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German Pages 268 Year 2017
ROLF ELBERFELD · STEFAN KRANKENHAGEN (HG.) ÄSTHETISCHE PRAXIS ALS GEGENSTAND UND METHODE KULTURWISSENSCHAFTLICHER FORSCHUNG
Rolf Elberfeld · Stefan Krankenhagen (Hg.)
Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung: Studierende der Stiftung Universität Hildesheim beim State of the Art-Festival 2012, Foto: Paula Reissig
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6156-8
Inhaltsverzeichnis ROLF ELBERFELD UND STEFAN KRANKENHAGEN Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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MATTHIAS REBSTOCK Zum Verhältnis von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis. Eine Standortbestimmung aus Sicht der Hildesheimer Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . .
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ULF OTTO Unentschiedenheiten Wie sich künstlerische Setzungen als ästhetische Artikulationsprozesse beschreiben lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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STEFAN KRANKENHAGEN Auf der Flucht. Die Formen der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANNEMARIE MATZKE Künstler unter (Selbst-)Beobachtung – Formen forschender Theaterpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BETTINA UHLIG Eisschollen und andere Surfbretter. Die Grounded Theory als Methode zur Erforschung kultureller Bildungsprozesse bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BARBARA HORNBERGER Pop machen. Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und ästhetischer Praxis in der Vermittlung populärer Kultur . . . . . . . 111 JOHANNES S. ISMAIEL-WENDT The Sound of Science. Forschung als ästhetische Praxis . . . . . . . 127 CHRISTIAN SCHÄRF Aspekte allgemeiner Poetik Eine Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
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INHALTSVERZEICHNIS
SIMON ROLOFF Eleganter Code. Friedrich Kittlers Montage der Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 ROLF ELBERFELD Philosophie und ästhetische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 STEFAN KRANKENHAGEN UND ROLF ELBERFELD Aus dem Archiv: Die Entwicklung wissenschaftlichkünstlerischer Studiengänge an der Universität Hildesheim . . . . 191 HANS-OTTO HÜGEL Kulturelle Praxis im kulturwissenschaftlichen Studium . . . . . . . . 195 HAJO KURZENBERGER Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie. . . . . . . 205 HARTWIN GROMES Praktische Theaterwissenschaft in der Hildesheimer Projektarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 HAJO KURZENBERGER 25 Jahre Hildesheimer Kulturwissenschaften: Von der„polyästhetischen Erziehung“ zur intermedialen Kunstkompetenz (Vortrag am 9. Februar 2004) . . . . . . . . . . . . . 245 Kulturwissenschaften und Künste an der Universität Hildesheim Chronik 1979-2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Einleitung – Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung Schaffende Hände heißt ein heute weitgehend vergessenes Projekt, das Hans Cürlis im Rahmen des 1919 neu gegründeten Berliner „Instituts für Kulturforschung“ verfolgte. Im Zentrum des Projekts standen berühmte Künstler während des Malens ihrer Bilder – beobachtet durch die Filmkamera von Hans Cürlis. Der Zyklus Schaffende Hände, aus dem nur noch einige wenige Filme erhalten sind, erforscht mittels der damals neusten technischen Möglichkeiten den künstlerischen Schaffensakt als eine Form von kultureller Praxis, die durch Intensität, Selbstbezüglichkeit und kreative Offenheit gekennzeichnet ist. Die filmischen Szenen zeigen, wie die malenden Künstler eintauchen in eine ganzkörperliche Praxis, in der höchste Konzentration sich verbindet mit einem spielerischen Fluss und in der hohe Prägnanz sich koppelt mit kreativer Offenheit. Mit den Mitteln des Films tritt so eine Praxisform ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die im 18. Jahrhundert mit dem Wort Genie verbunden wurde, aber letztlich durch diesen Diskurs eher verdeckt als begriffen wurde. Die Filme zeigen Bilder im Werden, sie machen deutlich, wie der Pinsel geführt wird, von welcher räumlichen Position aus sich ein Bild entwickelt und ob dieses langsam oder schnell geschieht; darüber hinaus analysieren sie, welche Rolle dem künstlerischen Subjekt, beispielsweise Lovis Corinth, Otto Dix oder Wassily Kandinsky, dabei zukommt, wie sich dieses Subjekt im Schaffensprozess konstituiert und verändert.1 Durch die langen Filmeinstellungen wird eine Form von Beobachtung künstlerischer Prozesse möglich, die hilft, ein entmystifiziertes Bild von künstlerischer Praxis bzw. von künstlerischem Handeln zu entwerfen. 1 Leben und Werk von Cürlis zeigen, wie unterschiedlich das Medium Film seit seiner Erfindung eingesetzt wurde. Neben der filmischen Beobachtung von künstlerischen Schaffensprozessen wurden „Kulturfilme“ nach dem 1. Weltkrieg und während des dritten Reichs als Lehrfilme für Propagandazwecke eingesetzt. Zum „Kulturfilm“ im 20. Jahrhundert und zum Gesamtwerk von Cürlis vgl.: Döge, Ulrich, Kulturfilm als Aufgabe. Hans Cürlis (1889–1982), (= Filmblatt-Schriften, Bd. 4), Babelsberg, 2005.
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In den Filmen wird konsequent der künstlerische Prozess selbst ins Zentrum gerückt. Es geht weder um das Endergebnis künstlerisches Werk noch um das interesselose Wohlgefallen bei der Betrachtung abgeschlossener Werke. Die Praxis und das Handeln, die in diesen Prozessen zum Ausdruck kommen, werden gewöhnlich als kreativ bezeichnet, so dass Cürlis mit den Filmen eine Praxis- bzw. Handlungsform in die Aufmerksamkeit hebt, die sich weder als rein zweckrational noch als rein ethisch interpretieren lässt. Ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass Sinn und Konstellationen sich im Vollzug ergeben, so dass sowohl das ausführende Subjekt wie auch das zu schaffende Objekt sich in einem Findungsgeschehen wechselseitig bilden. Es scheint eine Praxisund Handlungsform auf, aus der und durch die kultivierte Subjekte und kulturelle Artefakte allererst geprägt und geformt werden. Nicht fertige Produkte der Kultur interessieren, auch nicht omnipotente Kultursubjekte, vielmehr wird Kultur beobachtet im lebendigen Entstehen, wobei Situationen künstlerischer Praxis sich für diese Perspektive des Forschens wie kaum eine andere Praxis- und Handlungsform nahelegen und eignen. In dem Zyklus Schaffende Hände gewinnt Kulturforschung den Sinn, bestimmte Formen kultureller Praxis, die gewöhnlich als künstlerische Praxis bestimmt werden und die wir in diesem Band aus noch darzulegenden Gründen in erweiterter Form als ästhetische Praxis bezeichnen – zwischen künstlerischer, medialer und wissenschaftlicher Praxis und Poiesis zu beobachten und zu erforschen.2 Die Einsichten, die hierbei gewonnen werden können, sind dabei nicht nur für bestimmte Formen der Praxis in den Künsten relevant, sondern gewinnen eine Bedeutung für die Bestimmungen von kultureller Praxis in einem sehr allgemeinen Sinne,3 so die grundlegende These der hier vorgelegten Überlegungen. Bereits drei Jahrzehnte vor dem genannten Zyklus, hatte sich in der Kunstwissenschaft eine Stimme erhoben, die versuchte, den künstlerischen Schaffensakt als eine Erkenntnis- und Wahrheitsform aus eigenem Recht zu beschreiben. Konrad Fiedlers Studie Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit von 1887 stellt – ebenso wie die Kamera bei Cürlis – den Akt des Malens ins Zentrum der theoretischen Aufmerk-
2 Vgl. Hetzel, Andreas, Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg, 2001. 3 Hier kann angeschlossen werden an neuere Publikationen aus den Sozialwissenschaften: Alkemeyer, Thomas/Schürmann, Volker/Volbers, Jörg (Hg.), Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden, 2015.
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samkeit.4 Dass dies in so radikaler Weise geschehen konnte, steht in direktem Zusammenhang mit der Freundschaft zu zwei Künstlern – Hans von Marées und Adolf von Hildebrand –, deren Mäzen und Diskussionspartner Fiedler in verschiedenen Phasen seines Lebens war.5 Bisweilen lebte er zusammen mit ihnen und konnte so seine philosophisch-ästhetischen Überlegungen in unmittelbarer Nähe zur künstlerischen Praxis der beiden Freunde entwickeln.6 Fiedler denkt in seinen Texten immer wieder darüber nach, wie in der malenden Tätigkeit selbst Erkenntnis generiert und Wirklichkeit realisiert wird und entwirft eine grundlegende Theorie zu diesem Vorgang. In seiner Interpretation der schöpferischen Tätigkeit wird eine Form von Reflexivität aufgewiesen, die sich im Rahmen von sinnlich-leiblichen Handlungen vollzieht. Ein solcher Ansatz erlaubt es, neben den sprachlichen Formen von Reflexivität in der wissenschaftlichen Praxis, Formen von Reflexivität in verschiedenen künstlerischen Praktiken anzunehmen. Angeregt durch diesen Ansatz hat der Bildhauer Adolf von Hildebrand sein künstlerisches Schaffen in der heute wieder beachteten Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst aus dem Jahre 1893 analysiert und beschrieben. In der 1901 erschienen überarbeiteten Fassung brachte er die methodische Zugangsweise ganz im Sinne Fiedlers auf den Punkt: „Da es bei der Kunst nicht auf ein bloßes Erkennen ankommt, sondern auf ein Handeln und Formen, in welchem die Erkenntnis zur Tat wird, so kann die Besprechung der künstlerischen Probleme nur dann fruchtbar sein, wenn der Verlauf des künstlerischen Prozesses nicht nur theoretisch, sondern bis in die praktische Ausführung verfolgt wird.“7 Fiedlers und Hildebrands Ansatz zeigen, dass künstleri4 Vgl. Fiedler, Konrad, Schriften zur Kunst I und II. Bd. 1, hg. v. Gottfried Boehm, München, 1991, S. 111-220. 5 Vgl. Wegener, Franz, Der Vedremo-Bund: Conrad Fiedler, Hans von Marées und Adolf von Hildebrand, Gladbeck, 2011. 6 Vgl. Decker, Elisabeth, Zur künstlerischen Beziehung zwischen Hans von Marées, Konrad Fiedler und Adolf Hildebrand [Dissertation], Basel, 1967. Decker sieht Fiedler in starker Abhängigkeit von den Künstlern, einem Bild, dem Boehm in seiner Deutung widerspricht. Vgl. (a.a.O., Bd. 1, LXXXII.). Aber auch Boehm erkennt die Wichtigkeit der Nähe zur künstlerischen Praxis für die Entwicklung der Fiedlerschen Kunsttheorie an. 7 Hildebrand, Adolf, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Straßburg, 1901, S. 10f. Ein Höhepunkt des Buches bildet das letzte Kapitel mit dem Titel „Bildhauerei in Stein“, in dem Hildebrand konkret das Zusammenspiel der beteiligten Momente – Material, Vorstellung, Körper, Phantasie usw. – in der künstlerischen Praxis beschreibt.
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sche und ästhetische Praktiken einen Ansatz bieten können, um Praxisund Handlungsformen zu erforschen, die in Europa lange Zeit vor allem in theoretischer Hinsicht – so eine These in der zeitgenössischen Soziologie – in Philosophie und Soziologie vernachlässigt wurden.8 Die neuzeitliche Philosophie tendiert dazu, Tätigkeiten als Handlungen zu interpretieren, die von einem vorgängigen Subjekt sowohl verursacht als auch kontrolliert werden und die ihr Ziel in der Veränderung einer (dem Handeln selbst äußerlichen) Situation haben. Eine Praxis, die ihren Zweck in sich selbst hat, die sich nicht begrifflich determinieren lässt und die die Grenzen des einzelnen Subjekts übersteigt, gerät demgegenüber in Vergessenheit. Man könnte hinzufügen, dass auch die Wissenschaften, die sich im europäischen Kanon des Wissens mit den verschiedenen Künsten beschäftigen und vielleicht auch alle anderen Wissenschaften und Formen der Wissenserzeugung, dieses Moment einer freien ästhetischen Praxis eher aus dem Blick verloren haben. Ein Zusammenhang, der spätestens mit den Forschungen von Bruno Latour9 und Hans-Jörg Rheinberger10 zu den Praktiken verschiedener Wissenschaften wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten ist. In diesem Zusammenhang ist auch die besondere Pointe zu sehen, die schon in dem Ansatz von Fiedler prägnant aufscheint und die darin besteht, dass die künstlerische Tätigkeit nicht nur schöne Werke produziert, sondern diese Tätigkeit selbst eine spezifische Form von Wissen produziert. Fiedler steht damit auch gegen eine Verengung der Perspektive auf die Rezeptionsästhetik, wie sie sich gegenwärtig in vielen Ansätzen wiederfinden lässt, die sich auf Kant und auf die Frage nach der „ästhetischen Differenz“ in Bezug auf die Wahrnehmung von Werken beziehen.11 Dagegen stehen Ansätze wie von Fiedler, der mit großer Insistenz die produktionsästhetische Dimension der künstlerischen Praxis betonte und wie der von John Dewey, der vehement eine Kontinuität zwischen den Praktiken des alltäglichem Lebens und der Künste herausarbeitete. Mit der Rede von „ästhetischer Erfahrung“ hat Dewey 8 Für eine ausführliche Geschichte dieser Vernachlässigung vgl. Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main, 1992. 9 Vgl. Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften, Frankfurt/Main, 2000. 10 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt/Main, 2006. 11 Vgl. für eine aktuelle Position, die den Topos der Schönheit im Rückgriff auf Kant reaktiviert Hickey, Dave, Der unsichtbare Drache, Berlin, 2015.
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zugleich einen Topos geliefert, der einer Diffusion künstlerischer und ästhetischer Ansprüche Vorschub leistet und das mitgefördert hat, was heute mit ins Zentrum der Interpretation kultureller Praktiken gerückt ist. Darüber hinaus verbindet Dewey ästhetische Erfahrung mit einem Konzept von inquiry, einem offenen Forschungsprozess,12 der mit der Schaffung neuer Deutungen und Bilder auf Krisen der Lebenspraxis reagiert. In großer Nähe zu Fiedler beschreibt er diesen kreativen Prozess entlang der Metapher eines Reflexbogens, wie er sich etwa zwischen Auge und Hand des bildenden Künstlers abzeichnet. Es ist erstaunlich, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz unabhängig von den gerade erwähnten Entwicklungen in den USA die Rede von artistic research entwickelt wurde. In der bekannten philosophischen Zeitschrift The Monist taten sich an der Harvard University ein Poet und Kunsthistoriker – John Gould Fletcher – und ein Mathematiker – James Byrnie Shaw – zusammen, um einen Artikel zum Thema „The spirit of research“ zu schreiben. In dem Artikel werden vier Weisen des Forschens unterschieden: 1. Scientific Research, 2. Mathematical Research, 3. Anthropological Research, 4. Artistic Research. In dem Abschnitt über „Artistic Research“, der wohl von John Gold Flechter stammt, heißt es dann: „The Artist enunciates truths. They have often startled the race with their subtlety and profundity. Each school of art has seen a new vision, some new expression for these inner forms continually struggling for the right to be born, some new idea of sculpture, painting, music, of literary creation. They are experimented with, refined and finally accepted, just as are truths of mathematics, anthropology, or science.“13 Ganz ähnlich wie bei Fiedler geht Fletcher davon aus, dass in den Künsten Wahrheiten artikuliert werden können. In dem Artikel wird der Frage nicht weiter nachgegangen, wie genau in der Praxis der Künste und in ihren Werken Wahrheiten artikuliert werden. Ähnlich früh wie in der englischen Sprache findet sich in deutscher Sprache das Motiv der künstlerischen Forschung bereits 1935, hier jedoch in einem eher beiläufigen Sinne: „Wagner mußte sich durch unablässiges philosophisches Denken und durch künstlerische Forschungen zunächst die Voraussetzungen schaffen, von denen aus er seine große Gesamtschau musikalisch-dramatisch verwirklichen konnte.“14 Diese sich bereits Ende des 19. Jahrhun12 Vgl. hierzu vor allem: Dewey, John, Die Theorie der Forschung, Frankfurt/ Main, 2002. 13 Fletcher, John Gould/Shaw, James Byrnie, „The Spirit of Research“, in: The Monist 33/4 (1922), S. 549. 14 Schuhmann, Otto, Meyers Opernbuch, Leipzig, 1935, S. 233.
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derts andeutende Tendenz zu einer neuen Deutung des künstlerischen bzw. ästhetischen Handelns als Forschung bzw. als relevant in jeder Form von Forschung ist ab den 1990er Jahren ausgehend von Universitätsreformen in England und Skandinavien15 inzwischen zu einer eigenen Forschungsbewegung herangewachsen.16 Hier manifestiert sich auch in theoretischer Hinsicht, dass sich in sehr verschiedenen künstlerischen und ästhetischen Praktiken – häufig auch im Zusammenhang mit den Wissenschaften und der Philosophie – die Reflexivität in den Künsten massiv gesteigert hat.17 So kann behauptet werden, dass sich gegenwärtig sowohl die wissenschaftliche wie auch die künstlerische Praxis durch einen hohen Grad an Reflexivität auszeichnen, so dass sie heute in besonderem Maße prädestiniert sind, Reflexionsprozesse gemeinsam unter Ausnutzung reflexiver Synergien voranzutreiben. In den heutigen Wissenschaften ergeben sich zunehmend Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Künsten, wobei sich in der Kulturforschung bestimmte Geistes- und Sozialwissenschaften für die Verbindung besonders anbieten, was sich, wie bereits erwähnt, schon in den 1920er Jahren abgezeichnet hat. Der in den vorliegenden Beiträgen favorisiert Weg ist aber nicht primär der der künstlerischen Forschung, die sich durch und in den Künsten vollzieht. Vielmehr liegt der Ausgangspunkt auf der Seite der kulturwissenschaftlichen Forschung, die in unterschiedlicher Weise ästhetische Praktiken einbezieht und ästhetische Praktiken methodisch als Heuristiken nutzt. Der Oberbegriff ästhetische Praxis umfasst dabei in sich auch alle ausgehend vom europäischen System der Künste als künstlerisch bezeichneten Praktiken, reicht aber weit über diese hinaus bis in Praktiken des Alltags wie Mode und Essenskultur. Wenn im Folgenden – und dies gilt auch für die einzelnen Beiträge – das Adjektiv künstlerisch verwendet wird, so ist dies immer im weiteren Horizont von ästhetischer Praxis zu verstehen. Als Ausgangspunkt der Forschung sind hier zuerst die selbst auf die Künste im engeren Sinne bezogenen Kulturwissenschaften zu nennen wie die Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft, Medienwissenschaft und die Tanzwissenschaft. Diese Wissenschaften wären ohne ein Selbstreflexiv15 Vgl. hierzu: Borgdorff, Henk, „Die Debatte über Forschung in der Kunst“, in: Anton Rey/Stefan Scheibi (Hg.), Künstlerische Forschung, Zürich, 2009, S. 23-51. 16 Vgl. Badura, Jens u. a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich, 2015. 17 Vgl. Bertram, Georg W. u.a. (Hg.), Die Sinnlichkeit der Künste. Beiträge zur ästhetischen Reflexivität, Zürich, 2015.
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werden der jeweiligen künstlerischen Praxis nicht entstanden, so dass sie allein schon von den Gegenständen her gezwungen werden, sich auf die jeweilige künstlerische Praxis auszurichten. In der Realität dieser Wissenschaften ist dies jedoch häufig nicht der Fall, da vor allem die historische Grundausrichtung und die Text- und Werkorientierung insbesondere neuere und zeitgenössische Entwicklungen nicht mit einbeziehen kann. Wollen die einzelnen Wissenschaften nicht die zeitgenössischen Entwicklungen ihres jeweiligen Forschungsfeldes aus der Betrachtung ausschließen, müssen Wege entwickelt werden, auf denen sich die jeweilige wissenschaftliche Praxis mit der künstlerischen verbindet, ohne dass dadurch beide Praxisformen konturlos werden. In geisteswissenschaftlichen Fächern wie etwa in der Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie, Sprachwissenschaft, Geschichte und in der Pädagogik ist die Zusammenarbeit mit der künstlerischen Praxis noch wenig als Möglichkeit gesehen worden, neue Methoden und Themen zu entwickeln. Gegenläufige Tendenzen innerhalb der europäischen und nordamerikanischen Wissenschaft sind jedoch z. B. die fruchtbare Rezeption theatraler Praxis und ihrer Reflexion in der Soziologie und Politikwissenschaft oder die intensive Bezugnahme auf künstlerische Prozesse in der Philosophie bei Maurice Merleau-Ponty, HansGeorg Gadamer, Nelson Goodman, Hans Blumenberg und Arthur C. Danto oder neuerlich bei Richard Rorty, Jacques Derrida und in den sich an Derrida anschließenden Debatten zur Literarizität und den Darstellungsformen der Philosophie. Umgekehrt findet man in künstlerischen Prozessen viele Bezugnahmen auf Gehalte und Methoden der genannten Disziplinen. Existenzialismus, kritische Gesellschaftstheorie, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Gender-Forschung, Postkolonialismus-Studien, Phänomenologie sind zu Ausgangspunkten in verschiedenen künstlerischen Praxisformen geworden. Entsprechend ist in den letzten 20 Jahren von Seiten der kulturund sozialwissenschaftlichen Forschung auf dem „Kunstfeld“18 mehrfach ein Wandel festgestellt worden. In den 1990er Jahren dominieren Diffusionsthesen. Ihnen zufolge bleiben Produktionen und Reflexionen des Ästhetischen nicht auf eine besondere Wertsphäre der Gesellschaft, die Kunst, beschränkt – wie noch Luhmann meint –, vielmehr würden ästhetische Ansprüche gesellschaftlich diffundieren. Soziologi-
18 Vgl. Bourdieu, Pierre, Les regles de l’art. Genèse et structure du champ litteraire, Paris, 1992.
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sche Autoren sprechen von einer Ästhetisierung des Alltaglebens.19 In der philosophischen Literatur kommt es sogar zu einem Generalbefund der Ästhetisierung.20 Ästhetik ist in dieser Perspektive nicht nur ein Alltagsornament, sie vermag das zeitgenössische Weltbild im Ganzen zu grundieren. In der jüngsten Forschung werden wiederum Wandlungen innerhalb des engeren sozialen Feldes der Kunst diagnostiziert, die zu einer Erweiterung des Kunstbegriffs – etwa durch intermediale Interferenzen – geführt haben.21 Obwohl mit der gesellschaftlichen Diffusion und Zirkulation ästhetischer Ansprüche und der Transformation der traditionellen Künste von Seiten der Forschungsliteratur tiefgreifende Veränderungen des künstlerischen Feldes und der ästhetischen Praxis beschrieben und empirisch gut belegt worden sind, wird ihre Alltagsrelevanz immer noch unterschätzt. In gängigen Zeitdiagnosen wird der Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung insbesondere von Beobachtungen einer zunehmenden Ökonomisierung verdeckt22 oder direkt mit dieser verbunden und kritisiert23 bzw. als eine spezifisch moderne Subjektivierungsweise beschrieben.24 Das ist insofern verständlich, als kaum jemand etwas gegen Ästhetisierung einzuwenden hat, viele jedoch etwas gegen Ökonomisierung. Das wiederum sagt im Umkehrschluss etwas über die schon sehr weit vorangeschrittene gesellschaftliche Anerkennung und empirische Verbreitung dessen aus, was wir als ästhetische Praxis bezeichnen wollen. Mit diesem Begriff reagieren wir sowohl auf die „Selbstentgrenzungen von Kunstpraktiken“25 als 19 Vgl. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/Main, New York, 1992, S. 33ff. 20 Vgl. Welsch, Wolfgang, „Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?“, in: Ders. (Hg.), Die Aktualität des Ästhetischen, München, 1993, S. 23. 21 Vgl. Fischer-Lichte, Erika/Hasselmann, Kristiane/Rautzenberg, Markus (Hg.), Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies. Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld, 2011. 22 Vgl. Schimank, Uwe/Volkmann, Ute, „Ökonomisierung der Gesellschaft“, in: Andrea Maurer (Hg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden, 2008, S. 382-392. 23 Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Eve, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, 2003. 24 Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin, 2012. 25 Hierzu siehe die von Michael Kauppert und Rolf Elberfeld organisierte Tagung Selbstentgrenzung der Kunst oder Entkunstung der Kunst des „Arbeitskreises Soziologie der Künste“ der „Gesellschaft für Soziologie“ vom 26.6. bis 28.6.2014 in Hildesheim. Vgl. Kaupert, Michael/Eberl, Heidrun (Hg.), Ästhetische Praxis, Wiesbaden, 2016.
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auch auf die Transformation in den Künsten selbst.26 Ästhetisierung soll aus unserer Sicht also nicht im Sinne einer Entgrenzung und Entdifferenzierung einer Sphäre ästhetischer Phänomene oder Urteilsformen begriffen werden, sondern eher im Sinne einer Praxisform, die in verschiedene Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens diffundiert ist und längst nicht mehr nur in der Praxis der klassischen Künste zu finden ist. Um die bisher genannten Tendenzen und Bewegungen in kulturwissenschaftlicher Perspektive erforschen zu können, soll in diesem Band als Leitperspektive die Wendung „ästhetische Praxis“ stark gemacht werden. Neben den wirkungsreichen und gut erforschten Konzepten zur ästhetischen Erziehung und ästhetischen Erfahrung27 ist der Begriff ästhetische Praxis in der Kulturforschung noch vergleichsweise wenig verwendet worden. Anders als in der ästhetischen Erziehung, wo seit Schiller allein die Bildung des Menschen im Zentrum steht und in der ästhetischen Erfahrung, die durch den Erfahrungsbegriff eine starke Betonung der (subjektiven) Wahrnehmung zeigt, soll mit der Wendung ästhetische Praxis eine Form des Handelns in den Mittelpunkt gerückt werden, die sowohl von den zweckrationalen wie auch den ethischen Handlungsformen zu unterscheiden ist. Neben eine rationale und ethische Praxis tritt eine ästhetische Praxis, die nicht nur in den traditionellen Künsten angetroffen werden kann. Das Adjektiv ästhetisch bezeichnet hierbei eine Weise des Handelns, in dem gestalterische Spielräume, performative Ausdrucksbewegungen und leiblich-sinnliches Situiertsein eine zentrale Rolle spielen. Es ist ein Handeln, in dem Bahnen des Gewohnten verlassen werden, oder das Gewohnte in seinen Spielräumen überprüft wird. Nicht festliegende Normen oder rationale gesicherte Absichten bestimmen das Handeln ästhetischer Praxis, sondern situative Resonanzen und sinnlich evozierte Evidenzen führen die Handelnden über ihre eigenen Rahmensetzungen hinaus. Wie alle Formen des Handelns sind auch alle ästhetischen Praktiken auf technisch-materielle, institutionelle, organisatorische, ökonomische, politische und andere Rahmensetzungen angewiesen, bzw. sie stehen in einem engen Wechselverhältnis zu jenen. Vor allem in den klassischen Künsten spielen diese Voraussetzungen eine erhebliche Rol26 Vgl. Reiche, Ruth u. a. (Hg.), Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater und Musik, Bielefeld, 2011. 27 Vgl. Kreysing, Anna, Prozesse und Funktionen des Erkennens in Ästhetischer Erfahrung, Münster, 2016. Vgl hierzu auch den SFB 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der FU Berlin.
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le, damit die ästhetischen Praktiken ausgeübt und eine Wirkung entfalten können. Ästhetische Praxis reagiert auf diese Rahmensetzungen und transformiert sie häufig auch. Die Frage nach den Kriterien, die eine Praxis zu einer ästhetischen Praxis machen, stellt sich mit jeder emphatischen Gestalt ästhetischer Praxis neu. Ästhetische Praxis, so wie sie hier verstanden wird, umfasst sehr unterschiedliche Gegenstandsfelder. Es sind nicht allein die Praktiken in den traditionellen Künsten gemeint, sondern auch ästhetische Praktiken, die in verschiedenen medialen Darstellungsformen wie dem Internet, in Alltagspraktiken, dem Bereich der populären Kultur, der schulischen Bildung zu den Künsten und im Kunsthandwerk zum Ausdruck kommen. Die Perspektiven ästhetischer Praxis gehen zudem dezidiert über die Grenzen Europas hinaus und umfassen Traditionen wie die Schreibkunst in China oder die Teezeremonie und das Bogenschließen in Japan. Immer dort, wo gestalterische Spielräume, performative Ausdrucksbewegungen und leiblich-sinnliches Situiertsein von zentraler Bedeutung für die Weise des Handelns sind, kann von ästhetischer Praxis gesprochen werden, wobei neben den Künsten in Europa und in anderen Kulturen auch alltägliches Handeln wie das Einrichten einer Wohnung, das Phänomen der Mode, Selbstpräsentationen in öffentlichen Medien und die populäre Kultur in dieser Perspektive betrachtet und erforscht werden kann. Die Rede von ästhetischer Praxis unterschiedet sich von anderen Fokussierungen auf ästhetische Praxis – etwa von einer habituellen „symbolischen Praxis“ im Sinne Bourdieus oder von den innerhalb der Cultural Studies untersuchten Wiederaneignungspraktiken von Kulturprodukten –, da keine Engführung auf sozialstrukturelle Faktoren vorgenommen wird, sondern die spezifischen Qualitätsmerkmale des Handelns im Sinne des Ästhetischen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Mit dem Begriff und dem Konzept ästhetischer Praxis eröffnet sich ein breites Forschungsfeld, das Feld ästhetischer Praktiken in den Künsten (in sehr weitem Sinne), in anderen Feldern der Kultur und im Alltag. Es ist gekennzeichnet durch eine interne Dynamik, die in einer Reihe von Auflösungen vormals etablierter Unterscheidungen besteht, die den Blick bisher verengt haben. a. Ästhetische Praxis unterläuft herkömmliche Unterscheidungen wie hohe Künste und Kunsthandwerk, E- und U-Musik, Avantgarde und Tradition, Westen und Nicht-Westen, Europa und Außer-Europa. Die genannten Unterscheidungen strukturieren unseren Blick und unser Wissen in antagonistischer Weise. Sie transportieren zudem
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kulturell sowie sozial aufwändig aufrechterhaltene Bewertungsschemata, die in den Wissenschaften und im Alltag zwar immer noch nachwirken, aber durch die Entwicklungen im Rahmen ästhetischer Praxis häufig schon überwunden sind.28 b. Ästhetische Praxis unterläuft die Unterscheidung zwischen Kunst und Ästhetik. Im Rahmen dieses Forschungsparadigmas kann es nicht mehr die Aufgabe der Ästhetik sein, das Wahre in der Kunst philosophisch zu reflektieren. Ebenso wenig kann sich die Ästhetik in der Konzeption der Begriffe von Schönheit, Erhabenheit und Innovation erschöpfen.29 Sie kann auch nicht in einer Theorie der Künste aufgehen, da die Künste nicht mehr allein im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ausgehend vom Feld ästhetischer Praktiken wird eine Weise des Handelns erforscht, die neben zweckrationalen und ethischen Handlungsformen zum Grundmuster menschlichen Handelns überhaupt zählt. c. Ästhetische Praxis unterläuft die Unterscheidung zwischen Werkund Rezeptionsästhetik, geht aber auch nicht allein in einem produktionsästhetischen Ansatz auf. Denn aus der Perspektive ästhetischer Praxis stehen in der Analyse der Künste weder nur die Werke als Endprodukte noch der Genuss der Künste allein im Zentrum. Vielmehr sind Probenprozesse im Theater ebenso Teil der ästhetischen Praxis des Theaters wie das Zuschauen und die Institution Theater selbst. In der Literatur gehören die Praktiken des Schreibens und Lesens ebenso zur ästhetischen Praxis der Literatur wie das Lektorieren und die Lesungen nach dem Erscheinen des Werkes. Der Begriff der ästhetischen Praxis ist aus den genannten Gründen klar und scharf zu unterscheiden von dem Begriff der künstlerischen Praxis in den traditionellen Künsten, wobei der erstere den letzteren in sich umfasst.
28 Vgl. Kovalčik, Jozef/Ryynänen, Max (Hg.), Aesthetics of Popular Culture, Bratislava, 2016; Maase, Kaspar (Hg.), Die Schönheit des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt/Main, 2008; Hügel, Hans-Otto, „Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie“, in: montage a/v 2/1 (1993), S. 119-141. 29 Vgl. Lehmann, Harry, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, München, 2016.
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d. Ästhetische Praxis unterläuft die Unterscheidung von Kunst und (Alltags-)Leben. Die klassischen Künste haben sich in Europa seit den 1960er Jahren zunehmend mit dem verbunden und aus dem geschöpft, was traditionell nicht für Kunst gehalten wurde und häufig dem Alltag angehörte. Zudem wurde durch die technische Entwicklung neuer Künste (Fotografie, Film) und die mediale Erweiterung künstlerischer Formen das klassische Feld der Künste in vielerlei Hinsicht aufgelöst. Durch diese Entwicklungen wurden auf der einen Seite für ein großes Publikum viele neue ästhetische Erfahrungen möglich, die in der Erforschung ästhetischer Erfahrungen beschrieben worden sind, wie beispielsweise die Rezeption von Filmen. Auf der anderen Seite sind durch die technischen Entwicklungen neue Formen ästhetischer Praxis entstanden: So ist beispielsweise die Herstellung von Filmen oder Fotos, die einem ästhetischen Anspruch genügen, sowohl eine Anspruch an jeden als auch eine Kompetenz von jedem geworden. e. Ästhetische Praxis unterläuft das Gefälle zwischen einem Kanon der Künste und der kulturellen Bildung. Galten traditionell Musik, Malerei und Literatur als wichtige künstlerische Medien der Bildung, so werden inzwischen auch Theater, Tanz, Film, Fotografie, aber auch Design und Architektur30 in hohem Maße als ästhetische Praktiken in die schulische und außerschulische kulturelle Bildung einbezogen. Doch nicht nur die Grenzen zwischen den (erweiterten) Künsten und kultureller Bildung werden in der ästhetischen Praxis verflüssigt. Ihr Wert wird auch gegeneinander relativiert. Das eigentlich Künstlerische wird – beispielsweise in der Arbeit mit Kindern – nicht als etwas Höheres oder Wertvolleres angesehen, sondern zu Gunsten einer kulturellen Teilhabe in Prozessen ästhetischer Bildung methodisch relativiert. Kunstmalerei und kindliche Malerei werden in der kulturellen Bildung als eigenständige Formen ästhetischer Praxis behandelt, die ihren eigenen Sinn, ihr eigenes Publikum und ihre eigenen Evaluations-Kriterien ausprägen. f. Ästhetische Praxis unterläuft die Unterscheidung von Künsten und innerästhetischen Kriterien einerseits, von Kulturpolitik und Kul-
30 Vgl. Zitko, Hans (Hg.), Theorien ästhetischer Praxis. Wissensformen in Kunst und Design, Köln, Weimar, Wien, 2014.
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turorganisation andererseits.31 Das wird besonders deutlich an der Interaktion von experimentellen Veranstaltungsformaten mit dem Gehalt ästhetischer Praktiken. Festivals sind nicht nur arbiträre Aufführungsorte von scheinbar unabhängiger Kunst, sondern eigens zugeschnittene Formate und Formatierungen ästhetischer Praxis, die es ohne diese nicht (oder nicht auf die gleich Weise) geben würde. In der modernen Erlebnisgesellschaft ist die ästhetische Praxis ein absichtsvoll flüchtiges, nichtsdestotrotz finanzierungs- und organisationsbedürftiges Ereignis. Umgekehrt zeigt die politisch gesteuerte Institutionalisierung ästhetischer Praktiken, etwa in Theatern, deren gesellschaftlichen Wert an. Die ästhetische Praxis hängt insofern nicht nur von ökonomischen, politischen und organisatorischen Voraussetzungen ab, diese Voraussetzungen sind längst zum integralen Bestandteil ästhetischer Praktiken selbst geworden. An diese nur skizzenhaft beschriebene Reorganisation dessen, was früher einmal als das „Kunstsystem“ (Niklas Luhmann), das „Kunstfeld“ (Pierre Bourdieu) beziehungsweise die „Kunstwelt“ (Arthur C. Danto) hieß, setzen neue Unterscheidungen und Neujustierungen alter Unterscheidungen an, die ästhetische Praktiken insgesamt als ein Feld erscheinen lassen, das bis tief in das alltägliche Handeln reicht, aber auch in andere Bereiche, die gewöhnlich nicht mit den Künsten in Verbindung gebracht werden. So lassen sich Formen ästhetischer Praxis in religiösen, wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen beobachten. Indem eine bestimmte Weise des Handelns und nicht eine bestimmte Sparte von Kultur wie die Künste, die Religion, die Politik untersucht wird, ergibt sich eine transdisziplinäre Herangehensweise, die wie selbstverständlich über bestimmte Disziplingrenzen der Wissenschaften auch in den Alltag des Menschen führt. Jürgen Mittelstraß’ Vorschlag einer „methodischen Transdisziplinarität“ 32 hat sich dabei für die innerwissenschaftliche Seite als anschluss31 Vgl. Mandel, Birgit, „Vom Knowing How zum Knowing why. Kulturmanagementstudiengänge in Deutschland“, in: Politik & Kultur 1 (2016), S. 23-24; Mandel, Birgit, „Kulturmanagement als zentraler Akteur einer konzeptbasierten Kulturpolitik“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Kulturpolitik und Planung. Jahrbuch für Kulturpolitik 2013, Essen, 2013, S. 325-332. 32 Mittelstraß, Jürgen, „Methodische Transdisziplinarität“, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 2/14 (2005), S. 18-23.
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fähig erwiesen, insbesondere sein Stufenmodell praktischer Transdisziplinarität: 1. Disziplinärer Ausgangspunkt, 2. Einklammerung des Disziplinären, 3. Aufbau interdisziplinärer Kompetenz, 4. argumentative „Entdisziplinierung“, 5. Transdisziplinarität als argumentative Einheit. Anders als bei Mittelstraß allerdings vorgesehen, kann sich eine transdisziplinäre Kulturforschung, die ästhetische Praktiken erforscht, nicht darauf kaprizieren, gesellschaftlich (vor-)definierte Kultur-Probleme nur aufzugreifen und sie – im innerwissenschaftlichen Verbund von kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen nach Maßgabe eines Stufenmodells – zu lösen. Sie kann es alleine schon deshalb nicht, weil Mittelstraß’ Stufenmodell aus best practice-Beispielen der Natur- und Ingenieurwissenschaften entspringt, und sich insofern vor allem auf zweckrationale Handlungsmuster bezieht. Für eine Forschungsperspektive zur ästhetischen Praxis muss dagegen eine andere Tatsache von Bedeutung sein, die in Mittelstraß’ Modell nicht vorkommt: Dass Kulturwissenschaftler sich zuweilen selbst auf dem Feld ästhetischer Praktiken als Akteure engagieren und insofern die ästhetische Praxis, die es zu analysieren gilt, in einigen Teilen selbst (mit-)gestalten. In der Perspektive einer transdisziplinären Kulturforschung wird die Differenz zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, zwischen Akteuren auf dem Feld ästhetischer Praxis und ihren Analytikern also nicht vorausgesetzt. Umgekehrt wird jedoch auch deren Personalunion nicht verlangt. Vielmehr soll sie dort, wo sie sich anbietet, methodisch ausgenutzt werden. Dieses Vorhaben bietet naturgemäß nicht nur Chancen, es wirft auch Probleme auf. Denn es ist keineswegs ausgemacht, ob und wie die Zunahme an Selbstreferenz, die in solchen Konvergenzen liegt, durch eine Rollendifferenzierung von Wissenschaflterin/Künstlerin überhaupt noch methodisch aufgefangen werden kann. So ist es an dieser Stelle angezeigt, sich methodisch insbesondere mit jüngeren Konzepten des artistic research auseinanderzusetzen, die in den letzten Jahren als ein spezifischer „Problemlösungsoperator“33 aufgetreten sind. Jener Anspruch ist, wie Daniel Hornuff im Rückgriff auf die wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen von artistic research gezeigt hat, aus einer reziproken Projektion zwischen Wissenschaft und Kunst entstanden. Die Wissenschaft möchte durch die Kunst zu „verzauberter Theorie“ werden, die Kunst durch die Wissenschaft zu einer „exakten Praxis“.34 Das Konzept 33 Bührmann, Andrea/Schneider, Werner, Vom Diskurs zum Dispositiv – Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld, 2008, S. 53. 34 Hornuff, Daniel, „Kann Kunst forschen?“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59/2 (2014), S. 225-233, S. 227 u. S. 229. Dass dies
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der ästhetischen Praxis ist an einigen Stellen den epistemischen Umbrüchen, die durch die künstlerische Forschung formuliert werden, ähnlich. Es widersteht jedoch nachdrücklich der Versuchung, jene reziproke Projektion, die „Kunst als Krisenlöser“35 missversteht, zu instrumentalisieren. Ausgehend von einem Ansatz transdisziplinärer Kulturforschung, der bis zur Einbeziehung konkreter Vollzugs- und Tätigkeitsformen in den Forschung reicht, wird ästhetische Praxis nicht nur Gegenstand der Forschung, sondern kann unter bestimmten Bedingungen auch zur Methode kulturwissenschaftlicher Forschung werden. Dies lässt sich zunächst für die Erforschung der klassischen Künste plausibel machen. Erforscht man das Theater als jemand, der nie selbst an einem Probenprozess teilgenommen hat, so muss in dieser Forschung vor allem die Aufführung und der dazugehörige Text im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Versucht man aber, in der Erforschung des Theaters eigene Inszenierungen durchzuführen und damit Beobachtungs- und Erfahrungsmöglichkeiten zu evozieren, die dem gewöhnlichen Zuschauer entzogen sind, so verändert sich die Perspektive auf den Gegenstand Theater erheblich. Auch die Forschungen zu Ausstellungsformaten verändern sich, wenn man selbst auf Erfahrung zurückgreifen kann, eine Ausstellung organisiert und durchzuführt zu haben. Indem man die Bedingungen und Rahmensetzungen für das Handeln in spezifischen Formen ästhetischer Praxis von innen kennenlernt, verändern sich Verständnis und Perspektive auf dieses Handeln. Ohne dabei propositionales Wissen zu hintergehen, stehen andere Leitdifferenzen – und ihre methodologische Reflexion – im Zentrum der ästhetischen Praxis; etwa zwischen gelungenem und nicht-gelungenem Handeln36 oder zwischen individueller und kollektiver Praxis.37 Somit liegt es aus sachlichen Gründen nahe, ästhetische Praxis selbst zu einer Methode der Kulturforschung zu machen, wobei zu betonen ist, dass es nur eine Methode unter anderen ist. Es kann in dieser Form der Kulturforauch dem Akademisierungsdruck, dem sich vor allem die Kunsthochschulen seit Bologna ausgesetzt sehen, geschuldet ist, ist offensichtlich. 35 Wie dies auch Tom Holert und Harald Welzer im Gespräch tun. Vgl. Borries, Friedrich von/ Hiller, Christian/Renford, Wilma (Hg.), Klimakunstforschung, Berlin, 2011, S. 211-223. 36 Vgl. Zembylas, Tasos/Dürr, Claudia, Wissen, Können und literarisches Schreiben. Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien, 2009. 37 Vgl. Porombka, Stephan/Schneider, Wolfgang/Wortmann, Volker (Hg.), Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis 2006, Tübingen, 2006.
