsächlich 65 66 67 68

Victor Turner [2009]: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Übersetzt von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M., New York: Campus, S. 184. Vgl. Turner, a.a.O., S. 185. Turner, a.a.O., S. 184. Ebda.

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nur eine Praxis des theatralen Aufklärens dar? Was geschieht, wenn im Rahmen einer solchen Feier etwa kleine Ehedramen, also intime »soziale Dramen«69 , als vergnügliche »ästhetische Dramen«70 inszeniert und damit zu »kulturellen Darbietungen«71 werden? Letztlich handelt es sich auch hier um Versuche »ritueller Bewältigung« sozialer Dramen: Wenn die Hochzeitsgäste den boshaft zugespitzten Zwist eines Paares auf der Bühne im Rahmen eines theatralen Programmbeitrages des Festes ausgiebig belachen, so wird der im Beziehungsalltag des frisch getrauten Paares immer wieder auch real drohende Streit explizit herbeizitiert und dabei rituell lächerlich gemacht – was ihn seiner bedrohlichen Macht beraubt. Der Sketch erweist sich damit als zugleich unterhaltsame Schutzgeste oder, in Turners Terminologie, als einem »prophylaktischen Ritualtyp« zugehörig, der der »Antizipation und Vermeidung von Konflikten« dient72 . An diesem Beispiel lässt sich dann gut das Oszillieren der Performance zwischen der »Wirksamkeit« des Rituals und der »Unterhaltung« durch das Theater ablesen73 . Richard Schechner schreibt: »The basic polarity is between efficacy and entertainment, not between ritual and theater. Whether one calls a specific performance ›ritual‹ or ›theater‹ depends mostly on context and function.«74 Er fügt allerdings hinzu: »No performance is pure efficacy or pure entertainment«75 , und so lässt sich in der autorisierenden symbolischen Handlung im Rahmen einer öffentlichen Feierlichkeit trotz ihrer »Theatralität« der Ritualcharakter deutlich ausmachen, wohingegen die gespielte Szene bei einer Familienfeier sich als explizites Theater gewiss stärker der Unterhaltung verschreibt, ohne dabei aber ihren impliziten Ritualcharakter zu verlieren. Der Tanz ist, wo gefeiert wird, in vielfältigen Gestalten76 präsent. Dies gilt sowohl für eher private, familiäre Anlässe wie auch für öffentliche Ereignisse. Solche Ereignisse können dabei entweder, wie z.B. Kirchweihen, traditionellen Festkalendern folgen oder als Veranstaltungen mit Partycharakter ohne kalendarischen Anlass angesetzt sein. Aber auch letztere lassen sich, z.B. als Events, die Kult-Hits einer bestimmten Dekade präsentieren, nicht als rein ästhetisches Phänomen qualifizieren, da sie immer auch auf das (in diesem Fall kollektive) musikalische Zele69 70 71 72

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Turner, a.a.O., S. 95ff. Vgl. Turner, a.a.O., S. 170. Turner, a.a.O., S. 169. Vgl. Turner, S. 175. Allerdings erfolgt solche »Antizipation und Vermeidung des Konflikts« hier nicht durch die »eindringliche Vorführung der Vorteile von Kooperation« (vgl. ebda.), sondern durch die theatral ins Lächerliche gesteigerte Bloßstellung und damit durch das offensive Unschädlichmachen des »Ungeistes« von Konfrontation. Vgl. Richard Schechner [1988]: Performance Theory. Revised and expanded edition. New York, London: Routledge, S. 120. Ebda. Ebda. Zur Einteilung der Tanzformen wie zugleich zur Kritik solcher Typologien vgl. Sibylle Dahms [Hg.; 2001]: Tanz. Kassel u.a.: Bärenreiter, Stuttgart u.a.: J.B. Metzler.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

brieren eines vergangenen Lebensabschnittes und seiner biographischen Intensität ausgerichtet sind. Hier nun wird neben der Ebene der Sinn- und Orientierungsstiftung, der Vergewisserung über Existenzgrundlagen und fundamentale Wertentscheidungen, die kultivierte Ekstase des Festes wirksam: Denn der gemeinsame begeisterte Tanz zur Musik »von früher« erschöpft sich nicht in der »Kommunikation aller mit allen«, die Gadamer als Insignie des Festes identifiziert, sondern er stellt eine Feier des gelebten Lebens dar, zu dessen Ehren getanzt, an dem sich berauscht und mit dessen Dynamis tanzend zugleich Kontakt aufgenommen wird. Auf die Bedeutung, die ein so verstandenes Tanzen gerade in der Philosophie Nietzsches hat, ist zu Recht hingewiesen worden77 . Nietzsches ästhetische Zuspitzung müsste aber für die oben als Beispiel erwähnte »Kultfete« insofern relativiert werden, als der Rausch sich zugleich an der Erinnerung konkreter und individueller biographischer Ereignisse durch die Musik entzündet, so dass die ekstatischen Momente hier nur bis zu einem gewissen Grad zu »Entindividualisierung« und dionysischer »Selbstvergessenheit«78 führen (die reflexive Dimension der Feier bleibt eben präsent). Und selbst da, wo eine Tanzparty nicht eine (vergangene) Dekade zelebriert, sondern ohne konkreten Anlass oder Motto schlicht aus der Freude am Tanz motiviert scheint, bleibt das Tanzen doch Medium einer grundlegenden Affirmation des Lebens, das tanzend gefeiert wird. Gleichwohl ist Tanz hier nicht Ausdruck von Lebensfreude, sondern (kultisches) ästhetisches Verkehren mit Vitalität. Die von Nietzsche profilierte Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Tanzes dürfte dennoch der Grund dafür sein, dass er, nicht nur als gemeinsam vollführte Praxis der Teilnehmenden, sondern gerade auch in Gestalt künstlerisch etablierten Schautanzes, eher selten zur kultischen Autorisierung von Feierlichkeiten genutzt wird, sofern Kultur sich durch sie und in ihnen primär als Geist verstehen will. Der Tanz visualisiert, wenn er zu Musik getanzt wird, deren Gesten. Aber während die Raumgreiflichkeit von Musik sich bei aller dynamischen Bewegtheit als paradox körperlos und damit geistaffin präsentiert, erinnern die beschwörenden Bewegungsabfolgen tanzender Körper viel eher an weit elementarere Auseinandersetzungen der Menschen mit der Welt. Dass der Tanz sich bisweilen selbst an seiner eigenen Körperlichkeit abarbeitet, zeigt sich etwa in Bemühungen, ihn als eine Wissensform zu legitimieren79 . Und verglichen mit dem Theater bzw. der theatralen symbolischen Handlung erhält, obgleich Tanz und Theater in gleicher Weise

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78 79

Aura Cumita: Der Seiltänzer und die ›große Vernunft‹: Tanz als Schlüsselkunst in Nietzsches Werk. In: Johannes Birringer, Josephine Fenger [Hgg.; 2011]: Tanz und WahnSinn. Dance and ChoreoMania. Leipzig: Henschel, S. 98-110. Cumita, a.a.O., S. 99. Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke [Hgg.; 2007]: Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld: Transcript.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

rituellen Ursprungs80 und darin eng verwandt sind, der Tanz weit weniger Eingang bei der Gestaltung feierlicher Programmabfolgen, weil in der symbolischen Handlung das Agieren mit und an Dingen fokussiert wird, Leiblichkeit als solche, die der Tanz in Gestalt »spezifische[r] Formung[en] von Körper, Raum und Zeit«81 zur Aufführung bringt, hingegen weit weniger im Zentrum steht. Wenn sich der Tanz hingegen in kirchlichen Kontexten und besonders innerhalb des Gottesdienstes als eines »kultischen Gestenraumes«82 weit größerer Beliebtheit erfreut, verdankt sich dies freilich gerade dem strategischen Kampf der Kirchen gegen ihr hartnäckiges körperfeindliches Image. So beharren sie darauf, dass auch der (getanzten) Freude an und über Gott ein Moment der rauschhaften Ekstase eigen sein kann und darf. Bezeichnend ist die zentrale Funktion des Tanzes etwa beim Christopher Street Day, anlässlich dessen nicht nur die Performanz heterogener sexueller Identitäten öffentlich tänzerisch affirmiert, sondern auch gegen deren Diskriminierung getanzt wird. Eine weitere Form von feierlichen Anlässen, bei denen der Tanz eine wichtige Rolle spielt, stellen Zeremonien bei der Eröffnung von Sportveranstaltungen, v.a. zum Auftakt der Olympischen Spiele dar, bei denen, trotz aller mentalen Beeinflussung der sportlichen Leistung, der athletische Körper im Mittelpunkt steht. Die farbenprächtigen Choreographien im Rahmen dieser aufwendigen Spektakel transportieren deutlich wahrnehmbar eine Geste der Beschwörung des olympischen Geistes, der den friedlichen sportlichen Wettkampf der Athleten schützen soll. Beim Gesellschaftstanz jenseits seiner jüngeren, bei Events mit Partycharakter praktizierten »solistischen« Formen (bis hin zu Techno)83 , d.h. in eher traditionellen Gestalten z.B. bei Familienfeiern oder Bällen, gibt sich die ästhetisch kultivierte kultische Funktion anders zu erkennen. Spürbar ist sie beim Hochzeitstanz als gemeinsamer symbolischer Initiationshandlung des Brautpaares, jedoch scheint bei Anlässen wie etwa dem Wiener Opernball das tänzerische Ritual vollends zur gesellschaftlichen Repräsentation profaniert. Im geschichtlichen Rückblick auf die Ballkultur des 18. und 19. Jahrhunderts stellt Monika Fink fest: »Ein Ball bildet einen institutionellen Komplex, dessen Sinn generell darin lag, den Tanz als ein elementares Geschehen durch eine Vielfalt von Regulierungen denjenigen gesellschaftlichen Strukturen zu akkommodieren, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert herausgebildet hatten und die für den anschließenden ›Prozeß der Zivilisation‹ bestimmend wurden.«84 Wenn aber die »symbolische[] Repräsentation« der »höfischen wie theatralen Tänze[] des 17. und 18. Jahrhunderts« durch die

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Vgl. hierzu etwa Schechner, Performance Theory. Dahms, Tanz, S. 3. Vgl. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, S. 177. Vgl. Dahms, Tanz, S. 89. Monika Fink [1996]: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck, Wien: Studien-Verlag, S. 11.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

»geometrischen Formationen der Tanzenden auf eine Weltordnung« verwies, »deren Gesetze sich im Kosmos ebenso wiederfanden wie im absolutistischen Staat«85 , ist auch solches Repräsentieren nicht nur Ausdruck, sondern trägt Züge einer tänzerischen Affirmation des eigenen Standes. Sie vollzieht sich als Exerzitium des Einschwingens auf die eine ständische Hierarchie gleichsam legitimierende »kosmische Weltordnung« wie zugleich als deren kultische ästhetische Stabilisierung. Transformiert zum lustvollen Kult eines sich selbst feiernden bürgerlichen Selbstbewusstseins lebt sie noch in den Bällen der Gegenwart fort. Ebenso bleibt dem Volkstanz auch dort, wo er primär zur Unterhaltung getanzt wird86 , in analoger Weise eine implizite kultische Affirmation des welthaften Daseins der Tanzenden eigen, bei der sich existenzielle Sinnstiftung und ekstatische Momente verbinden. Komplizierter liegen die Dinge beim Film (unter dessen Erscheinungsbild sich aufgrund der folgenden Ausführungen auch das Video subsumieren lässt). Offensichtlich kann für die Filmkunst zunächst nicht gelten, was hier für die anderen Künste bislang behauptet wurde. Musik, Tanz, Theater, bildnerische Gestaltung, Poesie oder Literatur geben in der Feier bzw. im Fest ihre ästhetisch kultivierte kultische Funktion zu erkennen. Dem Film kommt diese Qualität, wenn überhaupt, erst im Nachhinein zu, sofern er als historisch spätere Kunstform schließlich ebenfalls – wenn auch weitaus seltener – zum Bestandteil festlicher bzw. feierlicher Inszenierungen wird. Die historisch bedingte sekundäre Kultfähigkeit ließe sich z.B. damit erklären, dass der Film Elemente der anderen, älteren Kunstformen in vielfacher Weise aufnimmt und vereint87 . Der spezifische Modus seiner dramaturgischen Integration in Feste und Feiern verdankt sich aber auch einer genuinen ästhetischen Eigenschaft, die im Vergleich zur vorherrschenden Fokussierung der Dynamik des Filmes als »Bewegungsbild«88 weitaus seltener thematisiert wird. Dessen besondere Erfahrungsqualität besteht ja nicht nur darin, dass er »ein stillgestelltes Bild wieder in den Raum der Bewegung zurückzuversetzen«89 vermag, sondern dass es sich bei diesem bewegten Bild zugleich um ein »Licht-Spiel« handelt. Alle kunstgeschichtlich triftigen Erörterungen malerischer Arbeit an Lichteffekten und zur Leuchtkraft von Farben ändern nichts daran, dass der Film, im Unterschied zum Gemälde, selbst eine Lichtquelle darstellt und das Dunkel tatsächlich erhellt. Birgit Recki schreibt: »Das filmische Bild erscheint nicht bloß im Licht, es

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Dahms, Tanz, S. 2. Vgl. Dahms, Tanz, S. 190f. Auf diese Eigenschaft verweist Martin Seel [2013]: Die Künste des Kinos. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Gilles Deleuze [1989]: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Josef Früchtl [2011]: Eine Kunst der Geste. Den Bildern Bewegung und Geschichte zurückgeben (https://epub.ub.uni-muenchen.de/12392/1/GesteFilm.Muenchen.Fruechtl.pdf, letzter Zugriff: 10.06.2020).

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besteht gleichsam aus Licht – es hat das Licht innen.«90 Eine Filmästhetik muss daher, wie Recki zurecht betont, bei dieser spezifischen Erscheinungsform ihren Anfang nehmen, die allen anderen Darlegungen über eine »Prozessualität«91 des bewegten Bildes immer schon vorausliegt und sie allererst bedingt. Fraglich allerdings ist, ob das filmische Licht auf die Kongruenz mit »apollinischen Intuitionen« verpflichtet werden kann92 . Recki deutet die von der Leinwand ins Dunkel des Kinosaals strahlenden kunstvollen Arrangements aus Szenen, Schnitten und Perspektiven hier als Quelle der »Lust an der erhabenen Allmachtsvision«, die in »spielerische[r] Entspannung«93 genossen wird und den Betrachtenden signalisiert: »Wir verfügen«94 . Damit ist das Licht des Kinos mit dem Licht der Erkenntnis in Verbindung gebracht: »Der Film als solcher, jeder Film lebt aus dem Licht. Er hat es in sich. Deshalb leuchtet so ein, was er zeigt.«95 Aber der Kinosessel ist nicht nur der Ort des entspannten und souveränen Überblicks über eine Welt, den nur der Film bietet. Die filmische Konstruktion lässt das Subjekt nicht nur ins Licht einer Multiperspektivität und Allgegenwart eintauchen, die seiner Welterkenntnis jenseits des Kinos verwehrt bleibt. Die Eindringlichkeit, mit der die cineastischen Bilder gerade durch ihre Leuchtkraft komplex verschränkte Einstellungen und dynamisch aufgebrochene narrative Konstellationen erscheinen lassen, gewährt nicht nur erhabene Übersicht, sondern kann auch irritieren, verstören, beklemmen. Dem entspannten »Verfügen« der Betrachtenden bleibt damit – freilich abhängig von der individuellen Disposition und vom Film – immer auch die Erfahrung des Heimgesuchtwerdens potentiell beigemischt. Dieses Potential ist beim Kinobesuch nicht nur stets einkalkuliert, sondern dürfte ihn implizit nicht unerheblich motivieren. Kaum jemand ginge wohl ins Kino, wenn nicht eine reizvolle Ungewissheit bezüglich dessen, was da im Dunkeln aufscheinen und die Betrachtenden überkommen wird, lockte. So aber erhält der Film in der Tat die Insignien einer Vision, die dabei keineswegs, wie Recki meint, nur eine Vision der Allmacht ist, sondern eine des Glücks, der Erschütterung oder auch des Schreckens sein kann96 . Wenn Visionen wesentlich kennzeichnet, dass sie häufig als Lichterscheinungen beschrieben

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Birgit Recki: Am Anfang ist das Licht. Elemente einer Ästhetik des Films. In: Ludwig Nagl [Hg.; 1999]: Filmästhetik. Berlin: Akademie-Verlag, Wien: Oldenbourg, S. 35-60, hier S. 56 (Hervorhebungen original). Seel, Die Künste des Kinos, S. 65. Recki, Am Anfang ist das Licht, S. 59. Ebda. Recki, a.a.O., S. 58. Recki, a.a.O., S. 59. Vor allem Filmerlebnisse aus der Kindheit werden häufig nicht als Erfahrung souveränen Verfügens, sondern als die eines biographisch ggf. nachhaltig wirksamen Getroffenseins erinnert. Und dieser Erfahrungsmodus des Films dürfte sich nicht auf frühe Lebensphasen beschränken lassen.

3. Die Praxis Kunst als konstitutives Element von Festen und Feiern

werden97 , von Höreindrücken begleitet sein können, nicht nur einzelne Bilder, sondern auch lange Sequenzen vermitteln und dabei trotz klarer Wahrnehmung einer als Außenreiz erlebten Erscheinung keine entsprechenden Außenreize verifizierbar sind98 , lässt sich der Film als eine technisch objektivierte Vision charakterisieren. Vor allem der letztgenannte prekäre ontologische Status der Vision bzw. des in ihr Geschauten wird im objektiven Setting der Filmbetrachtung manifest: Die Lichtprojektion gewährt einerseits die klare Wahrnehmung des filmisch Dargestellten, dem dabei als einer solchen Lichtprojektion gleichwohl nicht der Status tatsächlicher Präsenz zukommt. Dies unterscheidet, neben der eigenen Leuchtkraft, den Film vom beleuchteten Theater, dessen Szenen dem Publikum trotz ihrer Fiktionalität realiter von Menschen dargeboten werden. Von der Fotografie hingegen differiert der Film als Vision neben seinem Einbezug des Auditiven insofern, als er eben zugleich bewegte »Lichterscheinung« ist. (Die Diaprojektion und das digitale Computerbild, selbst auch Lichtquellen, partizipieren damit stärker am Visionscharakter des Films als das handgreifliche Foto). Ein markantes Beispiel für die Nutzung des »Lichtspiels« im Rahmen von öffentlichen Events sind Videoprojektionen etwa bei Techno-Raves, die dabei häufig innerhalb eines spektakulären, exzessiven Ensembles von nichtfilmischen Lichteffekten zum Einsatz kommen. Die Erfahrungsqualität derartiger Raves als ekstatischer Feste ist hinlänglich beschrieben worden99 . Wenn Techno hier als ästhetische Affirmation des tanzend geteilten, gegenwärtigen Lebens100 fungiert, welche Rolle spielt hierbei dann Videokunst? Während der Tanz und die Musik auf die Welt einwirken, mit ihr kultisch Verkehren, sie beeinflussen, stellen die Videoprojektionen als technifizierte Visionen zugleich Ergebnisse dieses Einwirkens dar. Sie prätendieren den spezifischen Typus der Vision, der durch kultische Praktiken gezielt initiiert wird101 bzw. werden als das ästhetisch inszeniert, was die Tanzenden überkommt, wenn sie eine bestimmte kultische Praktik ausüben – als eine u.a. »durch Tanz […] [und] Musik […] vorbereitete visionäre Erfahrung«102 . Da es zur raffinierten poietischen Beschei97

Marco Frenschkowski: Vision I. Religionsgeschichtlich. In: Gerhard Krause, Gerhard Müller [Hgg.; 2003]: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 35. Berlin, New York: Walter de Gruyter, S. 117-124, hier S. 117. 98 Vgl. Karl Hoheisel: Vision/Visionsbericht I. Religionswissenschaftlich. In: Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski u.a. [Hgg.; 2005]: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4. Auflage. Bd. 8. Tübingen: Mohr Siebeck, Sp. 1126-1127, hier Sp. 1126. 99 Vgl. etwa schon Christine Steffen: Das Rave-Phänomen. In: Philipp Anz, Patrick Walder [Hgg.; 1995]: Techno. Zürich: Ricco Bilger, S. 176-183. 100 Steffen will sogar eine implizite »Ethik« des Raves ausmachen: »Als ungeschriebenes Gesetz herrscht in der Rave-Gesellschaft die Gewaltlosigkeit. Toleranz und Respekt sind die Spielregeln, die verblüffend strikt eingehalten werden« (a.a.O., S. 177). 101 Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 117. 102 Ebda.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

denheit des Films gehört, seine ästhetische Geste weniger als ein Hervorbringen, sondern als Erscheinenlassen zu vollführen, wird er im Rahmen solcher Eventdramaturgien auch eher als kultisch heraufbeschworene Vision, weniger als Akt der Beschwörung selbst inszeniert. Neben dieser Präsenz von Film/Video im Rahmen öffentlicher Events lässt sich aber auch ein privates, weit weniger spektakuläres Setting anführen. Wenn Fernsehsender gerade an allgemeinen Festtagen häufig beliebte Filmklassiker aufs Programm setzen, gehen sie davon aus, dass deren Betrachten im Familien- oder Freundeskreis immer noch eine beliebte Praxis im Rahmen der feierlichen Zäsur des Alltags darstellt103 . Für solch gemeinsam zelebrierte Television ist dann ja auch die begleitende oder das TV-Ereignis bereits vorbereitende, einstimmende Einnahme von Genussmitteln, häufig von Alkohol charakteristisch. Wäre dies etwa beim Theaterbesuch als weit stärker aktiv konnotierter Teilhabe an einem von Bühne und Publikum gemeinsam erzeugten, präsentischen Geschehen höchst ungewöhnlich, kultiviert die Praxis solch gemeinsamen häuslichen Filmsehens an besonderen Tagen demgegenüber die eigenartig zwischen Rausch und Konzentration changierende Empfänglichkeit eines feierlichen Kollektivs für nichtalltägliches visionhaftes Einströmen bewegter, tönender Lichtbilder. Die spektakuläre Vision im Rahmen des Events und die private Situation des televisionären Erscheinens differieren allerdings bezüglich der Gehalte der lichtspielend vermittelten Visionen: Während sich das Erscheinende im ersteren Fall an der Grenze zur abstrakten graphischen Lichtprojektion bewegen kann, geht es bei den als festtägliches Fernsehereignis angebotenen Programmen – häufig Genreklassiker oder Blockbuster – häufig um »große Erzählungen«, die anlässlich der feierlichen Auszeit im Rahmen einer kollektiven Vision grundlegende Sinnversprechen erneuern und affirmieren104 . Und gerade daher stört sich hier niemand an permanenten, rituellen Wiederholungen des Programms.

103 Das markanteste Beispiel dürfte hier die hartnäckige Repetition des Sketches »Dinner for One« zum festlichen Jahreswechsel sein. Er stellt vermutlich längst den ritualisierten Bestandteil, wenn nicht sogar einen der Höhepunkte vieler Silvesterpartys dar. 104 Dies geschieht auch in Horrorfilmen, die den Kampf des Guten gegen das Böse häufig allerdings nur als vorläufig erfolgreich inszenieren. Das Böse überlebt, wie viele SchlussSequenzen mit zynischer Freude zeigen, immer wieder durch tückische Raffinesse oder fatalen Zufall. Damit aber wird erneut deutlich, dass der Film nicht nur, wie Birgit Recki meint, als genussvoller Überblick, sondern ebenso als überfallender, heimsuchender Alptraum begegnet. Freilich genießen die Zuschauenden auch ihn, das Moment der Heimsuchung aber bleibt für das filmische, besonders aber das Kinoerlebnis so konstitutiv wie das Ereiltwerden durch die Vision, die keineswegs nur als ein souveränes »Verfügen« erfahren wird.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Gegen die bislang vorgebrachten Argumente lassen sich leicht Einwände erheben: Die der Kunst hier prinzipiell attestierte Dynamik ästhetisch kultivierter kultischer Sorge mag vielleicht noch angesichts ihrer Funktion im Rahmen von Festen und Feiern greifbar sein. Dürfen diese Kontexte aber für eine grundlegende Kunsttheorie herangezogen werden, da sich eine moderne, autonom gewordene Kunst eben gerade auch von diesem im Feiern aufgehobenen kultischen Sitz im Leben radikal emanzipiert? Bleiben künstlerische Beiträge im Rahmen von Festen nicht einer letztlich vorautonomen Funktionalisierung des Ästhetischen verpflichtet, so dass sie gerade nicht als repräsentativ für die seit der Moderne sich aus sich selbst begründende Praxis Kunst gelten können? Um diesem brisanten Einwand zu begegnen, ist die ästhetisch kultivierte Geste kultischen Sorgens auch in den Formen öffentlicher Performanz der Kunst jenseits konkreter Feste und Feiern aufzuzeigen, d.h. der abstrakte, ästhetisierende und idealisierende Topos »Kunst als Fest« im Hinblick gerade auf seine existenziellen nichtästhetischen Dimensionen anhand der verschiedenen Kunstformen als vollzogener Praktiken zu konkretisieren. Vor einer entsprechenden Ausdifferenzierung der Untersuchung lohnt jedoch zunächst ein Blick auf die grundlegende Repräsentationsfunktion kultureller Institutionen: Konzerthäuser, Theater oder Galerien verleihen, auch wenn sie nicht mehr im Dienst der Glorifizierung adeliger Machtzentren stehen, den Orten ihrer Präsenz gleichwohl eine Bedeutsamkeit, die sich gerade nicht im rein Ästhetischen erschöpft. Wenn mit Bourdieu dabei auf die sich im kulturellen Feld als ästhetische Fortschreibung ständischer Exklusivität zutragenden sozialen Dynamiken verwiesen, d.h. Kultur als Repräsentation sozialer Hierarchien betrachtet wird, fehlt dieser Analyse ein entscheidendes Element. Denn ein solch soziologischer Blickwinkel legt nicht hinreichend dar, warum Kultur (als vergesellschaftete Kunst) prinzipiell Macht repräsentieren kann bzw. übersieht, dass der mit Kultur verbundene Machtanspruch sich zwar in einem exponierten Gebäude wie etwa der Elbphilharmonie zweifellos monumentaler, teurer und öffentlichkeitswirksamer darstellt, in der Sache aber auf eben jener spezifischen existenziellen Bedeutsamkeit der Kunst gründet, von der auch die Darbietungen in einem alternativen Kulturzentrum leben. Kritische Soziologie verweist mit Recht darauf, dass die repräsentative Potenz der

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

ästhetischen Sache ungleich auf verschiedene Kunstformen verteilt ist. Sie klärt jedoch nicht hinreichend über die Ursache einer repräsentativen Potenz des Ästhetischen überhaupt auf1 . Denn diese gründet darin, dass in der Bedeutsamkeit der Kunst die Bedeutsamkeit kultischer Praxis als einer Praxis spezifischen, existenziellen Sorgens fortlebt. Ein Ort der Kunst ist ein Ort, an dem nicht lediglich Bedeutsames ästhetisch dargestellt und kommuniziert wird, sondern an dem noch in der abstraktesten ästhetischen Form der Impuls einer Intervention in der Welt bzw. des Verkehrens mit ihr mit dem Ziel einer Beeinflussung der Existenzbedingungen wirksam bleibt. Und er ist es grundsätzlich, d.h. unabhängig von seiner sozialen oder medialen Reichweite. Die Elbphilharmonie und das alternative Kulturzentrum differieren hinsichtlich ihrer repräsentativen Potenz daher quantitativ, nicht qualitativ. Erstere sucht einer Metropole Bedeutsamkeit zu verleihen, weil ihre spektakuläre Architektur nicht nur Reichtum symbolisieren und das Stadtbild ästhetisch profilieren will, sondern zugleich den Ort bedeutsamer, ästhetisch kultivierter kultischer Praktiken und die ihn beherbergende Stadt damit zugleich als ein wichtiges (kultisches) Zentrum markieren soll. Eine umgebaute Fabrikhalle und selbst eine versteckte Kleinkunstbühne signalisieren auf ihre ungleich bescheidenere Weise dem öffentlichen Bewusstsein Orte in der Stadt, an denen bedeutsame Praktiken vollzogen werden. Der Reiz und die gleichwohl repräsentative Energie solcher »Subkultur« mag darin liegen, dass dennoch niemand aus der im Vergleich zu als Repräsentativbauten angelegten Kunsttempeln relativen Unauffälligkeit solcher Orte auf eine geringe Kraft des in ihnen Praktizierten zu schließen wagt. Gerade die eher im Verborgenen vollzogenen ästhetischen Praktiken vermögen eine reizvolle Atmosphäre unbestimmter subversiver Kräfte zu erzeugen. Orte der Kunst repräsentieren Orte der Macht und Bedeutsamkeit, weil in ihnen die Macht der bedeutsamen Rituale, Handlungen und Prozeduren ästhetisch kultiviert wird, mit denen Menschen einst ihr Dasein abzusichern trachteten und diese Praktiken jetzt als »Kunst« zelebrieren. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass das Kino, das seinen Ursprung nicht, wie Musik, Theater, Malerei oder Literatur, im Kult, sondern zunächst als Jahrmarktattraktion findet und seinen Kunststatus erst allmählich erlangt2 , über eben diese repräsentative Kraft kaum verfügt (diese kommt nur Filmfestivals zu). Jedes Theater jedoch, jedes Orchester, jede Oper,

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Pierre Bourdieu hat eindrucksvoll gezeigt, wie, ausgehend von Kants Unterscheidung des Schönen und Angenehmen, der reine, nicht durch Bedürfnisse bedrängte Geschmack zum Medium sozialer Distinktion derer wird, deren materielle Bedürfnisse weitgehend befriedigt sind (vgl. Die feinen Unterschiede, S. 81ff.). Eine solch kritische soziologische Analyse des Geschmacks jedoch zielt nicht auf das Herausarbeiten einer spezifischen Geste der Kunst, die ihr vor aller sozialen Distinktion immer schon eigen ist. Vgl. Joachim Paech: Kino. In: Achim Trebeß [Hg.; 2006]: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, S. 192-194.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

jede Galerie, jedes Kabarett und jeder Jazzkeller sind zugleich Insignien einer Bedeutsamkeit, die aus dem besonderen Status des für eine Gemeinschaft wichtigen Ortes kultischer Affirmation und Sorge erwächst. Die eigenartig machtlose Macht der Kunst gründet darin, dass der entmachtete Kult in ihr ästhetisch eine nichtästhetische Bedeutsamkeit beansprucht.

4.1.

Performance und Theater

Für die Untersuchung des Theaters als Praxis erweist sich eine kritische Diskussion der in theaterwissenschaftlichem Kontext von Erika Fischer-Lichte erarbeiteten Ästhetik des Performativen als besonders ertragreich, da sie die Überwindung konventioneller ästhetiktheoretischer Verdinglichung des theatralen Geschehens zu einem Ensemble von Zeichen zugunsten der Betrachtung eines von Akteuren und Zuschauern gemeinsam vorangetriebenen performativen Vollzugs intendiert. Fischer-Lichtes theoretische Konzeption möchte die zunächst anhand theaterbezogener Künste herausgearbeiteten ästhetischen Dynamiken dabei auch als Inspiration für ein performatives Verständnis anderer Kunstgattungen geltend machen3 . Im Folgenden wird versucht, ausgehend von ihren eigenen Beschreibungen die bei Fischer-Lichte profilierte ästhetische Selbstbezüglichkeit der Performance zu problematisieren und sie gerade nicht als selbstreferentielles Ereignis, als bloßen Vollzug von geschehendem Leben, sondern als Poiesis, als kalkuliertes künstlerisches Einwirken zu plausibilisieren. Dafür müssen Unstimmigkeiten in Fischer-Lichtes Ansatz aufgespürt werden, deren Reflexion schließlich einen grundlegend poietischen Charakter der Performance aufdeckt. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich dann auch Konsequenzen für eine Ästhetik des dramatischen Theaters. Wenn die »Ästhetik des Performativen« ihren (ästhetischen) Performativitätsbegriff aus der Sprechakttheorie von John L. Austin ableitet4 , so bedingt bereits dieser Schritt solch grundlegende Unstimmigkeiten. Im Kern handelt es sich dabei um eine Vermengung zweier unterschiedlicher Verständnisse von Selbstbezüglichkeit. »Performativität« erläutert Fischer-Lichte einleitend unter Rekurs auf Austins »Entdeckung, daß sprachliche Äußerungen nicht nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern daß mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden, daß es also außer konstativen auch performative Äußerungen gibt.«5 Verwiesen wird dann auf die berühmten Beispiele, anhand derer Austin dieses Phänomen verdeutlicht – auf die Sprechakte des Taufens und der Erhebung eines Paares in den Stand der Ehe, insofern durch diese

3 4 5

Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 131ff. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 31ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 31.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

eben nicht lediglich »ein bereits bestehender Sachverhalt beschrieben«, sondern »ein neuer Sachverhalt geschaffen«6 wird. »Das Aussprechen dieser Sätze hat die Welt verändert. Denn die Sätze sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen. Das heißt, sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Es sind diese beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren.«7 Fischer-Lichte hebt nun selbst hervor: »Austin verwendet den Begriff des Performativen ausschließlich im Zusammenhang mit Sprechhandlungen«8 , ergänzt dann jedoch: »Nun schließt seine Definition des Begriffs keineswegs aus, ihn auch auf körperliche Handlungen anzuwenden«9 . Doch blendet eben dieser Transfer von der Sprechhandlung auf die körperliche – und damit die im ästhetischen Kontext der Performance maßgebliche – eine markante Differenz aus: Meint »selbstreferentiell« in Bezug auf Austin den performativen Bezug des Sprechens auf seine eigene Aussage, will Fischer-Lichte das Adjektiv nun auf den performativen Vollzug von Handlungen bezogen wissen, die nichts aussagen, sondern deren Bedeutung allein in ihrer ästhetischen Ausund Aufführung liegt10 . Als Beispiel schildert die Autorin eingehend das Erlebnis der primär in Selbstverletzungen der Künstlerin bestehenden Performance »Lips of Thomas« von Marina Abramović11 . Für sie resultiert die eindringliche Wirksamkeit dieser Performance nicht nur daraus, dass Abramović hier qualvolle Handlungen realiter an sich vollzieht, also die Sphäre des Scheins, des Schauspiels als des konventionell dramatisch Theatralen nicht nur durch eine zugleich radikal praktizierte Authentizität durchbricht; im Hinblick auf die Performativität dieses Geschehens ist Fischer-Lichte vor allem wichtig, dass die Selbstverletzungen keine Aussage transportieren wollen, sondern die Zuschauer, durch die blutige Szene ohnehin verstört, zudem mit der irritierenden Wucht eines Rituals treffen, dessen Sinn einzig darin besteht, sich aufzuführen. Anhand dieses und vieler anderer, nicht immer derart radikaler, jedoch immer auf künstlerische Grenzüberschreitungen bedachter Beispiele werden nun die Spezifika einer »Ästhetik des Performativen« entfaltet. Sie liegen in jener Eindringlichkeit und atmosphärischen Dichte einer Performance, die nicht durch theatralisches Spiel Aussagen vermitteln, d.h. nicht 6 7

8 9 10 11

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 32. Ebda. Dass Fischer-Lichte hier gleichwohl von einem Herstellen spricht, verweist auf die Widersprüchlichkeit ihrer Theorie, der, von der Sprechakttheorie in den ästhetischen Kontext transferiert, eine noch zu klärende, spezifische Geste des Machens immanent bleibt, obgleich sie sich andererseits von der Idee souveräner künstlerischer Poiesis zugunsten der durch »Emergenz« (S. 284ff.) gekennzeichneten Sphäre des unabsehbaren Handelns distanzieren will. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 34 (Hervorhebung C.Z.). Ebda. (Hervorhebung C.Z.). Fischer-Lichte, a.a.O., S. 26f. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 9ff.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

offensichtlich künstlerisch fingierte Wirklichkeit als expressives Medium nutzen, sondern die Präsenz selbstreferentieller künstlerischer Akte als intensive Wirklichkeit erfahrbar machen will. Um diese Geste angemessen beschreiben zu können, darf Ästhetik derlei Performances dann freilich auch nicht als ein Zeichengeschehen verstehen. Sie muss sich nicht nur von Vorstellungen eines hermeneutischen Erschließens von Gehalten, sondern letztlich von der Idee einer sich in der Aufführung entfaltenden primär geistigen Dynamik verabschieden. Denn im Grunde manifestiert sich, trotz gekonnter schauspielerischer Verkörperungen von Rollen und aller sinnlicher Momente, die eine Theateraufführung konstituieren, im Senden und Empfangen theatraler Codes in erster Linie ästhetisch kommunizierter Geist. Fischer-Lichte hebt entsprechend die Elemente der »Körperlichkeit«12 , besonders die »leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern«13 , »Räumlichkeit«14 , »Lautlichkeit«15 und »Zeitlichkeit«16 (verstanden dabei nicht als temporale Konstitution narrativen Sinns, sondern als rhythmisch forcierte Präsenz) hervor. Im Falle der Beispiele aus John Austins Sprechakttheorie liegt also ein durch Sprache eindeutig bezeichnetes Was vor, ein Gesagtes, das im Sprechen von diesem und durch es selbst – selbstreferentiell – verwirklicht wird. Bei Fischer-Lichte soll die gleichsam ermächtigende Geste der Handlung jedoch ausschließlich der effektiven selbstreferentiellen Inauguration ihres eigenen Erscheinungsbildes gelten. Liegt die faszinierende Selbstbezüglichkeit der Sprechhandlung in der Wirksamkeit eines Zeichens, besteht sie bei der körperlichen Handlung gerade im Unterlaufen von Zeichenhaftigkeit. Die performative Wirksamkeit des sprachlichen Zeichens ist daher nur hermeneutisch zu erschließen, die der ästhetischen Handlung impliziert gerade eine »Kritik der Hermeneutik«17 . Um nun jedoch zu klären, inwieweit dieser in der »Ästhetik des Performativen« nicht hinlänglich differenzierte Transfer des Performativitätsbegriffes von der Sprechakttheorie auf künstlerische Performances überhaupt plausibel ist bzw. was er bedeutet, müssen die performativen Dynamiken von Sprechakten genauer analysiert werden. Fischer-Lichte spricht hier von einer Herstellung sozialer Wirklichkeit18 – allerdings gehen die Taufhandlung oder die Erhebung in den Ehestand gleichwohl nicht in einem pragmatisch deklarierten Agreement über einen neuen sozialen Sachverhalt auf, sondern beziehen ihre Wirkung aus Restbeständen sprachmagischer Vorstellungen. Das hartnäckige Empfinden einer geheimnisvollen Kraft des Wortes schwingt unauslöschlich mit, auch wenn das aufgeklärte Bewusstsein diese Kraft längst schlicht umgekehrt aus 12 13 14 15 16 17 18

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 129ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 58ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 187ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 209ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 227ff. Mersch, Ereignis und Aura, S. 9. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 32 u. passim.

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der gesellschaftlichen Akzeptanz des Geltungsanspruches solchen Sprechens herleitet. Damit haftet ihm jedoch über die rein soziale Ebene einer intersubjektiven Absprache hinaus immer auch das Element eines magischen Besprechens von Welt an. Und dieses Besprechen von Welt erschöpft sich eben nicht in ästhetischer Selbstreferentialität, sondern sucht, darin in anderer Weise selbstreferentiell als die sprachlose künstlerische Handlung, ein von ihm Bezeichnetes zugleich auf magische Weise zu verwirklichen; d.h. dieses Sprechen konstituiert keine ästhetische Wirklichkeit – als vernehmbare lautliche Evidenz, die sich in ihrer Präsenz selbst genügt –, sondern will durch sein Sprechen die Welt gerade jenseits und über den Moment des Sprechens hinaus durch das konkret Gesagte verändern. Nun muss gefragt werden, inwiefern auch Präsentationen ästhetisch-selbstreferentieller Handlungen, die ja nicht auf etwas zielen, sondern sich selbst bedeuten wollen, »eine weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken«19 können; und wie sie es so können, dass Fischer-Lichte ihre »Ästhetik des Performativen« gar mit einem Kapitel über die »Wiederverzauberung der Welt«20 enden lässt, die sie solchen grenzüberschreitenden künstlerischen Performances resümierend zuschreibt. Die Autorin führt hierzu die verstörten Reaktionen des Publikums, besonders dessen schlussendliche Intervention bei den Selbstverletzungsritualen von Marina Abramović21 an und erläutert: »Künstler [arbeiten] daran, in Aufführungen Menschen Situationen auszusetzen, in denen diese es nicht mehr fertigbringen, sich ausschließlich als Zuschauer zu betrachten und zu verhalten, in denen sie sich zum Eingreifen, zum Handeln aufgerufen fühlen. Indem die Künstler sich selbst das Äußerste zumuten, indem sie bereit sind, die Grenze selbst zu einer tödlichen Gefahr zu überschreiten, nehmen sie die Zuschauer in Verantwortung, lassen sie spüren, daß auch sie Verantwortung tragen, daß sie sich entscheiden und handeln müssen.«22 Dabei jedoch können solche Entscheidungen und Handlungen des Publikums, auch wenn derlei gruppendynamisch forcierte Interventionen ohne Zweifel eine durch künstlerische Grenzüberschreitung provozierte »soziale Wirklichkeit« darstellen, kaum als »Wiederverzauberung der Welt« bezeichnet werden; vor allem auch deshalb nicht, weil ja das engagierte Eingreifen des Publikums gerade – wie im Falle von Abramovíc – ein ihm unerträglich gewordenes, geheimnisvoll makabres Szenario beendet. Wenn »Verzauberung« nach Fischer-Lichte »im Kern aus der Selbstreferentialität, als Befreiung von Verstehensleistungen, als Enthüllung der ›Eigenbedeutung‹ von Mensch und Dingen [entsteht]«23 , so stellt die Errettung 19 20 21 22 23

Fischer-Lichte, Performativität, S. 38. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 315ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 9f. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 299. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 325.

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der Künstlerin aus der selbstreferentiellen Tortur gerade Widerstand gegen diese ästhetische Strategie dar. Das Mitgefühl mit der Künstlerin erwächst ja aus einem alltäglichen Bewusstsein, das Handlungen in einen verstehenden Sinnkontext einordnet und deshalb dazu drängt, dem »sinnlosen« Leid der Protagonistin ein Ende zu setzen. Der »Zauber« der Performance kann also nicht in der »Konstitution« einer »sozialen Wirklichkeit« liegen, im Rahmen derer der ästhetische Bann gerade gebrochen wird. Er muss in den unverständlichen, selbstreferentiellen ästhetischen Handlungen gründen, als die sich die Interventionen des Publikums, die auf ihn in verständlicher Weise reagieren, gerade nicht qualifizieren lassen. Ort der von Fischer-Lichte ausgemachten »Wiederverzauberung der Welt« ist daher nicht die konstituierte »soziale«, sondern eine »ästhetische Wirklichkeit«24 , wobei deren bedeutsame Intensität dann eben in jenen Momenten der Materialität und Körperlichkeit gründet, die Fischer-Lichte einer »Ästhetik des Performativen« als zentrale Parameter plausibel zuordnet. Die Sphären des Ästhetischen und Sozialen sind hier gerade nicht »untrennbar miteinander verknüpft«25 , sondern lassen sich – anders als die Autorin meint, wenn sie sich gegen eine »dichotomische[] Gegenüberstellung von Aufführung als einem ästhetischen Prozeß und sozialen Ereignis« ausspricht26 – durchaus unterscheiden: Bei »Aushandlungsprozessen«27 unter den reagierenden Zuschauenden bzw. bei durch künstlerische Handlungen provozierten Interventionen wäre eher von einer sozialen Wirklichkeit zu sprechen. Denn derlei Aushandlungen oder Reaktionen stellen selbst ja keine von »Verstehensleistungen« befreiten selbstreferentiellen Handlungen mehr dar, sondern verdanken sich gerade einem hermeneutischen Transfer des Ästhetischen in die vertraute (soziale) Logik von Beurteilungs- und Kommunikationsprozessen. »Aushandeln« lässt sich nur etwas, auf das sich alle gemeinsam beziehen können bzw. worüber sich streiten oder ggf. Konsens erzielen lässt. Eine solche sich entfaltende soziale Dynamik könnte möglicherweise dann für das »Ästhetische« reklamiert werden, wenn sie sich noch innerhalb bzw. als Teil einer künstlerischen Performance vollzieht, diese also nicht unterbricht oder beendet. Das ändert aber nichts daran, dass sich referentiell auf Eindrücke, Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen bezogene Kommunikation bzw. auch ethisch motivierte Intervention grundsätzlich von Handlungen unterscheiden, die nur sich selbst bedeuten wollen (und dass gerade für diskursive Aushandlungsprozesse und den Austausch von Argumenten »leibliche Ko-Präsenz« weit weniger ausschlaggebend ist als im Kontext der Erfahrung sensorisch dichter ästhetischer Selbstbezüglichkeit). Wo nun aber, wie etwa in den blutigen Aktionen von Hermann Nitsch,

24 25 26 27

Fischer-Lichte, Performativität, S. 45. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 68. Ebda. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 66.

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Zuschauer selbst Teilnehmende an einem Geschehen sind, das als rituelles Mahl inszeniert ist28 , partizipieren sie auch an den selbstbezüglichen Handlungen, die für Fischer-Lichte einen Zauber des Performativen bedingen. Hier wird dann eine primär »ästhetische Wirklichkeit« erzeugt, d.h. die Performance zwar gemeinsam vollzogen, das soziale Element der rituellen Mahlgemeinschaft von der suggestiven ästhetischen Intensität des provokanten Rituals jedoch klar bestimmt und gelenkt. »Verzaubern« kann die Performance vor allem da, wo sie das Soziale als das Ästhetische affirmierende Kollektiv, weniger jedoch als es problematisierendes diskursives Forum profiliert29 . Wie aber kann nun eine solche »ästhetische Wirklichkeit« das Potential einer »Wiederverzauberung der Welt« entfalten? Solche »ästhetische Wirklichkeit« kann dann nicht einfach die evidente Faktizität der künstlerischen Präsentation selbst meinen. Um eine »weltverändernde Kraft«30 entfalten zu können, muss die Performance mehr und anderes sein als die bloße Zurschaustellung ästhetisierter Handlungen um ihrer selbst willen. Denn dann wäre nicht einsichtig zu machen, inwiefern rein ästhetisch intendierte und wahrgenommene Präsentationen notwendig ontologische Dynamiken entfalten. Sie könnten auch schlicht zur Angelegenheit des Geschmacks mutieren, d.h. mit dem Habitus des kantischen »interesselosen Wohlgefallens« bzw. im Falle etwa der Selbstverletzungen von Marina Abramovíc oder der Exzesse von Hermann Nitsch als radikalisierte Verstöße gegen Geschmack rezipiert werden. Performances gelten Fischer-Lichte jedoch nirgends als bloße Angelegenheit des Geschmacks, ebenso wenig wie ästhetische Selbstbezüglichkeit ihr zufolge offensichtlich mit Ästhetizismus gleichgesetzt werden kann31 . Um als selbstbezügliche ästhetische Handlung in gleicher Weise wie die performative Sprechhandlung »wirklichkeitskonstituierend«32 zu erscheinen, muss die performative Handlung, auch wenn sie keinen Bezug auf eine Bedeutung besitzt, gleichwohl Bedeutsamkeit ausstrahlen und die Geste der Inauguration eines Unbestimmten vollführen, d.h. sie muss, wie Fischer-Lichte selbst formuliert, eine »wie auch immer geartete [!] […] Transformation«33 bewirken. Besonders aufschlussreich ist hier der in der »Ästhetik des Performativen« erfolgende Rückgriff auf Termini aus der Ritualforschung. Diese interessieren die Autorin dabei, herausgelöst aus 28 29 30 31

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Vgl. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 88f. Entsprechend würde dieser (moralisch indifferente) Zauber auch dort affirmiert, wo sich das Publikum etwa an Selbstverletzungen von Künstlern beteiligt, statt sie zu beenden. Fischer-Lichte, Performativität, S. 39. Daher verwahrt sich Fischer-Lichte auch gegen diese Möglichkeit: »In Zeiten einer ständig weiter um sich greifenden Ästhetisierung der Lebenswelt, unter den Bedingungen einer Spaß- und Eventkultur stellt ›uninteressiertes und freies Wohlgefallen‹ ganz sicher nicht die geeignete Empfindung dar, um das Subjekt in einen Schwellenzustand zu versetzen« (Ästhetik des Performativen, S. 341). Fischer-Lichte, a.a.O., S. 27. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 34 (Hervorhebung C.Z.).