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schung nicht darum gehen, Künstlerinnen und Künstler auszubilden. Vielmehr geht es darum, die spezifische Weise des Handelns in ästhetischen Praktiken kennenzulernen, um sie zum einen wissenschaftlich erforschen zu können – wobei gerade die ästhetischen Praktiken auch in Form einer epistemischen Frage auftreten können –oder zum anderen ästhetische Praktiken in den verschiedensten Feldern der Gesellschaft anzuleiten, zu inszenieren, zu motivieren und zu reflektieren. Da an deutschen Universitäten die Zusammenführung von wissenschaftlichen Disziplinen und ästhetischer bzw. künstlerischer Praxis aus althergebrachten institutionellen Gründen im Normalfall nicht vorgesehen ist, kommt die Zusammenarbeit der wissenschaftlichen und ästhetischen Praxis häufig nur zufällig oder durch persönliches Interesse zustande. An der Universität Hildesheim ist diese Zusammenführung durch eine institutionelle Notsituation geboren worden. Als Ende der 1970er Jahre in Deutschland zu viele Lehrer unter anderem für die Fächer Kunst und Musik ausgebildet wurden, schuf man in Hildesheim einen eigenen Studiengang mit dem Namen „Kulturpädagogik“, der sich mit der gesellschaftlichen Vermittlung von Künsten jenseits des Lehrerberufs befasste. Aus diesem Anfang ist inzwischen ein Forschungsverbund aus verschiedenen Kulturwissenschaften, die sich auf bestimmte klassische und zeitgenössische Künste und die populäre Kultur beziehen, sowie die Disziplinen Kulturpolitik und Philosophie umfasst. In den Texten im Anhang werden diese Entwicklungen genauer nachgezeichnet. Der Fachbereich 2 „Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation“ an der Universität Hildesheim hat es sich aufgrund des in besonderer Weise gewachsenen Profils zur Aufgabe gemacht, den Austausch und die Möglichkeiten von Forschung zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Praxis zu entwickeln. Die Praxis dieser Bezugnahme versteht sich prinzipiell als transdisziplinäre Forschung im doppelten Sinne des trans: quer durch die Disziplinen hindurch und über die wissenschaftlichen Disziplinen hinaus in ästhetische Praktiken sowie umgekehrt. Die in diesem Band zusammengeführten Texte spiegeln und reflektieren diesen Ansatz in unterschiedlicher Weise. Der Text von Matthias Rebstock versucht eine Positionierung des Forschungsansatzes zur ästhetischen Praxis im Rahmen der aktuellen Diskussionen um die Formen künstlerischer Forschung. Er geht aus von den verschiedenen Formen der Bezugnahme zwischen (wissenschaftlicher) Forschung und Kunst und markiert seinen Zugang – der auch für den vorliegenden Gesamtzusammenhang leitend ist – als „Forschung durch ästhetische Praxis“. Darüber hinaus bringt er für die Be-
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stimmung ästhetischer Praxis das von Wolfgang Welsch profilierte „ästhetische Denken“ ins Spiel, um so Unterscheidungskriterien für diese Weise der Praxis zu gewinnen. Der Text von Ulf Otto geht aus von einem Beispiel in der Wissenschaftsforschung. Er zeigt, wie Bruno Latour bei seinen Forschungen nicht nur ästhetische Praktiken beobachtet, sondern selbst ästhetische Praktiken in seinen Forschungen zum Einsatz bringt. Diese Beobachtungen bezieht er dann zurück auf die Entstehung von Theaterstücken, um auf diese Weise zu zeigen, dass die ästhetische Praxis des Theaters sich sehr viel komplexer zeigt, als der Zuschauer eines Theaterstückes es ahnen könnte. Er legt dar, wie die ästhetische Praxis des Theaters von vielen Unbestimmtheiten geprägt ist und so immer wieder ein überraschendes Handeln der sozial hochvernetzten Akteure zum Vorschein kommt. Der Text von Stefan Krankenhagen stellt am Beispiel von Clifford Geertz zunächst dar, dass und wie kulturwissenschaftliche Forschung als eine ästhetische Form beobachtbar und reflexiv wird. Kulturwissenschaftliche Forschung, so sein Ansatz, zeigt sich als eine narrativ strukturierte Darstellung räumlicher, zeitlicher und sozialer Übergangsbewegungen und generiert somit methodologisch ausgerichtete Performanzen der Abweichung. Erweitert und radikalisiert wird diese existenziell involvierte Weise der Kulturforschung im Weiteren durch die Figur JeanJacques Rousseaus, der als marginal man (Robert Park) im Sinne eines paradigmatischen Kulturwissenschaftlers reflektiert wird. Annemarie Matzke legt in ihrem Text offen, dass sie zum einen seit Jahren Mitglied des Performance-Kollektivs She She Pop ist und zum anderen als Professorin für Experimentelles Gegenwartstheater in Hildesheim forschend tätig ist. Ihr Text zeigt eindringlich, welche Möglichkeiten zwischen ästhetisch-künstlerischer Praxis im Theater und kulturwissenschaftlicher Forschung aufscheinen und im Motiv einer forschenden Theaterpraxis zusammenlaufen. Eine ganz andere Seite der Erforschung ästhetischer Praxis zeigt der Text von Bettina Uhlig. Ausgerüstet mit der sozialwissenschaftlichen Grounded Theory lässt sie uns teilnehmen an der Erforschung von Bildund Bildungsprozessen bei sechs Kindern aus der ersten Jahrgangsstufe der Grundschule. Sie zeigt, wie die ästhetischen Praktiken der Kinder durch bestimmte ästhetische Praktiken der Forscherin – unter Rückgriff auf die „Dichte Beschreibung“ bei Geertz – beobachtet und reflektiert werden. Gerade die Text von Matzke und Uhlig zeigen, dass es einen Mehrwert für die Forschung bedeutet, die jeweiligen Prozesse unter dem Oberbegriff ästhetische Praxis im gleichen Horizont trotz aller Unterschiede zu betrachten.
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In dem Text von Barbara Hornberger werden vor allem die hochschuldidaktischen Rückwirkungen der Perspektive deutlich, die ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung versteht. Denn auch in der Lehre kann ästhetische Praxis als Methode eingesetzt werden, um Sachverhalte von innen kennenzulernen. Dies wird deutlich, indem Hornberger einen Seminarverlauf schildert, in dem die Form einer praxeologisch ausgerichteten Übung ästhetische Praxis erkenntnisproduktiv eingesetzt und so der Rahmen universitärer Lehre innovativ erweitert wird. Johannes S. Ismaiel-Wendt hebt in seinem Text die kulturwissenschaftliche Forschung als Formen ästhetischer Praxis in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Text, der seinen ursprünglichen Anlass als performance-lecture nicht verleugnet, führt die Tätigkeit kulturwissenschaftlicher Forschung als kulturpoetischen Akt vor, was vor allem anhand von Beispielen aus dem Bereich der Musikforschung in Verflechtung mit musikalischen Praktiken aufgewiesen wird. Er versucht dabei den allzu oft behaupteten Gegensatz, Forschung sei langweilig und ästhetische Praxis kreativ, zu unterlaufen. Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler ist bekannt für seine unkonventionelle Form der Kulturforschung. Simon Roloff nimmt dies zum Anlass ausführlich zu zeigen, wie nicht nur in der Selbstinszenierung Kittlers, sondern auch in seiner Forschungspraxis spezifische ästhetische Praktiken eine wichtige Rolle spielten. Es zeigt sich so, wie bereits in den 1980er Jahren ästhetische Praktiken zunehmend epistemische Relevanz gewonnen haben. Der Text von Christian Schärf hat nicht nur den Essay zu einem zentralen Thema, sondern ist selbst essayistisch verfasst. Er geht aus von der Frage, ob es möglich ist, eine „allgemeine Poetik“ zu konzipieren, um Schaffensprozess zu reflektieren, die bis in konkrete Übungsmuster und Anthropotechniken reicht. Diese Poetik muss sich, um einen allgemein Anspruch zu generieren, mit den Kulturen des Essays weltweit beschäftigen. Diese allgemeine Perspektive bindet er dann zurück an die Prozesse kreativen Schreibens, wie sie in Hildesheim gelehrt und erforscht werden. In dem letzten Text des ersten Teils versucht Rolf Elberfeld ausgehend von Baumgartens Ästhetik-Konzeption eine seit dem 18. Jahrhundert zunehmende Relevanz leiblich-sinnlicher Dimensionen für das philosophische Denken herauszuarbeiten. Er zeigt, wie die konkreten Erfahrungen vermittelt durch ästhetische Praxis notwendig sein können, um philosophisch das bestimmen zu können, was Erfahrung und was Praxis bedeutet. Dies wird zudem verdeutlich an zwei philoso-
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phischen Seminaren, in denen ästhetische Praxis als Methode einbezogen worden ist. Im zweiten Teil des Bandes sind ältere Text aufgenommen worden, die einen früheren Diskussionsstand und konkrete Beispiele zum Thema „Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung“ dokumentieren. Sie stehen für drei spezifische Momente einer ästhetischen Praxis, wie sie im vorliegenden Band übergreifend theoretisch entworfen und methodologisch befragt werden: Für die Arbeitspraxis (Hans-Otto Hügel), für die wissenschaftliche Praxis (Hajo Kurzenberger) und für die Lehrpraxis (Hartwin Gromes). Der Band wird abgeschlossen, mit einem Blick auf die Geschichte der insitutionellen Entwicklung der Theorie-Praxis-Verbindung in den Hildesheimer Kulturwissenschaften.
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Zum Verhältnis von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis. Eine Standortbestimmung aus Sicht der Hildesheimer Kulturwissenschaften Es liegt auf der Hand, dass die Frage nach dem Verhältnis von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis ein Kernthema für die an der Universität Hildesheim angesiedelten Kulturwissenschaften darstellt. Der größte Studiengang des entsprechenden Fachbereichs trägt die Verbindung im Titel: „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“; die wechselseitige Durchdringung von künstlerisch-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Anteilen gehört zum Kernprofil aller am Fachbereich 2 angesiedelten Studiengänge, und das von Anfang an: Obwohl sich die Konzeption in kontinuierlicher Weiterentwicklung befindet und immer wieder neu ausformuliert wurde,1 lässt sich eine durchgehende Linie ziehen, die bis in das Jahr 1979 und die Gründung des damals schon künstlerisch-wissenschaftlichen Studiengangs „Kulturpädagogik“ zurückgeht. Über viele Jahre verfügte Hildesheim mit der Einbeziehung ästhetischer Praxis in die kulturwissenschaftlichen Studiengänge über ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Universitätslandschaft – und tut es auf seine Weise immer noch. Wissenschaftspolitisch stand der Ansatz dabei immer wieder in der Kritik. Man wollte oder konnte nicht sehen, dass es nicht um eine bloße Addition von Kulturwissenschaften und künstlerischer bzw. ästhetischer Praxis geht, sondern dass mit der Verbindung eine spezifische Praxis beschrieben wird, wie kulturwissenschaftliche Forschung und Lehre sich vollziehen. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Seit der Bologna-Reform ist der Ruf nach mehr Praxisbezug in den universitären Studiengängen ebenso laut geworden wie der nach mehr Forschung an den Fach- und
1 Vgl. z. B. Porombka, Stephan/Schneider, Wolfgang/Wortmann, Volker (Hg.), Theorie und Praxis der Künste, Tübingen, 2008; vgl. Kurzenberger, Hajo, „Kulturvermittlung ist (eine) Kunst. Der Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim“, in: Birgit Mandel (Hg.), Kulturvermittlung. Zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld, 2005, S. 163-171.
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Kunsthochschulen. Die „künstlerische Forschung“2 hat Einzug gehalten, ohne dass man (zunächst?) genau wusste, was darunter genau zu verstehen sein soll. Aber speziell in der Schweiz und in Österreich standen an den Kunsthochschulen plötzlich erhebliche Forschungsmittel zur Verfügung, also mussten entsprechende Forschungsprojekte und -konzepte formuliert werden. Der Diskurs um die künstlerische Forschung spaltet sich so in gewisser Weise in zwei Linien: eine wissenschaftspolitische, bei der es nicht zuletzt um Ressourcen und Profilbildung geht, und eine inhaltliche, bei der ergebnisoffen nach Veränderungen im wissenschaftlichen und künstlerischen Selbstverständnis gefragt wird. Die zuletzt genannte Diskussion lässt sich daher besser unter dem Stichwort der (neuen) Wissensformen beschreiben. Nicht nur artikuliert sich in diesem transdisziplinären Diskurs ein neues Bewusstsein für die Vielfalt an Wissensformen. Insbesondere Formen praktischen Wissens und die Frage nach nicht-diskursiv bzw. nicht-propositional verfassten Wissensformen rücken ins Zentrum – Formen, die unmittelbar für das Hildesheimer Selbstverständnis relevant sind. Der folgende Beitrag versteht sich als ein Versuch, das Feld, in dem die unterschiedlichen Diskussionen um Kunst und Forschung bzw. Wissenschaft und Kunst verlaufen, zu kartografieren und den Standpunkt der Hildesheimer Kulturwissenschaften darin zu verorten. Im ersten Hauptteil gehe ich dabei von einer Systematisierung des Verhältnisses zwischen Kunst und Forschung aus, die Florian Dombois im Anschluss an entsprechende Systematisierungsversuche von Christopher Frayling und Alain Findeli entwickelt hat. Dombois unterscheidet hierbei sechs verschiedene Relationen: Forschung über Kunst, Kunst über Forschung, Forschung für Kunst, Kunst für Forschung, Forschung durch Kunst, Kunst durch Forschung.3
2 Auch in Anlehnung an die ebenfalls wenig klar ausformulierten angelsächsischen Konzepte von practice based research oder artistic research oder art as research. 3 Vgl. Dombois, Florian, „0-1-1-2-3-5-8- Zur Forschung an der Hochschule der Künste Bern“, in: Hochschule der Künste Bern (Hg.), Forschung. Jahrbuch 2009, Bern, 2009, S. 11-22; Frayling, Christopher, „Research in Art and Design“, in: RCA Research Papers 1.1/4 (1993) S. 1-5; Findeli, Alain, „Die projektgeleitete Forschung. Eine Methode der Designforschung“, in: Swiss Design Network (Hg.), Reader zum ersten Designforschungssymposium 13./14.5.2004, Basel, S. 40-51, hier zitiert nach Dombois, Florian, „0-1-1-2-3-5-8- Zur Forschung an der Hochschule der Künste Bern“, S. 11-22.
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Für unsere Frage nach dem Verhältnis zwischen kulturwissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Praxis schlage ich in Abwandlung davon eine vereinfachte, dreiteilige Systematisierung vor: – Forschung über ästhetische Praxis: Die ästhetische Praxis ist Gegenstand der Forschung – Forschung in ästhetischer Praxis: Forschung vollzieht sich im Ästhetisch-Künstlerischen. Das Artefakt erhält den Status eines Forschungsergebnisses. – Forschung durch ästhetische Praxis: Die ästhetische Praxis ist methodisches Instrumentarium innerhalb wissenschaftlicher Forschung In Abgrenzung zur Systematisierung von Dombois sind dabei zwei Punkte wichtig: Erstens stellt Forschung durch Kunst bei Dombois einen großen Komplex von Forschungsansätzen dar, bei denen „die Künste selber zur Forschung beitragen und als alternative Formen des Wissens ernst zu nehmen sind“. Dabei verwendet er „Forschung durch Kunst“ synonym mit „Kunst als Forschung“.4 Demgegenüber halte ich es für sinnvoll, zwischen Forschung zu unterscheiden, deren Produkte sich im Ästhetischen vollziehen und dem „System Kunst“5 zuzuordnen sind (Forschung in ästhetischer Praxis) und Forschung, in deren Verlauf künstlerische Anteile bzw. ästhetische Prozesse enthalten sind, insbesondere im methodischen Bereich, deren Ergebnisse aber dem System Wissenschaft zugeordnet werden (Forschung durch ästhetische Praxis). Zweitens zielt Dombois mit seiner Kategorisierung auf die Etablierung eines Dritten: einer Forschung, die weder dem System Kunst noch dem System Wissenschaft zuzuordnen ist. Es sei wichtig, „zwischen Wissenschaft und Forschung zu unterscheiden, damit letztere allgemeiner gefasst und gegenüber den traditionellen Vorstellungen von Forschung entwickelt werden kann“.6 An anderer Stelle heißt es: „‚Kunst als Forschung‘ ist der spannende Versuch, zwischen den traditionellen Feldern der Wissenschaft und der Künste ein drittes Feld zu
4 Dombois, Florian, „0-1-1-2-3-5-8- Zur Forschung an der Hochschule der Künste Bern“, S. 15-16. 5 Vgl. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main, 1997. 6 Dombois, Florian, „0-1-1-2-3-5-8- Zur Forschung an der Hochschule der Künste Bern“, S. 16.
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eröffnen, auf dem sie sich methodisch annähern.“7 Demgegenüber zielen meine Ausführungen letztlich auf eine mögliche bzw. nötige Veränderung des Begriffs wissenschaftlicher Forschung selbst. Diesem Gedanken möchte ich im zweiten Hauptteil nachgehen. Während die drei im ersten Hauptteil erörterten Verhältnisse in unterschiedlicher Gewichtung bereits in die Praxis der Hildesheimer Kulturwissenschaften integriert sind, gehen die Überlegungen im zweiten Hauptteil darüber hinaus. Dennoch scheinen sie mir aus dem Begriff der ästhetischen Praxis selbst zu folgen. Hierfür möchte ich diesen in seinem Verhältnis zum Begriff des ästhetischen Denkens bestimmen. Forschung über ästhetische Praxis Im Fall von kulturwissenschaftlicher Forschung über ästhetische Praxis markiert die ästhetische Praxis den Gegenstandsbereich der Forschung. Sowohl gegenüber einem Begriff von „Kulturwissenschaften“ als „fächerübergreifender Orientierungskategorie, die das Erbe der Geisteswissenschaften zugleich antreten und einer kritischen Revision unterziehen soll“8 als auch gegenüber der von Hartmut Böhme selbst vertretenen einheitlichen und transdisziplinären Kulturwissenschaft wird hier aus der Fülle kulturellen Handelns jeweils ein bestimmter Ausschnitt fokussiert – ohne dabei andere Aspekte von Kultur automatisch auszuschließen. Im Zentrum der ästhetischen Praxis steht landläufig die künstlerische Praxis. Wir sprechen über Musik, Theater, Kunst etc. Diese Perspektive entspricht der traditionellen disziplinären Sicht, z. B. der Musik-, Theater- oder Literaturwissenschaft. Eine erste notwendige Erweiterung dieser Verengung auf künstlerische Praxis ergibt sich aber, wenn man beispielsweise mediale Praxen betrachtet: Computerspiele sind ästhetische, gelten aber nicht als künstlerische Praxen. Die gesamte Netzkultur ist in hohem Maße ästhetisch aber nicht künstlerisch verfasst: wir kommunizieren in Bildern, Filmen, Musiken, grafischen Elementen etc. Auch im Bereich der populären Kultur hat man es mit ästhetisch verfassten Gegenständen bzw. Zeichen zu tun, nicht aber im emphatischen (oder 7 Dombois, Florian, „Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen“, in: Hochschule der Künste Bern (Hg.), Jahrbuch 2006, S. 26-31, S. 26. 8 Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar, Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, Reinbek, 2000, S. 10.
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traditionellen) Sinn mit künstlerischen. Aus dieser Sicht umfasst der Begriff ästhetische Praxis einen großen Bereich an Praktiken und Handlungsformen im Alltag wie in den Künsten, die nicht vollständig sprachlich bzw. propositional verfasst sind, sondern elementar auf Wahrnehmung und Sinnlichkeit ausgelegt sind. Aber ästhetische Praxis als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung impliziert noch mehr: Boris Groys beschreibt z. B. das Neue als eine charakteristische Verschiebung zwischen dem „profanen“ und dem „künstlerischen Raum“.9 Demzufolge ist es ein Zeichen der Künste des 20. und 21. Jahrhunderts, dass neue künstlerische Formen aus den nicht-künstlerischen Alltagspraktiken entstehen. Der profane Raum bildet so ein Reservoir für das Neue. „Ästhetische Praxis“ fokussiert in diesem Sinn die starke Verschränkung zwischen dem Profanen und dem Künstlerischen und ist als eine dynamische Kategorie der Bewegung zwischen diesen Räumen zu verstehen und nicht als statischer Gegenstand der Forschung. Ästhetische Praxis bezeichnet aber nicht nur das Spiel mit der Verschiebung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag, sondern auch das Spiel bzw. die Aufhebung der Grenzen der Künste untereinander und die Entgrenzung der Künste insgesamt. Und schließlich unterläuft der Begriff ästhetische Praxis auch die Trennung zwischen Werk und Rezeption bzw. Werk- und Rezeptionsästhetik: Nicht nur Artefakte als für sich stehende Endprodukte interessieren, noch nur deren unmittelbare Rezeption, sondern auch die Prozesse der Produktion, ihre Rahmungen und Kontextualisierungen. In den Blick rückt so der Kreislauf, der sich zwischen den Endprodukten einer Produktion, deren Rezeption und schließlich deren Reflexion in Form von neuen (ästhetischen oder diskursiven) Produktionsprozessen und neuen Artefakten ergibt, die ihrerseits Raum für neue Interpretationen schaffen etc. Der Begriff der ästhetischen Praxis ist also als dynamische Kategorie zu verstehen, der Bewegungen unterschiedlicher, durch ästhetische Gegenstände geprägte Felder und Prozesse beschreibt, und erschöpft sich nicht in der Aufzählung verschiedener Gegenstände (Bildende Kunst, Theater, Groschenroman, Popmusik etc.). So verweist „Kulturwissenschaften über ästhetische Praxis“ einerseits nur vordergründig auf den Gegenstandsbereich der betreffenden Forschung. Tatsächlich steckt im Begriff der ästhetischen Praxis selbst ein Potential, das durch die Verschränkung von Produktion und Reflexion 9 Vgl. Groys, Boris, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München, 1992.
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bereits über die traditionelle Sicht hinausweist, nach der beim Gegenstand ästhetische Praxis von einer klaren Trennung zwischen Beobachterposition und Gegenstand ausgegangen werden könnte. Vielmehr ist kulturwissenschaftliche Forschung selbst als eine Praxis zu begreifen, die in diese Feedbackschleifen von Produktion und Reflexion involviert ist. Dies hat unmittelbar Konsequenzen für die Konzeption von „Kulturwissenschaften durch ästhetische Praxis“ (s.u.) und für die daran anschließenden Überlegungen zu einem durch ästhetisches Denken geprägten, weiten Begriff von ästhetischer Praxis. Forschung in ästhetischer Praxis Bei der Verbindung Forschung in ästhetischer Praxis wird die ästhetische Praxis selbst zur Forschung. Forschung in ästhetischer Praxis heißt, die Forschung vollzieht sich in Formen der ästhetischen Praxis – und in den gegenwärtigen Diskursen heißt das meist: Forschung vollzieht sich in Formen der künstlerischen Praxis. Künstlerische Praxis wird also zur Forschung. Dieser Ansatz führt auf das Themenfeld der künstlerischen Forschung: Wie kann Kunst Forschung sein? Und: was heißt hier überhaupt Forschung? Seit dem 19. Jahrhundert bis heute ist Forschung den Wissenschaften vorbehalten. Die Frage nach der künstlerischen Forschung führt also unmittelbar auf die Frage nach der Unterscheidung zwischen Wissenschaften und Künsten. Es ist bekannt, dass viele der traditionellen Kriterien für Wissenschaftlichkeit (Wahrheit, Objektivität, Logik, Verallgmeinerbarkeit, Eindeutigkeit, Überprüfbarkeit, Transparenz, Trennung von Gegenstand und Methode u. a.) in die Krise geraten sind. Ebenso kann nicht mehr von einer Wissenschaft als homogener Gesamtheit ausgegangen werden. Das System Wissenschaft ist vielmehr intern ebenso ausdifferenziert wie das der Kunst. Was für die naturwissenschaftliche Methodik zwingend ist, muss für die sozialwissenschaftliche oder ethnologische keine Gültigkeit haben. Und selbst wenn man akzeptiert, dass die naturwissenschaftliche Methodik heute sozusagen den Inbegriff von Wissenschaftlichkeit bestimmt, sind auch hier tiefgreifende Umwälzungen im Gange. Dem Prinzip des Laborwissens bzw. der Kontrolle der Randbedingungen und der Wiederholbarkeit von Experimenten stellen z. B. gegenwärtig Wissenschaftsphilosophen und Soziologen wie Bruno Latour ein anderes Modell einer gesellschaftlich kontextualisierten und sozial relevanten Wissenschaft bzw. Wissensproduktion gegenüber. Gerhard Gamm schreibt hierzu:
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„Wie angedeutet lässt sich eine weit über den akademischen Rahmen hinausgehende soziale Verteilung des Wissens beobachten. Wissensressourcen werden kontinuierlich kombiniert und neu zusammengestellt. Kontextualisierung des Wissens wird zunehmen, inklusive der Notwendigkeit, es zu vermarkten. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden verwischt werden, Transdisziplinarität wird nicht länger auf einige wenige ‚heiße‘ Themen begrenzt bleiben. Auch die Bedeutung der Hybridformen wird zunehmen, das heißt von Gruppen, die sich aus Experten und Laien zusammensetzen. Das Ziel dieser Forschung ist, wie es so schön heißt, die Erzeugung eines ‚sozial robusten Wissens‘.“10
Es ließe sich detailliert aufzeigen, wie sich durch die Aufweichung der starren Grenzen das Verhältnis zwischen Wissenschaften und Künsten bereits verändert und sich die beiden Systeme einander angenähert haben. Auch die verbindenden Momente bzw. gemeinsamen Probleme und Herausforderungen für Künste und Wissenschaften können hier nur kurz angedeutet werden: Künste wie Wissenschaften sind in hohem Maße selbstreflexiv geworden (Reflexion auf eigene Bedingungen, Methoden, Kontextualisierung und Relevanz); durch die immer weiter fortschreitende Abstraktheit und Mathematisierung der Naturwissenschaften ist die Idee der Abbildung von Realität der einer Modellierung gewichen11. Die sogenannte Krise der Repräsentation betrifft also Künste wie Wissenschaften. Ebenso sehen sich Künste wie Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, einer Verständniskrise (Expertenkulturen) und einer „Diskursivierung“12 (gesellschaftlichen Erklärungsbedürftigkeit) ausgesetzt. Auch in den Wissenschaften hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Forschungsprozesse nicht linear und nicht vollständig oder nur nachträglich transparent und explizierbar ablaufen und wesentlich von Kreativität geprägt sind. Thomas S. Kuhn beschrieb in diesem Sinn das Grundmodell wissenschaft-
10 Gamm, Gerhard, „Vom Wandel der Wissenschaft(en) und der Kunst“, in: Dieter Mersch/Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München, 2007, S. 35-51, S. 45. 11 Vgl. Mersch, Dieter/Ott, Michaela, „Tektonische Verschiebungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Kunst und Wissenschaft, S. 9-31, S. 21f. 12 Ebd., S. 23.
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licher Methodik als „Puzzle-Solving“13. Experiment und Recherche spielen in beiden Bereichen eine zentrale, allerdings je unterschiedliche Rolle. In beiden Bereichen ist die Innovation die entscheidende Währung. Und für einen breiten Bereich der Künste gilt heute, dass sie von einem konkreten Erkenntnisinteresse bzw. von Fragestellungen ausgehen. Beide Bereiche können also als erkenntnisstiftend und welterzeugend gelten und betreiben in diesem Sinne Forschung. Von zentraler Bedeutung ist allerdings bei der Kritik der schematischen Trennung von Kunst und Wissenschaft, dass es nicht um eine Nivellierung oder Gleichmacherei geht: „Die künstlerische Forschung ist eine andere Art Forschung, und zwar deswegen, weil sie sich nicht der exakten Begründung und des Diskurses bedient, sondern mit den Sinnen im Wahrnehmbaren arbeitet und die Materialien die immer singulär sind, aufeinander reagieren und sich zeigen lässt. Ihre Logik ist deshalb überhaupt nicht das Sagen, sondern das Zeigen, das einer anderen Ordnung gehorcht, das gleichwohl auf seine Weise Reflexionen zu statuieren vermag – z. B. indem es kraft seiner Singularität auf Rückseiten oder Ausgegrenztes verweist, sich in den Weg stellt, Versuchsanordnungen vereitelt oder das Absurde mancher Fragstellungen offenbar macht. Weniger zählen darüber hinaus die offenkundigen Ergebnisse, aus denen sich allgemeine Gesetzmäßigkeiten herleiten lassen, vielmehr genügen die Vervielfältigung von Assoziationen und die Herstellung von Querbezügen oder Unvereinbarkeiten, die neue Weisen des Sehens oder eine Umkehrung von Aufmerksamkeiten auszulösen vermögen.“14
Kehren wir zurück zu unserer Frage: Was ist Forschung in ästhetischer Praxis? Wir haben gesehen, dass es Gründe gibt, den Forschungsbegriff so zu öffnen, dass die Künste auf ihre Weise an Forschung teilhaben. Auch die Definition, die die OECD für den Begriff Forschung gibt, trägt dem Rechnung und behält ihn nicht mehr nur den Wissenschaften vor: Forschung ist „jede kreative, systematische Betätigung zu dem Zweck, den Wissensstand zu erweitern, einschließlich des Wissens der
13 Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/ Main, 1973), S. 49ff. 14 Mersch, Dieter, „Paradoxien, Brüche, Chiasmen“, in: Ders./Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, S. 91-101, S. 98.
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Menschheit, Kultur und Gesellschaft, sowie die Verwendung dieses Wissens in der Entwicklung neuer Anwendungen“.15 Unter diesem Aspekt kann auch Kunst forschen und zur Wissensgenese oder Erkenntnis beitragen. Künstlerische Forschung ist Forschung in anderem, nämlich ästhetischem Modus. Entscheidend ist, festzuhalten, dass hierbei das künstlerische Artefakt bzw. das Werk selbst das Ergebnis der Forschung darstellt und diese artikuliert. Künstlerische Forschung ist daher genauer als forschende Kunst zu beschreiben, nämlich als spezifische Art künstlerischer Produktion. Ihre Produkte bzw. Artefakte verbleiben in der Sphäre der Kunst. Forschung in ästhetischer Praxis deckt sich also im Wesentlichen mit dem, was an den Kunsthochschulen als künstlerische Forschung verstanden wird. Dabei ist häufig eine gewisse Ambivalenz beobachtbar: die Antragstellung für entsprechende Forschungsprojekte erfolgt nach wissenschaftlichem Vorbild, denn der Forschungsstand, die Methoden etc. müssen expliziert werden. Nach welchen Kriterien aber die Validität der Ergebnisse beurteilt werden soll und wie es um die Publizität der Ergebnisse bzw. ihre Verfügbarkeit für Anschlussforschung steht, bleibt häufig unklar. Forschung durch ästhetische Praxis Im Hildesheimer Selbstverständnis ist die ästhetische Praxis integriert in eine (kultur)wissenschaftliche Gesamtperspektive. Die ästhetische Praxis ist weder nur Gegenstand im vordergründigen Sinn von Forschung über ästhetische Praxis, noch geht es um eine spezifische, nämlich forschende Form von Kunst. Ausgangspunkt ist vielmehr die Überzeugung, dass, wenn wir uns kulturwissenschaftlich mit ästhetischer Praxis beschäftigen, wir es nicht mit einem von uns getrennten Objekt zu tun haben, sondern mit kulturell bedeutsamem Handeln. Wenn es sich aber bei Bildender Kunst, Literatur, Musik etc. um solche spezifischen kulturellen Praktiken handelt, dann sollten wir sie, so formuliert Lawrence Kramer am Beispiel der Musik, weniger verstehen als, „an attempt to say something than as an attempt to do something. As practice, music should be subject to the same kinds of rigorous in-
15 „OECD Glossary of Statistical Terms 2008“, zitiert nach: Klein, Julian, „Was ist künstlerische Forschung?“, in: KunstTexte 2 (2011), S. 1-5; siehe auch: http:// edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-2/klein-julian-1/PDF/klein.pdf, letzter Zugriff am 02.10.2014.
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terpretations that we customarily apply to other cultural practices, be they social, artistic, technical, discursive, ritual, or sexual“.16 Hier wird also nun der bisher implizite Perspektivwechsel, der mit dem Begriff der ästhetischen Praxis einhergeht, explizit vollzogen: Es geht nicht mehr um Objekte, sondern um Handlungen. Als solche haben ästhetische Praktiken besondere Eigenschaften: sie sind u. a. dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht vollständig in propositionales Wissen übersetzen lassen: – sie beruhen auf verkörpertem Wissen17 – auf Erfahrungswissen oder implizitem Wissen (tacit knowledge)18, – sie sind gekennzeichnet durch „knowing how“ und weniger durch „knowing that“.19 Die Frage ist also, wie diese Handlungen bzw. ästhetischen Praktiken wissenschaftlich zugänglich gemacht werden können, d. h. wie das in ihnen gespeicherte Wissen adäquat erfasst werden kann. Schon Pierre Bourdieu hatte in seinem richtungsweisenden Buch Entwurf einer Theorie der Praxis20 ausgeführt, dass eine Theorie sozialen Handelns nicht objektiv, aus der Sicht eines unbeteiligten, externen Beobachters erfolgen kann, der soziale Phänomene durch „vom individuellen Willen und Bewußtsein unabhängige objektive Gesetzmäßigkeiten (Strukturen, Gesetze, Systeme von Relationen)“21 zu erklären sucht. Ein solcher „Objektivismus“ muss, so Bourdieu, systematisch die Gründe und Motivationen, die Interpretations- und Bedeutungsleistungen der Akteure und damit ihr Selbstverständnis ausblenden, ohne das aber autonomes Handeln, das sich vom bloßen regelgeleiteten Vollzug unterscheidet, nicht verstanden werden kann. Stattdessen müssten auch die subjektiven Sichtweisen der Akteure mit einbezogen werden. Gegenüber dem kritisierten Objektivismus bedeutet die Theorie der Praxis von Bourdieu also einen Perspektivwechsel: „Das ‚opus operatum‘, das soziale Phänomen in seiner Daseinsform als Produkt, 16 Kramer, Lawrence, Musical Practice, 1800-1900, Los Angeles, 1990, S. xii. 17 Vgl. Maturana, Humberto/Varela, Francisco, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, München, 1987. 18 Vgl. Collins, Harry M., „What is Tacit Knowledge?“, in: Theodore R. Schatzki/Cetina Karin Knorr/Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London, 2001, S. 107-119. 19 Vgl. Ryle, Gilbert, „Knowing How and Knowing That“, in: Proceedings of the Aristotelian Society. New Series 46 (1945/1946), S. 1-16. 20 Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie dr Praxis, Frankfurt/Main, 1979. 21 Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn, Frankfurt/Main, 1987, S. 50.
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bildet den Ausgangspunkt, nicht aber das Objekt der Analyse. Diese konzentriert sich auf den ‚modus operandi‘, die Art und Weise seiner Erzeugung.“22 Die Frage ist also auch bei Bourdieu, wie die Erzeugungsprozesse sozialer Praktiken wissenschaftlich zugänglich gemacht werden können. Dabei kommt diese Programmatik, den Erzeugungsprozess sozialer Praktiken rekonstruieren zu wollen, bestimmten Fragestellungen und Methoden der Ethnologie sehr nahe.23 Eine dieser Methoden ist die dichte Beschreibung und die teilnehmende Beobachtung, wie sie u.a. Clifford Geertz entwickelt hat.24 Idealtypisch nimmt der/die Ethnologe/in als teilnehmende/r Beobachter/in über einen längeren Zeitraum mehr oder weniger intensiv am Leben der ihr/ihm fremden Kultur teil, die sie/er untersuchen will. Sie/er erlernt ihre Sprache und bestimmte Fertigkeiten und versucht, Erfahrungen mit den betreffenden Menschen zu teilen, um nach und nach zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, warum die Menschen so handeln wie sie handeln und wie sie selbst ihr Bedeutungsgewebe verstehen. In beiden Fällen setzt das Verstehen kulturellen Handelns ein bestimmtes Maß an gelebter Erfahrung bzw. „existentieller Kennerschaft“25 voraus, die nicht rein diskursiv bzw. durch distanzierte Beobachtung erworben werden können. Es schließt das Erlernen und Inkorporieren von Fertigkeiten, Handlungsmustern, Bewertungsschemata etc. ein. Fasst man das Gegenstandsfeld ästhetische Praxis in diesem Sinne als Formen kulturellen Handelns auf, so ist für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ästhetischer Praxis also ein gewisses Maß an eigener, verkörperter, gelebter ästhetischer Praxis nötig. Die Fähigkeit zur (teilnehmenden) Beobachtung bzw. zu dieser Art von Erfassen impliziter Wissensformen kann dabei mehr oder weniger ausgebildet sein. Diese Kompetenzen können erlernt werden. Genau darin besteht eine der Funktionen der ästhetischen Praxis als elementa22 Balog, Andreas, Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie, Stuttgart, 2001, S. 178. 23 Ebd., S. 179. Die Unterschiede bestehen hauptsächlich in der stärkeren Betonung objektiver, den Akteuren nicht transparenten Strukturen bei Bourdieu, sowie seinem Feldbegriff, der rein über Kapitalverteilung definiert ist. Dadurch ist auch die Anwendung der Theorie Bourdieus auf andere soziale Phänomene wie die Künste schwierig. 24 Vgl. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main, 1987. 25 Lindner, Rolf, „Lived Experience“, in: Lutz Musner u. a., Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Wien, 2001.
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rer Teil der Hildesheimer Kulturwissenschaften: Es geht um das Generieren von (inkorporiertem) Erfahrungswissen und um das Lernen und Üben von Beobachtung, Prozessbeschreibung und Reflexion; es geht darum, Versuchsanordnungen zu entwerfen, durchzuspielen, auszuwerten, zu theoretisieren und an der Praxis erneut zu überprüfen. Bei Forschung durch ästhetische Praxis treten künstlerische Prozesse also integriert in wissenschaftliche Forschungsfragen und -szenarien auf. Sie werden zum methodischen Bestandteil der Forschung, stellen aber nicht die Forschungsergebnisse selbst dar wie im oben beschriebenen Fall der künstlerischen Forschung.26 Die Validitätsbedingungen der Ergebnisse entsprechen dem System Wissenschaft, d. h. die Forschungsergebnisse erfolgen unter den Maximen der Intersubjektivität, Diskursivität, Logik etc.27 Gleichzeitig trägt diese Konzeption dem Umstand Rechnung, dass sich das kulturelle Handeln in ästhetischen Praktiken letztlich nicht als distanzierbarer Gegenstand betrachten lässt. Ästhetische Praxis und ästhetisches Denken Die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis machen es nötig, den Begriff der ästhetischen Praxis erneut zu beleuchten. Denn unter ästhetischer Praxis sind letztlich diejenigen Praktiken zu verstehen, in denen sich „ästhetisches Denken“ vollzieht und an denen solches ablesbar wird. Ich beziehe mich hier auf Wolfgang Welsch und sein Buch Ästhetisches Denken. Darin schreibt er: „Ästhetisches muß, damit von ‚ästhetischem Denken‘ gesprochen werden kann, nicht bloß Gegenstand der Reflexion sein, sondern den Kern des Denkens selbst betreffen. Das Denken muß als solches eine ästhetisch Signatur aufweisen, muß ästhetischen Zuschnitts 26 Diese Gegenüberstellung hat heuristischen Charakter. In der Praxis können in ein und demselben Projekt Aspekte von Forschung in und durch ästhetische Praxis gleichzeitig auftauchen. Für Beispiele hierfür siehe die Website des „Instituts für künstlerische Forschung“: http://www.artistic-research.de, letzter Zugriff am 14.06.2016. 27 In diesem Sinn können Promotionen in Hildesheim ästhetisch-künstlerische Anteile enthalten, ohne dass die Produkte solcher ästhetischer/künstlerischer Praxis als die Forschungsprodukte betrachtet werden, sondern deren wissenschaftliche Reflexion.
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sein. Das heißt vor allem: Es muß in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis – im Bunde sein. Ästhetisches Denken ist eines, für das Wahrnehmungen ausschlaggebend sind. Und zwar sowohl als Inspirationsquelle wie als Leit- und Vollzugsmedium.“28
Dass das Ästhetische als Vollzugsmedium des Denkens bestimmt wird, stellt für den Zusammenhang von Denken und Wissenschaft natürlich eine Herausforderung dar und verlangt nach einer Neubestimmung der Rolle der Reflexion. Dementsprechend führt Welsch aus: „Die entscheidenden Gehalte sind von Grund auf ästhetisch signiert und bleiben es; vor allem können sie durch Reflexion nicht substituiert werden (es handelt sich ja nicht, wie die traditionelle Philosophie dachte, um bloß ästhetische Ausdrucksformen eigentlich reflexiver Gehalte). Sie können und müssen jedoch durch Reflexion weiter geklärt und präzisiert werden.“29 Nicht nur beansprucht Welsch für das ästhetische Denken die nicht-Substituierbarkeit des Ästhetischen, sondern weist dem ästhetischen Denken auch den Vorrang vor dem begrifflichen Denken zu: „Meine These lautet, daß ästhetisches Denken gegenwärtig das eigentlich realistische ist. Denn es allein vermag einer Wirklichkeit, die – wie die unsrige – wesentlich ästhetisch konstituiert ist, noch einigermaßen beizukommen. Begriffliches Denken reicht hier nicht aus, eigentlich kompetent ist – diagnostisch wie orientierend – ästhetisches Denken. Ausschlaggebend für diese Veränderung in der Kompetenz eines Denktypus – für diese Verlagerung von einem logozentrischen zu einem ästhetischen Denken – ist die Veränderung der Wirklichkeit selbst.“30
Durch die Spitzenstellung des ästhetischen Denkens ergäbe sich, folgt man Welsch, zwangsläufig auch eine radikale Veränderung dessen, was als wahr gelten kann. Denn das ästhetische Denken „erkennt der Wahrnehmung originäre Wahrheit zu. Dafür ist es im Gegenzug dann auch bereit, letztlich den Preis der Nicht-Kommunizierbarkeit zu ent-
28 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart, 1993, S. 46. Vgl. dazu auch: Dombois, Florian/Fliescher, Mira u. a. (Hg.), Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich, 2014. 29 Ebd., S. 55. 30 Ebd., S. 57.
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richten. […] Ästhetisches Denken hat wesentlich ästhetische Überzeugungs- und Evidenz-Bedingungen.“31 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist hier erstens, dass die sprachlich-begriffliche Reflexion immer unmittelbar an das sinnlich Verfasste gebunden bleibt, sich nur in dessen Anwesenheit und Erfahrbarkeit vollziehen und nicht ersetzt werden kann. Das Sinnliche trägt selbst zur Wissensproduktion bei und muss als eigenständige Wissensform anerkannt werden. Wenn also ästhetische Praktiken sich in ästhetischem Denken vollziehen und dieses sich in jenem artikuliert, dann hat ästhetische Praxis Anteil an Wissensproduktion und Erkenntnisgewinn. Kulturwissenschaften, die sich die Beschreibung und Erforschung ästhetischer Praktiken zum Ziel setzen, können dann aber diesen „Gegenstand“ nicht mehr distanziert betrachten, sondern sind auf den Vollzug ästhetischer Praxis angewiesen, und zwar nicht mehr nur im Sinne einer Methode sondern auch, um sich selbst überhaupt zu artikulieren. Wolfgang Welsch reiht sich mit seinem Entwurf ästhetischen Denkens ein in eine wirkmächtige Linie sprach- und rationalitätskritischer Positionen des 20. Jahrhunderts, die alle dem Sinnlichen bzw. Ästhetischen einen herausgehobenen Stellenwert zuweisen. Exemplarisch stehen hierfür Namen wie Foucault, Derrida, Lyotard, Heidegger, Merleau-Ponty, Husserl, Nietzsche aber auch Cassirer, Goodman und Danto. So arbeitet Nelson Goodman, um nur ein Beispiel herauszugreifen, in seinem Buch Weisen der Welterzeugung fünf Prinzipien heraus, nach denen wir unsere jeweiligen Welten erzeugen: Komposition/Dekomposition, Gewichtung, Ordnen, Tilgung/Ergänzung und Deformation.32 Für uns ist daran interessant, dass diese Begriffe Handlungsformen, also Praktiken beschreiben, die allesamt ästhetisch verfasst sind. Sie beschreiben Prozesse, wie sie auch für künstlerisches Arbeiten charakteristisch sind. Die Künste (als Brennpunkt ästhetischer Praxis) werden aus dieser Perspektive zum Labor. Sie werden zum Modellfall für die Welterzeugung im Großen. Das Hervorbringen (Erzeugen) und die Erkenntnis des Hervorgebrachten (was es sei) verlaufen hier Hand in Hand.
31 Ebd., S. 56. 32 Goodman, Nelson, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/Main, 1995 (1978). Zudem löst Goodman die Wahrheit als sprachlogisches Urteil ab durch Kategorien wie Relevanz, Aufschluss, Richtigkeit oder Passen.
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Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass ästhetische Praxis selbst als kulturwissenschaftliches Paradigma aufgefasst werden kann, mit dem sich die Weisen der Welterzeugung, also die Prozesse der Sinnund Bedeutungskonstitution innerhalb unseres Welt- und Selbstverstehens, erforschen und erfassen lassen. Es wird zum Modell der Beobachtung und Beschreibung einer hyperkomplexen, pluralen Welt, die keine einfache Beobachtung distanzierter, klar abgegrenzter Objekte mehr zulässt. Ästhetische Praxis ist dann nicht mehr Gegenstand unserer kulturwissenschaftlichen Forschung und auch nicht nur ein nötiger methodischer Schritt auf dem Weg zu vollständig propositionalen Beschreibungen, sondern bezeichnet eine bestimmte Form, Kulturwissenschaften zu betreiben. Wenn wir also die ästhetische Praxis als Paradigma stark machen wollen und sie tatsächlich als eine Praxis betrachten, in der und durch die sich ästhetisches Denken vollzieht und dieses Denken irreduzibel ästhetisch verfasst ist, dann stellt sich die Frage, inwiefern die Kulturwissenschaften der ästhetischen Praxis nicht selbst ästhetisch verfasst sein müssten. In ähnlicher Stoßrichtung sucht Martin Tröndle nach den Grundzügen einer ästhetischen Wissenschaft. Diese, so schreibt er programmatisch, sei zu verstehen als „Prozess, der das spezifische Wissen und die Kompetenzen von Künstlern nutzt, um sie in anderen Kontexten als dem Kunstsystem zur Anwendung zu bringen: Künstlerische Kompetenzen und Arbeitsweisen werden mit wissenschaftlichen verwunden, um problemorientiert neues Wissen zu generieren. Es ist kein ‚Forschen über Kunst‘, was in den Zuständigkeitsbereich der Kunstwissenschaften fällt, noch ein ‚Forschen mit Kunst‘33, was genuin die künstlerische Produktion charakterisiert. Zentral sind vielmehr Formen der sinnlichen Erkenntnis in einem wissenschaftlichen Kontext zur Generierung neuen Wissens.“34
Es liegt in der Logik der Hildesheimer Kulturwissenschaften, in diese Richtung weiter zu denken und weiter zu gehen, auch wenn viele Fra-
33 Tröndle meint hier, was in der Systematisierung von Dombois als Forschen in Kunst bezeichnet wird. 34 Tröndle, Martin, „Zum Unterfangen der ästhetischen Wissenschaft – eine Einleitung“, in: Ders./Julia Warmers (Hg.), Kunst als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Kunst und Wissenschaft, Bielefeld, 2011, S. XV-XVIII, S. XVI.
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gen zur Wissenschaftlichkeit unter Bedingungen ästhetischen Denkens gegenwärtig noch offen sind.
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Unentschiedenheiten Wie sich künstlerische Setzungen als ästhetische Artikulationsprozesse beschreiben lassen „Abbildung 2.1“1 zeigt drei Wissenschaftler bei der Arbeit. Eine Botanikerin, einen Pedologen und eine Geografin, die versuchen herauszufinden, ob in dem gezeigten Terrain die Savanne den Urwald verdrängt oder umgekehrt. Das Bild hat mit ästhetischer Praxis wenig, dafür aber viel mit Forschung zu tun, genauer gesagt, es ist Teil von Forschung über Forschung und gibt Einblick in das, was Forschung in der Praxis ist. Denn was das Bild nicht zeigt, ist der Fotograf, der das Foto gemacht hat, und das ist in diesem Fall ein vierter Wissenschaftler, nämlich der Wissenschaftsforscher Bruno Latour, der diese Expedition ins Amazonasbecken begleitet hat, um herauszufinden, wie Wissenschaft arbeitet. Dass dieses Bild hier anfangs erscheint, liegt also daran, dass es erstens deutlich macht, dass Forschung in der Praxis grundsätzlich eine sehr sinnliche Tätigkeit ist, die sehr wenig mit dem zu tun hat, was Wissenschaft in der Theorie sein soll, und zweitens, weil es einen Vorschlag unterbreitet, wie sich Praxis und vielleicht auch ästhetische Praxis untersuchen lassen: vor Ort, im Feld, mit einer Kamera in der Hand, in der Beobachtung von Menschen, Dingen und ihren Interaktionen. Hintergrund dieses Vorschlags ist die seit Kurzem auch in der Theaterwissenschaft vernehmbare Forderung nach einer Kunst als Forschung, die ausgelöst durch die institutionelle Reform der Schweizer Kunsthochschulen und im Rückgriff auf die englischen Programme einer Practice as Research 2 „den Begriff der Forschung […] für die Kunst reklamiert“.3 Der Wunsch, „mit (anstatt über) Theater zu forschen“,4 wird dabei von dem Bemühen begleitet, sich von einer wissenschaftlichen Forschung abzugrenzen, der ein „kühle[r] Blick auf das Sinnli1 Vgl. Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/Main, 2000, S. 37. 2 Vgl. für das Theater das von 2001 bis 2006 gelaufene Projekt Practice as Research in Performance: http://www.bris.ac.uk/parip/, letzter Zugriff am 17.04.2014. 3 Bippus, Elke, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich, 2012, S. 7ff. 4 Ziemer, Gesa, „Mit (anstatt über) Theater forschen“, in: dramaturgie 1 (2007), S.12-14, S.12.
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Abb. 1: Bruno Latour: Wissenschaftliche Praxis vor der Kamera
che“ und „vorschnelle sprachliche Sinnproduktion“ unterstellt wird, die objektivierend und ordnend von außen und oben in die Kunst eingreife.5 Erfreulich an dieser Diskussion ist sicherlich, dass auf diesem Wege auch an den Kunsthochschulen die Überreste romantischer und idealistischer Ästhetiken ausgetrieben werden und der Kunst als epistemischer Praxis6 nicht nur die Schaffung von Wahrnehmung, sondern auch von Wissen zugestanden wird. Zugleich bleibt jedoch zu fragen, ob die angestrebte Einordnung der Kunst in die institutionalisierte Wissensproduktion nicht letztlich auf Disziplinierung und Nutzbarmachung der nicht verkäuflichen Kunst und ihrer Künstler hinausläuft. Schließlich haben die Diskussionen an den Kunsthochschulen ihre Entsprechung in der Forderung nach einer auf die Praxis ausgerichteten Lehre an den Universititäten, die dazu neigt, die historischphilologischen Kulturwissenschaften als Kunstreflexionsdisziplinen auf
5 Ebd., S. 12. 6 Vgl. Mersch, Dieter, „Kunst als epistemische Praxis“, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens, S. 27-47.
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Theorie, Analyse und Geschichte der Künste zu reduzieren.7 Dass Theaterwissenschaft aber weit mehr als ein theoretisches Wissen über das Theater ist, nämlich ein eigenständiger Diskurs des Performativen, der sich nicht zuletzt auch aus ganz anderen Gegenständen und vielfältigen interdisziplinären Querbezügen konstitutiert neigt dabei dazu, in Vergessenheit zu geraten (und Ähnliches ließe sich über die Medien(kultur) wissenschaften oder die Kunst-/Bildwissenschaft, ja selbst die neuerdings von den Sound Studies irritierte Musikwissenschaft behaupten). Statt einer Umetikettierung von Kunst als Forschung (im Sinne von Fleisch ist mein Gemüse möchte ich daher im Folgenden für eine kulturwissenschaftliche Forschung an ästhetischer Praxis plädieren. Das aber hie?e, nicht nur sehr deutlich zwischen Theorie und Forschung, sondern auch zwischen Kunst und ästhetischer Praxis klar zu unterscheiden. (Was im Fall von letzterem nicht mehr heißt, als zwischen jenem Tun innerhalb eines gesellschaftlich ausspezialisierten und diskursiv zugerichteten Bereichs der Kunst und jenen inzwischen in allen außerkünstlerischen Lebensbereichen anzufindenden Tätigkeiten zu unterscheiden, die der Kunst so nah verwandt sind, weil sie Sinn und Sinnlichkeit gestalten, und doch keine Kunst im engeren Sinne sind, weil sie eben anderen sozialen und diskursiven Reglements unterliegen). Denn entgegen der Annahme, dass Kunstwissenschaft traditionell über Kunstpraxis forscht, hat eine Forschung der ästhetischen Praxis bislang kaum stattgefunden – wenn es nicht Leben und Werke der Künstler waren, so sind es bisher Theorie, Rezeption und Verfahren gewesen, die als Gegenstand in Frage kamen: Die Praxis selbst, in ihrer partiellen Profanität des Alltäglichen und Partiellen, haben die ehemaligen Geisteswissenschaften traditionell den Sozialwissenschaften überlassen. Entsprechend aber ist es alles andere als eindeutig, was eine solche kulturwissenschaftlichen Forschung an ästhetischer Praxis sein könnte, was ihre Methoden und ihre Notwendigkeit wären – theoretisch ist sie kaum erschließbar und muss sich daher am Gegenstand beweisen. Als Vorbild für eine solche kulturwissenschaftliche Forschung an ästheti7 Ähnlich wie Gesa Ziemer unterscheidet Henk Borgdorff zwischen Forschung über, für und in der Kunst: „Forschung über die Kunst ist die Forschung, die sich im weitesten Sinne mit künstlerischer Praxis als Forschungsobjekt befasst. Dieser Ansatz versucht, aus einer theoretischen Betrachtung heraus gültige Schlussfolgerungen über die künstlerische Praxis zu ziehen“. Borgdorff, Henk, „Die Debatte über Forschung in der Kunst“, in: Anton Rey/Stefan Schöbi (Hg.), subTexte 03. Künstlerische Forschung – Positionen und Perspektiven, Zürich, 2009, S. 23-51, S. 29.
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scher Praxis aber soll hier Bruno Latours Ansatz einer Wissenschaftsforschung vorgeschlagen werden. Denn statt auf theoretische Vorüberlegungen oder die Selbstaussagen der Forscher stützt sich Latours Untersuchung auf die konkrete Praxis der Forschung vor Ort. Es interessieren ihn weniger die großen Erkenntnisse als die kleinen Arbeitsschritte, die überlieferten Techniken, die alltäglichen Verfahrensweisen und die institutionellen Rahmenbedingungen. Das oben zitierte Beispiel führt vor, wie er diese Entwicklung mit der Kamera verfolgt: „Abbildung 2.2“8 beispielsweise zeigt die Wissenschaftler im Café des Hotels über die Karte des Geländes gestützt. „Abbildung 2.3“9 führt die Markierung des Geländes durch kleine Nummernschilder an Bäumen vor. Einige Schritte weiter beobachten wir in „Abbildung 2.10“10, wie Bodenproben genommen werden. Die „Abbildung 2.13“11 führt vor, wie diese und andere Bodenproben mittels eines viereckigen Kastens voller Kästchen in ein Raster überführt werden. Schließlich zeigt „Abbildung 2.26“12 einen Wissenschaftler in einem alten Büro in Manaus bei der Verfassung eines Berichtes, der zusammen mit den erhobenen Bodenproben und Regenwürmern die Basis für neue Förderanträge bildet. Wie auch im freien Theater schließt sich der Kreis der Praxis in seiner institutionellen Fundierung. Die sequentielle Bildbeschreibung Latours führt so die sukzessiven Arbeitsschritte vor, mit deren Hilfe sich der Urwald in einer Kette von Vermittlungen und Verwandlungen in einem Bericht wiederfinden lässt; mit deren Hilfe also das Ding ins Wort gelangt oder auch die Welt im Geist erscheint. Doch diese minutiöse Analyse des wissenschaftlichen Vorgehens speist sich nicht aus einem positivistischen Eifer zur Vollständigkeit, sondern enthält – das ist entscheidend – eine weitreichende philosophische Polemik. Attackiert wird eine von Platon bis Kant und weit darüber hinaus tradierte Epistemologie, die Sprache und Welt durch einen Abgrund trennt, nur um diesen danach durch eine Vorstellung von Korrespondenz oder Referenz wieder zu überbrücken. Dem entgegen setzt Latour auf ein epistemologisches Modell, das weder das Schisma zwischen Geist und Ding mitgeht, noch die zwei Pole selbst bestehen lässt und an ihrer statt eine reversible und in beide Richtungen unabgeschlossene Folge von Transsubstantiationen setzt. Mit 8 9 10 11 12
Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora, S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S. 58. Ebd., S. 65. Ebd., S. 93.
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jedem Teilschritt des wissenschaftlichen Vorgehens erscheint „ein Zeichen an der Stelle eines Dings“13, nur um – eben noch Zeichen – im nächsten Schritt wiederum als Ding für ein neues Zeichen zu dienen: „Man bemerkt, dass jedes beliebige Glied der Kette von seinem Ursprung her auf die Materie und von seiner Bestimmung her auf die Form bezogen ist; dass es aus einem konkreten Ensemble herausgenommen wird, um dann im nächsten Schritt selbst wieder als konkret zu erscheinen. Niemals lässt sich ein scharfer Bruch zwischen den Dingen und den Zeichen feststellen. Und niemals stoßen wir auf eine Situation, in der willkürliche und diskrete Zeichen einer gestaltlosen und kontinuierlichen Materie aufgezwungen würden. Immer sehen wir nur eine kontinuierliche Reihe von ineinander geschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorangehende und die eines Dings für das nachfolgende Element spielt.“14
An die Stelle der bipolaren Relation zwischen Subjekt und Objekt tritt bei Latour ein Konzept von Erkenntnis als Transformation eines vielfältig verknüpften Netzwerks, das zwischen Forschung, Natur und Gesellschaft aufgespannt ist. Die epistemologische Konsequenz dieses Modells aber ist, die Welt der Wissenschaft als reale Konstruktion zu begreifen: „Die Wissenschaften sprechen nicht von der Welt. Sie konstruieren künstliche Repräsentationen, die sich immer weiter von der Welt zu entfernen scheinen und sie dennoch näher bringen.“15 Die ontologische Pointe des Modells besteht entsprechend darin, auch die Dinge als gleichberechtigte Akteure in die Überlegung mit aufzunehmen und ihnen wie den Wissenschaftlern Handlungsmächtigkeit zuzugestehen. Doch wie bei anderen akademischen Moden auch, verbirgt sich das Potential des Latourschen Ansatzes weniger in dem vielzitierten Fazit, als in der Gewissenhaftigkeit seiner Methodik. Denn im Unterschied zur Wissenschaftsphilosophie seit der Antike beginnt Latour seine Überlegungen nicht mit einem theoretischen Propädeutikum, sondern mit der detailgenauen Beschreibung wissenschaftlicher Praxis; und er nutzt diese Beschreibung – was vielleicht das Entscheidendere ist – nicht für eine systematisierende Theoriebildung oder positivistische Bestandsaufnahme, sondern zielt mit ihr im Wesentlichen auf die Kritik der Theorie selbst. Aus der dichten Beschrei13 Ebd., S. 78. 14 Ebd., S. 70. 15 Ebd., S. 43.
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bung der pragmatischen Interaktionen zwischen Menschen und Dingen in der wissenschaftlichen Praxis gelangt er zu einer radikalen Infragestellung der herrschenden Theorie, die als Ideologiekritik schließlich politische Konsequenzen hat: „Diese Wissenschaft [als Ideal des Transports von Information ohne Diskussion oder Deformation, d. Verf.] – DIE WISSENSCHAFT – ist keine Beschreibung dessen, was Wissenschaftler tun. Es ist eine Ideologie, um einen alten Begriff zu verwenden, und diente in den Händen der Epistemologen nie einem anderen Zweck, als einen ‚Ersatz‘ für die politische Diskussion darzustellen. Diese Wissenschaft hat immer nur als politische Waffe gedient, um die Zwänge der Politik zu beseitigen.“16
Entscheidend an dieser Wendung der Latourschen Argumentation – die hier leider nicht in ihrer Gänze und Komplexität nachvollzogen werden kann – ist eben, dass es der Wissenschaftsforschung weder um ein positivistisches Wissen um des besser-Wissens willen, noch um ein instrumentelles Wissen um des besser Machens willen geht. Im Gegensatz zu den Ingenieurswissenschaften, in denen das Verständnis der Theorie letztlich zu einer verbesserten Praxis führen soll, dient Latours Analyse der Praxis gerade der Kritik der Theorie; und zwar einer Theorie, die immer auch schon Ideologie ist, weil sie nicht nur Erkenntnis leitet, sondern auch dafür sorgt, dass bestimmte Dinge weder sichtbar sind, noch überhaupt gedacht werden können. Eine solche Kritik der Theorie fragt daher nach der Diskussion, die durch die Theorie verhindert wird, und nach den Machtinteressen, denen dies dient. Ausgangspunkt der Kritik der Theorie aber – das ist vielleicht das Entscheidende an Latours Ansatz – ist die Praxis, denn erst von der Praxis aus lässt sich entdecken, was die Theorie vorenthält, und lässt sich erahnen, welche Ideologie die Theorie antreibt. Praxisforschung als Theoriekritik und Theoriekritik als Ideologiekritik, so ließe sich Latours Ansatz auch zusammenfassen – und das hieße in der Konsequenz für das Projekt einer kulturwissenschaftlichen Erforschung ästhetischer Praxis, statt der Aufwertung von Kunst zur Forschung (an den Kunsthochschulen) oder der Entschuldigung der Theorie durch die Praxis (an den Universitäten), statt der Amalgamierung der Begriffe im Dienste von Legitmationsdiskursen und Rechtferti-
16 Ebd., S. 316, (Herv. i. O.).
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gungszwängen ästhetische Praxis erst einmal schlicht und einfach als Gegenstand von Forschung zu verstehen. Der Vorschlag wäre, die von Bruno Latour und anderen entwickelten Verfahren zur Beschreibung und Analyse des naturwissenschaftlichen Arbeitens auf den kulturwissenschaftlichen Umgang mit ästhetischen Praktiken zu übertragen, die kulturwissenschaftliche Forschung an ästhetischer Praxis in Anlehnung an Wissenschaftsforschung als eine symmetrische Forschung zu betreiben, die das Ästhetische nicht vom Sozialen trennt.17 Das aber hieße, jenseits von ästhetischer Theorie, semiotischer Analyse und historischer Narration, sich, im engen Kontakt mit den Dingen, den profanen, alltäglichen und habitualisierten Arbeitsweisen der Künste zu nähern, und zwar ohne theoretische Vorannahmen darüber, was Kunst ist oder sein kann und soll, ohne das ästhetische Vorurteil, dass gute Kunst inhärent emanzipativ, subversiv oder zumindest kritisch sei, aber auch ohne einen sozialwissenschaftlichen Kurzschluss des Ästhetischen, der die Kunst als Spielfeld der Mächtigen zu entlarven sucht. Die Kunst der Modernen so versuchsweise aus gleicher Perspektive wie die von diesen so bewunderten Tänze der ausgegrenzten Vormodernen betrachtend, ist dies das Plädoyer für eine Methode, die sich aus dem engen Kontakt mit dem Gegenstand entwickelt und von dort aus eine Kritik der Theorie unternimmt, statt vom theoretischen Apriori aus die Praxis verfügbar zu machen. Das läuft auf die Frage hinaus, weshalb von dieser ästhetischen Praxis eigentlich so lange niemand etwas wissen wollte, oder wenn, dann nur in Form von Theorien über eben diese Praxis. Wer hat diese Trennung zwischen Schauen und Machen in unserem Denken über die Kunst eingezogen und weshalb? Was ist das für eine Ideologie, die diese Theorien antreibt und bestätigt? Welche Diskussion verhindert eine ästhetische Theorie, die aus der Praxis Sinn macht, ohne sich mit ihren Profanitäten einzulassen, und welche Machtansprüche sichert sie? Das wird sich im Folgenden selbstverständlich nur andeuten lassen, kommt über einen Vorschlag nicht hinaus und lässt die exemplarische Studie, die sich ins Feld begibt, noch vermissen. Nur ein möglicher Ansatz lässt sich hier vielleicht aufzeigen.
17 Bruno Latour notiert hierzu: „Man hat die Wissenschaft für ein realistisches Gemälde gehalten und sich eingebildet, man würde exakt die Welt kopieren. Die Wissenschaft aber tut etwas ganz anderes – die Bilder allerdings auch.“ Ebd., S. 247.
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Das Entscheidungsproblem Denn wenn Wissenschaftsforschung im Sinne Latours mit den Details wissenschaftlicher Praxis beginnt, muss eine entsprechende kulturwissenschaftiche Erforschung ästhetischer Praxis mit deren Details beginnen. Nicht Referenz ist hier das Problem, sondern Repräsentation: Statt des wissenschaftlichen Erkennens der Wirklichkeit ist die künstlerische Aneignung derselben Gegenstand der Untersuchung. Aber auch hier findet sich ein Prozess, der sich als eine Kette von ineinander greifenden Verwandlungen und Vermittlungen beschreiben lässt, in denen sich die Kunst von der Wirklichkeit immer weiter entfernt und ihr doch immer näher kommt; ein Prozess, der nach beiden Seiten hin offen ist, weder absoluten Anfang, noch Ende kennt und sich als aus überschneidenden Artikulationsprozessen zusammengesetzt beschreiben lässt, in deren Verlauf eine Gestalt zur Erscheinung gebracht wird. Als einfaches Beispiel mag die Arbeit an der Rolle dienen: Im Verlauf der Proben wird in der Zusammenarbeit von Textbuch, Darsteller, Regisseur und Requisiten eine Figur artikuliert, die ihre (transfigurative) Evidenz schlussendlich in der Vorstellung vor Publikum erlangt. Die Entscheidung punktualisiert und personalisiert diesen Prozess, indem sie der Kontingenz Intention unterstellt und aus einem komplexen Geschehen, das sich in der widersprüchlichen Interaktion diverser Akteure abspielt, einen singulären Willensakt macht. Doch trotz dieses metaphysischen Ballastes, den die Rede von künstlerischen Entscheidungen mit sich bringt, bleibt die Frage nach Entscheidungen, die als Wendepunkte des ästhetischen Artikulationsprozesses in Erscheinung treten, relevant. Die künstlerische Artikulation lässt sich von daher der naturwissenschaftlichen weitgehend analog beschreiben, insofern jeder Schritt eines semiotisch-materiellen Erkennens im wissenschaftlichen Vorgehen den einzelnen semiotisch-materiellen Entscheidungen im künstlerischen Prozess entspricht. Dass am Ende etwas da ist und nicht nichts lässt es selbstverständlich erscheinen, dass an dem einen oder anderen Punkt Entscheidungen getroffen worden sind – sei es von einem großen Einzelnen oder dehierarchisierten Kollektiven;18 im Theater beispielsweise sind dies die scheinbar großen initialen Entscheidungen für den Text, die Fassung, die Besetzung, oder die vielen kleinen Entscheidungen zu Probenzeiten etc. Denn jede konkrete Reihe von Entschei18 Vgl. Kurzenberger, Hajo, Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaft – theatrale Kreativität, Bielefeld, 2009.
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dungen, die gefällt wurden und von einem Schritt zum nächsten führt, sorgt dafür, dass das, was dabei herauskommt, am Ende eben so und nicht anders aussieht. Nicht ohne Grund besteht die härteste und häufigste Kritik an Kunst heutzutage oft darin zu sagen, etwas sei unentschieden – d. h. im Grunde, eine Entscheidung habe nicht stattgefunden. Da es eine falsche Entscheidung ohne normative Ästhetik kaum geben kann, bleibt als einziges Kriterium autonomer Kunst, dass sie den selbst gesetzten Maßstäben nicht genüge oder sie noch nicht einmal gesetzt habe – wodurch sich das Ganze, entsprechend, nicht einmal bewerten lässt. Ganz ähnlich wie sich in der Wissenschaftsforschung die Frage stellt, wie denn Erkenntnis in pragmatischer Hinsicht zustande komme, wenn man sich von dem Subjekt, das die Welt erkennt, verabschiedet, stellt sich dementsprechend in Bezug auf die künstlerische Praxis die Frage, wie Entscheidungen zustande kommen, wenn wir uns von den romantischen Überresten von Genie und Inspiration befreien. Dies aber lässt die Frage nach der künstlerischen Entscheidung noch einmal anders formulieren: Die Behauptung von Entscheidungen antwortet auf die Frage: Wie passiert Kunst? Sie ist ein Versuch zu erklären, weshalb am Ende das da ist, was dort ist und nicht etwas anderes, sie ist eine Vokabel, um aus jenem Prozess, an dessen Ende Werk oder Aufführung stehen, Sinn zu machen, ihm Struktur zu geben. Ästhetische Entscheidungen sind Zäsuren in künstlerischen Artikulationsprozessen. Sie kommen in künstlerischen Netzwerken von Akteuren zustande und begrenzen die Horizonte, die diese Netze entfalten. Das geläufige Verständnis von Entscheidungen kreist dabei um einen intentionalen und personalisierten Akt, der die Kontingenz reduziert oder den Zufall verneint. Die geläufige Ikonografie stellt ihn in der indexikalischen Einheit von Zeigegestus und Handlungsträger dar. Diese Inszenierung der künstlerischen Entscheidung als energisches Eingreifen eines älteren Herren in ein außerhalb des Bildes liegendes Geschehen weist indirekt aber auch darauf hin, dass sich der größte Teil ästhetischer Prozesse ja gerade nicht aus Entscheidungen zusammensetzt, sondern aus Nicht-Entscheidungen: Nicht nur haben sich im Theater beispielsweise die meisten Schauspieler nicht entschieden, für ein bestimmtes Stück besetzt zu werden, sie entscheiden sich auch nicht, morgens zur Probe zu gehen, ihren Text zu lernen, die Spannung zu halten oder den Atem zu setzen. Sie tun es einfach, besser gesagt, es passiert ihnen, und zwar deshalb, weil es auf der Probe so entschieden wurde, sie es in der Schule so gelernt haben, es ihnen in Leib und Blut übergegangen ist oder sie es immer schon so gemacht haben, kurz, weil
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es der berufliche Rahmen eben so verlangt. Denn eine mehrjährige Ausbildung auf der Schauspielschule und mehrmonatige Probenzeiten arbeiten gerade daran, ihnen diese Entscheidungen abzunehmen und durch Nicht-Entscheidungen zu ersetzen. Die Spielräume für Entscheidungen oder die Entscheidungshorizonte werden systematisch und den Berufsbildern entsprechend eingegrenzt. Künstlerische Ausbildung wie künstlerische Produktionsprozesse arbeiten insofern daran, Entscheidungen zu treffen und damit im gleichen Atemzug ein vielfaches an späteren Entscheidungsmöglichkeiten im vorhinein auszuschließen. Die künstlerische Entscheidung stellt sich so als Varianz der Konvention dar. Sie kommt durch die Abweichung vom Üblichen zustande und besteht nur so lange, bis sie selbst wieder üblich geworden ist. Die Entscheidung, es so wie immer zu machen, ist keine Entscheidung – zumindest keine künstlerische –, und zwar nicht deshalb, weil der Wille zum Experiment fehlt, sondern weil sie keine Aufmerksamkeit generiert, aufgrund mangelnder Markanz nicht als solches erkannt werden kann. Denn künstlerische Entscheidungen kommen nicht unabhängig von ihrer Wahrnehmung zustande, zugespitzt formuliert: Sie werden überhaupt nur dann zu Entscheidungen, wenn das, was sie anders machen, als solches erkannt und benannt wird. Die Entscheidung, etwas anders zu machen als bisher tradiert, hat, wenn sie nicht vom Publikum bemerkt wird, nie stattgefunden. Ein Beispiel: Der Schauspieler David Garrick wird im 18. Jahrhundert dafür gefeiert, dass er etwas anders macht, einen neuen, naturalistischen Stil des Spiels auf die Bühne bringt – so erzählen es zumindest die Theatergeschichten. Doch wenn wir uns heute Garrick auf einem Bild von damals anschauen, ist die Entscheidung für uns kaum wahrnehmbar: Was der Schauspieler da macht, sieht auf den zeitgenössischen Darstellungen alles andere als natürlich aus. Die Entscheidung ist nicht offensichtlich, wir werden ihrer erst gewiss, wenn wir den Niederschlag der Wahrnehmung in den Rezeptionsberichten der Zeitgenossen betrachten. Erst hier zeigt sich deutlich, wie Garrick im Gegensatz zu dem alten Stil seiner Kollegen als etwas Neues gesehen wird, das in den Begriffen künstlich und natürlich beschrieben wird. Allein aus den bildlichen Zeugnissen wäre vielleicht kaum auf einen anderen Stil zu schließen, und ohne die Zeugnisse der Rezeption oder die Zuordnung der Zeitgenossen wäre Garricks Entscheidung kaum nachzuvollziehen, zugespitzt gesagt: Vielleicht gäbe es sie gar nicht. Die Varianz von der Konvention muss auch hier erkannt und benannt werden, um überhaupt eine zu sein: vom Künstler, vom Publikum oder vom Historiker.
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Abb. 2: David Garrick as Richard III, William Hogarth, 1745
Das ist der prekäre ontologische Status von ästhetischen Entscheidungen, man kann sie nicht einfach erkennen, weil es sie nicht gibt, bevor sie nicht bemerkt und erklärt werden. Die Beschreibung von Entscheidungen, ihre Aufzeichnung und Zuweisung zu Ort, Zeit und Person ist immer schon an der Entstehung und Verfertigung der Entscheidung selbst mit beteiligt. Die Abweichung von der Konvention findet nicht einfach statt, sie konstitutiert sich nur in dem Zusammenspiel aus Aktion und Wahrnehmung, auch wenn sie gleich daraufhin einem Akteur zugewiesen und in einen narrativen Rahmen eingebettet wird. Das aber hat zur Konsequenz, dass das Reden und Forschen über Entscheidungen nicht von ihrer Zuschreibung absehen kann, d. h. der Begriff selbst und sein Diskurs immer mit auf dem Prüfstand stehen müssen. Denn es ist nie ganz klar, wer eigentlich in der Kunst entscheidet, dass es sich um eine Entscheidung handelt, wie das entschieden wird und weshalb. Das betrifft den herrschenden Diskurs wie die eigene Sprache. Schließlich ist schon die Aussage, dass es eben Garrick war, der etwas anders gemacht habe, verdächtig, um bei dem Beispiel zu bleiben. Schon unsere Sprache legt dieses Denken in den Kategorien von Person und Intention nahe, das gewöhnlich aus einer nachträglich gegebe-
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nen Begründung auf eine vorgängige Kausalität schließt. Und unser Denken neigt deshalb auch dazu zu glauben, dass ich das, was ich getan habe, deshalb getan habe, weil ich es tun wollte, weil ich etwas bezweckte und es gute oder schlechte Gründe für meine Handlungen gab – denn eben das scheint ja auch dadurch evident zu werden, dass ich Gründe für meine Handlungen angeben kann. Entsprechend verfügen beispielsweise auch Regisseure meist über eloquente Begründungen ihres Tuns und wissen zu begründen, was sie da getan haben und was dies oder was das auch nicht zu bedeuten habe. Nicht nur ist aus dem Werk kein Wille eines Autors mehr herauszulesen, vor allen Dingen referieren Begründungen nicht auf einen Zustand vor der Handlung, sondern weisen einer vergangenen Handlung im Nachhinein Sinn zu. Sie sind immer auch schon Erzählung und Geschichte, Stilisierung, Rechtfertigung, Überhöhung und suggerieren eine Entschiedenheit und Eindeutigkeit des Handelns, die das Handeln per se selbst allein schon deshalb nicht kennt, weil es naturgemäß situativ verfährt und zwar auch dann, wenn es zugleich in abstrahierende Verfahrensweisen wie beispielsweise die sprachliche Reflektion über Kriterien der Gestaltung eingebunden ist. Die Wirklichkeit der Produktion sieht anders aus als ihre Theorie. Sie spielt sich in Diskursen ab und ist von Zufällen, Kontingenzen und Interaktionen geprägt, sie verbirgt sich in Anekdoten. Was wir von ihr wissen, ist ein weitgehend implizites Wissen, und daran ändert die Einsicht in die Fragwürdigkeit nachträglich gegebener Gründe wenig. Ist die Konsequenz also Feldforschung, geht es darum, im Atelier oder auf der Probe herauszufinden, wie sich ästhetische Praxis wirklich abspielt, um die Vorurteile der Künstler über ihr eigenes Tun als Mythos zu entlarven? Das wäre die falsche Schlussfolgerung, weil sie aus der nachträglichen Konstruktion des Narrativs auf ein vorab aufzufindendes Vorfindliches schließt, das nicht anzutreffen sein wird, weil es eben keine künstlerische Entscheidung geben kann, bevor ein Publikum daran beteiligt war, bevor der Kritiker sie geschmäht oder ein Künstler sie verbrämt hat. Denn jede künstlerische Entscheidung ist, wie das Beispiel zeigen sollte, immer schon die Geschichte der Wahrnehmung eben dieser Entscheidung. Dabei ist das nun folgende Beispiel gerade deshalb vielleicht noch nicht das, was dieser Text eigentlich fordert und was ihn eigentlich weitertreiben müsste.
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Unentschiedenheiten In einem 1998 veröffentlichten Interview beschreibt Christoph Schlingensief, wie es 1993 zu seinem ersten Auftritt auf dem Theater während der sechsten Vorstellung seiner ersten Inszenierung 100 Jahre CDU an der Berliner Volksbühne kam: „Als das Stück Premiere hatte, hieß das Urteil: Ja, lustig. […] Darunter habe ich höllisch gelitten. […] Am sechsten Abend habe ich mir in der Kantine Mut angetrunken, bei der Requisite ein paar Sachen bestellt und mir gesagt: Jetzt gehe ich hoch, jetzt mache ich das klar. […] Es war ein Offenbarungseid. […] Es war total still im Theater. […] Plötzlich hatte ich die Aufführung in der Hand. Ich habe alle aufgefordert, sich auszuziehen […]. Da rief das Publikum: Zieh dich doch selber aus, und ich tat es, was mir sehr schwer fiel […]. Von diesem Abend an war klar, dass ich mit auf die Bühne gehe, dass es dadurch gelingt, dem Ganzen eine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit zu geben.“19
In einem Gespräch mit Josef Bierbichler führt Schlingensief die wiederholte Kritik Carl Hegemanns, des damaligen Chefdramaturgen des Berliner Ensembles und späteren Kollaborateurs Schlingensiefs, als Auslöser für den Schritt auf die Bühne an: „Du musst beichten. Das ist keine richtige Beichte. Die glauben dir das alles nicht.“20 Daraufhin sei er auf die Bühne gegangen, habe die Geschichte vom Tod seiner Großmutter erzählt – „und da musste ich selber auch heulen – in dem Moment. Und das Publikum war total still. Und es war wirklich ein Moment von drei Minuten, vier Minuten Stille im Raum […].“21 Roland Koberg berichtet noch eine andere Variante der Geschichte: „Lilienthal habe zu Schlingensief gesagt, so geht das nicht, er müsse für das, was da abgeht auf der Bühne, selber einstehen, und habe ihn auf die Bühne 19 Schlingensief, Christoph, „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“, in: Julia Lochte/Wilfried Schulz (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, Hamburg, 1998, S. 12-39, S.26f. 20 Christoph Schlingensief in, „Engagement und Skandal – Ein Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Wewerka“, in: Josef Bierbichler (Hg.), Engagement und Skandal – Ein Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Wewerka, Berlin, 1998, S.19-66, S. 53. 21 Ebd.
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geschubst. Möglicherweise fiel das Wort Haftbarkeit. “22 Aber auch er kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Schlingensief lernte, dass seine Interessen ästhetisch nur durch die ihm eigen gewordene krude, verwirrende Melange aus Authentizität und Zitat durchzusetzen sind. “23 Was hier beschrieben wird, ein paar Jahre später, ist eine der folgenreichsten Entscheidungen für das Theater Christoph Schlingensiefs: selbst die Bühne zu betreten und zwar als künstlerisch Verantwortlicher, der das Publikum als Publikum direkt adressiert. Beschrieben wird diese Entscheidung hier in einem klassischen Genre, nämlich der erinnernden Selbsterzählung des Regisseurs, und zwar als eine autonome künstlerische Entscheidung. Trotz der Konventionalität der narrativen Form lassen sich aus der Anekdote die wesentlichen Merkmale künstlerischer Entscheidungen ableiten: 1. Varianz von der Konvention: Die ästhetische Entscheidung zum Auftritt wird als Bruch mit den Konventionen und der Konventionalität der eigentlichen Inszenierungen verstanden, es braucht den Hintergrund der vorhandenen Vorstellungen, um das Handeln als solches sichtbar zu machen. 2. Dependenz von der Perzeption: Die ästhetische Entscheidung entsteht als Reaktion auf die Rezeption und die Rezension; mittelmäßige Kritiken, der vielfach reflektierte Eindruck der Harmlosigkeit und Gefälligkeit des Abends erzeugen einen Leidensdruck, der schließlich die Handlung provoziert. 3. Pathos des (Re-)Agierens: Die ästhetische Entscheidung wird durch eine Krise herbeigeführt, die von dem Künstler persönlich durchlitten wird und scheinbar nur durch ein radikales ästhetisches Handeln gelöst werden kann, ein Offenbarungseid muss her, um das Werk zu retten. 4. Multiplizität der Akteure: Neben Schlingensief und den Rezensenten, die den Auftritt mit ihren Kritiken provoziert haben, sind noch einige andere Akteure im Spiel: Die Kritiker, die ihr Urteil verkünden, das Bier in der Kantine, die Requisiteure und die Requisiten, der Dramaturg, der Schlingensief ins Gewissen redet oder auf die Bühne schubst: Hätte das Bier keine Hemmungen abgebaut, die Requisite gedient oder der Dramaturg gemahnt, hätte es eben diese Entscheidung nicht gegeben.
22 Koberg, Roland, „Das Schlingensief-Theater“, in: Julia Lochte/Wilfried Schulz, Schlingensief! Notruf für Deutschland, S. 148. 23 Ebd.