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ihren konkreten, ethnologisch bzw. hermeneutisch zu erhellenden Bedeutungszusammenhängen, rein aufgrund einer ästhetischen Qualität. So appliziert sie u.a. die von Victor Turner bzw. Arnold van Gennep entwickelten Begriffe der »Liminalität« und der »Schwellenerfahrung« auf die atmosphärische Dichte und Intensität »selbstbezüglicher« künstlerischer Performances34 . Ähnlich wie die ästhetische Performance vom performativen Sprechakt die formale Geste einer Inauguration übernimmt, lebt in der eigenartigen Eindringlichkeit ihrer Selbstreferentialität die »transformative Kraft«35 des Rituals weiter. Allerdings sind dort ebenfalls alle Referenzen auf seinen ursprünglichen Sitz im Leben – als kultische Initiation von Übergängen in neue Lebensphasen, eines veränderten sozialen Status, einer Heilungsprozedur o.ä. – zugunsten der »ästhetische[n] Erfahrung […] der Schwelle […] als solcher«36 ausgeblendet, denn »bei ästhetischer Erfahrung geht es um die Erfahrung der Schwelle, des Übergangs, der Passage als solcher, den Prozeß der Vewandlung, bei nicht-ästhetischen Schwellenerfahrungen dagegen um den Übergang zu etwas, die Transformation in dieses oder jenes.«37 Mit dieser Ästhetisierung des der Ritualforschung entlehnten Schwellenbegriffs ist nun freilich eine Referenz, das Wohin der Schwelle, gleichwohl nicht einfach eliminiert, wohl aber unbestimmt und ungewiss. Und spätestens hier wird deutlich, dass die performative Verzauberung der Welt durch die künstlerische Aufführung entgegen Fischer-Lichtes eigene Beschreibung gerade nicht aus einer in der Selbstbezüglichkeit des Ästhetischen manifesten Fülle der Präsenz, mithin nicht einer »Enthüllung der »Eigenbedeutung« von Mensch und Dingen«38 entspringt, sondern sich der Atmosphäre einer in und mit der ästhetischen Präsenz von Gesten und Handlungen zugleich vollzogenen, jedoch unbestimmten Intervention, Anrufung, Initiation verdankt. Die performativ präsentierte »Eigenbedeutung von Mensch und Dingen« erschöpft sich keineswegs in ihrer rein sinnlich-ästhetischen Qualität, sondern verleiht dieser Qualität auf irritierende Weise die Aura nichtästhetischer Wirksamkeit, ohne auf konkrete Wirkungen oder Bedeutungen zu verweisen. Die »Ästhetik des Performativen« appelliert damit letztlich an magische Vorstellungen, wiewohl Fischer-Lichte selbst den plakativen Topos von der »Wiederverzauberung der Welt« im Sinne einer erweiterten Aufklärung und damit auch den heiklen Begriff der »Magie« anders verstanden wissen will. Ihr geht es nicht um exklusive Praktiken mit dem Ziel einer Einwirkung auf die Welt, sondern um eine grundlegende kritische Dekonstruktion »dichotomische[r] Begriffspaare«39 , deren fragwürdigstes für sie die Antithese von Kunst und Leben darstellt. Die »Ästhetik des Performativen« erweist sich ihr zufolge »als 34 35 36 37 38 39

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 305ff. Fischer-Lichte, Performativität, S. 51. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 349 (Hervorhebung C.Z.). Ebda. (Hervorhebungen original). Fischer-Lichte, a.a.O., S. 325. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 357.

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Wirken einer ›neuen‹ Aufklärung: Sie ruft den Menschen nicht zur Beherrschung der Natur – weder seiner eigenen noch der ihn umgebenden – auf oder treibt ihn dazu an, sie ermutigt ihn vielmehr zu dem Versuch, zu sich selbst und der Welt in ein neues, nicht vom Entweder-oder, sondern vom Sowohl-als-auch bestimmtes Verhältnis zu treten – sich im Leben aufzuführen wie in den Aufführungen der Kunst.«40 Insofern Performancekunst keinen ästhetischen Schein produziert, sondern in radikaler Weise Situationen und Konstellationen provoziert, in denen Künstler mit anderen Menschen auf authentische Weise gemeinsam Grenzerfahrungen durchleben, sondert sie eben nicht vom Leben die Exklave »Kunst« ab, sondern stellt Vollzugsformen des Lebens selbst dar: »Sie [die Ästhetik des Performativen, C.Z.] weist Aufführungen nicht als Sinnbild und Abbild menschlichen Lebens aus, sondern als das menschliche Leben selbst und zugleich als sein Modell. Es ist das Leben jedes einzelnen an ihr Beteiligten, das sich in ihr abspielt, und zwar buchstäblich und nicht nur in einem metaphorischen Sinn. Tiefer als in einer Aufführung kann sich Kunst wohl kaum auf das Leben einlassen, weiter als hier sich ihm wohl kaum annähern.«41 Allerdings sind, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, Performances keineswegs bloß ästhetische Rahmungen gelebten Lebens, sondern kunstvoll hergestellte Ausnahmesituationen. Im Übrigen wäre gegen Fischer-Lichtes Argumentation geltend zu machen, dass sich nicht nur in experimentellen Aufführungen, sondern auch in jedem konventionell kunsthaften Singen, Malen oder Dichten nichts anderes vollzieht als das gelebte Leben der Singenden, Malenden oder Dichtenden. Die dabei gelebte Praxis des Singens, Malens oder Dichtens bzw. die ihres rezeptiven ästhetischen Erfahrens ist aber, als feierliches kultisches Sorgen, eine ebenso besondere, nichtalltägliche Lebenspraxis wie das Aufführen oder Miterleben von Performances. Wenig plausibel erscheint zudem, dass Fischer-Lichte »Leben« offenbar primär mit den der »Ästhetik des Performativen« von ihr assoziierten Elementen der Körperlichkeit und Materialität identifiziert. Denn sowenig sich Leben in Geistigkeit erschöpft, sowenig ist es auch ein »antihermeneutischer« Prozess, sondern drängt die Lebenden zu fortlaufendem Bemühen um ein Verstehen ihrer Existenz. Eine Sache ist es, Kunst als Inspiration zur kritischen Reflexion von Verstehensoperationen zu begreifen. Ihr hat sich die philosophische Ästhetik als Erkenntniskritik seit jeher angenommen. Eine andere Sache ist es jedoch, Verstehen ästhetisch suspendieren und eben dadurch das »Leben« treffen zu wollen. Ein zentraler Begriff Fischer-Lichtes in der argumentativen Darlegung ihrer These eines performativen Zusammenfalls von »Kunst und Leben« ist der des »Ereignisses«42 . Das Ereignis als Inbegriff dessen, was sich nicht inszenatorisch planen und festlegen lässt, sondern was als das im Voraus stets Unkalkulierbare, in

40 41 42

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 362 (Hervorhebung original). Fischer-Lichte, a.a.O., S. 360. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 281ff.

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der Aufführungssituation sich im Interagieren aller Beteiligten je Entwickelnde einer Performance erst ihre konkrete, flüchtige, unwiederholbare Gestalt gibt, sperrt sich dabei gegen die traditionelle ästhetische Vorstellung von Kunstschaffenden als souverän Verfertigenden wie von Kunst als eines in Form definiter, verdinglichter Werke in Erscheinung tretenden Phänomens. Indem sich Performancekünstler bewusst einer »Ereignishaftigkeit von Aufführungen«43 verschreiben und statt eines Kunstwerkes einen (provokanten) inszenatorischen Rahmen schaffen, der im konkreten Vollzug mit allen Beteiligten und v.a. mit dem Publikum mit unkalkulierbarem »Leben« gefüllt werden muss, konstituieren sie durch das Brennglas der Kunst transitorische Phasen sich ereignenden Lebens, statt Kunstobjekte zu kreieren. Fischer-Lichte verknüpft den Begriff des »Ereignisses« zudem mit »Emergenz« und der durch die »leibliche Ko-Präsenz«44 von Künstler und Publikum bedingten »autopoietischen Feedback-Schleife«45 . Letztere stellt ihr zufolge den dynamischen Motor des durch die unvorhersehbaren, ästhetisch provozierten wechselseitigen Reaktionen, Aktionen und Beeinflussungen aller Beteiligten sich prinzipiell unplanbar entwickelnden Geschehens dar. Insofern die Künstler aber immerhin den ästhetischen Rahmen schaffen und der Rahmen allen Beteiligten gewisse Entscheidungsspielräume garantiert, verbleiben alle an der Performance Teilhabenden gleichwohl Subjekte. Allerdings sieht Fischer-Lichte hier das Modell eines »neue[n] Menschen- und Gesellschaftsbild[es]« wirksam, das die »Vorstellung vom autonomen Subjekt« überwindet, indem es »den Künstler wie generell alle Beteiligten […] als ein Subjekt voraus[setzt], das immer sowohl andere/s bestimmt als auch sich von anderen/m bestimmen läßt«46 . Nun bedeutet diese von FischerLichte im Kontext der ereignishaften Aufführung formulierte Dialektik freilich, wie auch die Autorin an anderer Stelle selbst zugesteht, schlicht eine unausweichliche Grundverfasstheit der sozialen Existenz des Menschen47 . Die »autopoietische Feedbackschleife« ist, insofern sie die Dynamik der letztlich immer unabsehbaren Konsequenzen subjektiver Intentionen meint, die als im intersubjektiven Feld realisierte Handlungen unweigerlich reziproke Impulse und Reaktionen im von vielen Akteuren gesponnenen »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten«48 zeitigen, nichts anderes als eine Umschreibung geteilten Daseins. Sie »ereignet« und re-

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48

Fischer-Lichte, Performativität, S. 67f. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 58ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 284ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 287. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 292: »So ist die Erfahrung, daß man über Abläufe und Geschehnisse, in die man involviert ist, nicht frei verfügen, daß man sie wohl bis zu einem gewissen Grad bestimmen kann, aber auch von ihnen bestimmt wird, wohl als eine alltägliche, gewöhnliche, wenn nicht gar triviale Erfahrung zu bezeichnen.« Arendt, Vita activa, S. 222ff.

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produziert sich in jeder Begegnung, jedem Gespräch, jeder Handlung49 und noch im alltäglichsten Gang durch die Straßen, dessen Zielstrebigkeit sich immer einer Fülle von den Weg kreuzenden oder begleitenden Personen aussetzt, sich dadurch modifizieren lässt oder den Gang anderer beeinflusst. Damit freilich scheint die Ereignishaftigkeit des alltäglichen Lebens, das stets von »Emergenzen« durchwirkt ist und sich in einer permanenten »autopoietischen Feedbackschleife« mit anderen Menschen vollzieht, Fischer-Lichtes These von einer performativen Kongruenz des sozialen Lebens mit den von ihr beschriebenen experimentellen künstlerischen Aufführungen gerade zu bekräftigen. Allerdings ergibt sich aus dieser offensichtlich triftigen Kongruenz zugleich eine prekäre Rückfrage an die »Ästhetik des Performativen«: Warum braucht es dann überhaupt noch künstlerische Aufführungen? Denn anders als in den Versuchen einer Ästhetisierung der Existenz bei Foucault oder einer Transformation des alltäglichen Lebens in den ästhetischen Rausch der Kunst bei Nietzsche könnte hier dann umgekehrt von einem Aufgehen des Ästhetischen im alltäglichen Leben gesprochen werden. Jeder Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln z.B. könnte der Charakter einer experimentellen Performance zugesprochen werden, weil die kontingente Konstellation der mitfahrenden Personen permanent Raum für Emergenzen und die dynamische Entwicklung einer autopoietischen Feedbackschleife bereithält. Dazu bedürfte es keiner spektakulären Grenzsituationen, Exzesse oder Selbstverletzungen, da noch der kleinste schüchterne Blick auf einen anderen Menschen und dessen verschämte, ärgerliche oder freundliche Reaktion eben diese Feedbackschleife in gleicher Weise vorantreibt und die gleichzeitige Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit des Lebens – mithin seinen Zauber – erfahrbar macht. Fischer-Lichte ist sich dieses prekären Problems durchaus bewusst und versucht es durch den Verweis auf die Haltung zu lösen, die in künstlerischen Aufführungen eingenommen wird: »Es ist der nicht-alltägliche Zustand einer permanent erhöhten Aufmerksamkeit, der sie [die Alltagserfahrungen, C.Z.] in Komponenten der ästhetischen Erfahrung verwandelt.«50 Nun macht auch diese Haltung, die ja ebenso gut zu jeder alltäglichen Begebenheit in der Öffentlichkeit eingenommen werden kann, den spezifischen Sinn von Kunst noch nicht plausibel. Fischer-Lichte müsste, was mit Hilfe ihrer Argumentation nicht gelingt, dafür zeigen, dass Kunst und alltägliches Leben performativ zwar zusammenfallen, gleichwohl aber nicht so, dass erstere dabei überflüssig wird. Aus diesem Dilemma befreit nur die Einsicht in eine konstitutive Differenz, die die Kunst 49

50

Hannah Arendt hat diese soziale Grundbedingtheit des (bei ihr allerdings an die Sprache geknüpften) Handelns mit dem schönen Begriff der »Geschichte« bezeichnet: »Das ursprünglichste Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen« (a.a.O., S. 226). Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 294.

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– und gerade auch die experimentelle Performancekunst – gegenüber dem alltäglichen Leben auszeichnet. Der gravierende Unterschied zwischen den Ereignissen bzw. Emergenzen des Alltags und denen der Kunst besteht ja darin, dass erstere als unvermeidbare Gegebenheiten akzeptiert, aber nicht heraufbeschworen werden, wohingegen sie in der künstlerischen Performance bewusst intendiert sind. Das Alltagsbewusstsein muss bei der Umsetzung seiner Intentionen in Handlungen immer mit unerwarteten Wendungen rechnen und wird dies in der Regel auch tun. Etwas anderes allerdings ist es, Emergenzen gezielt herbeiführen zu wollen, wie dies in Performances geschieht; – freilich nicht als Kalkulation eines bestimmten Ereignisses, wohl aber als Forcierung des Eintretens von Ereignissen überhaupt. Das aber heißt nichts anderes, als dass, entgegen Fischer-Lichtes These, Performancekünstler keineswegs die Postion des Machens, der Poiesis aufgeben. Gewiss sind sie nicht in der Lage, konkrete Wendungen der »autopoietischen Feedbackschleife« vorauszuplanen. Aber sie beabsichtigen mit den von ihnen inszenierten, sehr bewusst kalkulierten Settings Konstellationen, denen Menschen nicht entkommen können und beanspruchen damit letztlich mehr Macht als Kunstschaffende, die das Publikum in konventioneller Weise mit ihren Werken zwar beeindrucken wollen, Aufmerksamkeit und intensive Teilhabe dabei jedoch niemals zu erzwingen vermögen. Performancekünstler avancieren damit zu Architekten des totalen ästhetischen Zugriffs. So schreibt Fischer-Lichte über Richard Schechners Performance Commune, bei der »die Performer […] einen gewissen Druck auf die Zuschauer ausübten, sie durchaus zu manipulieren, ja zu zwingen suchten« : »Den […] Zuschauern wird [hinsichtlich der aktiven Partizipation, C.Z.] zwar eine Reihe von Alternativen eröffnet, die jedoch alle den Zuschauer zum Akteur machen würden – auch wenn er bleibt, wo er ist, wird er zum Verantwortlichen für die Unterbrechung der Performance. Die Alternative, […] weiter als Zuschauer die Handlungen der Performer zu beobachten, ohne sich selbst zu exponieren, wird ihm verwehrt.«51 Eine ähnliche Konstellation ergibt sich etwa bei John Cages vielzitiertem Stück 4’33”, bei dem es dem Publikum unmöglich gemacht wird, sich nicht zu beteiligen: Jegliche Form des Verhaltens während des Schweigens der Instrumente – das positiv angespannte wie das gelangweilte Stillhalten, jedes verursachte Geräusch und selbst noch die demonstrative Missfallenskundgebung oder das empörte Verlassen des Saales werden unweigerlich Teil der als akustische Situation konzipierten Musik und affirmieren die geniale Idee ihres »Schöpfers«. Gegen solch selbstbewusste ästhetische Totalintegration noch des erbittertsten Widerstandes in das eigene künstlerische Konzept nehmen sich die konventionellen Versuche vormals angeblich »gottähnlich schaffender« Kunstproduzenten52 , mit ihren »Werken« das Publikum zu beeinflussen, vergleichsweise bescheiden aus. Während im alltäglichen Leben kon51 52

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 65. Vgl. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 285.

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tingent eintretende Ereignisse bzw. Emergenzen die Intentionen der Handelnden modifizieren und pragmatisch bewältigt werden müssen, stellt sich der Bereich der künstlerischen Performance als einer dar, der im Rahmen einer eigens dafür ersonnenen Situation Ereignisse und Emergenzen gezielt und willentlich hervorbringt. Der Alltag muss mit Ereignissen rechnen, die Kunst ruft sie herbei. Sie ist also nicht nur durch den ihr geltenden »nicht-alltäglichen Zustand einer permanent erhöhten Aufmerksamkeit« für eine die menschliche Existenz grundlegend qualifizierende Ereignishaftigkeit gekennzeichnet, sondern stellt vielmehr eine spezifische, nichtalltägliche Praxis dar, die Ereignisse selbst heraufbeschwört. Und eben in dieser Praxis lebt die Strategie einer magischen Handlung fort, die dem existenziellen Ausgeliefertsein an die Kontingenz von Ereignissen Herr zu werden versucht, indem sie sie explizit herbeizitiert, sie willentlich ästhetisch initiiert und über ihr Ende zu entscheiden sucht: Denn selbst die scheinbar reduzierten Möglichkeiten der künstlerischen Intervention, die z.B. darin bestehen, dass der Protagonist »sich lediglich vorbehalten kann, die Aufführung zu einem bestimmten Zeitpunkt, den er wählt [!], für beendet zu erklären«53 , verweisen noch auf den Machtanspruch der Künstler: Niemand wäre in der Lage bzw. könnte die Autorität beanspruchen, den Dynamiken der sich im alltäglichen Leben jenseits der Kunst sozial permanent reproduzierenden Feedbackschleifen per Dekret ein willkürliches Ende zu setzen. Die Performance ist auch nur bedingt eine »Laborsituation«54 . Denn das Laborexperiment versteht sich als Praxis, Wirklichkeit mittels exemplarisch initiierter Situationen zu erforschen und Wissen über sie zu generieren, nicht aber als eine, die, wie die künstlerische Performance, Wirklichkeit selbst als singuläres, präsentisches Geschehen unmittelbar im Vollzug konstituieren will. Insofern übersteigt der ontologische Anspruch des Ästhetischen hier den analytischen des Labors bzw. der Anspruch ästhetischer »Konstitution von Wirklichkeit«55 den der wissenschaftlich explizierenden Konstruktion von Wirklichkeit (und der technischen Veränderung des bereits irgendwie Gegebenen). Die ästhetische Geste eines reinen Geschehenlassens von Wirklichem aber, in deren scheinbarem Kontrollverzicht sich zugleich die souveräne Macht artikuliert, Geschehen als alles bedingende ontologische Grunddynamik überhaupt herbeizuführen, intensiviert noch die säkularisierten schöpfungstheologischen Implikationen, die Fischer-Lichte allein der traditionellen Werk- und Genieästhetik attestiert56 . Performancekünstler machen damit nicht den bloßen Vollzug des Lebens als intensive Präsenz erfahrbar, sondern beanspruchen die Macht, im Rahmen besonderer Settings auf Leben und Welt einzuwirken. Ginge es tatsächlich allein um 53 54 55 56

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 285f. (Hervorhebung C.Z.). Mit diesem Begriff versucht Fischer-Lichte, die Performance als ein ästhetisch gerahmtes soziales Experiment zu charakterisieren (Ästhetik des Performativen, S. 300). Fischer-Lichte, a.a.O., S. 18f. (Hervorhebung C.Z.) u. passim. Vgl. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 281.

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die Intensität des Ereignishaften, wäre schlicht auf die Fülle der permanenten Ereignisse im alltäglichen sozialen Umfeld oder auch in der Natur zu verweisen, die einer intensiven Wahrnehmung, mithin dem »nicht alltäglichen Zustand einer permanent erhöhten Aufmerksamkeit« jederzeit offenstehen. Gleichwohl wollen sich die Performances damit nicht begnügen, sondern beharren stattdessen auf speziell ersonnenen, ausgeklügelten und differenziert durchdachten Arrangements, Praktiken und Techniken, um Ereignisse kunstvoll ins Leben zu rufen. Performancekünstler sind Meister des Geschehenlassens, gebieten den Ereignissen, die sie bewusst heraufbeschwören, indem sie ihnen in souveräner Entscheidung Raum geben (und wieder nehmen). Das Unverfügbare des Ereignisses fügt sich in eine planvolle ästhetische Strategie ein und wird zum Phänomen, mit dem sich umgehen lässt. Die Bedrohung des Lebens durch absolute Kontingenz wird relativiert, indem Performer Ereignisse nicht nur bewusst eintreten lassen, d.h. sie letztlich der Macht spezifischer menschlicher Praktiken unterstellen, sondern diesen Ereignissen zugleich ästhetisch Sinn abgewinnen. Performances sind, als Praktiken kultischer Sorge, nicht Praktiken der Präsenz, sondern des Einwirkens. Nur mit diesem implizit aufrechterhaltenen, ja intensivierten Anspruch einer Wirksamkeit in der Welt lässt sich auch der von Fischer-Lichte vehement vertretene Anspruch einer »transformativen Kraft des Performativen« plausibilisieren: als in der befremdlichen Selbstbezüglichkeit des Ästhetischen implizit manifeste Beschwörung, nicht als »Verzauberung« der Welt durch eine ästhetisch gewahrte «Eigenbedeutung« von Mensch und Dingen«57 . Und nur dann ist der Transfer von der performativen Sprechhandlung auf die performative ästhetische Handlung schlüssig, wenn letztere sich nicht als eine ästhetische Feier der Präsenz in ihrer »Eigenbedeutsamkeit« versteht, sondern durch diese Präsenz, wie das performativ gesprochene Wort, Zukunft verändern will. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Fischer-Lichte in ihren jüngsten Publikationen den Fokus von einer performativen Präsenz des Ästhetischen, von einer scheinbaren »Selbstbezüglichkeit« hin auf die Zukunft als den Ort verlagert hat, dem die transformative Kraft des Performativen letztlich gilt58 . Die »Magie« der Kunst liegt, und darauf verweist die »Ästhetik des Performativen« gegen ihre eigene Intention, letztlich nicht darin, dass sie ihre Kunsthaftigkeit auf irritierende Weise transzendiert und eine neue, Kunst und Alltag versöhnende Wirklichkeit stiftet, sondern darin, dass sie als eine besondere Praxis auf den gegebenen Alltag einwirkt. Auch wenn die »Ästhetik des Performativen« die Kunst als ein »Modell« für Leben überhaupt qualifizieren möchte59 , bekräftigt sie letztlich den exklusiven Charakter der künstlerischen Praxis, die sich freilich nicht

57 58 59

Fischer-Lichte, a.a.O., S. 325. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann [Hgg.; 2013]: Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung. München: Wilhelm Fink. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 360.

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jenseits des Lebens abspielt, aber zu seinen alltäglichen Vollzügen doch in einer prinzipiellen Differenz verbleibt. Wie wichtig diese Differenz ist, belegen die von Fischer-Lichte dabei selbst angeführten eindrucksvollen Beispiele, bei denen »der Übergang von der Alltagswelt in die Aufführung, die Trennung des Zuschauers von seinem vertrauten Milieu und der Eintritt in die Aufführung«60 durch spezielle Übergangsrituale begleitet wird61 . Und diese Differenz zeigt sich eben darin, dass die performativen Praktiken des alltäglichen Lebens in der Tat permanent Wirklichkeit selbst konstituieren, wohingegen künstlerische Aufführungen durch ein ästhetisch Beschworenes auf sie einwirken. So ist etwa »Geschlechtsidentität eine spezifische Form des Handelns oder des Vollzugs«62 , die das alltägliche Leben der entsprechend Handelnden bzw. eine entsprechende Identität vollziehenden unaufhörlich und überall grundiert. Die künstlerische Performance jedoch stellt gerade keine fortlaufende Grundierung des Lebens dar, sondern unterbricht, als besondere Praxis, zu besonderen Zeiten und an besonderen Orten, den Alltag. Bezogen auf die alltäglichen performativen Praktiken, das kontinuierliche sich und sich miteinander Aufführen, »[lässt sich] [d]ie Logik des Performativen […] als eine öffentlich operierende Strukturierung im Vollzug beschreiben«63 . Sie differiert damit, selbst wenn diesen alltäglichen Praktiken bis zu einem gewissen Grad auch ein Beschwören des in ihnen und durch sie permanent Vollführten attestiert werden könnte, als Komplexität des sich Tag für Tag reproduzierenden Lebens mit seiner Fülle sich unwillkürlich ergebender »Geschichten« (Arendt) doch deutlich von dem (feierlichen) Akt der planvollen künstlerischen Herbeiführung (und Beendigung) von konzentriertem Geschehen durch Künstler64 . Vermag auch die »Ästhetik des Performativen« damit nicht die Kunsthaftigkeit der Kunst abzustreifen, verbleibt sie damit andererseits, so sehr sie auch den performativen Akt fokussiert, dem traditionellen Modell der Ästhetik als Erkenntniskritik und damit der Ästhetik als einer Domäne

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62 63

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Fischer-Lichte, a.a.O., S. 311. »Schechner entwarf […] eine spezielle Einlaßzeremonie (jeder mußte einzeln und allein über einen halbdunklen Gang sich in den Theaterraum hineinbegeben) und ein spezifisches Inkorporationsritual […]. Bei Ruckerts Secret Service wurde die Trennung vom alltäglichen Leben und der Übergang in die Aufführung dadurch vollzogen, daß ein Mitglied der Truppe dem Besucher eine Augenbinde anlegte und ihn an seiner Hand in den Aufführungsraum geleitete, mit ihm zusammen die Schwelle überschritt [!]« (ebda., Hervorhebung original). Judith Butler: Von der Performativität zur Prekarität. Übersetzt von Kristiane Hasselmann. In: Fischer-Lichte, Hasselmann: Performing the Future, S. 27-40, hier S. 28. Jörg Volbers: Zur Performativität des Sozialen. In: Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers [Hgg.; 2011]: Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld: Transcript, S. 141-160, hier S. 148. Das Bild von der Welt als Theater mag reizvoll sein, dispensiert aber nicht von einer genauen Differenzierung sozialer und ästhetischer Bühnen bzw. der mit diesen Bühnen jeweils verbundenen Praktiken.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

des Theoretischen verhaftet. Es geht ihr um das »Wirken einer ›neuen‹ Aufklärung«65 , um Widerstand gegen die »Beherrschung der [inneren und äußeren] Natur«66 , um eine »Destabilisierung von Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmung«67 mit dem Ziel einer »Neuorientierung« der »Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung«68 , also um den traditionellen erkenntniskritischen Impuls der Kunst, der ihr seit dem Entstehen einer »Ästhetik« – am prominentesten wohl von Adornos „Ästhetischer Theorie“ (die zugleich eine ästhetische Sensibilisierung von Theorie sein möchte) – immer wieder zugeschrieben wird. Wenn Performances jedoch Praktiken kultischer Sorge bzw. intendierter ästhetischer Einwirkung auf die Welt künstlerisch zelebrieren, was bedeutet dies dann für das Verständnis des dramatischen Theaters? In Fischer-Lichtes jüngeren Publikationen ist nicht nur die Profilierung ästhetischer Präsenz zugunsten ästhetischen Eingreifens, d.h. einer genuinen Zukunftsbezogenheit des Performativen relativiert. Zudem rücken auch Formen dramatischen Theaters ins Zentrum des Interesses. So wird nun die dem Zukünftigen geltende transformative Kraft des Performativen ausschließlich anhand solch dramatischen Theaters, hier der intensiven Wirkungen vor allem des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, plausibilisiert69 . Damit aber verflüchtigt sich der Anspruch einer »Ästhetik des Performativen« nicht nur zur Rezeptionspsychologie, sondern auch die zuvor noch fokussierte »Selbstbezüglichkeit« der performativen Akte spielt keine Rolle mehr. Denn die (psychologischen) Wirkungen entzünden sich, etwa als Rührung und Mitleid, ja gerade an den dargestellten tragischen Inhalten der Stücke und sind damit nicht auf die performativen Experimente mit Handlungen, die nur um ihrer selbst willen aus- und aufgeführt werden, übertragbar. Im Kontext des »bürgerliche[n] Ideal[s] der Tränen- und Rührseligkeit«70 stellt sich die Wirkung also gerade nicht als Folge eines Verzichts auf »Verstehensleistungen« ein, sondern als Reaktion auf eine vom Autor des Stückes ersonnene, narrativ und erzähllogisch entfaltete Dramatik. Gewiss mag die gekonnte und effektvolle schauspielerische Verkörperung der Rollen hier einen entscheidenden Einfluss ausgeübt haben, es bleibt gleichwohl im Kern der Plot einer hermeneutisch zu erschließenden tragischen Konstellation, der die Zuschauer zu Tränen rührt. Und auch wenn eine »leibliche Ko-Präsenz« des Publikums die emotionale Intensität des Dargestellten gewiss forciert hat, ist doch zu bezweifeln, ob hier tatsächlich die »Konstitution« einer »neuen sozialen 65 66 67

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Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 362. Ebda. Erika Fischer-Lichte: Die verwandelnde Kraft von Aufführungen. Von vorübergehenden zu nachhaltigen Transformationen. In: dies., Hasselmann: Performing the Future, S. 177-190, hier S. 179. Ebda. Erika Fischer-Lichte, a.a.O., S. 183ff. Fischer-Lichte, a.a.O., S. 185.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Wirklichkeit«71 vermutet werden kann. Zu sehr dürfte sich das Publikum des 18. Jahrhunderts eines gerade vom Theater kultivierten ästhetischen Scheins bewusst gewesen sein, in dessen Exklusivität eben auch eine im Alltag sonst befremdliche Emotionalität gepflegt werden konnte. Und bei allem grundlegenden Vorbehalt gegenüber Adornos ästhetischer Orthodoxie ist doch sein prinzipieller Zweifel an der Vorstellung einer durch solch kultivierte Rührung bewirkten realen Veränderung der sozialen Verhältnisse triftig, die er mit dem bitteren Verweis auf die bedrückende Kompatibilität ästhetischer Sentimentalität und sozialer Kälte untermauert. Die nach Fischer-Lichte von der »Ästhetik des Performativen« bewirkte »Verzauberung« der Wirklichkeit kann sich also aufgrund des gegenüber den Theaterkonventionen des 18. Jahrhunderts ja radikal veränderten Selbstverständnisses der Performancekunst kaum auf emotionale Verarbeitungen der Aufführungen rührender Geschichten beziehen. Nach Fischer-Lichtes Theorie muss die auf Zukunft zielende Verwandlung der Aufführung eben als von einem irritierenden, hermeneutisch nicht zu erschließenden Szenario ausgehend und, soll sie »Transformation« sein, dabei als so intensiv und weitreichend gedacht werden, dass ein rezeptionspsychologischer Verweis auf ausgelöste Emotionen hier nicht genügt. Diese werden ja, abhängig von der individuellen Disposition der Rezipierenden, durch jede Kunstform hervorgerufen und implizieren noch keinen ontologischen Anspruch. Damit freilich ist erneut auf jene unbestimmte Dynamik der künstlerischen Performance verwiesen, mit der sie in der Intensität ihrer Präsenz zugleich über sich hinausweist – ihre Magie also nicht nur dadurch entfaltet, dass sie ist, was sie ist, sondern dadurch, dass sie etwas (Unbestimmtes) will; eine Dynamik, die Fischer-Lichte mit ihren Ausführungen zur Magie der Schwelle72 und dem eingehenden Rekurs auf die formale Struktur des Rituals zur Erläuterung einer »transformativen Kraft« des Performativen selbst unmissverständlich anzeigt. Da Fischer-Lichte in der »Ästhetik des Performativen« mittels einer problematischen ästhetischen Adaption der Sprechakttheorie Austins Präsenz und Selbstbezüglichkeit profiliert, ist der (richtige) Schritt in Richtung einer performativen Zukunftsgerichtetheit, den die Referenz des Ausgesprochenen gemäß Austin eigentlich verlangt, in ihrer Theorie notwendig mit Widersprüchen verbunden. So heißt es nun: »Performative Prozesse sind per definitionem auf die Zukunft bezogen, ganz gleich ob es sich um Sprechakte, andere symbolische Praktiken, Rituale, Feste, Sportwettkämpfe, politische Demonstrationen, Gerichtsverhandlungen, künstlerische Aufführungen u.a. handelt. So verweisen die Sprechakte des Drohens, Segnens, Verfluchens, Versprechens unüberhörbar

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Vgl. ebda. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 358.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

auf die Zukunft, die sie hervorbringen sollen.«73 Spätestens wenn hier die künstlerische Performance in einem Atemzug mit referentiellen performativen Sprechakten genannt ist, wird klar, dass es der ästhetischen Aufführung um mehr und anderes gehen muss als um den ursprünglich bei Fischer-Lichte fokussierten »Zauber« einer von ästhetischer Selbstbezüglichkeit gesättigten Gegenwärtigkeit künstlerischen Geschehens. Dieser Widerspruch lässt sich nur auflösen, wenn die performative Zukunftsbezogenheit und mit ihr die Referenz auf etwas, das außerästhetisch bewirkt werden soll, schon in den von Fischer-Lichte als ästhetisch »selbstreferentiell« charakterisierten Performances erkannt wird. Damit würde dem Impuls von Austin zutreffend gefolgt, wobei die ästhetische sich von der sprachlichen Referenz dennoch unterscheidet: Denn die performative ästhetische Handlung definiert und bezeichnet nicht, wie der performative Sprechakt, ein sprechend zu Bewirkendes, sondern sie gilt, als Handlung, einer Wirksamkeit, deren Unbestimmtheit ihren ästhetischen »Zauber« bedingt. Wird diese performative Dynamik wiederum auf das dramatische Theater übertragen, wäre auch dieses hinsichtlich der Wirkung, nicht der Aussage seiner Zeichenfülle zu fokussieren. Da dieses Theater sich aber von den in der »Ästhetik des Performativen« untersuchten künstlerischen Aufführungen durch seine in der Regel ersichtliche dramatische Referenz und seine offensichtliche ästhetische Scheinhaftigkeit unterscheidet, fragt Fischer-Lichte hier lediglich nach den psychologischen Wirkungen des dramatisch Dargestellten auf das Publikum. Eine konsequent performative Ästhetik aber müsste auch im Hinblick auf das dramatische Theater ontologisch, nicht psychologisch fragen, d.h. thematisieren, was dramatische Theateraufführungen mit der Wirklichkeit machen, nicht, welche Emotionen sie auslösen. Die von Fischer-Lichte behauptete »Verzauberung der Welt« wird hier nicht durch intensive Empfindungen des Publikums hervorgerufen, da sich diese des theatralen Scheins durchaus bewusst bleiben. Der »Theaterzauber« entspringt vielmehr der Suggestion auch des dramatischen Theaters, in die Welt, d.h. gerade nicht nur in die Psychologie der Zuschauer einzugreifen. Während postdramatische Performances jedoch numinose Wirksamkeit suggerieren, lebt die »transformative Kraft« bei dramatischen Inszenierungen von der Prätention, zu bewirken, was es darstellt. Der Unterschied zwischen postdramatischem Experiment und konventioneller Dramatik besteht entsprechend in der semantischen Konkretion des Woraufhin des ästhetischen Herstellens, weniger in einer substantiellen Differenz der theatralen Grundgeste. Das Theater ist damit nicht primär Ort kultivierter ästhetischer Kommunikation, sondern kultischer Sorge: Es fungiert als öffentliche Institution, mit Hilfe derer eine Gesellschaft als bedeutsam

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Erika Fischer-Lichte: Performing the Future, in: dies., Hasselmann: Performing the Future, S. 11-23, hier S. 11 (»künstlerische Aufführungen« hervorgehoben von C.Z., »per definitionem« original kursiv).

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

erachtete Geschichten, Sinnkonstruktionen, Utopien oder auch Alpträume rituell aufführt. Menschen kommen in Theatern als besonderen Orten zu besonderen Zeiten jenseits der alltäglichen Lebensvollzüge immer wieder zusammen, um mitzuerleben, wie im Theaterereignis und als Theaterereignis derartige Geschichten, Sinnkonstruktionen oder Utopien durch ihre Darstellung zugleich feierlich affirmiert, experimentelle Rituale unbestimmten ästhetischen Sorgens zelebriert bzw. Alpträume und apokalyptische Szenarien durch ihr dramatisches Durchexerzieren zugleich feierlich gebannt werden. »Auch über Becketts Endspiel hebt verheißungsvoll sich der Vorhang«74 bemerkt Adorno. »Selbst Kunstwerke, welche Feier und Trost unbestechlich sich verbieten, wischen den Glanz nicht weg, gewinnen ihn desto mehr, je gelungener sie sind.«75 Solch grundlegend »festlicher Nimbus«76 des Theaters verdankt sich der Intention seiner Aufführungen als zu besonderer Zeit jenseits des Alltages vollzogenem kultischen Affirmieren und Abwehren (bzw. ästhetischem Experimentieren mit der unbestimmten Bedeutsamkeit performativer Handlungen und theatraler Gesten). Die kultische Exklusivität des Theaters aber begegnet nicht nur in offiziellen Theaterstätten, sondern Theater stiftet aufgrund dieser exklusiven Praxis unwillkürlich besondere Orten und Zeiten, wo und wann immer es gespielt wird. Das Ereignishafte der Theateraufführung aber gründet dabei primär weder in der »leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« noch in der Unvorhersagbarkeit dessen, was im Rahmen der zwischen und von beiden reziprok vorangetriebenen »autopoietischen Feedback-Schleife« während der Performance jeweils eintritt. Für beides braucht es, wie gezeigt wurde, nicht die Kunst. Das Ereignis ist kein primär soziales, sondern ein ästhetisches Phänomen. Es besitzt seinen Reiz im Empfinden einer über die theatralisch-künstlerische Poiesis hinaus in die Welt entsandten Energie, in der sich der Anspruch des Theaters auf eine kultische, d.h. existenziell sorgende Intervention in dieser Welt anmeldet. Es bleibt das Agieren der Personen auf der Bühne, das diesen ästhetischen Effekt hervorbringt. Weil aber die Wirksamkeit dieses Effektes zweifellos an sein (unbewusstes) Spüren gekoppelt ist und von der nicht nur faktischen, sondern performativen Präsenz der Darstellenden abhängt, verweist Fischer-Lichte von Anfang an zu Recht darauf, dass eine Auffassung, die auch das dramatische Theater lediglich als kunstvoll inszenierte Aussage, als theatralische Vermittlung von Texten begreift, ungenügend bleibt77 . Das soziale Element des ästhetischen Ereignisses Theater aber besteht darin, sich der Partizipation an dieser feierlichen, nichtalltäglichen Praxis bewusst zu sein; damit bedingt das soziale Element nicht

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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 126. Adorno, a.a.O., S. 127. Miriam Drewes [2010]: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz. Bielefeld: Transcript, S. 129. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 42ff.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

die Besonderheit ästhetischer Praxis, sondern lebt umgekehrt vom Empfinden ihrer spezifischen Bedeutsamkeit, die das sich Zusammenfinden von Menschen erst motiviert.

4.2.

Musik

4.2.1.

Konzerte

Die jenseits ihres Einsatzes bei konkreten Festen und Feiern begegnende öffentliche Performanz der Kunstform Musik zeigt sich besonders verdichtet in Konzerten. Und obwohl gerade für Musik mit Adornos Ästhetik die wohl profilierteste reflexive Verknüpfung der Kunst mit einer umfassenden Gesellschaftstheorie vorliegt, bleibt der konkrete Vollzug musikalischer Praxis als gesellschaftlicher Praxis bei ihm eine ebenso auffällige wie sich aus seinem Kunstdenken zugleich konsequent ergebende Leerstelle. Adorno legt einerseits eine ausgearbeitete gesellschaftstheoretische Hermeneutik musikalischer Werke vor, propagiert sie dabei aber als zwar geschichtsphilosophisch gesättigte, gleichwohl aber von der gesellschaftlichen Praxis isolierte Zeichenkomplexe. »Authentische« Musik hat, gemäß Adorno, einer als fatal und inhuman kritisierten gesellschaftlichen Praxis zu opponieren, und daher wird solche Praxis von ihm auch nur im Zusammenhang eines als ideologisch verblendet gebrandmarkten Konsums kulturindustrieller Produktion thematisiert. Dass aber auch die seiner Philosophie nach einzig legitimen, avancierten und kritischen Werke in öffentlichen Konzertsälen zur Aufführung kommen, spielt in den ästhetischen Reflexionen Adornos keine Rolle. Sie repräsentieren damit, hier freilich in besonders gesellschaftskritischer Ausprägung, ein die Ästhetik traditionell dominierendes erkenntnistheoretisches Paradigma des vereinzelten, sich eines ästhetischen Objekts vergewissernden Subjekts. Der Einbezug der gesellschaftlichen Vollzugsformen von Kunst aber ist gerade unabdingbar für eine genauere Bestimmung der Spezifik des ästhetischen Gegenstands. Denn nur ein Verständnis dessen, was Menschen tun, wenn sie z.B. in einem Konzert Musik hören, ermöglicht eine eingehendere Definition der Praxis, als die Kunst überhaupt nur zu haben ist78 . Einen (auch methodisch) interessanten Vorstoß in die78

Die völlige Ausblendung dieser praktischen Zusammenhänge gipfelt in Adornos Diktum, »Notenlesen« sei »die Voraussetzung menschenwürdiger musikalischer Bildung heute« (Theodor W. Adorno: Typen musikalischen Verhaltens. In: ders. [1997]: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Gesammelte Schriften. Bd. 14. Hg. von Rolf Tiedemann u.a. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 178-198, hier S. 196). Die stumme, das Verständnis der geschichtsphilosophischen Aussage des Werkes bedingende Lektüre der Partitur rangiert damit letztlich vor der Hörerfahrung, die sich von ihr erkenntnistheoretisch belehren lassen muss. Aller Nachdruck, mit dem Adorno andererseits auf dem Begriff der Erfahrung insis-

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

se Richtung unternimmt, bezogen auf Musik, Christopher Small, der seine Reflexionen in die detaillierte Beschreibung eines imaginierten (klassischen) Konzerts inklusive aller seine Atmosphäre mitbestimmenden architektonischen, theatralischen, sozialen und selbst organisatorischen Komponenten einbettet79 . In einigen Punkten ergeben sich hier Parallelen zu einer Ästhetik des Performativen, wobei Fischer-Lichte auf Musik überraschenderweise wenig eingeht. Mit dem Neologismus des Verbums »Musicking« möchte Small zunächst den konstitutiven Charakter von Musik als einer Praxis hervorheben, die in dem Begriff des musikalischen Kunstwerkes verdinglicht zu werden droht: »The fundamental nature and meaning of music lie not in objects, not in musical works at all, but in action, in what people do. It is only by understanding what people do as they take part in a musical act that we can hope to understand its nature and the function it fulfills in human life.«80 Damit wird die bei Adorno erkennbare Priorisierung exakt umgekehrt: »[P]erformance does not exist in order to present musical works, but rather, musical works exist in order to give performers something to perform«81 , und dies konvergiert, unschwer erkennbar, mit Fischer-Lichtes Kritik an einem Verständnis von Theater als dramatischer Vermittlung von Texten bzw. ihrer Thematisierung des Ästhetischen nicht als eines Ensembles von Objekten und Produkten, sondern als Handlung und Aktion. Allerdings gipfeln die musikbezogenen Ausführungen Smalls nicht in einer anvisierten Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben. Während die durch konsequente Selbstbezüglichkeit charakterisierte experimentelle theatrale Aufführung sich idealerweise in den reinen Vollzug von Leben überführen lassen soll, bleibt die musikalische Performance ein exklusives, nichtalltägliches Ereignis des »Erkundens«, »Affirmierens« und »Feierns«(!): »Any performance […] should be judged finally on its success in bringing into existence for as long as it lasts a set of relationships that those taking part feel to be ideal and in enabling those taking part to explore, affirm, and celebrate those relationships.«82 Dass es sich dabei letztlich um eine kultische Praxis handelt, verdeutlicht Small dadurch, dass er, ebenso wie Fischer-Lichte, den Begriff des Rituals ins Spiel bringt. Während Fischer-Lichte allerdings eine konsequente Ästhetisierung des Rituals zum eindringlichen performativen Vollzug von selbstreferentiellen theatralen

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tiert, ändert nichts an dieser eindeutigen Priorisierung, nach der es wohl des Zeichenkomplexes eines in Notenschrift fixierten Werkes, nicht notwendig aber seiner öffentlichen Aufführung bedarf. Explizit heißt es in der »Ästhetischen Theorie« sogar: »Ob sie [die Werke, C.Z.] aufgeführt werden, ist ihnen an sich gleichgültig; nicht aber, daß ihre Erfahrung, dem Ideal nach die stumme inwendige, sie nachahmt« (S. 190, Hervorhebung C.Z.). Christopher Small [1998]: Musicking. The Meanings of Performing and Listening. Middletown, Conneticut: Wesleyan University Press. Small, a.a.O., S. 8. Ebda. (original kursiv). Small, a.a.O., S. 49.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Akten intendiert – und dies aufgrund der dem Ritual unweigerlich eingeschriebenen Dynamik einer das Ästhetische transzendierenden Wirksamkeit nicht schlüssig gelingt – profiliert Small von vornherein eine letztlich nichtästhetische Funktion des »Konzertrituals«. Während also das performative Ereignis bei Fischer-Lichte die Anwesenden diffus ästhetisch verbindet, stellt Small eine über das Ästhetische vermittelte kultische Funktion der Aufführung explizit und deutlich heraus: »Members of a certain social group at a particular point in its history are using sounds that have been brought into certain kinds of relationships with one another as the focus for a ceremony in which the values – which is to say, the concepts of what constitute right relationships – of that group are explored, affirmed, and celebrated.«83 Damit wird der Kunst a priori ein konkreter, unterscheidbarer Sitz im Leben zugeordnet, wohingegen sich die Performance nach Fischer-Lichte um die Aufhebung solcher Unterscheidungen bemüht. Diese größere konzeptionelle Klarheit und Plausibilität der Überlegungen Christopher Smalls fordert ihren Preis jedoch in einer mehr oder weniger konventionellen ästhetischen Semantik. Denn die Praxis der Musik ist, anders als das Ästhetische bei Fischer-Lichte, eine Zeichenpraxis, ist eine Praxis des Ausdrückens (»they all [the arts, C.Z.] operate within the gestural language that empowers human beings […] to articulate […] relationships«84 ), schließlich sogar eine Form des gestischen Geschichtenerzählens (»there is a sense in which all musicking can be thougt of as a process of storytelling, in which we tell ourselves a story about our relationships«85 ). Wie stark Smalls Ästhetik damit dem musikalischen Denken und Empfinden der Romantik verpflichtet ist, zeigt sich in den näheren Erläuterungen zu den musikalisch ausgedrückten »Beziehungen«: »Musicking is about relationships, not so much about those which actually exist in our lives as about those that we desire to exist and long to experience: relationships among people, as well as those between people and the rest of the cosmos, and also perhaps with ourselves and with our bodies and even with the supernatural, if our conceptual world has room for the supernatural. During a musical performance, any musical performance anywhere and at any time, desired relationships are brought into virtual existence so that those taking part are enabled to experience them as if they really did exist.«86 Insofern die Qualität dieser Beziehungen durch musikalisch artikulierte Gefühle repräsentiert wird, aktualisiert Small damit den romantischen Topos der Musik

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Small, a.a.O., S. 183. Small, a.a.O., S. 140. Small, a.a.O., S. 139. Small, a.a.O., S. 183.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

als Sprache der Empfindungen: »[I]t is through the emotional state that the relationship arouses that it is presented to the conscious mind. Thus, what we call happiness is the representation in consciousness of the presence of an entity that is loved or desired […] while sorrow is the response to its loss.«87 Eine interessante naturalistische Modifikation ergibt sich allerdings daraus, dass Small das Empfinden dieser Beziehungen nicht zum exklusiven Privileg elaborierten menschlichen Geistes idealisiert, sondern in Relation zu einer Existenzweise setzt, die mit biologischer Notwendigkeit allen Lebewesen eigen ist: »The mind relates to the environment outside the creature not by mere passive reception of what is ›out there‹ but by an active process of engagement with it. […] Each individual mind, each set of processes of giving and receiving information as it goes on whithin each individual living creature, may in itself be simple or complex, but it is at the same time a component of the larger and more complex network.«88 Und wenn musikalisch repräsentierte Gefühle damit als Ausdrucksgestalten existenzieller Verhältnisse zwischen Mensch und Welt identifiziert werden, versucht Small zugleich auf eine berechtigte Frage zu antworten, die musikalische Gefühlsästhetiken in der Regel übergehen: Welchen Sinn sollte Musik als Artikulation von abstrakten Gefühlen überhaupt haben? Welches Interesse (kann es hier »interesseloses Wohlgefallen« geben?) sollte Menschen dazu bringen, sich zu besonderen Zeiten an besonderen Orten einem kommunizierten Kaleidoskop ästhetisch stilisierter Gefühle hinzugeben89 ? Damit aber offenbart das musikalisch-ästhetische »Erkunden«, »Affirmieren« und »Feiern« dieser Weltverhältnisse durch das Konzert dessen letztlich kultischen Sitz im Leben, denn eine Gemeinschaft vergewissert sich dort der geteilten (idealen) Konzeption dieser Weltverhältnisse: »Those taking part in a musical performance are in effect saying – to themselves, to one another, and to anyone else who may be watching or listening – This is who we are.«90 Small kann eine Bedeutung der öffentlichen Praxis des »Musicking« aber nur um den Preis der doppelten Semantisierung von Musik darlegen: Indem diese eben, dem ästhetischen Paradigma der Romantik entsprechend, als Ausdruck bzw. Sprache der Gefühle gedeutet werden muss91 und diese Gefühle wiederum der emotionalen Repräsentation 87 88 89

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Small, a.a.O., S. 137. Small, a.a.O., S. 53. Vgl. Smalls pragmatischen Einwurf: »[C]ommon sense leads me to ask why people should devote so much of their lives and resources to the communication of emotions as the expressionists suggest and why, for that matter, listeners should be interested in having them communicated to them. After all, we all have plenty of emotions of our own without needing to feel other people’s« (a.a.O., S. 136). Small, a.a.O., S. 134 (Hervorhebung original). Dabei reformulieren Christopher Smalls Überlegungen in z.T. frappierender Genauigkeit ästhetische Topoi v.a. frühromantischer Musiktexte. Seine Vorstellung von der Aufführung einer klassischen Symphonie als »dramatic narrative in which a change in relationships occurs« (a.a.O., S. 159) konvergiert exakt mit Wilhelm Heinrich Wackenroders Lobpreis der Sympho-

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

erwünschter Weltverhältnisse zu gelten haben. Small argumentiert dabei apodiktisch: »I should go so far as to say that if they [works of symphonic music, C.Z.] are not narratives, if they were not concerned with the development of human relationships, then I cannot imagine what interest […] anyone [] would find in them.«92 Diese Zuspitzung besitzt ihr volles Recht in der entwaffnend nüchternen Kritik an einer ästhetischen Tradition, die das Wohlgefallen nicht nur an der Musik gerade vor »Interesse« schützen will. Gleichwohl geht sie von der falschen Alternative aus, Musik könne allenfalls narrativ, d.h. durch das Abbilden emotionaler Verläufe und »Dramen«, Weltbezug verkörpern oder werde andernfalls zur weltlos »tönenden Form« verkürzt. Dabei verweist Smalls mit präzisem Gespür formulierte terminologische Trias des »Erkundens«, »Affirmierens« und »Feierns« bereits selbst darauf, dass Musik nicht Medium ist, mit dem sich Menschen über die Welt bzw. über Weltverhältnisse verständigen (wie er behauptet), sondern eines, dass sie nutzen, um diese Verhältnisse praktisch zu gestalten, in dem sie auf die Welt musikalisch einzuwirken suchen. Klänge müssen weder narrativ sein, noch Gefühle repräsentieren, um diese kultisch sorgende Funktion zu erfüllen. Statt einer Referenz (»Musicking is about relationships«93 ) muss dem scheinbar selbstbezüglichen Tönen ihrer ästhetischen Formen, wie den scheinbar selbstbezüglichen ästhetischen Vollzügen der Performance, eine unbestimmte Gerichtetheit auf die Welt zuerkannt werden, mit der Klänge etwas machen, statt von ihr zu erzählen. Was Menschen im Konzert »erkunden«, sind daher nicht ideale Gestalten musikalisch artikulierter Beziehungen, sondern die spezifische Gerichtetheit der je aufgeführten Musik. Gewiss ist dieses Erkunden mit intensiven, z.T. auch widersprüchlichen musikalischen Gefühlsregungen verbunden. Sie aber resultieren gerade nicht daraus, dass die Musik Gefühle artikuliert, sondern entzünden sich an dem Mit- und Nachfühlen einer ästhetisch in die Welt entsandten namenlosen Energie. Menschen »affirmieren« diese Energie im Konzert zugleich durch ihre leidenschaftliche Bereitschaft, sie mitzuerleben, und sie »feiern« das Konzert dabei als besonderen Ort und besondere Zeit der kultischen Sorge um die menschliche Existenz. Auch das Konzert ist demnach, wie das Theater, primär Herstellen, nicht Ausdruck oder Kommunikation. Das eigenartig beglückende Gefühl nach dem gelungenen Auftritt einer Band, den die Künstler gemeinsam mit dem Publikum bei entspannten Gesprächen und Getränken im Club ausklingen lassen, erschöpft sich

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nie, »worin nicht eine einzelne Empfindung gezeichnet, sondern eine ganze Welt, ein ganzes Drama [!] menschlichen [sic!] Affekten ausgeströmt ist« (Wackenroder, Phantasien über die Kunst, S. 221f.). Und die dann folgende frühromantische Beschreibung dieses emotionalen Hörerlebnisses (Wackenroder, a.a.O., S. 222f.) wirkt wie das Vorbild für Smalls Versuch, den abstrakten dramatischen Plot bekannter symphonischer Werke zu verbalisieren (vgl. Small, S. 173ff.). Small, Musicking, S. 166. Small, a.a.O., S. 183 (Hervorhebung C.Z.).