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5. Situativität des Prozesses: Die ästhetische Entscheidung ist anfangs eher unbestimmt und entwickelt sich erst im Verlauf, bleibt unsicher und kontingent. „Jetzt gehe ich hoch, jetzt mache ich das klar“ lautet der sehr unbestimmte Vorsatz. Erst die Reaktion auf das Publikum, das ruft, er solle sich doch selber ausziehen, resultiert in Schlingensiefs Entscheidung, dem Auftritt. 6. Narrative Semantisierung: Schließlich wird die ästhetische Entscheidung erst in der Erzählung im Nachhinein zu einer Entscheidung und bekommt ihre Bedeutung zugewiesen. Erst nach dem Abend und während des Interviews wird klar, „dass es dadurch gelingt, dem Ganzen eine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit zu geben“, d. h. aus einer prekären und fragilen Situation wird in der Nacherzählung ein intentionaler, auktorialer Akt, der so nie stattgefunden hätte, wenn beispielsweise das Publikum unbeeindruckt geblieben wäre oder Schlingensief nicht die Hosen herunter gelassen hätte. Man könnte es auch so beschreiben, dass die ästhetischen Entscheidung hier von Schlingensief eher erfahren und erlebt als gefällt wird; und zwar als Krise eines komplexen Netzwerks, das zwischen Bühne, Kantine, Requisite, Redaktionsstuben und Zuschauerrraum aufgespannt ist und durch die Tageszeitungen, Mithöranlagen und Kantinengespräche miteinander verbunden ist. Erst eine spezifische Konfiguration dieses Netzwerkes lässt die Entscheidung möglich werden, bringt sie quasi hervor: Die Lektüre der Kritik, die Erreichbarkeit der Requisite, der Diskurs des Dramaturgen, die eigenen ästhetischen Standards führen eine Entscheidung in ihren Wechselwirkungen herbei, die schließlich in der Regisseursfigur Schlingensief ihre Personalisierung findet. Schlingensiefs Aktion ist eine Reaktion auf dieses Netzwerk, die, je länger man darüber nachdenkt, umso zwangsläufiger erscheint. Die geniale Setzung aus einem mannigfaltigen Raum von Möglichkeiten scheint sich bei näherer Betrachtung der Konfiguration des Netzwerkes durch die Umstände und den verbleibenden Rahmen immer mehr auf eine Entscheidungsmöglichkeit einzugrenzen: rausgehen oder nicht rausgehen, auftreten oder nicht auftreten, reagieren oder nicht agieren. Man könnte aber auch ganz einfach sagen – und eben das wurde ja auch behauptet –, die Inszenierung war vor Schlingensiefs Auftritt einfach unentschieden, ganz lustig eben, ein wenig Kabarett, ein wenig Bad-Taste, ein wenig Avantgarde. Diesem letzten Vorwurf, der einer autonomen, sich selbst die Gesetze gebenden Kunst noch gemacht werden kann, widersetzte sich Schlingensief mit der Entscheidung, auf
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Abb. 3: 100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen, Christoph Schlingensief, Volksbühne Berlin, 1993, (Foto: Wolfgang Gregor)
die Bühne zu gehen. Unentschieden war die Inszenierung vor der Entscheidung daher in der Doppeldeutigkeit des Wortes: noch nicht klar gesetzt, noch unklar in ihrer Gestalt, aber auch noch nicht entschieden im Sinne von gelöst, zu einem Ende hin geführt, gewonnen. Ob aus Schlingensief ein Filmemacher mit gescheiterten Theaterversuchen oder ein prägender Theatermacher mit internationalem Renommé werden wird, ist in dem Moment vor der Entscheidung noch unentschieden. Mit dem Auftritt wird diese Entscheidung jedoch in beiden Wortsinnen herbeigeführt. Anders gesagt zeigt sich hier, dass technische, organisatorische und soziale Bedingungen der Produktion und Rezeption von Theater maßgeblich an der künstlerischen Entscheidungsfindung beteiligt sind, besser: den Spielraum für Entscheidungen überhaupt erst vorgeben und ermöglichen. Die menschlichen Entscheider erscheinen fast mehr als eine Funktion des Entscheidungsprozesses, als dass sie ihr Träger wären. Das aber ist vielleicht auch deshalb besonders spannend, weil es scheint, als würden sich viele zeitgenössische Theaterproduktionen weniger damit beschäftigen, Entscheidungen zu treffen, als vielmehr Spielräume für Entscheidungen vorzugeben. Wichtiger als das Fällen von Entscheidungen scheint für Theater und Performance heute die
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Setzung von Produktionsbedingungen und damit Entscheidungsspielräumen zu sein.24 Lässt sich daher einerseits an Schlingensiefs erstem Auftritt im Theater ablesen, wie eine Entscheidung im Theater entsteht, fällt andererseits auf, dass es sich hier nicht um irgendeine Entscheidung handelt, sondern dass es ein konkretes historisches Modell der Entscheidungsfindung ist, das hier die Dramaturgie vorgibt. Man könnte es die krisenhafte Entscheidung nennen und von anderen Modellen der Entscheidungsfindungen abgrenzen, beispielsweise von der regelgeleiteten Entscheidung, wie sie Barock und Frühaufklärung kannten, oder einer intuitiven Entscheidung, wie sie seit der Romantik maßgeblich für unser Denken über Kunst geworden ist. Die krisenhafte Entscheidung aber ist an die Autonomie der Kunst gebunden: Nur ein Kunstwerk, das sich weder aus dem Inneren herleitet, noch klare poetologische Normen kennt, sondern die Bürde der Gelingenskriterien in sich selbst trägt, weil es die eigenen Standards formuliert, muss durch die Krise der Unentschiedenheit hindurchgehen, um zu sich selbst zu finden. Dieses Modell der krisenhaften Entscheidung scheint noch immer das dominante Modell des Theaters zu sein, auch wenn mit den aleatorischen Ästhetiken von Cage und anderen die zufällige Entscheidung oder mit den invasiven Strategien der Performance-Kunst die deligierte Entscheidung für zeitgenössische Theaterkunst maßgeblich geworden sind. Ein solches historisches Panorama macht auch deutlich, dass die unterschiedlichen Entscheidungsmodelle die Entscheidungen an jeweils unterschiedliche Orte und Zeiten verlegen: Während in der Praxis des Stegreiftheaters die ästhetischen Entscheidungen sich einerseits als langfristige Entwicklungen von Masken und Szenarios herausbilden und andererseits in der Improvisation vor Ort, am Körper des Darstellers und im Kontakt mit dem Publikum ihren unmittelbaren sozialen und politischen Ort finden, ist die klassische Praxis des Literaturtheaters bemüht, die Entscheidungen an die Schreibtische von Autoren, Zensoren und Akademien zu verlegen, und untermauert dies mit Improvisierverboten. Spiel- und Entscheidungsräume der Darsteller werden fortan auf die Ausgestaltung von Rollen und die Verkörperung geschriebener Charaktere beschränkt: auf die Ausgestaltung des Sprechens wie des Kleidens. Die Romantik versucht, sich diesen Autoritäten zu entziehen, indem sie die Entscheidung als Inspiration beschreibt 24 Vgl. Hinz, Melanie/Roselt, Jens, Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin, 2011.
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und ins Innere von Autoren und Virtuosen verlegt – bis schließlich die technischen medialen Veränderungen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen neuen Entscheidungsraum aufmachen, der sich Inszenierung nennt, in Probe und Probebühne Ort und Zeit und seine Personalisierung in der Regie findet. Die letzte Wende aber kommt mit einem Theater, das sich als Kunst begreift, von einem Nullpunkt startet, weder auf Text, noch auf Schauspieler zurückgreift und dementsprechend auch keine Regisseure mehr braucht: mit den medienaffinen Kollektiven performativer Theaterformen entstehen neue kollektive Entscheidungsräume, die digitale Technologie und Zuschauer in neuer Weise in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen und ihren Zeitort im Try-Out finden. Das aber heißt, dass die Räume, in denen sich ästhetische Artikulationsprozesse abspielen, dass die Netzwerke, die die Horizonte der einzelnen Akteure aufspannen, durchaus kontingent sind. Hinter den Figuren, in denen die ästhetische agency punktualisiert und personalisiert auftritt, verbergen sich historisch je unterschiedliche Machtkonstellationen, die die künstlerischen Entscheidungsprozesse in einen narrativen Rahmen einbetten. Fraglich bleibt daher nicht nur, wie künstlerische Entscheidungen und ästhetische Praxis zustande kommen, sondern auch, wo und wann sie überhaupt stattfinden. Das unberührte Dorf der Wilden, das den Feldforscher unverstellt empfängt, gibt es auch hier nicht, allein schon deshalb, weil es eben die Kollegen waren, die dem Dorf erst seinen Namen gaben. Das aber heißt für die Methodik einer Erforschung ästhetischer Praxis, dass die Rekonstruktion der Akteurs-Netzwerke, in denen sich die ästhetische Praxis abspielt, nicht losgelöst von der Befragung jener Diskurse stattfinden kann, in denen von künstlerischen Entscheidungen gehandelt wird und durch die ihren Trägern Figuren zugeordnet werden. In der Konstanz der Zuordnung der ästhetischen agency auf den Menschen, die sogar den Tod des Autors recht unbeschadet überstanden hat, wird wohl die eigentliche Ideologie der ästhetischen Theorien zu suchen sein: sichert sie doch, wie nichts anderes, den gesellschaftlichen Führungsanspruch der Kunst und ihrer Exegeten vor Kitsch und Pöbel. Denn nur solange die Produktion vom Nimbus des Geheimnisvollen umweht bleibt, lässt sich die Aura des Produkts und mit ihm der Status des Produzenten erhalten. Was hilft schließlich besser gegen die Demokratie in Bayreuths Zuschauerraum als der Kult um den Meister, was war wirksamer gegen Beuys‘ Freie Internationale Universität, als die Aufnahme des Fetts ins Museum und was vertreibt Schlingensiefs Chance 2000 besser, als Totentkult und Retrospektive?
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Auf der Flucht. Die Formen der Kulturwissenschaften In seinem Text Zum Verhältnis von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis schlägt Matthias Rebstock vor, gemeinsam mit Autoren wie Wolfgang Welsch und Martin Tröndle darüber nachzudenken, welche Formen der Erkenntnis die Kulturwissenschaften anvisieren, die sich durch ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode bestimmt sehen. Hierin liegt eine Aufgabenstellung begründet, der sich die Hildesheimer Kulturwissenschaften seit ihrer Gründung in den späten 1970er Jahren verpflichtet sehen.1 Der vorliegende Text folgt diesem Angebot, indem ich die Frage nach den Formen der Kulturwissenschaften in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stelle. Die von Rebstock in die Diskussion gebrachte Methode der sinnlichen Anwesenheit und Erfahrbarkeit möchte ich am Beispiel von Clifford Geertz nachzeichnen und weiter an Jean Jacques Rousseau die notwendigen Widersprüche eines sinnlichen und ästhetischen Denkens aufzeigen. Diese zwei durchaus divergierenden Perspektiven auf einen Kulturethnologen des 20. Jahrhunderts und einen Philosophen der Aufklärung verbinden sich, so die Intention, im Motiv der Flucht, das mir als eine Möglichkeit erscheint, auf die spezifischen Subjektivierungsweisen aufmerksam zu machen2, die die Kulturwissenschaften hervorbringen. Im Motiv der Flucht werden die körpertechnischen und performativen Dimensionen der kulturwissenschaftlichen Forschung sichtbar. Damit wird nicht nur einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Performanz der Abweichung Ausdruck verliehen, sondern die Forschung als eine weitere, letztlich ästhetische Form beobachtbar, in der sich die Kulturwissenschaften selbst thematisch werden.
1 Siehe hierzu die Texte in der Rubrik „Aus dem Archiv“. 2 Im Anschluss an Foucault ohne jedoch dessen spezifischen Blick auf die Machtverhältnisse zu wiederholen, die sich in den jeweiligen Subjektivierungsweisen bilden und/oder reproduzieren. Vgl. Foucault, Michel, „Was ist ein Autor?“, in: Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart, 2000, S. 198-229.
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Clifford Geertz: Kulturwissenschaften im Übergang zwischen Mode 1 und Mode 2 Um mich dem Motiv der Flucht zu nähern, möchte ich mit einer Urszene der kulturwissenschaftlichen Forschung beginnen, die allerdings kaum mehr als 40 Jahre alt ist. Sie ereignet sich in einem Buch und somit als Text. Clifford Geertz hat dieses Buch 1973 als Interpretation of Cultures geschrieben, auf Deutsch ist es seit 1987 unter dem Titel Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme viel gelesen und kommentiert worden.3 Das Buch Dichte Beschreibung besteht aus insgesamt sieben Aufsätzen, Forschungsberichten, die der amerikanische Kulturethnologe Clifford Geertz über seine Feldforschungen auf Java und Bali schrieb. Der fünfte dieser Beiträge nennt sich „Deep Play. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ und ist einer der kanonischen Texte der Kulturwissenschaften geworden.4 „Die Razzia“ ist in jenem Text der erste von insgesamt sieben Abschnitten, oder Folgen, die jeweils mit einem Untertitel den Text strukturieren. In diesen Folgen entwickelt Geertz Schritt für Schritt seine Interpretation der balinesischen Kultur am Beispiel des Hahnenkampfes. „Die Razzia“ ist, so meine Lesart, die entscheidende Folge für ein Verständnis kulturwissenschaftlicher Forschung im Modus der sinnlichen Anwesenheit und Erfahrbarkeit. Das faszinierende an diesem Text bis heute ist die Beobachtung, dass sich der Text konsequent als ein Primärtext der kulturwissenschaftlichen Forschung entwirft5 und gleichzeitig jene systematische Entwicklung einer neuen Wissenschaft6 in der Form einer ästhetischen Praxis artikuliert. 3 Vgl. Saalmann, Gernot, Zur Aktualität von Clifford Geertz, Wiesbaden (im Erscheinen). 4 Vgl. u. a. Kimmich, Dorothee/Schamma, Schahadat/Hauschild, Thomas (Hg.), Kulturtheorie, Bielefeld, 2010, S. 199-214. Dass Interpretation of Cultures im engen Sinne als ethnografischer Text gilt, wird im Folgenden ausgeblendet – und zwar mit Verweis darauf, dass es Geertz ausdrücklich um eine die Kulturen und die Kultur erforschende Perspektive und Methode geht. 5 Das meint gerade nicht, dass er unumstritten ist, sondern, dass er Begriffe und Methoden bereitstellt, die in der Folge durch Kommentare dauerhaft reproduziert wurden. Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/ Main, 1997, S. 19. 6 Die Kulturwissenschaft(en) kennen mehrere historische Einsätze. Je nachdem, ob man aus der Perspektive der Philosophie, der Philologie, der Geschichtswissenschaft oder der Volkskunde und Ethnologie blickt. Vgl. als einen Ansatz, der jene Disziplinen nicht synthetisiert, aber doch zusammen denkt: Kittler, Fried-
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Auffällig an dem hier zu untersuchenden Textauszug sind gleich zu seinem Beginn zwei scheinbar gegenläufige Konstruktionen. Zum einen wird die spezifische Forschungssituation auf Bali gleich einem naturwissenschaftlichen Versuchsaufbau etabliert. Die erste Folge situiert das Feld der Untersuchung: Zeit- und Raum-Konstellationen werden von Geertz detailliert benannt. Als Leser befinden wir uns im Frühjahr des Jahres 1958, in einem balinesischen Dorf mit etwa 500 Einwohnern. Das Material der Forschung besteht aus diesen Einwohnern Balis und ihrem – ich nenne es vorläufig Verhalten. Und gleich einem Enzym, das keine Reaktion zeigen will, wird der Untersuchungsgegenstand in all seiner materialen Widerspenstigkeit gekennzeichnet: „[alle] ignorierten uns“.7 So beginnt Forschung, fast immer: mit Fehlschlägen. Entscheidend für jenen Auftakt des Textes ist es, dass Geertz damit sein Forschungssetting explizit benennt: er befinde sich auf einer „ethnologischen Untersuchung“ um das „innere Wesen […] der Gesellschaft“8 verstehen zu lernen. Der Text hebt mit einem traditionell konnotierten Forschungsverständnis an, dessen akademische Stützpfeiler zurückgreifen bis zu Francis Bacons Inthronisierung naturwissenschaftlicher Forschung im New Organon von 16209 und gleichzeitig vorgreift auf das, was seit Anfang des 21. Jahrhunderts mit einer Forschergruppe um Helga Nowotny „Mode 1“ genannt wird: „The old paradigm of scientific discovery – characterized by the hegemony of theoretical or, at any rate, experimental science“.10 Der Kulturforscher Clifford Geertz entwirft ein na-
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rich, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München, 2001. Für den ethnologischen Einsatz der Kulturwissenschaften konzentriere ich mich auf Geertz und nicht etwa auf Bronislaw Malinowski, weil erst der historisch betrachtet spätere Einsatz es schafft, eine Form jener neuen Wissenschaft als Kulturwissenschaft zu entwerfen. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, S. 202. Ebd., S. 202 u. S. 208. Vgl. zu den unterschiedlichen Wissensordnungen zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnistheorien in der Frühen Neuzeit mit Bezug auf Descartes, Bacon und Vico: Eusterschulte, Anne, „Wahrheit und Gewißheit. Kulturgeschichte und Erkenntnistheorie bei Giambattista Vico“ in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 4/2 (2010), S. 211-237. Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael, „Introduction. ‚Mode 2‘ revisited: The New Production of Knowledge“, in: Minerva 41 (2003), S. 179-194, S. 179.
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turwissenschaftliches Experimentalsystem, dessen zentrale Behauptung die Praxis der neutralen Beobachtung ist.11 Parallel dazu, dass Geertz seinen Lesern jene Laborsituation präsentiert, konstituiert die erste Folge auch eine Erzählsituation. Es beginnt mit einem rückblickenden Erzählstil, der die Leser sowohl involviert als auch adressiert und damit bereits deutlich macht, dass Forschung vor einem und für ein Publikum stattfindet. Aus der Ich-Perspektive des Forscherautors werden die handelnden Figuren vorgestellt: „Anfang April 1958 kamen meine Frau und ich, malariakrank und ohne großes Selbstvertrauen, in einem balinesischen Dorf an“.12 Diese persönlichen, für den wissenschaftlichen Sprach- und Informationsgebrauch ungewohnten Erläuterungen, bieten weiteren Raum für eine potentielle Identifikation mit den Hauptpersonen. Jenen ist – das wird im Laufe der einführenden Absätze deutlich – die Aufgabe gestellt, sichtbar zu werden. „Meine Frau und ich befanden uns noch immer deutlich im Stadium des Windstoßes, einem höchst frustrierenden und sogar nervenaufreibenden Zustand, der einen schließlich selbst daran zweifeln läßt, ob man tatsächlich existierte“.13 Labor- und Erzählsituation entwerfen somit den Rahmen für eine austarierte Fokalisation: während der Blick im Laboraufbau auf die Forschungsobjekte fällt, die im Sinne einer forschenden Erkenntnis sichtbar werden sollen, fällt der Blick im Rahmen der Erzählung auf die Forschungssubjekte, die nicht sichtbar sind, weil die Forschungsobjekte den Blick zurück verweigern.14 Der so angelegte Spannungsbogen im Blick auf die und im Blick zwischen Subjekten und Objekten der Forschung drängt auf eine Lösung. Jene ergibt sich in „Die Razzia“ als Flucht, spezifischer: als eine 11 Vgl. den Beitrag von Annemarie Matzke in diesem Band. Bettina WahrigSchmidt hat im Blick auf das 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen dem Auge des Beobachters und seinem Material als (mikroskopische) Aufsicht untersucht. Vgl. Wahrig-Schmidt, Bettina, „Das ‚geistige Auge‘ des Beobachters und die Bewegung der vorherrschenden Gedankendinge. Beobachtungen an Beobachtungen von Zellen in Bewegung zwischen 1860 und 1885“, in: Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Objekte – Differenzen – Konjunktionen. Experimentalsysteme im historischen Kontext, Berlin, 1994, S. 23-48. 12 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, S. 202. 13 Ebd., S. 203f. 14 Mieke Bal hat in ihrer Kulturanalyse Gérard Genettes Begriff der Fokalisation über den Rahmen der Literaturwissenschaft hinaus fruchtbar gemacht. Vgl. Bal, Mieke, Kulturanalyse, Frankfurt/Main, 2002, vor allem S. 7-27.
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gemeinsame Flucht, die Clifford und Hildred Geertz mit einer Vielzahl balinesischer Bauern unternehmen müssen, da sie als Zuschauer an einem illegalen Hahnenkampf teilgenommen haben. „Es geschah mitten im dritten Zweikampf – Hunderte von Leuten, darunter (immer noch körperlos) meine Frau und ich, waren rund um den Ring zu einem einzigen Körper, einem wahren Superorganismus, verschmolzen –, als ein Lastwagen voll Polizisten mit Maschinenpistolen herandonnerte.“15 Forschungs- und Erzählperspektive fallen in dieser Szene zusammen. Für die Erzählung ist die Razzia der Ordnungsmacht und der gemeinsame getaway ein dramaturgischer Wendepunkt: das Erzähltempo verschärft sich, die Detaildichte nimmt zu und die Folge wird an dieser Stelle hochgradig bildhaft. Es tauchen miteinander verschmolzene Körper-Massen auf, Lastwagen donnern heran, die Menge schreit und kreischt, löst sich in Panik auf. Menschen kriechen auf dem Boden oder klettern in die Höhe, die scharfen Eisensporen der Hähne messen sich mit den Maschinengewehren der Polizisten. „Die Razzia“ wird an dieser Stelle zu einer guten short-story: einer kurzen, gedrängten Erzählform realistischer Prosa, wie sie in den USA in den 1960er Jahren entstanden ist. Strukturiert durch erzählerische Schnitte, produziert Geertz einen visuellen, bildgenerierenden Rhythmus des Textes. Am Ende der Flucht folgen die beiden Protagonisten einem balinesischen Bauern in dessen Hof, in dem Tee und ein Alibi serviert wird: „ein Tischtuch, drei Stühle und drei Tassen Tee […] und ohne jegliche explizite Verständigung setzten wir uns nieder, begannen den Tee zu schlürfen und unsere Fassung wiederzugewinnen“.16 Die Forschungsperspektive hat in der gemeinsamen Flucht ebenfalls ihren Kairos-Moment. Für wenige Sekunden öffnet sich eine Möglichkeit. Diese ergriffen zu haben, schließt für Geertz die Kultur auf. Und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen und deutlich von ihm benannt, verändert sich der Status des forschenden Erzählers. Er und seine Frau verwandeln sich in den Augen der Einheimischen – und: vor den Augen der Einheimischen – von Outsidern zu Insidern. Erst damit ist Forschung, kulturwissenschaftliche Forschung, buchstäblich möglich geworden: „[…] unser zufälliger Gastgeber wurde einer meiner besten Informanten“17 heißt es, kurz nach der geglückten Flucht. Ge-
15 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, S. 205. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 207.
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ertz ist nun kein Unsichtbarer mehr, er ist in der Kultur.18 Gleichzeitig erscheint die erlebte Episode als Sinnbild der (balinesischen) Kultur, denn in ihr zeigen sich die Praktiken der Kultur. Kultur stellt sich für Geertz als eine Form sozialer Praxis dar, die in einem „selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe verstrickt ist“.19 Jenes Bedeutungsgewebe in der Praxis der Kultur zu lesen, ist Aufgabe der Kulturwissenschaftler, wie die Sekundärliteratur nach Geertz nicht müde wird zu betonen oder zu kritisieren.20 Doch die Lesbarkeit der Kultur, darauf wird zu selten hingewiesen, verweist erstens auf eine geformte Erzählung und ist zweitens nicht ohne Voraussetzung gegeben. Obwohl wir es in der amerikanischen Kulturethnologie mit einem erweiterten und pluralisierten Kulturen-Verständnis zu tun haben, gilt für die von Clifford Geertz entworfene Methodologie: Kultur ist nicht immer und nicht für alle lesbar. Im Gegenteil. Lesbar wird sie nur für diejenigen, die auf der Flucht sind. Kulturwissenschaftliche Forschung zeigt sich in der Fassung als eine narrativ strukturierte Darstellung räumlicher, zeitlicher und sozialer Übergangsbewegungen. Die Flucht markiert jene Übergänge, die erst ermöglichen, dass kulturwissenschaftliche Forschung überhaupt geschieht – im Sinne eines emergenten Ereignisses. Helga Nowotny und andere setzen hier ihre Konzeptualisierung eines Forschungsmodus‘ an, den sie „Mode 2“ nennen und als eine differente Form der Wissensproduktion behaupten: „The research process can no longer be characterized as an ‚objective‘ investigation of the natural (or social) world, or as a cool and reductionist interrogation of arbitrarily defined ‚others‘. Instead, it has become a dialogical process, an intense (and perhaps endless) ‚conversation‘ between research actors and research subjects – to such an
18 In auffälliger Weise hört der Text an dieser Stelle auf, von „meine Frau und ich“ zu schreiben. Hildred Geertz verschwindet aus dem Forschungssetting exakt in dem Moment, in dem sie (und ihr Mann) sichtbar geworden sind. 19 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, S. 9. 20 Kritisiert wird vor allem die Kultur-Text-Metapher. Vgl. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/Main, 1999. Der vorliegende Text entscheidet nicht, ob Kultur als Text lesbar ist, bzw. welche epistemischen Konsequenzen ein solches Kulturverständnis mit sich bringt, sondern er fragt nach der Behauptungslogik der Geertz’schen Erzählung als einer ästhetischen Form.
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extent that the basic vocabulary of research (who, whom, what, how) is in danger of losing its significance.“21
Deutlich ist, wie sehr der hier anvisierte Forschungsmodus mit den oben genannten Beobachtungen korrespondiert. In „Die Razzia“ präsentiert sich der Dialog (beziehungsweise die Blickführung) zwischen Forschungssubjekten und Forschungsobjekten sowohl als Bedingung, wie auch als Ergebnis der kulturwissenschaftlichen Forschung. Und auch der Notwendigkeit eines neuen wissenschaftlichen Vokabulars stellt sich Clifford Geertz, wenn er – angelehnt an das Genre der shortstory und an medial vorgebildete Seherfahrungen der Leserschaft – seine Erzählung als Scienza nuova legitimiert. Die einleitend aufgerufene neutrale Laborsituation, der sich Geertz durch seine Unsichtbarkeit ausgesetzt sieht, wird von ihm gerade als Mangel empfunden und reflektiert. Als Kulturforscher will und muss er aus dem naturwissenschaftlichen Beobachterstatus (Mode 1) in den kulturwissenschaftlichen Teilnehmerstatus (Mode 2) wechseln. Es ist die Übergangsbewegung zwischen diesen beiden Aggregatszuständen, die das Zentrum des Experiments bildet. Dieser Übergang muss glücken weil erst durch jene Flucht andere Wahrnehmungen (der Kultur) möglich sind, beziehungsweise möglich gemacht werden. Wenn Hans-Jörg Rheinberger das Ziel des Experimentierens darin sieht, „die untersuchten Phänomene irgendwie zum Sprechen zu bringen“22, dann ist in „Die Razzia“ abzulesen, unter welchen Bedingungen die kulturellen Phänomene zum Sprechen gebracht werden: Indem der Kulturforscher aus dem Beobachter- in den Teilnehmerstatus flüchtet. Clifford Geertz zeichnet, das ist hinlänglich bekannt, in seinem Text Deep Play ein paradigmatisches Bild für die Methoden der dichten Beschreibung und der teilnehmenden Beobachtung. Ich habe das Motiv der Flucht hier hervorgehoben, weil der Text daran spezifische Subjektivierungsweisen der Kulturwissenschaften entwirft. Dazu gehört die körperlich-sinnliche Praxis der Forschung, die in actu zu einem Gegenstand und zu einer Methode der kulturwissenschaftlichen Forschung wird. Dazu gehört, dass sich der Übergang zwischen den Modi der Forschung auch als ein politischer und moralischer Übergang entwirft. 21 Nowottny, Helga u. a., „Mode 2 revisited“, S. 187. 22 Rheinberger, Hans-Jörg, „Man weiss nicht genau, was man nicht weiss. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 05.05.2007. Online abgerufen unter http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleELG88-1.354487, letzter Zugriff am 17.05.2016.
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Denn nicht nur dass geflüchtet wird und dass vor etwas geflüchtet wird, ist entscheidend: vor der heranrückenden Polizei auf Bali. Sondern auch wohin geflüchtet wird: zu den einfachen Bauern und in ihre schmucklosen Höfe. James Clifford hat diese narrativen Figuren „ethnologische Allegorien“ genannt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie „eine (moralisch aufgeladene) Geschichte“ erzählen.23 Diese Geschichte wird aber nicht nur „über jenes“24 erzählt, wie Clifford fortfährt, sondern sie wird über sich selbst erzählt: als spezifische Subjektivierungsweise der kulturwissenschaftlichen Akteure, die die Bewegung dazwischen zu einer ästhetischen Form werden lassen.25 Rolf Lindner hat in seiner Studie Die Stunde der Cultural Studies gezeigt, dass und wie sich diese Subjektivierungsweise der Kulturwissenschaften in den Vertretern der britischen Cultural Studies der 1960er und 1970er Jahre fortgesetzt hat. Jene gehörten, wie Richard Hoggart und Raymond Williams, den unteren Bildungsschichten in Großbritannien in den 1940er Jahren an und erwarben sich erst über ein Stipendienprogramm der Regierung eine neue, doch zeitlebens befremdende, intellektuelle Identität in Oxford oder Birmingham. Oder sie kamen, wie Stuart Hall, im Zuge der Entkolonialisierung und ebenfalls über ein Stipendienprogramm nach Großbritannien und etablierten dort die Forschung zu Themen wie Postkolonialismus, Gender Studies und Populärkultur – allesamt Felder, die auf neue Weise den kulturwissenschaftlichen Blick auf bis dato gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und Themen lenkten.26 Und dazu gehört im Weiteren, dass jene kulturwissenschaftliche Methode des Übergangs zwischen Beobachter- und Teilnehmerstatus dabei offensichtlich in eine ästhetische Form gebracht ist. Ästhetische Praxis wird „zum methodischen Bestandteil der Forschung, [stellt] aber nicht die Forschungsergebnisse selbst dar“27, wie es Matthias Rebstock 23 Clifford, James, „Über ethnographische Allegorie“, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, S. 200-239, S. 204, im Original kursiv. 24 Ebd. 25 Vgl. den Artikel von Johannes Ismaiel-Wendt in diesem Band, der exemplarisch zeigt, wie jene Bewegung zur Pose erstarren kann. 26 Vgl. Lindner, Rolf, Die Stunde der Cultural Studies, Wien, 2000. Auch Justin Stagl hat in seiner wissenschaftssoziologischen Darstellung der Kulturanthropologie deren „marginale Existenzen“ hervorgehoben. Vgl. Stagl, Justin, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie, Berlin, 1981. 27 Rebstock, Matthias, „Zum Verhältnis von Wissenschaften und ästhetischer Praxis“.
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in seinem Beitrag schreibt. Das wissenschaftliche Ergebnis bleibt die begriffliche Analyse der kulturellen Praktiken, wie sie Clifford Geertz als „Ensemble von Texten“ liest.28 Dass jener Begriff einer Kultur als Text problematisch ist, wurde bereits formuliert.29 Dass sich daran aber gleichzeitig eine ästhetische Form konturiert, in der kulturwissenschaftliche Forschung betrieben wird, soll ein Blick auf den Formbegriff näher zeigen. Die Formen der Kulturwissenschaften: Ästhetische Praxis Es ist naheliegend, dass eine Perspektive auf die Formen, in denen die Kulturwissenschaften betrieben werden, das Werk von Ernst Cassirer zum Anlass nehmen muss. Mit Cassirer kann für die Kulturwissenschaften von einem „Wille[n] zur Form“30 gesprochen werden, wenn man jenen Willen zur Form weniger als anthropologische Ursache und Prinzip denn als eine ästhetische Praxis selbst denkt. Während Cassirer den Formbegriff als erkenntnistheoretischen Zentralbegriff einer Kulturwissenschaft als „werdende Wissenschaft“31 etablierte, die immer zugleich über Formen und in Formen denkt, möchte ich den Blick auf das Sichtbar-Werden von etwas als Form lenken. Bei Cassirer heißt es: „Wir können nur in diesen Formen anschauen, erfahren, vorstellen, denken; wir sind an ihre immanente Bedeutung und Leistung gebunden.“32 Mythos, Religion, die Kunst und die Wissenschaft stellen für Cassirer die symbolischen Formen, in denen sich der Mensch erkennt. 28 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, S. 259. 29 Einige Jahre nach Clifford Geertz hat Joseph Kosuth die Figuren des Künstlersubjekts und des Anthropologen/ Ethnologen noch näher aneinander gerückt, indem er den Künstler als ein Model für den engagierten Anthropologen beschrieb: „The artist-as-anthropologist as a student of culture.“ Vgl. Kosuth, Joseph: „The Artist as Anthropologist“, in: Ders., Art after Philosophy and after. Collected Writings, 1966-1990, Cambridge/Mass., London, 1991, S. 107-128, S. 124. 30 Cassirer, Ernst, Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 3: Geschichte. Mythos, mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie. Sinn, Sprache, Zeit, hg. v. Klaus Christian Köhnke/Herbert Kopp-Oberstebrink/Rüdiger Kramme, Hamburg, 2002, S. 214. 31 Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs [1956], Darmstadt, 1994, S. 229. 32 Cassirer, Ernst, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 209, (im Original kursiv).
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Sie sind das dynamische „System der Mittelglieder“33 zwischen Mensch und Welt, an denen sich die Erkenntnis schult „wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht“.34 Cassirer verwendet den Formbegriff somit nicht im Bezugssystem der Kunst. Nicht um die Relation von Form und Inhalt etwa geht es ihm, wie sie vor allem die moderne Kunsttheorie im und seit dem 18. Jahrhundert geprägt hat35, noch darum, die Form der Kunstwerke mit Benjamin und Adorno als historische Quellen zu lesen.36 Stattdessen wirkt in Cassirers Formbegriff ein relationales und vor allem ein gestaltendes Verhältnis: eine Möglichkeit, sich praxeologisch zur Welt zu verhalten. Jener Moment der Gestaltung zur Welt ist es, der mich hier interessiert. Der Moment – wie auch der Prozess – in dem etwas produzierend als Form sichtbar gemacht wird und rezipierend als geformte Form erkannt wird, ist in meinen Augen als Charakteristikum und Bedingung einer ästhetischen Praxis zu begreifen. Als Abstraktionsbegriff zielt die Form auf das Konkrete, in dem sie jenes Konkrete durch räumliche und zeitliche Abgrenzung erst wahrnehmbar macht. Form konstituiert wahrnehmbare Differenz in Zeit und Raum, sie behauptet darüber hinaus einen ästhetischen und kulturellen Überschuss als Formata; eine als geformt produzierte oder wahrgenommene Form. In diesem Sinne wäre die Formel von Welsch zu ergänzen, in der er ästhetisches Denken definiert: „Es [das ästhetische Denken] muß in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis – im Bunde sein. Ästhetisches Denken ist eines, für das Wahrnehmungen ausschlaggebend sind.“37 Aber nicht jede Art der Wahrnehmung kann konstituierend für ein ästhetisches Denken sein, in dem sich ästhetische Praxis vollzieht. Notwendig ist darüber hinaus, dass die sinnliche Wahrnehmung auf Formen ausgerichtet ist, und zwar auf gestaltete Formen, die es ermöglichen (und 33 Cassirer, Ernst, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt, 1961, S. 26. 34 Cassirer, Ernst, Philosophie der Symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache [1956], Darmstadt, 1994, S. 11. 35 Vgl. Voßkühler, Friedrich, Kunst als Mythos der Moderne: kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari, Würzburg, 2004. 36 Vgl. Krankenhagen, Stefan, Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln, Weimar, Wien, 2001, vor allem S. 21-81. 37 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart, 1993, S. 46.
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verlangen), dass man sich zu ihnen in ein Verhältnis setzt, das epistemologisch ausgerichtet sein kann, sich aber nicht darauf beschränkt. Nur was als geformte Form wahrgenommen wird, erlaubt den Überschuss einer ästhetischen Wahrnehmung, respektive eines ästhetischen Denkens. Entscheidend ist deshalb, erstens, dass jene Formen nicht in ihrem symbolischen Gehalt aufgehen oder notwendigerweise auf jenen abzielen. Anders als von Cassirer entwickelt, ist ein ästhetisches Denken in Formen nicht ausschließlich an deren „immanente Bedeutung gebunden“, sondern als Erkenntnis an die ästhetische Erfahrbarkeit von etwas als Form geknüpft. Dieses ‚etwas‘ ist, zweitens, nicht auf die traditionellen Künste zu reduzieren. Kulturwissenschaften, die die ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode ihrer Forschung verstehen, lassen es zu, nicht nur Ensembles ästhetischer Praktiken als eine Form zu beobachten und zu analysieren, sondern ebenso soziale, wissenschaftliche, popkulturelle und weitere Praktiken: sofern sie denn als eine geformte Form wahrnehmbar werden und derart rezipiert werden. Entscheidend ist, im Sinne Michael Lingners, dass ästhetische Praxis eine Form sowohl besitzt als auch beobachtbar macht. Ästhetische Praxis verlangt und ermöglicht somit eine Sensibilität für Formen sowohl in ihrem raumzeitlichen Geformt-Sein als auch in ihrer „Realisierungsperspektive“.38 Dieses gilt im Blick auf die Formen eine wissenschaftliche Erzählung nicht anders als für eine Theateraufführung, für einen Flashmob nicht weniger als für einen Hahnenkampf. Oder es wird – wie bei Jean-Jacques Rousseau – ein ganzes Leben als Form wahrnehmbar gemacht. Jean-Jacques Rousseau: Der marginal man Mit Clifford Geertz zeichnet sich nicht nur eine ästhetische Form ab, in der sich kulturwissenschaftliche Forschung ereignet, sondern es wird auch die Figur des kulturwissenschaftlichen Forschers sichtbar, dessen spezifische Subjektivierungsweisen bereits angedeutet worden sind. Denn forschende Praxis und forschendes Subjekt sind in den Kulturwissenschaften auf eminente Weise verknüpft. Die Kulturwissenschaf-
38 Lingner, Michael, „Krise, Kritik und Transformation des Autonomiekonzepts moderner Kunst“, in: Ders./Pierangelo Maset/Hubert Sowa (Hg.), ästhetisches dasein. Perspektiven einer performativen und pragmatischen Kultur im öffentlichen Raum, Hamburg, 1999, S. 25-45, S. 43.
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ten sind eine Reflexionswissenschaft.39 Sie reflektieren dabei nicht nur den Gegenstand der Kultur und der Kulturen, sondern auch den Gegenstand des forschenden Selbst. „Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun.“40 Kaum einer hat die Selbstbeobachtung der Kultur am Selbst so ertragreich zelebriert, wie Jean-Jacques Rousseau. Auf ihn trifft zu, dass ein Leben zur Form werden kann; zu einer ästhetischen Praxis, die dann wiederum Gegenstand und Methode der kulturwissenschaftlichen Forschung begründet. So ist es zu verstehen, wenn Cassirer von dem „Problem JeanJacques Rousseau“ schreibt, in dem sich Leben und Werk zusammenschließen: „Rousseaus Grundgedanken, wenngleich sie unmittelbar aus seinem Wesen und seiner Eigenart entspringen, [stellen] dennoch […] eine objektive Problematik vor uns hin“.41 Was Cassirer in seinem Aufsatz als „die ganze innere Problematik des Formbegriffs“42 bezeichnet, möchte ich in der von mir eingenommenen Perspektive als die produktiven Widersprüche untersuchen, die aus der Entscheidung erwachsen, ästhetische Praxis zum Gegenstand und zur Methode der kulturwissenschaftlichen Forschung zu machen. Produktive Widersprüche, die gegenwärtig unübersehbar sind in einem Feld zwischen künstlerischer Forschung, performance lectures und der „Pop-Kulturalisierung des akademischen Diskurses“.43 Doch nicht erst „das enthemmte Wissen“44 der Gegenwart prozessiert jene Widersprüche, sondern bereits die Aporien einer kulturwissenschaftlichen Forschung, die sich schon immer als ästhetisch geformt entworfen hat. Dies gilt in besonderem Maße für den culture performer Jean-Jacques Rousseau. Dass Rousseaus Biografie nahe legt, dass sein Leben ganz konkret ein Leben auf der Flucht gewesen ist, soll hier weder strapa39 Friedrich Kittler lässt deshalb seine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft mit der Spiegel-Metapher Giambattista Vicos beginnen (vgl. Kittler, Friedrich, Eine Kulturgeschichte, S. 22); Dirk Baecker lässt seine systemtheoretische Perspektive auf die Reflexionsleistungen der Kultur kongenial in der Phrase „Wie interessant“ kulminieren. Vgl. Baecker, Dirk, Wozu Kultur?, Berlin, 2003, S. 46-50. 40 Cassirer, Ernst, Versuch über den Menschen. Eine Einführung in die Philosophie der Kultur, Frankfurt/Main, 1995, S. 50. 41 Cassirer, Ernst, „Das Problem Jean-Jacques Rousseau (1932)“, in: Ders., Aufsätze und kleine Schriften (1932-1935), Hamburg, 2004, S. 3-82, S. 7. 42 Ebd., S. 3. 43 Lindner, Rolf, Die Stunde der Cultural Studies, S. 109. 44 So der Titel einer Aufsatzreihe zur Bedeutung der Cultural Studies in der Spex. Vgl. Holert, Tom, „College Rock. Die Ästhetik von Cultural Studies“, in: Spex 7 (1995), S. 54f.