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nicht in einer besonderen, ästhetisch vermittelten sozialen Situation. Es bezieht seine Befriedigung aus dem Empfinden, Teil eines besonderen, feierlichen Ereignisses gewesen zu sein, das darin bestand, die Welt (bzw. zumindest den Raum des Clubs) in positiver Weise ästhetisch affiziert zu haben. Für dieses musikalische Ereignis mag, ebenso wie für das theatrale, »leibliche Ko-Präsenz« durchaus ein bedeutsamer Aspekt sein. Das ästhetische Ereignis erschöpft sich aber nicht in intensiven Erfahrungen geteilter Präsenz, sondern wird durch die Gerichtetheit einer spezifischen Praxis konstituiert. Freilich lässt sich diese ästhetische Dynamik nicht auf friedfertige Atmosphären beschränken. Sie ist auch in den prekären Fällen wirksam, wo sich beim Konzert versammelte Menschenmengen durch eine ihre Ideologie affirmierende Musik in einer für sie als durchaus positiv empfundenen Weise bis zum Ausbruch von Gewalt aufheizen lassen. In wieder anderen Fällen vermag auch ein diffus Negatives oder Verstörendes im Raum verbleiben, wenn etwa nach dem Verklingen eines beklemmenden oder aufrüttelnden Werkes im Konzertsaal dessen akustisches Ausströmen nicht mehr zurückgenommen werden kann und dieses damit fortan eine unbestimmte (»transformative«) Kraft in der Welt unwiderruflich wirksam werden zu lassen scheint. Solche unterschiedlich konnotierte, von Menschen ästhetisch kultivierte und genutzte Gerichtetheit auf die Welt lässt sich durch den Blick auf eine musikalische Urszene verdeutlichen, deren intime Dynamik noch im öffentlichen Konzertsaal, wenngleich artistisch modifiziert, gesellschaftlich vermittelt und ästhetisch abstrahiert, wirksam bleibt. So ist etwa das Wiegenlied, obgleich gewiss Ausdruck des Verhältnisses zum Kind, nicht primär Ausdruck von Gefühlen und, trotz aller durch das Lied gestifteten Beziehung, nicht primär unmittelbare Kommunikation mit ihm. Die Grundgeste und Gerichtetheit dieser musikalischen Praxis besteht in der ästhetischen Beschwörung von Ruhe, Schutz und Geborgenheit – also in einem Besingen der Welt, einem im Medium des Ästhetischen intendierten Herstellen positiver Daseinsbedingungen, nicht in einer Kommunikation über ihre ideale Gestalt. Das Kind, so könnte demnach vermutet werden, hört also nicht nur eine ihm geltende musikalische Botschaft, sondern es empfindet sich zugleich als umgeben von einer durch den Gesang der vertrauten Person ihm grundlegend günstig gestimmten Welt. Die singende Person andererseits adressiert nicht nur das Kind, sondern entsendet singend zugleich eine verändernde Kraft, die diese günstige Gestimmtheit der Welt bewirken soll. Freilich modifiziert der öffentliche Rahmen sowie das einer ästhetischen »Autonomie« verpflichtete Setting (nicht nur) des klassischen Konzerts den hier beschriebenen privaten, intimen Kontext. Vor allem der Aspekt des »Erkundens« erhält dabei künstlerisch Relevanz (auch das Wiegenlied affirmiert die singend zugleich entsandte Energie und profiliert das Singen als feierlichen Moment des ästhetischen Herstellens glücklichen Geborgenseins). Denn während der klar definierte fürsorgliche Kontext des Schlafliedes dessen konkrete Gerichtetheit deutlich anzeigt, abstrahiert sich die Situation bei der konzertanten Performance

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

zumal »absoluter« Musik zur Produktion und Erfahrung von Klangkunst, deren grundlegende, sorgende Gerichtetheit auf die Welt zwar noch spürbar bleibt, deren konkrete Bestimmung aber unklar ist bzw. das Bedürfnis nach Interpretation hervorruft. Genau dies meinte der romantische ästhetische Topos, wonach die unbestimmten, als teilweise widersprüchlich empfundenen musikalischen »Gefühle« nicht schlüssig konkreten Lebenskontexten zuzuordnen sind94 . Musik ist nicht Ausdruck, sondern auf Intervention in der Welt bedachte Energie, die sich nicht als dieses oder jenes »Gefühl« identifizieren lässt, auch wenn sie zweifellos Gefühle hervorruft. Weil aber die im Konzertsaal erklingende Musik bei den Anwesenden dabei freilich rezeptionspsychologisch ganz unterschiedliche Hörerlebnisse auslösen kann, ist die bei Christopher Small durchgängige Fokussierung auf die Funktion kollektiver Identitätsstiftung (»music’s primary meanings are not individual at all but social«95 ) nicht plausibel. Wohl teilen die das Publikum konstituierenden Individuen vermutlich das Erlebnis, an einem irgendwie bedeutsamen Ereignis zu partizipieren. Aber die tatsächliche Qualität des Woraufhin der Musik, d.h. ihrer lebensweltlichen Bedeutsamkeit zu erkunden, die auch gänzlich in intimen, biographischen Kontexten gründen kann, obliegt jedem einzelnen. Statt des von Small für ein Konzert prinzipiell behaupteten Mottos »This is who we are«96 wäre demnach vielleicht eher zu formulieren: This is something that is sent to the world. Menschen entfliehen demnach der Welt durch Musik nicht, sondern unterstreichen musikalisch ein existenzielles Interesse an ihr. Titel (auch Programme) von Musikstücken sind Widmungen, nicht ästhetische Aussagen. Musik adressiert ihre Referenz, statt sie zu bezeichnen, d.h. kommuniziert mit den Landschaften, Städten, Personen, Ereignissen etc., denen sie gilt, statt über sie musikalisch zu berichten. Daher nutzen etwa das Liebeslied oder der

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Vgl. Wackenroder, Phantasien über die Kunst, S. 222: »Dann, wenn ich in finsterer Stille [nach einem Symphoniekonzert, C.Z.] noch lange horchend da sitze, dann ist mir, als hättʼ ich ein Traumgesicht gehabt von allen mannigfaltigen menschlichen Affekten, wie sie, gestaltlos, zu eigner Lust, einen seltsamen, ja fast wahnsinnigen pantominischen [sic!] Tanz zusammen feyern, wie sie mit einer furchtbaren Willkühr, gleich den unbekannten, räthselhaften Zaubergöttinnen des Schicksals, frech und frevelhaft durch einander tanzen« (»Willkühr« original gesperrt). Small, Musicking, S. 8. Small, a.a.O., S. 134 (Hervorhebung original). Vgl. auch S. 193: »The whole event that is a symphony concert as it takes place today might have been designed and indeed was designed, even if not necessarily consciously, as an instrument for the reassurance of the industrial middle and upper classes, for the presentation to themselves of their values and their sense of ideal relationships, and for persuading those who take part that their values, their concepts of relationship, are true and will last.« So berechtigt dieser Hinweis auf Exklusionsmechanismen aus der Sicht einer kritischen Musiksoziologie ist, wird er doch der Vielfalt individueller Hörerfahrungen im Konzertsaal nicht gerecht.

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politische Song Musik nicht lediglich als Ausdrucksmedium. Weder stellt ersteres primär eine musikalische Artikulation von Zuneigung dar, noch erschöpft sich der Protestsong in ästhetisch gestalteter Expression politischer Einstellungen. Das Liebeslied ist im Kern ein Besingen des geliebten Menschen, der politische Song ein Ansingen gegen kritisierte Zustände. Zwar provoziert die textliche Konkretion zweifellos ein Hören der Klänge als emotionale Korrespondenz zur Textaussage, doch es ist eine ästhetische und keine psychologische bzw. expressive Energie, deren dynamische Gestalten hier als »Gefühle« gehört werden. Selbst der ggf. biographisch motivierte, erzählende Song ist mehr und anderes als musikalisch emotionalisierte Narration97 . Er beschwört in der ästhetischen Form die Sinnhaftigkeit des Erzählten, das damit vom biographisch Besonderen zum kultisch Modellhaften avanciert. Als solches aber wirkt es stabilisierend, selbst wenn Thema des Singens Verlust und Scheitern sind. Kann aber das zeitlich ausgedehnte, differenzierte, feingesponnene Gewebe einer sich selbst als »absolute Musik« verstehenden Symphonie tatsächlich Einwirken auf die Welt intendieren oder muss es nicht doch eher als Durchexerzieren eines kunstvoll ausgearbeiteten, ästhetisch selbstgenügsamen Konzepts gelten? Dies umso mehr, als ja z.B. die dynamische Entfaltung von Exposition, Durchführung und Reprise in der Sonatenhauptsatzform eine musikimmanente Spannung aufbaut und löst, d.h. ästhetische Energie zugleich wieder schlichtet, sie gleichsam im autonomen Gebilde des Kunstwerks zu belassen scheint, statt sie als ungesättigte Kraft transästhetisch zu entbinden. Der Schauplatz solch artistisch perfektionierter »selbstbezüglicher« Dynamik aber bleibt, merkwürdig genug, ein frappierender energetischer Komplex, den Menschen in der Welt anheben und verstummen lassen. Für Schopenhauer gibt sich in dieser Energie daher ein metaphysischer, intentions- und subjektloser Weltwille zu erkennen. Solches von ihm zutreffend erspürte musikalische Wollen auch der Symphonie, die, wie alle Musik, auf etwas aus ist, verweist jedoch auf keine von konkreten weltlichen Bedarfen gereinigte metaphysische Kraft, nicht auf klanglich verkörpertes Sein der Welt selbst als Wille98 und verbürgt daher auch keinerlei kontemplative theoretische Erkenntnis. Es ist Niederschlag einer elementaren, existenziellen Praxis: künstlerisch kultivier-

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Dies gilt ebenso für Instrumentalstücke etwa im Jazz. Wenn z.B. Joe Zawinul einer seiner Balladen den Titel »I’ll Never Forget You« gibt, erscheint die Komposition, in der eine differenziert agierende Melodiestimme des Synthesizers durch lyrische, in harmonischer Struktur und Klangbild der Ästhetik romantischer Orchesterwerke verpflichtete Akkordfolgen führt, zunächst wie die narrative Entfaltung einer als Titel gesetzten persönlichen »Expression«. Im Titelzusatz allerdings wird ergänzt: »Dedicated to the memory of my parents«. Was hier in und durch die Musik vollzogen wird, ist damit weniger der ästhetische Ausdruck einer Gestimmtheit, sondern die (kultische) ästhetische Affirmation des Andenkens. »Man könnte«, so heißt es bei Schopenhauer, »die Welt eben so wohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen« (Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 377).

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

te musikalische Geste des einem handfesten menschlichen Wollen entspringenden kultisch sorgenden Einwirkens auf die Welt.

4.2.2.

Musikalische Beschallungen öffentlicher Räume

Bleibt abschließend nach den Formen zu fragen, in denen Musik jenseits ihrer konzertanten Performance öffentlich präsent ist. Welche Geste charakterisiert Musik, mit der z.B. Flughäfen, Fahrstühle, Einkaufszentren oder Restaurants beschallt werden? Zwar wird diese Musik hier nicht, wie im Konzert, bewusst und gewollt aufgesucht. Dennoch wird sie, wie beiläufig auch immer, als Musik wahrgenommen. Und auch wenn die hier strategische atmosphärische Nutzung des Ästhetischen sich freilich vom Anspruch künstlerischer Autonomie, der ein Konzert konstituieren soll, unterscheidet, bleibt es doch gerade in diesen Kontexten die musikalische Grundgeste des Einwirkens auf die Welt, die solche strategische Nutzung überhaupt ermöglicht. Besonders die ggf. gereizte Aversion gegen derartige Beschallungen verweist darauf, dass sie mehr sind und mehr sein wollen als Ausdruck bzw. ästhetische Kommunikation mit den (unfreiwillig) Hörenden: In der musikalischen Beschwörung etwa heiterer Atmosphären lebt der Impuls fort, die Welt zu beeinflussen, nicht lediglich der, sie ästhetisch zu thematisieren. Und der Widerwille gegen diese Manipulation gilt, wenn und wo er sich regt, weniger einem penetranten musikalischen Statement, als der unabwendbar raumgreiflichen ästhetischen Okkupation und unerwünschten »Transformation« von Orten. Gewiss werden in derlei musikalischen Beschallungen permanent Hörkonventionen bestätigt, die Klängen letztlich wiederum bestimmte emotionale Qualitäten zuordnen99 . Gleichwohl ist das, was sich hier ästhetisch ereignet, kein Ausdruck dieser Emotionen, sondern der Versuch, durch die (etwa als heiter gedeutete) Beschaffenheit der Musik ein entsprechendes Umfeld herzustellen. Musik in der Werbung assoziiert dieses Herstellen nicht nur einem beworbenen Produkt, sondern präsentiert sich zugleich als ein Medium der kultischen Affirmation dieses Produkts, dem sie gilt bzw. um das sie v.a. in Form von Jingles einen Kult zu initiieren sucht. Und künstlerische »Autonomie« von Musik zeigt sich im Vergleich zu solch offensichtlich strategischen Klängen entsprechend nicht darin, dass ästhetisch die Bezüge zur Welt gekappt werden, sondern dass eine Beschaffenheit der Musik sich nicht unbedingt bündig in bestimmbare Emotionen übersetzen bzw. ihr Woraufhin sich nicht umstandslos identifizieren lässt. Die eigenartige Erfahrung einer zugleich 99

Wird die Frage nach der Entstehung solcher Hörkonventionen gestellt, wäre v.a. auf den Film zu verweisen. Das Ausmaß, in dem eine derartig populäre und verbreitete Kunstform durch die permanente Zuordnung musikalischer Parameter zu explizit dargestellten dramatischen Handlungsverläufen das Hörverhalten von weiten Teilen der Gesellschaft nachhaltig und von den frühesten biographischen Seh- und Hörerfahrungen an unbewusst konditioniert, dürfte kaum zu überschätzen sein.

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über sich hinaus verweisenden Präsenz des Ästhetischen100 (hier der Musik), die schon bei Fischer-Lichte zu einem widersprüchlichen Changieren zwischen solcher Präsenz und einer konstitutiven Zukunftsbezogenheit der Performance führt, lässt sich nur auflösen, wenn die Dimension dieses Woraufhin in den Blick kommt: Präsenz ist dann der konkrete, hier im Konzert erfahrene Moment, in dem durch aufgeführte Musik Energie entbunden und als sie beeinflussende in die Welt entsandt wird. Anders gesagt: Reine Präsenz wird zugleich dadurch transzendiert, dass diese Energie sich nicht nur im Augenblick ästhetisch verzehren will, sondern über den Augenblick hinaus eine kultische Beeinflussung, Stabilisierung und Sicherung (zukünftiger) Existenz in der Welt intendiert. Und da die ebenso genussvolle wie vergebliche musikalische Beschwörung der Welt eine nie endende Aufgabe ist, müssen ganz unterschiedliche Musiken immer wieder neu erfunden und immer neu gespielt, aufgeführt und gehört werden. Und weil Musik diese über sich hinausweisende Präsenz durch die Erfahrung des klingend erfüllten Raumes vermittelt, ist sie mindestens ebenso sehr Raumkunst wie Zeitkunst.

4.3. 4.3.1.

Bildende Kunst Galerien

Wenn über die öffentliche Präsenz der Bildenden Kunst gesprochen wird, so muss zunächst die in Galerien inszenierte Präsentation von Gemälden, Fotografien oder Skulpturen als deren museale Performance, mithin die Performativität des Kunstmuseums von einer Performativität des Bildes bzw. der Skulptur selbst unterschieden werden – auch wenn sich freilich beides gegenseitig bedingt101 . Zudem sind dann aber noch weitere Formen der öffentlichen bzw. politisch-medialen Präsenz von Bildender Kunst zu thematisieren. Öffentlichkeit, sowohl als Ensemble real durchschreitbarer Orte wie als komplexes mediales Arrangement, ist grundsätzlich von einer Fülle visueller Symbole durchdrungen. Anders als Musik jedoch, die, auch wenn sie der beiläufigen öffentlichen Beschallung und selbst wenn sie der Produktvermarktung dient, dabei dennoch eher als Kunstform, d.h. als spezifische ästhetische Praxis Musik präsent bleibt, verlieren visuell gestaltete Elemente, etwa kleine Grafiken oder Bildkompositionen in der Werbung, schnell den Status des 100 Es ist bezeichnend, dass gerade die Musikvermittlung – ganz im Sinne einer »Ästhetik des Performativen« – eine als sich gleichsam überschreitend erlebte »Präsenz« zum Qualitätsmerkmal überzeugender Performances profiliert und hier Ansätze zur Steigerung der Attraktivität v.a. klassischer Konzerte erblickt. Vgl. Matthias Rebstock: Strategien zur Produktion von Präsenz. In: Martin Tröndle [Hg.; 2009]: Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form. Bielefeld: Transcript, S. 143-151, hier bes. S. 146. 101 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 147-159.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Artefakts. Dies bedingt jedoch nicht eine ihrer Herstellung im Vergleich zur Musik etwa ermangelnde kreative oder künstlerische Fertigkeit, sondern die offensichtlich weniger ausgeprägte Augenfälligkeit des ästhetisch gestalteten Bildes im Kontext einer häufig als »visuell« bezeichneten Kultur. Denn auch der Verweis auf die massenhafte Vervielfältigung z.B. der Werbegrafik, die freilich keine handverfertigte Miniatur darstellt, erklärt dies nicht, da der Musik ja selbst als Einspielung in »technisch reproduzierter Form« das Signum der ästhetischen Differenz vergleichsweise stärker erhalten bleibt. Zunächst fällt auf, dass das Kunstbild gerade seit der Etablierung einer sich als autonom verstehenden Ästhetik mit erstaunlicher Hartnäckigkeit an der konventionellen Rechteckform bzw. der Quadratform festgehalten hat. Es scheint wenig Bedarf gegeben zu haben und zu geben, mit den geometrischen Grunddaten der Bildflächen zu experimentieren. Noch der dadaistischen Collage, die diese Fläche zersprengt, allen Versuchen, sie durch Farbe zum tiefen Raum zu weiten und selbst ihrem provokanten auf den Kopf Stellen ist gemeinsam, dass die dominante Viereckform als ihre Begrenzung dabei gleichwohl nicht angetastet wird. Hierbei zeigt sich eine triviale, dennoch aber bezeichnende Differenz zu den bereits erwähnten, meist nicht als Kunst veranschlagten öffentlichen Bildern. Denn die Vielzahl der präsentierten und zirkulierenden Logos, Miniaturen oder Symbole prägt zugleich eine weitaus größere Bandbreite ihrer Formen. Solch graphische Bandbreite scheint dabei ihren Status als Artefakt eigenartig zu untergraben, denn Gemälde oder Kunstfotografien entsagen mit der Konzentration auf eine geometrische Konvention der Bildfläche dem verspielten Ornament, das ein Gemälde allenfalls noch in Gestalt des klassizistischen Zierrahmens auflockern darf, nachdrücklich. Diese Konvention wird in der musealen bzw. galeristischen Ansammlung und Hängung besonders augenfällig. Denn sie präsentiert zwar verschieden große und völlig unterschiedlich ausgestaltete, hinsichtlich ihrer geometrischen Anlage jedoch stets einer offensichtlich idealen viereckigen Bildform verpflichtete Tafeln. Es ist diese strenge, dabei aber keineswegs selbstverständliche Ordnung des sich als autonom verstehenden Kunstbildes, die, wie bewusst oder unbewusst auch immer, nicht nur das Erscheinungsbild des Raumes beim ersten Eintreten, sondern den Gang durch die Galerie als ständig begleitende, hintergründige Wahrnehmung prägt. So hat gerade eine seit der Moderne immer mehr mit sich selbst experimentierende Malerei andererseits einen formalen geometrischen Purismus ihrer materiellen Grundfläche profiliert102 , der, wo nicht ohnehin bildende Kunst auf Installationen oder Performances hin überschritten wird, immer wieder die Norm einer idealen Bildhaftigkeit des Bildes bestätigt.

102 Bei der malerischen Ausgestaltung barocker Kirchenräume etwa schmiegt sich das Bild in die von der Architektur kunstvoll erzeugten vielgestaltigen Flächen. Solche Vielgestaltigkeit möglicher Flächen aber hätte eine Inspiration auch für »autonome« Malerei bedeuten können.

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Für diese ideale Bildhaftigkeit scheint dabei der Kontrast zwischen einem faszinierenden »Zeichen-Ereignis«103 und der markanten geometrischen Fokussierung bzw. Verdichtung seiner Dynamik in einem durch vier gerade (und dabei paarweise parallele) Linien definierten gegenständlichen Areal konstitutiv zu sein104 . Und wie sehr auch ein als Ausschnitt inszeniertes Bild das imaginäre Transzendieren seines Rahmens provoziert, so lässt doch besonders der visuelle Gesamteindruck einer Galerie unweigerlich den Eindruck einer Reihung bzw. Häufung bezüglich ihrer Flächenform strikt definierter und normierter Kraftfelder entstehen. In dieser Verbindung von Formstrenge des materiellen Bildgrundes und der immateriellen ästhetischen Energie des auf ihm »Dargebotenen«105 zelebriert das Bild wirkungsvoll die paradoxe Konstellation von Nähe und Ferne, die ihm Benjamin als Aura und zugleich Verweis auf seinen ursprünglich kultischen »Gebrauchswert« attestiert106 : Denn »[d]as wesentlich Ferne ist das Unnahbare [des Kultbildes, C.Z.]«107 , und »[d]ie Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt.«108 Die abstrakte, eckige und flache Bildtafel arbeitet dieser Aura insofern zu, als gerade geometrische Strenge eine Bündelung und Intensivierung solcher Ausstrahlung eines idealtypisch geformten Bilddinges zu verbürgen scheint. Kein Spiel mit unkonventionellen Flächenformen, auch nicht bei ungegenständlicher Malerei, lenkt von der Konzentration auf das »Zeichen-Ereignis« ab. Gerade das aber entfaltet die Kraft des geometrisch kompakten Bildobjekts im Raum (und dies weitaus stärker als raffinierte künstlerische Experimente mit dargestellten Sujets, die den Rahmen explizit zu überschreiten trachten). Das schlichte Format steht, unabhängig vom je konkret Dargestellten, für komprimierte Wirksamkeit des Bildgeschehens, nicht für seine Disziplinierung. Seine präzise Demarkation exkludiert kein Draußen, sondern adressiert es umso eindringlicher. Die paradox aus einem formalen Purismus erwachsende Potenz des Bildes erscheint so zugleich noch rätselhafter als die der Skulptur, deren konkret ausgestaltete Körperlichkeit sie für kultische Verkörperungen a priori prädestiniert erscheinen lässt. Das Kunstbild, als die neben der Skulptur dinghafteste aller Kunstformen, ist daher eine dingliche Repräsentation (unbestimmten) ästhetischen Aus- und Eingreifens. Und der Sammler »behält«, wie Benjamin schreibt,

103 Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 278. 104 Freilich gibt es immer wieder auch Ausnahmen, wie etwa die runden oder trapezförmigen Farbflächen Rupprecht Geigers. Auch sie bleiben aber einem geometrischen Purismus insofern verpflichtet, als ihre Demarkationslinien nirgends aus dem strengen Vollzug dieser (alternativen) Formen ausbrechen und sie so zugleich idealisieren. 105 Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 258. 106 Walter Benjamin [2006]: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 22 (original kursiv). 107 Vgl. Benjamin, a.a.O., S. 22, Anm. 7 (Hervorhebung original). 108 Ebda.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

»immer etwas vom Fetischdiener«, der »durch seinen Besitz des Kunstwerks an dessen kultischer Kraft Anteil hat«109 . Nur deshalb kann dem Kunstmuseum eine zugleich eminent repräsentative Funktion zukommen, weil »Ausstellungswert« und »Kultwert« keineswegs nur »polare«, tendenziell einander widerstreitende Akzente der Kunstwahrnehmung darstellen110 , sondern gerade in der Galerie letzterer ersteren bedingt. Das Kunstmuseum ist dabei weniger ein Ort, der schlicht »Fetischdienst« repräsentiert, indem es an einer kultischen Macht der Bilder partizipiert. Es erhält seine gesellschaftliche Machtposition, indem es sich als eine Art Trophäenkammer umgekehrt der dort zusammengestellten Kunstwerke bemächtigt. Da gerade renommierte Museen häufig mit einer Fülle stilistisch z.T. völlig verschiedener Exponate aufwarten, sind sie repräsentative Institutionen, mit denen Städte um das größte Arsenal eines von ihnen angehäuften und beaufsichtigten kultischen Instrumentariums wetteifern – d.h. ihre Bedeutsamkeit durch den Status eines Machtzentrums unterstreichen, der vom galeristischen Brechen eines kultischen Anspruchs der Artefakte lebt. Gerade aber die scheinbare ästhetische Neutralisierung des Kultes im Ausstellungswert der musealen Performance kann ihre repräsentative Kraft eben nur dadurch ausweisen, dass sie sie zugleich wie ein (nicht zuletzt in der Architektur der Museen veranschaulichtes) imperiales Verfügen über den impliziten »Kultwert« der ausgestellten Bilder inszeniert. Wenngleich Benjamins prominente Theorie zurecht auf die im Kunstbild nachwirkende kultische Dynamik verweist, analysiert und begründet sie diese allerdings unzutreffend. Denn diese kultische Dynamik lebt weder in der zelebrierten »Echtheit« eines Werkes111 noch im »Schönheitsdienst[] als säkularisierte[m] Ritual«112 fort. Um sie genauer zu fassen, bedarf es einer Betrachtung der »Performativität von Bildern« bzw. des »Bildakts«113 . Als »Bildakt« gilt das, was das Bild mit den Betrachtenden tut, d.h. es »soll unter dem Bildakt eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln verstanden werden, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.«114 Wenn die dem Bild von Benjamin zuerkannte Aura jedoch

109 Benjamin, a.a.O., S. 22, Anm. 8. 110 Benjamin, a.a.O., S. 26. 111 Benjamin, a.a.O., S. 22, Anm. 8: »In dem Maße, in dem der Kultwert des Bildes sich säkularisiert, werden die Vorstellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit unbestimmter. Immer mehr wird die Einmaligkeit der im Kultbilde waltenden Erscheinung von der empirischen Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstellung des Aufnehmenden verdrängt. Freilich niemals ganz ohne Rest; der Begriff der Echtheit hört niemals auf, über den der authentischen Zuschreibung hinauszutendieren.« 112 Benjamin, a.a.O., S. 22. 113 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 147-159; Horst Bredekamp [2013]: Theorie des Bildakts. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp. 114 Bredekamp, a.a.O., S. 52.

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eine partielle und uneinholbare Ferne des Gemäldes mit seiner gleichzeitigen Präsenz verknüpft, bedeutet dies, dass das Artefakt die Betrachtenden dabei dennoch nicht direkt adressiert. Das, was die Betrachtenden als Ferne affiziert, ist ein faszinierender Akt, den das zugleich greifbar vor Augen stehende Bild zunächst nicht mit ihnen, sondern mit dem von ihm »Präsentierten«115 vollzieht. Denn das, was es präsentiert, präsentiert es nicht nur, sondern inauguriert es, indem es einen Geltungsanspruch erhebt, der sich dabei jedoch weniger auf den ontologischen Status des Präsentierten, sondern auf die Wirksamkeit des mit ihm vollzogenen Bildakts bezieht. Und während das offizielle Kultbild eine konkrete Inauguration explizit vollzieht, liegt die ästhetische Faszination der sich als autonom verstehenden Malerei darin, dass das Was und Woraufhin der inaugurierenden Geste zugleich unbestimmt ist. Bilder sind damit ebenso wenig über die Welt wie Musik oder Theater, sondern auf die Welt hin. »Das Bild enthält nicht nur bestimmte Erscheinungen […], es bezieht sich auf seine internen Bezüge. Erst durch diese Bezugnahme auf sein Erscheinen wird es zum Bild«116 formuliert Martin Seel zutreffend. Gleichwohl darf diese vom Bild sich selbst zugeschriebene Energie nicht mit einem die Autonomie des Artefakts konstituierenden finalen »Selbstbezug des Zeichens«117 verwechselt werden, weil gerade in ihr der auf die Intervention in der Welt gerichtete Bildakt wirksam wird118 . Und während die gegenständliche Malerei konkrete Bezugspunkte ihrer inaugurierenden Geste sichtbar macht, d.h. Geltungsansprüche im Hinblick sowohl auf mit als an Präsentiertem vollzogene Akte visualisiert, reduziert sich das Sichtbare bei abstrakten Gemälden auf ersteres. So bleibt etwa in der künstlerischen Darstellung einer realen (wie auch einer imaginären) Landschaft die kultische Intention spürbar, mit der Natur zu kommunizieren, wohingegen abstrakte Artefakte sich auf die Repräsentation einer den Kult beerbenden (unbestimmten) Wirksamkeit ihrer Farben und Formen konzentrieren. Bilder selbst sind damit feierliche Inaugurationen, die sie zugleich vollziehen. Das Spezifische der auratischen Bilderfahrung liegt im Empfinden der Teilhabe an einem Kommunikationsgeschehen zwischen Bild und Welt, nicht in der unmittelbaren Ansprache der Rezipierenden durch einen ihnen geltenden Akt »visueller Kommunikation«. Selbst die portraitierte Person adressiert weder die Betrachtenden, denen sie ins

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Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 271ff. Seel, a.a.O., S. 282 (Hervorhebungen original). Seel, a.a.O., S. 270. Dass Bilder etwas wollen, nicht nur etwas präsentieren, hebt William John Thomas Mitchell hervor. Allerdings bezieht seine eher psychoanalytisch orientierte Theorie dieses Wollen weniger auf eine intendierte Intervention in der Welt, sondern v.a. auf die Kompensation eines ihnen eigenen »Mangels«, der sie primär für sich selbst »begehren« lässt (vgl. William John Thomas Mitchell [2005]: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images. Chicago, London: The University of Chicago Press, bes. S. 28-75).

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Auge blickt, noch erschöpft sich das Portrait in einem künstlerischen Dialog zwischen der Künstlerperson und dem Modell. Es gilt der dargestellten Person als Erscheinung, als Manifestation ihrer selbst, d.h. hinsichtlich ihres Anteils an einer Welt des Bedeutsamen, und die malerische Affirmation solcher Manifestation bewahrt gerade dem Portrait eine unauslöschliche Kultfähigkeit. Darum auch stellen Bilder nicht nur »Sichtweisen der Welt«119 dar, sondern ihnen bleibt das Potential immanent, diese »Sichtweisen der Welt« zur Visualisierung von Weltanschauungen zu verdichten. Die »Allgemeinheit«, die Hegels präzises ästhetisches Gespür zutreffend in dem von der Kunst »individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung« Gebrachten verortet wissen will120 und die nirgends so deutlich wird wie im Bild, ist damit nicht die abstrakte Geistigkeit einer »Idee«, sondern der in der konkreten visuellen Gestalt waltende, kultische Anspruch, zugleich einen umfassenden Weltbezug sui generis bzw. eine Weltanschauung zu repräsentieren. Während »Sichtweisen« primär (erkenntnis-)theoretische Inspirationen darstellen, sind Weltanschauungen praktisch bzw. implizieren in weitaus stärkerem Maße Praktiken ihrer (kultischen) Affirmation. Dies freilich bedeutet nicht, dass in der Bilderfahrung das Kollektiv stets Vorrang vor dem Individuum hat. Es bedeutet aber, dass, wie in aller Kunst, noch die subjektivste Erfahrung den eigenartigen Anspruch erhebt, eines Objektiven teilhaftig zu werden. Das Kunstmuseum affirmiert den Kultwert der Gemälde paradox durch ihren Ausstellungswert. Es präsentiert sich als Institution, in deren Macht es steht, den kultischen Anspruch des Bildes durch sein ästhetisches Zurschaustellen zu brechen. Das aber setzt voraus, dass dieser Anspruch besteht. Gebrochen wird er dabei gerade auch in massenweiser musealer Darbietung. Denn eine kulturgeschichtlich bedingte Sperrigkeit des Bildes gegen seine öffentliche Ausstellung entzündet sich nicht nur, wie Benjamin vermutet, an einer »simultane[n] Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum«121 , durch die die »Malerei […] gewissermaßen wider ihre Natur mit den Massen unmittelbar konfrontiert wird«122 , sondern noch mehr an der Masse der simultan gezeigten Werke. Die öffentliche Performance keiner anderen Kunstform ist so sehr durch die Flut an einem Ort zusammengetragener Artefakte charakterisiert wie die von Bildern123 , und gerade exponierte 119

Martin Seel: Zur ästhetischen Praxis der Kunst. In: Wolfgang Welsch [Hg.; 1993]: Die Aktualität des Ästhetischen. München: Wilhelm Fink, S. 398-416, hier S. 408 (Hervorhebung original). 120 Hegel, Ästhetik, S. 77. 121 Benjamin, Kunstwerk, S. 56. 122 Ebda. 123 Natürlich gibt es Film-, Theater- und Musikfestivals, die ebenso mit einer Fülle von Darbietungen aufwarten. Während aber die simultane Teilnahme an mehreren dort ggf. zeitgleich stattfindenden Performances zumindest einen Ortswechsel voraussetzt und entsprechend das Versäumen von Passagen anderer Aufführungen bedeutet, ist gerade die Erfahrung von Gemälden in einem Kunstmuseum immer durch die gleichzeitig wahrgenommene Präsenz

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Museen suchen ihren Status ja nicht zuletzt durch den Umfang zugleich qualitativ hochwertiger Sammlungen zu unterstreichen. Kennzeichnet solche öffentliche museale Performance der Bildenden Kunst damit gleichsam eine ästhetische Konkurrenzsituation, die dem Konzert oder dem Theater fremd ist124 , wird diese noch durch weitere Spezifika ergänzt. Mag der Besuch des Museums ggf. auch von gewissen individuellen Ritualen der Besuchenden geprägt sein, so fehlt doch das kollektive Ritual des Schlussapplauses durch ein Publikum, in dem sich die im Verlauf einer definierten Zeitspanne der Aufführung aufgebaute Spannung zugleich ein Stück weit psychologisch entladen kann. Walter Benjamin wollte diese der Rezeption von Malerei fehlende kollektive »Kundgabe«, in dem sich die »Reaktionen der Einzelnen« durch die »unmittelbar bevorstehende Massierung« geprägt wissen, und in der zugleich eine »Kontrolle« der »Masse« durch sich selbst erfolgt125 , allein dem Kino zugestehen. Aber sie vollzieht sich ebenso und noch mehr im Theater oder im Konzert, dessen Erleben sich des Zusteuerns auf eine finale Artikulation kollektiver Resonanz auf das Dargebotene bewusst bleibt. Und auch das lebhafte Stimmengewirr des Theaterfoyers, dessen akustische Atmosphäre vor der Aufführung Spannung und Vorfreude bzw. danach die kommunikative Energie angeregter Diskussionen über das Gesehene und Gehörte transportiert, fehlt dem Museum. Es kennt keine definierte Zeit der Performance, kein kollektives Anfangs- oder Schlussritual und bleibt stets ein Ort der Stille. Dabei wäre es allerdings verkürzt, diese Stille primär als Ausdruck meditativer Versunkenheit in Artefakte durch (mehr oder weniger) kunstreligiös affizierte Individuen deuten zu

anderer Bilder geprägt. Und selbst Experimente etwa John Cages mit der simultanen, sich überlagernden Präsentation mehrerer Musikstücke unterscheiden sich von der Galeriesituation insofern, als die Überlagerung bei Cage als künstlerische Intention und das Klangresultat damit als zwar befremdliche Kompilation, dennoch aber als a priori gewollte irritierende ästhetische Gestalt identifizierbar bleibt. Die im Kunstmuseum nebeneinander gereihten Exponate aber waren in den wenigsten Fällen dazu bestimmt bzw. konnten es allein aus historischen Gründen nicht sein, in dieser Fülle und Kombination platziert zu werden. Festivals können sich nie, wie Kunstmuseen, deren gesellschaftliche Bedeutung in der massenweisen Ausstellung des Kultwertes von Kunstdingen gründet, wie Trophäensammlungen inszenieren. 124 Im Konzert mag sie durch die Programmauswahl, d.h. durch die Kombination von Stücken aus verschiedenen Stilen und Epochen wirksam sein, jedoch nicht in dem Ausmaß, mit dem die im Blickwinkel immer gleichzeitig präsente Menge von Artefakten in der Kunstgalerie eine gespannte Wahrnehmung schon nach kurzer Zeit zu erschöpfen vermag. Bei Rock- oder Popkonzerten einzelner Künstler erscheinen die Stücke zudem weniger als miteinander konkurrierend, sondern eher als Gesamtœuvre der musikalischen Produktion einer Person. Dies gilt dann allerdings auch für Gemälde in Bezug auf kleiner dimensionierte Werkschauen zu bestimmten Malern. 125 Benjamin, Kunstwerk, S. 55.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

wollen. Denn die Häufung der Bilder in Galerien lässt die Gemälde um Aufmerksamkeit konkurrieren, steht damit im Gegensatz zu der exklusiven Hinwendung zum einen Kultbild und erzeugt neben der von den präsentierten Werken ausgehenden Faszination zugleich eine die Fülle des Dargebotenen sichtende kritische Distanz. Keineswegs ist also das Ineinander von »kritischer und genießender Haltung« auf das Kinopublikum beschränkt, wie Benjamin behauptet126 . Gerade die Stille der Galerie gibt dem Individuum Raum zur »Beurteilung« und zur »Stellungnahme«127 , ja nötigt dazu, statt nur stumme Ergriffenheit zu repräsentieren. Und die anderen Besucher, deren bedächtiges Umhergehen oder Stehenbleiben das Erlebnis des Museums kaum weniger prägen als die Erfahrung der Bilder, sind nicht einfach die regressiven Kunstgläubigen, zu denen Benjamin sie erklärt128 , sondern drücken in ihrer Mimik und Gestik kritischen Vergleich, Abwägen und Reflexion ebenso wie ggf. tiefe Bewegtheit aus. Gerade weil die Performance der Galerie davon lebt, dass sie den Kultwert der Artefakte als Ausstellungswert inszeniert, statt schlicht ersteren durch letzteren zu suspendieren, erschöpft sich die sinnierende Betrachtung der Gemälde und Skulpturen nie in Ästhetik. Denn der museal zugleich dialektisch affirmierte kultische Anspruch des Bildes verlangt, wie unbewusst auch immer, zu einer unbestimmten Weltanschauung Stellung zu nehmen. Und gerade weil der Besuch der Galerie nicht durch ein katalysierendes kollektives Schlussritual wie das des Beifallklatschens (oder ggf. auch der Missfallenskundgebung) beendet wird, bleibt die Stellungnahme zu den Bildern den Individuen hier in einer besonderen Weise überantwortet. Beim Verlassen der Ausstellung findet sich keine Prozedur, die den Übergang in die Welt jenseits der Galerie deutlich und für alle Anwesenden markiert, so dass die Eindrücke und Erfahrungen von und mit den Bildern, die die Individuen in den Alltag begleiten, nicht von stabilisierenden kulturellen Praktiken flankiert werden. Dabei mag auch schon die Tageszeit einen Unterschied machen: Während Konzert- oder Theaterbesuche als meist abendliche Events einen Tag in der Regel beenden, so dass eine klare Zäsur zum nächsten Morgen besteht, bleibt nach dem Durchwandeln eines meist tagsüber geöffneten Kunstmuseums noch ein gutes Stück vom Tag übrig, in den hinein die gesehenen Bilder ihre Eindrücklichkeit ausstrahlen. Der performative Bildakt ist der einer Inauguration und verweist somit auf den weiterhin wirksamen kultischen Ursprung des Bildes. Die Performativität des 126 127

128

Ebda. Beide Begriffe verwendet Benjamin zur Bezeichnung einer mit der Progressivität des reproduktionstechnisch avancierten Films verbundenen spezifischen Rezeptionshaltung des Publikums, auf die hin ihm zufolge schon das Verfahren seiner Herstellung angelegt ist (vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 37 und 55). Benjamin, a.a.O., S. 57: »So muß eben dasselbe Publikum, das vor einem Groteskfilm fortschrittlich reagiert, vor dem Surrealismus [in der Galerie, Anm. C.Z.] zu einem rückständigen werden.«

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Kunstmuseums vollzieht sich hingegen in der spezifischen Weise, in der der Kultwert der Artefakte durch deren angehäuftes Präsentieren im Ausstellungswert einerseits gebrochen und – mittels der Galerie als einer Institution, deren (auch in ihrer subversivsten und »subkulturellsten« Form) repräsentierender Status sich aus eben dieser Souveränität des Verfügens und Darbietens (von Kultwerten) herleitet – zugleich bekräftigt wird. Aufgrund dieser spezifischen Konstellation kommt, auch wenn das Bild eine feierliche Inauguration bedeutet, dem Gang durch das Kunstmuseum eine andere Qualität des Feierns zu als etwa dem Konzert- oder Theaterbesuch. Denn während dort eine zeitlich definierte, durch spezifische Rituale der Anwesenden gekennzeichnete Performance die Dramaturgie eines kollektiv erlebten Ereignisses zelebriert, prägt die museale Erfahrung Bildender Kunst eine sich in individueller Zeit und individuellen Wegen still vollziehende, vergleichende, kritisch sichtende Begegnung mit Kunst, die weder eine spezifische Dauer noch eine rituelle Rahmung kennt. Entsprechend scheint das Publikum im Theater und im Konzert a priori Teil des feierlichen Vollzugs, wohingegen die museale Performance Bildender Kunst weit stärker einem reflexiven Verhalten zu den Bildern als ggf. ganz unterschiedlichen feierlichen Inaugurationen Raum gibt, nicht notwendig aber ein ständiges Mitfeiern verlangt. Daran mag auch liegen, dass ein festliches Diner den Besuch eines Theaters oder Konzerts häufiger abrundet als den Gang durch eine Kunstausstellung. Freilich warten viele Museen mit raffiniert designten Cafés auf, aber das Café ist eher der Ort des intellektuellen Austauschs, weniger der des feierlichen Mahls. Während Konzerte oder Theateraufführungen feierliche kultische Praktiken sind, stellen Galerien Orte dar, deren Feierlichkeit darin besteht, jenseits des Alltags Raum zu geben, sich zu kultischer Praxis zu verhalten.

4.3.2.

Markierungen bedeutsamer Räume durch Bildende Kunst

Freilich aber lässt sich die Relevanz eines ästhetisch kultivierten kultischen Anspruchs von Malerei und Skulptur auch an deren Formen öffentlicher Performanz jenseits der Galerie bzw. des Kunstmuseums aufzeigen. Kein Büro von Führungskräften scheint ohne ein zentral platziertes Werk der Bildenden Kunst an der Wand auszukommen, ebenso finden sie sich häufig im Foyer vieler Institutionen (und im Kabinettsaal des Bundeskanzleramtes). Werden Interviews mit Wissenschaftlern medial meist vor dem Hintergrund eines gut gefüllten Bücherregals inszeniert, so sprechen politische Repräsentanten gerne vor Gemälden in die Kameras. In der Positionierung dieser Bilder bekundet sich jedoch weniger ein Bedürfnis nach ästhetischem Ornament und auch nicht primär das repräsentative Zurschaustellen des Besitzes von Kunst als eines ideellen »Kulturwertes« (oder als Ausdruck von Finanzkraft). Wer über ein Bild verfügt, verfügt dagegen primär über ein Kultinstrument. Orte, die durch Gemälde ausgezeichnet sind, präsentieren sich als Kultorte und

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damit als Orte eines für die Gesellschaft insgesamt bedeutsamen Geschehens. Wo die Kunst ist, werden wichtige, maßgebliche Entscheidungen getroffen. Fast noch deutlicher ist diese Funktion an Skulpturen abzulesen, die, anders als Gemälde, unter freiem Himmel und vor öffentlichen Einrichtungen platziert werden können: Politische Amtssitze, Konzernzentralen, Banken oder Bildungseinrichtungen legen Wert auf die Präsenz oft avancierter skulpturaler Gestaltungen vor ihren Eingangstüren und folgen damit nicht nur einem Auftrag zur Förderung von »Kunst am Bau«. Das an entsprechender Stelle wirkungsvoll positionierte ästhetische Objekt verweist zugleich auf die herausragende Stellung des Zentrums, der Behörde oder der Institution als eines machtvollen Kultortes, der für die existenziellen Belange der Gesellschaft unverzichtbare Bedeutsamkeit besitzt. Skulpturen in Parks als Orten forcierten und inszenierten Kontrastes zu Arbeit, Wirtschaft und Politik hingegen haben ihre kultische Dimension darin, dass Parks Orte der feierlichen Zäsur des Alltags sind. Ausgehend davon wird die Pragmatik des durch die Skulptur auf seinem Vorplatz markierten politischen oder ökonomischen Machtzentrums dann wiederum in eine besonders ausgezeichnete Sphäre jenseits des alltäglichen Reproduktionsprozesses erhoben, d.h. kultisch erhöht, und dessen fundamentale Bedeutsamkeit für die Gesellschaft nochmals subtil sanktioniert. Wenn Skulpturen schließlich auf öffentlichen Plätzen, die nicht als Vorfeld einer Institution, eines Konzerns oder einer Behörde fungieren, stehen, führt auch dies nicht nur zu einer ästhetischen Akzentuierung dieser Areale. Im Unterschied zu Denkmälern, die ihrem Umfeld Gewicht durch den Verweis auf konkrete geschichtliche Bezüge verleihen und, je nach ihrer politischen Veranlassung, auf eine explizite Kultfähigkeit ausdrücklich angelegt sein können, operieren zunächst scheinbar rein ästhetisch motivierte Gebilde nicht mit der Aura des Geschichtlichen, sondern mit der des unbestimmten Geschehens. Im Zusammenspiel mit den Plätzen, auf denen sie positioniert sind, konstituieren sie atmosphärisch aufgeladene, wie für besondere Ereignisse geschaffene Räume, was nichts anderes bedeutet als die Herstellung impliziter, abstrakter, formalisierter Kultfähigkeit der hier gestalteten räumlichen Ensembles.

4.4.

Lesungen

4.4.1.

Literarische Lesungen

In seinem Essay »Der Tod des Autors« profiliert Roland Barthes das (moderne) literarische Schreiben als einen performativen »Sprechakt«129 , in dem »die Sprache 129

Roland Barthes [2006]: Das Rauschen der Sprache. Übersetzt von Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 60.

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allein agiert«130 , es keinen »gewissermaßen theologischen Sinn« als «Botschaft« des ›Autor-Gottes‹«131 gibt. Was aber steckt in diesem Verständnis von Literatur? Und was bedeutet es konkret auf die Situation bezogen, in der Literatur in der Öffentlichkeit »gesprochen«, also im Rahmen einer Lesung dargeboten wird? Was macht die Spezifik der Erfahrung einer literarischen Lesung aus, wenn das Schreiben nach Barthes als »Zerstörung einer ursprünglichen Stimme«132 gelten soll, der Autor »zugunsten des Schreibens auszublenden«133 ist? Die Lesung dürfte dann nicht mehr als eine »ästhetische Kommunikation«, als eine Form des literarischen Ausdrucks begriffen werden, durch die der Schreibende etwas schriftstellerisch Ersonnenes einem Auditorium mitteilt. Die lesende Autorenperson würde demnach paradox einer »vorgängige[n] Unpersönlichkeit«134 weichen und lesen, als ob nicht sie die vorgetragene Geschichte verfasst hätte, sondern lediglich dem Fluss der Sprache Raum gäbe. Was aber begegnet dann in diesem »es spricht« 135? Für Barthes ist es die Sprache selbst, deren unendliche, unverfügbare Verweisstruktur den Tod des Autors, d.h. die Verabschiedung der Idee souveräner literarischer Poiesis bedingt. Dennoch weigert er sich, »Sinn brutal [zu] verabschiede[n], dogmatisch [zu] verw[erfen]«136 und liefert damit anderes als die faszinierte Affirmation der frappierenden Dynamik eines letztlich substanzlosen Zeichensystems. Denn Barthes hält andererseits an der Idee eines »ganzheitliche[n], undurchdringliche[n], unsagbare[n] Sinn[es]« fest, der »jedoch in der Ferne [steht] wie eine Fata Morgana«137 . Damit aber ist dieser so qualifizierte Sinn kein bloßes Aufleuchten und Verschwinden ständig wechselnder semantischer Verweiskonstellationen, sondern wird als ein das Fluktuieren von Bedeutungen umspannender, freilich unbestimmter Gehalt beschrieben. Die der Verfügungsgewalt des Autors entzogene, sich selbst sprechende Sprache zerfällt damit nicht zum bloßen Zeichenfeuerwerk, sondern erscheint in ihrem »Performieren« auf »unsagbare« Weise sinnvoll. Für Barthes lässt sich in diesem »Säuseln des Sinnes«, das er im »Rauschen der Sprache« zu vernehmen meint, Sprache als Natur des modernen Menschen ausmachen138 , d.h. Literatur ist Sprache, in der sich menschliche Natur selbst kundgibt. Barthes verweist, um die Dynamik des Schreibens zu veranschaulichen, dabei auf kultische Kontexte, innerhalb derer »die Erzählung nie von einer Person getragen« werde, »sondern von einem Mittelsmann, einem Schamanen oder Vortragenden, dessen

130 131 132 133 134 135 136 137 138

Barthes, a.a.O., S. 58. Barthes, a.a.O., S. 61. Vgl. Barthes, a.a.O., S. 57. Barthes, a.a.O., S. 58. Ebda. Barthes, a.a.O., S. 98 (Hervorhebung original). Barthes, a.a.O., S. 89. Barthes, a.a.O., S. 90. Barthes, a.a.O., S. 91.

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»Performanz« (das heißt dessen Beherrschung des Erzählcodes) man äußerstenfalls bewundern kann, aber nie dessen »Genie«.«139 Die »Natur« des Menschen, die Barthes in der »vorgängigen Unpersönlichkeit« des sprachlichen Rauschens am Werk sieht, wird aber wesentlich durch Geschichtlichkeit bestimmt. Somit ist, was als Literatur in Form von Geschichten durch den Autor als »Mittelsmann« spricht, die geschichtliche Welt selbst bzw. die als Sprache in Erscheinung tretende Zeitlichkeit des Menschen. Ihr ist dabei die von Barthes als »Performieren« beschriebene Dynamik des literarischen Sprechens geschuldet, dessen permanentes Fortströmen in und mit der Zeit nicht zu Aussagen über die Zeit gerinnt, sondern Zeit im Verlauf sprechend vollzieht, dabei aber zugleich stets auf einen fernen, unbestimmten Sinn verweist. Wenngleich auch die Musik häufig als Zeitkunst qualifiziert wird, so verkennt dies doch die unterschiedlichen Gesten, die Musik und Literatur jeweils prägen. Denn die Musik ist, so verlockend ihr zeitlicher Verlauf diese ästhetische Idee auch immer erscheinen lassen mag, nicht narrativ, sondern beschwörend. Sie ist auf etwas hin und entfaltet diese Gerichtetheit dynamisch in der Zeit. Literatur jedoch beschwört nicht, sondern übersetzt Zeit in Sprache. Verschieden sind mit ihren jeweils ästhetisch kultivierten kultischen Gesten auch die Bestimmungen beider Kunstformen. Die Musik gilt im Grunde nicht dem Auditorium, das den ästhetisch zelebrierten Beschwörungsakt freilich genießend miterlebt, sondern einem musikalisch Beschworenen. Nur deshalb kann und konnte der Musik immer wieder eine ästhetische Erhabenheit zugeschrieben werden, die als der Literatur attestiertes Charakteristikum weit weniger begegnet. Geschichten hingegen sind für die Hörenden bestimmt. Erzählend wird ihnen zugleich etwas zugesprochen, d.h. die kultische Praxis zeigt sich hier darin, dass durch die Stimme der Erzählenden die zeitlich und geschichtlich verfasste Welt selbst sich als »Natur« des Menschen vernehmbar macht, nicht aber darin, dass die erzählende Stimme auf die Welt sprechend einwirkt140 . Das Sprechen von Zeiten und Geschichten meint dabei jedoch nicht den bloßen Ausdruck historischer Kontexte, in denen das Erzählen je verortet und durch die es bedingt ist141 , sondern das fortlaufende sprachliche Pulsieren der Zeit als eines Lebendigen, Aktiven. Indem Roland

139 Barthes, a.a.O., S. 57. 140 Natürlich kann etwa das Epos als Versuch betrachtet werden, die geschichtliche Welt gemäß den eigenen Interessen und Identitätsbedürfnissen zu konstruieren – also in die Welt poetisch »einzugreifen«. Diese psychologisch plausible Erklärung ändert aber nichts daran, dass dem literarischen Sprechen, anders als dem lyrischen, kein wirklich beschwörender Gestus immanent ist. 141 Diese Vorstellung weist auch Barthes zurück, der es ein »horrendes Privileg« nennt, was die Literaturwissenschaft einer Person oder der Geschichte als »Ausgangsort des Werks« einräumt, wenn sie sich nur dafür interessiert, »warum, aufgrund welcher Triebe, welcher Zwänge und welcher Grenzziehungen der Autor sein Werk geschrieben hat« (Das Rauschen der Sprache, S. 30).

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Barthes dem Schreiben als dem literarischen Sprechen zwar einen personalen Ursprung aberkennt, ihm aber konstitutiv die Lesenden als seinen »Bestimmungsort« zuweist142 , rekurriert er erkennbar auf eine Konstellation des ursprünglich kultischen Zusprechens des Erzählten durch einen »Mittelsmann«. Nun werden von ihm freilich auch die Lesenden zu einem unpersönlichen »Feld« abstrahiert, das lediglich »alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht«, und das keine »Geschichte«, »Biographie« oder »Psychologie« mehr aufweist143 . Aber diese befremdliche Radikalität opponiert vor allem der Vorstellung eines zu kurz gedachten Einverständnisses zwischen ästhetisch kommunizierenden Subjekten und zielt auf einen Zustand, in dem sich die Lesenden bzw. Hörenden von der Kraft der Sprache beeindrucken lassen, statt literarische Aussagen umstandslos auf ihre Lebenssituation zu applizieren. In diesem unpersönlichen Sprechen berührt sich die Literatur zunächst mit der Wissenschaft, insofern deren Rhetorik ebenfalls von der Ausblendung der sprechenden bzw. schreibenden Person zugunsten der Prätention einer reinen Darstellung des Gegebenen geprägt ist. Jedoch bleibt bei solch referentieller Darstellung durch wissenschaftliches Schreiben dennoch ein abstraktes, erkennendes Subjekt der von ihm beschriebenen Welt gegenübergestellt, über die es Aussagen macht, wohingegen die »vorgängige Unpersönlichkeit« der Literatur durch die ästhetische Prätention eines sich selbst als Sprache vermittelnden Lebensflusses zeitlicher Welt erzeugt wird. Auch für die Geschichtswissenschaft bleibt konstitutiv, dass sie sich, trotz ihres gewiss konstruktivistischen Anteils, als ein wissendes, erkennendes Nacherzählen, als ein Berichten über vorgängig Gegebenes verstehen will und muss. Dieses Gegebene strukturiert und analysiert sie zugleich hinsichtlich seiner Zusammenhänge und Konsequenzen. Aufgrund dieser szientifisch geprägten, feststellenden Geste kann Historie, wie alle Wissenschaft, angeeignet werden. Angeeignete Literatur jedoch verkäme zum Bildungsgut. Erfahrung ist gerade daher ein geeigneter Ausdruck für den Modus der Literaturrezeption, weil er die Dynamik eines Sprechens gewahrt, das besonders an seinem eigenen Verlauf, nicht aber notwendig an »Aussage[n] von allgemeiner […] Bedeutung«144 oder gar an einer »Moral von der Geschicht«145 interessiert ist. Während also Historie letztlich ein identifizierendes Stillstellen der Zeit zum bleibenden Verständnis bedeutsamer geschichtlicher

142 Barthes, a.a.O., S. 63. 143 Ebda. 144 Terry Eagleton [2012]: Einführung in die Literaturtheorie. 5. Auflage. Übersetzt von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, S. 7. Eagleton formuliert hier allerdings bezeichnenderweise zurückhaltend und meint, dieser Anspruch sei »wohl sicherlich auch bei dem, was man Literatur nennt, beteiligt« (ebda.). 145 So die sarkastische Überzeichnung aus seiner Sicht unangemessener Erwartungen an Literatur bei Karl Heinz Bohrer [2015]: Ist Kunst Illusion? München: Carl Hanser, S. 14.

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Zusammenhänge intendiert, folgt Literatur eher dem konträren Impuls einer kreativen Belebung der Zeit, indem sie Zeit selbst als eine lebendige, dynamische Größe in unzähligen Geschichten zu Menschen sprechen bzw. eine Sprache performieren lässt, die »keinen Stillstand kennen kann«146 . Während die Geschichtswissenschaft den Mythos darin beerbt, dass sie sich einer Reduktion der geschichtlichen Kontingenz verschreibt, verdankt sich Literatur, die vom Mythos gleichwohl die »vorgängige Unpersönlichkeit« der Sprache und die Geste des Zusprechens übernimmt, gerade der Angst vor dem Absterben der Zeit im universellen Verstehen. Roland Barthes qualifiziert diese Angst positiv als Begehren, als Lust am unaufhörlichen Performieren der Sprache147 . Diese Lust aber ist die hedonistische Kehrseite der Rebellion gegen das Absterben der Zeit in einem »festgelegten Sinn«148 , »gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen, der Vernunft, der Wissenschaft und des Gesetzes.«149 Literatur liefert damit kein »Wissen«150 , rekurriert aber, als künstlerisch prätendiertes Sprechen des lebendigen Weltlaufs selbst in seinem Vollzug, auf die Autorität dieser »unpersönlichen« Stimme, mit dessen sprachlicher Kraft die Lesenden zugleich auf Tuchfühlung gebracht werden sollen. Die Erfahrung lebendiger Zeit ist, als reale Erfahrung, gleichwohl nicht an die empirische Realität des Erzählten geknüpft, sondern vermittelt sich in jeder versunkenen Lektüre oder in jedem aufmerksamen Zuhören. Und diese Erfahrung, deren Charakterisierung als schlichte Illusion darum andererseits zu kurz greift151 , bedingt einen gleichsam hartnäckigen epistemischen Rest der Literatur, die in einer geheimnisvollen Weise etwas vom Leben (in) dieser Welt zu wissen scheint, auch wenn sie Geschichten fingiert. Die als Geschichten sprachlich in Erscheinung tretende Zeit vermittelt zwar keine Erkenntnisse, »verbleib[t]« in ihrem literarischen Fluss aber, wie Barthes formuliert, gleichwohl »in einem Sinnhorizont«152 bzw. verweist trotz aller ästhetischen Selbstbezüglichkeit auf ein unbestimmbares »Säuseln des Sinnes«, in dem sich zugleich, unbestimmt, Leben regt und sich als dem Menschen prinzipiell zugewandte Zeit ausspricht. (Selbst da, wo Literatur Sinn 146 147 148 149 150

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Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 61. Vgl. Barthes, a.a.O., S. 89. Vgl. Barthes, a.a.O., S. 62. Ebda. Diesen Anspruch verteidigt Jochen Hörisch [2007]: Das Wissen der Literatur. München: Wilhelm Fink. Sein dort u.a. vorgetragenes »Plädoyer für eine problem- und themenzentrierte Literaturwissenschaft« (S. 15-42) »geh[t] von […] [der] Leitthese aus«, dass »[s]chöne Literatur […] ein Alternativ-Wissen bereit[hält], das wert ist, sachlich ernst genommen zu werden« (S. 10). Vgl. die gleichsam als Gegenthese zu Hörisch, Das Wissen der Literatur, vorgetragene Position von Bohrer, die einem »bizarren Spieltrieb[]« des literarischen Scheins zu seinem Recht verhelfen möchte (Ist Kunst Illusion?, S. 14) und gegen »die anhaltende Diskriminierung des ästhetisch illusionistischen Kerns von Literatur und Kunst« (a.a.O., S. 18) votiert. Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 90.

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radikal destruiert, lässt sie sinnlose Zeit ihre Stimme erheben und affirmiert so eine Konstellation des sinnhaften kultischen Verkehrens mit ihr. Zeit gibt sich, auch als sinnentleerte, kund. Der Rest ist auch hier kein Schweigen.) Während Musik, Theater oder Malerei von einer ästhetisch kultivierten kultischen Geste der beschwörenden Intervention in der Welt geprägt sind, charakterisiert die Literatur die im Kultischen lokalisierte Intention, Zeit zu verlebendigen und sie durch die Erzählenden zu den Menschen sprechen zu lassen. Wenden sich also Musik, Theater und Malerei an die Welt, so wendet sich in der Literatur die (zeitliche) »Welt als Text«153 den Menschen zu. Sie zeigt ihnen jenes von Foucault bezweifelte »lesbare Gesicht«, – auch wenn sich das literarische Rauschen des Sinnes gerade nicht umstandslos »entziffern« lässt154 . Literarische Poiesis, d.h. die kunstvolle Prätention des »Rauschens der Sprache«, erfordert dabei spezifische Operationen: Eine Geschichte erzählen heißt zunächst, einen Anfang festzulegen. Hannah Arendt bezeichnet die Möglichkeit, immer wieder zu beginnen, Neues in die Welt zu setzen, als konstitutiv für die menschliche Existenz: »Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.«155 Diese spezifische Möglichkeit wird dabei einer umfassenden Handlungstheorie zugrunde gelegt: »[D]er Antrieb scheint […] in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, daß wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen. […] In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen ἀρχειν.«156 Was nun aber entsteht, wenn Menschen handelnd einen Anfang setzen, sind, so Arendt, Geschichten. Denn weil das »Bezugsgewebe [menschlicher Angelegenheiten, C.Z.] mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen; aber nur weil Handeln darin besteht, den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat, kann es mit der gleichen Selbstverständlichkeit Geschichten hervorbringen, mit der das Herstellen Dinge und Gegenstände produziert. Das ursprünglichste Produkt des Handelns

153 154 155 156

Barthes, a.a.O., S. 62 (Hervorhebung C.Z.). Vgl. Michel Foucault [1997]: Die Ordnung des Diskurses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 34. Arendt, Vita activa, S. 215 (Hervorhebung original). Ebda. (Hervorhebung original).

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen.«157 Aufgrund dieser Unabsehbarkeit des Handelns, das durch das Mit- und auch Gegeneinander der Menschen im sozialen Gefüge immer neue Konsequenzen, Verkettungen und Reaktionen hervorbringt, ist es auch nicht ohne weiteres möglich, solche Geschichten a priori zu identifizieren. Sie »müssen erst verdinglicht, d.h. transformiert werden, bevor sie in den gegenständlichen Bestand der Welt eingehen können.«158 Eine Möglichkeit dieser »Verdinglichung« ist dabei ihre sprachliche »Transformation« zu Literatur159 . Arendt hat hier allerdings faktische Handlungsverläufe im Auge, die dann in literarische Geschichten umgewandelt werden. Wichtig ist, dass laut der gedanklichen Konzeption von »Vita activa«, die sich ja als eine Typologie der Grundformen menschlicher Aktivität versteht, mit dieser Umwandlung von empirischen zu literarischen Geschichten nun auch der Tätigkeitsbereich des Handelns verlassen und das Feld des Herstellens, dem die künstlerische Poiesis zugehört, betreten wird. Das Handeln setzt für Arendt zwingend den Umgang mit anderen Menschen voraus160 , stellt also eine nur im Sozialen realisierbare Praxis dar, deren fortlaufende Dynamik sich nur schwer zu definiten Einheiten zusammenfassen lässt. Das Herstellen, als nicht im Sozialen lokalisierte Praxis, spielt sich jedoch zwischen herstellender Person und hergestelltem Ding ab161 , im Falle der Literatur also zwischen Schreibenden und zu schreibender Geschichte. Da die handelnde Person zwar eine Geschichte beginnen, das Handeln als unabsehbaren Impuls im »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« aber weder kontrollieren noch gar willentlich beenden kann, obliegt es der schreibenden bzw. erzählenden Person, die Handlung zur erzählbaren Geschichte mit Anfang und Ende auszuarbeiten, sie zu gestalten, auszuschmücken, zu reduzieren etc., also aus einer prinzipiell unabschließbaren Handlungskette ein abgeschlossenes, hergestelltes Literatur-Ding162 zu machen. Freilich ist Hannah Arendt hierbei ein Verständnis der Literatur als Performieren der Sprache fremd, insofern sie den literarischen Text gerade als ein referentielles Festhalten von Ereignissen, mithin als Form literarischer Historie betrachtet. Dennoch sind ihre Überlegungen auch im Hinblick auf die Produktion rein fiktionaler Texte bedeutsam. Denn Schreiben 157 158 159 160 161 162

Arendt, a.a.O., S. 226. Arendt, a.a.O., S. 227. Vgl. ebda. Vgl. Arendt, a.a.O., S. 213ff. Vgl. Arendt, a.a.O., S. 161ff. Nach Arendt kennzeichnet das Herstellen im Unterschied zum Handeln, dass es ein klar definiertes Ende in dem Moment findet, in dem das hergestellte Ding vollendet ist (vgl. Vita activa, S. 169f.).

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bedeutet dann im Hinblick auf Barthes, im performativen Fluss der Sprache einen Anfang und ein Ende zu setzen. Selbstverständlich können dieser Anfang und dieses Ende angesichts einer unendlichen, den konkreten Text immer überschreitenden Zitat- und Verweisstruktur der Sprache relativiert werden. Aber trotz aller poststrukturalistischer Verflüssigung der Werkgrenze kennt wohl jede Leseerfahrung den fast unwiderstehlichen »Zauber«, der dem Anfang eines Romans, einer Erzählung, einer Novelle, selbst einer Kurzgeschichte »innewohnt«, und den eigenartig wehmütigen Schauer, der sich bei der Lektüre des letzten Satzes eines gerne gelesenen Buches einstellen kann. Keine Affirmation des sprachlichen Performierens von Literatur kann darüber hinwegsehen, dass (nicht nur) sein Anheben und sein Ausströmen Ergebnisse entschiedener künstlerischer Intervention sind. Die Kunst des Schreibens besteht also darin, verlebendigte Zeit irgendwo ihre Stimme erheben und wieder verstummen zu lassen, in der Prätention einer Selbstkundgabe von Zeit in Form sich immer wieder (literarisch) eröffnender Lebensräume. Wenn Mario Vargas Llosa über einen Roman seines Kollegen Fernando Aramburu äußert, er lese sich nicht wie eine »geschriebene[] Geschichte«, sondern wie das »Leben selbst«, so dass sich die Lesenden »darin bewegen, wie seine Romanfiguren es tun«, und in diesem »autarken Konstrukt« das »Größte« erkennt, »was ein Autor zuwege bringen kann«163 , so bezieht er sich eben auf diese schriftstellerische Fähigkeit, Sprache wie das sich selbst verlautende Leben »performieren« zu lassen. Diese sprachlich konstituierten Zeiträume haben dabei nichts zu tun mit den sozialwissenschaftlichen bzw. geschichtsphilosophischen Verkürzungen der Ästhetik, gegen die Karl Heinz Bohrer Literatur verteidigen will164 . Sie zeichnen keine ästhetisch artikulierte Problemgeschichte, die dann entsprechend einer hermeneutischen Klärung bedarf, sondern vermitteln die Erfahrung immer wieder neuer kleiner und großer Anfänge, durch die sich abstrakte Zeit zu einer Diversität von Geschichten verlebendigt. Entscheidend ist dabei die Lebendigkeit der narrativen Ströme, nicht deren Integrierbarkeit in ein kohärentes Verständnis von Historie165 . Die ästhetische Modernität der Literatur gegenüber dem kultischen Mythos besteht darin, dass sie im Gegensatz zu jenem eine Pluralität von Geschichten vernehmen lässt und nicht die eine rituell autorisiert. Gleichwohl steht sie mit ihm in einer funktionalen Kontinuität, insofern sich auch in diesen Geschichten Zeit als 163

Mario Vargas Llosa [21.01.2018]: Im Land der Schweigenden (http://faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/mario-vargas-llosa-ueber-fernando-aramburusroman-patria-15408588.html, letzter Zugriff: 11.06.2020). 164 Karl Heinz Bohrer [1994]: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 165 Die ästhetische Alternative zu der von Bohrer, a.a.O., kritisierten historischen Missdeutung der Literatur ist dann auch nicht zwingend die Abkehr von Geschichte in der Zeitlosigkeit eines absoluten Präsens literarischer Imagination, sondern Affirmation der Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Geschichten.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Leben, d.h. sich den Hörenden als immer wieder neuer und immer wieder anderer lebendiger Impuls zuspricht. Und während zudem der Mythos dabei stets zum gleichen Anfang zurückkehrt, setzt Literatur permanent neue Anfänge.

4.4.2.

Gedichtlesungen

Diese spezifische Geste des performativen sich Zusprechens von geschichtlichem Leben als sich zeitlich ereignender Welt unterscheidet eine literarische Lesung dabei nicht nur von der belehrenden Information durch den feststellenden Vortrag, mit dem sie die »vorgängige Unpersönlichkeit« der Sprache gemeinsam hat. Sie bleibt dadurch auch von der Lyrik verschieden, die im Kern weder den Hörenden gilt, noch, wie etwa eine Erzählung, die Erfahrung des Anfangs, des sprachlichen Anhebens und fortan Weiterströmens von lebendiger Zeit vermittelt. Da Gedichte einst Lieder waren, und noch deren avantgardistischste Formen sich zwar von Reim und Metrum, nicht aber vom Erscheinungsbild der Strophe trennen166 , konvergieren sie mit der beschwörenden Geste von Musik. (Dies zeigt sich z.B. beim Poetry Slam etwa dadurch, dass lyrische Texte hier häufig mit einer auch gestisch weitaus stärkeren Emphase rhythmisch skandiert werden.) Als auf ein Beschworenes zielende Sprache werden Gedichte, wie Heinz Schlaffer präzise und treffend formuliert, vor dem Auditorium »ausgestellt«167 , ihm aber nicht zugesprochen. Während die performative Sprechhandlung der Lyrik eine Intervention mit Sprache in den Lauf der Welt intendiert, prätendiert Literatur den performativen Vollzug des lebendigen Laufs der Welt selbst als Sprache. Und aufgrund dieses intervenierenden Charakters ist Lyrik, anders als Literatur, auch in ihren zeitgenössischen Formen implizit durchaus für eine Aneignung bestimmt. Gedichte werden im Gegensatz zu literarischen Texten auswendig gelernt. Kaum jemand käme hingegen auf die Idee, auch nur die knappste Short Story im Wortlaut zu memorieren. Freilich werden auch Geschichten im Gedächtnis behalten und weitererzählt. Dieses Weitererzählen jedoch ist dann mit einer Fülle oft virtuoser narrativer Variationen, mit einer gekonnten »Beherrschung« diverser »Erzählcodes«168 verbunden, die eben die fortlaufende Lebendigkeit des sprachlichen Zeitstromes garantieren. Die magische Sprache des Gedichtes jedoch muss in ihrer ursprünglichen Form gewahrt werden, um wirksam zu bleiben. Auswendig gelernte Lyrik gleicht einem Vademecum, das immer wieder zum Einsatz kommen kann, um einer spezifischen, konzentrierten Konstellation von Worten Raum zu geben. Geschichten hingegen werden darum auch nicht nur variiert, sondern stets anderen weitererzählt, weil die Erfahrung

166 Vgl. Heinz Schlaffer [2012]: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München: Carl Hanser, S. 194. 167 Vgl. Schlaffer, a.a.O., S. 24. 168 Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 57.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

des Zusprechens verlebendigter Zeit eine zugleich soziale Praxis ist. Das Gedicht jedoch braucht nicht zwingend ein Auditorium, weil es primär dem Sprechenden als Mittel des Einwirkens auf die Welt dient, an die es ursprünglich adressiert ist169 . Auch scheinbar erzählende, z.B. balladenhafte Lyrik vollführt dabei nicht, wie Literatur, die Geste der sprachlichen Verlebendigung von Zeit, sondern ist die feierliche Affirmation eines Geschehens, das durch die lyrische Form zugleich aus dem dynamischen Strömen der Zeit in das Zirkulieren rituellen Besingens transformiert wird. Und noch die reflexive Wendung »Ich schrieb das schnell auf«, mit der Rolf Dieter Brinkmann seine lyrische Zuwendung zu einem »jener klassischen schwarzen Tangos« beendet, der im spätsommerlichen Köln unverhofft vernommen wird, vollführt keine narrative Geste, sondern ist ein lyrischer Lobgesang auf dieses aufschreibende ich. Die Feierlichkeit eines Gedichtvortrages kommt darin zum Ausdruck, dass er selbst in seinen reduziertesten, gleichsam nüchternsten Formen ein Rezitieren unantastbarer Worte bleibt, wohingegen sich das dynamische literarische Strömen eben nur erzählen, niemals aber rezitieren lässt. Gedichte werden darum, anders als Romane oder Erzählungen, vorgetragen. Wer der Rezitation eines Gedichtes zuhört, wird der Besonderheit einer Sprache gewahr, die nicht Aussagen an die Hörenden adressiert, sondern (kultische) Interventionen in der Welt intendiert. Und die durch Lyrik vermittelte ästhetische Erfahrung entzündet sich weit weniger am Was einer dichterischen Expression als am unbewussten Reiz eines oft unbestimmten Woraufhin des lyrischen Sprechaktes. Die Feierlichkeit der literarischen Lesung hingegen liegt in der (kultischen) Selbstkundgabe von Zeit als Geschichtlichkeit170 , d.h. in der sprachlichen Transformation bloßer Dauer zu Lebensräumen. Wer der Erzählung zuhört, gewahrt eine Sprache, in der sich Leben vollzieht und mit der sich das Leben selbst zugleich an die Lebenden wendet. Bliebe der reine Vollzug des Lebens freilich auch jenseits des Erzählens im (reflektierten) alltäglichen Dasein erfahrbar, markiert das sich Zusprechen des Lebens in der erzählten Geschichte die kultische Differenz zum Alltag: Es bricht im sprachlichen 169 Vgl. Schlaffer, Geistersprache, S. 24. Im alltäglich gebrauchten Sprichwort hat sich die Magie des Einwirkens auf die Welt zur Affirmation der Stimmigkeit einer Aussage durch die Stimmigkeit der gereimten Form reduziert. Allerdings gelten solche gereimten Verse dem alltäglichen Bewusstsein dann eben auch als »Sprichworte«, nicht als Gedicht, d.h. nicht mehr als Kunstform. Gleichwohl unterbricht auch die besondere Form des Sprichworts die alltägliche Weise des Sprechens und transportiert in der Emphase einer metrisch gebundenen Stellungnahme zu gegebenen Kontexten und Ereignissen noch die exklusive Praxis kultischer Vergewisserung im Hinblick auf das, was gelten soll. Ähnliches gilt für gereimte Werbeslogans. 170 Eine transitorische Dynamik von Geschichtlichkeit und die ordnende Struktur von Geschichte sind dabei zu unterscheiden; vgl. Thomas Schubert: Postmoderne/Postmodern. In: Metzler Lexikon Ästhetik, S. 303-305, hier S. 304. Und eine Betrachtung der Literatur unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit von Leben ist nicht gleichbedeutend mit einer von Bohrer und Barthes gleichermaßen kritisierten Reduktion der Literatur zu ästhetisch vermittelter Historie.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Vollzug seine reine Unmittelbarkeit, indem es die Hörenden zugleich adressiert und sich als Sprache kundgibt. Und der öffentliche Respekt, der Schriftstellern entgegengebracht wird, gründet nicht zuletzt in dem Eindruck, sie seien, obgleich sie Geschehnisse in ihrer Phantasie ersinnen, gleichwohl in besonderer Weise »des Lebens kundig«.

4.5.

Kino

Der Film ist, wie die Literatur, keine Beschwörung. Seine künstlerisch hergestellte Geste ist nicht die einer sorgenden Intervention in der Welt, d.h. er richtet sich nicht an die Welt, sondern in ihm richtet sich eine Welt an die Menschen. Literarisches und filmisches Herstellen bedeuten ein ästhetisches Kultivieren kultisch sorgender Praxis jedoch insofern, als sie die Erfahrung einer zugewandten Welt vermitteln, wohingegen Theater, Musik, Bildende Kunst, Tanz und Lyrik die Intention eines sorgenden Einwirkens auf die Welt verfolgen. Gleichwohl unterscheidet Film vom literarischen Erzählen, dass er mit bewegten, leuchtenden, tönenden Bildern konfrontiert, wohingegen sich bei der Lesung eine reale Person dem Auditorium sprechend zuwendet. Noch die schockierendste literarische Episode differiert vom filmischen Bild (und Ton), insofern das vorgelesene Strömen der Zeit sich immer zugleich als Sprache kommunikativ vermittelt. Und selbst beim Vortrag der haarsträubendsten Horrorgeschichte bringt sich eine zusprechende Stimme zu Gehör. Soll diese lesende Stimme dabei auch die »vorgängige Unpersönlichkeit« des literarischen Sprechens repräsentieren, so bleibt sie doch hörbare, sich erzählend verlautende Stimme und agiert damit grundsätzlich im sozialen Modus verständigungsorientierter Zuwendung. Anders gesagt: Noch die unpersönliche Stimme der Literatur ist die Stimme einer erzählenden Instanz, deren vermittelnde Zuwendung bei der Lesung konkret erfahrbar wird. Filme hingegen prätendieren visuelle Unmittelbarkeit. Daher kann dem cineastischen Erleben niemals jene soziale Geste erzählender Zuwendung eigen sein, die vorlesend und vortragend vollführt wird. Während also Literatur in einer Lesung die Hörenden selbst dort noch an- bzw. sich ihnen zuspricht, wo sie sie mit ihrer Sprache provoziert, ist umgekehrt dem Kino die Dynamik unvermittelter visueller Konfrontation noch da eigen, wo es zu erzählen versucht. Natürlich darf Film nicht auf Visualität reduziert werden. Aber auch die Stimmen der handelnden Personen gelten einander, nicht dem Publikum. Sie sind die Stimmen der unmittelbar ins Geschehen Verwickelten, nicht diejenigen, die es erzählend vermitteln. Und selbst die Filmmusik, deren einziger Zweck ja darin besteht, die Wahrnehmung der Betrachtenden emotional zu grundieren, muss, um eben diese Aufgabe erfüllen zu können, gleichwohl wirken wie aus der Eigenspannung des Gezeigten erwachsen, darf also gerade nicht wie eine vermittelnde ästhetische Erläuterung des Geschehens für das Publikum daherkommen. Das Ki-

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no bleibt, auch in seinen narrativen Formen, immer ein »cinema of attractions«171 , ein grandioses Spektakel, ein frappierendes Lichtspiel, das Dinge zeigt, die nicht da sind, als ob sie da wären. Die Jahrmarktattraktion, als die es einst begann, indem es Eisenbahnzüge auf die Zuschauenden zurollen bzw. an ihnen vorbeirollen ließ, lebt fort in jeder noch so »narrativen« Dialogszene, in der überdimensional große Gesichter aus Licht in Schuss und Gegenschuss auf die im dunklen Kinosaal versammelten Menschen einstrahlen. Der scheinbare Voyeurismus des indiskreten cineastischen Blicks auf Körper, Gesichter, Handlungen und Situationen in Detailaufnahme entpuppt sich als der weiterhin wirksame »Exhibitionismus« der Attraktion, als die sich Körper, Gesichter, Handlungen und Situationen dem Kinopublikum vielmehr aufdrängen172 . Der Film besitzt, so Benjamin, eine »taktile Qualität«, weil er, vorbereitet vom Dadaismus, »dem Betrachter zust[ößt]« bzw. weil »Schauplätze und Einstellungen […] stoßweise auf den Beschauer eindringen«173 . Eben dieser konfrontative Modus der Performance unterscheidet das Kino nicht nur von der Lesung, deren a priori spezifische soziale Konstituiertheit die konfrontativen Momente des Textes zugleich abfedert. Sie grenzt es auch von Theater ab, das sein Publikum zwar ebenfalls mit Dargestelltem konfrontiert, dem dabei aber nicht nur die rapiden Schnitte, variierenden Einstellungsformen und Spezialeffekte des Filmes verwehrt sind. Denn das Theater bleibt bei all seinen Provokationen für sein Publikum eine erkennbare Praxis, eine besondere (kultische) menschliche Form des Agierens präsenter Personen und damit, auch wenn das Spiel letztlich nicht dem Publikum gilt, ebenfalls eine zugleich sozial determinierte Situation. Darum ist das primär ästhetische Ereignis der Theateraufführung dabei ein sozial bedeutsames und wird von einem bewussten »geselligen Beisammensein« im Foyer umrahmt (zu dem sich sogar noch das rituelle Abgeben und Abholen der Kleidungsstücke an der Garderobe rechnen lässt). Das Kino hingegen ist, trotz seiner Popularität, ein anonymer Ort; dies nicht aufgrund einer etwaigen »sozialen Kälte« seiner Verfasstheit als »Schauplatz« kulturindustrieller Massenproduktion174 , sondern weil der dem Publikum vorgeführte Film, anders als ein Theaterstück, sich gerade nicht 171

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Tom Gunning: The Cinema of Attraction[s]: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde. In: Wanda Strauven [Hg.; 2006]: The Cinema of Attractions Reloaded. Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 381-388. Gunning verwendet den Terminus »cinema of attractions«, um eine dem frühen Kino eigene Lust des eher performativen Zeigens von seinen späteren, primär an verfilmten Geschichten interessierten Formen zu unterscheiden: »Theatrical display dominates over narrative absorption, emphasizing the direct stimulation of shock or surprise at the expense of unfolding a story or creating a diegetic universe« (S. 384). Gunning [2006], S. 382: »What precisely is the cinema of attraction[s]? First, it is a cinema that bases itself on […] its ability to show something. Contrasted to the voyeuristic aspect of narrative cinema […] this is an exhibitionist cinema« (Hervorhebung original). Benjamin, Kunstwerk, S. 66. So hätte z.B. Adorno gewiss gerade die bürgerliche Geselligkeit des Theaterfoyers verblendeter kulturbeflissener Selbstgefälligkeit bezichtigt.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

als menschliche Praxis, sondern als ohne menschliches Zutun auftretende Erscheinung präsentiert. Zu dieser Anonymität gehört auch, dass der Filmvorführende unerkannt und unbeachtet hinter einem kleinen Fenster agiert. Deshalb ist im Kino ein gleichsam anonymisierter Verzehr von Essen und Getränken auch während der Vorführung möglich, wohingegen er im Theater als empfindliche Störung des Vollzugs einer gemeinsam vollzogenen kultischen Praxis empfunden würde. Nur in der Pause ist er dort erlaubt, wobei diese dann allerdings zugleich die Atmosphäre eines offiziell begleitenden, gemeinsam eingenommenen (rituellen) Mahls kennzeichnet. Geben sich die Anwesenden im Licht des Foyers gleichzeitig als Mitglieder der kultischen Gemeinschaft performativ zu erkennen, isst und trinkt während der Filmvorführung im dunklen Kinosaal jeder für sich alleine175 . Und während im Theater der angeregte Austausch über die Performance zum Ritual des langsamen Verlassens des Gebäudes gehört, wird das Kinopublikum nach dem Ende des Films nicht selten sogar direkt aus dem Saal ins Freie geführt. Ist das Foyer eines Theaters als Raum des weilenden Ausklingens einer rituellen Praxis konzipiert, sind die Flure und Ebenen vor allem von Großraumkinos eher Durchgangsorte176 . Dies alles bedingt keineswegs nur eine »Zertrümmerung« der ästhetischen Aura177 beim Film, sondern arbeitet ihr im Gegenteil auch zu. Denn die (technisch ermöglichte) Anonymität des unvermittelten Erscheinens bewegter Bilder aus Licht macht sie andererseits zu technisch objektivierten Visionen, zu kunstvoll hergestellten »zeitlich begrenzten, unvorbereiteten visuellen (oft auch akustischen) Erfahrung[en] unter Beibehaltung der ›normalen‹ Außenwahrnehmung«178 . Dass dieses unvermittelte Erscheinen im Kino dabei nicht durch eine spezifische kultische Praxis herbeigeführt wird (wie etwa die visuellen Projektionen beim Techno-Rave, deren ästhetische Inszenierung sie als Wirkung eines ekstatischen Tanzens präsentiert)179 , sondern das Kino sich auf das bloße Erscheinen der Vision konzentriert,

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Auch Danto bemerkt genau diese Unterschiede: »Wenn wir ins Theater gehen, machen wir uns fein, wie wenn wir in die Kirche gehen, und auch die festliche und feierliche Atmosphäre, die dem Theater von Natur aus zu entsprechen scheint, umgibt den Kinobesuch nicht. […] Das Kinopublikum ist nicht durch eine Transformation aus einer religiösen Versammlung entstanden. […] Im Kino darf man sogar etwas essen, im Theater trägt einem das mißbilligende Blicke ein. Man muß also der Versuchung widerstehen, Filme und Theaterstücke zu derselben Gattung zu zählen, nur, weil man beide in Theatern und vor Zuschauern aufführt« (Die philosophische Entmündigung der Kunst, S. 161). Hier geht es nicht um einen kulturkritisch wertenden Vergleich, sondern um eine Beschreibung unterschiedlicher architektonischer Konzeptionen und Verhaltensweisen, die mit der Spezifik von Kunstformen verknüpft sind. Benjamin, Kunstwerk, S. 20. Frenschkowski, Vision, S. 117. Hoheisel, Vision/Visionsbericht, weist zudem darauf hin, dass Visionen durchaus auch in Form »lange[r] Sequenzen« auftreten können (Sp. 1126). Frenschkowski unterscheidet einen zweiten Visionstyp, der u.a. durch »Tanz und Musik« gezielt initiiert wird (S. 117).

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macht deren »unvorbereiteten« Charakter aus. Auch darum würde eine festliche Kleiderordnung hier deplatziert wirken, weil das Kino wie keine andere Kunstform das unerwartete »Zustoßen« einer besonderen Erfahrung, die Unterhaltsamkeit einer jähen visuellen Heimsuchung im Alltag zum ästhetischen Programm erhebt. Wenn Walter Benjamin dem Kinopublikum dabei die Haltung eines »zerstreuten Begutachtens« zuschreibt180 , behauptet er, in konsequenter Anknüpfung an seine Thesen zu dessen Auraverlust, für den Film eine der kontemplativen Versenkung (ins auratische Kunstwerk) diametral entgegengesetzte Rezeptionsweise. Wie aber lässt sich diese forcierte ästhetische Dekonstruktion mit der hier formulierten These vom Film als einer objektivierten Vision verbinden? Entscheidend ist zunächst, dass das zerstreute Begutachten für Benjamin dabei eine Stärke, keine Form von Dekadenz bedeutet. Der »Examinator«, als den er das Publikum bezeichnet181 , ist in der Lage, auch und gerade im Zustand der Zerstreuung sich geschichtlich neu einstellende »Aufgaben der Apperzeption« zu bewältigen182 . Das aber bedeutet, dass das Publikum eine von der grundsätzlichen »Chockwirkung des Films« erforderte »gesteigerte Geistesgegenwart«183 wie beiläufig aufzubringen vermag. Solche Geistesgegenwart ist offensichtlich kein naives Dämmern, keine unkritische Versenkung, kein träumerisches Vergessen der Kinosituation, sondern setzt zuallererst das klare Bewusstsein davon voraus, dass den im Saal Versammelten hier etwas gezeigt wird. Dieses den Betrachtenden geltende, konfrontative, reine Zeigen unterscheidet Kino von anderen, visuell geprägten Kunstformen wie Theater oder Malerei. Denn deren Gesten, die darum auch nicht in einem Zeigen aufgehen, beerben das beschwörende Einwirken auf die Welt. Das Publikum hat daran teil, ohne jedoch sein ausschließlicher und ursprünglicher Adressat zu sein. Zudem ist die Direktheit des von Gemälden und Skulpturen vollführten Zeigens, im Unterschied zum Kino, durch ihr gleichzeitiges museales Ausstellen als gemachte Kunst-Dinge, als kunstvoll erzeugte materielle Bedeutungsträger gebrochen. Filme jedoch werden gezeigt, nicht ausgestellt, und so das von und in ihnen selbst vollführte Zeigen auch nicht, wie bei der Malerei, ausstellend vermittelt. Mögen sichtbare Zeichen des Alters – wie etwa das Aufblitzen von Staubpartikeln und Kratzern – zwar auf geschichtliche Spuren am Zelluloid als Filmmaterial verweisen und seinem z.B. eher archivarischen bzw. historisch orientierten Betrachten Züge des Gewahrens von Ausgestelltem verleihen, so bleibt dies doch ein Sonderfall. Denn die explizite Ausstellung des zeigenden Bildes als eines zugleich hergestellten Bildzeichens bzw. als eines Artefakts ist ebenso konstitutiv für Malerei wie die ästhetische Konzentration auf das reine, nichtausstellende Zeigen einer bewegten Lichterscheinung

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Vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 72. Benjamin, a.a.O., S. 72. Ebda. Benjamin, a.a.O., S. 67.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

(und das von ihr Gezeigte) beim Film. Die Performance des Films im Kino verzichtet darauf, diesen, wie Gemälde in der Galerie, dabei ausdrücklich als kunstvolle Poiesis zu vermitteln184 . Vollführt der Film also die Geste des unvermittelten, konfrontativen Zeigens, so gehört zu seiner Spezifik doch auch, dieses Zeigen als Zeigen wahrnehmbar zu machen. »Er zeigt nicht nur, was er zeigt, sondern zugleich die Tatsache, daß es gezeigt wird«, wie Arthur C. Danto formuliert185 . Freilich gilt, so wäre zu ergänzen, dies auch für das zeigende Element von bestimmten Gemälden oder Fotografien, wenn etwa der gewählte Bildausschnitt bewusst als auffällige, spezifische Wahrnehmungsperspektive erkennbar gemacht wird. Beim cineastischen Filmerleben allerdings potenziert sich dieser Effekt durch die Dynamik spezifischer Kamerabewegungen und erhält seine besondere Qualität eben dadurch, dass er als das reine, konfrontative Zeigen des Zeigens einer bewegten, akustisch begleiteten Lichterscheinung weitaus eindringlicher ist. Entscheidend für dieses Zeigen des Zeigens ist aber nicht, dass es »eine Welt und gleichzeitig eine Weise, die Welt zu sehen«186 , also »Sichtweise[n]«187 zeigt, sondern dass es als solches grundsätzlich die Bewusstheit einer zeigenden Instanz impliziert, d.h. das Bewusstsein der Betrachtenden, dass ihnen das Gesehene (und Gehörte) nicht nur »zustößt«, sondern ihnen als ein intentional Gezeigtes damit zustoßen soll. Das Zeigen des Zeigens ist nicht nur eine erkenntnistheoretisch relevante Finesse, sondern präsentiert, weitaus stärker als reines Zeigen, Zeigenwollen. Die Performance des Films erhält eben dadurch den Charakter einer Vision, dass sie als dem Publikum unvermittelt zustoßende, dynamische Lichterscheinung inszeniert ist, die sich gerade nicht als hergestelltes Artefakt, sondern als immaterielles Scheinen präsentiert und dabei ästhetisch zudem ihr bewusstes Gezeigtwerden offenbar macht188 .