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ziert noch unterschlagen werden.45 Der auffälligste, selten genannte Zug im Leben Rousseaus ist dabei die Tatsache, dass er in allem, was er tat, Autodidakt war. Rousseau war ein Dilettant. Als Sohn eines Uhrmachers hat er selber kein Handwerk erlernt, hatte aber auch nicht die Möglichkeit der höheren Bildung ergriffen. Wenige Monate in einer Dom-Musikschule, hatten ihm angeblich das Rüstzeug für seine musikalische Karriere gegeben. Rousseau war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und seit drei Jahren alleine oder mit zufälliger Bekanntschaft auf Wanderschaft. Rousseau, gleichwohl heute als Philosoph geführt, hat nie eine Universität besucht. In einer Zeit, in der die Philosophie der Religion den Anspruch als Leitdisziplin streitig gemacht hat, war der Autodidakt Jean Jacques Rousseau ein intellektueller Außenseiter. Genau daraus hat er Kapital geschlagen, hier setzt das ein, was man eine gescheiterte, aber doch produktive Flucht in die Freiheit des Autodidakten nennen könnte.46 In dem historischen Moment, in dem der Mensch aufgefordert ist, sich seines Verstandes selbständig zu bedienen, ist der Autodidakt die konsequenteste Figur eines freien Menschen. Um als ein solch dilettantischer Außenseiter sichtbar zu werden, muss er seinem Leben eine Form geben; er muss als eine exemplarische Existenz sichtbar werden. „Der exemplarische Charakter der Existenz Rousseaus rührt daher“, so Robert Spaemann, „daß er die Paradoxien des neuzeitlichen, nicht-teleologischen Naturbegriffs erstmals in seinem Werk und in sich selbst zur Darstellung gebracht hat“.47 Eine exemplarische Existenz in der Moderne ist somit – und bis heute – eine dilemmatische Existenz. Als exemplarische Existenz macht Rousseau vor – konsequenter noch als Clifford Geertz auf Bali – wie sich kulturwissenschaftliche Forschung ereignet, oder – im Blick auf normative Subjektivierungsweisen – wie sie sich zu ereignen hat: als eine Übergangsbewegung unter Einsatz des eigenen Lebens. Robert E. Park, Begründer der Chicago School of Sociology und Schüler von Georg Simmel, prägte für diese Figur in den 1920er Jahren den Begriff des marginal man: „one who 45 Nachzulesen etwa in der Biografie von Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München, 1988. 46 Georg Stanitzek hat konzise nachgezeichnet, wie im 18. Jahrhundert Blödigkeit, Naivität, Dilettantismus dem bürgerlichen Subjektentwurf gedient haben. Obwohl die Figur des Autodidakten in seiner Untersuchung fehlt, gehört sie zu demselben Feld. Vgl. Stanitzek, Georg, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen, 1989. 47 Spaemann, Robert, Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne, Stuttgart, 2008, S. 17.
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lives in two worlds, in both of which he is more or less of a stranger“.48 Park zieht in seinem Aufsatz die Figur des Fremden, des Migranten und die des Juden zu einer gemeinsamen Formation zusammen, die durch lebensweltliche Entfremdung, kulturelle Hybridität und intellektuelle Reflexivität geprägt ist. Entscheidend dabei ist, dass Park den marginal man zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaft macht: „It is in the mind of the marginal man that the moral turmoil which new cultural contacts occasions manifests itself in the most obvious forms. It is in the mind of the marginal man – where the changes and fusions of culture are going on – that we can best study the processes of civilisation and of progress.“49 Der marginal man – in meiner Lesart: der Kulturforscher, die Kulturwissenschaftlerin – wird zum eigentlichen Ort, an dem sich Forschung ereignet. Rousseau ist in diesem Sinne ein marginal man des 18. Jahrhunderts. An ihm lässt sich beobachten, wie der hybride Charakter der kulturwissenschaftlichen Forschung – „[its] intellectual bias“50 – produktiv wird. Denn jene Differenzerfahrung, die Kultur nicht nur beobachtet, sondern im eben entwickelten Sinne auch selbst ist, wird in Rousseau exemplarisch sichtbar und als Fragestellung erkenntnisleitend. „Rousseau hat nicht nur sich dargestellt, und er hat noch weniger nur eine objektiv-allgemeine Anthropologie gegeben, sondern er hat zugleich auf die geschichtlichen Bedingungen der Entzweiung […] reflektiert“.51 Rousseau muss die differenten Positionen gleichzeitig besetzen; konsequenter noch als Geertz gibt er nicht dem Übergang zwischen den Kulturen eine Form, sondern ihrer differenten Gleichzeitigkeit. Rousseau ist wie ein Schmuck-Eremit, der einsam inmitten angelegter Landschaftsparks lebt und zu bestimmten Zeiten vor den Besitzern des Parks und ihren Besuchern erscheint. Als exemplarische Existenz gibt er der Differenz, die Kultur beschreibt und produziert, eine Form. Dass jene Form als ästhetische Praxis wahrnehmbar wird, zeigt sich immer wieder an Rousseau. Am deutlichsten wohl in seinem Schritt in die Verkleidung. Rousseau muss zum Darsteller eines Selbst werden und dabei ist es nicht zufällig, dass er sich in seiner Verkleidung den Ausgestoßenen der Zeit nähert. Rousseau trat, wie es sowohl beschrie48 Park, Robert E., „Human Migration and the Marginal Man“, in: American Journal of Sociology 33/6 (1928), S. 881-893, S. 893. 49 Park, Robert, „Human Migration and the Marginal Man“, S. 893. 50 Ebd., S. 888. 51 Spaemann, Robert, Rousseau, S. 26 (im Original kursiv).
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ben wird, als es auch druckgrafische Zeugnisse davon gibt, ab Mitte der 1760er Jahre in einem Armenier-Kostüm in die Öffentlichkeit. Zum einen bediente er damit den damaligen Orient-Chic Pariser Intellektueller (und somit eine Kulturleistung), zum anderen wird performativ sichtbar, was sich im Motiv der Flucht als eine Subjektivierungsweise durch die Kulturwissenschaften zieht: Wie man flüchtend die Forschungsobjekte zum Sprechen bringt, wie man Außenseiter und Ausgestoßene als Figuren des Zentrums darstellt, wie man mit ästhetischer Praxis als Gegenstand und Methode einer Wissensproduktion umgeht: das alles lernt man existentiell. Wer als Kulturwissenschaftler existentielle Erfahrung mit dem Gegenstand seiner Forschung gemacht hat – und dieser Gegenstand heißt dabei nicht Literatur oder Kunst, Medien oder Theater, sondern er heißt: Differenzen zu produzieren und die derart möglich und nötig gewordenen Übergänge zu reflektieren und als ästhetische Praxis einzuholen – der ist als forschendes Subjekt legitimiert, Aussagen über seine Gegenstände zu machen. Als Methode ist die ästhetische Praxis notwendigerweise in Gefahr, die begriffliche Anschlussfähigkeit ihrer Forschung gleichzeitig zu unterlaufen und zu überbieten. Denn als eine Methode, die auf existentielle Erfahrungen rekurriert, setzt sie sich der Gefahr der Nicht-Kommunizierbarkeit aus, wie es auch Welsch sah und wie es etwa Dirk Baecker im Hinweis auf Clifford Geertz beobachtet: „Auch die Theorie verweigert die Auskunft, denn sie legt Wert darauf, nicht als ihr eigener Herr zu erscheinen.“52 Gleichzeitig – und diese Erkenntnis erlaubt erst ein Blick auf die Formen der kulturwissenschaftlichen Forschung – wird die Differenz zwischen begrifflichem Anschluss und ästhetischer Praxis selbst zum Gegenstand der Forschung und resultiert in einer kontinuierlichen Reflexion darüber, was ästhetische Praxis sei.
52 Baecker, Dirk, „Kultur“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3., Stuttgart, Weimar, 2002, S. 510-556, S. 511.
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Künstler unter (Selbst-)Beobachtung – Formen forschender Theaterpraxis „Kunst ist das einzige was den Leuten bleibt, die der Wissenschaft nicht das letzte Wort lassen wollen“1 – so Marcel Duchamp. Schaut man auf die gegenwärtige Diskussion um künstlerische Forschung, dann scheint die Wissenschaft vielleicht doch das letzte Wort zu behalten. Künstlerische Forschung, Kunst als Forschung, Practice as Research, Research Based Practice – unter diesen Labeln wird gegenwärtig eine Debatte um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Kunst und Wissenschaft, von Forschung und Lehre künstlerischer Praxis geführt. Dabei sind die Vorstellungen von künstlerischer Forschung äußerst unterschiedlich: Zwischen Fragen der Wissensgenerierung im Tun des Künstlers, über die Hoffnung durch die Künste neue Formen des Forschens für andere Wissenschaften zu entwickeln bis hin zur Angst einer Verwissenschaftlichung der Künste spannt sich die Debatte. Im metaphorischen Transfer von Begriffen aus der Kunst oder der Wissenschaft auf die jeweils andere Disziplin eröffnet sich nicht selten eine problematische Entdifferenzierung.2 Wie können also jene Formen zwischen künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Theoretisierung beschrieben werden, ohne die historisch entstandenen und funktional bedingten Unterschiede der beiden Disziplinen – Kunst und Wissenschaft – zu vernachlässigen? Dies möchte ich im Besonderen hinsichtlich der Frage diskutieren, wie eine spezifisch forschende Theaterpraxis zu bestimmen sei. „Dass das Theater ein Laboratorium oder eine Versuchsanordnung ist, braucht man heutzutage keinem Schauspieler mehr erklären, das ist gang und gäbe“3, erklärt der Regisseur Armin Petras in einem Interview zu seiner Theaterarbeit und erläutert, was er darunter versteht: die Proben als für jede Inszenierung neu zu definierender Prozess mit jeweils eigenen Verfahren. Der Versuch oder das Experiment als ein Auspro1 Stauffer, Serge, Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Stuttgart, 1991, S. 198. 2 Vgl. dazu Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München, 2007; Bippus, Elke (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Berlin, Zürich, 2009. 3 Raddatz, Frank M., Brecht frisst Brecht, Berlin, 2007, S. 188.
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bieren von Möglichkeiten und eine Suche im Unbekannten ist (nicht nur) in der jüngeren Theatergeschichte ein eigener Topos. Die experimentelle Verfasstheit der Theaterpraxis wird immer dann in Anschlag gebracht, wenn es gilt, das Andere, Neue oder Widerständige zu betonen. Über die Orientierung an den Wissenschaften legitimiert sich die künstlerische Praxis in einer auf Effizienz ausgerichteten Gesellschaft. Verbunden ist damit ein emphatischer Blick auf das Experiment als Instrument zur Hervorbringung von neuem Wissen. Der Künstler verschreibt sich einer wissenschaftlichen Wahrheit. Keine generalisierten Verfahren, sondern die Suche im Unbekannten wird zum Paradigma der Probenarbeit.4 Mit dem Blick auf ein mögliches Konzept einer forschenden Theaterpraxis stellt sich allerdings die Frage, wie das Konzept des Experimentierens über das Ausprobieren neuer Formen von Theater hinaus genauer gefasst werden kann. Wie kann zwischen einer forschenden Praxis der theatralen Darstellung und dem, was wir gemeinhin als Theaterpraxis bezeichnen – also dem Produzieren, Herstellen, Verfertigen von Inszenierungen –, differenziert werden? Dies impliziert zugleich die Frage nach dem, was eigentlich erforscht wird. Für meine Bestimmung einer forschenden Theaterpraxis ist dabei die Annahme leitend, dass in Prozessen des künstlerischen Produzierens unterschiedliche Formen des Wissens angewendet und transformiert oder hervorgebracht werden, die in Körperpraktiken, Arbeitstechniken und ästhetischen Verfahren zum Ausdruck kommen. Jede Art von künstlerischem Produzieren ist demnach sowohl durch theoriegeleitete als auch durch praxisorientierte Prozeduren gekennzeichnet. Eine forschende Theaterpraxis müsste nun darauf zielen, jene Prozeduren reflektierbar und diskursivierbar zu machen. Unter einer forschenden Theaterpraxis wäre damit die Arbeit an der Potentialität des Theaters in der theatralen Praxis selbst zu verstehen. Nicht im Sinne eines Fortschrittsdenkens als Entwicklung eines immer anderen und besseren Theaters, sondern als Reflexion der Möglichkeiten und Bedingungen des Theaters und seiner theatralen Mittel. Dies kann unter zwei Perspektiven geschehen: Erstens als Suche nach den Möglichkeiten, Verfahren und Mitteln des Hervorbringens, Entwerfens und Konzipierens von Theater – als eine Arbeit am Produ4 „Seit der Besinnung des Theaters auf die unabhängigen von dem zu realisierenden Text in ihm schlummernden künstlerischen Ausdruckspotentiale ist es wie die anderen Kunstformen auch in die schwierige und riskante Freiheit des fortwährenden Experiments geworfen.“ Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt/Main, 1999, S. 81.
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zieren von Theater (und den Vorstellungen davon, was Theater sein kann). Zweitens im Sinne eines Verständnisses des Theaters als Labor, z. B. in der Untersuchung, wie die theatrale Situation selbst zu definieren ist, in der Konzeption möglicher Zuschauerpositionen, im Durchspielen von Subjektmodellen der Performer – als Arbeit an der Form des Theaters. In den Blick rückt damit auch eine neue Bestimmung des Experimentellen in der theatralen Praxis. Nicht als Suche nach dem Neuen, sondern als Experimentalanordnung, wie sie die neuere Wissenschaftstheorie beschreibt. Wenn eine forschende Theaterpraxis als spezifisches Instrument der Wissensgenerierung gefasst wird, dann lassen sich über die Auseinandersetzung beispielsweise mit dem Experimentalaufbau neue Erkenntnisse gewinnen, wie im Theater Wissen hervorgebracht wird: nicht als eine vage Suche im Ungewissen, sondern als Frage nach Macht- und Wissensgefügen. Innerhalb der Etablierung der Wissenschaften wird das Experiment als ein unter kalkulierten Bedingungen ablaufendes Verfahren zum Hervorbringen von wissenschaftlichen Erkenntnissen verstanden. Es impliziert eine besondere Darstellungspraxis: Das Experiment muss durch- und aufgeführt werden, um etwas anderes überhaupt hervorbringen zu können. Hier trifft sich das Experiment mit performativen Verfahren künstlerischer Praxis wie dem Proben als eine Aktivität des Verfertigens, Organisierens, Durchführens und auch des Zeigens. Forschende Theaterpraxis wie Experiment haben damit gemein, dass ihr Ergebnis niemals ganz vorhersehbar ist.5 Beide lassen sich damit nach Hans-Jörg Rheinberger als Suchprozess zwischen Wissen und Un-Wissen fassen. Jedes Experiment dabei setzt einen Wissensstand voraus, von dem der Wissenschaftler ausgeht, den er aber verschieben oder verändern möchte. Damit gehört zur experimentellen Praxis immer auch das Infragestellen von Wissen.
5 Diese Ergebnisoffenheit hat aber unterschiedliche Konsequenzen: Das Experiment kann fehlschlagen und zu keinem verwertbaren Ergebnis kommen. Der Probenprozess aber kann nur Scheitern, wenn es zu keiner Aufführung kommt. Von Scheitern kann hinsichtlich der Aufführung nur aus der Perspektive der Kritiker, Zuschauer oder der ökonomischen Verwertbarkeit der Inszenierung gesprochen werden. Insofern bleibt zu fragen, ob die Figur des Experimentellen nicht zur Verschleierung der Bedingungen des Produzierens, von Hierarchien und Entscheidungsprozessen dient.
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Die Wissenschaftsforschung weist in diesem Kontext daraufhin, dass Experimente nicht ergebnisoffen sind, sondern sie bringen durch ihren Aufbau, ihre Umgebung selbst spezifische Ergebnisse hervor. Ebenso läuft der Forschungsprozess selbst ungeordneter als in der Forschungsliteratur im Nachhinein dargestellt. Erst im Rückblick wird eine Gradlinigkeit des Forschungsprozesses konstruiert.6 Hans-Jörg Rheinberger schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff des Experimentalsystems als „eigentliche Arbeitseinheiten gegenwärtiger Forschung“ vor: „In ihnen sind Wissensobjekte und die technischen Bedingungen ihrer Hervorbringung unauflösbar miteinander verknüpft. Sie sind zugleich lokale, individuelle, soziale, institutionelle, instrumentelle, und vor allem epistemische Einheiten.“7 Solche Systeme sind nicht auf die Wissenschaften beschränkt. Rheinberger führt das Schreiben als Beispiel für eine Experimentalanordnung in den Künsten an, das den Gedanken eine materielle Verfassung gibt. In diesem Sinne kann auch eine forschende Theaterpraxis als Experimentalsystem untersucht werden: in der Überkreuzung individueller künstlerischer Fragen, der institutionellen Bedingungen des Theaters, als sozialer Arbeitsverbund, im Einsatz spezifischer Techniken und Instrumente. Zu fragen ist also nicht nur, welche Techniken und Verfahren angewendet werden, um im Theater und beim Machen von Theater Wissen zu generieren, sondern ebenso sind institutionelle Bedingungen, soziale Arbeitsbündnisse oder die konkreten materiellen Bedingungen der Probenarbeit zu untersuchen. Damit eröffnet sich auch ein anderes Verhältnis von Theaterwissenschaft und Theaterpraxis. Die gegenwärtige theaterwissenschaftliche Forschung legt ihren Fokus auf die Aufführungspraxis, die es dem Wissenschaftler erlaubt ausgehend von einem ihm zugewiesenen Platz als expert spectator Inszenierungen als Arbeit an einer neuen Form des Theaters zu analysieren, zu theoretisieren und sie aus der Distanz auf Begriffe zu bringen. Anders ist es mit den Praktiken des Probens und Hervorbringens. Die Theaterwissenschaft tut sich schwer damit, Forschungsperspektiven für jene Formen des Produzierens zu entwickeln. 6 Vgl. Bachelard, Gaston, Die Bildung des wissenschaftlichen Genies, Frankfurt/ Main, 1984; Latour, Bruno, Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge/Mass., 1987; Rheinberger, Hans-Jörg, Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg, 1992; Ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen, 2001. 7 Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme, S. 8.
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Dies ist unter anderem damit zu erklären, dass dem Wissenschaftler im Produzieren kein Ort der Beobachtung zugewiesen ist. Anders als in der Aufführung, die meist schon einen von der Szene distanzierten Zuschauerblick impliziert, gibt es in den Proben keine distanzierte Beobachtungsposition. Dies mag der Grund sein, warum die Theaterwissenschaftler, wenn sie über das Hervorbringen von Theater schreiben, sich oft auf die bekannten Topoi zurückziehen. Der Blick in die Praxis wird präsentiert als Einblick in ein vermeintlich geheimnisvolles Schaffen. Die Untersuchung der Inszenierungsarbeit dient zur didaktischen Erklärung, um die Inszenierung besser zu verstehen. Nicht selten wird damit zugleich an einer Re-Etablierung des Regisseurs als intentionalem Künstlersubjekt gearbeitet, dessen Ansatz und Probenarbeit erklären kann, wie die Inszenierung gemeint ist. Probenprozesse werden anhand von Künstlerinterviews rekonstruiert. Für die Beobachtung theatraler künstlerischer Praktiken aus Sicht der Theaterwissenschaft scheint es keinen Ort zu geben. Eine Möglichkeit wären jetzt Ansätze aus der Ethnografie heranzuziehen, reflektierte Methoden der Beobachtung zu entwickeln, die auch die Frage eines nicht-intentionalen Tuns, des Geschehen-Lassens im Produzieren in den Blick nehmen könnten: der Beobachtung einen Ort zu geben.8 Allerdings gibt es bereits Positionen der Beobachtung der Praktiken des Produzierens in der theatralen Praxis selbst, mit denen sich ein anderer Ansatz im Sinne einer forschenden Theaterpraxis formulieren lässt. Denn es gibt verschiedene Formen und Formate, in denen Künstlerinnen und Künstler Praktiken und Verfahren des Produzierens und Hervorbringens von Theater reflektieren. Welche Modelle von theatraler Praxis und Praktiken des Forschens werden hier entworfen? Dies möchte ich einleitend anhand meiner eigenen Erfahrung als Performerin diskutieren. Das eigene Tun theoretisieren Seit 1994 arbeite ich mit dem Performance-Kollektiv She She Pop. Prinzip unserer Arbeiten ist die gemeinschaftliche Entwicklung unserer Inszenierungen. Es gibt keine Aufteilung in Dramatikerin, Regisseurin 8 Bisher gibt es hier nur vereinzelte Ansätze ethnografische Methoden und Probenbebachtung zusammen zu denken. Vgl. dazu MacAuley, Gay, „Towards an ethnography of rehearsal“, in: New Theatre Quarterly 53 (1998), S. 75-85 sowie Harvie, Jen/Lavander, Andy, Making Contemporary Theatre. International rehearsal processes, Manchester, New York, 2010.
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und Schauspielerin. Alle schreiben ihre Texte selbst, arbeiten mit an dem Entwurf einer theatralen Situation, nehmen im Inszenierungsprozess einen Außenblick ein und stehen selbst auf der Bühne. Wie ein solcher Probenprozess aussieht, lässt sich exemplarisch an unserer Inszenierung Testament zeigen, die 2010 Premiere hatte. Ausgehend von Shakespeares King Lear, jenem Drama um Alter und Verfall, Erbe und Verrat, in dem der alte König abdanken will und aus diesem Grund zwischen seinen Töchtern einen rhetorischen Wettstreit inszeniert, baten wir unsere eigenen Väter mit uns auf die Bühne. Unter der Zeugenschaft des Publikums wird – entlang der Motive von Shakespeares Drama – über die gemeinsame Zukunft, Erbe und Pflege, Liebesschwüre und Generationswechsel verhandelt. Nicht nur die private Situation von Vater und Tochter ist Thema, auch die vorherigen Proben finden Eingang in die spätere Inszenierung. Innerhalb der Inszenierung gibt es vier Sequenzen, in denen Gespräche aus den Proben präsentiert werden. Über Kopfhörer hören die Performer Aufzeichnungen aus dem Probenraum und sprechen die eigene (aufgenommene) Stimme mit. Für die Zuschauer ist nur das Nachsprechen, nicht aber die Originalaufnahme hörbar. Innerhalb dieser Gespräche werden Fragen und Themen verhandelt, die sich analog zur Handlung des Dramas lesen lassen: Die Töchter, die hinter dem Rücken des Vaters über dessen Unzurechnungsfähigkeit verhandeln; die Weigerung des Vaters, sich auf die von den Töchtern vorgeschlagene Vereinbarung einzulassen; die Drohung der Väter au aus dem Probenprozess auszusteigen als Analogie zum Auszug Lears in die Heide. „So mache ich das nicht mit, da lass ich auch die Vorstellung platzen“, sagt einer der Väter – und dass er dies während der Aufführung sagt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Der Konflikt auf der Bühne konstituiert nicht nur das Verhältnis von Vätern und Töchtern, sondern verweist auf einen anderen Konflikt, der hier als Widergänger der Proben auftaucht. Verhandelt werden in diesen wiederholten Probengesprächen nämlich auch Modelle theatraler Praxis. In der Auseinandersetzung darüber, was auf der Bühne gesagt werden darf und soll, wird eine Theorie der Darstellung entwickelt. Beispielsweise wird die Frage aufgeworfen, wer spricht, wenn die Performerin auf der Bühne „ich“ sagt. Nicht nur das Verhältnis von Selbst und Rolle wird thematisiert, sondern auch gegenteilige Konzepte von (Selbst-)Darstellung auf der Bühne werden kontrovers diskutiert. In diesen rekonstruierten Probengesprächen wird das Konzept einer Arbeitsform präsentiert, die sich als ein kollektives Sprechen vorstellt. Es ist ein Sprechen, das an keine individuelle Stimme gebunden ist, kein Ende findet, durchzogen
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ist von willkürlichen Zäsuren und Pausen. Aufgeführt wird die Idee einer Probengemeinschaft, die nicht in eine Stimme überführt werden kann, sondern die in einer sich durch Stottern, Widersprüche und Versprechern auszeichnenden, dialogischen Praxis erst hervorgebracht wird und im Moment der Aufführung immer schon vergangen ist. Der Dialog reflektiert damit erstens das Bühnengeschehen, zweitens die Spielweisen auf der Bühne, drittens die Dramenhandlung und schließlich das kollektive Arbeitsszenario, in dem die Inszenierung entstanden ist. Zusammenfassend ließe sich so sagen, dass hier auf der Szene ein Modell theatraler Arbeit entworfen wird, das sich durch Kollektivität und Reflexivität auszeichnet. Für die Frage einer forschenden Theaterpraxis eröffnet sich eine eigene Perspektive: Erzählt wird in der Inszenierung auch die Geschichte ihrer Entstehung – ein making of 9 – weder als lineare Erzählung, noch vollständig, sondern fragmentarisch, fehlerhaft, mit Umwegen und Störungen. Dabei wird in dieser Erzählung und durch ihre Form ein eigenes Modell theatralen Produzierens entworfen. Die Reflexion über die künstlerische Praxis des Hervorbringens und Konzipierens findet in einer anderen theatralen Praxis statt, der des Zeigens und Aufführens. Für eine solche selbst-reflexive Praxis lassen sich zahlreiche Beispiele finden. Etwa die Solo-Abende des Choreografen Jérôme Bel mit Tänzern wie’ Véronique Doisnau, André Cedrieux, Lutz Förster – die innerhalb der tanzwissenschaftlichen Forschung bereits analysiert wurden – lassen sich in diesem Sinne auch als Narrativ einer Entstehungsgeschichte lesen: einer Praxis, die diese Tänzerbiografien und Tänzerkörper hervorgebracht hat und weiter hervorbringt. Ein anderes Beispiel sind die Inszenierungen der spanischen Regisseurin Cuqui Jerez, beispielsweise mit dem einschlägigen Titel The Rehearsal. Sie spielen mit der Situation des Hervorbringens von Theater im Moment der Aufführung. Aus Sicht einer theaterwissenschaftlichen Forschung, die sich schwer damit tut, ihre Perspektive von der Position des Zuschauers auf Praktiken des
9 Vgl. dazu die von Stefanie Diekmann und Stefan Krankenhagen veranstaltete Tagung Making of, Hildesheim 2013 sowie Volker Wortmann, Mit Bildern Praxis denken. Poetische Szenarien im Film – als Theorie, in: Stephan Porombka/ Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Theorie und Praxis der Künste, Tübingen, 2008, S. 117-147 sowie Ders., „Special extended: Das Filmteam als kreativer Kollektiv-Körper im ‚making of …‘“, in: Hanns-Josef Ortheil/Hajo Kurzenberger/Matthias Rebstock (Hg.), Kollektive in den Künsten, Hildesheim, 2008, S. 39-60.
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Hervorbringens von Inszenierungen zu verschieben, bietet sich hier ein eigener methodischer Ansatz an, der das Spezifische einer forschenden Theaterpraxis mit in den Blick nimmt. Nimmt man diese Inszenierungen als eigenständige Forschungspraxis ernst, dann ergeben sich für die Theaterwissenschaft zwei neue Perspektiven: Erstens kann anhand dieser Formate darüber nachgedacht werden, wie künstlerisches Produzieren beobachtet und beschrieben werden kann, ohne selbst wiederum in die Position eines Betrachters von außen zu verfallen, der aus einer gesicherten Perspektive über die Kunst spricht. Was sich bietet, sind Selbst-Beobachtungen kreativer Prozesse innerhalb der Kunst. Zweitens entwerfen hier Künstler zugleich Modelle von theatralem Schaffen, die strukturelle, gesellschaftliche und ökonomische Fragestellungen mit einbeziehen. Insofern lassen sich solche Inszenierungen theatralen Produzierens als Theorien künstlerischer Praxis untersuchen, die in der Praxis über die Praxis sprechen. Portrait des Choreografen als Forscher Auf die leere Bühne tritt ein Mann in einem roten T-Shirt. Er stellt sich mit dem Rücken zum Publikum. Stille. Er hebt den rechten Arm, hält kurz inne, mit dem Ausatmen setzt die Musik ein: Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky. Zu sehen ist eine Choreografie. Gezeigt werden Bewegungen zur Musik oder mit der Musik, entzifferbar als die eines Dirigenten. Was fehlt ist das Orchester, der Konzertsaal, die Noten. Die Reduzierung des Aufbaus auf die Bewegungen des Dirigenten und die Ausblendung des Orchesters werfen dabei Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Musik und Bewegung auf. Dazu trägt auch die räumliche Position des Publikums bei: Ihm wird gezeigt, was normalerweise in der Aufführung eines Konzertes nicht oder nur teilweise sichtbar ist: die Mimik des Dirigenten und damit das, was normalerweise nur die Musiker sehen. Deren Platz nimmt jetzt das Publikum ein, nicht nur räumlich, sondern auch hinsichtlich der Hervorbringung des Klangs. Unter den Sitzen der Zuschauer befinden sich Lautsprecher. Geordnet wie die Instrumentengruppen im Orchester werden sie mit der jeweiligen Soundspur der Instrumentengruppe gespeist. Das Verhältnis von Hören und Schauen, von Bewegung und Klang wird hier auf verschiedene Weisen zueinander in Relationen gesetzt. Die imaginative Dimension der Bewegung und Musik herausgestellt. „Wenn man Musik in ihrem vollen Umfange verstehen möchte, ist es notwendig, auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Kör-
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pers zu sehen, durch die sie hervorgebracht werden“10, erklärt Igor Strawinsky – die Reduzierung auf die Bewegungen des Dirigenten in der Choreografie eröffnet grundlegende Fragen an diesen Verstehensprozess: Wie verhält sich die hörbare Bewegung der Musik zu den sichtbaren Bewegungen des Dirigenten? Wer bewegt hier wen? Wann spielt man, und wann wird man gespielt, von einer Musik, die in der Lage ist, unbewusste und unwillkürliche Bewegungen auszulösen? Was hören Musiker, Dirigent oder Zuschauer, wenn Hören letztendlich Teil einer körperlichen und individuell verinnerlichten Erfahrung von Bewegung und Klang ist? 2007 präsentiert der französische Choreograf und Tänzer Xavier Le Roy dieses Solo Le Sacre du Printemps. Im Programmbuch wird sein (Forschungs-)Projekt folgendermaßen beschrieben: „Nachdem er gesehen hatte, wie Sir Simon Rattle die Berliner Philharmoniker während einer Probe zu Le Sacre du Printemps dirigierte (dokumentiert auf der DVD Rhythm Is It, 2004, Regie: Thomas Grube), beschloss Xavier Le Roy, sich in seiner Arbeit mit Strawinskys Klassiker zu beschäftigen. Sein Interesse galt den Bewegungen des Dirigierens. Da er selbst keine musikalische Ausbildung genossen hatte, studierte Le Roy in einem aufwändigen Prozess die Interpretation des Dirigenten und benutzt sie als Struktur für die Choreografie. Im Laufe eines über einjährigen Arbeitsprozesses, bei dem sich Le Roy auch Grundkenntnisse des Dirigierens aneignete, verkehrten sich Ursache und Wirkung, schien doch die Musik die Bewegungen des Dirigenten hervorzubringen und nicht umgekehrt.“ (Programmbuch)
Beschrieben wird ein Aneignungsprozess. Der Choreograf überträgt Mimik und Gestik auf den eigenen Körper, nimmt sie mimetisch ab. Ein Verfahren, das er über den Ankündigungstext als Teil eines Versuchsaufbaus ausstellt. Formuliert wird nicht nur eine Forschungsfrage und sein Erkenntnis leitendes Interesse, sondern der Text legt auch die Methode und den Kontext, in dem der folgende Versuchsaufbau zu lesen sei, offen. Thematisiert wird Le Roys eigene Beobachterposition und sein Tun wird über das langwierige Studium legitimiert: all dies gehört zu einer wissenschaftlichen Praxis der Veröffentlichung, der Wissenschaftler legt seine Methoden offen und verortet sie im weiteren 10 Strawinsky, Igor, „Erinnerungen (Paris 1935-36)“, in: Ders., Schriften und Gespräche I, Mainz, 1983, S. 85.
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wissenschaftlichen Kontext. Unter der Frage einer forschenden Theaterpraxis sind hier zwei Aspekte interessant: Xavier Le Roy setzt sich mit einer spezifischen künstlerischen Praxis und Aufführungssituation Konzert auseinander und untersucht sie gemäß seiner Spezialisierung unter einer choreografischen Fragestellung hinsichtlich des Verhältnisses von Musik und Bewegung. Dafür entwirft er einen spezifischen Versuchsaufbau, der die Parameter des Konzerts verschiebt. Er setzt die Zuschauer in eine andere Position, blendet die Musiker aus, rückt allein die Bewegungen des Dirigenten in den Fokus. Im Verschieben und vor allem der Isolierung – beide wissenschaftliche Verfahren im Labor – der Betrachter- oder Hörerposition eröffnet er den Zuschauern eine neue Beobachtungsperspektive auf einen bekannten künstlerischen Aufbau: in den Mittelpunkt rückt der künstlerische Prozess, der hier auf andere Weise zur Aufführung kommt und neue Beobachtungen ermöglicht. Hier kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Le Roy inszeniert sich selbst als Beobachter einer anderen künstlerischen Praxis und erweitert diese Position um ein Produzieren, das nicht als Erfinden von etwas Neuem, Anderen präsentiert wird, sondern vielmehr als ein künstlerisches Produzieren, das sich als Formulieren von Fragen versteht. Dass es hier auch um eine Form der Inszenierung geht, zeigt sich, wenn Le Roy im Publikumsgespräch erklärt, auf der DVD gäbe es gar keine vollständige Dokumentation der Bewegungen von Rattle. Es ginge ihm nicht um ein genaues mimetisches Abnehmen. Er bettet seine Inszenierung in ein Narrativ ein – künstlerisches Forschungsprojekt –, das er selbst wiederum unterläuft. Die Selbst-Inszenierung als Forschender und die gleichzeitige Aufführungspraxis eröffnen verschiedene Lesarten der Inszenierung. Ist es nicht auch möglich, die Bewegungen als Choreografie im Kontext des Tanzes zu lesen und damit den Kontext Aufführungspraxis von Musik auszublenden? Oder anders gefragt: Ist die Aufführung (trotz der Reduzierung ihrer Darstellungsmittel) nicht komplexer, als dass sie auf die oben genannten Forschungsfragen reduziert werden könnte? Ist es wesentlich, ob es die realen Bewegungen von Rattle sind, die er zeigt (was er im Gespräch über die Aufführung verneint)? Wozu dient die Rahmung Versuchsaufbau? Der künstlerische Prozess, der ein spezifisches Forschungsinteresse jenseits des Produzierens der Aufführung formuliert, eröffnet eine mögliche Lesart und damit auch eine Perspektive auf Fragen des Produzierens und Beobachtens von Theater. Aber die Aufführung beschränkt sich nicht darauf, sie impliziert auch immer die Selbst-Inszenierung des Künstlers als Forschenden – ein Portrait des Künstlers als Forscher – und kann nicht von der individuellen
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künstlerischen Darstellungspraxis abgetrennt werden. Dies lässt sich nicht zuletzt daran zeigen, dass Le Roy den Deutschen Theaterpreis für Le Sacre du Printemps erhielt: Nicht als Choreograf, sondern für die beste tänzerische Darstellung. Es lassen sich drei Ebenen differenzieren: Erstens der Probenprozess als Forschungsprozess, zweitens die Aufführung als experimentelle Praxis, die dem Zuschauer eine eigene Rolle im Versuchsaufbau zuweist und drittens die darstellerische Praxis – die ihm weiterhin die Rolle des Theaterzuschauer ermöglicht. Diese Ebenen überlagern sich, verschieben sich je nach Rahmensetzung und verweisen damit auch auf Fragen nach den Bedingungen des Produzierens und der Position des Betrachters, nach dem Hervorbringen von Wissen und dessen Repräsentation, nach der Autorisierung der Verfahren. Die Unbekannte im Versuchsaufbau bleibt letztlich der Zuschauer. Hier eröffnet sich auch ein eigenes Feld des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die beide zu oft und vorschnell als Gegensätze begriffen werden und der Wissenschaft auf der einen Seite und der Kunst auf der anderen Seite zugerechnet werden. Deutlich wird hier: Wissenschaft wie Kunst haben je eigene Praktiken und jede Praxis entwirft auch Theorien über das eigene Tun, ohne diese notwendigerweise explizit zu machen, auf Begriffe zu bringen, zu diskursivieren. Diese Theorien laufen in der Praxis oft mit – in Gesten und mit eigenem Vokabular. Eine forschende Theaterpraxis müsste danach suchen, diese impliziten Theorien explizit zu machen. Derart könnte sie dann auch verstanden werden als eine Arbeit an der Theoretisierung von Theater, in dem Sinne wie hier Konzepte, Anschauungen und Vorstellungen hinsichtlich theatraler Praxis entworfen werden – auch jenseits eines wissenschaftlichen Theoriemodells, das auf Begrifflichkeiten zielt. In diesen künstlerisch-praktischen Theorien wird dem Denken und seinen Präsentationen oft ein Körper gegeben. Und hier zeigt sich die besondere Potentialität des Theaters: als Arbeit an einer Theoretisierung an und mit Körperpraktiken. Sie geben dem Denken über das Herstellen einen Ort in der Praxis selbst. Sie könnten somit als eine Ästhetik des Produzierens gelesen werden, die an der Verschiebung der Ordnungen von Sichtbarkeiten arbeitet, wie sie der Philosoph Jacques Rancière in der Aufteilung des Sinnlichen beschreibt: „Produzieren fügt der Handlung, etwas herzustellen, eine Handlung hinzu, die etwas sichtbar macht, und definiert so ein neues Verhältnis von Tun und Sehen“11, so Rancière. Im Verschieben der Orte des Sprechens und 11 Rancière, Jacques, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin, 2006, S. 69.
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Denkens über künstlerische Praktiken wie auch ihres Zeigens, liegt die Potentialität einer forschenden Theaterpraxis. Epilog Vor einigen Jahren war ich in der Doppelfunktion als Wissenschaftlerin und Künstlerin auf einer Tagung zum Thema Relativität eingeladen. Versammelt waren Künstler und Wissenschaftler, teils aus der Psychologie, Biologie und der Gehirnforschung. Ich stellte unsere Inszenierung Warum tanzt ihr nicht? vor, die eine Ballsaal-Situation inszeniert, in dem wir mit dem Publikum interagieren und vom Zuschauer bestimmte Entscheidungen fordern. Es ist eine Aufführung mit sehr vielen Unbestimmten, die sich je nach Abend verändern. Ein Psychologe fragte in der anschließenden Diskussion, ob wir vor der Premiere unsere Arbeiten vor einer Ethikkommission vorstellen müssten: die Künstler lachten und die (empirischen Wissenschaftler) nickten. Hier zeigt sich für mich eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Forschung als Teil der Theaterpraxis und der Wissenschaft: von Wissenschaftlern wird eine Form der Verantwortlichkeit gefordert – in der Offenlegung ihrer Methoden, in der kritischen Reflexion des eigenen Standpunkts, in der historischen Kontextualisierung der Fragestellung, im Ausstellen der Quellen. Der Künstler kann all dies tun, ob und wie er dies zum Teil der Inszenierung macht, ist aber seine Entscheidung und nimmt auf die Rezeption des Kunstwerks Einfluss. Mit Verweis auf das Eingangszitat von Duchamp könnte man sagen: der Theaterwissenschaftler muss auf dem letzten Wort beharren, das immer auf bereits Gesagtes reagiert. Ihm implizit ist das Wissen, dass dieses letzte Wort nur vorläufig ist und jederzeit wieder in Frage gestellt werden kann. Der KünstEoler dagegen kann darauf verzichten, er hat andere Möglichkeiten.
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Eisschollen und andere Surfbretter. Die Grounded Theory als Methode zur Erforschung kultureller Bildungsprozesse bei Kindern Intro Die ästhetische Praxis ist eine spezifische Weise der Begegnung, Vergegenwärtigung und Aneignung von Welt. Sie unterliegt bei Kindern einerseits genuinen Entwicklungsdispositionen und ist andererseits unmittelbar in Enkulturationsprozesse eingebunden. Kulturen schreiben sich gleichsam in die entstehenden ästhetischen Praktiken ein und präfigurieren die (in einer Kultur anerkannten) Formate der ästhetischen Praxis. Das Rezipieren und Herstellen von Bildern kann als universelles Format ästhetischer Praxis beschrieben werden, und doch unterliegt es diversen kulturellen Ausdifferenzierungen, die im Rahmen der sogenannten Bilderwerbsprozesse von Kindern einflussreich sind. Das am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft der Universität Hildesheim angesiedelte Forschungsprojekt Bildpräferenzen, Bildkonzepte und Bildpraxis von Kindern erforscht die anthropologischontogenetischen und kulturellen Dimensionen der Bilderwerbsprozesse von Kindern in der mittleren Kindheit. Im Fokus sind fünf- bis siebenjährige Kinder im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Die Aufmerksamkeit für kindliche Bilderwerbsprozesse ist u. a. darauf zurückzuführen, dass Bilder in der kulturellen und gesellschaftlichen Wahrnehmung immer relevanter werden. In den Kulturwissenschaften wird vom sogenannten iconic turn, als einer „Wende zum Bild“, gesprochen.1 Damit ist die zunehmende Präsenz von Bildern und Bildkulturen in den Lebenswelten von Menschen und insbesondere von Kindern gemeint sowie die damit verbundenen Herausforderungen für die Aneignung und das Verstehen von Welt. Ein wesentlicher Schwerpunkt des Projektes ist die Erforschung des Zusammenhangs von visueller Wahrnehmung, Imagination und (zeichnerischer) Darstellung als Signaturen kindlichen Bilderwerbs im Kontext ästhetischer Praxis. Ein eigens als Atelier für Kinder eingerichtetes 1 Vgl. u. a. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek, 2010.
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Studio, in dem regelmäßig Kindergruppen bildnerisch tätig sind, ermöglicht die gezielte Beobachtung langfristiger Entwicklungs- und Bildungsprozesse bei einzelnen Kindern sowie die Wirkungsanalyse didaktischer Settings. Die Grounded Theory als qualitativ-empirische Methode eignet sich in besonderem Maße, um die komplexen Entwicklungsverläufe, Interaktionsmuster und Bildungsressourcen des kindlichen Bilderwerbs aufzuspüren und in eine (didaktische) Theorie zu überführen. Die Ergebnisse der Studie können Aufschluss über die ontogenetischen und kulturellen Konstellationen des kindlichen Bilderwerbs geben und damit einen Beitrag zur Erhellung der Grundlagen kultureller Bildung leisten. Darüber hinaus stellen sie einen theoretischen Rahmen für die Konzipierung, Planung, Realisierung und Reflexion von kulturellen Bildungsarrangements in Kindergarten und Grundschule in Aussicht. Das Forschungsprojekt korrespondiert mit der ethnografisch orientierten Kindheitsforschung.2 Die ethnografische Perspektive kann komplexe Einblicke in die kulturellen Alltagspraktiken von Kindern eröffnen und reflektieren. Die besondere Bedeutung des ethnografischen Forschungsansatzes, zu dem auch die Grounded Theory gehört, liegt, so Roswitha Staege, in der Methodisierung des „fremden Blicks“, der es ermöglicht, vermeintlich Selbstverständliches in den alltäglichen Handlungspraktiken der Kinder wie der Pädagoginnen mit „anderen Augen zu sehen“ und dadurch der Reflexion erst zugänglich zu machen. Die Handlungspraktiken von Kindern – hier bezogen auf ihren Bilderwerb – zu erforschen, vollzieht sich unter ethnografischen Prämissen als „dialogisches Verfahren des Fremdverstehens“3 und verweigert sich deshalb den tradierten und allzu einsichtigen Erklärungsmustern. Eine aufmerksame und fragende Haltung gegenüber Kindern und ihren Interaktionsprozessen ist dafür grundlegend.
2 Vgl. Schäfer, Gerd E./Staege, Roswitha (Hg.), Frühkindliche Lernprozesse verstehen. Ethnografische und phänomenologische Beiträge zur Bildungsforschung, Weinheim, München, 2010; Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (Hg), Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Ein Handbuch, Seelze-Velber, 2001. 3 Staege, Roswitha, „Beiträge zur frühpädagogischen Bildungsforschung. Eine Einleitung“, in: Gerd Schäfer/Dies. (Hg.), Frühkindliche Lernprozesse verstehen, S. 9-22, S. 15.
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Grounded Theory als Methode der (kulturwissenschaftlichen und kunstpädagogischen) Feldforschung Die Forschungsarbeit folgt dem Paradigma der Grounded Theory.4 Den epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Hintergrund liefern der Pragmatismus (v.a. John Dewey) sowie der Symbolische Interaktionismus (v.a. George H. Mead). Das zeigt sich etwa in der im Pragmatismus verankerten Auffassung einer aktivistischen, durch Handeln hervorgebrachten Bedeutung von Objekten. Es gilt als Grundsatz der Grounded Theory (GT), dass Akteure in einer prozesshaften und deshalb veränderlichen Perspektive in den Blick kommen. Die Bedingungen, unter denen sie handeln, die Optionen, die sich ihnen eröffnen bzw. ausgeblendet bleiben, die Entscheidungen, die sie unter diesen Bedingungen treffen sowie die Konsequenzen, die aus diesen Entscheidungen resultieren, werden explizit einbezogen.5 Die GT versteht sich nicht als präskritptives Verfahren, sondern als konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen, die sich für die Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche – darin eingelagert auch konkrete Gegenstandsbereiche wie die Kulturwissenschaften oder die Kunstpädagogik – als nützlich erwiesen haben.6 Ziel der GT ist es, eine empirisch fundierte Theorie zu erarbeiten bzw. auf der Grundlage empirischer Datenerhebung und -analyse eine gegenstandsbezogene Theorie zu entwickeln. Glaser/Strauss (1998) sprechen davon, die Theorie zu entdecken (discovery).7 Im Prozess der parallelen 4 Wenn man heute von Grounded Theory spricht, dann ist zu benennen, welche der beiden Varianten gemeint ist. Entweder die pragmatistisch inspirierte Variante von Anselm Strauss und Juliet Corbin, die ihre Wurzeln im amerikanischen Pragmatismus, dem Symbolischen Interaktionismus und der Chicagoer School of Sociology hat oder die stärker empiristische Variante von Barney Glaser. Ich beziehe mich hier auf Strauss/Corbin. Vgl. zum Methodenstreit von Glaser und Strauss ausführlich: Strübing, Jörg, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden, 2008, S. 65ff und Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München, 2010, S. 186ff. 5 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung, S. 193. 6 Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 7. 7 Vgl. Glaser, Barney/Strauss, Anselm, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung [1967], Göttingen, 1998.
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und zirkulären Datenerhebung, -kodierung und -analyse werden Daten konzeptuell verdichtet und anhand gegenstandsbezogener Kategorien systematisiert. Es findet eine permanente Iteration der Erkenntnisschritte von Induktion, Abduktion und Deduktion statt. Datenanalyse und Theoriebildung verschränken sich zu einer praktischen, interaktiv zu bewältigenden Tätigkeit.8 Das erfordert von Forschenden einen beständigen Wechsel zwischen Handeln und Reflexion. Der Forschungsfokus liegt einerseits auf der Beobachtung der Verlaufsförmigkeit bzw. der Prozessstruktur von Phänomenen (Herausbildung des kindlichen Bildkonzeptes) und andererseits auf jenen Handlungen und Interaktionen, die als Antwort auf die sich verändernden Umstände betrachtet werden können (z. B. Beobachtung von Zeichenprozessen bei einzelnen Kindern).9 Insofern ist das Herausgreifen einer Situation bzw. Szene, wie es für diesen Beitrag erfolgt, nicht mehr als eine Momentaufnahme, die das derzeitige Stadium des Prozesses stillstellt und markiert, aber im weiteren Verlauf der Forschung wieder in den zirkulären Verlauf eintaucht und sich damit auch verändert. Eine Besonderheit der GT besteht zunächst darin, Theorie nicht zum Ausgangspunkt der Empirie zu machen, sondern aus der Empirie zu generieren; also keine theoriegeleitete, sondern eine theoriegenerierende Empirie zu betreiben. Gerade deshalb wird in der GT die Frage nach theoretischen Grundlagen bzw. Vorwissen intensiv diskutiert.10 In der Tat besteht die Gefahr, dass vorgängiges Wissen den Zugang zum Feld und das Erkennen von relevanten Kodes und Kategorien verstellen oder sogar verhindern kann. Andererseits besitzen Forschende immer bereits ein (theoretisches) Vorverständnis, das nicht ausgeblendet werden kann. In der GT wird deshalb von theoretischer Sensibilität gesprochen. Theoretische Sensibilität bezieht sich nach Anselm Strauss und Juleit Corbin auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu können. Dazu gehört nach Strübing auch, sich in die Daten einfühlen zu können, Erfahrungen und 8 Vgl. ebd., S. 14. 9 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung, S. 197. 10 Vgl. Truschkat, Inga/Kaiser, Manuela/Reinartz, Vera, „‚Forschen nach Rezept?‘“. Anregungen zum praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten“, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Research 6/2 (2005), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ article/view/470/1006, letzter Zugriff am 25.06.2016.
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Intuition einzubringen und divergierende Sichtweisen annehmen zu können.11 „Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptuell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln.“12 Entscheidend ist der sensible, reflexive Umgang mit dem theoretischen Background und das Erkennen und Reflektieren von Engführungen und Ausblendungen. Inga Truschkat u. a. arbeiten heraus, dass es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um den Grad des Einbeziehens von Vorwissen geht: „Übertragen auf die Frage, wie viel Vorwissen für die Erhebung der Daten notwendig ist, bedeutet dies, dass wir stets mit einem gewissen Grad an Vorkenntnissen an den Forschungsgegenstand herantreten.“13 Bedeutsam ist demnach nicht, ob Forschende Vorwissen einbringen, sondern in welchem Umfang, aber auch in welcher Verfestigung. Werden bereits bestehende, verfestigte Erklärungsmodelle über das Feld gelegt, lassen sich neue Sichtweisen und Konzepte nicht ohne Weiteres entwickeln. Die kritische Reflexion der eigenen Wissensbestände und Konzepte ermöglicht das Aufdecken des eigenen Vorverständnisses sowie den damit verbundenen Ausblendungen und Leerstellen und ermöglicht so theoretische Sensibilität in der Entwicklung gegenstands- und feldbezogener Perspektiven. Bezogen auf diese Studie lässt sich festhalten, dass es in den relevanten Forschungsbereichen (Kinderzeichnungsforschung, Bildpräferenzund Bildinteressenforschung, Imaginationsforschung, Kunst- und Bildrezeptionsforschung) eine profunde Theoriebasis gibt, die im Sinne theoretischer Sensibilität einbezogen werden kann und sollte. Nicht zuletzt sind es die in diesen Forschungsbereichen bearbeiteten Fragestellungen, Kategorien und perspektivischen Blickachsen, die über das singuläre Theoriesegment hinaus den Zugang zum empirischen Feld sensibilisieren können. Die hier vorgestellte Studie bildet indes eine Querlage zu den benannten Forschungsbereichen, um Schnittstellen, Überlagerungen, Differenzen, Konvergenzen empirisch zugänglich und theoretisch fassbar zu machen. Der Fokus der Studie liegt auf dem kindlichen Bildverständnis. Es wird nach der Bedeutung von (visueller) Wahrnehmung, Imagination und bildsprachlicher Darstellung für die Entwicklung und Bildung von Bildpräferenzen, Bildkonzepten und Bildumgangsformen gefragt. Diese auf den ersten Blick unkonkrete Fragestellung mag verwundern. Die anfängliche Offenheit einer Fragestellung ist mit der abduktiven For11 Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 22. 12 Ebd., S. 25. 13 Truschkat, Inga u. a., „‚Forschen nach Rezept?‘“, S. 5.
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schungslogik der GT zu erklären: Die Forschungsfrage soll, ja muss zu Beginn des Forschungsprozesses offen sein, damit Zusammenhänge aus der Empirie heraus auftauchen und befragt werden können. Eine Zuspitzung, wie sie im weiteren Verlauf des Textes noch sichtbar werden wird, erfolgt im Forschungsprozess über die sukzessive Erforschung des Gegenstandes mittels der Methode des permanenten Vergleichs.14 Sampling – Kodieren – theoretische Memos: methodischen Vorgehen Theoretisches Sampling Das methodische Vorgehen der GT kann hier nur recht holzschnittartig gezeigt werden.15 Das Forschungsdesign besteht in der Regel aus mehreren, aufeinander folgenden Forschungseinheiten, die Samplings16 genannt werden. Ein Sampling ist der auf die Generierung von Theorie zielende Prozess der Datenerhebung, in welchem die forschende Person Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind.17 Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr weisen auf die Schwierigkeit hin, alle Forschungseinheiten, die in einen bestimmten Sachverhalt involviert sind, in eine Untersuchung einzubeziehen. Es gilt deshalb, eine adäquate Auswahl an Fällen bzw. Interaktionssituationen
14 Vgl. ebd., S. 3. 15 Vgl. weiterführend v.a. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung; Truschkat, Inga u. a., „‚Forschen nach Rezept?‘“; Strauss, Anselm/Corbin, Juliet, Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung; Strübing, Jörg, Grounded Theory. 16 Strauss und Corbin unterscheiden drei Varianten des (theoretischen) Sampling: (1) gezieltes, (2) systematisches, (3) zufälliges Sampling. Beim gezielten Sampling werden genau jene Daten erhoben, von denen man weiß, dass sie wichtige Informationen zur Beantwortung der Forschungsfragen enthalten und die es ermöglichen, Vergleiche hinsichtlich Eigenschaften und Dimensionen relevanter Kategorien anzustellen. Beim systematischen Sampling wird einer konkreten Strategie gefolgt, z. B. einer festgelegten Reihenfolge der zu beobachtenden Personen. Beim zufälligen Sampling hingegen werden Interviewpartner, Beobachtungsorte u. a. zufällig gewählt. Vgl. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet, Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, S. 155 ff. 17 Vgl. Glaser, Barney/Strauss, Anselm, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, S. 53.
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zu treffen.18 Adäquat ist ein Fall bzw. eine Interaktionssituation dann, wenn sie etwas (einen relevanten Forschungsaspekt) repräsentiert und die Chance besteht, dass aus der genaueren Analyse verallgemeinerbare Ergebnisse zu gewinnen sind. Das Vorgehen hat seinen Schwerpunkt in der induktiven Gewinnung von Einsichten und theoriestiftenden Kategorien aus den erhobenen Daten. Gleichwohl findet eine kontinuierliche Abfolge induktiver und deduktiver Schritte statt, insofern Datenerhebung und Entwickeln bzw. Elaborieren der theoretischen Konzepte sich abwechseln.19 Wie bereits ausgeführt, setzt mit der Datenerhebung zugleich die Generierung von Theorie ein. Da eine konsistente Theorie noch nicht vorliegt, basieren die ersten Schritte auf (reflektiertem) Vorwissen (über die relevanten Forschungsbereiche) und feldbezogenen Vorerfahrungen sowie sogenannten sensiblen Konzepten, die die Funktion haben, versuchsweise Fragen und Untersuchungsperspektiven zu entwickeln und somit vorläufige Konturen zu entwerfen. Das Sampling zielt nicht auf Falsifikationen, wie das in vielen anderen Methoden der Fall ist. Es ist intendiert, in aufeinander folgenden Problemlösungsschritten Modifikationen, Differenzierungen und Erweiterungen des theoretischen Modells herzustellen.20 Mit der Erhebung der Daten erfolgt im Sinne des zirkulären Vorgehens der GT unmittelbar auch deren Aufbereitung und Analyse.21 In dieser Studie umfasst ein Sampling 13 Settings. Bisher haben drei Samplings (davon eine Pilotstudie als Prä-Sampling) stattgefunden; weitere drei Samplings sind in Vorbereitung. Das Präsampling war als zufälliges Sampling angelegt, um zunächst einen offenen und defokussierten Feldzugang und damit eine breit angelegte Kartierung von for18 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung, S. 174. 19 Vgl. ebd., S. 192. 20 Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 33. 21 Anders als bei anderen Methoden empirischer Sozialforschung wird mit der Auswertung der Daten nicht bis zum Abschluss einer Studie gewartet. Bereits mit der Sichtung, Archivierung und Verschlagwortung der Bild-, Video und Audio-Daten erfolgt ein permanenter und kontinuierlicher Vergleich der Daten sowie deren Kodierung. Denn die aus dem ersten Sampling gewonnenen Daten werden bereits genutzt, um erste, vorläufige Erkenntnisse zu formulieren sowie das folgende Sampling entsprechend einzustellen. Sampling und Theoriegenerierung sind in der GT parallel organisiert und werden im Prozess miteinander verwoben (vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung, S. 189).
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schungsrelevanten Aspekten zu ermöglichen. Die folgenden beiden Settings beinhalten sowohl Abschnitte systematischen Samplings, um bereits gewonnene Aspekte eingehender beobachten zu können, als auch zufällige Samplings, um den Forschungsfokus immer wieder für neue Aspekte zu öffnen. Die einzelnen Settings (ein Setting umfasst 90 Minuten) wurden videografiert (Handkamera), fotografiert sowie auszugsweise mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Ergänzend wurden handschriftliche Beobachtungsprotokolle angelegt. Kodieren Das Kodieren ist als Herzstück der Datenanalyse zu verstehen, denn aus den Kodes werden die Elemente der Theorie gewonnen. Die im Material enthaltenen Rohdaten werden in sogenannte Konzepte überführt. Die Daten sprechen also nicht für sich, sondern werden „präpariert“22. Das empirische Material, das mit der Erhebung zunächst als „geschlossene Oberfläche“23 erscheint, wird im Prozess des Kodierens aufgebrochen, indem bestimmte Aspekte selektiert, bezeichnet und einander zugeordnet werden.24 Strauss und Cobin favorisieren einen dreistufigen Kodierprozess: Auf das offene 25 Kodieren folgt das axiale 26 Kodieren und schließlich das selektive 27 Kodieren. Das Kodieren bezieht sich in der Regel auf textförmige Datenquellen. Es gibt bislang kaum Erfahrungen und Anregungen, wie bildneri22 Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung S. 195. 23 Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 19. 24 Während andere empirische Methoden, wie z. B. die Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (1988) mit jeweils schon existierenden bzw. vorausgesetzten Kategoriensystemen operiert und diese im Datenmaterial auffindet bzw. dem Datenmaterial zuordnet, gewinnt die GT ihre Kategorien aus dem empirischen Material auf der Grundlage des Kodierens. „Statt also Daten nur zu inspizieren, um dann die in der Entwicklung befindliche Theorie fortzuschreiben, insistiert die Grounded Theory darauf, das Material systematisch (wenngleich nicht zwangsläufig vollständig) zu kodieren, allerdings mit Kodes auf der Basis theoretischer Konzepte und Kategorien, die erst sukzessive aus der kontinuierlich vergleichenden Analyse dieser Daten entwickelt werden müssen.“ (Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 19) Kategorien sind die Koordinaten der sich herausbildenden Theorie. 25 Im Rahmen des offenen Kodierens geht es zunächst um erste Feldzugänge und das Erschließen des ersten Datenmaterials, es werden Kodes gewonnen, zueinander in Beziehung gesetzt und zu Kategorien zusammengefasst.
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sches Material (Videos, Fotos) kodiert werden kann. In der vorliegenden Studie wird versucht, beides miteinander zu verbinden. Den Ausgangspunkt bilden dichte Beschreibungen von auffälligen Situationen aus den jeweiligen Samplings (siehe Beispiel), an denen Markierungen und folgend Kodierungen vorgenommen werden. Die Fotos werden nach Kodes verschlagwortet; die Verschlagwortung wird im Verlaufe der Forschung immer wieder ergänzt und korrigiert. Theoretische Memos als Verfahren der Aufzeichnung Das Schreiben theoretischer Memos ist ein explizites methodisches Mittel der Theoriegenese in der GT. Diese sind nicht als Feldnotizen etwa im Kontext einer teilnehmenden Beobachtung zu verstehen, sondern als eine verschriftlichte Form des Denkens. So wie Heinrich von Kleist von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden spricht, so unterstützt der kontinuierliche Schreibprozess die Schaffung von Bedingungen, die der Theoriegenese förderlich sind. Darüber hinaus geht es auch um Aspekte wie Ergebnissicherung oder Entlastung von Nebengedanken.28 Das Schreiben wird als kontinuierlicher Prozess verstanden, in dem sich Aspekte sukzessive konkretisieren, klären, ver26 An die aus dem offenen Kodieren gewonnenen ersten, vorsichtig formulierten Konzepte schließt das axiale Kodieren an. Im Prozess des axialen Kodieren, geht es dann um die Herstellung der (empirischen) Beziehungen zwischen den Kategorien, die im Rahmen des offenen Kodierens entwickelt wurden. Man kann sich das axiale Kodieren als „Schnitte durch das Material“ (Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 28) vorstellen bzw. als „Achse“ um die sich die Analyse in Bezug auf eine Kategorie dreht (vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika, Qualitative Sozialforschung, S. 205). Dabei werden noch stärker als beim offenen Kodieren Relevanzentscheidungen getroffen: Nicht alle am Material identifizierten Phänomene werden systematisch vergleichend auf ihre Ursachen, Umstände und Konsequenzen befragt, sondern nur diejenigen, von denen – nach dem vorläufigen Stand der Analyse – angenommen werden kann, dass sie für die Klärung der Forschungsfrage relevant sein könnten (vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 21). 27 Auf der Grundlage der Kontrastierung von Fällen innerhalb des Datenmaterials erfolgt im dritten Schritt das selektive Kodieren. Dieses zielt auf die Integration der bisher erarbeiteten theoretischen Konzepte in Bezug auf Kernkategorien; also eine nochmals vorgenommene Verdichtung. Dazu wird das Datenmaterial re-kodiert, um die Beziehungen der verschiedenen gegenstandsbezogenen Konzepte zu den Kernkategorien zu klären und eine theoretische Schließung herbeizuführen (vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 20). So können die Kernkategorien exakt lokalisiert, verifiziert und fokussiert werden. 28 Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory, S. 34.
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dichten – und auch verändern. Zugleich ist der Prozess des Schreibens, Überarbeitens, Sortierens, so Strübing, ein Schritt der Theoriebildung, der zu Systematisierung und Entscheidung anleitet, weil Schriftlichkeit Festlegungen erfordert und weil Widersprüche in geschriebenen Texten und ebenso in visuellen Aufzeichnungen sichtbar und überprüfbar werden.29 Im Memo formuliert die forschende Person ihre noch vagen oder bereits substanziellen theoretischen Einsichten. Die Memos aus verschiedenen Phasen der Forschung können immer wieder aneinandergelegt und abgeglichen werden; hier kommt ein interaktives Moment ins Spiel, das auch als kartierender Entwurfsprozess beschrieben werden kann. Im Anwendungsbezug sind theoretische Memos in der Regel verfasste Texte. Das schöpft die Möglichkeiten von Verschriftlichung indes nicht aus. Mit Blick auf die kulturwissenschaftliche Forschung zu den epistemischen Potenzialen von Entwürfen und Entwurfsprozessen könnte das theoretische Memo eine sinnvolle mediale und letztlich auch methodologische Erweiterung erfahren. Christoph Hoffmann hat sich im Kontext des Forschungsprojektes Wissen im Entwurf mit Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung befasst. Im Schreiben und Zeichnen, so Hoffmann, werden Wissensbestände bewahrt. Zugleich ergeben sich „spezifische Möglichkeiten, Erfahrungen und Überlegungen neu zu anzuordnen“.30 Hoffmann betont, dass Schreiben und Zeichnen als epistemische Verfahren verstanden werden müssen, die im Akt der Aufzeichnung an der Entfaltung von Gegenständen und Wissen teilhaben.31 In diesem Argumentationsraum wird die Aufmerksamkeit auf Verschriftlichungen gelenkt, die bislang nicht im Fokus der Forschung (Bildwissenschaft, Literaturwissenschaft u. a.) ist. Cornelia Ortlieb befasst sich in diesem Zusammenhang mit den Entwürfen des Schriftstellers und Ethnografen Hubert Fichte (Abb. 1), die in besonderer Weise anregend für eine Ausweitung des Repertoires von theoretischen Memos sein können. Fichte arbeitete mit kleinen Zetteln, Karteikarten und Notaten, die er in einem Montageverfahren zu großen, zum Teil meterlangen Tableaus zusammenfügte. Seine Verschriftlichungen sind kombinatorische Arrangements, die von ihm als „Werkplan“ oder „Editionsplan“ bezeichnet werden und die in
29 Vgl. ebd., S. 35. 30 Hoffmann, Christoph (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich, Berlin, 2008, S. 7. 31 Vgl. ebd.
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Abb 1: Plan zu Versuch über die Pubertät von Hubert Fichte
gewisser Weise Schnittbögen ähneln.32 Die so entstehenden Bögen werden einer fortlaufenden Umarbeitung, Ergänzung, Streichung und Ersetzung von Segmenten unterzogen (vgl. ebd., S. 130); es gehört zum 32 Vgl. Ortlieb, Cornelia, „Die wilde Ordnung des Schreibens. Hubert Fichtes Pläne und Zettel“, in: Christoph Hoffmann/Barbara Wittmann (Hg.), Wissen im Entwurf. Band 1: Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich, Berlin, S. 129-152, S. 129 u. S. 141.
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Abb 2: Detail aus theoretischem Memo zur Erfassung von Einzelfällen und Interaktionen
Prozess der Vergegenwärtigung und Wissensgenerierung, dass der Prozess sich überschreibend fortschreibt. Aufschlussreich ist auch, dass Fichte nicht nur von links nach rechts schreibt, sondern weitere Schreibund Leserichtungen kombiniert (von oben nach unten) und so die „Schrift aus ihrer gewöhnlichen Bindung an das Format des Schriftträgers“ löst und diese den „Bedürfnissen einer prozessualen Schreibweise“ unterwirft (Ortlieb 2008, S. 152). Weitere Studien zu den epistemischen Potenzialen von schriftlichen/zeichnerischen Aufzeichnungen und deren Rolle und Position im Forschungsprozess finden sich u. a. bei Horst Bredekamp, der die Zeichnungen von Charles Darwin oder Galileo Galilei näher untersuchte.33 Mit einer gewissen Ähnlichkeit zu den beispielhaft vorgestellten Verfahren des Aufzeichnens, die sowohl Schrift als auch Zeichnung als Medien der Veranschaulichung, Vergegenwärtigung, Prozessbegleitung, Strukturierung, Korrektur usw. nutzen, werden in dieser Studie theoretische Memos (auch) als handschriftliche Aufzeichnungen im Sinne
33 Vgl. Bredekamp, Horst, Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin, 2006.
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von Übersichten und Kartierungen entwickelt, die sowohl dem Prozess des offenen als auch axialen Kodierens entgegen kommen. Eisschollen und andere Surfbretter: theoretische Memos am Beispiel eines Settings Im ersten Teil des Textes wurde die Methode der Grounded Theory vorgestellt und in Bezug zum vorliegenden Forschungsprojekt gesetzt. Daran ließen sich grundlegende Parameter der GT in ihrer Anwendung auf ein Forschungsprojekt im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschung aufzeigen. Der zweite Teil des Textes soll eine punktuelle Vertiefung erzeugen. Es wird ein methodisches Instrument – die theoretischen Memos – herausgegriffen, um zu veranschaulichen, wie die Auslegung einer Interaktionssituation anhand von Textfragmenten, Notizen, Aufzeichnungen erfolgt und wie daraus sukzessive theoretische Elemente gewonnen werden. Es handelt sich um ein Setting aus der dritten Samplingphase (s.o.), bei dem ein Kunstwerk zunächst Ausgangspunkt für Gespräche und Überlegungen zur Bildsituation und deren vielfältige Deutungsmöglichkeiten wird. Anschließend werden die Kinder inspiriert, Davorund Danach-Situationen (Szenen) gedanklich zu entwerfen und zeichnerisch darzustellen. Um die theoretischen Memos in den Gesamtzusammenhang einzubetten, wird eine dichte Beschreibung des Settings vorangestellt, die durch Bildmaterial flankiert wird. Diese dichte Beschreibung wurde offen und zum Teil axial kodiert, was hier aus Gründen der Übersichtlichkeit ausgeblendet bleibt. Wichtig ist, dass im Prozess des Kodierens die Imagination als Schnittstelle zwischen (visueller) Wahrnehmung, Narration und (zeichnerischer) Darstellung besonders hervortrat. Daran knüpfen die theoretischen Memos an. Dichte Beschreibung der Situation: Sechs Kinder einer ersten Jahrgangsstufe betrachten gemeinsam das großformatig an die Wand projizierte Bild von zwei Eisbären, die auf dem Rücken liegen (Abb. 3). Es ist eine Installation der Künstlerin Christiane Möbus. Die Kinder werden gebeten, die beiden Eisbären in die Mitte ihres Blattes (A3) zu zeichnen. Sie schauen genau hin und betrachten die Haltung der Eisbären, das Fell und die Form des Kopfes. Nike sagt: „Die sind ganz schön schwierig zu zeichnen.“ Jonathan stimmt ihr zu und fügt hinzu: „…weil die umgedreht sind“. Noelle
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Abb. 3: Christiane Möbius Tödlich (1997)
Abb. 4: Umdrehen des gezeichneten Bildes
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beteiligt sich nicht an der Unterhaltung. Sie ist ganz versunken und konzentriert sich darauf, den Kopf des linken Eisbären zu zeichnen. Immer wieder schaut sie intensiv auf das Bild und dann auf ihr Blatt. Im Verlaufe des Zeichenprozesses kommt die Frage auf, was die beiden Tiere eigentlich auf ihren Tatzen balancieren. Für Julian sind es „kleine Eisberge“, weil Eisbären ja dort wohnen, wo es Eisberge gibt. Für Jonathan sind es entweder „Eiszapfen“ oder „Chinesenhüte“. Nachdem alle – bis auf Noelle – ihre Zeichnung beendet haben, werden die Bilder hochgehalten. Da kommt Julian auf die Idee, sein Bild umzudrehen (Abb. 4). Er ist verblüfft und ruft aus: „Jetzt sieht es ganz anders aus!“ Alle Kinder drehen das Bild, oben wird unten – unten wird oben. Sie sind durch das Drehen der Zeichnung von selbst darauf gekommen, dass das Bild zwei Perspektiven hat. Was auf der einen Seite eine spielerische Szene zu sein scheint, wird – umgedreht – auf der anderen Seite zu einer bedrohlichen, ja lebensgefährlichen Situation. Ich frage: „Wie herum gehört das Bild?“ „Es geht so rum und so rum“, sagt Juli, „aber wenn die Eisbären richtig stehen, finde ich es besser.“ Jonathan überlegt noch und wirft dann ein: „Die Welt dreht sich ja so (zeigt eine Kreisbewegung). Und dann kann es sein, dass das hier die Welt ist und es so sein kann (dreht das Bild) und so sein kann (dreht das Bild zurück).“ Er stellt sich vor, wie die Eisbären oben auf der Erdkugel stehen. Weil er weiß, dass die Erdkugel sich dreht, schlussfolgert er, dass die Szene irgendwann auch mal unten ist. Obwohl der Titel der Installation Tödlich zunächst nicht in das Gespräch einbezogen wurde, wird diese Perspektive von den Kindern herausgearbeitet. Im weiteren Verlauf des Settings zeigt sich, dass die Kinder die existenziell bedrohliche Situation der Eisbären wahrnehmen, aber keineswegs als ausweglos betrachten. Sie entwickeln sowohl zu den Ursachen als auch zum Fortgang der Situation bildhafte Vorstellungen, die weniger global-ökologische Probleme im Blick haben, als vielmehr narrative Zusammenhänge entwerfen, die sowohl sprachlich als auch zeichnerisch geäußert werden. Nun werden die Kinder gebeten, die beiden Eisbären abzuzeichnen. Nachdem alle Kinder die beiden Eisbären gezeichnet haben, frage ich, was hier eigentlich gerade passiert sein könnte? Für die Kinder scheint klar zu sein, dass die Eisbären auf einer größeren Eisscholle standen, die kaputt gegangen ist. Für Till stellt sich die Situation wie folgt dar: „Da war ein Orca, der ist bumm, bumm gegen die Eisdecke gestoßen und da ist sie kaputtgegangen.“ Jonathan ergänzt: „Der Orca wollte gerade Luft holen und dann ist er aus Versehen gegen die Eisdecke gestoßen.“ Auch für Nike liegt die Ursache unter der Eisscholle: „Ich
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Abb. 5: fertige Zeichnung von Jonathan
Abb. 7: fertige Zeichnung/Malerei von Noelle
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Abb. 6: fertige Zeichnung von Julian
Abb. 8: fertige Zeichnung von Till
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denke, dass viele Fische also ganz schnell dagegen gestoßen sind, weil ein Hai sie gejagt hat und deshalb sind sie dagegen gestoßen und jetzt sind sie tot geworden.“ Julian fragt nachdenklich: „Vielleicht waren die Eisbären einfach zu schwer?“ Die Kinder zeichnen auf dasselbe Blatt (links), auf dem bereits die beiden Eisbären sind, was der Situation vorausging. Anschließend zeichnen sie (rechts), wie die Geschichte weitergehen könnte. Jonathan (Abb. 5) verbindet zunächst die beiden Eisschollen zu einer größeren Eisscholle, die aus dünneren und dickeren Eisschichten besteht (dunkelblau). Dann zeichnet er den Orca. Allerdings zeigt er nicht, wie der Orca gegen die Eisscholle stößt, sondern lässt den Orca in tieferes Wasser zurückschwimmen, denn „da fühlt er sich sicherer“. Sein Bild zeigt (simultan) zwei versetzte Zeiträume: Oben die noch nicht gebrochene Eisscholle und unten den Orca, der nach dem Stoß gegen die Eisdecke ins tiefere Wasser zurückschwimmt. Julian (Abb. 6) teilt sein Blatt in drei Sphären: In der Mitte die beiden Eisbären wie sie auf den Eiskegeln im wogenden Meer treiben; links die beiden Eisbären auf einer äußerst dicken Eisscholle, die gerade bricht (ohne äußere Ursache, weil die Eisbären zu schwer sind). Rechts ist die Rettung zu sehen. Es kommt eine große Eisscholle vorbei, die beiden Eisbären steigen einfach um und lassen die Eiskegel weitertreiben. Bemerkenswert sind die Größenunterschiede. Die Situation in der Mitte ist am größten dargestellt – das ist die zentrale Situation. Tills Zeichnung (Abb. 8) ist von enormer Dynamik. Die Färbung des Himmels erhöht die Dramatik der Situation. Seine Eisbären werden von unten von einem Orca attackiert. Gleichzeitig ist der Fischschwarm zu sehen, von dem Nike sprach. Man sieht die lange Eisscholle die links gerade einen Knacks bekommt. Die entscheidende Wendung in seiner Geschichte ist, dass er die Eiskegel zu Surfbrettern umdeutet. Mit diesen Surfbrettern, so Till, können die Eisbären schnell über das Wasser surfen, „bis sie das Ufer sehen und dann dorthin kommen“. Noelle (Abb. 7) interessiert sich nicht dafür, was passiert sein könnte. Ihre Aufmerksamkeit gilt den beiden Eisbären, die sie mit großer Intensität und Ausdauer erst zeichnet und dann farbig gestaltet. Theoretisches Memo (1): ein Tier nach der Anschauung (Bild) zeichnen Die Zeichnung stellt eine große Herausforderung dar. Die Tiere müssen genau betrachtet werden (Wahrnehmen) und sodann in das Vokabular der Zeichnung (Darstellung) übersetzt werden. Die Ausführung
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der Zeichnung basiert auf sogenannten Schemata bzw. Darstellungsformeln (Glas 1999). Darstellungsformeln sind habitualisierte Wissensbestände, die im Zeichnen aktiviert und variiert werden. Kinder wissen, wie man ein Tier, zum Beispiel eine Katze oder einen Hund, zeichnet. Sie wissen, dass eine Katze vier Beine, zwei Ohren, einen Schwanz, Schnurrhaare usw. hat. Das Wissen über die Merkmale eines Tieres wird als Gegenstandswissen bezeichnet.34 Zudem wissen Kinder, in welcher Abfolge man am besten zeichnet (mit dem Kopf beginnen, dann Hals und Bauch, Beine – oder anders). Und sie wissen auch, dass man Tiere am besten von der Seite darstellt, weil das die prägnanteste Ansicht ist. Das Wissen, wie man ein Tier zeichnet, wird als Abbildungswissen bezeichnet.35 Um aus einer bekannten Darstellungsformel (z. B. Katze) einen Eisbären zu machen, sind Differenzierungen notwendig, die genaue Beobachtung erfordern: die Form des Kopfes, die Haltung, die Tatzen usw. In diesem Fall wird das Zeichnen dadurch erschwert, dass die abgebildeten Eisbären auf dem Rücken liegen. Dadurch wird der gewohnte Zeichenablauf irritiert und gleichermaßen herausgefordert. Es kann angenommen werden, dass das Abzeichnen ein Balanceakt zwischen dem Sehen und dem Darstellen ist. Oft wird vom Zusammenspiel von Auge und Hand gesprochen. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass es die Imagination ist, die diesen Prozess überhaupt erst ermöglicht. Die Imagination ist die Brücke zwischen Wahrnehmung und Darstellung. Während die Entwicklung der kindlichen Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit gut erforscht ist, wurde die Entwicklung von Imaginationsfähigkeit bislang kaum erforscht. Theoretisches Memo (2): Imagination Eine Imagination ist eine innere, mentale Re-Präsentation dessen, was jemand gerade im Moment wahrnimmt oder früher wahrgenommen hat. Imaginieren heißt, sich etwas vorzustellen. Das kann ein Bild sein, das anschaulich vor Augen liegt. Die Imagination verfügt offenbar auch über die Fähigkeit, gespeicherte Gedächtnisfragmente neu zusammenzusetzen und so gedanklich etwas zu entwerfen. Ohne die Fähigkeit zur Imagination könnten die Kinder keine Eisbären auf einem Bild erkennen und wären nicht in der Lage vorauszusehen, wie sich die Situation der Eisbären verändern könnte. Ohne Imagination könnten sie 34 Vgl. Schuster, Martin, Die Psychologie der Kinderzeichnung, Berlin, 1993. 35 Vgl. ebd.
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auch keine Eisbären zeichnen. Die Imagination ist maßgeblich und unmittelbar an Wahrnehmungs- und Denkprozessen sowie an Darstellungsprozessen beteiligt. In der Vernetzung von Wahrnehmung – Denken – Darstellung wird der Imagination eine vermittelnde bzw. synthetisierende Funktion zuteil. Obwohl alle Kinder dasselbe Bild von Eisbären direkt vor Augen haben und sie sich uneingeschränkt einig sind, dass das Eisbären sind, unterscheiden sich die imaginierten Eisbären von Kind zu Kind – je nachdem, mit welchen gespeicherten Wissensfragmenten, Emotionen, Erlebnissen die Imagination verknüpft wird. Offenbar gibt es – ähnlich wie bei der Kinderzeichnung – neben interindividuellen Merkmalen der Imagination auch individuelle Vorgehensweisen und Merkmale. Imaginationen sind von Kind zu Kind nicht identisch. Je komplexer ein Bild ist (zum Beispiel ein Kunstwerk), umso mehr differieren die Imaginationen, weil jedes Kind entsprechend komplexe Verknüpfungen aufrufen kann. An allen vier Beispielen wird (bezogen auf die fertige, dreiphasige Zeichnung) sichtbar, mit welcher Intensität, aber auch mit welcher Unterschiedlichkeit die Kinder Imaginationen zu einem Bild entwickeln und narrative Zusammenhänge herstellen (bei denen die Eisbären schließlich gerettet werden). Das Bildverständnis von Kindern speist sich aus allen an diesem komplexen Prozess beteiligten Elementen: von der genauen Wahrnehmung, der rekonstruierenden und narrativen Imagination, dem Sprechen über die Bilder bis hin zur zeichnerischen und malerischen Darstellung. Theoretisches Memo (3): erster und zweiter Blick; wiederkennende, rekonstruierende und vertiefte, angereicherte Imagination Es sind offenbar zwei Formen der Imagination zu unterscheiden. Im Bereich der visuellen Wahrnehmung wird vom ersten Blick und vom zweiten Blick gesprochen. Das lässt sich auf die Imagination übertragen. Hier kann die wiedererkennende, rekonstruierende Imagination (die dem ersten Blick entspricht) von der vertieften, angereicherten Imagination (die dem zweiten Blick entspricht) unterschieden werden. Der sogenannte erste Blick hat eine für das Alltagsleben sehr wichtige Funktion: Etwas schnell zu erkennen und zu identifizieren. Er wird benötigt, um Verkehrsschilder, Produktverpackungen, die eigenen Schuhe, Eisbären usw. wiederzuerkennen. Darauf zielt auch die wiedererkennende, rekonstruierende Imagination. Diese besonders fokussierte Form der Imagination beschränkt sich auf die Repräsentation wesentlicher, prä-
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gnanter Merkmale (füllige Gestalt, große Tatzen, weißes, zotteliges Fell u. a. ) und blendet anderes aus. Der Eisbär soll in erster Linie als Eisbär (wieder-)erkannt werden. Die wiedererkennende, rekonstruierende Imagination macht vermutlich nur einen Bruchteil der eigentlichen imaginären Fähigkeiten des Menschen aus. Denn erst das Konkretisieren, Erweitern und Variieren des inneren Bildes eröffnet die eigentlichen Spielräume der Imagination. Dazu ist es erforderlich, sich auf den Imaginationsprozess einzulassen, ihn auszudehnen und zu vertiefen. Theoretisches Memo (4): Koordinaten des Imaginationsprofils
Abb 9: Ausschnitt aus einem theoretischen Memo zur Imagination und damit zusammenhängenden Aspekten
Fazit Die Grounded Theory bietet gerade aufgrund ihrer hohen methodischen Komplexität und Flexibilität einen spezifischen Zugang zur Erforschung kultureller Bildungsprozesse. Mit der GT wird soziale Wirklichkeit zur Entwurfsfläche für gegenstandsbezogene Theorien. Das
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zirkuläre Vorgehen ermöglicht die permanente Anreicherung eines Konzeptes mit neuen Einsichten, Erkenntnissen und Perspektiven. Darin liegt der besondere Reiz der GT. In gewisser Weise ist der Weg das Ziel. Das Finale eines Forschungsprozesses ist dann erreicht, wenn eine theoretische Sättigung anhand des vorliegenden Materials eintritt, d. h. wenn es im Datenmaterial zu Wiederholungen kommt und keine neuen Erkenntnisse generiert werden können. In Bezug auf die Imagination konnte so inzwischen erkannt werden, dass es diverse Imaginationsprofile gibt, die an den einzelnen Kindern konkret herausgearbeitet werden können.36 Die Qualität der Imagination unterliegt offenbar keiner festen Normierung, sondern zeigt sich – bei Kindern – gerade in der differenzierten Ausbildung imaginativer Fähigkeiten, die zu einem Imaginationsprofil kumulieren. Diese Profile lassen sich am Datenmaterial verfolgen, verdichten und im Sinne eines Profils identifizieren. Julians Imaginationsprofil37 (vgl. Abb. 6) zeichnet sich beispielsweise dadurch aus, dass er ein gesteigertes Interesse an einzelnen Bildgegenständen, vornehmlich Figuren, aufweist. Daran ist besonders, dass er sich Figuren schablonenhaft-flächig vorstellt. Die Umrisslinie bzw. Kontur spielt dabei eine zentrale Rolle. Julian verzichtet konsequent auf eine grafische oder farbige Ausdifferenzierung der Binnenform – seine Figuren sind stets leer. Das gibt ihm die Möglichkeit, Überlagerungen und Überschneidungen so zu präzisieren, dass es keine falschen Striche gibt, die später ausradiert werden müssten. Für Julians Imaginationsprofil ist es hilfreich, wenn er nach der Anschauung zeichnen kann. Zeichnungen aus der Vorstellung sind vergleichsweise einfacher und rudimentärer. Das anschauliche Rezipieren von Bildern inspiriert seine Imagination und trägt gleichermaßen dazu bei, dass er etwas feingliedrig und konturenscharf darstellen kann. Diese Art der Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung korrespondiert mit seinem Bildbedürfnis. Es kann deshalb resümiert werden, dass in den differenten rezeptiven, imaginativen, produktiven Bildhandlungen von Kindern das eigentliche Potenzial ästhetischer Praxis liegt.