184 Natürlich wird auch der Film vom erfahrenen Blick sofort als Poiesis, als cineastisches Kunstwerk betrachtet. Zur konstitutiven Identifikation des Gemäldes als Artefakt allerdings bedarf es keiner spezifischen Schulung des Sehens. Denn für die Wahrnehmung eines Gemäldes auch durch ästhetisch völlig Unkundige bleibt bestimmend, dass es a priori als ein (zugleich ausgestelltes) Artefakt wahrgenommen wird. 185 Arthur C. Danto: Bewegte Bilder. Übersetzt von Fabian Fricke und Dimitri Liebsch. In: Dimitri Liebsch [Hg.; 2010]: Philosophie des Films. Grundlagentexte. 3. Auflage. Paderborn: Mentis, S. 111-137, hier S. 136 (original kursiv). Damit sind für den Film zugleich mindestens drei Ebenen des Zeigens relevant: sein Vorführen, das Zeigen des vom Film selbst Gezeigten sowie das filmische Zeigen solchen Zeigens. 186 Ebda. (original kursiv). 187 Ebda. (Hervorhebung original). 188 Dies eben grundsätzlich und nicht nur dort, wo die Ästhetik cineastischer Produktionen bewusst eine filmische Mystik forciert. Solche Mystik thematisieren Martine Beugnet, Allan Cameron, Arild Fetveit [Hgg.; 2017]: Indefinite Visions. Cinema and the Attractions of Uncertainty. Edinburgh: Edinburgh University Press. Danto, Bewegte Bilder, nennt den Film eine »Vision des Künstlers« (S. 136, original kursiv), meint damit aber die kommunikativ vermittelte Weltsicht der Filmschaffenden.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Der Film objektiviert bzw. verdinglicht Visionen zu »technisch reproduzierbaren« Ereignissen. Das von Benjamin als »Examinator« bezeichnete Kinopublikum verliert sich dabei so wenig in einem ästhetischen Rausch der Bilder und Töne wie die Visionierenden schlicht in der Vision verschwinden. Beide sind und bleiben sich jeweils im Klaren darüber, dass es sich beim Gesehenen um Gezeigtes handelt189 . Nun muss das als und im Film Gezeigte, um seinen Vergleich mit der Vision rechtfertigen zu können, allerdings Bedeutsamkeit beanspruchen, denn das den Visionierenden Gezeigte ist in der Regel mit einem existenziellen Appell oder auch einer existenziellen Affirmation verbunden190 . Kinofilme reklamieren diese Bedeutsamkeit zum einen inhaltlich, als künstliche Visionen etwa von Glück, Leid, Gewalt, Gerechtigkeit, Lächerlichkeit, Schrecken, Hoffnung, Sinnlosigkeit usw. Und ihre merkwürdige Autorität gründet darin, dass sie sich dabei eben als reines, dem Publikum geltendes Zeigen, als durch die Autorität einer zeigenden Instanz initiierte Schau, nicht als ein Gemachtes präsentieren. (Dieses autoritative Element bleibt dem Film unweigerlich sogar dort noch eigen, wo er sich selbst als filmisches Machwerk dekonstruiert). Schon der formale cineastische Modus eines konfrontativen Zustoßens, mit dem die bewegten, tönenden Bilder jenseits aller Inhalte dem appellativen Charakter der Vision treu bleiben, reklamiert Bedeutsamkeit. Kino »geht uns etwas an«, so Martin Seel, »weil es in ih[m] um ein Experiment damit geht, was uns überhaupt etwas angehen kann.«191 Freilich gibt es auch dezente Filmästhetiken, aber selbst filmisch performierte Dezenz zeigt sich auf der übergroßen Leinwand paradox als eine offensiv zur Schau gestellte, Blick und Gehör zugleich einnehmende Zurückhaltung. Gleichwohl unterscheidet sich der konfrontative Modus des Kinos von dem der visionären

189 Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 117: »Im Gegensatz zu einem abaissement du niveau mentale (Absenkung des Bewußtseinsniveaus) mit halluzinatorischen Eindrücken wird die Vision von ihren Empfängern als Erfahrung großer Klarheit und gehobenen Bewußtseins geschildert, deren Auslöser meist als exogen erlebt wird« (Hervorhebung original). Auch Hans Wissmann: Vision. II. Religionswissenschaftlich. In: Walter Kasper, Konrad Baumgartner, Horst Bürkle u.a. [Hgg.; 2001]: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. Freiburg, Basel u.a.: Herder, Sp. 811, weist darauf hin, dass durch die Vision »der Unterschied zw[ischen] der alltägl[ichen] u[nd] der außeralltägl[ichen] Wirklichkeit« keineswegs »aufgehoben« ist. Nicht zuletzt dieses klare Bewusstsein unterscheidet den Film als Vision vom Kino als »Traumbühne«; vgl. Matthias Brütsch [2011]: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv. Marburg: Schüren. Zudem ist das träumende Ich in das Traumgeschehen häufig aktiv verwickelt (vgl. Brütsch, S. 69), wohingegen die Vision sich eher als ein Schauen (bzw. Hören) vollzieht. 190 Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 117f. 191 Martin Seel [2017]: »Hollywood« ignorieren. Vom Kino. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 45. Allerdings verkennt Seel, dass dieses offensive Angehen eine spezifische, das Kino von anderen Kunstformen unterscheidende Qualität darstellt und nicht eine grundsätzliche Geste aller Kunst lediglich auf spezifische Weise repräsentiert.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

Erscheinung grundlegend: Der Film transportiert zwar die strukturelle Dynamik der appellativen Erscheinung, ist aber weder gezielt an eine bestimmte Person adressiertes Zeigen noch Selbstbekundung einer konkreten zeigenden Instanz. Als explizit künstliche Vision kultiviert er den reinen, gleichsam depersonalisierten Prozess eines appellativen autoritativen Zeigens ohne konkrete Adressaten oder Absender. Und auf diese die cineastische Eindringlichkeit zugleich paradox charakterisierende Unpersönlichkeit reagiert das Kinopublikum, wie Benjamin treffend bemerkt, mit einer »begutachtende[n] Haltung«192 . Das Kino ist demnach ein Ort, an dem künstliche Visionen in Umlauf gebracht und auf ihre Bedeutsamkeit hin »getestet«193 werden. Dass aber der Kinobesuch, was seine kultische Feierlichkeit angeht, mit dem Theater kaum mithalten kann, liegt nicht nur an dieser Publikumshaltung, die, so Benjamin, »keine Haltung [ist], der Kultwerte ausgesetzt werden können«194 , sondern auch am Charakter der Vision als einer unvermittelt, unvorbereitet hereinbrechenden Erscheinung. Denn während filmische Projektionen etwa im Rahmen musikalischer Events als Effekte, d.h. als im Rahmen feierlicher kultischer Praxis bewusst evozierte Widerfahrnisse inszeniert sind, lebt die spannungsvolle Atmosphäre des Kinos viel eher vom unvermittelten Hereinbrechen der Erscheinung im Alltag. Und während etwa das Theater als ästhetisch kultivierte kollektive kultische Zeremonie sein Publikum offiziell im feierlichen Schein von hellen Theaterlüstern begrüßt, repräsentiert der dämmerige Kinosaal, in den die Gäste eher vereinzelt, unbemerkt und unerkannt schlüpfen195 , das Zwielicht eines behaglich-unheimlichen Ortes, an dem einem alles »zustoßen« kann. Diese im Vergleich zu anderen Kunstformen wenig feierliche Atmosphäre findet seine Entsprechung bei der tatsächlichen Vision, die, zumindest in ihrer »unvorbereiteten« Form, gerade nicht im Rahmen eines feierlichen kultischen Rituals heraufbeschworen wird, sondern die Visionierenden unerwartet über-

192

Benjamin, Kunstwerk, S. 72. Wenn Benjamin dem Publikum dabei zugleich »Zerstreutheit« (ebda.) attestiert, ist dies keine kulturkritische Polemik, sondern im Gegenteil respektvolle Anerkennung jener routinierten Wahrnehmung, die der Film verlangt. Routine jedoch wäre im Umgang mit einer tatsächlichen Vision unangemessen. 193 Vgl. Benjamin, a.a.O., S. 38. 194 Ebda. 195 Danto schreibt: »Es ist, als ob der Zuschauer bei einem Film ein Individuum bleibt, auch wenn er ihn gemeinsam mit anderen sieht, während der Zuschauer eines Theaterstücks zu einem Publikum gehört, und säße er auch ganz allein auf seinem Platz« (Die philosophische Entmündigung der Kunst, S. 161f.). Damit ist die atmosphärische Differenz zum Theater als kultischer Feier präzise benannt. Aber solche Vereinzelung der Filmsehenden repräsentiert eben nicht schlicht alltagsmüden Eskapismus, der Individuen nach Danto in die Kinos treibt. Sie resultiert aus dem Kinosaal als Ort ästhetisch kultivierter visionärer Heimsuchung der Einzelnen, die, in Dantos treffenden Worten, genau darum vereinzelt zu bleiben scheinen, auch wenn sie den Film gemeinsam mit anderen Menschen sehen.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

kommt196 . Das Kino rekurriert auf diesen Typus der »unvorbereiteten«, nicht durch spezifische kultische Techniken initiierten Erscheinung. Als solche unterbricht sie den Alltag in einer abrupten Weise, deren Irritation noch in der durch keinen ritualisierten Schlussapplaus gemilderten Unvermitteltheit fortlebt, mit der das Kino sein Publikum nach der Vorführung ins Freie zurückentlässt – und alleine lässt. Im Theater hingegen werden die Anwesenden im Anschluss an die Performance atmosphärisch hinausgeleitet. Da das Kino ein plötzliches Hereinbrechen der Vision ästhetisch kultiviert, lässt es sich nicht in gleicher Weise wie etwa Theater, Konzert oder Lesung als feierliche kultische Praxis bezeichnen. Der Praxis des Kinobesuchs als künstlichem Visionieren ist aber eine kultische Dimension eigen, insofern sie von einer interessierten, ggf. leidenschaftlichen Offenheit für den Alltag unterbrechende »Lichterscheinungen« motiviert ist. Und ästhetisch kultiviert werden im Kinobesuch nicht primär konkrete (politische, ethische etc.) visionäre Appelle, d.h. nicht Erkenntnisse und Einsichten, sondern vor allem die kultrelevante Praxis des existenziellen Schauens eines gerichteten Zeigens. Dass tatsächliche Visionen, gerade auch da, wo sie unverhofft auftreten, inhaltlich dennoch stets Kulte bestätigen, kritisch modifizieren oder neu stiften197 , lebt im Kino fort, insofern der Film seine Inhalte durch die Praxis dieser spezifischen Schau eines sich zeigenden Zeigens zugleich eigenartig zu autorisieren scheint198 . Daher auch können Filme in so hervorragender Weise Vorstellungen der Welt formen und nur deshalb ein so ideales Instrument sowohl der Kritik wie der Ideologisierung sein. Was aber unterscheidet Spielfilme von Dokumentarfilmen, die ja immer wieder auch für das Kino produziert bzw. im Kino gezeigt werden und als bewegte Lichtbilder teil am beschriebenen cineastischen Modus der Konfrontation haben? Die Differenz ist nicht einfach nur die zwischen realistischen Fakten und visionärer Fiktion. Denn dass Dokumentarfilme nicht in gleicher Weise künstliche Visionen darstellen, liegt zudem an der Spezifik und Gerichtetheit ihres jeweiligen Zeigens. Dokumentarfilme verstehen ihr Zeigen als explizite filmische Wiedergabe. Ihre Qualität bemisst sich am die Wahrnehmung begleitenden Bewusstsein virtuosen Aufzeichnens durch eine Kamera. Der Reiz des Spielfilms hingegen beruht

196 Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 117. 197 Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 118. 198 Dass der »technisch reproduzierbare« Film eine immer wieder identische Vision in Umlauf bringt, autorisiert deren »Originalität« und Bedeutsamkeit, statt ihr die Aura zu rauben. Und es lässt das Empfangen dieser Vision zugleich zu einer besonderen Form der Teilhabe werden. Das eigenartige »Eingeweihtsein« durch einen Film besteht im Schauen einer gerade in ihrer cineastischen Fixiertheit als bedeutsam autorisierten Erscheinung. Bereits wenn Kinder sich über ihre ersten Filmerfahrungen austauschen, ist der Faszination durch das Gesehene häufig auch Stolz beigemischt, diesen Film gesehen zu haben.

4. Die Praxis Kunst als öffentliche Praxis

keineswegs auf der Prätention, fiktives Geschehen wie reales aufzuzeichnen199 , sondern darauf, es erscheinen zu lassen. Und während das Zeigen des Dokumentarfilms ein auf eine Welt gerichtetes Zeigen ist, kommt das des Spielfilms als Vision aus einer Welt heraus entgegen.

199 Allerdings experimentieren Spielfilme in sehr dynamischen Szenen gelegentlich auch mit dem Effekt, dass etwa Wasser oder Blut auf das Kamerobjektiv spritzt und dieses dadurch als solches sichtbar macht.

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5. Die Praxis Kunst als private Praxis

Die Künste stellen somit, wie bislang dargelegt, nicht nur im Rahmen von expliziten Festen und Feiern ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens dar. Diese Qualität kommt ihnen auch in ihrer institutionalisierten öffentlichen Präsenz als Theater, Konzert, Galerie, Lesung oder Kino zu, wobei die jeweilige Performance dann ein je nach Institution unterschiedlich gearteter festlicher bzw. feierlicher Charakter kennzeichnet. Zudem wird diese Praxis auch in den Formen der nichtinstitutionalisierten Präsenz von Künsten im öffentlichen Raum wirksam. Gefragt werden muss aber nun noch nach den Weisen privaten Umgangs mit Musik, Literatur, Bildender Kunst und Film (das Theater und der Tanz als öffentlich praktizierte Kunstformen werden hier nicht einbezogen). Auch diese Praktiken lassen sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, als feierliche Praktiken beschreiben, die von der ästhetisch kultivierten Geste kultischer Sorge getragen sind. Privatheit meint dabei jene Situationen, in denen die Subjektivität ästhetischer Erfahrung ihre externe atmosphärische Entsprechung durch bewusste Wahl eines exklusiven persönlichen Umfeldes findet und so zugleich in besonderer Weise individuell zelebriert wird.

5.1.

Musik hören

Musik wird im Privaten entweder bewusst und konzentriert gehört oder bildet den atmosphärischen Hintergrund für andere Tätigkeiten. Bezogen auf die bewusste Form spielt es keine Rolle, ob sich etwa Jugendliche zurückziehen, um sensible Lebensphasen mit ihren Lieblingssongs zu begleiten oder das abendliche Hören im Wohnzimmer auf den Genuss der rein ästhetischen Struktur präferierter Stücke aus ist. In beiden Fällen, in denen bestimmte Musik aufgrund einer jeweiligen Bedeutsamkeit ausgewählt und aufmerksam gehört wird, zelebriert dieses die Alltagsroutinen unterbrechende Hören in der Intensität einer besonderen Erfahrung (von der im Fall bewusster Auswahl präferierter Musik ausgegangen werden kann) zudem die exklusive Privatheit des Erfahrungsraums. Diesem geschützten, intimen, feierlichen Erfahrungsraum wird hier der Vorzug gegeben vor all den festlichen Erlebnis- und Ereignisqualitäten eines Live-Konzerts. Im Fall der Verknüp-

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

fung des Gehörten mit biographisch bedeutsamen Ereignissen erfährt die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse zugleich eine ästhetische Sanktionierung. Denn wenn etwa nichts das Gefühl eines glücklichen oder unglücklichen Verliebtseins so zu repräsentieren vermag wie das mit einer bestimmten Person assoziierte Musikstück, so feiert ein solches Stück dieses Gefühl dadurch, dass es der individuellen Regung gilt, sie musikalisch zugleich affirmiert und kultiviert 1 , statt sie lediglich »auszudrücken«. Ähnliches trifft für viele Ereignisse, Orte oder Situationen zu, deren (positive wie negative) individuelle Bedeutsamkeit gerade durch mit ihnen assoziierte Musik immer wieder eine nachhaltige, ggf. lebenslange ästhetische Repräsentanz erfährt. Und während die soziale und ästhetische Theatralität einer öffentlichen Liveperformance das Zelebrieren persönlicher Bedeutsamkeit überlagert, bietet ihm das private Musikhören dafür in besonderer Weise Raum, zumal der Tonträger unabhängig von Konzertprogrammen und Tourneedaten für solch geschützte Praxis jederzeit und, sofern tragbar, an jedem Ort zur Verfügung steht. Philosophische Ästhetik neigt traditionell dazu, biographisch kontextualisierte Erfahrung von Kunst als tendenziell »unästhetisch« abzuwerten. Martin Seel nennt eine auf das »Wohl und Wehe« der Rezipierenden bezogene Wahrnehmung »korresponsiv«2 und grenzt sie ab vom angesichts des Kunstwerks eigentlich verlangten verstehenden »Mitvollzug«3 . Dieser soll sich dann als Rezeption ästhetisch gestalteter »Gegenwarten des menschlichen Lebens unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation ihrer Betrachter oder Leser oder Hörer«4 realisieren. Aber selbst Adornos unerbittliches Beharren auf einer ästhetischen Objektivität zielt letztlich auf das »Wohl und Wehe« der Gesellschaft, deren fataler Falschheit nur durch das subjektive Gewahren einer von den Artefakten objektiv verbürgten Nichtidentität noch zu helfen ist. Ästhetisch fragwürdig wird »korresponsive« Wahrnehmung nur dort, wo sie tatsächlich zu einem Mangel an differenziertem Hören führt. Dabei können ggf. intensive biographische Bezüge den akribischen »Mitvollzug« von Musik gerade auch motivieren und schließen keineswegs das hörende Verstehen struktureller musikalischer Zusammenhänge aus, auch wenn sie psychologisch mit individuell bedeutsamen Ereignissen verknüpft werden5 . Wo keine spezifischen biographi-

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2 3 4 5

Hegel schreibt: »Das allgemeine Bedürfnis zur Kunst also ist das vernünftige, daß der Mensch die innere und äußere Welt sich zum geistigen Bewußtsein als einen Gegenstand zu erheben hat, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt« ( Ästhetik, S. 52). Aber Sache der Kunst ist eben kein bloßes Vergegenwärtigen dessen, was Menschen umtreibt, sondern eine spezifische Praxis seines (kultischen) ästhetischen Affirmierens. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 154. Vgl. Seel, a.a.O., S. 158. Seel, a.a.O., S. 159 (Hervorhebung original). Vgl. Christian Zürner: Popmusik als Medium von Erinnerungskultur. In: Peter Bubmann, Hans Dickel [Hgg.; 2014]: Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur. Bielefeld: Transcript, S. 133147, hier S. 145f.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

schen Bezüge Einfluss nehmen, Musik aufgrund von Texten oder Titeln aber für Individuen in anderer Art bedeutsame Inhalte transportiert, vollzieht sich auch dieses Transportieren zugleich als musikalisches Affirmieren bzw. als ästhetisches Sanktionieren solcher Inhalte in einem kultivierten Erfahrungsraum privater ästhetischer Bedeutsamkeit. Freilich muss die ein sich im Privaten vollzogenes Hören motivierende Bedeutsamkeit von Musik weder in mit ihr assoziierten biographischen Geschehnissen noch in ihrer durch Inhalt oder Programm markierten Bestimmung gründen. Konzentrierter häuslicher Genuss »autonomer« Musik unterbricht jedoch ebenso die pragmatischen Alltagskontexte durch ein ästhetisches Zelebrieren, das sich gleichwohl nicht in einem Zelebrieren des Ästhetischen erschöpft, d.h. bei dem Musik Medium, nicht Anlass des Feierns ist. Denn der private Rückzugsraum musikalischen Erfahrens stellt, auch beim hörenden Gewahren rein musikalischer Qualitäten, einen intimen Raum dar, in dem Musik wirkt, statt sich lediglich ästhetisch kundzugeben. Im Moment seiner Wirksamkeit jedoch manifestiert sich die Qualität des Ästhetischen als eines Mittels, nicht als eines Zwecks. Und soll dieses Wirken nicht einfach mit einem rezeptionspsychologischen Evozieren von Assoziationen, Gedanken oder Emotionen identifiziert, sondern »performativ« verstanden werden, ist hier die gleiche, unbestimmt intervenierenden Geste der Musik wirksam, die ein Konzert zur feierlichen Praxis macht. An die Stelle der live erlebten Klangerzeugung im Konzertsaal rückt dann die (nicht notwendig weniger erlebnisintensive) Exklusivität musikalischen Zelebrierens im Rahmen einer geschützten, individuell kultivierten Hörsituation. Und während die Atmosphäre eines Konzertes durch seine audiovisuelle mediale Übertragung viel von ihrer Präsenz verliert, vermag die Konzentration auf einen im privaten Rahmen abgespielten Tonträger die auditive Erfahrung der Musik durch deren Fokussierung ggf. sogar noch zu verstärken. Dem privaten Hören fehlt unzweifelhaft die »Ko-Präsenz«6 von Musikmachenden und Publikum beim Konzert, keineswegs aber die ästhetische Präsenz der musikalischen Geste selbst. Sie ist im Tonträger zwar verfügbar und objektiviert, wird aber dadurch keineswegs vom ästhetischen Ereignis auf ein Ding reduziert. Denn während etwa eine Theateraufführung entweder nur live oder als medial aufgezeichnetes Surrogat rezipiert werden kann, ist Musik auf CD, sofern sie gerade keine Live-CD ist, nicht lediglich Surrogat einer bestimmten Aufführung, sondern eine spezifische, technisch ermöglichte Weise ihres von konkreten Orten und Zeiten losgelösten Erklingens. Wo und wann sie aber, auch als »technisch reproduziertes Kunstwerk«, in privaten Momenten intensiven ästhetischen Erfahrens zu Gehör kommt, stiftet sie unweigerlich (individuelle) feierliche Orte und Zeiten, die dem Konzert als verbindlichem Ort einer öffentlichen Praxis zwar

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Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 58ff.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

hinsichtlich der Atmosphäre eines unwiederholbaren Events, keineswegs aber hinsichtlich einer grundlegenden gestischen Kraft von Musik nachstehen, die diese auch dann entfalten kann, wenn sie wieder und wieder als identische Studioaufnahme gehört wird. Die geschützte Privatheit der Hörsituation bzw. das Fehlen der mit einer Konzertsituation immer auch verbundenen beeinträchtigenden Momente vermag die feierliche hörende Identifikation des Individuums mit dieser musikalischen Geste ggf. sogar zu erleichtern. Zudem kommt sie ihr beim privaten Hören insofern entgegen, als es diesem Hören die ihm vertraute Version eines präferierten Musikstücks vom Tonträger darbietet. Freilich meint die Privatheit des Hörens nicht einfach nur Selbstbezüglichkeit, sondern eröffnet einen Erfahrungsraum, der sich musikpsychologisch gerade durch eine Vielfalt assoziativer Weltbezüge und sogar dadurch auszeichnen kann, dass Menschen beim Musikhören »alle Wesen« sich »verwandt und nahe fühlen«7 . Das jedoch ändert nichts am Bewusstsein der während solcher Zustände (meist) genussvoll gepflegten ästhetischen Isolation. Das private Musikhören vollzieht sich keineswegs nur im Modus des konzentrierten, exklusiven Hörens. Oft werden eher Atmosphären als begleitender Hintergrund für eine Mahlzeit, freundschaftliche Gespräche oder Tätigkeiten geschaffen. Und entsprechend verlagert sich das intensive Zelebrieren eines privaten Erfahrungsraumes dann zur feierlichen Herstellung eines die jeweilige Situation positiv beeinflussenden privaten Umfelds. Vom Interieur der Wohnung, das freilich ebenso auf ästhetische Weise Atmosphären erzeugt, unterscheidet sich die Musik dabei insofern, als ihr nicht gleichzeitig auch noch ein pragmatischer Zweck eigen ist. Selbst für die »Musique dʼ ameublement« eines Erik Satie bleibt konstitutiv, dass sich auf ihr, im Gegensatz zu tatsächlichem Mobiliar, weder sitzen noch etwas abstellen lässt. Und auch das raffinierteste Design einer Kaffeemaschine oder eines Weckers kann (und will) deren pragmatische Funktion nicht verbergen (selbst wenn im Design von Gebrauchsgegenständen immer etwas von der kultischen Aufwertung alltäglicher Dinge fortlebt). Noch die Wandfarbe lässt einen Wohnraum in spezifischer Weise als Wohnraum und damit als kontinuierliche Behausung in Erscheinung treten, wohingegen Musik in ihrer exklusiv nichtpragmatischen Funktion zugleich immer spezifische Zeiten stiftet8 . Schließlich ergeben sich die vom Interieur einer Wohnung hergestellten Atmosphären oft eher als Zusammenspiel eines Ensembles, wohingegen Musik eine konstitutive atmosphärische Kraft bereits aus sich heraus entfaltet. Diese ausgezeichnete, feierliche atmosphärische Kraft

7 8

Wackenroder, Phantasien über die Kunst, S. 208. Erik Satie versuchte dieses Problem einer feierlichen temporalen Besonderung der Klänge dadurch zu umgehen, dass die »Musique d’ameublement« permanent wiederholt werden sollte. Aber auch so gelingt eben nur ihre zeitliche Verstetigung, nicht jedoch ihre Transformation zum praktisch nutzbaren Ding.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

begegnet aber nicht als »tönende« Ekstase eines Dinges9 , d.h. nicht als die auditive Präsenzform eines Klangerzeugers, sondern als tönend zugleich intentional in die Welt entsandte Energie. Entsprechend bedeutet Herstellung musikalischer Atmosphären auch keine ästhetische Bezeugung der spezifischen Anwesenheit einer bestimmten Klangquelle (was Musik von Tonträgern zu Unrecht atmosphärische Qualität abspräche)10 , sondern die als räumliches Ausstrahlen erlebte intervenierende Geste der Musik. Einem ekstatischen »Aus sich Heraustreten«11 der Musik geht es nicht um sein Woraus, sondern um sein Wohin, nicht um Wirklichkeit12 , sondern um Wirksamkeit, nicht um ein Sein, sondern um ein Wollen. Damit gibt die Praxis auch des privaten Herstellens von Atmosphären durch Musik, die sich gerade nicht mit ästhetischer Wohnlichkeit begnügt, sondern im Kern auf eine existenziell bedeutsame Gewogenheit der Umwelt aus ist, ihre ursprüngliche Verankerung in der kultischen Einwirkung auf die Welt zu erkennen. Und während die Musik, die ein Gespräch atmosphärisch grundiert, eine das Gesprächsklima fördernde günstige Gestimmtheit des Umfelds intendiert, diese Gestimmtheit also herstellt, nicht einfach darstellt, zielen die zum Aufräumen oder zur Wohnungsreinigung gehörten Klänge nicht lediglich auf eine psychologische Motivation, sondern auf eine feierliche ästhetische Affirmation von Kräften, die die Bewältigung der Arbeit unterstützen und sie erleichtern. Eine besonders interessante Form des Musikhörens, in der sich Privatheit und Öffentlichkeit auf spezifische Weise begegnen, besteht schließlich im Gebrauch transportabler Abspielgeräte und Kopfhörer im öffentlichen Raum. Denn solches Hören in der Öffentlichkeit ist nicht nur kein öffentliches Hören, sondern es demonstriert seine öffentlich vollzogene Privatheit dem sozialen Umfeld gerade durch das Tragen entsprechender Geräte. Entscheidend aber ist, dass in diesem Modus der Musik nicht nur ihr Ausgreifen in den öffentlichen Raum verwehrt wird, sondern dass der Kopfhörer zugleich auch dem eigenen Hören keine reelle Räumlichkeit bietet, sich also die Hörerfahrung dem unvermittelten Einstrahlen der aufgezeichneten Klänge direkt ins Ohr verdankt. Die dabei gleichwohl erfahrene Räumlichkeit der Musik ist also eine imaginierte Räumlichkeit. Darum vollzieht der Einsatz des Kopfhörers in der Öffentlichkeit nicht einfach eine Ästhetisierung der alltäglichen Wirklichkeit oder eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, sondern verknüpft auf komplexe Weise zwei unterschiedliche Erfah-

9 10 11 12

Vgl. Gernot Böhme [2014]: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp, S. 33. Vgl. Böhme, a.a.O., S. 241. Vgl. Böhme, a.a.O., S. 34. Böhme, a.a.O., S. 33.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

rungsräume13 . Deren Gleichzeitigkeit kann dabei als komplementär, kontrastiv oder auch indifferent erlebt werden, jedoch interveniert die Musik hier nicht im öffentlichen Raum. Gleichwohl bleibt in dem durch den Kopfhörer vermittelten imaginativen Raum die intervenierende Geste der Musik repräsentiert, ohne sie als reelle ästhetische Raumerfahrung wahrnehmbar zu machen. Und anstatt den öffentlichen Raum durch expansive Privatheit schlicht ästhetisch zu absorbieren, mutet der Kopfhörer in besonderer Weise zu, die Differenz zwischen einem technisch hier zugleich verinnerlichten musikalischen Zelebrieren und dem öffentlichen Umfeld seines Vollzugs zu bewältigen.

5.2.

Bilder aufhängen

Was die Präsenz von Bildern im privaten Raum anbetrifft, können sie, ebenso wie Musik, einerseits eine biographische Bedeutsamkeit besitzen. Hierzu gehören etwa Bilder von bestimmten Personen, Situationen, Städten, Orten, Landschaften, Tieren oder Gebäuden. Insofern sie Gemälde sind, scheinen ihre künstlerischen Darstellungen dem malend verarbeiteten Dargestellten dabei zugleich »Ausdruck« zu verleihen. »Ausdruck« aber bedeutet nicht, dass ein Künstlersubjekt sich bildnerisch mitteilt, indem es »Sichtweisen«14 des Dargestellten artikuliert, sondern dass das Dargestellte selbst als ästhetisch ausdrucksvolles poietisch zum Sprechen gebracht wird. So ist die privat platzierte Landschaftsmalerei sowohl als kitschige Überzeichnung wie auch als experimentelle puristische Reduktion eine Form, diese Landschaft nicht nur ästhetisch wahrzunehmen, sondern sie, wie Adorno sagen würde, »beredt« werden zu lassen. Und das Bild intendiert nicht nur die Präsenz dieser biographisch bedeutsamen Landschaft, sondern inauguriert ästhetisch eine spezifische Weise der (kultischen) Hinwendung zu bzw. der Kommunikation mit ihr. Auch das Portrait eines individuell bedeutsamen Menschen intendiert nicht nur dessen Vergegenwärtigung, sondern ist auf den Umgang mit seiner beredten Erscheinung aus bzw. versucht, sie in der Wohnung ästhetisch wirksam werden zu lassen. Die Fotografie unterscheidet sich hinsichtlich dieser Gebrauchsweise nicht prinzipiell von der Malerei. Eine Differenz markiert lediglich die Offensichtlichkeit, mit der letztere durch malendes oder zeichnendes Gestalten über die Weise der Darstellung künstlerisch bestimmt, das Dargestellte also durch Poiesis zum Sprechenden macht, wohingegen der gestalterische Spielraum bei der Fotografie subtiler und weniger auffällig ist. Aber sowohl das Aufhängen eines Gemäldes wie

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Auch von einer Realitätsflucht kann hier nicht gesprochen werden, da das Hören ja in der Regel mit einer routinierten Ausführung der von der öffentlichen Situation erforderten Handlungen verknüpft ist. Vgl. Seel, Zur ästhetischen Praxis der Kunst, S. 408.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

auch das einer Fotografie, die biographisch Bedeutsames darstellen, sind insofern ein feierlicher Akt, als dadurch ein bedeutsamer Bezug zu Personen oder Dingen ästhetisch sanktioniert und affirmiert wird. Alle Fotos (wie alle Bilder) intendieren eine (im Kult wurzelnde) Sanktionierung und Affirmation von Beziehungen Betrachtender zu den jeweiligen Bildsujets. Kunsthaft werden sie aber in dem Maße, in dem diese Sanktionierung und Affirmation primär ästhetisch erfolgt (was beim Gemälde qua Herstellung offensichtlich ist, bei der Fotografie aber die Distinktion zwischen journalistischem Dokument und Artefakt prekär werden lassen kann bzw. eine zugleich ästhetische Aufbereitung, Verfremdung oder Besonderung des durch das journalistische Foto Festgehaltenen zu fordern scheint). Im Hinblick auf den privaten Kontext ist auch die Frage nach einer Kunsthaftigkeit der etwa bei den Großeltern häufig aufgestellten Portraitfotografien der Enkelkinder oder von Hochzeitsfotos der Töchter und Söhne interessant. Wenn Benjamin der (frühen) Portraitfotografie noch die ästhetische Aura des Kunstwerkes attestiert, so deshalb, weil diese Aura sich als »schwermutvolle Schönheit« vermittelt, die den »Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben«15 umfängt. Das aber heißt, dass die Ästhetik des Fotos, um diesen Effekt zu zeitigen, eine wie auch immer geartete melancholische Brechung des Dargestellten bewirken muss, d.h. eine »Ferne«, die der dargestellten Person nach Benjamins berühmter Definition der Aura innewohnen muss, »so nah« die Person auf dem Foto auch »sein mag«16 . Allerdings operieren die Ästhetiken von Familien- oder Hochzeitsfotos oft mit der Atmosphäre ungebrochener Nähe. Nicht der »flüchtige[] Ausdruck eines Menschengesichts«17 , in dessen verstreichendem Augenblick die »Schwermut« des Verlusts, des Abschieds und der Abwesenheit repräsentiert ist, sondern glückliche, stetige Präsenz und Zugewandtheit bilden häufig deren Grundzug. Und während künstlerische Portraitfotografie, wo sie sie nicht ohnehin durch Farbe, Licht oder Mimik distanziert, Gesichter bisweilen so nahe an die Kamera holt, dass eben in dieser Nähe die Fragilität der »geatmeten« Aura18 eines flüchtigen Augenblicks spürbar wird, verzichten im familiären Kontext erstellte Portraits gerade auf diese brüchige Intensität. Aber sie inszenieren ungebrochene Präsenz nicht nur paradox durch ein wohldosiertes Maß an Distanz. Denn anders als Kunstfotografie, die, mit Hegel gesprochen, in der konkret festgehaltenen Person zugleich ein Allgemeines ihrer Erscheinung ästhetisch akzentuiert, lassen Portraits von Familienmitgliedern für Angehörige diese entrückende Allgemeinheit häufig weitaus stärker von fotografisch inszenierter, glücklicher Gegenwart eines bestimmten, geliebten Menschen 15 16 17 18

Benjamin, Kunstwerk, S. 31 (Hervorhebung C.Z.). Benjamin, a.a.O., S. 19. Benjamin, a.a.O., S. 31. Vgl. Benjamin, a.a.O., S. 19: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen« (Hervorhebung C.Z.).

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

absorbieren. Und während künstlerische Portraits sich durch die dargestellten Individuen hindurch der ästhetischen Utopie eines gleichsam absoluten Portraits zu verschreiben scheinen, darf es den familiären Fotografien, auch wenn sie klischeehaft »allgemein« sind, qua Auftrag nicht um ästhetische Ideen gehen, sondern sie müssen sich primär um die konkrete, freilich gefällige bildliche Repräsentation der einen Person kümmern. Gleichwohl verdeckt diese Differenzierung, dass sowohl das distanzlos glückliche Familienfoto wie auch das avancierteste fotokünstlerische Experiment an eine kultische Praxis appellieren. Während letzteres diese Praxis aber durch seine »Aura« als zugleich unbestimmte kultiviert, trägt sein weitaus offensichtlicherer Appell ersterem das Verdikt ein, allenfalls kitschige »Gebrauchskunst« zu sein. Auch bei der privaten Hängung von Bildern müssen natürlich nicht biographische Bezüge zu Sujets ausschlaggebend für die Auswahl sein. Zwar bleibt da, wo Gemälden oder Kunstfotografien als bedeutsam empfundene inhaltsästhetische Impulse auch jenseits expliziter biographischer Betroffenheit abgewonnen werden, die dargelegte Funktion des Bildes prinzipiell wirksam – dann als Inauguration bzw. ästhetische Sanktionierung und Affirmation einer gleichwohl persönlich (wenn auch nicht biographisch) bedeutsamen Beziehung zu entsprechenden Inhalten. Das künstlerische Bild jedoch kann auch unter völliger Absehung von inhaltlichen Aspekten aufgrund seiner formalen Gestaltung präferiert werden. Je formalästhetischer die Präferenz aber begründet ist, und besonders bei der Auswahl von z.B. abstrakter Malerei, ist zunächst darzulegen, inwiefern hier von einer ästhetischen Bedeutsamkeit zu sprechen ist. Denn ein solches Bild könnte in der Wohnung dann auch als Ornament fungieren. Dagegen freilich opponiert seine bildhafte Form: Auch da, wo sie nicht durch einen Rahmen zusätzlich hervorgehoben ist, fokussiert sie eine »bedeutende Fläche« (Flusser) in einer dem eher begleitenden Charakter des Ornaments fremden Weise durch das normative Ideal einer (meist vier- oder rechteckigen) materiellen Bildgeometrie. Und sie hebt damit den Kontrast zwischen einem geometrisch verfassten, materiellen Bildding und einem immateriellen, dynamischen Bildakt im derart fokussierten Sichtbaren in einer Weise hervor, die explizite Aufmerksamkeit motiviert. Kein Bild kann unbedeutsam sein bzw. leugnen, dass das auf ihm sichtbar Gemachte durch den Fokus seiner bildhaften Fokussierung Bedeutsamkeit beansprucht – und sei es eine paradox zum bildhaft Bedeutsamen modifizierte, gleichsam visuell »exemplifizierte«19 Unbedeutsamkeit. Diese bildhaft fokussierte Bedeutsamkeit unterscheidet das Bild nicht nur vom Ornament, sondern ebenso von allen anderen Gegenständen im Raum. Freilich können z.B. auch Möbel, etwa als behütete Erbstücke, private Bedeutsamkeit besitzen. Diese kommt dann, als durch diese nicht notwendig intendiert, jedoch zu deren pragmatischer Funktion als Mobiliar ggf. hinzu, während ein 19

Goodman, Die Sprachen der Kunst, S. 62ff.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

Bild als Bild a priori Bedeutsamkeit zu repräsentieren beansprucht. Anders als bei anderen Einrichtungsgegenständen konzentriert sich die Affinität zum Bild auf die zu einem Ding, dessen einzige Aufgabe darin besteht, überhaupt nur als besonderer, d.h. das Ornamentale überschreitender Bezugspunkt von Affinität in Erscheinung zu treten. Durch diese spezielle Funktion macht es diesen Raum zugleich zum besonderen, bedeutsamen Ort. Somit ist, soll für sie überhaupt die Geste eines Zeigens veranschlagt werden, im Hinblick auf ihre Funktion nicht nur relevant, was Bilder wie zeigen20 , sondern v.a. wo sie es zeigen. Die Funktion des Bildes am privaten Ort liegt aber nicht, wie die der an öffentlichen bzw. medial kommunizierten Orten platzierten, in der feierlichen kultischen Flankierung einer Machtzentrale (auch wenn die private Hängung gerade kostspieliger Artefakte natürlich soziale Geltungsansprüche repräsentieren kann). Sie gründet in ihrer Eigenschaft, Bezüge der privaten Person zu ihnen zu repräsentieren und dem bewohnten Ort damit die Qualität eines durch die in Bildern kultivierten Bezüge für die bewohnende Person bedeutsam gemachten Ortes zu verleihen. Sein Bedeutsam- und Bewohnbarmachen durch Bilder, seine Inbesitznahme durch die ästhetisch repräsentierte Affirmation persönlicher Bezüge ist eine feierliche kultische Praxis. Nichts macht einen neu bezogenen Raum so sehr zu einem privat bedeutsamen Ort wie die Hängung des Lieblingsbildes. Diese Funktion ist dabei unabhängig von seinem materiellen Wert oder gar seiner »auratischen Originalität« und vollzieht sich noch in der Platzierung eines flüchtig fixierten Druckes oder der Kunstpostkarte über dem Schreibtisch. Gewiss können Bilder auch eher unbewusst als Teil eines atmosphärischen Ensembles wahrgenommen werden. Aber immer dann, wenn sich ihnen als Bild explizite Aufmerksamkeit widmet, verlieren sie ihre rein »ästhetische« Qualität und entwickeln eine zugleich existenziell konnotierte Präsenz, indem sie den Raum nicht nur, wie die anderen Teile des Interieurs, ausstatten, sondern ihn als Ort einer wechselseitigen (kultischen) Zuwendung auszeichnen: ihrer Zuwendung zum Raum wie der Zuwendung der bewohnenden Person zu ihnen. Denn während die übrigen Einrichtungsgegenstände sich im Raum befinden, wendet das Bild, das als »bedeutende Fläche« keinen wirklich raumgreifenden Körper besitzt und meist an der Wand positioniert ist, sich dem Raum umso mehr zu. Gerade aus dieser spezifischen, zugewandten Exponiertheit heraus fordert es seinerseits in spezifischer Weise Zuwendung. Das vor allem unterscheidet es von der Skulptur, die den Raum mit den bewohnenden Personen zwar teilt, sich dabei aber nicht in dieser demonstrativen Weise ihm gegenüber als ausgedehnte Fläche exponiert. Auch die Skulptur kann sich natürlich zunächst dem ästhetischen Gesamteindruck des Interieurs einreihen. Obwohl sie kein Rahmen fokussiert, erweist sich ihre über das Ornament hinausgehende Bedeutsamkeit einer expliziten Wahrnehmung jedoch 20

Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 271: »Das künstlerische Bild zeigt, wie es zeigt, was es zeigt.«

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

darin, dass sie als ausdrückliche ästhetische Thematisierung ihrer je eigenen Plastizität auf besondere Weise in Erscheinung tritt. Im Vergleich zu solch körperlicher »Ko-Präsenz« des plastischen Artefakts, das den Raum gleichsam mitbewohnt, adressiert ihn das Bild eher, wobei es eine zugleich distanziertere und empfänglichere Position einnimmt. In dieser empfänglichen Zugewandtheit manifestiert sich zugleich ein gradueller, nicht substanzieller Unterschied zwischen künstlerischem und rein dokumentarischem Bild. Denn während ersteres, das magische Kultbild expliziter beerbend, konstitutiv durch einen Bezug zum Raum qualifiziert ist, in den es hineinwirkt und dafür Würdigung erwartet, definiert sich letzteres zunächst als von einem Raumbezug eher unabhängiger Träger visueller Information. In gleicher Weise unterscheidet sich die Raumbezogenheit der künstlerischen Skulptur vom (plastischen) Modell, dessen rein veranschaulichende Funktion auch ohne diese Relation wirksam werden kann. Aber zunächst nicht mit künstlerischer Absicht erstellte Fotos oder Skizzen werden in dem Maße zu Artefakten, in dem sie in einem Raum nicht nur etwas zeigen, sondern diesen Raum zugleich ästhetisch adressieren. Entsprechend werden Modelle tendenziell zu Skulpturen, wenn ihre dreidimensionale Wiedergabe sich mit der Geste räumlichen Gebens (und Nehmens) mischt. Durch die Relativität dieser Differenz wird nochmals deutlich, dass das künstlerische Bild einen dem Bild grundsätzlich innewohnenden Anspruch lediglich in ausdrücklicher Weise repräsentiert. Und während etwa wissenschaftliche oder journalistische Fotografien häufig im zumal mit Text und Information durchsetzten abstrakten medialen Raum verbreitet werden, also keine bedeutsamen Orte stiften, dienen künstlerische Bilder in besonderer Weise dazu, durch ihre exponierte Hängung im konkreten Raum diesen Raum zum bewohnbaren Ort zu machen. Eine solche Funktion kann jedoch auch das wissenschaftliche oder journalistische Foto übernehmen, wenn es entsprechend platziert wird und damit nicht allein visuell Inhalte transportiert, sondern die Visualität seiner Inhalte damit Qualitäten einer räumlich wirksamen ästhetischen Energie erhält. Das private Aufhängen von Bildern stellt damit nicht nur ebenfalls eine Praxis ästhetisch kultivierten kultischen Sorgens dar, sondern erreicht sogar ein Maß an Feierlichkeit, das der Galerie nicht möglich ist. Denn im Privaten wählt die bewohnende Person die Objekte gemäß ihrer individuellen Affinitäten und persönlich empfundenen Bedeutsamkeiten, d.h. umgibt sich mit Affirmationen ihrer Existenz als einer Existenz in individuellen Bezügen und Beziehungen. Das Museum jedoch ist kein Wohnraum, sondern ein Ausstellungsraum. Und an die Stelle individuell kultivierter Affirmation rückt hier das öffentliche Zurschaustellen des anonymisierten, galeristisch gebrochenen Kultwertes einer repräsentativen Bildfülle (deren gleichzeitiges Ausstrahlen in den Galerieraum ebenso überfordern kann wie die von der Menge der Artefakte simultan beanspruchte Zuwendung). An anderen öffentlichen Orten, etwa im Café, erzeugen Bilder hingegen eine zugleich objektive Feierlichkeit, die für die anwesenden Personen möglichst attraktiv sein soll, auch

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

wenn sie über die Art ihrer ästhetischen Erzeugung nicht, wie im Privaten, selbst entscheiden können.

5.3.

Lesen

Wird nach der Feierlichkeit des privaten Umgangs mit Literatur gefragt, rückt der Unterschied »zwischen verkörperten und nicht verkörperten Texten«21 bzw. zwischen dem Zusprechen im Rahmen einer Lesung und der Praxis des eigenen Lesens in den Mittelpunkt. Inwieweit wird die soziale Dimension der Lesung auch in der privaten Lektüre wirksam? Sie ist hier modifiziert zur Intimität der Beziehung zwischen Buch und lesendem Individuum, die an die Stelle der einer hörenden Versammlung zugewandten Stimme tritt. Solche Intimität fehlt der Lesung, obgleich es sich bei der Beziehung zum Buch um die zu einem Ding handelt und keine Stimme zu vernehmen ist. Allerdings besitzt das Lesen wie keine andere rezeptive Auseinandersetzung mit den Künsten eine taktile Dimension: Während das Musikhören, der Theaterbesuch (auch der des Tanztheaters), das Betrachten von Bildern oder das Ansehen eines Filmes keine Situationen des Berührens voraussetzen bzw. das »Anfassen« sogar, wie die Galerie, streng untersagen, müssen Bücher in die Hand genommen, geöffnet, immer wieder berührt, umgeblättert werden. Und während die Abnutzungserscheinungen etwa an Abspielgeräten und Tonträgern eher Verschleiß repräsentieren, umfängt das durch die Spuren vielfältiger Lektüren gezeichnete Buch immer auch der bibliophile Charme des durch eine Fülle begehrender Zugriffe liebevoll Zugerichteten22 . Darum auch würde, wohingegen Gebrauchsspuren noch am günstigsten an der Wand platzierten Kunstdruck verpönt sind, ein mit lauter neuartig erscheinenden Exemplaren bestücktes Bücherregal in der Wohnung eigenartig steril wirken. Zur Ästhetik des Buches als Teil der Einrichtung gehört es gerade, durch die Indizien seiner Nutzung intime Lektürebeziehungen und damit eine Wohnlichkeit der Wohnung zu repräsentieren. Hinzu kommt noch, dass diese Lektürebeziehungen häufig an besonders intimen Orten, wie etwa dem Bett, unterhalten werden. Natürlich lesen Menschen auch an öffentlichen Orten wie im Zug, in der U-Bahn, im Café oder auf einer Parkbank. Dann wird das Buch zum persönlichen Begleiter. Und dass die Beziehung zu diesem Begleiter intimer ist als die zum ebenfalls mitgeführten (und berührten) Handy, Tablet oder Notebook, liegt an der zeitlichen Bedingtheit des Umgangs mit Büchern. Handys und Tablets sind vielfältig einsetzbare Instrumente, die unterschiedliche Zwecke erfüllen können, von denen der, literarische Texte lesbar zu

21 22

Fischer-Lichte, Performativität, S. 135. Eine Parallele hierzu ließe sich allerdings in der Musik ziehen, wenn bei einem Konzert etwa die Optik einer jahrelang intensiv bespielten E-Gitarre bewusst inszeniert wird.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

machen, nur einer ist. Das gedruckte Buch hingegen findet seine einzige Bestimmung (in der Regel) darin, gelesen zu werden und hat seine Aufgabe nach der Lektüre erfüllt. Damit jedoch gestaltet sich die Beziehung zu ihm geschichtlich, d.h. sie vollzieht sich selbst als ein Stück gelebter Zeit, durch die es Lesende begleitet, wobei diese Zeit sich in seinem Äußeren zudem rasch niederschlägt. In solchem a priori transitorischen Charakter der intimen taktilen Beziehung zum Buch als dem materiellen Träger der in ihm aufgeschriebenen Geschichte liegt die Spezifik des lesenden Verhältnisses zu ihm, dessen vorübergehende Zeit dabei auch immer etwas von der Intensität vergänglicher menschlicher Beziehungen transportiert (wobei das Aufbewahren und die Aufreihung sichtbar gelesener Bücher dann an eine Fülle bedeutsamer Lesebeziehungen erinnert). Der Kauf eines Buches ist demnach konstitutiv an das Bewusstsein einer mit ihm verbrachten besonderen Zeitspanne geknüpft, wohingegen Smartphones und Tablets idealerweise auf ein Funktionieren von möglichst unabsehbarer Dauer angelegt sind. Und während das gelesene Buch beiseitegelegt wird, weil seine Zeit gleichsam erfüllt ist, dient das digitale Gerät zwischen oder nach der Lektüre anderen Zwecken wie Telefonieren, Chatten oder Fotografieren. Damit muss sich das Verhältnis zu ihm notwendig pragmatischer gestalten als das zu einem Ding, das nur darum eine intensive Zeit lang berührt wird, um dem Leben durch Sprache einen bestimmten, feierlichen, vorübergehenden Zeitraum zu stiften. Auch der E-Book-Reader als spezifisches, auf dauerhaftes Funktionieren angelegtes Lektüreinstrument abstrahiert dennoch durch die formale Handhabe, die er zur Anzeige jedes jeweils gelesenen literarischen Textes verlangt, von den spezifischen sinnlichen Eindrücken, die die transitorische Leseerfahrung des konkreten Buchexemplars begleiten (und dabei selbst dessen spezifischen Geruch umfassen können). Mit der Intimität der Beziehung zwischen Buch und Lesenden, in der sich das soziale Moment der öffentlichen Lesung in den privaten Bereich hinein übersetzt, ist die ästhetische Leseerfahrung allerdings noch nicht hinreichend beschrieben. Denn dieses Verhältnis könnte sich ggf. auch bei der Lektüre einer fesselnden wissenschaftlichen Publikation einstellen23 . Insofern muss gefragt werden, wie das literarische »Rauschen der Sprache« lesend aufgenommen wird. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist eine somatisch konnotierte Dimension des Lesens. Wie Fischer-Lichte zutreffend beschreibt, eignet sie der Lektüre als »Inkorporation« des Textes, als metaphorisches »Verschlingen« von Büchern24 , so dass das Gele23

24

Während die Lesung vom wissenschaftlichen Vortrag dadurch unterschieden ist, dass erstere ein Zusprechen, letzterer hingegen ein Informieren bedeutet, muss sich diese Differenz nicht notwendig in einem abnehmenden Grad bibliophiler Intimität dem wissenschaftlichen Druckerzeugnis gegenüber niederschlagen (was sich v.a. in der Atmosphäre von Antiquariaten erspüren lässt, die ästhetische und akademische Literatur mit gleicher liebevoller Sorgfalt bewahren). Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 138.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

sene dann nicht nur geistig verarbeitet wird, sondern Aufnahme in den Körper der Lesenden findet. Während »Immersion«, ein »Eintauchen«25 in die literarische Sprache durch das lesende Individuum entgegen Fischer-Lichte noch kein Spezifikum der Lektüre ist, weil sie sich auch während des Hörens einer Lesung auditiv ereignen kann, lässt sich eine verlautbarte Stimme bzw. eine Lesung in der Tat nicht »verschlingen« wie ein Buch. Dies mag daran liegen, dass das Hören eines unbekannten, nicht visualisierten Textes, anders als sein Lesen, kein stummes Mitsprechen gestattet, wohingegen sich die gedruckte Schrift vor den Lesenden Zeile für Zeile ausbreitet und sich ihnen dabei gleichsam in den Mund legt. Das Lesen hat also niemals nur eine visuelle Dimension, sondern die gelesenen Worte affizieren, wie unbewusst auch immer, zugleich die Sprechwerkzeuge, werden im stummen Mitsprechen gleichsam lesend verkostet. Spricht sich, verlautbart als Stimme, in der Lesung verlebendigte Zeit dem Publikum zu, entspricht dem beim eigenen Lesen der Vorgang des selbständigen, gleichsam gustatorischen sich Zuführens von Sprache als vitaler Energie. Kultische Qualität gewinnt dieser Prozess, insofern er die geschichtliche Dynamik des Daseins durch die »Inkorporation« von Geschichten affirmiert. Anders gesagt: In den feierlichen Momenten des Lesens unterbrechen Menschen den alltäglichen Verlauf des Lebens, um literarisch belebte Zeit als Lebenskraft zu schmecken. Während es bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte primär um Erkenntnisgewinn geht, d.h. die sukzessive Entfaltung der Gedanken in einer finalen Aussage terminiert, steht beim ästhetischen Lesen der Aspekt des (rituellen) sich Ernährens durch das fortlaufende Rauschen der Sprache im Vordergrund (das freilich in einer Vielzahl anhebender und endender Geschichten besteht). Der »Lesehunger« ist ein Hunger nach dem Lesen, nicht nach gelesenen Aussagen. Er meint genau das Bedürfnis, dem »lustvollen« Rauschen der Sprache26 durch deren lustvolles sich Einverleiben zu entsprechen. Der »Wissensdurst« hingegen, der auf seine Weise durchaus auch ein Verschlingen wissenschaftlicher Publikationen motivieren kann, gilt gleichwohl nicht dem sprachlichen Leben der Zeit, sondern einer sprachlichen Bewältigung der Welt. Die feierliche literarische Affirmation der Geschichtlichkeit des Daseins allerdings darf nicht mit einer schlichten Affirmation von Sinn verwechselt werden27 . Denn selbst ein Schreiben, das Nihilismus und Sinnlosigkeit forciert, beansprucht, solange es in Form von Geschichten verfasst ist, literarische Bedeutsamkeit. Anders gesagt: Wenn dem Dasein auch kein Sinn abgewonnen werden kann, so wird doch

25 26 27

Ebda. Vgl. Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 89f. Eine fragwürdige Möglichkeit, Literatur und Wissenschaft als komplementäre Phänomene zu betrachten, bestünde darin, ersterer die ästhetische Stiftung von Sinn abzuverlangen, den letztere szientifisch nicht verbürgen kann.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

die Sprache, die solche Sinnlosigkeit ästhetisch zelebriert, literarisch zu überzeugen versuchen. Und selbst wenn Literatur das Dasein gerade zur sinnlosen Dauer dekonstruiert, so dürfen Geschichten, die dies tun, dennoch nicht langweilen und werden als ein Stück Literatur immer reklamieren, besonders und lesenswert zu sein. Geschichten repräsentieren nicht einen Sinn von Geschichte, sondern Geschichtlichkeit in all ihren existenziellen Erfahrungen, zu denen auch Vergeblichkeit gehören kann. Aber sie tun es dabei so, dass ihre Lektüre den Lesenden ein Stück wie auch immer bedeutsame Zeit als stimulierende oder auch irritierende Energie zuführt28 und die Lektüre so auch selbst zur besonderen, feierlichen Zeit wird. Diesem konstruktiven Moment bei der Lektüre literarischer Sinndekonstruktion entspricht die gleichwohl kommunikative, zugewandte Geste des sich kundgebenden Zusprechens selbst sinnloser Zeit bei der Lesung nihilistischer Literatur. Wenn einem sinnlosen Dasein in künstlerisch reizvoller Form ästhetischer Sinn abgerungen wird, vollführt die (kultische) literarische Affirmation der Sinnlosigkeit dennoch eine appellative, belebende Geste. Und selbst dort, wo Monotonie und Hoffnungslosigkeit literarisch zelebriert werden, übersteigen sie ihre Negativität im Hinblick auf eine merkwürdige ästhetische Feier solcher Zustände. Diese befremdliche Feier als kritische zu konzipieren, d.h. in ihr zugleich die der Überwindung des Negativen stumm und unbeirrbar aufgehoben zu sehen, ist das Grundanliegen der Ästhetik Adornos. Wenn Literatur Zeit als Geschichtlichkeit belebt und zum Sprechen bringt, Lesende sich dieses Sprechen dabei gleichsam einverleiben, wie lässt sich demgegenüber dann das Lesen von Gedichten beschreiben? Anders als bei der Lesung durch eine andere Person ist gerade deren eigene Lektüre durch den visuellen Eindruck einer strophischen Anordnung des Textes grundiert. Selbst die avantgardistischste Poesie hält, auch wenn sie alle Traditionen der lyrischen Rhythmisierung von Sprache aufgibt, doch an dieser visuellen Kennzeichnung ihrer Produkte fest29 . Mit dieser Anordnung aber präsentiert sich das Gedicht im Unterschied zum literarischen Text von vornherein explizit als Poiesis. Weitaus deutlicher als der Fließtext etwa des Romans gibt es sich als sprachliches Kunst-Stück zu erkennen und will als solches erkannt sein. Der »wandernde Blickpunkt«30 , der den fortlaufenden Textfluss der Narration beständig begleitet und lesend aufnimmt, wird bewusst blockiert, verlangsamt und modifiziert sich zum tastenden Überblick über eine auffällige Anordnung von Worten. Und während sich in der Erzählung geschichtliches Leben 28 29

30

Fischer-Lichte spricht vom Lesen treffend als von einem »energetische[n] Geschehen« (Performativität, S. 143). Vgl. Schlaffer, Geistersprache, S. 199: »[Versgrenzen] sind notwendig, um den einzig noch signifikanten Unterschied zur Prosa zu markieren und damit die Zugehörigkeit zur Lyrik – also doch zu einer großen Tradition – zu proklamieren.« Wolfgang Iser [1994]: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Auflage. München: Wilhelm Fink, S. 177ff.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

Zeile für Zeile als Sprache exemplarisch vollzieht, verweigert sich die Gedichtform eben dieser Verschmelzung. Sie prätendiert keinen unmittelbaren Vollzug von Leben, entfremdet sich ihm sogar und kennzeichnet sich ausdrücklich als Organon, als gehandhabte Sprache, mit der in besonderer Weise etwas (Unbestimmtes) bewirkt werden soll, statt das Leben selbst als narrativen Fluss sprachlich zu konstituieren. Darum lassen sich Gedichte, auch wenn deren Sprache lesend freilich ebenso genussvoll verkostet werden kann, nicht wie literarische Texte »verschlingen«. Statt sich durch einen kontinuierlichen Sprachfluss a priori zu kontinuierlicher Aufnahme zu offerieren und dadurch Distanz abzubauen, konfrontieren sie die Lesenden bereits visuell mit einem besonderen Sprachbild. (Gewiss blockiert das harmonische Erscheinungsbild klassischer Strophenformen den Lesefluss hier weniger als etwa puristische Experimente der Moderne. Aber auch der visuelle Eindruck etwa eines Sonetts lenkt das lesende Auge in andere, eher zirkulierende Bahnen als die kontinuierlichen, seitenfüllenden Zeilen literarischer Prosa.) Und da bei ihrem Lesen zudem, anders als beim Vortragen von Gedichten, keine hörbare Stimme den von ihnen vollzogenen Sprechakt klingend wirksam werden lässt, gleicht die Lektüre von Lyrik in der Tat eher dem behutsamen Gang durch eine »Ausstellung«31 von Sprachkunstwerken, die die Lesenden dazu einlädt, der unbestimmten Gerichtetheit ihrer den Kult beerbenden Interventionen nachzuspüren.