36 Vgl. Uhlig, Bettina, „Echter sieht es aus mit, aber ohne geht es besser“. Fallstudie eines Imaginationsprofils“, in: Sowa, Hubert/Glas, Alexander/Miller, Monika (Hg.), Bildung der Imagination, Bd. 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen, Oberhausen, 2014, S. 333-346. 37 Vgl. dazu ausführlich: Ebd.
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Pop machen. Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und ästhetischer Praxis in der Vermittlung populärer Kultur Der institutionalisierte Bildungsbereich in Deutschland, ob schulisch oder außerschulisch, tut sich traditionell schwer mit populärer Kultur. Zwar wird ihre Relevanz für Personen fast jeden Alters im Grundsatz anerkannt, und damit auch die Notwendigkeit, das Populäre in den Kulturbegriff zu integrieren. Dass dies Konsequenzen für die Kulturvermittlung hat – und haben muss – wird hingegen häufig ausgeblendet.1 Zudem erweist sich die Implementierung des Populären in die Kulturvermittlungsprozesse als unerwartet kompliziert. Zwar wird immer häufiger der avanciertere Teil populärer Kultur als bildungsrelevant anerkannt. Mainstream-Kultur hingegen wird nach wie vor als eskapistisch und ablenkend, flach und kommerzialisiert begriffen. So wird nach wie vor ein wesentlicher, alltagsbestimmender Teil der Kultur – mitsamt seinem Publikum2 – ausgeblendet. „Der Impuls droht eingeengt zu werden auf jenen POP in Großbuchstaben, der unter AkademikerInnen, KünstlerInnen und Intellektuellen als gesellschaftsfähig gilt. Die Populärkultur der Vielen, der Mainstream, bleibt zumeist außen vor oder dient weiter als das böse Andere kultureller Bildung; doch diese Popkultur ist für große Teile der Bevölkerung die Kultur, ‚die‘ Ressource ästhetischer Erfahrungen und kunstvermittelter Erkenntnis“.3 1 Vgl. Hornberger, Barbara, „Bildung in der Idiot Box? Über informelle Bildung und populäre Kultur im Kontext kultureller Bildung“, in: Medienimpulse. Beiträge zu Medienpädagogik. Handeln mit Symbolen 3 (2015), http://www.medienimpulse.at/articles/view/842, letzter Zugriff am 12.06.2016 sowie: Hornberger, Barbara, „Bildungspotenziale populärer Kultur. Plädoyer für eine Didaktik des Populären“, in: Tom Braun/Max Fuchs (Hg.), Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung. Grundlagen, Analysen, Kritik. Band 2, Weinheim, Basel, 2016, S. 156-169. 2 „Mit Ausnahme der – allerdings deutlich gewachsenen – Bildungsschichten schätzen und nutzen die Deutschen überwiegend oder einzig Populärkultur; so betrachtet, bildet die das Zentrum deutscher Kultur.“ (Maase, Kaspar, „Der Mainstream der Populärkultur: Feld oder Feind Kultureller Bildung?“, in: Kubi Online, https://www.kubi-online.de/artikel/mainstream-populaerkultur-feldoder-feind-kultureller-bildung, 2015, letzter Zugriff am 14.06.2016. 3 Ebd.
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Im Kontext von (kultureller) Bildung ist populäre Kultur also nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kulturelle Bildung findet überwiegend institutionell organisiert statt. Ein erheblicher Teil dieser Institutionen ist selbst Kulturträger in der Hochkultur; es sind Theater, Orchester, Museen, Bibliotheken. Hier ist sind die Vermittlungsangebote produktionsorientiert: Man bietet (nachvollziehbarerweise) vor allem die Vermittlung des eigenen kulturellen Portfolios an und dies ist oft disziplinär beschränkt.4 Doch populäre Kultur hält sich höchst selten an solche disziplinären Grenzen. Popmusik und Musikvideoclip, Comic, Fernsehen, Kino oder Computerspiele vereinen mindestens zwei, meist aber drei disziplinäre (und mediale) Ebenen: Sie sind ein Zusammenspiel von Bild, Sprache und Musik, das spezifisch massenmedial inszeniert ist. Wer nur die Musik in den Blick nimmt, wird dem Popstar und dem Videoclip nicht gerecht, im Film sind nicht nur Bilder relevant und die Daily Soap wird nicht von ihren Dialogen determiniert. Dieser transdisziplinäre Charakter des Populären erfordert eine Vermittlung, die die verschiedenen ästhetischen Mittel und ihr Zusammenspiel zu beschreiben weiß. Die Vermittlerinnen und Vermittler hingegen kommen in der Regel aus Einzeldisziplinen – Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft, Bildende Kunst, etc. – so dass sie über die dafür nötigen Kompetenzen nur selten verfügen. Hinzu kommt: Populäre Kultur braucht keine Vermittlung, Denn sie zeichnet sich gerade durch semiotische Offenheit und leichte Zugänglichkeit aus. Das Populäre erlaubt nahezu „jedes Maß an Konzentration und Interesse“5, ihre Rezipientinnen und Rezipienten entscheiden selbst, wie intensiv, wie ernsthaft, wie beiläufig sie zuschauen oder zuhören. Sie behalten jederzeit das „Anwendungsprivileg“6. Dies bedeutet, dass die meisten Menschen ihren Zugang zu populärer Kultur auch ohne pädagogischen Impuls und ohne fördernde Begleitung finden. Die Popmusik, das Fernsehen, der Blockbuster oder das PC-Game gewinnen ihr Pub4 Interessanterweise scheint der Anteil populärer Kultur bei solchen Institutionen, deren Angebote nachfrageorientiert geschaffen werden, signifikant höher – also in Musikschulen und soziokulturellen Zentren. Hier orientiert man sich offenbar weniger an einem Kanon als an den Bedürfnissen der Kunden bzw. nutzt die Vermittlung nicht in erster Linie als Audience Development für das eigene Kulturangebot. 5 Hügel, Hans-Otto, „Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie“, in: Ders., Lob des Mainstream. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur, Köln, 2007, S. 13-32, S. 23. 6 Ebd., S. 32.
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likum nicht über pädagogische Impulse, sondern durch Werbung und eine hohe massenmediale Verbreitung7 sowie ihre Fähigkeit, für sehr unterschiedliche identitäts- und sinnstiftende Prozesse aneignungsfähig zu sein. Es kann also in der Vermittlung populärer Kultur nicht darum gehen, bestimmte Formen von Kultur überhaupt erst zugänglich zu machen, Menschen dafür zu interessieren. Doch worum geht es dann? Diese Frage ist – obschon immer wieder diskutiert – offen, derzeit vielleicht offener denn je. Denn ehemals dominante Begründungsmuster – Warnung, Aufklärung und pädagogischer Schutz sowie Anleitung zu kritischem Konsum8 – haben an Einfluss verloren. Der Kulturbegriff ist breiter und vielfältiger geworden, die Abgrenzung einer bürgerlichen, als moralisch und ästhetisch wertvoll definierten Hochkultur von der zwar populären, aber als moralisch bedenklich und ästhetisch minderwertig verdächtigen Massenkultur erscheint zunehmend weniger klar und plausibel, vor allem, weil die populäre Kultur ihrerseits von Trash bis Avantgarde eine enorme Bandbreite aufweist und zumindest teilweise ihre Reflexion gleich selbst betreibt: in Form von Diskurspop (wie in der Hamburger Schule), in dekonstruktiven Selbstentwürfen (subkulturell wie bei den Residents oder mainstreamfähig wie bei Lady Gaga) oder in selbstreflexiven Erzähl- und Darstellungsformen (wie bei zeitgenössischen TV- und WebSerien). Doch nicht nur das Verständnis von populärer Kultur hat sich verändert. Auch in der Auffassung von Bildung und Lernen ist ein Wandel 7 Selbstverständlich gibt es auch eine große Anzahl Artefakte der populären Kultur, die kein oder nur wenig Publikum finden – mir geht es hier nicht um eine quantitative Aussage, sondern um den Strukturunterschied: Populäre Kultur ist im Wesentlichen eine Kultur des Marktes, Hochkultur ist in Deutschland hingegen vor allem subventionierte Kultur. Dass an dieser subventionierten Kultur deutlich weniger Menschen partizipieren als an der populären (Massen-)Kultur, ist hinlänglich bekannt. 8 Die verschiedenen pädagogischen Haltungen gegenüber der populären Kultur lassen sich am Beispiel der populären Musik besonders gut nachvollziehen, da schon seit den 1960er Jahren ein reger Diskurs über den musikpädagogischen Umgang mit ihr, insbesondere im Kontext Schule, geführt wird. Siehe z. B. Terhag, Jürgen, „Zwischen Rockklassikern und Eintagsfliegen. 50 Jahre Populäre Musik in der Schule“, in: Ders./Georg Maas (Hg.), Musikunterricht Heute 8, Marschacht, 2010, S. 10-26. Allgemeiner zum Umgang mit populärer Kultur siehe z. B. Maase, Kaspar, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur von 1850 – 1970, Frankfurt/Main, 1997 und Hügel, Hans-Otto, „Nicht identitifizieren – Spannungen aushalten! Zur Wort- und Begriffsgeschichte von ‚populär‘“, in: Ders., Lob des Mainstream, S. 95-109.
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zu beobachten. Unter Bildung wird immer weniger die Aneignung von kanonisierten Wissensbeständen verstanden, sondern die Fähigkeit, „sich in der ständig sich wandelnden Welt zu orientieren, kritisch zu urteilen und selbstbestimmt zu handeln“.9 Es geht hier also nicht um fixierte und bestimmbare Inhalte, sondern um Fähigkeiten, die das Individuum in die Lage versetzen, sich selbst zu reflektieren, zu verändern und in seinem Verhältnis zur Welt immer wieder neu zu verorten. Zugleich setzte sich die Erkenntnis durch, dass keineswegs nur in spezifischen institutionellen Zusammenhängen, sondern eigentlich überall und jederzeit gelernt wird – allerdings ohne pädagogische Anleitung, nicht-zertifiziert, individuell und implizit, zuweilen auch unbemerkt. „Manchmal merkt man erst im Nachhinein, dass Situationen Lernsituationen waren.“10 Dieses informelle Lernen,11 das ohne Anleitung durch Lehrende auskommt, findet natürlich auch über die populäre Kultur statt und mit dem Web 2.0 haben sich die Möglichkeiten hierzu noch deutlich vermehrt, weil der Austausch von Fans zu einer Verdichtung von Wissen und zum Teil beeindruckender Kennerschaft führt. Selbst das Erwerben praxeologischer Kenntnisse konnte und kann in der populären Kultur abgekoppelt von formalen Lernumgebungen stattfinden. Schon für Punk brauchte es keinen Musikunterricht, sondern lediglich Entschlossenheit und ein Instrument: „This is a Chord, this is another, this is a third – now form a band“ – ein Slogan und eine Griffzeichnung reichten aus, um Hunderte von Jugendlichen an die Gitarre zu bringen.12 Seit der Digitalisierung aber sind instru9 Grunert, Cathleen, „Bildung und lernen – ein Thema der Kindheits- und Jugendforschung?“, in: Thomas Rauschenbach/Wiebken Düx/Erich Sass (Hg.), Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte, Weinheim, München, S. 15-34, S. 16. 10 Overwien, Bernd, „Debatten, Begriffsbestimmungen und Forschungsansätze zum in-formellen Lernen und zum Erfahrungslernen“, in: Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen (Hg.), Tagungsband zum Kongress ‚Der flexible Mensch‘, Berlin, 2001, S. 359-376, S. 363. 11 Zum Informellen Lernen siehe Dohmen, Günther, „Das informelle Lernen – Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller“, Bonn, 2001, in: http://www.werkstatt-frankfurt.de/fileadmin/Frankfurter_Weg/Fachtagung/ BMBF_Das_informelle_Lernen.pdf, letzter Zugriff am 10.09.2015. 12 Die Grafik erschien in einem Punk Fanzine. Über die genaue Herkunft dieses berühmten Zitats gibt es unterschiedliche Angaben: Es wird von Mike Flood Page dem Punk-Fanzine Sideburns zugeschrieben: vgl. Page, Mike Flood, „London brennt. Szenen einer eventuellen musikalischen Revolution“, in: SOUNDS 7 (1977), S. 32-35, S. 35. Auf einer Website der British Library wird dies bestä-
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mentale oder technologische Fertigkeiten jederzeit und individuell über Online-Tutorials erlernbar, ob es sich nun um Gitarren-Techniken, Videoschnitt oder Software-Anwendungen handelt. Die Kombination von günstiger Hardware und zahllosen kostenlosen Hilfestellungen von Profis im Netz führt dazu, dass Lernen in Bezug auf populäre Kultur vollständig jenseits der institutionellen Angebote stattfinden kann und stattfindet. Die Integration des informellen Lernens in den Kontext und die Konzeptionen non-formaler und formaler Bildung wirft allerdings eine ganze Reihe pädagogischer Fragen und Probleme auf: Wie sollen die informell erworbenen Wissensbestände, die kulturellen Praxen, in die Vermittlung integriert werden? Speziell im Fall von Jugendkulturen wie Punk oder Hip Hop zeigt sich, dass die dort gespeicherten Wissensbestände nicht unbedingt weniger reglementiert und kanonisiert sind als die traditioneller E-Kultur. Ihre Kodierungen, Regeln und Bewertungsmaßstäbe werden allerdings in der Regel im Sinne einer oral culture,13 vermittelt, die für die an der literate culture orientierte, institutionelle Bildungsarbeit nur schwer zugänglich ist. Wie lässt sich darauf überhaupt zugreifen? Wie können Bildungs-Institutionen populäre Kultur und die damit verbundenen, informell erworbenen Wissensbestände aufgreifen, ohne sie in ein formales, mindestens aber angeleitetes und beaufsichtigtes Lernen zu verwandeln und damit das unregletigt: http://www.bl.uk/learning/histcitizen/21cc/counterculture/doityourself/ punkfanzines/punkfanzines.html, letzter Zugriff am 10.09.2015. Dick Hebdige schreibt es dem ersten britischen Fanzine Sniffin' Glue zu: vgl. Hebdige, Dick, „Subculture. Die Bedeutung von Stil“, in: Diedrich Diederichsen/Dick Hebdige/Olaph-Dante Marx (Hg.), Schocker. Stile und Moden der Subkultur, Reinbek, 1983, S. 8-120, S. 103. Hahn und Schindler nennen als Urheber die Punkband The Damned: vgl. Hahn, Bernd/Schindler, Holger (Hg.), Punk. Die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt, Hamburg, 1982, S. 25. 13 „Für die oral culture gilt: Da das gesprochene Wort, sämtliche oral kommunizierten Inhalte ihrer Gestalt nach flüchtig und zeitgebunden sind, können sie nur im Moment des kommunikativen Aktes von den an diesem Akt Teilhabenden wahrgenommen werden. […] Somit müssen selbst kleinste Stimmungen aufgenommen und verarbeitet werden, da sie sonst der Gemeinschaft durch ihre Unmittelbarkeit verloren gingen. Aus diesem Grund haben sich in der oral culture in Bezug auf das auditive Wahrnehmungsvermögen und hinsichtlich der Formen verbaler und stimmlicher Artikulation Kommunikationstechniken und -fähigkeiten entwickelt, die eine enorme Differenzierungsfähigkeit zulassen.“ Rappe, Michael, „Rhythmus, Sound, Symbol“, in: Eva Kimminich u. a. (Hg.), Express yourself. Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground (= Cultural Studies 25), Bielefeld, 2007, S. 137-155, S. 139f.
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mentierte, selbstbestimmte, individuelle Vergnügen am Populären in intentionale, formale, Bildungsarbeit zu verwandeln – und damit gewissermaßen zu kolonialisieren? Theorie versus Praxis Die Komplexität dieser Fragen und eine unzureichende Theoretisierung der Didaktik populärer Kultur seitens der Einzeldisziplinen, aber auch im Sinne eines transdisziplinären Verständnisses, hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass pädagogische Akteurinnen und Akteure im Bereich populärer Kultur häufig ihr Heil in der künstlerischästhetischen Praxis suchen: Band-Workshops, Rap-Kurse, Film-AGs sind attraktiv, versprechen Spaß, soziales Miteinander und konkrete, zeigbare Ergebnisse – auf diese Weise lässt sich, so die Idee, populäre Kultur vermitteln, ohne sich mit den diversen disziplinären Zugriffen und ihren kulturtheoretischen Hintergründen allzu genau befassen zu müssen. Studien, etwa zu Bildungsprozessen in Bands,14 stärkten die Idee, dass das Machen von mindestens so wertvoll sei wie Theorie über Musik und dass dieses Machen auch, bzw. sogar besser ohne pädagogische Anleitung und allzuviel Theorieballast funktioniere. Hinzu kommt die gerade im Kontext populärer Kultur weit verbreitete Vorstellung, dass die Praxis gerade für Jugendliche einen aktivierenden, sozialen Wert habe, den die Rezeption populärer Kultur – die als passive Rezeption, etwa als Berieselung wahrgenommen wird15 – nicht besitzt. Schließlich ließ sich eine Konzentration auf Praxis-Angebote unter dem Stichwort Handlungsorientierung hervorragend an kompetenzorientierte Unterrichtskonzepte ankoppeln. Für non-formale Angebote erscheint das Praxis-Angebot ohnehin naheliegender und attraktiver. Was bei der emphatischen Fokussierung des Machens allerdings weitgehend unterentwickelt bleibt, ist die Verschränkung mit den theoretisch zu beleuchtenden Hintergründen und Kontexten populärer Kultur. Die Praxis wird häufig nicht mit entsprechender theoretischer Reflexion begleitet: Was bedeutet eigentlich Groove oder Sound, warum ist das wichtig für populäre Musik? Warum ist die Schulband zwar 14 Besonders einflussreich waren hierfür die Arbeiten von Lucy Green: Vgl. Green, Lucy, How Popular Musicians Learn. A Way Ahead for Music Education, Aldershot, Burlington, 2002 sowie Green, Lucy, Music, Informal Learning and the School. A New Classroom Pedagogy, Aldershot, Burlington, 2008. 15 Vgl. Hornberger, Barbara, „Bildung in der Idiot Box?“, 2015, o.S.
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super, weshalb aber sind ihre Musiker keine Stars? Auf welche Erzählmuster rekurrieren eigentlich Serien und warum wird ihre Standardisierung uns nicht langweilig? Wie sich theoretische und praxeologische Kenntnisse zueinander verhalten, wird zu wenig in den Blick genommen, und eine ästhetische Reflexion der vermittelten ästhetischen Praxis jenseits einer Verbesserung der handwerklichen Fähigkeiten kaum vermittelt. Viel häufiger wird künstlerische Praxis an die Stelle theoretischen Wissens gesetzt, das nur soweit vermittelt wird, wie es zur Erlangung bestimmter Fertigkeiten nötig ist. Weil in vielen Fällen außerdem die jeweilige populärkulturelle Praxis nur aus der Perspektive einer Fachdisziplin und zudem als fixiertes Wissen wahrgenommen wird,16 droht ihr außerdem eine unangemessene Traditionalisierung bis hin zur Musealisierung. Dann unterscheidet sich das Erlernen des richtigen Blues-Schemas nicht mehr vom Erlernen der sauber gespielten Triole, und die richtige Kameraperspektive wird zum Äquivalent für korrekten Satzbau. Wenn künstlerische Praxis in der pädagogischen Arbeit mehr sein will als die bloße Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten, muss sie zum einen gekoppelt sein an eine Theorie populärer Kultur, die die künstlerische Arbeit kontextualisiert und herausfordert. Zum anderen muss sie so dynamisch sein, dass sie in der Lage ist, Fragen an diese Theorie zu stellen. Im optimalen Fall können so in einer Art Pendelbewegung zwischen Theorie und Praxis theoretische Annahmen überprüft, künstlerische Impulse theoretisiert und neue Erkenntnisse generiert werden. In den Hildesheimer Kulturwissenschaften wird die künstlerische Praxis in der populären Kultur als eine populärkulturelle Praxis der verschiedenen Künste aufgefasst. Es gibt also eine Praxis in populären Bühnenformen, im Schreiben, in den Medien etc. Weil sich die populäre Kultur aber oft nicht auf eine künstlerische Disziplin reduzieren 16 Wenn z. B. die Vermittlung von Film in der Schule einem traditionellen literaturwissenschaftlichen Textbegriff folgt, wird nicht nur sein synästhetischer Charakter verfehlt, Filme schauen wird dann auch zu etwas, was man richtig oder falsch tun kann – und wofür man deshalb eine Anleitung braucht. Vgl. Stewert, Christian, „Orte und Ordnungen eines Kino-Klassenzimmers“, in: Julius Othmer/Andreas Walch (Hg.), Medien – Bildung – Dispositive. Beiträge zu einer interdisziplinären Medienbildungsforschung (Medienbildung und Gesellschaft 30), Wiesbaden, 2015, S. 189-201, S. 191f; zur Vermittlung von Populärer Musik vgl.: Rolle, Christian, „Über Didaktik Populärer Musik. Gedanken zur Un-Unterrichtbarkeit aus der Perspektive ästhetischer Bildung“, in: Georg Maas/Jürgen Terhag (Hg.), Musikunterricht Heute 8, S. 48-57, S. 52f.
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lässt, ergeben sich nicht nur die oben skizzierten Schnittpunkte von Theorie und Praxis, sondern auch Schnittpunkte zwischen den Künsten. Mit diesen Schnittpunkten verbinden sich jeweils eigene Perspektiven, Denk- und Arbeitsweisen, die einander ergänzen, häufig sogar zusammen mehr ergeben als die Summe ihrer Teile, indem sie in einem produktiven Spannungsverhältnis zueinander neue Erkenntnisse befördern – oder vermeintlich sicheres Wissen in Frage stellen können. An einem Beispiel aus der ästhetischen Praxis der Hildesheimer Kulturwissenschaften lässt sich zeigen, wie dieses doppelt-strukturierte Arbeiten in Seminaren mit dazugehörenden Übungen im besten Fall auch doppelte Lerneffekte produzieren kann, weil die unterschiedlichen Arbeits- und Denkweisen unterschiedliche Zugriffe erlauben – kognitiv, emotional, handelnd. Dies gilt immer dort, wo Theorie und künstlerische Praxis intensiv verschränkt werden. Die Beispiele können somit auch über die universitäre Lehre hinaus als Anregung für Kulturvermittlungs-Arbeit verstanden werden. Praxis-Beispiel: Medientransfer als künstlerische und analytische Arbeit Im Sommersemester 2013 fand in Zusammenarbeit mit der Kulturwissenschaftlerin Melanie Hinz ein Seminar und eine Übung zum Thema Zwischen Seife und Oper? Soaps und Telenovelas statt. Inhalt des Seminar wars die Analyse der beiden Genres, ihrer Geschichte, die Untersuchung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie der interkulturellen Veränderung, die insbesondere die Telenovela im deutschen TV-Markt erfahren hat. In der künstlerisch-praktischen Übung sollte von den Studierenden selbst eine Soap produziert werden, allerdings als Bühneninszenierung. Das Ziel war also, den medialen Gegenstand Daily Soap/Telenovela in einen theatralen Rahmen zu übersetzen und dabei etwas über die medialen Spezifika der Serien zu erfahren. Für diese Arbeit gab es keine Textvorlage, sondern nur das aus dem Seminar gewonnene Wissen über serielle Erzählstrukturen, Dramaturgien, Figurenanlage, Genre-Bedingungen etc. Die künstlerischpraktische Arbeit an diesem Format hatte zum Ziel, erstens die im Seminar erworbenen Kenntnisse zum Genre zu vertiefen, zweitens den Medienwechsel von Fernsehen zu Bühne zu reflektieren und drittens künstlerische Erfahrungen zu machen mit der Arbeit an einem auf den ersten Blick trivialen Format.
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Erfüllung der Genre-Konventionen Zunächst wurden die formalen Bedingungen festgelegt, die den aus der Literatur entnommenen und im Seminar an Beispielen überprüften Genre-Konventionen folgten: Die Erzählung sollte die soap-typische Zopfdramaturgie,17 ein festes Figurenensemble und feste Spiel-Orte haben. Das Skript sollte, wie bei TV-Soaps üblich, von wechselnden Autoren-Teams verfasst werden, eine Folge sollte 15-20 Minuten dauern und es sollte drei Folgen geben, die an drei verschiedenen Tagen zur gleichen Uhrzeit aufgeführt werden. Es galt außerdem typische Erzählund Darstellungsverfahren in die Inszenierung zu integrieren. Eine erste wichtige Erkenntnis bestand schon in den ersten Wochen darin, dass das Erfüllen einer vorgegebenen Form nicht ohne weiteres gelingt. Die Arbeit an der Textfassung erwies sich als unerwartet schwierig. In TV-Soaps wird viel gesprochen und wenig gehandelt, nahezu alle Entwicklungen und vor allem Emotionen werden weniger gespielt als vielmehr erzählt – statt der Schreibregel Show, don’t tell gilt hier das Gegenteil. Weil die einzelnen Folgen und auch die Szenen selbst sehr kurz sind, muss der Text außerdem schnell zum Punkt kommen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Ähnliches galt auch für die szenische Erarbeitung: Während die TV-Serie in der Lage ist, die handlungsarmen Szenen durch Kameraeinstellungen und Schnitt zu strukturieren und zu dynamisieren, wirken auf einer Bühne vor allem weniger pointierte Texte sehr langatmig und statisch. Der Text musste daher sehr genau geschrieben und das Timing beim Spiel sehr präzise sein, damit die Szene ein akzeptables Erzähltempo behielt. So floss deutlich mehr Zeit in die Arbeit am Text, als die Studierenden angesichts eines solch standardisierten Formats vermutet hatten. Medientransfer der Genre-Konventionen Der Unterschied von Medien- und Bühnenformat erwies sich vor allem da als produktive Herausforderung, wo charakteristische Inszenierungselemente von Soaps und Telenovelas aufgegriffen werden sollten: Cliffhanger, Close-up, Vorspann, Voice-Over. Cliffhanger dienten schon im Fortsetzungsroman der „Aufrechterhaltung der Zuschauer-Text-
17 Vgl. Hickethier, Knut, „Serie“, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart, Weimar, 2003, S. 397403, S. 401.
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Beziehung“.18 Es sind narrative Muster, die das Bedürfnis des Publikums, zu wissen, wie es weitergeht, verschieben und die Handlung auf die Ebene der Vorstellungskraft übertragen. Damit erhalten und verstärken sie die Einbindung des Publikums in die Erzählung.19 Martin Jurga nennt den Cliffhanger eine „Super-Leerstelle“20, die eine kalkulierte Offenheit besitzt: Zuschauerinnen und Zuschauer können auf der Basis der bisher erworbenen Informationen und ihrer Genre-Kompetenzen die Erzählung über das zeitliche Ende der Folge hinaus weiterspinnen. Verstärkt wird dieser Effekt häufig durch das Close-up am Ende einer Szene oder Folge, das mit einem Zoom auf das Gesicht der Figur fährt und häufig in einem Standbild endet. Close-ups regen zur Spekulation an, sie stellen eine spezifische Interpretationsaufgabe, indem sie dazu auffordern, das stumme Gesicht zu lesen: „Close-ups provide the spectator with training in ‚reading‘ other people, in being sensitive to their (unspoken) feelings at any given moment.“21 Dadurch stellen Close-ups ein affektives und zuschauerbindendes Moment dar, das gerade für die mit den Mitteln des Melodramas arbeitenden Genres Soap und Telenovela große Bedeutung hat. Allerdings sind Close-ups ohne Kamera-Technik nicht herstellbar. Mit dem im Seminar erworbenen Wissen um die Funktion der Großaufnahmen galt es nun eine Bühnen-Substitution zu finden: Die inszenatorische Übersetzung des kameratechnischen Zoom in einen als Close-up zu erkennenden Bühnenvorgang bestand in einer Konzentration des Lichts auf die im Mittelpunkt stehende Figur, die einen Schritt nach vorn auf das Publikum zu macht und in einem Freeze verharrt. Dadurch entsteht ebenfalls ein visueller Fokus, allerdings fehlt die Vergrößerung des Gesichts und damit auch der Effekt der Lesbarkeit und der Einfühlung, den Modleski beschreibt. Dennoch lässt sich auch dieser Moment als Super-Leerstelle beschreiben und zwar in einer selbstreferentiellen Form: Durch den Medienwechsel ist die Pose als Substitut ausgewiesen. Sie ist nur noch ein Verweis auf eine Konvention und ein Rezeptionsangebot, das sie selbst nicht mehr einlöst. Dadurch verliert sie ihren affizieren18 Jurga, Martin, „Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines seriellen Inszenierungsbausteins“, in: Herbert Willems/Ders. (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen, 1998, S. 471488, S. 472. 19 Ebd., S. 474. 20 Ebd., S. 476. 21 Modleski, Tania, Loving with a Vengeance. Mass-Produced Fantasies For Women, New York, London, 1990, S. 100.
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den Charakter – und erhält im Gegenteil eine komische und in dieser Komik distanzierende Qualität. Ein weiteres charakteristisches Serienelement ist der Vorspann. Die im Seminar analysierten Soap- und Telenovela-Beispiele (z. B. Verbotene Liebe, Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Sturm der Liebe) zeigten eine hochverdichtete Folge von Großaufnahmen und Posen, Schnitten und Überblendungen – auch dies sind Mittel, die auf einer Theaterbühne nicht zur Verfügung stehen. Die sich eindrehende Pose der Protagonisten aus dem Vorspann der nachmittäglichen Telenovela Sturm der Liebe ließ sich allerdings übertragen. Damit diese merkwürdig manierierte Form der Bewegung auch als Vorspann erkannt wird, braucht es allerdings eine Titelmusik. Dafür wurde der Song Seasons of Love aus dem Musical Rent entliehen, der über das Wort Season (Staffel) zugleich den Fortsetzungscharakter betont. Zu dieser Musik erschienen die Figuren nach und nach einzeln oder paarweise auf der Bühne, drehen sich zum Publikum um und verharrten in einer Pose, während die anderen Figuren hinzukommen, bis ein Tableau des Ensembles entstand. Wie in einigen TV-Serien wurde über den Auftritt der Figuren ein Voice-Over gesprochen, das den kürzlich erzählten Handlungsverlauf knapp zusammenfasste (Was bisher geschah) sowie die Figuren in ihrem Kontext kurz vorstellte: „Vanessa, Julies Erzfeindin, ist die Vernissage ein Dorn im Auge. Führt sie etwas im Schilde?“ Auch im Falle des Vorspanns war also die Differenz zum TV-Original offensichtlich und hatte einen ebenso komischen wie erhellenden Effekt: Gerade weil Vorspann und Zoom nicht so funktionierten wie im Fernsehen, wird für das Publikum der Einsatz dieser Mittel deutlicher als im Fluss der medialen Konvention. Der Transfer auf die Bühne verursachte eine Irritation der Wahrnehmung; durch die Abweichung vom gewohnten Darstellungsmodus und die dadurch entstehende Unzulänglichkeit der Formaterfüllung werden genre-typische Mittel, die sonst kaum noch wahrgenommen werden, ausgestellt und in ihrer Funktion befragt. Der Blick hinter die Kulissen – in der Kulisse Neben dem Spiel mit den Fernseh-Konventionen wurden auch die Produktionsbedingungen, die ebenfalls im Seminar Thema waren, zum Teil der Inszenierung. So waren in den Aufführungen nicht nur die Serienfiguren sichtbar, sondern ein Produktionsteam, das – in einer behaupteten Echtzeit – die jeweilige Folge produzierte. Organisatorische Ansagen, Regieanweisungen, Korrekturen und Szenenwiederholungen durchsetzten das Spiel, das gelegentliche Voice-Over wurde live
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eingesprochen, ebenso die Zusammenfassung der vorherigen Folge beim Vorspann und der Ausblick am Schluss. Umbauten, Bühnenwechsel und Kostümwechsel waren offensichtlicher Teil des Geschehens, ebenso die unvollständigen, nur auf den Bildausschnitt hin konzipierten Kulissen. Das Regie-Team hatte tatsächlich die Aufgabe, das Spielgeschehen auf Text, Tempo und Timing hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu unterbrechen, um zu korrigieren und Wiederholungen einzuleiten. In der ersten Folge waren die von außen vorgenommenen Eingriffe überwiegend inszeniert, wobei die als Regie-Team auftretende Gruppe die Möglichkeit und den Auftrag hatte, in tatsächlich misslingende Situationen einzugreifen. Die Spielkonzeption sah vor, dass von Folge zu Folge zunehmend mehr improvisiert wurde, basierend auf einem Script, das die Abfolge der Szenen sowie die wesentlichen Handlungsstränge und Konflikte fixierte. Diese Steigerung folgt der Logik der Überbietung,22 die die Attraktivität der Serie sichern soll als „eine der erfolgreichsten Strategien, Standardisierung in kompetetive Erneuerung zu überführen.“23 Dies gilt keineswegs nur für den Wettbewerb zu anderen, konkurrierenden Serien, sondern auch intraseriell, indem „eine Serie nicht nur mit anderen kommerziellen Serien konkurriert, sondern immer auch mit sich selbst.“24 Im Fall der hier produzierten Bühnenserie Seasons of Love bestand die Steigerung vor allem in der Erhöhung des Improvisationsanteils – und damit des künstlerischen Risikos, aber auch der genrereflexiven Spielmöglichkeiten. Je höher der Anteil der Improvisation war, desto wahrscheinlicher und häufiger war der spontane Eingriff von außen – der künstlerisch auch ohne Panne genutzt werden konnte, um die Erzählung zu unterbrechen und damit sowohl zu stören als auch um einen Blick hinter die Kulissen, also um scheinbare Einblicke in die Realität der Serien-Produktion, zu erweitern. Auf die Spitze getrieben wurde diese Entlarvungsfiktion durch den Austausch einer Schauspielerin mitten in einer Szene in der zweiten Folge.25 Die Studierenden am Regie-Pult waren so 22 Vgl. Jahn-Sudmann, Andreas/Kelleter, Frank, „Die Dymanik serieller Überbietung. Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV“, in: Kelleter, Frank (Hg.), Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 9. Jahrhundert. Kultur- und Medientheorie, Bielefeld, 2012, S. 205-224. 23 Ebd., S. 207. 24 Ebd. 25 In der Daily Soap Verbotene Liebe z. B. wurden immer wieder Darstellerinnen und Darsteller ersetzt – nicht aber die Figuren, so dass die gleiche Figur ohne weitere Begründung von einer Folge auf die andere vollkommen anders aussah.
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zugleich Mitspieler als auch Kontrollinstanz. Das Publikum sah, anders als üblicherweise im Fernsehen, nicht nur die fiktionale SerienErzählung, sondern außerdem den semifiktionalen (teils gescripteten und geprobten, teils gerade tatsächlich stattfindenden) Herstellungsprozess, der durch die Logiken der TV-Produktionsbedingungen seinerseits ebenfalls seriell funktionierte. Insofern wurde sowohl die Serialität als auch die Fiktionalität verdoppelt. Medienwechsel als erkenntnisleitendes Prinzip Durch den Medienwechsel wurde in der Probenarbeit ebenso wie in der Inszenierung deutlich, wie sehr die Soap- und Telenovela-Serien an ihre Medialität gebunden sind. Gerade die affizierenden Mittel wie Close-up und Voice-Over stellten eine Herausforderung dar, ihre Substituierung sorgte in der Bühnenadaption für reflexive Brüche. Für die Studierenden war die doppelt-strukturierte Arbeit in Seminar und Übung, die Analysen und Theoriebildung mit ästhetisch-künstlerischer Praxis verschränkt, auf zweifache Weise erkenntnisreich. Sie lernten erstens, dass auch das Erfüllen einer Konvention Kompetenzen und Genauigkeit erfordert. Zweitens mussten sie sich durch den Medienwechsel mit den technischen und dramaturgischen Bedingungen von Fernsehen und Bühne auseinandersetzen und Übersetzungslösungen finden. Die Differenz zwischen TV und Bühne schärfte außerdem ihren Blick für die Eigenlogiken und spezifischen Qualitäten der jeweiligen medialen Mittel. Für das Publikum wiederum fand durch die dekonstruktive Inszenierung ein ständiger Bruch mit den eigenen Seherfahrungen statt. Neben der Geschichte der Figuren stand die Herstellung dieser Geschichte gleichberechtigt auf der Bühne. Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis in einer pop-kulturellen Bildung Die Beispiele zeigen, dass ästhetische Praxis mehr sein kann als die Umsetzung theoretischen Wissens, und mehr als bloßes Machen im Sinne einer rein handwerklichen Tätigkeit. In der studentischen Übung wurden Fragen an das Material ebenso wie an die Theorie formuliert: Kann das massenmediale TV-Format Soap auf eine Theaterbühne übertragen werden und was sind die Verluste und Gewinne bei diesem Transfer? Was erfahren wir über die Gesetze der Genres und der jeweiligen Medien? Wie ist der eigene Erkenntnisgewinn für das Pub-
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likum sichtbar zu machen? Die Studierenden haben in und mit der ästhetischen Praxis analytisch gearbeitet und so tiefere Erkenntnisse über die Gegenstände – und über künstlerische Prozesse gewonnen. In den Produktions-Ergebnissen werden diese Erkenntnisse auch für ein Publikum zugänglich. Um solche Erkenntnispotenziale in der ästhetischen Praxis zu realisieren, bedarf es einer Konzeption, die nicht nur die notwendigen Fertigkeiten im Schreiben und Spielen vermittelt, sondern ihre jeweiligen Gegenstände, egal ob sie aus der E- oder U-Kultur stammen, theoretisch erfasst und kontextualisiert. Im Fall von populärer Kultur geht es allerdings nicht darum, mangelnde Kenntnisse der Teilnehmenden zu kompensieren oder Zugangsschwellen abzubauen, denn zu den populärkulturellen Genres, Stars oder Artefakten haben die Teilnehmenden in der Regel sowohl Affinität als auch bereits informelles Wissen. Auch die Studierenden hatten Seh-Erfahrungen, auf die sie zurückgreifen konnten und mit denen in Seminar und Übung gearbeitet wurde. Gerade dieses Vorwissen kann jedoch eine besondere Herausforderung darstellen: Denn oft kennen sich die Teilnehmenden im Populären besser aus als die Anleitenden. Dieses informelle Wissen mag häufig desorganisiert und kaum in theoretische Diskurse eingebunden sein – dennoch liegen hier Kenntnisse vor, die in die Arbeit integriert werden können und müssen. Wenn aber Vermittlerinnen und Vermittler eine tiefere Auseinandersetzung mit dem populären, leicht zugänglichen und daher als oberflächlich misszuverstehenden Gegenstand vermeiden, zeigen sie mit dieser Haltung eine Geringschätzung nicht nur für die populäre Kultur selbst, sondern zugleich gegenüber den informell erworbenen Wissensbeständen ihrer Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Hinzu kommt, dass Rezipientinnen und Rezipienten die Erfahrung haben, dass ihnen das Populäre auch ohne Anleitung unmittelbar zugänglich ist. Daher stehen sie pädagogischen Erklärungsmustern potenziell skeptisch gegenüber. Die Deutungshoheit über die einzelnen Phänomene darf daher nicht, in der populären Kultur noch weniger als in der E-Kultur, per se auf der Seite der Vermittlungs-Fachleute liegen, auch dann nicht, wenn diese das entsprechende theoretische und praktische Wissen besitzen. Denn es geht in der Vermittlung populärer Kultur nicht darum, informelles Wissen durch kanonisch abgesichertes zu ersetzen. Damit ginge eine Marginalisierung und Entwertung des informellen Wissen einher, die das produktive Vergnügen, das bei der individuellen Aneignung populärer Kultur entsteht, gefährdet. Ziel von kultureller Bildung muss jedoch sein, nicht nur mehr Wissen zu Kultur und die Fähigkeit zu mündiger Urteilsbildung, sondern zu-
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gleich mehr Vergnügen an der Teilhabe zu generieren. Eine ästhetische Praxis, die nicht bei der Anwendung von Techniken und Genrewissen aufhört, sondern ein souveränes Spiel mit den Gegenständen und ihren Konventionen ermöglicht, verknüpft das Vergnügen mit einem tieferen Verständnis der Artefakte und stärkt künstlerisch-ästhetisch Handlungskompetenzen. Wenn aber in einer handlungsorientierten Vermittlung populärer Kultur mehr als nur der Nachvollzug von Inhalten und das Erproben von Skills stattfinden soll, müssen die informellen Kenntnisse der Teilnehmenden durch das theoretische Wissen der Anleitenden kontextualisiert, überprüft und erweitert werden. Deren Rolle ist dabei die eines Facilitators, indem sie ihr Gegenüber in die Lage versetzen, affektives Erleben und eher unstrukturierte Kenntnisse zu strukturiertem Wissen zu formen. Dies gelingt durch eine intensive theoretische ebenso wie künstlerisch-praktische Auseinandersetzung mit den Vorlagen – den Genres, den Formen und Figuren der populären Kultur. Diese Reflexionsarbeit sollte das „Anwendungsprivileg“ der Teilnehmenden nicht außer Kraft setzen, kann aber als ernsthafte Auseinandersetzung durchaus neue, tiefere und diversere Möglichkeiten der Aneignung und Teilhabe vermitteln. „Weg vom Apriori, kulturelle Bildung verlange Abwendung vom Mainstream und Hinwendung zur ernsthaften Kunst; verlangt ist vielmehr: sich einlassen auf die ästhetischen Regeln und Voraussetzungen des Mainstreams und überlegen, wie ‚auf dieser Basis‘ das Projekt ‚mehr – vielfältigere, reizvollere, anregendere – ‚Kultur für alle‘ voranzubringen ist.“26 Wenn Theorie und künstlerische Praxis als aufeinander bezogene Arbeitsweisen gedacht und realisiert werden, kann ein Reflexionsprozess in Gang kommen, der Theorie und Praxis aufeinander bezieht und in beide Richtungen gleichermaßen wirkt. Auf diese Weise werden neue, kreative Denk- und Handlungsweisen befördert. Gerade weil bei vielen Teilnehmenden bereits informell erworbene Kenntnisse zu populären Gegenständen und praxeologische Kompetenzen vorhanden sind, ist dieser Schritt zu einer reflexiv-kreativen Vermittlungspraxis kleiner als im Bereich der Hochkultur. Zugleich kann über diese Form einer informierten Auseinandersetzung mit populärer (und häufig medialer) Kultur auch eine Annäherung an andere Formen und Formate der Gegenwartskultur initiiert werden. Insgesamt verändern sich dadurch künftige Rezeptionsvorgänge, in de26 Maase, Kaspar, „Der Mainstream der Populärkultur: Feld oder Feind Kultureller Bildung?“.