5.4.

Filme und Videos sehen

Trägt auch das private Filmsehen noch Elemente künstlichen als künstlerisch hergestellten Visionierens? Um diese Frage zu beantworten, muss untersucht werden, wie der Bildschirm die cineastische Erfahrung modifiziert. Zunächst fehlen der privaten Filmrezeption offensichtlich wesentliche Elemente, die für das Kino charakteristisch sind: Weder die Atmosphäre eines großen, fremden, spannungsvoll verdunkelten Raumes noch die Unvermitteltheit des Entlassens aus dieser Dunkelheit nach dem Film, die gleichsam das jähe Hereinbrechen und dann wieder Enden einer Vision inszenieren, kennzeichnen die häusliche Situation. (Allerdings könnte das unvermittelte sich Wiederfinden im vertrauten Umfeld der Wohnung nach dem Ausschalten des Fernsehers, Computers oder Tablets eine Parallele darstellen). Vor allem aber verringert die wesentlich kleinere Fläche des Erscheinens auf dem Bildschirm im Vergleich zur Kinoleinwand die visuelle und, aufgrund des Fehlens eines entsprechenden Soundsystems, in der Regel auch die akustische Eindringlichkeit des Films. Zwar hat Helen Wheatley für das Fernsehen gezeigt, dass auch

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Vgl. Schlaffer, Geistersprache, S. 24.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

ihm die grundlegend spektakuläre Dimension des Kinos keineswegs fehlt32 , gleichwohl bleiben die raumatmosphärische wie auch die Differenz bezüglich Größe und der Lautstärke des jeweiligen »Lichtspiels« zwischen beiden Kontexten konstitutiv. Allerdings ist die soziale Situation des Betrachtens beim häuslichen Fernsehen intensiviert. Denn erfolgt es, wenn es im Beisein von anderen Menschen praktiziert wird, meist in der Familie oder im Freundeskreis, bleibt das Kinoerlebnis hingegen das eines anonymen Publikums33 bzw. das des im Publikum gleichwohl vereinzelten Individuums34 . Und es gibt in der Regel kaum einen Gegenstand in der Wohnung, dessen räumliche Platzierung ihn bereits so sehr als Objekt einer gemeinsamen Hinwendung ausweist wie den v.a. im Wohnzimmer positionierten Fernseher im Ensemble mit den auf ihn hin gruppierten Sitzmöbeln. (Dieser exponierte Platz lässt gerade die immer größeren Flachbildschirme oft wie Hausaltäre wirken.) Demnach könnte das gemeinsame häusliche Fernsehen, zumindest in den Settings, in denen es bewusst gepflegt wird, als kollektives Zelebrieren der geteilten Vision einer eng verbundenen Gruppe betrachtet werden. Und während das eher unregelmäßig aufgesuchte Kino den Typ der unverhofft hereinbrechenden Vision ästhetisch kultiviert, stünde die Regelmäßigkeit des familiären Fernsehrituals dann für deren explizit kultisch initiierte Form35 . Allerdings genügt es nicht, solch ritualisiertes Televisionieren in der Familie als soziologischen Beleg für eine grundlegende kultisch stabilisierende Funktion des privaten Fernsehens (etwa als rituelle Affirmation familiärer Identität) zu veranschlagen. Menschen sehen auch alleine und keineswegs nur im Rahmen gleichsam rituell geordneter Programmpräferenzen fern. Daher muss die Plausibilisierung des privaten Sehens von Filmen und Videos als ästhetisches Kultivieren einer Praxis des Visionierens auch ein Rezeptionsverhalten im Blick haben, das selbst noch dauerhaftes, mehr oder weniger unbeachtetes Laufen des Fernsehgerätes einschließen kann. Tatsächlich scheint beim Fernsehen der Charakter der cineastischen Erscheinung bzw. die »Vision als ein[] Element der Tele-Vision«36 vor allem dadurch in den Hintergrund zu rücken, dass

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34 35 36

Helen Wheatley [2016]: Spectacular Television. Exploring Televisual Pleasure. London, New York: I.B. Tauris. Natürlich wird auch das Kino v.a. von Paaren, mit der Familie oder mit Freunden besucht. Dieses Miteinander im öffentlichen Kinosaal unterscheidet sich aber deutlich von der exklusiven intimen Geselligkeit des häuslichen Fernsehens. Mit dem gemeinsamen Gang ins Kino liefert sich ein Paar dem zwielichtigen Ort einer unterhaltsamen Heimsuchung aus. Im Filmsehen zuhause bereitet es der Vision im geschützten privaten Rahmen behaglicher Zweisamkeit Empfang. Vgl. Kap. 4.5. Vgl. Frenschkowski, Vision, S. 117. Volker Roloff: Probleme der Fernsehästhetik. Zur Intermedialität und Theatralität des Fernsehens. In: Peter Gendolla, Peter Ludes, Volker Roloff [Hgg.; 2002]: Bildschirm – Medien – Theorien. München: Wilhelm Fink, S. 45-62, hier S. 47f.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

die dort gezeigten Filme in den Strom eines permanent fortgesetzten Programmes eingereiht sind. Die Besonderheit der filmkünstlerischen Erscheinung, zu der auch populäre Formate wie Fernsehserien gehören (mit welchem Recht sollte ihnen der Charakter des filmischen Artefakts abgesprochen werden?) verliert sich in einem »Flow«, der »darauf ab[zielt], die Trennung zwischen den einzelnen Programmeinheiten aufzuheben und den Adressaten in einen quasi übergangslosen Programmfluss ›hineinzuziehen‹«37 . Auffällig dabei ist, so Stanley Cavell, »der Anteil des Geredes […] über die unterschiedlichen Formate hinweg. Das ist ohne Zweifel ein wichtiger Grund dafür, Fernsehen häufig so zu beschreiben, als biete es (den Zuschauern) ›Geselligkeit‹.«38 Das von Cavell hier angesprochene »Gerede« ist aber wichtig für die Differenzierung des jeweiligen Zeigens von bewegten Lichtbildern, in dessen spezifischer Geste sich der Visionscharakter der filmischen Erscheinung manifestiert. Denn z.B. Nachrichten, der Wetterbericht, Talk- oder Spielshows, Ratgebersendungen oder Dokumentationen sind so inszeniert, dass sie ein Publikum durch Moderation (und meist auch in Gestalt einer sichtbaren Moderatorenperson) adressieren, es durch die Sendung führen und deren Zeigen so zugleich als eine bewusste, kommunikative Präsentation von Programmgestaltenden erkennbar werden lassen. Auf diese Weise »konkurriert [Fernsehen] mit anderen Objekten der Aufmerksamkeit in seiner Umgebung, genau wie die Produkte, für die es wirbt; es […] stellt seine Anfragen offen, spricht das Publikum direkt an und verwickelt so die Zuschauer in einen Dialog. Es weist sie zum Zuschauen, zum Sehen an, zur Teilnahme an dem, was für die Augen geboten wird.«39 Diese Form der expliziten, werbenden Adressierung, die Rick Altman »Diskursivierung«40 nennt (und die wohl das anspricht, was für Cavell die »Geselligkeit« dieses Mediums bedeutet), fehlt nun aber dem Film – und sie fehlt ihm, was Altman zu wenig hervorhebt, auch bei seiner Performanz im Fernsehprogramm41 . Wenn der Film im Unterschied zu anderen Programmformaten »verweigert«, »die Anwesenheit eines Publikums

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Anne Ulrich, Joachim Knape [2015]: Medienrhetorik des Fernsehens. Begriffe und Konzepte. Bielefeld: Transcript, S. 45. Stanley Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. Übersetzt von Herbert Schwaab, Ralf Adelmann und Markus Stauff. In: Ralf Adelmann, Jan O. Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele [Hgg.; 2002]: Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft, S. 125-164, hier S. 145. Rick Altman: Fernsehton. In: Adelmann u.a.: Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 388-412, hier S. 407. Altman, a.a.O., S. 407ff. Altmann erkennt »starke Nichtdiskursivität« (vgl. S. 407) nur dem »narrative[n] Hollywoodfilm« im Kino zu (vgl. ebda.). Aber sie hebt Spielfilme (und Serien) auch aus dem unaufhörlichen »geselligen Gerede« des Fernsehprogramms heraus. Dies gilt jedoch nicht für Sitcoms, die durch das Einblenden von Gelächter explizit Kommunikation mit einem Publikum suggerieren.

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anzuerkennen«42 , heißt dies nichts anderes, als dass er sich auf ein reines, »unmittelbares« Zeigen konzentriert, sich also nicht als werbende, kommunikative Strategie kennzeichnet. Er zeigt zwar, wie alle Filme, sein Zeigen, offeriert sich aber nicht als medial vermittelte soziale Ansprache, und dies unterscheidet seine »televisionäre« Erscheinung von anderen Formen bewegter und tönender Lichtbilder im Fernsehen. Man könnte, was er prätendiert, eine reine Mystik des Zeigens nennen. Denn ist Zeigen im Alltag zwar überall und ständig präsent, vermag doch nichts so eindrücklich die faszinierende Erfahrung des gezeigten Zeigens zu vermitteln wie auf einer leuchtenden Fläche unvermittelt erscheinende Szenen, die sich zugleich selbst als in dieser Form gewollte, für ein Gesehenwerden bestimmte Erscheinungen transparent machen und denen dabei überdies keine alltägliche, d.h. erkennbar pragmatische Zeigefunktion zukommt. Mit der Faszination dieser Mystik ließe sich möglicherweise erklären, warum Menschen Fernsehapparate bisweilen den ganzen Tag im Hintergrund laufen lassen, ohne sich ihnen explizit zuzuwenden43 . Denn auch die raffiniertesten kommunikativen Strategien der Moderatoren, die das Publikum davon abhalten sollen, abzuschalten, erfordern ein Minimum an Aufmerksamkeit und werden bei dieser Fernsehpraxis nicht registriert – wohl aber das Faktum, dass ein Bildschirm im Hintergrund permanent etwas zeigt. Und dieser eigenartige Reiz macht auch erklärbar, warum z.B. kleine Kinder ein Bildschirm in der Regel sofort und unabhängig vom Gezeigten in den Bann zieht. Wichtiger als die konkreten Inhalte ist das intuitive Bewusstsein dessen, dass hier etwas auf einer besonderen, leuchtenden und tönenden Fläche gezeigt wird44 . Stanley Cavell hat vorgeschlagen, dem Bildschirm die Rezeptionsweise des »Überwachens« auf einer gehandhabten Bildfläche zuzuordnen45 . Aber man kann, statt das Fernsehen damit zum »Überwachungsinstrument«46 zu erklären,

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Ebda. Dies geschieht freilich nicht nur im Privaten, sondern auch an öffentlichen Orten, z.B. in Fastfoodrestaurants. Die Mystik des Zeigens manifestiert sich jenseits fernsehästhetischer Kontexte etwa auch darin, dass das Auditorium bei Vorträgen oft nicht die lebendige, präsente, sprechende Person betrachtet, sondern eine neben ihr eingeblendete Powerpoint-Folie fixiert wird. Sie scheint das Gesprochene als sich zeigende Erscheinung in besonderer Weise zu autorisieren. Cavell, Die Tatsache des Fernsehens, S. 144. Cavell, a.a.O., S. 150. Cavell begründet diese Deutung mit dem Verweis auf eine von Monitoren in nichtästhetischen Kontexten häufig ausgeübte Kontrollfunktion. Entsprechend legt das Fernsehen ihm zufolge kein kontinuierliches, aufmerksames Verfolgen wie bei der Kinoleinwand nahe, sondern »bereitet« stattdessen »eher unsere Aufmerksamkeit darauf vor[], bei bestimmten Eventualitäten aufgerufen zu werden« (S. 152). Dies mag im Hinblick auf den kontinuierlichen Programmfluss plausibel sein, begründet aber nicht, warum ein einzelner, im Fernsehen verfolgter Film durch den Monitor sollte »kontrolliert« werden können (vgl. S. 158.). Vgl. zu einer Kontrollfunktion des Fernsehens auch Ralf Adelmann [2015]: Visualität und Kontrolle. Studien zur Ästhetik des Fernsehens. Münster: Lit.

5. Die Praxis Kunst als private Praxis

auf dessen gegenüber der Leinwand reduzierten Fläche sich der darauf erscheinende Film besser »kontrollieren« lässt47 , diese Konzentriertheit des Bildschirms auch als eine Weise der Fokussierung und Verdichtung des Zeigens wahrnehmen. (So wirken etwa beim nächtlichen Blick auf die Fenster eines großen Wohnhauses die in vielen Zimmern leuchtenden Fernsehschirme mit ihren dynamischen Schnitt- und Bewegungsabfolgen keineswegs nur als »Kontrollmonitore«, sondern stellen auf eindrückliche Weise komprimierte Zeigeflächen dar.) Freilich reduziert sich dieses Zeigen im Fernsehen nicht auf Filme, sondern umfasst in gleicher Weise eben auch alle »diskursiven« Formate. Es könnte jedoch sein, dass eine durch den Film in besonderer Weise prätendierte Mystik des Zeigens als fundamentale Grundgeste letztlich allen Formen televisionären Zeigens ihren ästhetischen Reiz verleiht. Das, was das Fernsehen bietet, ist dann nicht einfach nur medial inszenierte »Geselligkeit«, sondern die unbewusst spektakuläre Erfahrung einer in allem Zeigen zugleich präsenten transzendentalen Intentionalität des Zeigens. Die Faszination des kleinen Kindes vor dem Bildschirm, das noch nicht verstehen, kann, wer ihm hier warum etwas zeigt, wohl aber die Geste des intentionalen Zeigens intuitiv erfasst, lebt insgeheim fort im Gebrauch des Fernsehers als eines Mediums, durch das sich Menschen der Permanenz48 einer abstrakten, intentional zeigenden Zugewandtheit vergewissern. Aber diese zeigende Zugewandtheit ist eben, gerade beim Film, keine soziale Geste, keine mediale »Kommunikation«, sondern die ästhetische Prätention einer »Sendung«. Dies gilt in gleicher Weise für Onlinevideos bzw. den Gebrauch des Internets, so dass medienästhetische Theorie neben den »ways of seeing«49 , der raffinierten technischen Modifizierung von Sichtweisen, weitaus stärker als bisher auch die faszinierende Qualität des Gesehenen als eines intentional Gezeigten zu thematisieren hätte. Denn der Reiz der Onlinevideos könnte gerade darin bestehen, dass sich das Internet nicht, wie das Video-Regal etwa in einer Stadtbücherei, als überschaubare, handgreifliche Auswahl von Zeigbarem darbietet, sondern ein ortloses, anonymes, unkontrollierbares Fluktuieren endloser Ströme des Zeigens bedeutet. Und eine eigenartige, moralisch indifferente Affirmativität dieses Zeigens läge darin, dass es, bei aller möglichen Grausamkeit oder Absurdität des inhaltlich Gezeigten, als Zeigen gleichwohl immer eine intentionale, bedeutsame, formal sinnvolle Geste bleibt. Von der medial vermittelten sozialen Kommunikation unterscheidet es sich insofern, als das filmische bzw. durch Videos vollzogene Zeigen seine ästhetische Kraft von der Prätention einer gleichsam metaphysischen Autorisierung, einer Mystik des »unmittelbaren« Zeigens erhält.

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Stanley Cavell, a.a.O., S. 158. Auch wenn nur ein bestimmter Film ausgewählt und angesehen wird, bleibt den Betrachtenden doch bewusst, dass Filmprogramme zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar sind. Vgl. Andreas Treske [2015]: Video Theory. Online Video Aesthetics or the Afterlife of Video. Bielefeld: Transcript, S. 119ff. (Hervorhebung C.Z.).

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Was dabei autorisiert wird, ist aber nicht notwendig eine Realität des Gezeigten, wohl aber die Bedeutsamkeit einer Vision. Es wäre zu fragen, ob die Suggestivität bewegter Licht-Bilder sich tatsächlich filmästhetischer Bildhaftigkeit oder eher der Intuition ihres (autoritativen) Modus des Zeigens verdankt. Beides ist bei der Wahrnehmung von Filmen zwar fast untrennbar verbunden, jedoch keineswegs identisch. Die cineastische Erfahrung lebt von der inszenierten Überwältigung durch eine großflächige, bewegte und massiv tönende Lichterscheinung, deren Hereinbrechen in ein erwartungsvoll ungewisses Dunkel nicht selbst gesteuert werden kann. Aber nicht nur dieser Aspekt des unterhaltsamen Ausgeliefertseins bedeutet ein ästhetisches Kultivieren der Heimsuchung durch die Vision. Zudem orientiert sich der Gang ins Kino nach dem, was dort jeweils »läuft«, d.h. nach einem Erscheinenden, das nicht ständig verfügbar ist, sondern jetzt gezeigt wird. Das Kinopublikum kann, auch wenn es freilich entscheidet, wann es ins Kino gehen möchte, doch nicht bestimmen, was erscheint. Das Programm als das cineastisch Erscheinende bleibt immer etwas von außen Determiniertes, etwas, das gerade kommt. Dies mag auch dem Filmsehen zuhause dann, wenn es Filme rezipiert, die im Rahmen des aktuellen Fernsehprogrammes gezeigt werden, ebenso ein gegenüber dem Sehen von DVD’s spannungsvolles Moment des Gewahrens von gegenwärtig »Gesendetem« verleihen. (Dieses Moment bleibt selbst der nur beiläufigen Aufmerksamkeit für ein permanent im Hintergrund laufendes TV-Programm erhalten). Der Rezeption gerade von Onlinevideos oder Beiträgen aus Mediatheken aber kommt im Vergleich dazu eher die Qualität des Abrufens von Visionen zu. Dies gilt auch und gerade dann, wenn Filme etwa während Bahnfahrten auf Notebooks oder Tablets gesehen werden. Solch privates Abrufen von künstlichen Visionen auf verdichteten, konzentrierten Zeigeflächen neutralisiert zwar die cineastisch prätendierte Situation der über eine jetzt und hier anwesende Ansammlung von Menschen hereinbrechenden Erscheinung50 , jedoch nicht die spezifische zeigende Geste des Films. Es komprimiert Visionen optisch zu individuell anvisierten, leuchtend bewegten Schau-Plätzen eines zugleich privilegierten sich zeigen Lassens.

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Dass es täglich mehrere Vorstellungen des Films im Kino gibt, tut dieser Prätention keinen Abbruch.

6. Ästhetisches Sorgen

Kunst ist, so lässt sich nach der Betrachtung ihrer Funktion im Rahmen von Festen, der Analyse ihrer institutionalisierten öffentlichen Performanz sowie von Formen ihrer nichtinstitutionalisierten Performanz im öffentlichen Raum und schließlich ihrer Bedeutsamkeit in privaten Kontexten zusammenfassen, keine Erscheinung, sondern eine spezifische Praxis. Sie stellt das feierliche ästhetische Kultivieren der feierlichen Praxis existenziellen kultischen Sorgens dar, dessen magisches Intervenieren in der Welt bzw. Verkehren mit der Welt zur kultischen Stabilisierung und Sicherung des Daseins sie als sorgende ästhetische Gesten zelebriert. Solch ästhetisches Sorgen aber bedeutet keine Ästhetisierung des Kultes. Denn es geht in einem Sorgen um das Ästhetische nicht auf. Die Dynamik der Gefüge1 von Kunstwerken und Performances genügt und feiert sich nicht selbst, sondern lebt von einem existenziellen Interesse an menschlichen Belangen, einer existenziellen Intention, die Menschen sie herstellen und gebrauchen lässt. Ihr »Ästhetisches« hat Kunst dabei darin, dass sie diese menschliche Intention zelebriert, ohne sie zu beglaubigen oder deren Moralität zu garantieren. Von Kunstreligion unterscheidet solch ästhetisches Sorgen, dass Kunst allein die Faszination einer spezifisch sorgenden Praxis und deren feierliche existenzielle Intention kultiviert, ihr dabei jedoch nicht durch irgendeinen konkreten Kult oder religiösen (Kunst-)Glauben sakrale Wirksamkeit attestiert. Anders als Religion zelebriert Kunst ein sorgendes Tun, keine umsorgte Erscheinung. Eine v.a. durch die Romantik profilierte Kunstreligion aber intendiert primär Erkenntniskritik. Sie fokussiert eine durch Artefakte vermittelte Erfahrung begriffsloser ästhetischer Intensität, deren Faszination durch z.T. extensive religiöse Metaphorik kommuniziert wird2 und die zum Leitmotiv eines kritischen Transzendierens des als restriktiv empfundenen aufgeklärten Commonsense avanciert3 . »Religion« meint hier letztlich eine Form 1 2 3

Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 121. Vgl. Wackenroder, Phantasien über die Kunst. Dieses spezifisch modernekritische Verständnis des Religiösen, dessen ästhetische Konstruktion seitens der Theologie zugleich Aufwind durch Friedrich Schleiermachers »Reden über die Religion« von 1799 erfährt, ist ungebrochen aktuell. Dies belegen nicht zuletzt neuere Ansätze der Religionspädagogik selbst, die Religion angesichts einer unter rationalisti-

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

ästhetischer Offenbarung des Anderen der Vernunft als gleichsam heiliger Irritation des von aufgeklärter Erosion bedrohten Bewusstseins. Kunst aber verbürgt in keiner Weise Transzendenz4 . Als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens modifiziert sie dessen intendiertes Einwirken auf bzw. Verkehren mit Welt zum existenziell dimensionierten ästhetischen Herstellen. Sie gewährt damit keine metaphysische Erkenntnis oder quasi-religiöse Offenbarung (auch der Film ist, als Poiesis, die ausdrückliche künstlerische Prätention einer Vision, die nur »zeigen« kann, was Menschen sich ersonnen haben). Ausgehend von der Performancekunst, die eine Geste reiner Wirksamkeit kultiviert, wurde gezeigt, inwiefern Theater mit dramatischen Aufführungen den Lauf der Welt zu stabilisieren oder verändern sucht, Musik und Lyrik Lebensräume gewogen machen möchten, Bildende Kunst ihre Schöpfungen als bedeutsame Inaugurationen inszeniert, Literatur ihren Impuls in dem Anliegen findet, Zeit zu verlebendigen bzw. sprechen zu lassen und Filme artifizielle Visionen bereithalten. Damit ist zugleich eine Antwort auf die ästhetische Kardinalfrage möglich, wie sich Kunst zu anderen Bereichen des Lebens verhält. Sie bleibt zunächst besondere, feierliche Praxis, d.h. sie wird nicht nur im Rahmen expliziter Feste und Feierlichkeiten vollzogen, sondern konstituiert, wo und wann sie öffentlich oder privat vollzogen wird, auch als »autonome« Praxis aufgrund ihrer feierlich ästhetisch kultivierten Geste kultischen Sorgens unweigerlich festliche/feierliche Orte und Zeiten. Die Besonderheit dieser Orte und Zeiten aber bleibt gerade konstitutiv auf das nichtfeierliche Alltagsleben bezogen, dessen Schutz und Stabilisierung die Praxis Kunst auf eine nichtalltägliche, feierliche Weise intendiert, d.h. in dessen Interesse ihre exklusive Praxis gerade ausgeführt wird. Das Unterhaltsame der Praxis Kunst liegt darin, dass sie als ästhetische Affirmation vollzogen wird. Selbst da, wo sie Sinnlosigkeit oder beißende Kritik ästhetisch zelebriert, kann sie solches Zelebrieren nie anders vollziehen als in der Weise feierlicher Affirmation. Und dieser affirmativen Energie bleibt, auch bei allem ästhetisch Negativen, ein konstruktives, freilich moralisch indifferentes, existenziell sorgendes Moment inne. Kunst feiert sich, auch in ihren ästhetizistischsten Formen, niemals selbst, sondern eine auf ästhetischem Wege verfolgte nichtästhetische Intention. Zugespitzt ließe sich entsprechend formulieren, dass es in der Kunst keinen Ästhetizismus geben kann. Kunst ist autonom, insofern sie sich vom konkreten Kult, nicht jedoch von ästhetischen Gesten kultischen Sorgens löst. Kunst ist Spiel, insofern sie mit existenziellen Gesten strategischen ästhetischen Einwirkens und Ver-

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schen Entfremdungserscheinungen leidenden Gesellschaft als primär ästhetisch zu erschließendes Phänomen beschreiben. Vgl. etwa Joachim Kunstmann [2010]: Religionspädagogik. Eine Einführung. 2. Auflage. Tübingen, Basel: A. Francke. Bezeichnend ist hier die typische und zugleich hochproblematische Einschätzung seitens einer ästhetisch orientierten Theologie bei Kunstmann, wonach hingegen »[ä]sthetische und religiöse Erfahrung […] kaum genau voneinander abgrenzbar« seien (Religionspädagogik, S. 347).

6. Ästhetisches Sorgen

kehrens spielt, nicht aber als jenseits aller Zwecke angesiedelte selbstgenügsame Dynamik. Mit dem Begriff des Sorgens soll die Praxis Kunst entsprechend von einer Vorstellung des Spiels abgegrenzt werden, die Spielen als der Sphäre des Notwendigen enthobene Tätigkeit begreift. Denn das mit Kunst praktizierte ästhetische Sorgen entspringt dem Bedürfnis, sich in einer prinzipiell unheimlichen Welt überhaupt erst existenziell einzurichten. Dabei unterscheidet sich solch existenzielles Sorgen von der ontologischen Konzeption des Sorgens, die Martin Heidegger in »Sein und Zeit« entwickelt5 . Denn während Sorge dort als allem lebenspraktischen Sorgen immer schon vorausgehende, es allererst bedingende ontologische Grundverfasstheit des Daseins als eines In-der-Welt-seins charakterisiert ist, bewegt es sich im Zusammenhang der Praxis Kunst auf der Ebene einer konkret und explizit in spezifischer Weise sorgenden Praxis. Heidegger hingegen formuliert: »Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch ›vor‹ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ›Verhaltung‹ und ›Lage‹ des Daseins. Das Phänomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des ›praktischen‹ Verhaltens vor dem theoretischen aus. Das nur anschauende Bestimmen eines Vorhandenen hat nicht weniger den Charakter der Sorge als eine ›politische Aktion‹ oder das ausruhende Sichvergnügen. ›Theorie‹ und ›Praxis‹ sind Seinsmöglichkeiten eines Seienden, dessen Sein als Sorge bestimmt werden muß.«6 Kunst artikuliert nur eine, freilich besondere ästhetische Form, in der sich die ontologische Grundkonstellation des Daseins als Sorge in diesem Fall praktisch realisiert und kenntlich macht. Auch wenn die sorgende Praxis Kunst damit in die Kategorie einer »ontisch gemeinte[n] Seinstendenz«7 fällt und nicht, wie die das Dasein grundierende Sorge bei Heidegger, »rein ontologisch-existenzial«8 verstanden ist, besitzt sie aber doch existenziellen Charakter, insofern sie als ästhetisches Kultivieren kultischer Praxis gleichwohl eine besondere, grundlegende, feierliche Geste der Sicherung und Stabilisierung des Daseins kultiviert9 . Das mit Kunst vollzogene

5 6 7 8 9

Vgl. Martin Heidegger [1993]: Sein und Zeit. 17. Auflage. Tübingen: Max Niemeyer, S. 191ff. Heidegger, a.a.O., S. 193 (Hervorhebung original). Heidegger, a.a.O., S. 192. Ebda. Nach Franz Koppe geht es bei Kunst um die »Vergegenwärtigung« von »existenziellen Sichtweise[n]« (Franz Koppe: Kunst als entäußerte Weise, die Welt zu sehen. Zu Nelson Goodman und Arthur C. Danto in weitergehender Absicht. In: ders. [Hg., 2016]: Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 81-103, hier S. 101, Hervorhebung C.Z.). Wenngleich Koppe damit zurecht die existenzielle Dimension der Kunst hervorhebt, verbleibt er doch abermals im Konzept erkenntnistheoretisch ausgerichteter Ästhetik.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

spezifische Sorgen ist, als ästhetisch kultiviertes und zelebriertes kultisches Sorgen, zudem deutlich unterschieden vom Motiv der »Sorge um sich«, das die philosophischen Lebenskunstkonzepte etwa bei Foucault10 und Schmid11 bestimmt. Denn in ihnen geht es um eine allumfassende, das Leben insgesamt grundierende Praxis seines kultivierten Vollzugs, um die »Form einer Intensivierung des Selbstbezuges, durch den man sich als Subjekt seiner Handlungen konstituiert«12 , nicht jedoch um ein spezifische Orte und Zeiten stiftendes, besonderes Einwirken auf die Welt bzw. Verkehren mit ihr durch Artefakte und Performances. Zudem ist die als Lebenskunst programmatisch profilierte Selbstsorge ein normatives Konzept, eine durch für sie konstitutive Elemente der »Asketik«13 , d.h. der Moralität, Verantwortung und Mäßigung gleichsam legitimierte philosophische Empfehlung, wohingegen das ästhetische Sorgen der Kunst eine keinerlei Moral verbürgende strategische Praxis von Menschen beschreibt. Ästhetisches Sorgen als ästhetisch kultivierte kultische Praxis bezeichnet schließlich solche strategischen, instrumentellen Aspekte dieser ästhetisch kultivierten Praxis. Das Verständnis der »menschlichen Praxis Kunst«14 als Praxis des existenziellen ästhetischen Sorgens eröffnet damit den Blick für eine in dieser Praxis wirksame strategische Rationalität. Der hier behauptete ästhetisch sorgende Anspruch der Kunst ist damit gerade nicht einfach auf eine romantisierende Kompensation rationaler Entfremdungserscheinungen aus, nicht auf die diffuse Erlebnisqualität eines irgendwie gearteten ästhetischen Zaubers (auch und gerade nicht auf den spielerischer Zweckfreiheit), sondern verweist auf Kunst als kalkulierte, instrumentelle Praxis der (ursprünglich kultischen) ästhetischen Sicherung von Existenz in einer potentiell bedrohlichen Umwelt. Dieses prinzipiell rationale »Interesse« bleibt den »interesselosen« Artefakten bei aller ästhetisch-gestalterischen »Sublimierung« als namenlose existenzielle Gerichtetheit, als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, »bestimmte Unbestimmbarkeit«15 usw. trotz aller Irrationalität der spezifisch ästhetischen Gesten, mit der diese Intention verfolgt wird, immanent. Dem Bewusstsein solcher Irrationalität ästhetisch kultivierter kultischer Sorge trägt die Kunst Rechnung, insofern sie diese Sorge eben nur ästhetisch kultivieren kann. Georg W. Bertram definiert den Bezug der Kunst zum Alltäglichen anders. Er weist zunächst zurecht darauf hin, dass das ästhetische »Autonomie-Paradigma«16 in der Regel zu undifferenziert ausfällt, um die Beziehung der Praxis, die Kunst

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Vgl. Foucault, Die Sorge um sich; ders., Ästhetik der Existenz. Vgl. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Foucault, Die Sorge um sich, S. 1406f. Vgl. hierzu auch die Phänomenologie der Selbstsorge bei Schmid, Philosophie der Lebenskunst, S. 244ff. Vgl. Schmid, a.a.O., S. 325ff. Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 113. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 23.

6. Ästhetisches Sorgen

ist, zu den anderen menschlichen Praktiken hinreichend verstehbar zu machen17 . Für ihn ist Kunst eine »spezifisch reflexive Praxisform – eine spezifische Ausprägung von Praktiken, mittels derer Menschen im Rahmen einer kulturellen Praxis Stellung zu sich nehmen.«18 Dies ist von Bedeutung, da »Menschen […] das, was sie sind, nicht von Natur aus [sind]. Sie sind auch nicht schlicht aus einer Tradition heraus in dem bestimmt, was sie ausmacht. Menschen haben das, was sie sind, vielmehr auch immer wieder neu zu bestimmen.«19 Kunst erweist sich somit als eine im Kern aufklärerische Praxis, insofern ihre genuine Leistung darin besteht, konstitutive und unabdingbare Prozesse reflexiver menschlicher Selbstbestimmung immer wieder anzustoßen. »Damit ist Kunst kein partikulares Element innerhalb der menschlichen Praxis, sondern einer ihrer Brennpunkte. Die menschliche Praxis ist von Kunst geprägt. Menschen gestalten, was sie sind, auch durch Kunst. Sie entwickeln durch ihre Auseinandersetzung mit Kunstwerken Verständnisse von sich und bestimmen damit, was sie als Menschen sind.«20 Kunst leistet also letztlich einen Beitrag zur menschlichen Freiheit21 : »Kunst bereichert das menschliche Leben in einer wundervollen Weise. Mehr gilt es nicht zu verstehen – weniger aber auch nicht.«22 Allerdings ist diese Position mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Zunächst bleibt unklar, wie der Impuls zur Selbstbestimmung, der von Kunst ausgehen soll, genauer beschrieben werden kann. Die von Bertram an einigen Stellen gelieferten Beispiele erscheinen zu wenig zwingend, um das ehrgeizige Programm einer ästhetisch in hervorragender Weise geförderten menschlichen Selbstbestimmung wirklich plausibel zu machen: »Nach den bisher zusammengetragenen Erläuterungen besteht die Auseinandersetzung mit Kunstwerken in einer Vielzahl von Aktivitäten, in denen Rezipierende die Konfigurationen der Kunstwerke artikulieren. Sie sitzen in einem Konzert und entwickeln Aktivitäten des Hörens, sie gehen intensiv durch eine Architektur oder diskutieren nach einem Film lange über dessen Bedeutung – die interpretativen Aktivitäten in Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk sind vielfältig und fallen je unterschiedlich aus. Sie sind dynamisch und insofern ein Moment der Entwicklung des Kunstwerks. Damit aber ist die Spezifik interpretativer Aktivitäten noch nicht angemessen dargelegt. Zu diesen Aktivitäten kommt es nicht nur in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken. Dies zu sagen, wäre ein Missverständnis – ein Missverständnis, das uns das Autonomie-Paradigma nahelegt. Wir können dieses Missverständnis beseitigen, indem wir die Aktivitäten, die in

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Bertram, a.a.O., S. 11ff. Bertram, a.a.O., S. 13. Ebda. Bertram, a.a.O., S. 19. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 20. Ebda.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk zustande kommen, als das begreifen, was sie sind: als leibliche Aktivitäten, Wahrnehmungsaktivitäten, emotionale Aktivitäten und symbolische Aktivitäten, die allesamt innerhalb der menschlichen Lebensform weit verbreitet sind. Sie bestimmen den Umgang mit Gegenständen, die Begegnung mit anderen Menschen und den Bezug auf uns selbst. Nun ist es selbstverständlich so […], dass diese Aktivitäten in Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk in besonderer Weise entwickelt werden. Das heißt aber nicht, dass mit der Kunst ganz neue Typen von Aktivitäten in die Welt kommen. Es kommt nur eine neue Entwicklung weitverbreiteter Typen von Aktivitäten in die Welt. Auseinandersetzungen mit Kunstwerken hängen mit Typen von Aktivitäten zusammen, die wir auch ansonsten in der Welt ausführen.«23 Bertram konkretisiert dann: »In der sonstigen Welt ist es zum Beispiel die Farbe von Baumrinden, die Lackfarbe von Tischen oder der Farbaufdruck auf einer Zahnpastatube. Auf diese Wahrnehmungsgegenstände passen die Wahrnehmungsaktivitäten, die in Auseinandersetzung mit einem Gemälde entwickelt werden, nicht als solche. Sie können aber Veränderungen bei sonstigen Wahrnehmungsaktivitäten fordern und damit ein Geschehen der Neuaushandlung von Wahrnehmungsaktivitäten anstoßen.«24 Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, dass die von Kunstwerken erforderten »Wahrnehmungsaktivitäten« tatsächlich eine Veränderung der Wahrnehmung in alltäglichen Kontexten anregen. Hören Menschen herannahende Autos anders, wenn oder weil sie Symphonien hören? Lesen Menschen Gebrauchsanweisungen anders, weil oder wenn sie Romane lesen25 ? Es könnte sogar genauso gut umgekehrt die aus dem Alltag vertraute Wahrnehmung auch die Auseinandersetzung mit Kunst prägen. Freilich sind hier bei Bertram schon ästhetisch gebildete bzw. zumindest bildsame Rezipierende vorausgesetzt, die um die von der »Selbstbezüglichkeit«26 der Kunst ihrer Wahrnehmung gestellten besonderen Anforderungen wissen und nicht einfach Wahrnehmungsroutinen auf die Werke übertragen. Aber auch dann ist zweifelhaft, ob etwa der durch ein avanciertes Gemälde herausgeforderte ästhetische Blick sich tatsächlich zur Modifikation der Rezeption seiner alltäglichen Umwelt motiviert sieht oder letztlich nicht der Blick der ästhetisch Gebildeten bleibt, der ihnen zwar gegenüber dem Kunstwerk, aber eben

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Bertram, a.a.O., S. 140f. Bertram, a.a.O., S. 142. Freilich könnten Menschen herannahende Autos als Musik hören und Gebrauchsanweisungen als Literatur lesen. Dann aber werden alltägliche »Wahrnehmungsaktivitäten« ästhetisiert, d.h. in einen besonderen, »selbstbezüglichen« (vgl. Bertram, a.a.O., S. 133ff.) Wahrnehmungsmodus überführt, statt lediglich künstlerische Anregungen für ihre Weiterentwicklung oder »Neuaushandlung« als nichtkünstlerische Praktiken zu beziehen. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 113ff.

6. Ästhetisches Sorgen

nicht in Kontexten jenseits der Kunst angemessen erscheint. Inwieweit also sollten »dynamische[] Auseinandersetzungen mit selbstbezüglich konstituierten Objekten«27 der Kunst eine Veränderung von Wahrnehmungsaktivitäten forcieren, die nichtselbstbezüglichen Gegenständen oder Ereignissen in mehr oder weniger pragmatischen Zusammenhängen gelten? Ist umstandslos davon auszugehen, dass die (noch so aufmerksame) Rezeption künstlerischer Produkte auf andere menschliche Praktiken ausstrahlt oder nicht eher zu einer gebildeten Kultivierung der ästhetischen Erfahrung als eines eigens ausdifferenzierten Erfahrungsbereiches führt? Warum sollten ästhetische Erfahrungen mit selbstbezüglichen Objekten überhaupt Relevanz28 für außerästhetische, nichtselbstbezügliche Zusammenhänge beanspruchen können? Zumindest wäre hier zwischen den Künsten zu differenzieren: Erscheint noch plausibel, dass Filme, Romane oder Theaterstücke, je nach individueller Wirkkraft bei den Rezipierenden, ggf. grundsätzlichere Reflexionen über das menschliche Leben anstoßen können, wird dieser Prozess mit dem Ansteigen des Abstraktionsgrades der ästhetischen Gebilde immer fragwürdiger. Da Bertram ein Kunstwerk aber gerade als avancierte ästhetische Gestaltung, d.h. als »strukturelle[n] Zusammenh[ang] unterschiedlicher Elemente, also etwa von Wörtern, Tönen oder Farbflächen«29 bzw. »als […] selbstbezüglich konstituiertes dynamisches Gefüge« profiliert, »innerhalb dessen diese seine Momente in spezifischer Weise ausgehandelt werden«30 , bleibt zu unklar, wie etwa der in diesem Sinne zutreffend Beschriebene dynamische und künstlerisch hoch spezifizierte Prozess einer musikalischen Improvisation31 der Weiterentwicklung nichtästhetischer Praktiken zuarbeiten soll. Bertram überträgt hier interessanterweise eine Idee in die philosophische Ästhetik, die im Kontext des Diskurses um Ästhetische bzw. Kulturelle Bildung unter dem Begriff der »Transfereffekte« seit längerer Zeit heftig umstritten ist. Es geht dabei um die Annahme, aus der ästhetischen Praxis ließen sich gleichsam formalisierte bildende Wirkungen (gerade in Bezug auf Kommunikationsfähigkeit, aber auch auf Kognition oder Sozialverhalten) auf Kontexte und Praktiken jenseits der Kunst transferieren32 . Wenngleich Bertram freilich weitaus weniger pragmatisch argumentiert – seinem Entwurf geht es um Selbstbestimmung und Freiheit, nicht um spezifische, operationalisierbare Kompetenzen – und keinen 27 28

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Bertram, a.a.O., S. 142f. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 141: »Ein Gemälde wird von einer Rezipientin dadurch verstanden, dass sie eine Weise der Farbwahrnehmung entwickelt, die dem Bild in seiner herausfordernden Spezifik gerecht wird. […] Diese Weise der Farbwahrnehmung hat aber auch eine Relevanz für ihre Farbwahrnehmungen in der sonstigen Welt. Sie kann ihre anderen Farbwahrnehmungen irritieren, erweitern oder in anderer Weise herausfordern« (Hervorhebung C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 114. Bertram, a.a.O., S. 121. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 118f. Vgl. etwa Christian Rittelmeyer [2010]: Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen: Athena.

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pädagogischen Beitrag liefern will, muss die im Kontext des pädagogischen Diskurses aufgeworfene Frage nach der grundsätzlichen Plausibilität dieses Transfers ausdifferenzierter ästhetischer Praktiken auf nichtästhetische Praktiken der »menschliche[n] Lebensform«33 auch an seine Theorie gestellt werden. Eine weitere Problematik betrifft den Begriff der »Aushandlung«. Bertram verwendet ihn sowohl für dynamische ästhetisch-künstlerische Interaktionen selbst34 , wie auch für die interpretativen Auseinandersetzungen mit Kunstwerken durch Rezipierende als konstitutive Beiträge zum prinzipiell unabschließbaren Prozess einer permanent erforderlichen bildsamen Redefinition menschlicher Praktiken jenseits der Kunst35 ; einer Redefinition, die sich entsprechend auch als ständige »Neuaushandlung« verstehen muss36 . Scheint der Begriff der Aushandlung im Rahmen einer improvisierten ästhetischen Interaktion von Kunstschaffenden zwar durchaus triftig, so fordert er im Kontext einer interpretativen Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen durch Rezipierende, zumal wenn dieser Auseinandersetzung ein Einfluss auf Neubestimmung menschlicher Praktiken auch jenseits der Kunst zuerkannt wird, Intersubjektivität und Formen der Öffentlichkeit. Nun ist allerdings gerade die intersubjektive Vermittlung subjektiver ästhetischer Erfahrung schwierig bzw. allenfalls in Ansätzen möglich. Gerade weil Kunst eindringlich als ein Nichtdiskursives erfahren wird, müsste Bertram näher ausführen, inwiefern eine (sprachlich-argumentative?) Aushandlung ihrem nichtdiskursiven ästhetischen Impuls durch das Kunstwerk überhaupt gerecht zu werden vermag37 . Anders gefragt: Inwieweit lässt sich Kunstrezeption prinzipiell in Gestalt von Aushandlung vorstellen? Wäre nicht eher von einer vielfältigen individuellen Rezeption von Subjekten auszugehen, die sich weniger in Form einer öffentlichen Aushandlung niederschlägt, also im nichtöffentlichen, privaten, ja intimen Bereich persönlichen

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Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 12f. Bertram, a.a.O., S. 119: »Das Beispiel der Improvisation illustriert, dass die selbstbezüglichen Bezugnahmen in einem Kunstwerk nicht aus der Einheit einer geschlossenen Form hervorgehen. Sie werden lokal beziehungsweise dezentral ausgehandelt« (Hervorhebung C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 187: »Die Rede von Bestimmungen des Menschen lässt sich besser verstehen, wenn man sagt, dass es sich um Bestimmungen menschlicher Praktiken handelt […]. Genau solche Bestimmungen leisten Kunstwerke dadurch, dass sie in ein dynamisches Zusammenspiel mit interpretativen Aktivitäten treten. Sie tragen so zur Aushandlung von Bestimmungen menschlicher Praktiken bei« (Hervorhebung C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 188. Adorno versucht den Widerspruch zwischen seiner Profilierung der Kunst als einer »NichtKommunikation« (Ästhetische Theorie, S. 15) und ihrem anders als kommunikativ gleichwohl kaum realisierbaren Anspruch auf Bildung eines kritischen gesellschaftlichen Bewusstseins dadurch zu umgehen, dass er – kryptisch genug – von einer durch Kunst bewirkten Veränderung der Gesellschaft mittels »unterirdischer Prozesse« ausgeht (vgl. Ästhetische Theorie, S. 359).

6. Ästhetisches Sorgen

Erlebens verbleibt? Und bedeutet das freundschaftliche Gespräch nach dem gemeinsamen Kino- oder Theaterbesuch schon die wirksame Neuaushandlung von Praktiken der menschlichen Lebensform? Wenn sich also die über das Ästhetische erfolgende Aushandlung menschlicher Praktiken nicht auf einen exklusiven Kreis öffentlich zirkulierender, gelehrter Deutungsdiskurse etwa durch die philosophische Ästhetik oder das Feuilleton beschränken soll38 , bliebe nach konkreten Formen dieser aushandelnden Rezeption durch die rezipierenden Individuen zu fragen. Eine dritte Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass Bertram Kunst als eine »spezifisch reflexive Praxisform«39 definiert und dadurch den Praxisbegriff, dessen Profilierung seine Ästhetik gerade auszeichnet, zugleich wieder abschwächt. Insofern seine Überlegungen klassischerweise bei Kant ihren Ausgang nehmen40 , kommen auch sie über den traditionellen vernunft- bzw. erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen der Ästhetik nicht hinaus. Bertram muss so zunächst einmal die ästhetisch inspirierte Reflexion selbst als eine Form der Praxis legitimieren: »Nach einem praktischen Verständnis […] ist Reflexion ein eingreifendes Geschehen. Die Reflexionsbeziehung wird so gedeutet, dass sich die Reflexion auf andere Praktiken auswirkt beziehungsweise bei diesen Wirkungen zeitigt.«41 Der erkenntnistheoretische Bezugsrahmen zeigt sich auch darin, dass ausschließlich die Rezipierenden bzw. »rezeptive Aktivitäten als interpretative Praktiken«42 thematisiert werden und der gesamte ästhetische Entwurf darauf abzielt, zu verdeutlichen, inwiefern die »Spezifik der Kunst […] unter Rekurs auf den Zusammenhang von Kunstwerken und denjenigen Praktiken […], die Rezipierende in Auseinandersetzung mit Kunstwerken ausführen«43 , dargelegt werden kann. Damit aber gerät Kunst als Poiesis, als Herstellen zu sehr in den Hintergrund – was im Rahmen einer Ästhetik, die Kunst gerade als menschliche Praxis profilieren und einen »unverkürzten Begriff der Kunst«44 ausarbeiten möchte, überrascht. Zudem muss Bertram, um diesen rezeptiven Fokus zu plausibilisieren, mit einem gleichsam ubiquitären Praxisbegriff operieren, der im Grunde nichts aus dem Bereich menschlicher Praktiken ausschließt. Wenn immer wieder von »Wahrnehmungspraktiken« die Rede ist, verweist dieser Terminus gewiss zurecht auf die bei diesen Bewusstseinsprozessen konstitutiven akti38

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Diesen Eindruck legen Bertrams Ausführungen bisweilen nahe, wenn etwa formuliert wird: »Jedes Kunstwerk« sei »konstitutiv mit Kontroversen in Bezug auf seine Interpretation verbunden« (Kunst als menschliche Praxis, S. 16), »Kunstwerke« seien »nur mittels etablierter interpretativer Aktivitäten zugänglich« (S. 138, Hervorhebung C.Z.) oder »um das Gelingen von Kunst« als eines Anstoßes zur Selbstbestimmung werde »eine komplexe Auseinandersetzung geführt« (S. 155). Bertram, a.a.O., S. 13. Bertram, a.a.O., S. 61ff. Bertram, a.a.O., S. 80 (Hervorhebung original). Bertram, a.a.O., S. 125. Bertram, a.a.O., S. 21. Bertram, a.a.O., S. 61.

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ven Leistungen. Gleichwohl wird ein Praxisbegriff unscharf, der »Praktiken des Sehens, Hörens, des interpretativen Sprechens etc., die Rezipierende vollführen«45 , nicht hinreichend von der schöpferischen Praxis künstlerischer Poiesis und der Herstellung ästhetischer Objekte oder Ereignisse unterscheidet. Dabei stellt sich zudem die Frage, inwiefern »Wahrnehmungspraktiken«, auf die es in Bertrams Ästhetik notwendig immer wieder hinausläuft, tatsächlich in umfassenderer Weise andere menschliche Praktiken inspirieren können, die sich ja nicht nur auf das ästhetische Feld beschränken. Er argumentiert: »Wahrnehmungsaktivitäten, die in Auseinandersetzung mit Kunstwerken oder ästhetischen Geschehnissen entwickelt werden, beziehen sich [deren Entwicklung und Modifikation inspirierend, C.Z.] auf Wahrnehmungsaktivitäten alltäglicher Praktiken.«46 Aber genügt die Dimension der Wahrnehmung schon, um eine grundlegende Redefinition menschlicher Selbstverständnisse zu initiieren? Fraglich ist also nicht nur der bereits problematisierte Transfer von künstlerischer auf nichtkünstlerische Wahrnehmung, sondern die Bedeutung, die »Wahrnehmungsaktivitäten« überhaupt im Kontext einer umfassenden »Neuaushandlung« menschlicher Praktiken zuerkannt werden kann. Inwieweit »in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken sehr unterschiedliche Typen von Praktiken zum Tragen [kommen], die allesamt an der Entwicklung selbstbestimmter Formen der Praxis mitwirken«47 , wird nicht deutlich. Ein vierter Einwand bezieht sich auf die der Kunst von Georg W. Bertram letztlich zugeschriebene Intention: »Die Praxisform der Kunst ist nicht die einer besonderen Institution. Sie ist auch nicht auf besondere Erfahrungen oder auf eine spezifische Überschreitung der sonstigen Praxis ausgerichtet. Vielmehr ist die Praxisform der Kunst auf einen besonderen Beitrag zur menschlichen Praxis als einer Praxis der Freiheit hin ausgerichtet. Für eine Praxis der Freiheit sind selbstbestimmte Formen der Praxis wesentlich. Und genau diese werden durch Kunst in einer spezifischen Art und Weise etabliert.«48 Da hier die Kunst als in einer übergreifenden Praxis der Selbstbestimmung stehend49 konzipiert, d.h. ihre Leistung in einem »besonderen Beitrag« für die Entwicklung anderer Praktiken gesehen wird, intendiert sie damit eben letztlich einen inspirierenden, primär formalen Transfer. Kann aber davon ausgegangen werden, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Objekten und Ereignissen tatsächlich durch faszinierende Impulse im Hinblick auf formale Transferleistungen angesprochen werden? Und kann bzw. muss das, was an der Kunst von Menschen ggf. als »wertvoll«50 45 46 47 48 49 50

Bertram, a.a.O., S. 54. Bertram, a.a.O., S. 170. Bertram, a.a.O., S. 218f. Bertram, a.a.O., S. 218. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 15: »Die Praxis, in der das Kunstwerk steht, ist eine reflexive Praxis« (Hervorhebungen C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 218.

6. Ästhetisches Sorgen

erlebt wird, nicht eher als etwas beschrieben werden, um was es dem Kunstwerk als einem spezifischen Ding oder spezifischen Ereignis in spezifischer Weise geht, so dass es sich gerade nicht auf sonstige Praktiken übertragen lässt? Bertram beschreibt Kunst resümierend »als ein Geschehen […], das als eine spezifische Aushandlung von Bestimmungen menschlicher Praktiken wertvoll ist.«51 Aber ist ein Stück Musik wirklich »praktische Reflexion«52 und nur dann »gelungen«53 , wenn es in grundlegender Weise eine Neubestimmung menschlicher Praktiken anstößt? Da Bertram die Poiesis, den Impuls zur kreativen Verfertigung des konkreten, besonderen ästhetischen Gegenstands ausblendet, muss ihm zwangsläufig die genuine Geste entgehen, die untrennbar mit dieser Produktion verbunden ist. Sie konstituiert das spezifische Wozu des Kunstwerks dynamisch und macht es nicht lediglich zum abstrakten Katalysator einer umfassenden Reflexionsdynamik. Deshalb ist auch der Unterschied zwischen Kunst und Natur weit gravierender, als in Bertrams Überlegungen dargestellt54 . Denn als Kunst werden nicht nur Gebilde verfertigt, die, analog der Natur, durch reizvolle ästhetische Konstellationen rezeptive Reflexionspraktiken motivieren, sondern denen als menschlicher Poiesis im Gegensatz zur »Naturlandschaft«55 eine Intention, eine spezifische praktische Gerichtetheit auf etwas, worum es Menschen mit ihnen zu tun ist, eignet. Diese Differenz bleibt für die durch Kunstwerke bzw. Naturlandschaften jeweils ausgelösten »interpretativen Aktivitäten« konstitutiv. Kunst als ästhetisch kultiviertes kultisches Sorgen ist, entgegen der These Bertrams, durchaus eine »besondere Institution«, definitiv mit einer »besonderen Erfahrung« verbunden und markiert aufgrund ihrer Feierlichkeit damit auch klar eine »spezifische Überschreitung der sonstigen Praxis«. Dennoch aber steht sie, wie Bertram zutreffend formuliert, »in einer tiefgreifenden Kontinuität zu anderen menschlichen Praktiken«56 . Allerdings stellt sie keineswegs nur einen besonderen Modus der »Entwicklung weitverbreiteter Typen von Aktivitäten«57 dar, sondern bleibt eine von diesen weitverbreiteten Typen konstitutiv verschiedene Praxis. Die Kontinuität zu den anderen Praxisformen menschlicher Existenz und damit die

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Ebda. Bertram, a.a.O., S. 154. Bertram, a.a.O., S. 154f. Bertram, a.a.O., S. 147: »Die Naturlandschaft bietet zum Beispiel einen Zusammenhang, in dem unterschiedliche Momente in komplexer Weise interagieren. Sie konfrontiert so diejenigen, die sich mit ihr auseinandersetzen, mit einer Konfiguration und wird in einer entsprechenden Auseinandersetzung als ein Gegenstand entdeckt, der aus sich heraus bestimmt ist. Oder anders gesagt: Die Naturlandschaft wird als ein Gegenstand entdeckt, der das Potential hat, interpretative Aktivitäten anzuleiten.« Bertram, a.a.O., S. 147. Bertram, a.a.O., S. 11. Bertram, a.a.O., S. 141.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

zwischen »Kunst und Leben« besteht nicht in der unmittelbaren ästhetischen Herausforderung alltäglicher Praktiken. Sie erweist sich mittelbar im spezifischen, feierlichen ästhetischen Sorgen um Existenzbedingungen, als die eine ursprünglich kultisch bedingte ästhetische Alterität von Kunst zwar besondere, nichtalltägliche Praxis anzeigt, gerade dadurch jedoch zugleich auch im unbedingten Interesse des alltäglichen Lebens vollzogene, notwendige Praxis ist. In Bertrams Konzeption hingegen wird das bei Kant theoretisch konzipierte freie Spiel der Erkenntniskräfte zu einer weniger harmonischen als riskanten »Praxis der Freiheit«58 modifiziert, zu einem «freie[n] Spiel«, in dem ästhetische Praktiken mit alltäglichen Praktiken interagieren«59 und eine fortlaufende, »unabgesicherte«60 Neubestimmung menschlicher Praktiken herausfordern. (Dass Kunst auch misslingen und mit diesem Anspruch dann scheitern kann61 , ändert nichts an den grundlegenden Einwänden, die gegen Bertrams Thesen vorgetragen wurden). Es gehört zu den grandiosesten Irrtümern der Ästhetik, hier, ausgehend von Kants vernunfttheoretischen Überlegungen und Schillers idealistischer ästhetischer Anthropologie, den Begriff des zweckfreien Spiels in einer Weise profiliert zu haben, die den Blick für die konstitutive Zweckgerichtetheit des Ästhetischen verbaut; Kunst immer wieder nur als eine »Tochter der Freiheit«62 bzw. als »Praxis der Freiheit«63 oder »Feld einer Freiheit«64 , nicht aber als einer Notwendigkeit gelten zu lassen, in deren existenziellem Anspruch noch die Angst ums Überleben, die Sorge um Nahrung und Fortpflanzung, der Schutz vor Naturkatastrophen oder vor Krankheiten bzw. auch die Freude angesichts des erfolgreichen Abwendens von Bedrohungen und des glücklichen Verlaufs von Ereignissen fortlebt65 . Ein »spielerisches« Element besitzt die Kunst nicht dadurch, dass sie Zwecke suspendiert66 , sondern deren existenzielle Ernsthaftigkeit in phantasievollen 58 59 60 61

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Bertram, a.a.O., S. 151ff. (Hervorhebung C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 93. Vgl. ebda. Vgl. Bertram, a.a.O., S. 184: »Kunstwerke bilden Konfigurationen aus, die Rezipierende in ein dynamisches Spiel verwickeln, das seinerseits als unterschiedlich wertvoll erfahren wird. Manche der Konfigurationen sind allzu vertraut, andere zu uninteressant, gewollt, ermüdend und vieles andere mehr.« Und: »Kunstwerke streiten […] darum, produktive Bestimmungen des Menschen zu provozieren« (S. 187). Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 12. Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 151ff. Menke, Die Kraft der Kunst, S. 14. Menke will die Kunst allerdings gerade nicht als soziale »Praxis« und v.a. nicht, wie Bertram, als »Beitrag zur Subjektwerdung« (Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 14) verstehen. Schiller lässt hier nur »Notwendigkeit der Geister«, nicht aber »Notdurft der Materie« gelten (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 12). Judith Siegmund [2019]: Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert. Stuttgart: J.B. Metzler, weist dabei auf die Undifferenziertheit hin, mit der die ästhetische Theorietradition gegen »Zwecke« der Kunst zu Felde zieht.

6. Ästhetisches Sorgen

Formen ästhetischen Gestaltens kultiviert. Die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« erschöpft sich nicht in einer erkenntniskritischen Provokation, sondern verweist auf die Spur einer unbestimmten praktischen Gerichtetheit, die im Kern mehr zu sein beansprucht als »wundervolle Bereicherung«67 (was Kunst sicher auch ist). Wenn Bertram Kunst primär als eingebettet in »reflexive Praxis«68 begreift, die eine an der Rezeption von Artefakten geschulte Differenzierungsfähigkeit auf andere menschliche Tätigkeiten überträgt, verbleibt der von ihm vorgeschlagene Praxisbegriff zu sehr im theoretischen Paradigma der erkenntniskritischen Konzeption von Ästhetik. Zwar erhält diese durch die Profilierung von Kunst als einer herausfordernden »Reflexionspraxis«69 bzw. als »Praxis, die Menschen entwickeln, um ihrer Praxis kritische Anstöße zu geben«70 , eine pragmatischere Akzentuierung. Grundsätzlich gilt hier aber weiterhin, dass Kunst letztlich »viel zu denken gibt«, d.h. zwar eine mit offenem Ende vollzogene, permanente menschliche Selbstbestimmungspraxis anregt, jedoch nirgends konkrete praktische Effizienz beansprucht. Als »Praxis der Freiheit«71 motiviert Kunst, wie Bertram formuliert, zu »unkalkulierten[!] Aktivitäten«72 , statt die strategische Bewältigung bestimmter Aufgaben zu intendieren. Sie inspiriert zwar menschliche Praktiken hinsichtlich ihrer formalen Modalitäten, ist aber nicht an Zielen von Praktiken interessiert. Wenn betont wird, »[j]edes Kunstwerk« sei »konstitutiv mit Kontroversen in Bezug auf seine Interpretation verbunden«73 , reduziert diese Behauptung Praktiken des Rezipierens zu sehr auf eine produktive Hermeneutik von Artefakten. Sie sind dann eher Objekte des elaborierten ästhetischen Verstehens, auf die Rezipierende (ggf. konstruktiv irritiert) reagieren, weniger jedoch Medien instrumenteller Praxis, mit denen sie etwas tun. Nach der Terminologie Hannah Arendts ordnet Bertram Kunst damit nicht, wie sie, der Tätigkeit des »Herstellens«, sondern des »Handelns« zu: Die durch die Auseinandersetzung mit Artefakten provozierte »Aushandlung von Praktiken«74 erfordert jenes von Arendt dem Handeln zugrunde gelegte »Bezugsgewebe zwischen den Menschen, das […] aus Gehandeltem und Gesprochenem entstanden ist«, mit dem sie dabei »in ständigem Kontakt bleiben [muß]«75 . Sind aber Kunstwerke und ästhetische Ereignisse als »Anstöße«76 zur reflexiven Aushandlung von Praktiken tatsächlich zureichend beschrieben? Lassen sie sich überhaupt als vermittelnde »Anstöße« zu etwas charakterisieren 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 20. Bertram, a.a.O., S. 15. Bertram, a.a.O., S. 16 (Hervorhebung C.Z.). Bertram, a.a.O., S. 215. Bertram, a.a.O., S. 151ff. Ebda. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 16. Bertram, a.a.O., S. 151 (Hervorhebung C.Z.). Arendt, Vita activa, S. 234. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 146.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

oder kommen ihrer Erfahrung nicht vielmehr Momente des eher unmittelbaren Mitvollzugs einer Wirksamkeit ästhetischer Dynamiken zu? (Ist das interpretierende Gespräch nach einem Kinobesuch77 identisch mit der Erfahrung des Filmsehens?) Und liegt der eigenartige Reiz dieser Dynamiken nicht in ihrem Vermögen, dass sie im Moment ihrer Rezeption etwas in die Welt zu setzen scheinen, also in dem Eindruck eines faszinierenden Herstellens bzw. einer ästhetischen Praxis, die, statt sich der Innovation anderer Praktiken zu verschreiben, spezifischen eigenen Intentionen folgt? Solches Herstellen aber, das Arendt zurecht für die Kunst veranschlagt und damit treffend als Machen, nicht, wie Bertram, als ein sich Verständigen über etwas charakterisiert, zielt gleichwohl, anders als Arendt behauptet, nicht auf die materielle Produktion dauerhafter, beheimatender Weltdinge. Was am Ästhetischen bewegt, ist nicht dessen Anspruch, durch sein reines, über »Brauchen und Gebrauchen«78 erhabenes »Währen«79 in der Zeit »sterbliche[n] Menschen« eine »nicht-sterbliche Heimat«80 zu schaffen, sondern der Versuch, Artefakte zu nutzen, um durch ihre Gesten ästhetisch mit der Welt zu verkehren. Und eben dieser Versuch impliziert bei all seiner Faszination letztlich ein strategisches Interesse am grundlegenden Schutz der Existenz, mithin gerade auch an der Sicherstellung einer Befriedigung »tägliche[r] Bedürfnisse[] und Notdürfte[] des Lebens«, denen Hannah Arendt Kunst gerade »entrückt« sehen will81 . Damit sind in Artefakten und künstlerischen Performances nicht nur bereichernde reflexive Anstöße, sondern v.a. handfest strategische Zwecke wirksam. Während Musik, Theater und Lyrik beschwörende Gesten kultivieren und Bilder die Autorisierung bedeutsamer Bezüge inszenieren, prätendieren Literatur und Film das den Menschen zugewandte Sprechen der Zeit bzw. die Mystik des visionären Erscheinens. Und allen geht es darum, auf spezifisch ästhetische Weise Bedingungen zu schaffen, in denen es sich (über)leben lässt: Indem mit Musik, Theater oder Lyrik eine günstige Beeinflussung des Weltlaufs, durch Bildende Kunst eine Stabilisierung von Bezügen und der Schutz von Orten intendiert ist, Zeit sich den Menschen in Literatur als sprechender geschichtlicher Strom, d.h. als Lebensraum zuwenden und Film als intentional Gezeigtes die Erfahrung mystischen Adressiertseins vermitteln soll. Solche Praxis existenziellen ästhetischen Sorgens ist weder zweckfreies Spielen noch stellt sie ein inspirierendes Überschussphänomen dar. Sie bezieht ihre eigenartige Relevanz aus der in der feierlichen Praxis Kunst wirksamen Energie, die weder Erkenntnis noch Moral verbürgt, aber unbedingte vitale Interessen zu affirmieren scheint – selbst da, wo sie Leid und Tod thematisiert.

77 78 79 80 81

Vgl. Bertram, a.a.O., S. 140. Vgl. Arendt, Vita activa, S. 201. Arendt, a.a.O., S. 202. Ebda. Arendt, a.a.O., S. 201.

6. Ästhetisches Sorgen

6.1.

Das Allgemeine und das Besondere

Kunst teilt diese strategische Rationalität des existenziellen Sorgens zwar mit dem realen Kult, transformiert dessen im Rahmen des Glaubens an bestimmte Kräfte und Gottheiten vollzogene rituelle Beeinflussung des Laufes der Welt jedoch zur vom Kult emanzipierten Geste namenloser ästhetischer Einwirkung. Der Bezug des Kultgegenstands auf eine mit ihm vollzogene verbindliche Praxis aber lebt fort in der eigenartigen Emphase, mit der Artefakte ihr ästhetisch Besonderes zugleich als Verbindliches zu installieren scheinen; in dem von Hegel feinsinnig registrierten Anspruch der Kunst, eine »Allgemeinheit schlechthin individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung [zu] bringen«82 . Denn das Allgemeine in der sinnlich konkreten Gestalt, das Hegels Geistphilosophie erkenntnistheoretisch als ästhetische Manifestation einer Idee interpretiert, ist nichts anderes als der über sich hinaus verweisende kultische Geltungsdrang des Artefakts, dessen »sinnliche Vereinzelung« sich zugleich als Medium einer übergreifenden Praxis versteht und anbietet. (Und sofern Kunstwerke »Ideen« veranschaulichen, sind diese Veranschaulichungen immer zugleich ihre eigenen Affirmationen, repräsentieren also eine Form feierlichen Handelns). Diese immanente Dynamik des Artefakts ist dabei keineswegs nur in der Ästhetik des Idealismus, sondern auch in der analytischen Kunstphilosophie bemerkt und dort von Nelson Goodman als »Exemplifikation« beschrieben worden83 . Goodman ist es dabei wichtig, diese besondere Form des Symbolisierens gerade auch für nichtgegenständliche Kunst plausibel zu machen: »Die Eigenschaften, die auf einem puristischen Gemälde zählen, sind diejenigen, die das Bild manifestiert, die es auswählt, auf die es sich konzentriert, die es zur Schau stellt und in unserem Bewußtsein hervorhebt – die es vorzeigt –, kurz: jene Eigenschaften, die es nicht bloß besitzt, sondern exemplifiziert, für die es als Probe steht. Wenn ich damit recht habe, symbolisiert auch das puristischste Gemälde des Puristen. Es exemplifiziert einige seiner Eigenschaften. Doch exemplifizieren ist sicherlich symbolisieren, denn Exemplifikation ist nicht weniger als Darstellung oder Ausdruck eine Form des Bezugnehmens. Ein Kunstwerk, so frei von Darstellung und Ausdruck es auch sein mag, ist immer noch ein Symbol, selbst wenn das, was es symbolisiert, keine Dinge, Menschen oder Gefühle sind, sondern bestimmte Muster der Gestalt, der Farbe und der Textur, die es vorzeigt.«84 Natürlich geht es Goodmans symboltheoretischen Analysen nicht, wie dem Denken Hegels, um eine die Erkenntnis des Absoluten anbahnende ästhetische Darstellung von Ideen, aber noch in dem behaupteten Anspruch der Artefakte, ihre

82 83 84

Hegel, Ästhetik, S. 77. Goodman, Die Sprachen der Kunst, S. 62ff. Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 85 (Hervorhebung original).

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

reine Besonderheit exemplifizierend auf ein Allgemeines, Exemplifiziertes hin zu überschreiten, findet das (ursprünglich kultische) Insistieren des einzelnen ästhetischen Produkts auf seine übergeordnete Bedeutsamkeit Nachklang. (Wie kann eine exemplifizierende Intensität der Kunst überhaupt plausibilisiert werden?) Bezeichnend ist, dass Goodmans analytisches wie Hegels idealistisches Kunstdenken das Allgemeine des Ästhetischen jeweils in einem (erkenntnis-)theoretischen Kontext lokalisieren, ihm jedoch nicht als sinnlichem Korrelat einer spezifischen Praxis nachspüren; es als Geltungsanspruch eines irgendwie ästhetisch Gesagten oder Ausgedrückten, nicht jedoch als verbindliches Medium einer im Artefakt zugleich ästhetisch repräsentierten Handlung konzipieren85 .

6.2.

Kunst und Politik

Bliebe in den von den Kunstwerken vollzogenen ästhetischen Gesten nicht die Praxis intendierter kultischer Einflussnahme auf die Welt bzw. des kultischen Verkehrens mit der Welt lebendig, wäre die grundlegende Kultfähigkeit, ja Kultbereitschaft von Artefakten kaum einsichtig zu machen. Sie freilich wird gerade in der politischen Funktion des Ästhetischen deutlich. Allerdings bedeutet Kultfähigkeit bzw. Kultbereitschaft hier keineswegs a priori eine Affinität ästhetischer Produktion für totalitäre Manipulation, für eine »Ästhetisierung der Politik«86 , wie Benjamin angesichts des Nationalsozialismus präzise formulierte. Denn der implizit kultische Anspruch der Kunst wird auch und gerade in einer kritischen »Politisierung der Kunst«87 , d.h. da wirksam, wo Kunstschaffende im Namen einer ästhetischen Subjektivität gegen Systemzwänge opponieren. Die Empfindlichkeit autoritärer Staatsapparate gegenüber den Erzeugnissen Kunstschaffender ist nie nur die gegenüber der subversiven Kreativität widerständiger Individuen. Sie verdankt sich nicht zuletzt der Furcht vor einem im besonderen Artefakt zugleich insgeheim installierten und inaugurierten umfassenderen kultischen Geltungsanspruch des künstlerischen Produkts. In der karikaturistischen Verballhornung eines Staatsoberhauptes etwa wird dieses nicht nur durch ein kritisches Künstlersubjekt ästhetisch attackiert, sondern die Attacke appelliert als ästhetische zugleich auf die offizielle, gleichsam kultisch beglaubigte Dekonstruktion der karikierten Person. Überall da, wo Bilder, Fotografien, Skulpturen, Musik, Gedichte, literarische Texte, 85

86 87

Zwar gesteht Goodman der ästhetischen »Einstellung« explizit zu, eher »Handlung« als »Einstellung« zu sein (vgl. Sprachen der Kunst, S. 242f.), aber Handlung ist sie ihm zufolge, sofern sie als »ruhelos, wißbegierig, prüfend« (ebda.), als schöpferische (vgl. ebda.) Neukonstruktion von Welt und damit als kreative erkenntnistheoretische Leistung, nicht als praktisch sorgende Strategie zur Stabilisierung des Daseins verstanden wird. Benjamin, Kunstwerk, S. 77 (original kursiv). Ebda. (original kursiv).

6. Ästhetisches Sorgen

Theaterstücke, Tanz, Filme, Installationen oder Performances sich als eine aufklärende, emanzipatorische politische Praxis des Darstellens, Ausdrückens und Kommunizierens kritikwürdiger Zustände verstehen, erschöpfen sie sich zugleich nicht in Darstellung, Ausdruck oder Kommunikation. Ihr Allgemeines ist nicht nur der Geltungsanspruch einer mit dem individuellen Werk getroffenen kritischen Aussage, d.h. einer wie auch immer gearteten ästhetischen Erkenntnis, sondern die Suggestion, mit dem Artefakt diese Aussagen zugleich durch spezifische feierliche Praktiken zu sanktionieren bzw. einen diese Aussage zugleich zelebrierenden Kult ins Leben zu rufen. Sie sind zuallererst kultische Affirmationen einer Darstellung, eines Ausdrückens oder eines Kommunizierens und suchen die Besonderheit des individuellen ästhetischen Produkts damit zugleich hinsichtlich seiner verbindlichen Geltung zu autorisieren. Und noch da, wo ein Artefakt allein aufgrund seiner Form subversive Wirkung entfaltet (oder deshalb politisch bekämpft wird), transportiert das je einzelne Erzeugnis eines (ggf. subversiven) Künstlersubjekts immer ein beanspruchtes Allgemeines seiner Geltung bzw. seiner impliziten kultischen Installation. Kunstwerke sind damit nicht nur Symbole in erkenntnistheoretischer Hinsicht, sofern sie, wo sie es überhaupt tun, ein von Ihnen Dargestelltes oder Ausgedrücktes repräsentieren, sondern in jedem Fall Symbole einer mit ihnen (ursprünglich) vollzogenen Handlung, repräsentieren also nicht einen Erkenntnisgegenstand, sondern eine Praxis. Und während Ästhetik sich traditionellerweise daran abarbeitet, hochkomplexe Modi der Referenz zwischen bezeichnendem Kunstwerk und von ihm Bezeichneten darzulegen (oder dieser Tradition gerade dadurch verhaftet bleibt, dass sie den Reiz des Ästhetischen in der irritierenden Negation von Referenz lokalisiert), verlangt doch ein Verstehen von Kunst als Praxis ästhetisch kultivierten kultischen Sorgens, die Gefüge der Artefakte nicht als Medium elaborierten Erkennens (oder elaborierter Erkenntniskritik), sondern als ästhetische Manifestation eines spezifischen Gebrauchs zu betrachten88 . Was Kunst ist, kann nur deutlich werden, wenn der in den Artefakten selbst aufgehobene, existenziell praktische Anspruch nicht ignoriert wird. Das freilich bedeutet nicht, Kunstrezeption auf regressive kultische Rituale zu verpflichten, aber sich bewusst zu machen, welche feierliche, existenziell sorgende Intention sich in Kunstwerken und Performances ästhetisch am Leben erhält.

88

Die erkenntnistheoretische Dimension bestimmt dabei eben auch Bertrams Konzeption der Kunst als »menschliche Praxis«: Denn wenn die faszinierenden Gebilde der Kunst interpretierende Praktiken motivieren, sind diese »Praktiken« dann deutende, verstehende, d.h. um Erkenntnis bemühte Praktiken. Zudem inspirieren Artefakte diese Deutungspraktiken zwar, können dies offenbar aber deshalb, weil Bertram ihnen einen provozierenden ästhetischen Eigensinn attestiert, der sie der Sphäre des Praktischen gerade entfremdet. Artefakte stellen damit reizvolle Anstöße zur formalen, bildenden Sensibilisierung des Bewusstseins dar, aber sie tun nichts bzw. sind kein Organon gerichteter Handlungen.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Aus der ästhetisch kultivierten kultischen Funktion der Künste ergibt sich eine grundlegende Ambivalenz ihrer politischen Wirksamkeit: Artefakte können ebenso der totalitären Affirmation dienen wie der ästhetischen Ermächtigung von Kritik, Widerstand und Subversion. Sie können Diktaturen ebenso kultisch legitimieren wie das ästhetische Aufbegehren dagegen. Sie lassen sich ebenso zur Beschwörung von Einheit benutzen wie zur Installation eines verbindlichen Geltungsanspruches der »ohnmächtige[n] subjektive[n] Regung«89 . Und noch das »ungehörte Verhallen« der musikalischen Avantgarde, das nach Adorno seine tragische Notwendigkeit dem Dienste an einer radikalen, anders nicht zu artikulierenden Kritik verdankt90 , verzichtet zwar auf breite Publikumsresonanz, nicht jedoch auf den Anspruch, das Umfassende und Allgemeine der Triftigkeit seiner in Gestalt einer besonderen Musik vorgetragenen Kritik kultisch zu beglaubigen. Das ursprünglich kultisch Allgemeine des besonderen Artefakts ist konstitutiv und a priori mit seiner ästhetischen Geste bzw. mit der dynamischen Struktur des Ästhetischen gegeben. Es entsteht nicht erst je und je durch mehr oder weniger große Beliebtheit. Adorno kann der kulturindustriellen Produktion mit Recht attestieren, dass sie auf Popularität schielt. Aber solche von vornherein strategisch anvisierte Breitenwirkung ist nur möglich durch eine kultische Emphase, die alle »affirmative« Kulturindustrie noch mit der avanciertesten »kritischen« Dissonanz formal teilt – auch wenn es letzterer freilich nicht gelingt, ähnliche Massen für sich zu begeistern. Noch die dem »absolute[n] Vergessensein«91 anheimgegebene Avantgarde aber ist kraft ihrer ästhetischen Geste als Musik eine zwar vergebliche, doch intendierte kultische Affirmation der Negation, des ästhetischen Einspruchs gegen die »falsche Welt«. Das (folgt man Adorno) unkritisch Fatale der Kulturindustrie liegt damit in ihrer verhängnisvollen gesellschaftlichen Beliebtheit, nicht in der ästhetischen Kultivierung der kultischen Funktion an sich. Gewiss ist solche Beliebtheit bis zu einem gewissen Grad mit populären ästhetischen Strategien künstlerischer Produktion zu erklären. Diese Strategien jedoch nutzen nur in einer spezifisch erfolgsorientierten Weise kultische Geltungsansprüche des Ästhetischen, die ihm in prinzipiell allen seinen Erscheinungsformen, eben auch als bewusst forcierte, exklusive Hermetik zukommen. (Und der gerade von Adorno offensichtlich anvisierte distinguierte Kreis der »Expertenhörer«92 ist eigentlich nicht anders vorstellbar als ein elitärer Zirkel Eingeweihter, die ihren kritischen Habitus im gepflegten Ritual des »voll bewussten Hörens«93 nicht ohne Stolz kultivieren.)

89 90 91 92 93

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 262. Vgl. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 126. Ebda. Theodor W. Adorno, Typen musikalischen Verhaltens, S. 181f. Vgl. Adorno, a.a.O., S. 182.

6. Ästhetisches Sorgen

6.3.

Ästhetische Innovation

Kunst als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens bedingt spezifisch ihre sowohl eher konservativen wie progressiv anmutenden konkreten Erscheinungsformen. Das Adjektiv »kultisch« appelliert einerseits an eine streng gewahrte Ordnung ritueller Praktiken, die »Kultur« immer zugleich auf »Tradition« zu verpflichten scheint. Aber es impliziert ebenso einen Modus herausfordernder ästhetischer Exploration. Diese explorative Energie allerdings muss anders verstanden werden als eine »Weise der Welterzeugung«. Was die Kunst erkundet, erforscht, entdeckt, sind nicht »Weltversionen«94 . Sie gilt, so naheliegend das »ästhetisch« zunächst auch anmuten mag, nicht der kreativen Ausdifferenzierung von Erkenntnis, sondern lotet kreative Möglichkeiten aus, in einer bewohnten Welt poietisch zu intervenieren bzw. poietisch mit ihr zu verkehren. Die von Artefakten vorangetriebene Innovation besteht nicht in der Präsentation neuer Ausdrucks- und Darstellungsformen, mit denen zugleich ein irgendwie ästhetisch Ausgedrücktes oder Dargestelltes erschlossen bzw. umspielt wird, sondern in der Suche nach neuartigen Formen, die Welt mit dem künstlerisch neu Geschaffenen neuartig zu affizieren bzw. sie mittels Kunst auf ästhetisch experimentelle Weise zum zugewandten Gegenüber zu beleben. Kunstwerke experimentieren mit der Kraft von Gesten, sind Medien des Handelns, nicht des Erkennens. Dieser Versuch des ästhetischen Affizierens bzw. Belebens von Welt ließe sich teilweise als intendiertes Erzeugen »vertikaler Resonanzen«95 verstehen. Insofern »Resonanz« bei Hartmut Rosa als »ein[] Modus des In-der-Welt-Seins, das heißt [als] eine spezifische Art und Weise des InBeziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt«96 definiert wird und »vertikale« Resonanz im Unterschied zur »horizontalen« Resonanz (Beziehungen zur sozialen Welt betreffend) sowie zur »diagonalen« Resonanz (Beziehungen zur Dingwelt betreffend) auf ein Gegenüber bezogen ist, das »als über das Individuum hinausgehend erfahren wird«97 , so dass »gewissermaßen die Welt selbst eine Stimme [erhält]«98 , sind Dynamiken der Praktiken Literatur und Film zutreffend beschrieben. Denn Literatur lässt die Zeit99 sich Lesenden (und Hörenden) in immer neuen Gestalten als geschichtliches Leben sprechend zuwenden. Der Film belebt die Welt zum Ort hereinbrechender Visionen. Insofern erscheinen beide bereits als Manifestationen erfolgender Resonanz der Welt bzw. prätendieren sie ästhetisch. Mu94 95 96 97 98 99

Vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 117. Vgl. Hartmut Rosa [2018]: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp, S. 331. Rosa, a.a.O., S. 285. Rosa, a.a.O., S. 331. Ebda. Rosa benennt explizit Zeit als in vertikalen Resonanzachsen resonierende Größe (vgl. a.a.O., S. 297).

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

sik, Bildende Kunst, Theater, Tanz und Lyrik jedoch bilden streng genommen nicht schon selbst »Resonanzsphären«100 , sondern stellen Medien dar, die auf eine durch sie intendierte, bestimmt unbestimmte Resonanz der Welt erst aus sind. Im deutlichen Unterschied zu Rosas Konzeption jedoch geht es dabei nicht nur um das beglückende Empfinden einer existenziellen Stimmigkeit im Verhältnis zwischen Subjekt und Welt. Die intendierte Affizierung der Welt, der Beziehungsaufbau zu ihr dient nicht nur der Kultivierung eines erfüllten, ausbalancierten Seins in und mit ihr, sondern ist, als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens, von der durchaus instrumentellen, ja strategischen Intention motiviert, die Welt in einer dem Dasein gewogenen Weise zu beeinflussen. »Tatsächlich verhält es sich sogar so«, schreibt Hartmut Rosa, »dass der Versuch, instrumentelle Verfügbarkeit und Kontrolle über sie zu gewinnen […], die Resonanzerfahrung als solche zerstört.«101 Resonanz ist damit, wie Rosa selbst hervorhebt, »ein romantisches Konzept«102 . Es ist motiviert von dem Leiden daran, dass »das wissenschaftlich-rationalistische Weltverständnis auf stummen Weltbeziehungen basiert«103 und versucht, diese stummen Beziehungen (wieder) in sprechende zu verwandeln. Das kultische Praktiken in ästhetische Gesten verwandelnde Sorgen der Artefakte aber ist keineswegs schlicht das ganz Andere »instrumenteller Verfügbarkeit und Kontrolle«, sondern kultiviert mit diesen Gesten gerade ihren Gebrauch. Und auch wenn sie sich dem Plausibilitätsanspruch eines »wissenschaftlich-rationalistischen Weltbildes« freilich widersetzen, konvergieren sie mit dessen wissenschaftlich legitimierten Praktiken doch hinsichtlich der strategischen Bestrebungen, der Welt nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Insofern artikuliert sich in der ästhetisch kultivierten kultischen Funktion der Artefakte auch keine romantische Sehnsucht nach einem verlorenen Weltbezug, nach einem »Aufscheinen der Möglichkeit resonanter Weltbeziehungen inmitten entfremdeter Verhältnisse«104 , sondern immer noch die existenzielle Angst vor einer Welt, die so nahe und unheimlich ist, dass sie eine existenzielle Bedrohung darstellen kann105 . Kunst repräsentiert nicht einfach einen zwanglos kommunikativen Raum »resonante[r] Weltbeziehung, […] in der Subjekt und Welt einander antworten«106 , ohne dass das Subjekt dabei von strategischen, instrumentellen Interessen korrumpiert wäre, sondern sie ist Medium einer Praxis, in der noch der gänzlich unromantische Kampf des Menschen mit der Welt fortlebt. Die grundlegende Intention der Kunst ist daher auch gerade nicht eine

100 101 102 103 104 105

Vgl. Rosa, a.a.O., S. 473. Rosa, a.a.O., S. 295. Rosa, a.a.O., S. 293. Rosa, a.a.O., S. 290. Rosa, a.a.O., S. 494. Insofern zeugt auch Rosas Identifikation des Ritus als eines Organons der Resonanzstiftung von einer fragwürdigen Romantisierung des Kultes (vgl. a.a.O., S. 297). 106 Rosa, a.a.O., S. 482 (original kursiv).

6. Ästhetisches Sorgen

zivilisationskritische Profilierung von Ganzheitserfahrungen, keine romantische »Wiederverzauberung der Welt« zum wahrhaft beglückenden, weil glücklich unverfügbaren »Resonanzraum«, sondern der wie subtil auch immer unternommene Versuch, eine unheimliche Welt ästhetisch zu beeinflussen, um in ihr überleben zu können. »Was moderne Menschen in die Museen und Kinos, in die Konzertsäle und Opernhäuser treibt«, urteilt Rosa, »was sie Romane, Gedichte und Dramen lesen lässt, als hinge ihr Leben davon ab [!], ist der Umstand, dass sie auf diese Weise spielerisch und explorativ ganz unterschiedliche Arten und Formen der Weltbeziehung […] zumindest pathisch einüben und ausprobieren können und dass dabei ihre eigene Bezogenheit auf die Welt moderiert und modifiziert wird.«107 Aber ergibt sich solche Überlebensnotwendigkeit 108 tatsächlich schon und primär aus einem spielerischen Experimentieren mit Weltbezügen? Muss nicht davon ausgegangen werden, dass Menschen vielmehr die Bedeutsamkeit einer bei allem spielerischen Anmuten grundlegend und existenziell sorgenden Intention des Ästhetischen gewahren (und sie immer wieder in bekannten bzw. auch immer wieder in neuen »explorativen« Variationen gewahren wollen)? Ästhetische Innovation, ein sich als avancierte Praxis verstehendes künstlerisches Erkunden und Experimentieren, hat sein ästhetisch kultiviertes Element kultischen Sorgens in der Schaffung von Artefakten, deren sorgender Geste sich keine bestimmte Intention zuordnen lässt bzw. die neuartige Weisen des Sorgens erfahrbar werden lassen. Diese Artefakte wollen damit nicht nur beständig neue »Resonanzen« der Welt evozieren, durch die dabei zugleich der ausbalancierte Zustand eines nichtentfremdeten Seins fortlaufend ästhetisch reformuliert wird. Sie sind immer darauf aus, sich dieser »Resonanzen« bis zu einem gewissen Grad zu bemächtigen, um sie sorgend nutzbar zu machen. Das »Allgemeine«, das noch die radikalste künstlerische Provokation als kunstvolle Provokation dabei zugleich ästhetisch »exemplifiziert«, ist die (kultische) Verbindlichkeit einer durch sie vollzogenen Geste existenziellen Sorgens.

6.4.

»Hohe« und »populäre« Kunst

In der Praxis ästhetisch kultivierten kultischen Sorgens wird dabei auch die Differenz zwischen »Hochkultur« und »populärer Kultur«, Kennzeichen vieler erkenntniskritisch konzeptionierter Ästhetiken, relativiert. Denn es ist nicht einfach so, dass distinktiver ästhetischer Alterität und »Souveränität« ersterer die Lebensnähe letzterer bzw. dem avancierten »Bruch mit dem alltäglichen Verhalten zu Welt«109 107 Rosa, a.a.O., S. 483 (Hervorhebung C.Z.). 108 Treffender als konjunktivisch hätte hier kaum formuliert werden können. Lässt sich eine offensichtlich überlebensnotwendige Funktion der Kunst zwar nicht ausmachen, bleibt es doch die Geste der existenziellen Sorge, die Artefakte für Menschen bedeutungsvoll macht. 109 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 23.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

schlicht das populäre Beharren auf einer mit vertrauten Sinnbezügen gesättigten Kontinuität zwischen Kunst und Alltag gegenüberstünde. Gewiss lebt das als »populär« Apostrophierte gegenüber der »experimentellen Form«110 weit mehr von offensichtlichen, künstlerisch verarbeiteten Inhalten. Es unterscheidet sich vom als avanciert autonom konzipierten »hochkulturellen« Artefakt damit zwar hinsichtlich der Gewichtung semantisch erschließbarer Bedeutungen (die es dabei unter Umständen auch immer wieder in standardisierten ästhetischen Formen zelebriert), nicht jedoch hinsichtlich des Zelebrierens einer prinzipiell existenziell sorgenden Bedeutsamkeit. Denn diese der Kunst in allen ihren Formen zugrundeliegende Bedeutsamkeit ist nicht etwaigen Inhalten, sondern Gesten geschuldet, von deren Dynamiken noch die abstraktesten ästhetischen Gebilde leben. Ästhetische Kritik an kulturindustrieller Uniformierung populärer künstlerischer Produktion trifft damit die plakative Offensichtlichkeit und Klischeehaftigkeit der Inhalte und ihrer künstlerischen Gestaltung, nicht jedoch die grundlegende Funktion der Artefakte. Die »experimentelle Form« bleibt gleichwohl ein Experimentieren mit formalen ästhetischen Gesten sorgender Intervention bzw. sorgenden Verkehrens, auch wenn sie ihren Reiz einer Unbestimmtheit des in diesen experimentellen Gestaltungen zelebrierten ästhetischen Sorgens verdankt. Der »reine Blick«111 , zu dem sich die »ästhetische Einstellung«112 als »Bruch mit dem alltäglichen Verhalten zur Welt« angesichts einer hochkulturell profilierten Autonomie des Ästhetischen motiviert sieht, ist ein in seinem Vollzug zutiefst und bewusst kultivierter, zelebrierter Blick, dessen Exklusivität mit der feierlichen Besonderheit einer nichtalltäglichen kultischen Praxis konvergiert. Auf der anderen Seite bedeutet das Affiziertsein von populärkulturellen Kunstwerken keineswegs die schlichte Verlängerung von Alltagspraktiken in den Bereich der Kunst hinein. Denn auch die anschlussfähigen Sinnbezüge der »populären Ästhetik«113 werden in Modi des ästhetischen Erfahrens und Erlebens zelebriert, deren Besonderheit sich vom Alltäglichen abhebt. Das übersieht Bourdieu, wenn er einen »Zusammenhang zwischen Kunst und Leben«114 primär an offensichtlichen Inhalten »populärer Ästhetik« festmacht. Denn diese bedingen dabei nicht automatisch auch eine bruchlose Integration des praktischen Vollzugs ihrer ästhetischen Erfahrung in die Alltagspraxis. Anders gesagt: Mit lebensnahen, aus dem Alltag vertrauten Inhalten wird auch hier auf eine nichtalltägliche (feierliche) Weise umgegangen. Der soziale Distinktionsgewinn des »reinen Blicks« resultiert mithin nicht, wie Bourdieu meint, aus der gepflegten Ablehnung einer Funktion der Kunst überhaupt, sondern aus der Kultivierung exklusiver For-

110 111 112 113 114

Bourdieu, a.a.O., S. 64. Bourdieu, a.a.O., S. 23. Bourdieu, a.a.O., S. 24f. Vgl. Bourdieu, a.a.O., S. 64ff. Bourdieu, a.a.O., S. 64.

6. Ästhetisches Sorgen

men des Zelebrierens, in denen sich die ästhetisch kultivierte kultische Funktion des Ästhetischen jeweils auf spezifische Weise artikuliert.

6.5.

Horror

Eine Theorie, die in Kunst eine Praxis ästhetisch kultivierten Sorgens am Werk sieht, muss auch erklären können, wie sich dieses Sorgen mit der Ästhetik des Schauerlichen, des Grauens und des Horrors in Verbindung bringen lässt. Freilich mag sich die Ästhetik des Hässlichen bis zu einem gewissen Grad noch als spezifisch modernes Krisenphänomen deuten lassen. Das forciert Hässliche wäre dann als Reaktion auf Entfremdung, d.h. das hässliche Kunstwerk als kultische Affirmation und Beglaubigung von Kritik bzw., wie bei Adorno, als implizite Beschwörung einer in der ästhetischen Negation gleichwohl verbürgten bilderlosen Utopie zu verstehen. Diese Konzeption eines im hässlichen Artefakt insgeheim waltenden Sorgens um ein noch nicht eingelöstes, namenloses Schönes greift jedoch nur im Rahmen einer konventionellen Moralisierung des Ästhetischen, nach der das Hässliche nichts anderes sein kann als das Nichtseinsollende, dessen einzige Legitimität darin besteht, ex negativo auf das Schöne als das zugleich Gute zu verweisen115 . Wenn sich aber das Ästhetische im künstlerisch kultivierten Grauen, Ekel oder Schock nicht mehr moralisch rechtfertigen will, wird die Frage nach seinem sorgenden Charakter offensichtlich prekär. Es zeigt sich, dass, wie schon angesichts der grundlegenden politischen Ambivalenz der Kunst deutlich wurde, das existenzielle Sorgen des Ästhetischen keine spezifische, gar »humanisierende« Moralität impliziert. Das mit dem Entstehen der »Ästhetik« konzipierte Ethos der Kunst, deren veredelnde Kraft sich einem »interesselosen Wohlgefallen« bzw. einem der Notwendigkeit enthobenen zweckfreien Spiel verdanken soll, verkennt den im Artefakt waltenden fundamentalen Impuls des Einwirkens auf die Welt bzw. des Verkehrens mit ihr im Interesse der Herstellung günstiger Lebensbedingungen. Und dass sich bereits relativ rasch nach der Geburtsstunde einer »Theorie der schönen Künste« das Schauerliche, Grauenvolle und Erschreckende als befremdlich reizvolle ästhetische Größe etablieren konnte116 , stellt nicht nur ei115

116

Bezeichnend hierfür ist etwa, dass Hartmut Rosa die »oft übermäßig brutale Ästhetik« der Gitarrensounds und Rhythmen von »Punk oder Heavy Metal« als »Ausdruck« von »Entfremdung« deutet, in deren »klassische[n] Harmonien und Akkordfolgen« gleichwohl noch »das Versprechen anderer Beziehungsformen vernehmbar zu sein [scheint]« (Resonanzen, S. 495). Dieser Reiz artikuliert sich etwa in der von Karl Rosenkranz 1853 veröffentlichten »Ästhetik des Häßlichen«. Obwohl sein Werk sich ausdrücklich zur moralischen Verurteilung seines Gegenstandes bekennt, ist ihm zwischen den Zeilen deutlich die Faszination für das vom normativen ästhetischen Diskurs des 19. Jahrhunderts untersagte Universum künstlerischer »Verirrungen« anzumerken.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

ne Reaktion der Kunst auf moderne Entfremdungserscheinungen dar. Es erklärt sich vor allem daraus, dass in dem dann als »Kunst« bezeichneten Phänomen eine Praxis intendierter (kultischer) Weltbeeinflussung wirksam bleibt, deren vielfältige Interventionen in einer prinzipiell als unheimlich und bedrohlich erfahrenen Welt sich durch einen zur merkwürdigen ästhetischen Dichotomie des »Schönen« oder »Hässlichen« verkürzten Diskurs überhaupt nicht angemessen beschreiben lassen. Weil Ästhetik von Beginn an das »Schöne« zu ihrer Sache machte, musste sich Widerspruch gegen diese normative Eingrenzung einer Praxis regen, die ursprünglich mit einer Vielzahl der in der Welt waltenden Kräfte zu verkehren suchte, auch wenn die moderne ästhetische Kultivierung solch moralisch indifferenten Verkehrens im künstlerisch Grauenvollen und Schauerlichen in einer durch das Christentum und die Moralitätsdiskurse der Aufklärung geprägten Kultur freilich nur als prekäre Anrufung des »Bösen« gelten konnte. Die »Ästhetisierung« des Grauens mag daher christliche ebenso wie aufgeklärte117 Moralkonzepte in Frage stellen, bedeutet aber keinesfalls einfach einen destruktiven Akt, weil sich auch in der ästhetischen Beschwörung des als grauenvoll Apostrophierten noch strategisches, kultisches Sorgen um die Beziehung zu ihm als einer existenziell einflussreichen Größe artikuliert. Greift diese Erklärung aber auch noch angesichts der exzessiven Gewalt und der Zerstückelung von Körpern im Splatterfilm, dessen drastische Ästhetik alle anderen Formen künstlerisch kultivierten Schauers und Horrors im Interesse einer ultimativen Überschreitung aller Darstellungstabus und Ekelgrenzen um ein Vielfaches überschreitet? Kommt hier nicht noch eine andere Dynamik ins Spiel, zumal die Geste des Films ja nicht die der Beschwörung, sondern die des Zeigens ist118 ? Gewiss kann etwa George A. Romeros zum Klassiker avancierte Inszenierung der Okkupation eines Kaufhauses durch wandelnde, menschenfressende Untote in »Dawn Of The Dead« noch als groteske Allegorie auf eine ihre Mitglieder in »lebende Leichname« verwandelnde Konsumgesellschaft gedeutet werden (die damit 117

118

Religiöses und säkular-aufgeklärtes Befremden konvergieren hier angesichts künstlerisch zelebrierter Hässlichkeit ästhetikgeschichtlich, auch wenn letzteres ihm freilich nicht einen diabolischen Frevel, sondern den Verstoß gegen die Prinzipien einer ästhetisch zu beglaubigenden, vernünftigen Humanität vorwirft. Die grauenvolle Sezierung von Körpern wird von Julia Köhne, Ralph Kuschke und Arno Meteling dabei als extreme Form einer Kongruenz des filmisch Dargestellten mit der spezifischen Darstellungsform des Films, als »Übersetzung« der »film- und kameratechnische[n] Fragmentierung des Körpers in Schnitt und Ausschnitt« in »die Fragmentierung des Körpers durch das Aufschneiden und Zerteilen mit scharfen oder spitzen Gegenständen« gedeutet (Julia Köhne, Ralph Kuschke, Arno Meteling: Einleitung. In: dies. [Hgg.; 2012]: Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm. Berlin: Bertz und Fischer, S. 9-16, hier S. 11). Damit wäre die Inszenierung solcher Exzesse in der rein formalen Struktur des Films bereits angelegt. Schon Benjamin spricht ja vom »chirurgischen Eindringen« des Films in seine Gegenstände bzw. von der filmischen »Zerstückelung« des Gefilmten (vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 52ff.).

6. Ästhetisches Sorgen

als schockierende, filmkünstlerisch erzeugte und cineastisch zirkulierende Vision zugleich eine Form kultisch affirmierter Kritik wäre). Solche Interpretationen von Splatterfilmen als »profane Apokalypsen«119 greifen aber eher dort, wo ihre Gewaltund Ekelexzesse von einem als letztlich irgendwie schockhaft läuternd aufgefassten, meist phantastischen Narrativ eingerahmt sind. Und dieses phantastisch-makabre Szenario prägt dann die beklemmende Atmosphäre einer über die Welt in der Gestalt entsetzlicher, widernatürlicher Kreaturen und Ereignisse hereinbrechenden Katastrophe. Was aber, wenn der Splatter in prinzipiell realistischen Szenarien gänzlich unmetaphorisch die Grausamkeit etwa psychopathischer Gewaltakte zelebriert, ohne ihnen irgendeinen kritischen oder apokalyptischen Sinn zuzuordnen? Wenn das Zerstören von Körpern sich nicht mehr als ultimativer ästhetischer Ausdruck von Entfremdung legitimieren lässt120 , sondern schlicht als ein drastisches, ekelerregendes Geschehen vor Augen geführt wird? Wenn es also, in den Worten Susan Sontags, um eine (in diesem Fall verstörende) ästhetische »Leuchtkraft«121 des Gezeigten selbst geht, das weder Symbol noch Allegorie sein will? Gerade hier kommt der vom Film vollführten Geste des Zeigens dann insofern eine besondere Gewichtung zu, als das Zeigen des Exzessiven zugleich ein exzessives Zeigen bedeutet. Exzessives Zeigen aber meint auf der Seite der Zuschauenden die ultimative Erfahrung des unbedingten Adressiertseins, der drastischsten Form einer Mystik des durch den Film vollführten namenlosen intentionalen Zeigens, das sich gerade im Bruch der letzten Tabus als nicht mehr zu steigerndes Sehenlassen kundgibt. Die Lust am Torture Porn ist nicht nur die am Betrachten des Äußersten, sondern die Lust am Privileg des äußersten gezeigt Bekommens, Erregung angesichts der Teilhabe an einer cineastisch prätendierten ultimativen Vision.

6.6.

Produzieren und rezipieren

Bislang wurde die Differenz zwischen künstlerischer Produktion und Rezeption kaum thematisiert. Dies hat seinen Grund darin, dass sie sich in Kunst als ästhe119

James McFarland: Profane Apokalypse. George A. Romeros »Dawn Of The Dead«. In: Köhne u.a.: Splatter Movies, S. 30-50. Vgl. auch Arno Meteling: Endspiele. Erhabene Groteske in »Braindead«, »Koroshiya 1« und »House of 1000 Corpses«, a.a.O., S. 51-66. 120 Wo das ästhetisch Negative einer Entfremdung geschuldet sein soll, appelliert seine Negativität dabei immer an die Sehnsucht nach einem Nichtentfremdeten. Der Schmerz der Dissonanz ist die Trauer über ein schmerzlich vermisstes Fernes. Daher ist auch Adornos zutiefst romantische ästhetische Negation letztlich auf die paradoxe Anziehungskraft der Dissonanz als der Statthalterin eines noch Ausstehenden aus. Die ästhetische Kategorie des Ekels als Inbegriff eines abstoßenden Zu nahe muss seiner Konzeption notwendig fremd bleiben. (Sie schwingt allenfalls in Adornos Polemik gegen Kulturindustrie mit, deren Widerwärtigkeit für ihn in der penetranten, verlogenen Gefälligkeit liegt, mit der sie Menschen zu Leibe rückt.) 121 Sontag, Kunst und Antikunst, S. 17.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

tisch kultivierter Praxis kultischen Sorgens hinsichtlich ihrer gestischen Dynamik relativiert. Denn wenn Kunst kultisch sorgende Praxis jenseits konkreter Kulte ästhetisch kultiviert, bedeutet interpretieren bzw. rezipieren den Mitvollzug eben jener einwirkenden bzw. verkehrenden Geste, die ein Werk oder eine Performance künstlerisch vollzieht. Kreatives ästhetisches Schaffen ist somit immer ein Herstellen in zweifacher Weise: Es verfertigt handwerklich Produkte, die zugleich als Medien eines sorgenden ästhetischen Herstellens günstiger Weltbezüge fungieren. Und während sich die erste Form des materiellen bzw. ersinnenden Herstellens dem kreativen Geist von Künstlern verdankt, wird die zweite in jeder Interpretation bzw. Rezeption aktualisiert bzw. neu zelebriert. Diese der ästhetisch kultivierten kultischen Funktion der Kunst geschuldete feierliche Verschränkung von Produktion und Rezeption ist ein durchaus vertrauter ästhetischer Topos. Er artikuliert sich etwa in Adornos Forderung, durch gleichsam mimetischen Nachvollzug des Werkes der utopischen Kraft seiner Konstruktion erfahrend teilhaftig zu werden. Kunst adäquat zu rezipieren erfordere, so heißt es in der »Ästhetischen Theorie«, ihr »Nachmachen«122 . Aber während Adornos ästhetische Orthodoxie sich rezipierende Teilhabe am ästhetischen Geschehen nur als streng objektives Nachexerzieren der Dialektik künstlerischer Geistesblitze vorstellen kann, eröffnen Artefakte gerade durch vielfältige Formen ihrer Interpretation, Inszenierung, Aufführung oder subjektiven Rezeption ebenso vielfältige Formen, die von ihnen als ästhetische vollzogenen Gesten kultischen Sorgens zu modifizieren, d.h. sie auch anders zu verstehen und zu feiern. Damit ist die Position der Interpretierenden und Rezipierenden gegenüber der der Kunstschaffenden zu einer Partizipation aufgewertet, im Rahmen derer erstere nicht nur Empfangende, sondern aktiv Mitvollziehende und Mitgestaltende einer besonderen, sorgenden Praxis sind. Dennoch gibt es Unterschiede. Musik (auch die von Tonträgern abgespielte), Lyrik und Theater laden dazu ein, an feierlichen Gesten ästhetischen Einwirkens auf die Welt und Verkehrens mit ihr teilzuhaben. Das Setting der Galerie gibt Menschen ausdrücklich Raum und Zeit, sich solchen hier durch Bildakte an der Welt vollzogenen Gesten gegenüber abwägend und vergleichend zu verhalten. Anders gestaltet sich die Konstellation bei Literatur und Film, deren Gesten nicht der Welt, sondern Lesenden, Hörenden und Sehenden gelten. Auch das Lesen oder Hören eines literarischen Textes lebt vom aktiven Mitvollzug eines kreativ ersonnenen Sprachstroms. (Dass das scheinbar augenblickliche Strömen der gelesenen oder gehörten Sprache sich dabei ggf. mühevoller, langwieriger schriftstellerischer Konstruktionsarbeit verdankt, also seinerseits keineswegs einem kreativen Flow entstammen muss, spielt für diese Rezeptionserfahrung ebenso wenig eine Rolle wie die möglicherweise lange Entstehungszeit einer musikalischen Komposition. Entscheidend ist der künstlerisch schlussendlich bewirkte Eindruck einer sich in der Performance 122

Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 190.

6. Ästhetisches Sorgen

des Werkes augenblicklich vollziehenden klanglichen oder sprachlichen Dynamik, der rezipierend je und je gefolgt wird.) Dennoch ist diese Dynamik, an der das Publikum bei der Lesung bzw. das lesende Subjekt partizipiert, nicht die einer feierlich intendierten Einwirkung auf die Welt. Es ist die als rauschender Sprachstrom inszenierte und so poietisch vernehmbar gemachte zeitliche Welt selbst, deren Energie sich Hörende bei einer Lesung zusprechen lassen oder die Lesende auf intime Weise visuell verkosten. Im Gegensatz zur rezeptiven Partizipation an einer der Welt geltenden feierlichen Geste sorgender Intervention bei Musik, Lyrik, Theater oder, relativiert durch das museale Setting, bei Bildender Kunst, ist der gleichwohl aktive rezipierende Mitvollzug beim Lesen oder Hören von Literatur stärker aufnehmend als bekräftigend bzw. teilhabend123 . Literatur adressiert nicht die Welt, sondern Hörende und Lesende. Und während Musik zu machen, Gedichte zu schreiben oder Theater zu spielen bedeutet, zu kreativen Einwirkungen auf die Welt bzw. einem kreativen Verkehren mit ihr einzuladen, lassen Schreibende »die Stimme der Welt selbst«124 in den Rezipierenden auf unterschiedliche Weise wirksam werden. Was die Lesenden oder Hörenden hier mimetisch aktualisieren, ist entsprechend nicht eine künstlerisch ersonnene Geste ästhetischer Einflussnahme auf die Welt, sondern der schriftstellerisch prätendierte lebendige Fluss eines Sprechens der geschichtlichen Welt selbst, in dessen »Bewegungsenergie«125 sie »eintauchen«126 . Auch die künstlerische Konstruktion eines Films lässt sich mimetisch rezipieren. Die in dieser Konstruktion zugleich waltende und mitvollzogene Geste ist, da der Film eine ästhetische Prätention der Vision darstellt, jedoch weder die eines ästhetischen Einwirkens auf die Welt (wie bei Musik, Lyrik, Theater oder Tanz), noch die des visuellen Fließenlassens eines erscheinenden Weltlaufs (den die Literatur sprachlich performiert). Weil Filme ästhetisch Visionen prätendieren, charakterisiert sie weitaus stärker als die sprachlich vermittelten Ereignisströme der Literatur ein konfrontierendes Moment des unmittelbaren Zeigens. Filme drehen heißt, mit künstlichen Visionen zu konfrontieren, und daher vollzieht sich der mimetische rezeptive Mitvollzug dieser filmkünstlerisch erzeugten Geste konfrontativen Zeigens im Unterschied zum literarischen Lesen oder Hören stärker als Tuchfühlung mit einem Appell.

6.7.

Kultur

Kunst ist eine Praxis ästhetisch kultivierten kultischen Sorgens. Die ausdifferenzierte Vielfalt ihrer ästhetisch kultivierten, namenlosen kultischen Gesten bildet 123 124 125 126

Dies gilt jedoch nicht für die intervenierende Geste der Lyrik. Vgl. Rosa, Resonanz, S. 331. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 246. Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 138.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

»Kultur«, der daher, auch in ihrem engeren Verständnis als »Welt der Künste«127 bzw. als die Künste hinsichtlich ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension, ein spezifischer Geltungsanspruch zukommt. Der Modus, in dem Artefakte und Performances als »Kultur« im Gebrauch stehen, ist jedoch kein »kommunikatives Handeln«. Sie positionieren sich nicht als gleichsam nichtdiskursive ästhetische Argumente innerhalb eines umfassenden gesellschaftlichen Verständigungsprozesses128 . Ihre Intention ist grundsätzlich nicht die erkenntnisanaloge einer künstlerischen »Welterschließung«129 . Als Medien des Herstellens reklamieren sie nicht die Geltung von durch Interpretation »in die normale Sprache« zu übersetzenden ästhetischen Aussagen130 , sondern eine jenseits kognitiver, moralischer oder auch »ästhetischer« Belange (und ihrer Diskurse) angesiedelte sorgende Wirksamkeit in der Welt bzw. des sorgenden Verkehrens mit Welt. Kunst kommuniziert nicht über die Welt, sondern als ästhetisch kultiviertes kultisches Sorgen mit ihr. Kultur ist ein Raum zelebrierten ästhetischen Sorgens, der permanent neue, explorative künstlerische Formen dieses feierlichen, unterhaltsamen Sorgens hervorbringt, bestehende kultiviert, Verknüpfungen schafft oder auch Abgrenzungen markiert. Die Liberalität dieses »gesellschaftlichen Sektors« Kultur131 besteht in der ästhetischen Emanzipation kultischer Gesten von konkreten Kulten und ihrer Freigabe für ein kreatives Zelebrieren unterschiedlichster künstlerisch intendierter Interventionen in den Lauf der Welt bzw. Weisen des künstlerischen Verkehrens mit ihr. Kultur ermöglicht eine spezifische Ermächtigung der Subjekte ästhetischer Praxis, weil sich noch in der Besonderheit der eigenwilligsten künstlerischen Schöpfung der Anspruch einer namenlosen kultischen Verbindlichkeit (als das Allgemeine im ästhetisch Besonderen) anmeldet. Kultur ist suggestiv und manipulativ, insofern Artefakte aufgrund dieser immanenten Verbindlichkeit neue Kulte konstituieren können. Kultur ist daher schließlich, auch als Raum des existenziellen künstlerischen Sorgens, nicht einfach Inbegriff ästhetisch repräsentierter Humanität. Gerade weil dieses Sorgen keineswegs mit einem grundsätzlich philanthropischen Habitus der Kunst verwechselt werden darf, sondern sich als ethisch indifferente feierliche Affirmation vollzieht, lassen sich mit Hilfe von Kultur auch Diffamierungen, Gewalt oder Totalitarismus zelebrieren.

127

Wolfgang Müller-Funk [2006]: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. Tübingen, Basel: Narr Francke Attempto, S. 5. 128 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 243: »Die ästhetische Kritik ähnelt in dieser Hinsicht [bezogen auf die Prüfung ästhetischer Geltungsansprüche, C.Z.] den auf propositionale Wahrheit und normative Richtigkeit spezialisierten Formen der Argumentation, d.h. dem theoretischen und dem praktischen Diskurs.« 129 Ebda. (original kursiv). 130 Habermas, a.a.O., S. 244. 131 Vgl. Müller-Funk, Kulturtheorie, S. 5.

6. Ästhetisches Sorgen

6.8.

Kunst und Leben

»Sie ist unerläßlich, aber ich weiß nicht genau, wofür« soll Jean Cocteau über die Poesie gesagt haben. Diese Worte bringen auf den Punkt, was für Kunst generell zu gelten scheint: Ihrer immer wieder beschworenen fundamentalen Bedeutsamkeit steht paradox die Schwierigkeit gegenüber, den Grund dafür angeben zu können. Auch der feuilletonistische Diskurs thematisiert Artefakte als eigenartig enthobene und doch zugleich unbedingt relevante Phänomene, Kunst als eine ebenso exklusive wie existenzielle Sphäre faszinierender Dinge und Ereignisse. Dieses für das Ästhetische konstitutive Spannungsverhältnis zwischen »Kunst und Leben«, an dem sich ästhetische Theorie seit je abarbeitet, erklärt sich aus eben der spezifischen Funktion, die Kunst als ästhetisch kultivierte kultische Praxis besitzt. Als Praxis des kultisch sorgenden ästhetischen Zelebrierens nimmt sie in all ihren Formen unweigerlich Distanz zur Alltagspraxis ein; eine Distanz, die noch dadurch verstärkt wird, dass sich der spezifische Sinn dieses Zelebrierens, der eben weder von einem konkreten Kult noch einem kunstreligiösen Glauben motiviert ist, nicht ausmachen lässt. Gleichwohl wird in der exklusiven Praxis, die »Kunst« heißt, eine kultische Praxis in der Welt intervenierender bzw. mit ihr verkehrender existenzieller Sorge durch ästhetische Gesten zelebriert und kultiviert, deren Energie gerade im Interesse einer Sicherung und Stabilisierung »des Lebens« in die Welt gesandt wird bzw. diese Welt zu einer dem Leben gewogenen Welt machen soll. So muss sich fast zwangsläufig die eigenartige Erfahrung einstellen, wonach sich ästhetische Alterität und unbedingte Bedeutsamkeit auf spezifische Weise verknüpfen. Versuche, für Kunst entweder primär eine konstitutive »ästhetische Differenz«132 zu veranschlagen oder sie bruchlos in die pragmatischen Alltagskontexte zu integrieren, verfehlen jeweils ihre Funktion, die sich gerade in einer (scheinbar) paradoxen Konstellation realisiert. Wenn also Ästhetik erkenntnistheoretisch bzw. erkenntniskritisch konzipiert ist und Artefakte entsprechend als Manifestationen des Anderen diskursiver Rationalität gelten, führt diese Fokussierung ästhetischer Alterität in der Regel nicht nur zu einer fragwürdigen Profilierung der Kunst als einer irgendwie geheimnisvoll in die Welt hereinragenden Erscheinung. Diese Sichtweise ist dann konsequenterweise auch mit einem Ignorieren konkreter Gebrauchsformen des Ästhetischen verbunden (die aus einer erkenntniskritischen Perspektive immer in Verruf stehen, eine sich instrumentell kontaminierter gesellschaftlicher Praxis gerade verweigernde »Wahrheit« der Kunst durch Handhabe der Artefakte auszuhöhlen). Und ein für ein umfassendes Verstehen des Phänomens Kunst fataler Lebensnerv solcher Ästhetik ist schließlich die normative Abtrennung »großer« Werke von allen Formen des Populären, die den menschlichen Erkenntnisapparat nicht durch eine vermeintlich avancierte Komplexität herausfordern. 132

Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 23.

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

Doch kann eben auch die überzeugende Identifikation von Kunst und Alltagspraxis nicht gelingen. So operieren etwa alle Konzeptionen einer »Lebenskunst« mit einem metaphorischen Kunstbegriff, der das »gute Leben« letztlich als ethisches, nicht ästhetisches Projekt anspricht (und zudem schlicht übersieht, dass sich Leben, wie von Hannah Arendt auf den Punkt gebracht, nicht »herstellen« lässt)133 . Nietzsche freilich variiert dieses Modell einer künstlerischen Grundierung der Existenz auf spezifische Weise: Nicht die bewusste, reflektierte »Arbeit der Gestaltung«134 , nicht »praktische[] Aufgaben, […] Körperpflegen, die Gesundheitsregeln, die ausgewogenen körperlichen Übungen, die maßvolle Befriedigung der Bedürfnisse« oder »Meditationen«135 stehen hier im Mittelpunkt. An die Stelle solch durchaus disziplinierter Exerzitien, die ästhetische als kultivierte »Arbeit des Selbst an sich«136 intendieren, tritt in Nietzsches Konzeption die radikale Proklamation des Lebens als eines überhaupt nur ästhetisch zu »rechtfertigenden« bzw. als eines lustvoll zu affirmierenden »künstlerischen Spiels«137 mit allen Schattierungen. Gewiss lässt sich, was Menschen mit und in Kunst tun, in vielen Fällen als eine lustvolle Feier des Lebens beschreiben. Und gewiss gibt es auch Kunstformen, in denen dieses Zelebrieren als rauschhafte Affirmation rein ästhetischer Intensität erlebt wird. Andererseits geht jedoch die ästhetische Feier des Lebens in einer bloßen Feier des Ästhetischen nicht auf. Was gefeiert wird, wenn das Leben gefeiert wird, sind zumeist Erfahrungen, die Lebende machen: soziale Beziehungen, Liebe und Freundschaft, Erfolge, biographische Zäsuren, beglückende oder schmerzvolle Erinnerungen etc., die natürlich immer auch eine ästhetische Dimension haben, darum aber noch lange keine ästhetischen Phänomene sind. Das Leben lässt sich im Medium der besonderen ästhetischen Praxis Kunst zwar immer wieder hervorragend feiern, wird aber deshalb noch lange nicht selbst zur ästhetischen Praxis. Freilich könnte Nietzsches Forderung auch in bescheidenerer Version, d.h. nicht als Affirmation eines permanenten künstlerischen Rausches, sondern als Appell zum bewussten bzw. gekonnten Zelebrieren des täglichen Lebens reformuliert werden. Doch auch hier greift der mit Rekurs auf Hannah Arendt vorgetragene Einwand: Wenn Leben sich nicht in Herstellungsprozessen erschöpft, sondern wesentlich zwischenmenschliches Handeln bedeutet, dieses Handeln aber mit der konstitutiven Unverfügbarkeit des Handelns anderer Menschen konfrontiert ist, kann die unverhoffte, zu unvorhergesehenen Reaktionen leitende Erfahrung des Anderen nicht ad hoc in die bruchlose Kontinuität einer permanent ablaufenden individuellen Festchoreographie integriert werden. Die (nicht nur für das Soziale) grundlegende Ereignishaftigkeit des Lebens erfordert eine Wachheit des Denkens, 133 134 135 136 137

Vgl. Zürner, Lebenskunst als Lernziel Kultureller Bildung? Schmid, Lebenskunst, S. 72. Foucault, Die Sorge um sich, S. 1416. Foucault, Ästhetik der Existenz, S. 334. Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 147.

6. Ästhetisches Sorgen

Handelns und Empfindens, das sich in seinen spontanen Vollzügen nicht immer zugleich auch schon zelebrieren lässt. Anders gesagt: Die für die unplanbaren Widerfahrnisse des Alltags, seine Wendungen, Entwicklungen oder Überraschungen benötigen Augenblicke ihrer Verarbeitung, Bewertung und Reflexion, d.h. ihrer Erfahrung, fallen nicht schon mit einem Feiern dieser Erfahrung zusammen. Das Zelebrieren des alltäglichen Lebens ist somit eine Strategie der in diesem Fall nicht zu besonderen Festzeiten, sondern ggf. in Sekundenbruchteilen jeweils vorgenommenen feierlichen Rück- oder Vorausschau, nicht aber eine Form seines unmittelbaren Vollzugs. Ihm eignet ein subtiles, aber hartnäckiges Beharren auf dem Herstellen als poietischer Verfügungsgewalt eines Zeremonienmeisters, der das Leben zu einer kunstvoll gestalteten Abfolge sinnvoller Szenen machen möchte. Neben den unterschiedlichen Konzeptionen einer Lebenskunst existieren jedoch auch andere Versuche, die mit »Kunst« und »Leben« bezeichneten Sphären als genuin miteinander verschmolzen zu konzipieren. Artefakte gelten dann nicht als normatives Ideal des Daseins, sondern ihre ästhetische Vitalität wird als symbolische Repräsentanz organischer oder psychischer Prozesse gedeutet. Diese Theorien freilich müssen mit hohen Abstraktionsgraden operieren, um etwa Rhythmus, Kontrast oder Spannung von Artefakten als künstlerische Kodifizierungen natürlicher bzw. psychophysischer Phänomene interpretieren zu können. Nahezu alle Dinge, Prozesse und Ereignisse lassen sich so abstrakt strukturell formalisieren, dass diese Strukturen dann auch irgendwie in der Gestaltung von Kunstwerken identifiziert werden können. Überdies müssten solche Theorien erklären, wozu Menschen derlei abstrakt-artifizielle symbolische Repräsentationen denn erschaffen. Welchen Sinn sollte es haben, Gefühle, mentale Zustände oder somatische Ereignisse in Artefakten ästhetisch aufzubereiten, wenn nicht den, sie in Form bewusster Gestaltung künstlerisch zu zelebrieren und gerade durch diese besondere Praxis die Routinen des alltäglichen Lebensvollzugs zu überschreiten? Wo immer Ausdruck als das Wesen der Kunst behauptet wird, kann nicht davon abgesehen werden, dass solcher Ausdruck nie nur ein Akt ästhetischer Kommunikation ist, sondern sich als artifizieller, gestalteter Ausdruck zugleich selbst feierlich affirmiert. Diese Affirmation aber, das »Allgemeine« seiner »besonderen« Gestalt, »exemplifiziert« im Erscheinungsbild des Artefakts die Verbindlichkeit einer kultischen Geste138 . Aber gibt es nicht doch, gerade bei der privaten, individuell initiierten ästhetischen Praxis, Verschmelzungen von Kunst und alltäglichem Leben? Hier markie138

Die Bedeutsamkeit, die Kunst in therapeutischen Prozessen zukommen kann, gründet nicht nur in der ihr zugeschriebenen Fähigkeit, auszudrücken, was Worte nicht sagen können. Denn die psychologische Identifikation mit künstlerischen Ausdrucksgestalten kann vor allem deshalb eine katalysierende Kraft entfalten, weil die künstlerisch affirmierte Expression dem Anspruch einer raumgreifenden (belastenden) Befindlichkeit gilt, der durch ästhetisches Zelebrieren gleichsam genüge getan wird. Gerade das jedoch kann ein erster Schritt sein, sich heilsam von ihr zu distanzieren.

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ren nicht a priori exklusive Orte wie Theater, Galerien oder Konzertsäle zugleich exklusive Zeiten des Umganges mit Kunst, sondern die private Praxis konstituiert entsprechende Räume, wann und wo sie vollzogen wird. Allerdings scheinen diese individuellen Räume die alltäglichen Verrichtungen bisweilen eher zu begleiten, als sie zu unterbrechen. Als Beispiel wäre hier auf das Musikhören über ein tragbares Audiogerät in der Öffentlichkeit zu verweisen (vgl. Kapitel 5.1.). Denn während ein Buch nicht nebenbei gelesen werden kann und die öffentliche Lektüre etwa im Bus (selbst in der kürzesten Zeitspanne zwischen zwei Stationen) daher dennoch immer die Aura des momenthaften Unterbrechens von Alltagsroutinen umfängt, ermöglicht der Kopfhörer ein gleichsam beiläufiges Hören, das den Vollzug der momentanen Aktivität bzw. den Blick für die Umgebung nicht zwangsläufig beeinträchtigen muss (bzw. ihn sogar intensivieren kann). Gleichwohl macht die begleitend gehörte Musik den Gang durch die Stadt weder einfach zum Kunstwerk (oder zur ästhetischen Performance), noch verliert umgekehrt die Musik durch ihre Kopplung mit einem solchen Gang schlicht ihre ästhetische Besonderheit. Statt also spätestens hier dann (zustimmend oder kritisch) eine durch die technisch ermöglichte Omnipräsenz des Ästhetischen in der »Mediengesellschaft« zusehends forcierte Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben zu proklamieren, ist es angemessener, angesichts dieser Praktiken von differenzierten Konstellationen, d.h. von sich räumlich und zeitlich überlagernden, dennoch aber nicht identischen Sphären der Erfahrung auszugehen. Freilich kann der Spaziergang mit dem Kopfhörer bei entsprechender Disposition der Hörenden zum ästhetischen Ereignis werden oder die Musik, wenn die auditive Aufmerksamkeit durch die momentane Verrichtung absorbiert ist, ihre Besonderheit auch einbüßen. Im ersten Fall aber würde der Gang dann eben zum besonderen, nichtalltäglichen Gang, wohingegen im zweiten die zelebrierende Energie der Klänge von einer nichtästhetischen, alltäglichen Aufgabe entkräftet würde. Kunst und Alltag verbleiben so in der nicht aufzulösenden Spannung einer konstitutiven Differenz. Dieses vom Alltag differierende ästhetisch Besondere ist aber eben nicht einfach nur das dem Erfahrungsbereich des Alltäglichen opponierende Andere, sondern, als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens, das gerade zu seinem existenziellen Schutz, zu seiner Stabilisierung bzw. auch zum herausfordernden explorativen Verkehren mit der das alltägliche Leben ermöglichenden Welt im Rahmen einer besonderen, feierlichen, nichtalltäglichen Praxis Vollzogene. Während das im Zimmer platzierte, dauerhaft präsente Bild den Alltag begleitet, ohne ihn dadurch freilich zum permanenten Fest werden zu lassen, durchbricht es dessen Vollzüge jedoch in den Momenten, in denen, wie kurz auch immer, die Wahrnehmung bei ihm als einem Bild verweilt (vgl. Kapitel 5.2.). In den Blick kommt dann die besondere Funktion des Bildes, seine feierliche Affirmation bedeutsamer Beziehungen. Diese Funktion freilich besitzt es sonst eher als hintergründiges, gleichwohl besonderes Kraftfeld im Raum, über den es durch seine Präsenz im Alltag auf spezi-

6. Ästhetisches Sorgen

fische Weise wacht. Ebenso begleitet die bei alltäglichen Verrichtungen zu Hause ggf. eher beiläufig gehörte Musik solche Tätigkeiten auf besondere Weise. Sie ragt in den Alltag als feierliche Sphäre hinein, ohne ihm dadurch selbst ästhetische Züge zu verleihen oder ihn gar zum »Kunstwerk« zu machen139 . Aber sie wird, so lange sie auch dem beiläufigen Hören als Musik präsent bleibt, ihre feierliche Besonderheit durch dieses Begleiten nicht verlieren. Eine spezifische Situation freilich ergibt sich dann, wenn künstlerische Produktion professionell ausgeübt und ästhetische Praxis damit zur alltäglichen Aufgabe wird. Die Entscheidung für einen künstlerischen Beruf jedoch dürfte weniger von dem Wunsch nach einer Veralltäglichung der Kunst bzw. der Überwindung ihrer feierlichen Besonderheit getragen sein als davon, sich diesem feierlich Besonderen (trotz der mit einer solch spezifischen Laufbahn dann ggf. eben gerade verbundenen prekären Einkommenssituation) umfänglich zu verschreiben. Dabei verschieben sich für Kunstschaffende zugleich die Grenzen zwischen alltäglicher Pragmatik und exklusiver ästhetischer Situation: Während in den ersten Bereich dann weniger feierliche Tätigkeiten wie etwa Üben, technische Exerzitien oder begleitende Studien fallen, kommt den Konzerten, Aufführungen, Ausstellungen oder Lesungen dann gleichwohl der zelebrierende Charakter des Ästhetischen zu. (Eine Performance kann routiniert verlaufen, ohne damit zugleich das konstitutive Moment ästhetischer Differenz einzubüßen bzw. die gelingende Profilierung ästhetischer Differenz kann gerade auch das Ergebnis routinierter künstlerischer Arbeit sein). Und gewiss stellt es eine besondere berufliche Herausforderung dar, die Spannung beider differenter Sphären konstruktiv und produktiv zu gestalten. Ganz sicher aber macht auch ein Dasein als Künstler das Leben nicht zu einem Kunstwerk, sondern bringt eine komplexe, anspruchsvolle und manchmal krisenhafte Dialektik zwischen alltäglicher und künstlerischer Sphäre mit sich. Die von Foucault beschworene »Ästhetik der Existenz« ist ebenso wenig wie Nietzsches »ästhetisch gerechtfertigtes« Dasein eine Beschreibung der Lebenswirklichkeit künstlerischer Professionalität, sondern die philosophische Propagierung eines Ideals erkenntnis- bzw. vernunftkritisch orientierter Ästhetik. Sie gilt einem übergreifenden denkerischen Konzept und einem damit verbundenen grundlegenden Habitus, nicht aber einem vertieften Verständnis der Befindlichkeit von Künstlern. Wenn Kunstwerke bzw. künstlerische Performances Medien ästhetisch kultivierten kultischen Sorgens darstellen, muss dann nicht gerade dem Kultauto oder 139

Zur den Alltag grundierenden Mystik des reinen Zeigens beim permanent laufenden Fernsehgerät vgl. Kapitel 5.4. Das bewusste private Sehen eines Films hingegen wird ohnehin als besondere, ästhetische Praxis vollzogen. Der Cyberspace schließlich bedeutet eine gerade als solche explizit wahrgenommene ästhetische Simulation realer Erfahrung und kann, zumal aufgrund der damit verbundenen außergewöhnlichen technischen Ausrüstung des Körpers, nicht als Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und alltäglichem Leben gelten (vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 292f.).

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Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst

der Kulttasche der Status eines Artefaktes zuerkannt werden? Erhalten sie ihren Kultstatus doch nicht zuletzt dadurch, dass ihr Design oft auch ein bestimmtes Lebensgefühl ästhetisch zelebriert, d.h. ihrem Gebrauch die Insignien kultisch sorgenden ästhetischen Affirmierens existenzieller Befindlichkeiten verleiht. Und unterläuft Design so nicht doch »ästhetische Differenz«, weil dieses Zelebrieren hier im Rahmen einer alltäglichen Praxis (des Fahrens oder Transportierens) erfolgt? Alltagsobjekte können auf zweierlei Weise zu Kunst werden: Indem einerseits durch den Versuch einer konsequenten Ausblendung der pragmatischen Funktion ihre rein ästhetischen Qualitäten ins Zentrum rücken, d.h. das Auto vom Fahrzeug zum »Readymade« verfremdet wird. Es entwickelt so eine veränderte und zugleich konzentrierte ästhetische Energie im Raum, in der die kultisch sorgende Geste der Skulptur wirksam wird. In dieser praktischen Geste, nicht in der erkenntnistheoretisch dimensionierten »Veräußerlichung einer Weise, die Welt zu sehen«140 , liegt die künstlerische »aboutness«, die dem Auto als Alltagsvehikel fehlt, ihm aber durch seine Neuentdeckung als Artefakt »typischerweise«141 zukommt. Die zweite Form einer möglichen Verwandlung gewöhnlicher Objekte in Kunstwerke bezieht hingegen auch ihren alltäglichen Gebrauch ein. Dieser verliert dann seine vertraute Routine und mutiert zur ästhetischen Performance. Während im ersten Fall der zum Artefakt transformierte Gegenstand (wie alle Artefakte) ästhetisch kultiviertes kultisches Sorgen gleichsam verdinglicht repräsentiert, vollzieht sich kultische Praxis im zweiten Fall als genuine Verschränkung von Dingen und Handlungen. Anders gesagt: Autofahren als ästhetisch-performativer Vollzug kultiviert dann, wie alle Performances, die existenzielle Bedeutsamkeit eines Ritus. Design intendiert genau diese kultische Aufwertung und arbeitet in Ansätzen auf beiden Ebenen der ästhetischen Transformation von Alltagsobjekten: Es erzeugt einen ästhetischen Mehrwert des Gebrauchsdinges, der seinem alltäglichen Einsatz die Qualität des Zelebrierens einer besonderen Praxis zu verleihen sucht. Worauf Design als Design jedoch verzichtet, ist die künstlerische Radikalisierung beider Strategien: Weder entfremdet es den Gegenstand seiner alltäglichen Funktion so weit, dass er zum »autonomen« Artefakt gerät, noch ist ihm andererseits an einer konsequenten Umwandlung dieses alltäglichen Gebrauchs, den er künstlerisch aufwertet, nicht jedoch künstlerisch blockiert, zum rein performativen ästhetischen Ritual gelegen. Weil das Kultauto und die Kulttasche bei aller ästhetischen Finesse erkennbar praktisches Fortbewegungs- bzw. Transportmittel bleiben und immer auch als solche genutzt werden, d.h. sein Fahren bzw. deren Tragen sich kaum auf den Vollzug

140 Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 315. 141 Danto, a.a.O., S. 20 (»aboutness« original kursiv). Das »Über« ist somit eher ein »auf etwas Hin«.

6. Ästhetisches Sorgen

einer existenziellen ästhetischen Affirmation beschränken lassen142 , bleibt die ästhetische Differenz zwischen Kunst und Alltag auch hier, wenngleich komplizierter, wirksam. Design ist die subtile Strategie, Alltagsgegenstände oder -praktiken tendenziell zu Kunst zu machen. Sie endet daher freiwillig und gekonnt auf halbem Wege. Die Bezeichnung »Kultauto« rekurriert (zumal mit ironischem Unterton) auf das besondere Gelingen dieser bewusst partiellen »Verklärung« in Form gesellschaftlicher Resonanz, reklamiert das Fahrzeug (bzw. andere »kultige« Alltagsobjekte) aber keineswegs für jene exklusive (kultische) ästhetische Praxis, die sich Kunst nennt143 .

142 Eine solche radikale künstlerische Verdichtung der Tätigkeiten wäre theoretisch zwar möglich, setzte aber die im Kontext des täglichen Gebrauchs höchst unwahrscheinliche Ausblendung aller handgreiflichen Routinen zugunsten der permanenten Feierlichkeit primär ästhetisch konnotierter Bewegungsabläufe voraus. Diese Erfahrung erlaubt etwa das Autofahren jedoch allein aus Gründen der erforderlichen Konzentration auf das Verkehrsgeschehen und des Gefasstseins auf von unvorhergesehenen Verhaltensweisen anderer erzwungene Reaktionen allenfalls für (riskante) Momente. Eine plötzlich notwendige Vollbremsung lässt sich nicht ästhetisch zelebrieren. 143 Auch die Mode bleibt einer alltäglichen, der Bedeckung und dem Schutz des Körpers dienenden Funktion noch so verhaftet, dass sie keinen Bereich jenseits der ästhetischen Differenz beansprucht. Sie verzichtet als getragene Kleidung, so kunstvoll sie auch gemacht sein mag, auf jenes Quantum ästhetischer Erhabenheit, das etwa Musik als kultische Praxis selbst dann noch auszeichnet, wenn sie den Alltag begleitet. Vgl. Zürner, Popmusik als Medium der Erinnerungskultur, S. 135. Eine Annäherung findet freilich dann statt, wenn der Catwalk nicht mehr zur Präsentation von luxuriösen Kleidungsstücken, sondern zum performativen Vollzug eines zelebrierten ästhetischen Rituals der Haute Couture dient.

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7. Ästhetik

Alexander Gottlieb Baumgarten verfasst seine 1750 veröffentlichte Ästhetik als »Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft« bzw. als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis«1 . Diese Verknüpfung einer Analyse des ästhetischen Weltverhältnisses mit der eines gleichsam a priori auf dieses Vermögen hin ausgerichteten ästhetischen Gegenstandes »Kunst« steckt seither den Denkhorizont der Disziplin ab und bleibt bis in ihre aktuellen Definitionen, etwa als »systematische[s] Philosophieren[] über die ästhetischen Kompetenzen des Menschen und über die Kunst«2 konstant. Da die »ästhetischen Kompetenzen« des Menschen jedoch von Anfang an v.a. aus erkenntnistheoretischer Perspektive in den Blick kommen, scheint die vom sich ausdifferenzierenden, eigenständigen ästhetischen Diskurs als Reflexionsgegenstand zugleich erst hervorgebrachte »autonome« Kunst ihre angemessene philosophische Bestimmung damit (formalästhetisch) als produktive vernunftkritische Irritation bzw. (inhaltsästhetisch) als nichtbegriffliche Erkenntnis zu finden. Und weil sie als solche zweifellos »viel zu denken gibt«, ohne dabei diskursive Resultate zu gewähren, wird sie von der Philosophie zugleich als faszinierendes Anschauungsmaterial im Rahmen ästhetischer Reflexion als vernunftkritischer Reflexion entdeckt. Ihr kommt die Aufgabe zu, diese Reflexion durch die nichtdiskursive »Beredtheit« der Form oder des Inhalts von Artefakten zu beglaubigen. Gerade prominente Ästhetiken sind nicht selten Teil der umfassenden Gesamtkonzeption eines (analytischen, ontologischen, kulturkritischen, emanzipatorischen, dekonstruktivistischen etc.) Denkens, dem sie die begriffslosen Belege liefern. Kunst dergestalt als integralen Bestandteil eines intellektuellen Gesamtœuvres zu profilieren, bedeutet dabei weniger »philosophische Entmündigung« als ihre philosophische Affirmation. Danto behält aber insofern Recht, als diese Affirmation stets mit einer diskursiven philosophischen Absicherung der aus Kunst bezogenen Inspirationen verbunden bleibt. Das tendenziell Entmündigende zeigt sich dann in dem Anliegen, Kunst philosophisch zu legitimieren. (Schon für Adorno 1 2

Alexander Gottlieb Baumgarten [2007]: Ästhetik. Hg. von Dagmar Mirbach. Bd 1. Hamburg: Felix Meiner, S. 11. Stefan Majetschak [2010]: Ästhetik zur Einführung. 2. Auflage. Hamburg: Junius, S. 9.

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steht ausser Frage, dass Kunst »der Philosophie bedarf «3 .) Ist Ästhetik vernunfttheoretisch bzw. erkenntniskritisch dimensioniert, motivieren und inspirieren Artefakte denkerische Konzeptionen des Gewahrens oder Konstruierens von Welt und menschlicher Existenz bzw. des Kritisierens ihres verhängnisvoll verfehlten Begreifens. Häufig wird Kunst dann einerseits emphatisch auf eine nichtdiskursiv »beredte« Erscheinung jenseits von Praxis bzw. analytisch zu eigentümlichen Symbolen verkürzt oder andererseits zur alle Bereiche des Lebens ästhetisch grundierenden Praxis des Opponierens gegen die »Ordnungen« der Diskurse und der Vernunft überdehnt. Entsprechend bewegen sich die philosophischen Affirmationen der Kunst in einem Spektrum zwischen ihrer in eher sachlichem Ton referierten Aufwertung zur gegenüber der Wissenschaft nicht prinzipiell defizitären »Weise der Welterzeugung« bis hin zu ihrer Proklamation als rauschhafte Daseinsbejahung (oder auch heilsame Weltverneinung), Quelle ontologischer Offenbarung, Retterin der Utopie, schließlich bis zur Charakterisierung der Kunst als Statthalterin des »Mysteriums in transzendenzloser Zeit«4 . (Die konträren philosophischen Intentionen ändern nichts an der vernunftkritischen Emphase, mit der eine hier je umfassend korrektive Bedeutung von Artefakten denkerisch gewürdigt und unterstrichen wird). Schließlich avanciert Ästhetik dann sogar zur Repräsentantin intellektueller Avantgarde schlechthin, wenn ihr attestiert wird, »Interrelationen zwischen verschiedenen Wissens- und Lebensbereichen« zu reflektieren und einen umfassend ambitionierten ästhetischen »Reflexionshorizont«5 als ein Denken zu profilieren, das, erkenntniskritisch sensibilisiert, in der Lage ist, Ordnungen zu transzendieren und in Zwischenräumen zu agieren. Eine Theorie, die Kunst als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens begreift, bestreitet nicht die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer durch Artefakte induzierten kritischen Selbstreflexion der Vernunft. Gleichwohl zweifelt sie daran, dass Kunst als Medium einer letztlich philosophisch intendierten Sensibilisierung bzw. Herausforderung des Denkens zureichend bestimmt werden kann, auch wenn damit ihre attraktive philosophische Legitimierung als Agentin einer ästhetisch und darin selbstkritisch vorangetriebenen Aufklärung gelingt. Denn bis in neuere und neueste Entwürfe hinein propagieren ganz unterschiedlich angelegte Ästhetiken eben diese Rolle der Kunst und bleiben damit einer (aufgeklärten) Tradition ihrer Disziplin verpflichtet, die Kunst bis heute immer auch verteidigen zu müssen glaubt. Und so rechtfertigen sie Kunst am Ende mit erstaunlicher Einmütigkeit als »›neue[]‹ Aufklärung«6 , Agentin von »Freiheit«7 bzw. denkerische Voraussetzung 3 4 5 6 7

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 113 (Hervorhebung C.Z.). Mersch, Ereignis und Aura, S. 298. Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. Einleitung: Zur Aktualität des Ästhetischen. In: Barck u.a., Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1., S. 308-317, hier 311. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 362. Menke, Die Kraft der Kunst, S. 14.

7. Ästhetik

»politische[r] Gleichheit«8 oder »Beitrag zur Subjektwerdung«9 bzw. affirmieren sie hinsichtlich dieser Zuschreibungen ausdrücklich. Kunstwerke und Performances halten so, egal ob eher hermeneutisch oder postmodern10 anvisiert, in jedem Fall kritisch-emanzipatorische Einsichten bereit und forcieren damit das avancierte Projekt einer umfassend produktiven ästhetischen Herausforderung des Denkens bzw. »reflexiver Praktiken«11 . Aber nicht zuletzt die empirischen Wirkungsgeschichten und Verwendungskontexte von Kunstwerken lassen solche normativen Zuschreibungen problematisch erscheinen bzw. provozieren die Frage, ob Kunst statt von den bildungsbedeutsamen Irritationen ästhetischer Selbstbezüglichkeit nicht eher von grundlegenden menschlichen Interessen geprägt ist. Kunst als ästhetisch kultivierte Praxis kultischen Sorgens zu begreifen, bedeutet daher, sich bewusst zu machen, dass Menschen existenziell bedeutsame, feierliche Praktiken ursprünglich strategisch kultischen Einwirkens auf die Welt bzw. des Verkehrens mit ihr in ästhetisch wirksame (und dabei gleichwohl existenziell bedeutsame) feierliche Gesten von Kunstwerken und Performances verwandeln, deren unterhaltsame Vielfalt in vergesellschafteter Form als »Kultur« zelebriert wird. Diese feierliche Praxis selbst kann, je nach konkretem Kontext, dabei emanzipatorisch oder ideologisierend wirken, kann Freiheit oder Zwang fördern, sensibilisieren oder Gewalt provozieren, d.h. ist menschliche, aber nicht a priori »humane« bzw. »humanisierende« Praxis. Artefakte und Performances sind Objekte bzw. Ereignisse, an denen nicht primär ein Erscheinen12 , sondern v.a. eine menschliche Intention, ein feierlich sorgendes, dabei jedoch moralisch grundsätzlich indifferentes ästhetisches Herstellen bedeutsamer Weltbezüge ansichtig wird. Das Rationale der Kunst liegt nicht in einem (begriffslosen) Erkennen, sondern in der instrumentellen Praxis dieses im unbedingten menschlichen Interesse strategisch vollzogenen existenziellen Herstellens. Selbstverständlich setzen sich Artefakte und Performances mit Themen und Gegenständen auseinander. Aber selbst dort, wo sie etwas »aussagen«, feiern und affirmieren sie es eher, d.h. appellieren an eine Praxis, als es »erscheinend« zu offenbaren. Das Irrationale der Kunst bezieht sich daher nicht auf eine »emotionale« bzw. »expressive« (und ihr als »Ausdruck« explizit eingeräumte, ja abverlangte) Dimension, sondern auf den Modus des (ursprünglich kultisch) sorgenden Herstellens, dessen Irrationalität in einer der Kunst als Kunst zugestandenen atmosphärischen ästhetischen Wirksamkeit Geltungsansprüche anmelden darf. Höchst unterschiedliche, oft auch diffuse und moralisch prinzipiell indifferente 8 9 10 11 12

Menke, a.a.O., S. 175. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 14. Obgleich Bertram im Gegensatz zu Menke am Subjektbegriff festhält, verbindet beide ästhetischen Konzepte die Betonung eines grundlegend befreienden Zugs von Kunst. Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 15. Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 47: »Die ästhetischen Objekte sind Objekte des Erscheinens« (Hervorhebung C.Z.).

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Wirksamkeiten aber lassen nicht zu, die Praxis Kunst prinzipiell als Agentin wie immer auch plausibler philosophischer Grundanliegen zu veranschlagen. Kunst besitzt, auch wenn Ästhetik sie auf diesen Anspruch hin als Reflexionsgegenstand vielleicht überhaupt nur konstituiert hat, keinen »philosophischen Charakter«13 . Eine von ihr zweifellos ästhetisch inspirierte »Selbstreflexion der Philosophie«14 plausibilisiert Kunst noch nicht als zu deren ästhetischer Austragung bestimmte Erscheinung. Die hier entwickelte Theorie muss sich daher darauf beschränken, eine Theorie der Praxis Kunst zu sein, ohne übergreifende philosophische Intentionen mit ihr verbinden zu können. Freilich deutet auch sie diese Praxis Kunst diskursiv. Dies ist ihr aber möglich, ohne Kunst dabei zugleich zum Medium philosophischer Grundsatzreflexionen zu machen bzw. mit ihr philosophische Ansprüche zu verbinden. Die Praxis Kunst ist keine Praxis verfeinerten Erkennens oder Offenbarens von Welt bzw. des avancierten kritischen Verzichts auf deren Handhabe, sondern instrumentelle Praxis des existenziell interessegeleiteten Verkehrens mit ihr. Ästhetik ist damit weniger Philosophie als Theorie der Kunst und klärt so nicht über die wahrzunehmende Beschaffenheit des Seienden, sondern über die wahrnehmbare Eigenart der Intention einer spezifischen menschlichen Tätigkeit auf. Kunst bedeutet keine zweckfrei spielerische Veredelung des Humanums, gilt nicht der bildsamen Inspiration anderer Praktiken, nicht dem enthaltsamen Gewahren der Dinge oder der Ästhetisierung des Lebens, sondern intendiert, als spezifische, feierliche Praxis das moralisch indifferente, ästhetisch kultivierte kultisch sorgende Herstellen einer dem Dasein jeweils gewogenen bzw. zugewandten Welt. Für die ästhetische Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken und Performances bedeutet dies, dass sich die Wahrnehmung ihrer »dynamische[n] Gefüge«15 als Wahrnehmung existenziell und strategisch sorgender Gefüge bewusst wird. Das Sorgen der Kunst bleibt dabei hinsichtlich der von und in ihm entfalteten Dynamiken auf ästhetische Reflexion angewiesen.

13 14 15

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