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nen Wahrnehmung gleich welcher Kultur aufmerksamer und kritischer stattfindet. Aber auch bis in Produktionsprozesse hinein können solch reichere und tiefere Kompetenzen wirken, wenn, im Sinne von Ausbildung, eine reflexive Form ästhetischer Praxis am Ende auch Impulse für die Weiterentwicklung populärer Kultur setzt.
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The Sound of Science. Forschung als ästhetische Praxis Im Sommer 2012 sah ich die sich geradezu frevelhaft gerierende PunkReggae-Metal-Band Skindred in Hamburg bei einem Open Air Festival. Zur Eröffnung ihres Auftritts ließen die Musiker lautstark The Imperial March aus den Star-Wars-Filmen spielen und tausende Menschen im Publikum jubelten ihnen zu. Ohne dass die Band in diesen ersten Sekunden auch nur irgendeine eigene musikspielerische Leistung vollbracht hatte, zollte ich ihr allein wegen der Auswahl dieses Soundtracks zum Auftritt bereits Respekt, hielt sie für pompös, machtvoll, potent. Und: Ich entwickelte die heimliche Phantasie, in naher Zukunft einen wissenschaftlichen Vortrag, den ich in universitären Kontexten halten sollte, auch mit The Imperial March aus Star Wars zu eröffnen. Ich würde das Podium besteigen und mich mit diesen Fanfaren feiern und bejubeln lassen. Allein die martialische akustische Inszenierung würde mich als großartigen Wissenschaftler erscheinen lassen. Ich hab es getan – bei der Antrittsvorlesung im Rahmen meiner Berufung auf eine Juniorprofessur im Studiengang „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ an der Universität Hildesheim. In aller Regel stehen einem solchen Auftritt die Konventionen des Wissenschaftsbetriebs entgegen: Ein Wissenschaftler oder Forscher in Deutschland, der als solcher ernst genommen werden möchte, tut so etwas nicht. Er beeindruckt mit ermittelten Fakten und Fleißarbeit und nicht mit Mitteln der Inszenierung. Oder vielleicht doch? Dass Forschung nicht in dieser populären Weise praktiziert wird, heißt noch nicht, dass sie nicht ihre eigenen Formen ästhetischer Praxis hat. Dies ist daher das Feld, das nachstehend in den Blick genommen wird: das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Inszenierung, Wissensgenese und performativer und ästhetischer Praxis. Insbesondere soll dabei die Frage fokussiert werden, wie auf diversen Ebenen musikalische und forscherische Praxis tatsächlich korrespondieren.1 1 Absichtlich werde ich nachfolgend keine begrifflichen Abgrenzungsversuche unternehmen beziehungsweise nicht versuchen, Wissensproduktion, Wissenschaftsbetrieb, wissenschaftliches Arbeiten, Forschung oder Theoretisieren zu definieren. Genauso wenig werde ich ästhetische Praxis definieren oder, im Konkreten, das Musizieren. Das heißt, Begriffe werden miteinander verwechselt,
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Wie es scheint, gibt es für Musikwissenschaftler_innen lediglich wissenschaftliche Praxis. Zugleich wird diese nicht als ästhetische Praxis wahrgenommen. Manchmal kommt es vor, dass Leser auf meine Beiträge zur Popmusikforschung verächtlich reagieren und meinen, das sei wieder mal Elfenbeinturm-Geschreibsel von jemandem, der mit der musikalischen Praxis nichts zu tun habe. Mein erster Impuls ist dann, dass ich innerlich versuche, mich zu rechtfertigen, und mich als Praktiker, als Musiker und Performer legitimieren möchte. Dann aber erkenne ich eine Dimension, die im Folgenden dargestellt sein soll: Dieses wissenschaftliche Getue, vom wissenschaftlichen Vortrag zurück bis ins fensterloseste Innerste des Elfenbeinturms, erkenne ich als ästhetische Praxis an. Ästhetische Praxis und Praxen innerhalb von Forschung und wissenschaftlicher Arbeit sollen hier fokussiert werden. Das meint wahrscheinlich den gleichen und noch einen anderen Schritt als jenen wichtigen, den Mieke Bal mit „kulturelle Analyse“ beschreibt.2 Bal plädiert für eine „Praxis des Theoretisierens“.3 Sie meint damit die enge Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk.4 Im Sinne der in der Einleitung vorgeschlagenen Systematisierung, würde es Bal um eine kulturwissenschaftliche Forschung zu ästhetischer Praxis gehen; mir geht es hingegen um eine kulturwissenschaftliche Forschung mit ästhetischer Praxis. In meinem vorliegendem Beitrag gibt es zunächst einmal kein als solches bezeichnetes Kunstwerk. Gesucht werden stattdessen Dimensionen des Kunstähnlichen im Akt des Theoretisierens. Beispielhaft werden der Forschungspraxis und Wissensgenese inhärente kreative Umgangsweisen mit dem Auditiven vorgeführt. Dies geschieht, weil meine Forschungs- und Praxisschwerpunkte im Bereich der Populären Musik liegen. gleichgestellt, übergeneralisiert. Zwischenzeitlich wird Forschung schlicht an Universitäten verortet oder bedeutet vielleicht auch einfach Technologie – die Lehre von der Technik. Auch der Terminus ästhetische Praxis wird mal mit Kreativ-Sein oder kreativem Denken gleichgesetzt, mit Kunst- oder Musikmachen, mit Proben-Praxis und sogar mit Ästhetik selbst verwechselt. Mir ist bewusst, dass das im Wissenschaftskontext ein beinahe unverzeihlicher Fehler ist, aber ich ziele im Nebeneffekt auf ein Spiel der Verwischung von Grenzen und das Aufzeigen der hybriden Struktur der Akte in Wissenschaft und ästhetischer Praxis. 2 Vgl. Bal, Mieke, „Performanz und Performativität“, in: Jörg Huber (Hg.), Kultur – Analysen, Zürich 2001, S. 197–242, S. 198. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd.
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Das Plädoyer für das Theoretisieren als ästhetische Praxis wird an dieser Stelle verfasst, weil sich hinter einer Trennung Bewertungsstrukturen verbergen: Die Unterscheidung zwischen Forschung und ästhetischer Praxis, Wissenschaft und Musik provoziert und reproduziert Stereotype. In der dualistischen Vor-Stellung schwingen Fragen wie die folgenden mit: Wer vermag Wahrheiten zu ermitteln und zu vermitteln? Wer präsentiert nur subjektive Befindlichkeiten? Die Idee einer Umkreisung des Komplexes Theoretisieren und Forschen als ästhetische Praxis bringt mich zugleich in eine fast aussichtslose Situation. Ich finde mich mit diesem Ansatz in einem Feld wieder, in dem auch die ästhetische Praxis disziplinär institutionalisiert, definiert und vereinnahmt wird. Die Intention ist allerdings nicht vergleichbar mit dem in den letzten Jahren auszumachenden und vielleicht auch schon wieder abgeebbten Hype um Artistic Research. In dessen Mittelpunkt stehen oftmals Verwertungsinteressen an ästhetischen Praxen, also die Frage, wie etwa Populäre Musik oder Kunst für Forschung und Wissensgenese brauchbar gemacht werden können.5 Die Absicht hier ist aber weder die Objektivierung der Kunst, noch die Subjektivierung der Wissenschaft, sondern die Betonung des ästhetisch Ge-formten in wissenschaftlichen Objektivierungsprozessen. Imaginierte Wissenschaft und Forschung/Performative Wahrheit Die Einleitung dieses Textes mit der Frage nach der Bedeutung von The Imperial March für einen wissenschaftlichen Vortrag mag als allzu flach und banal gelesen werden, um zu verdeutlichen, dass Vorträge immer auch Performances sind. Es sei deshalb noch weiter gezeigt, dass nicht nur im Kontext der wissenschaftlichen Präsentation das Theoretisieren als ästhetische Praxis zu erkennen ist. Einmal angenommen, es sei so, wie sich die wissenschaftliche Praxis gibt, und es gäbe die zwei unterschiedlichen Prozesse: 1. Sachorientierte Forschung und 2. Forschungspräsentation oder Darstellung der Forschung.6 Was wäre zu entdecken, 5 Meine Skepsis in diesem Zusammenhang geht nicht in die Richtung, dass Wissensgenese durch vor allem kritische Künste bezweifelt wird, sondern sie ist eher verbunden mit einem Unbehagen gegenüber der alles umfassenden Aufforderung zur Wissensproduktion unter einem „postfordistischen Paradigma des kognitiven Kapitalismus’“. Vgl. „Creating Worlds“, in: european institute for progessive cultural policies, http://eipcp.net/projects/creatingworlds/files/ about-de, letzter Zugriff am 25.06.2016. 6 Vgl. Peters, Sibylle, Der Vortrag als Performance, Bielefeld, 2011, S. 184.
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wenn einmal die offensichtlich performativen Teile, die Präsentationsformate, unberücksichtigt blieben und der reine Forschungsteil als ästhetische Praxis fokussiert würde? Was passierte im musikwissenschaftlichen Elfenbeinturm? Es würde sich zeigen, dass auch die oder der für sich allein in seinem stillen Kämmerlein, zum Beispiel über Büchern und Statistiken grübelnde Wissenschaftler kreativ und gestalterisch arbeitet. Als Beispiele für solche ästhetisch-praktischen Prozesse seien gerade die als wissenschaftlich besonders objektiv geltenden Methoden der Analyse von visuellen Darstellungen von Musik angeführt: Frequenzanalyse, Spektralanalyse, Schalldruckpegel-Darstellungen in Dezibel usw. Sie erscheinen so physikalisch sowie naturgesetzmäßig fundiert, und doch ist auch die Praxis der Physik, betrieben als Fach oder Disziplin, eine ästhetische. Jede visuelle Darstellung von Musik, so hält unter anderem der Soundscape Forscher Murray Schafer fest, ist zunächst willkürlich.7 Dass beispielsweise bestimmte Wellenformen gezeichnet werden und wie groß Pegelausschläge ausfallen, welche Farbe oder Grauschattierung irgendwelchen Druck- oder Schwingungsregelmäßigkeiten zugeordnet werden, ist faktisch regellos. Die Regel muss praktisch erst festgelegt werden. Vor diesem Hintergrund sind visuelle Darstellungen von Musik nicht zuletzt deshalb als Metaphern zu lesen. Wenn jemand im digitalen Audio-Schneide-Programm mit der digitalen Lupe in eine Schwingung zoomt, ist das keine „Reise ins Innere der Klänge“, wie Rolf Grossmann richtig feststellt.8 Es ist höchstens als Reise in die Technologie oder genauer als Umgehen mit grafischen Metaphern (Lupen, bunten Wellenzeichnungen) zu verstehen.9 Theoretisieren ist eine Praxis des Treffens von Vereinbarungen. Auch das, was als technische Realität und damit als naturgegeben erscheint, entspringt ausgehandelten Prozessen, die sich nur dann durchsetzen lassen, wenn sie ästhetisch überzeugen. Sie müssen, wie zum Beispiel die Spektralanalyse, für das ungeschulte Auge vielleicht besonders komplex wirken und sich nicht auf den ersten Blick erschließen lassen, damit sie gerade deshalb von den entsprechend ausgebildeten Wissenschaftler_innen akzeptiert werden. Oder sie müssen, ganz im Gegen7 Vgl. Schafer, Murray R., Klang und Krach. Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt/Main, 1988, S. 166. 8 Vgl. Grossmann, Rolf, „Spiegelbild, Spiegel, leerer Spiegel. Zur Mediensituation der Clicks & Cuts“, in: Marcus S. Kleiner (Hg.), Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt/Main, 2003, S. 52-68, S. 61. 9 Vgl. ebd.
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teil, den Laien relativ schlicht irgendwelche Ausschläge anzeigen. Die meisten Menschen, die an ihrer Hifi-Anlage irgendwelche Leuchtdioden blinken sehen oder die Displays digitaler Audioplayer öffnen, wissen wahrscheinlich nicht, was genau da eigentlich angezeigt wird. Irgendeine grafische Darstellung von Frequenzen oder Dezibel scheint einfach so etwas wie guten Sound und Wiedergabetreue zu bezeugen. Die scheinbare Notwendigkeit der Kreation vielfältiger Formen der Visualisierung von Musik verdeutlicht buchstäblich ihre Perspektiviertheit. Die grafischen Darstellungsversuche sind selbst der wissenschaftliche Beweis dafür, dass die sachliche, allgemeingültige Analyse nicht nur eine informationsgesättigte, sondern auch eine ästhetisch geformte Wahrheit bleibt. Der Versuch, Visualisierung von Musik als eine ästhetische Praxis vorzustellen, soll der Annahme entgegenwirken, die sogenannten harten oder exakten Wissenschaften hätten mit dem in den Kulturwissenschaften ausgerufenen performative turn nichts zu tun. Theorien, Wissen, Forschungsergebnisse, Wahrhaftigkeiten werden zwischen Forscher_innen und/oder einem anderen Zielpublikum ausgehandelt.10 Jens Ruchatz schreibt in seinem Artikel „Der Text ist meine Party“: „Dass der Erfolg von Theoriebildung nicht ausschließlich durch Rationalität reguliert wird, sondern mit den irrationalen Diffusionsmechanismen des Populären gewisse Züge teilt, äußert sich beispielsweise in der sinnfälligen Rede von ‚Theoriemoden‘“.11
Als solche Theoriemoden sind sicherlich Artistic Research, künstlerische Forschung oder auch die an dieser Stelle betriebene Zusammenführung von Forschung und ästhetischer Praxis anzusehen. Mit diesem Zitat von Ruchatz sei jedoch der Aspekt hervorgehoben, dass nicht ausschließlich Rationalität Wissen generiert. Die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird und von wem, ist bestimmend dafür, was sich als Denkund Wissensform in einer Kultur durchsetzt. Die Feststellung, Theorie verbreite sich ähnlich kontingent wie das Populäre, bedeutet auch, dass 10 Vgl. Meixner, Uwe, „Metaphysische Begründung oder: ‚Wie Rational ist Ockhams Rasiermesser‘?“, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, Berlin, 1999, S. 407-416, S. 413. 11 Ruchatz, Jens, „‚Der Text ist meine Party‘ – sechs Punkte zum Theoriebedarf der Erforschung des Populären“, in: Christoph Jacke/Jens Ruchatz/Martin Zierold (Hg.), Pop, Populäres und Theorien. Forschungsansätze und Perspektiven zu einem prekären Verhältnis in der Medienkulturgesellschaft, Berlin, 2011, S. 6478, S. 65.
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eine Erkenntnis, die keiner oder nur einer kennt, eben noch kein Teil der Wissenschaft, noch nicht im „Raum des Wahren“ ist. Spätestens an dieser Stelle muss ich für eine gute Performance als Kultur- und Musikwissenschaftler ein Zitat von Michel Foucault einbauen: „Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß“.12 Diese Aussage traf Foucault in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France (2. Dezember 1970), die Sibylle Peters in ihrem Buch Der Vortrag als Performance sicher ganz treffend selbst als Reflexion des Theaters Antrittsvorlesung versteht.13 Wir wissen spätestens infolge von Foucaults Wille zum Wissen (1977), dass Wissenschaftlerinnen Interpreten sind. Sie betreiben in scheinbarer Distanz eine „Hermeneutik des Verdachts“.14 Forschung, Theoretisieren, aber eben auch Musikkomponieren als ästhetische Praxis sind dementsprechend als kreative Zukunftsantizipation aufzufassen. So ist zum Beispiel die Musiksoziologie damit beauftragt, Prognosen über den Umgang mit Audio-Medien zu liefern, Rezeptionsverhalten nach Klassen, Geschlecht, Alter vorherzusagen und einzuschätzen – das bedeutet kreative Zukunftsantizipation. Darüber hinaus legen diese Anmerkungen zum wissenschaftlichen Vortrag genauso wie zur wissenschaftlichen Analyse nahe, dass es höchst unterschiedliche Räume und Orte der Wissensdarstellung wie -vermittlung gibt: den wissenschaftlichen Kongress, die Vorlesung vs. die Bibliothek, das Podium vs. der Schreibtisch. Für Musikwissenschaftler_innen gilt zudem: Der Kopf-hörer vs. das Konzert. Die unterschiedlichen Technologien und Techniken sind ästhetische Praxis: Wellen zeichnen und Projektionsfolien erstellen, Analyse bedeutet in Samples zerklüften oder im Flow Samples live mixen. Es gibt, wie sich zeigt, im Akteurs-Netzwerk Musik niemals einen Raum des nicht-ästhetischen Praktizierens. 12 Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. 2. Dezember 1970, München, 1974, S. 25. 13 Vgl. Peters, Sibylle, Der Vortrag als Performance, S. 115. Sibylle Peters weist darauf hin, dass der Grund für die Anstellung einer Forscherin oder eines Forschers zu einem nicht unerheblichen Teil von ihren performativen Qualitäten, die sie/er in einer Probevorlesung und im Vorstellungsgespräch unter Beweis stellen, liegt. 14 Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim, Basel, 1994, S. 212.
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Wissenschaft und Forschung als kulturpoetischer Akt So wie heutzutage in Kontexten der populären Musik etwa die Technologien nicht mehr nur als Speicher- und Wahrnehmungsmedium gedacht werden können und der/die DJ nicht mehr einfach als Abspieler von fixierten Werken agiert, so sind wissenschaftliche Forschung und Theoriebildung nie einfach nur nachträgliches Nachvollziehen und Präsentieren. Wissenschaftler_innen agieren immer als multifunktionale Kommunikator_innen und arbeiten zu einem nicht zu unterschätzenden Teil kulturpoetisch – erschaffend, hervorbringend.15 Wissenschaft und Forschung wirken kulturpoetisch und die wissenschaftliche Praxis ist als ästhetische Praxis zu beforschen. Diese Praxis zu erforschen, ist im Sinne Bruno Latours und Steven Woolgars genau so sinnvoll, wie die Erforschung der Praxen der „exotischen Völker“16. Als Beispiel möchte ich ein Phänomen vorstellen, das ich beim deutschsprachigen Stamm der Wissenschaftler_innen für Populäre Musik beobachtet habe. Es ist ein sich unter ihnen etablierender Kompositionsstil, der den überaus schlichten Platzierungsstrategien in Populärer Musik ganz ähnlich ist: Unter diesen Popmusik-Akademiker_innen hat sich inzwischen ein ganz schlichtes Muster, eine Ästhetik zur Komposition von Überschriften für wissenschaftliche Artikel etabliert. Sie haben die Bedeutung des Sounds der Überschriften, gleichsam Hooklines in Tracks, erkannt. Um diese Praxis zu veranschaulichen, habe ich mir für den vorliegenden Artikel erlaubt, ebenfalls einen derart anbiedernden Titel, nach dem typischen Populäre-Musikwissenschaft-Muster zu komponieren: „The Sound of Science. Forschung als ästhetische Praxis“. Um diese Praxis zu veranschaulichen, folgt hier ein Überblick über meine Vorlagen (Überschriften deutschsprachiger, wissenschaftli15 Was wäre die Musikwissenschaft oder Musiksoziologie ohne Adorno? Und was wäre Zwölftonmusik ohne Adorno? Der Kulturindustrie-Kritiker müsste heute bei the Voice of Germany in den Pausen easy listening spielen, um seinen eigenen Einfluss auf Musik zu relativieren, den er mit seiner in Worte der Analyse getarnten Dauerwerbesendung für Post-Schönberg-Musiken gewonnen hat. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bilden die Stile mit: Was wäre Punk und semiotische Guerilla ohne Dick Hebdige? Was wäre HipHop ohne Tricia Rose, die Blackness in den Party Rap vehement mit eingelesen hat? Was wäre Bass Music, diese elektronischen Tanzmusiken, die ohne Lyrics auskommen, ohne eine ganze Akademiker_innen-Generation, die versucht, Sinn in sie hineinzuschreiben? 16 Latour, Bruno/Woolgar, Steven, Laboratory Life; The construction of scientific facts, Princeton, 1986, S. 17.
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cher Artikel der Online-Publikation Samples des Arbeitskreises „Studium Populärer Musik (ASPM)“ von 2007 bis 2011 sowie dort zitierter deutschsprachiger Literatur):17 „‚Real Niggaz Don’t Die‘: Männlichkeit im HipHop“; „Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt“; „Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung“; „Swingin’ his hands faster than Karate Kid. Der Gehörlose Rapper Signmark und Gebärdensprache im HipHop“; „Talkin’ all that Jazz – Ein Plädoyer für die Analyse des Sampling im HipHop“; „Diggin’ in the Crates – Genrehybridität im HipHop“; „Somewhere in Time – Zum Verhältnis von Alter, Mythos und Geschichte am Beispiel von Heavy Metal-Festivals“; „My Name Is Nothin’. Bob Dylan: Nicht Pop, nicht Kunst“; „‚Taking it to the Streets‘... Psychotherapie, Drogen und Psychodelic Rock: Ein Forschungsüberblick“.
Es ist also offensichtlich wichtig, mit Titeln nicht nur sachlich Inhalte zu vermitteln, sondern diese auch als Attraktoren einzusetzen. Diese Überschriften verdeutlichen eine für manchen mehr oder weniger wohlklingende Textkompositionsart, in jedem Fall aber eine gelernte ästhetische Praxis. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer spricht auch von „Wissenschaftsgestaltung“, denn er stellt fest, dass auch in den sogenannten Naturwissenschaften Stil zu erkennen sei. Ein geübter Physiker könne erkennen, ob er eine Arbeit von Einstein oder von Boltzmann lese. Das Ziel der Erforschung der Wissenschaftsgestaltung ist es, „dem Wissenschaftswerk so gegenüber treten zu können, wie man einem Kunstwerk gegenüber treten kann, wie man einem Drama im Zuschauerraum des Theaters gegenübersitzen kann“.18 Forschung, Theoretisieren, Theoriebildung und wissenschaftliches Arbeiten sind auch ästhetische Praxis. Dabei lassen sich viele Parallelen zur musikalischen Praxis finden, auch wenn Forschung und Theoriebildung als Praxis begriffen keineswegs identisch mit der Praxis des Musizierens sind. Es ist allerdings unvermeidbar, Theoretisieren als ästhetische Praxis zu betreiben, insbesondere dann, wenn ihr Gegenstand Musik ist. Gerade die Musikwissenschaft ist eben auch eine ästhetische Praxis. Nicht etwa in dem Sinne, wie sie oftmals in falschen Formulie17 Das Online Magazin des ASMP ist hier einzusehen: http://www.aspm-samples.de/, letzter Zugriff am 19.05.2016. 18 Fischer, Ernst Peter, „Wissenschaft ist eine Ansammlung von Geheimnissen“, in: Klaus Heid/John Ruediger (Hg.), Transfer: Kunst Wirtschaft Wissenschaft, Baden-Baden, 2003, S. 69-86, S. 72.
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rungen erscheint, zum Beispiel als „musikalische Analyse“.19 Die Musikwissenschaft ist deshalb ästhetische Praxis, weil sie ihren Gegenstand in etwas anderes als Musik transformieren muss. Sie muss Musik zum Beispiel in die Form des Textes verwandeln oder, wie oben beschrieben, Visualisierungen kreieren und damit bildhafte oder zeichenhafte Formen nutzen.20 Wenn es vor allem im letzten Jahrzehnt eine Tendenz gab, von künstlerischer Forschung, Art as Knowledgeproduction oder Performance as Research zu sprechen, so kann auch Knowledgeproduction as Art gedacht werden. Weil Wissenschaft eine Praxis ist, gibt es auch eine Wissenschaftstheorie. Noch wird die Wissenschaftstheorie als Teil der Philosophie betrieben, wenn aber klar wird, dass es um die Formen des Erkenntnisgewinns geht, also um The Erotics of Knowledgeproduction oder ästhetisch geformte Formen, heißt das, dass sich die Wissenschaftstheorie mit der Wissenschaft und Theoriebildung als ästhetische Praxis beschäftigen muss. Es kann sogar zu meta-erotischen Praxen kommen, so sich mit der Wissenschaftstheorie als ästhetische Praxis beschäftigt wird. Ein kleiner Exkurs zur Erstellung wissenschaftlicher Begriffe und deren Ranking bei Google mag dies veranschaulichen: Die Suche bei Google unter den Stichworten „Forschung als ästhetische Praxis“ in Anführungsstrichen ergibt am 5. Januar 2013 zwölf Treffer. Elf davon verweisen auf ein Tanzprojekt und einer auf meine Antrittsvorlesung unter diesem Titel an der Universität Hildesheim. Weil ich den Vortrag mit gleichem Titel auch noch an der Universität der Künste in Berlin gehalten habe, stieg die Zahl der Treffer im Verlauf des Jahres 2013 aufgrund der Vorankündigungen im Netz noch einmal an. Letztlich ist genau dieser Akt, „Forschung als ästhetische Praxis“ zu bezeichnen, bereits mehr als nur eine bloße Benennung: Er ist eine kreative Praxis und ein theoriebildnerischer Akt zugleich. Der Akt, „Forschung als ästhetische Praxis“ zu bezeichnen, ist dabei zum einen ein poetischer Akt. Es wird etwas geschaffen und kommt in die Welt oder Suchmaschinen. Zum anderen ist er theoretisch in dem Sinne, dass er in Differenz zu etwas anderem geschaffen wird, dass für diese Kennzeichnung Argu19 Eggebrecht, Hans Heinrich, „Verstehen durch Analyse“, in: Christoph von Blumröder/Wolfram Steinbeck/Simone Galliat (Hg.), Musik und Verstehen, Laaber, 2004, S. 18-28, S. 18. 20 Vgl. Kramer, Lawrence, „Subjectivity Unbound: Music, Language, Culture“, in: Martin Clayton/Trevor Herbert/Richard Middleton (Hg.), The Cultural Study of Music, New York, 2011, S. 395-406, S. 397.
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mente gefunden werden können, dass darüber philosophiert werden könnte, wann, wie und von wem diese Argumente akzeptiert werden, oder auch, eher im mathematischen und physikalischen Sinne, dass danach gefragt werden kann, nach welchen speziellen Gesetzen sich ästhetische Praxis ergibt. Verflechtungen zwischen forscherischer und musikalischer Praxis Um wieder zu konkreteren, praktischeren Verflechtungen der oftmals voneinander getrennt gedachten Felder Forschung und ästhetische Praxis zurückzukehren, möchte ich nachfolgend weitere Beispiele aus der Auseinandersetzung mit Musik einbringen: Zunächst sei als Nachtrag zur gewählten Überschrift „The Sound of Science“ vermerkt, dass viele der heutigen Musikinstrumente ursprünglich als wissenschaftliche Messinstrumente entwickelt wurden. Unter anderem kann die Entwicklung des Mikrofons mit der des Mikroskops oder des Fernglases als akustisches Vergrößerungs- oder Verstärkungsinstrument kulturgeschichtlich relativ parallel verortet werden.21 Auf der Internetseite http://www.thesoundofscience.com werden zahlreiche medizinische Mess- und Hilfsgeräte als Neuheiten vorgestellt, die über akustische Signale funktionieren.22 Früher oder später werden diese neuen Technologien auch als Musikinstrumente eine Rolle spielen, so wie etwa die Entwicklung des Herzschrittmachers mit Hilfe des Metronoms nicht denkbar ist. Mit einer anti-essentialistischen Auffassung von Forschung und ästhetischer Praxis einher geht auch die Auflösung von starren Zuordnungen zwischen Technologie, Messinstrument und Musikinstrument. Im Magazin für Musik, Medien, Kultur und Selbstbeherrschung DEBUG war in der Ausgabe 7/8 des Jahres 2012 ein interessantes Beispiel zu lesen, das auch die Verflechtung zwischen forscherischer, musikalischer Praxis und Theorie sowie mit Technologien verdeutlicht. Der Journalist und Medienkritiker Sascha Kösch führte für das Magazin ein Interview mit dem Electronic-Dance-Music-Produzenten Stuart Wal-
21 Vgl. Schafer, R.M., Klang und Krach, S. 151. 22 Der Zugriff auf die Internetseite www.thesoundofscience.com war am 27.10. 2012 noch möglich. Die Netzseite existiert in dieser Form und mit den genannten Inhalten im Jahr 2015 nicht mehr.
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ker in Berlin.23 Walker hat für oder mit der Firma Native Instruments ein digitales „MusikmachDing“ entwickelt, das zum Remixen, Soundfile-Bearbeiten, Live-DJing und für Ähnliches genutzt werden kann. Es sei eine Passage aus dem Interview zitiert: „DEBUG: Würdest du einen speziellen Workflow für das Erstellen von Remix Decks empfehlen? Walker: Ja. Ganz von vorne anfangen. Mein eigener Approach kommt natürlich von meiner Art des Produzierens. Stems aus der DAW sind bei mir die Grundlage. Ich schreibe erst mal alles in Live oder Logic, dann bounce ich die Loops von acht Takten. Oft hebe ich den Gain noch in einem Audio-editor an und fülle damit meine Remix Decks. Mit den Live-Resampling-Funktionen habe ich mich nicht so sehr beschäftigt, weil ich einfach selber schon so viel Material habe und es sowieso mag, von mir selbst zu samplen.“24
Die performative Dimension dieser Satzbauten und des Sprachenmixes sei durch den Wiederabdruck dieses Zitates veranschaulicht, aber nicht weiter vertieft. Das von Walker mitentwickelte Gerät namens Traktor F1, bietet unter anderem die Möglichkeit, eine Oberfläche mit 64 Sample-Zellen zu definieren, und weil man sehr leicht die Übersicht verlieren kann, sagt Walker selbst: „Ja, deshalb habe ich mich von Anfang an auch auf 16 oder 32 [Samples] beschränkt“.25 Walker hat diese Maschine mitentwickelt, die theoretisch mehr könnte, als er in der Praxis zu verwenden vermag und die er, so zeigt sich, im Verlauf des Gesprächs, zum Zeitpunkt des Interviews live noch nie zum Einsatz gebracht hat. Der Grund für die Auswahl dieser Passage liegt darin, dass sich entlang dieser für den Zusammenhang Forschung als ästhetische Praxis leicht irritierende oder kritische Fragen entwickeln lassen: Was ist als ästhetische und was als technische Praxis in der Arbeit Walkers zu bezeichnen? Ist die Entwicklung des MusikmachGeräts Teil des Prozesses des Musikmachens, der Technologie oder der Forschung? Ist die Entwicklung eines solchen Remix Decks von jemandem aus der sogenannten Praxis als Forschung zu bezeichnen? Eine eindeutige Trennung zwischen Forschung, Entwicklung und ästhetischer Praxis ist meines
23 Vgl. Kösch, Sascha, „Native Instruments F1. Remix, DJ, Live!“, in: Debug 164, 07/08 (2012), S. 64-65, S. 65. 24 Ebd. 25 Ebd.
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Erachtens im Fall Walker und F1 aufzugeben. Es ist nicht einmal mehr festzustellen, ob Walkers Intention bei der Konstruktion von F1 allein das Musikmachen war. Er schafft am MusikmachDing Funktionen, die er zum Musikmachen nicht brauchen wird. Sie sind einfach Teil der entwicklerischen Praxis, die selbstverständlich Teil einer theoretischen, technischen wie ästhetischen Auseinandersetzung ist. Worauf möchte ich hinaus? Es ist nicht feststellbar, wo musikalische Praxis oder auch Forschung anfängt und wo sie aufhört.26 Stuart Walker reagiert offenbar auf Prozesse in ästhetischer und forscherischer Praxis und stößt auch solche selbst an. Es kann behauptet werden, dass – und diese satzeinleitenden Worte signalisieren wohl den Versuch der Genese einer Theorie –, wenn im Kompositions- oder Musikmachprozess zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Technik und technischen Metaphorik zuerst stattfindet (und das tut sie in zeitgenössischer Electronic Dance Music sehr häufig), sogar das Forschen und Theoretisieren als so etwas wie eine meta-ästhetische Praxis zu bezeichnen ist. Es sei damit auch dargestellt, dass es nicht nur performative, imaginierte Forschungs- und Wissenschaftspraxis gibt, sondern auch ästhetische Praxis imaginierte, nicht klar abgesteckte Prozesse bedeutet. Theoretisieren und Populäre Musik machen bedeutet heute „abstrahierte Modellierung von Wirklichkeiten zu liefern“27, so zumindest erklärt und parallelisiert Jens Ruchatz zeitgenössische musikalische Minimal-Tendenzen und die Leistungen theoretischer Beschreibung. Imaginierte ästhetische Praxis Infolge der poststrukturalistischen Theorien, infolge der Diskursanalyse, Gender-und Postcolonial Studies waren und sind nicht zuletzt die Wissenschaften selbst damit beschäftigt, die Perspektiviertheit der Forschungen zu dekonstruieren. „The making of“ des „Theaters des Wissens“ wurde von Foucault wie von Bourdieu jeweils in den Antrittsvor26 Die Frage nach Anfängen von Forschung oder musikalischer Praxis ist etwa in dem Sinne zu verstehen, in dem auch Bruno Latour seine Leser_innen bittet „für eine bestimmte Zeit ihren Glauben an irgendeinen realen Unterschied zwischen Mikro- und Makro-Akteuren beiseite zu legen“. Latour, Bruno, „Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben“, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Eine einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 2006, S. 103-134, S. 105. 27 Vgl. Ruchatz, Jens, „Der Text ist meine Party“, S. 67.
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lesungen vorgeführt.28 Um die Künste und insbesondere die Musik wabern aber weiterhin weniger dekonstruierte Mythen. Die vermeintliche Praxis inklusive ihres apodiktischen Arguments der Subjektivität, zu der es deshalb auch entsprechende Theoriedisziplinen geben muss (Kunstwissenschaft, Musikwissenschaft etc.), wird von ihren Agent_innen (Musiker_innen, Musikwissenschaftler_innen, Konsument_innen usw.), aber genauso imaginiert wie die Objektivität der Wissenschaften. Ästhetische Praxis ist genauso eine imaginäre Praxis wie das Theoretisieren und das Sich-im-Raum-der-Wahrheit-Befinden. In Bezug auf das ästhetische Praxis-Phantasma ist festzustellen: 1. Die ästhetische-Praxis-Betreibenden pflegen einen ähnlichen Wahrheitsdiskurs wie Wissenschaftler. 2. Die ästhetische Praxis ist genauso langweilig wie die Forschung. Schwingen in der gesellschaftlichen Imagination des Theoretisierens die Objektivität und Regelerkenntnis mit, so ist es im Zusammenhang mit der ästhetischen Praxis die Kreativität. Ich möchte aber behaupten, dass ästhetische Praxis in den meisten Phasen häufig unkreativ ist und stumpfes Regellernen bedeutet. Als Beispiel sei der mehr oder weniger didaktisch ausgeklügelte Musikunterricht angeführt: Er bedeutet für die Instrumentalschüler_innen Nachahmen. Der Grundstein dieser ästhetischen Erziehung ist eine konformitätsfördernde Handlungsanweisung.29 Eine Reflexion auf Seiten der Lernenden findet oft nicht statt und allzu oft ist festzustellen, dass sich Musiker_innen schwer von der Spielweise ihrer Lehrer_innen lösen können. Beim Blick auf die Programme der meisten Konzerte, seien es klassische oder auch die scheinbar durch freie Improvisation geprägten Jazz- und Neue-MusikVeranstaltungen, wird deutlich, dass die Schüler_innen sich oft noch nicht einmal vom Repertoire ihrer Lehrer_innen trennen. Mit der Formulierung der These, die ästhetische Praxis sei genau so langweilig wie die Forschung, ziele ich auf eine Entmystifizierung a) der Praxis als dauerhaft kreative Handlung beziehungsweise der Forschung als unkreative Handlung und b) der Praxis als forschungs- und theoriefreies Etwas. Der Grund hierfür liegt darin, so meine komplementäre These, dass die ästhetischen Praxis-Betreibenden einen ähnlichen Wahrheitsdiskurs wie Wissenschaft-Betreibende pflegen. Die
28 Vgl. Peters. Sybille, Der Vortrag als Performance, S. 10. 29 Vgl. Lingner, Michael, „Theorie als Praxisform“, in: Kunst + Unterricht 176 (1993), S. 24-27.
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Agenten der ästhetischen Praxis pflegen oftmals einen „ästhetischen Essenzialismus“.30 Vielleicht ist in den letzten Jahrzehnten erreicht worden, dass ein Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Musikkulturen (zum Beispiel sogenannter Klassik und sogenannter Popmusik) akzeptiert wird. Der stilistische, epochale Essentialismus ist in vielen Köpfen möglicherweise überwunden. Die sogenannten Praktiker_innen leugnen aber weiterhin regelmäßig die Praxis des Theoretisierens in ihrem musikalischen Tun. Es gibt kaum ein Interview in einem Populäre-MusikMagazin, in dem nicht in irgendeiner Weise behauptet wird: „Ich mache einfach Musik, ich denke da wirklich nicht drüber nach“, so Cooly G. in der gleichen DEBUG Ausgabe wie Walker.31 Acid Pauli sagt in derselben Ausgabe über sein neues Album: „Ich liebe es einfach [sic!] Sachen zum ersten Mal zu machen. […] Dieses komplett Unbefangene gefällt mir“.32 Er mache seine Musik nicht für eine akademische Minderheit, die alles analysieren und interpretieren müsse.33 Eine solche Aussage ist sicher nicht einfach als naiv abzutun, sondern solch ein Akt im Interview muss eben selbst als meta-diskursive Performance verstanden werden. Dem sehr erfahrenen Musiker Acid Pauli (unter anderem Mitglied von The Notwist) dürfte klar sein, dass seine ästhetische Praxis von einer Theoretisierung und damit einhergehenden Literarisierung, sogar in Form dieses Interviews, profitiert. Dass über Populäre Musik in Wissenschaftskontexten reflektiert und geschrieben wird, hat sie erst wichtig werden lassen – zumindest in bestimmten Kreisen und vielleicht auf eine Art, die die Erfahrung von Pop nur miserabel kommuniziert. Der Popmusikforscher Ole Petras verweist auf die Kastelruther Spatzen, die zum Beispiel im Kontext des Konsums Populärer Musik höchst relevant seien, die aber in der Forschung kaum eine Rolle spielten, im Gegensatz zu Die Goldenen Zitronen, über die es nach Petras beinahe mehr diskursive Auseinandersetzungen in Büchern zu geben scheint, als sie Schallplatten verkauft haben.34
30 Ich erweitere hier den Terminus des Soziologen Ludwig Bühl. Vgl. Bühl, Ludwig, Musiksoziologie, Bern, 2004, S. 90. 31 Vgl. Döringer, Michel/Dröner, Alexandra, „Cooly G. Willkommen in meiner Welt“, S. 8. 32 Laier, Philipp, „Acid Pauli Volksmusikant“, S. 16. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Petras, Ole, Wie Popmusik bedeutet: eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung, Bielefeld, 2011, S. 270.
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Der Essentialismus der ästhetischen Praxis bedeutet in populärkulturellen Zusammenhängen das Abstreiten einer ihr inhärenten Praxis des Theoretisierens. Ein sich gegenseitiges Abstoßen und Verdrängen in der Bestimmung der Prozesse und Strukturen der ästhetischen Praxis und der Welt der Wissenschaft ist also zu erleben. Dieses gegenseitige Abstoßen wird aber nicht nur von den vermeintlichen Praktikern betrieben. Die Praxis ist auch in den wissenschaftlichen Akademien irgendetwas, was da draußen ohne sie – und oftmals ökonomisch sehr viel lukrativer als sie selbst – vor sich zu gehen scheint. Die Universitäten schleudern sich selbst aus dem Praxis-Boot, in dem es eigentlich zu rudern gilt. Dass die Praxis irgendwo da draußen, Wissenschaft und Forschung keine Praxis – und schon gar keine ästhetische Praxis – zu sein scheint, darauf verwiesen auch die beiden Popmusik-Forscher Christoph Jacke und Martin Zierold mit ihrem Beitrag: „Das Theorie/ Praxis Missverständnis“ im Rahmen der Tagung Pop Transfers.35 Ein Blick auf zwei Passagen von der Homepage des Studiengangs an der Universität Paderborn, in dem Christoph Jacke lehrt, verdeutlicht diese Widersprüchlichkeiten. Dieser Blick auf eine andere Universität sei erlaubt, weil Jacke dieses Thema selbst bearbeitet und diese Passagen auf das Leichteste auf die von Verwertungsinteressen gesteuerten Studiengänge an vielen deutschen Universitäten übertragbar sind, die Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in irgendeiner Weise in Kombination anbieten. – Studieninhalte in den ersten 4 Semestern: „Einführung Populäre Musik und Medien; Grundlagen der Musikwissenschaft“ – Musikgeschichte und (Pop-)Musiklehre I und II – Musikproduktion/Songwriting – Musik und soziale Kontexte/Gender Studies – Berufsfeldbezogene Sprachkompetenz (English for Special Purposes) – Medientheorie/-geschichte – Medienanalyse – Grundzüge der BWL und VWL oder Studium Generale36 Ein paar Zeilen tiefer auf der gleichen Homepage ist zu möglichen Tätigkeitsfeldern zu lesen: 35 Die Tagung Pop Transfers fand am 14.01.2012 in Oldenburg statt. 36 http://www.uni-paderborn.de/studium/studienangebot/details/populaere-musik-und-medien-bachelor/, letzter Zugriff am 27.09.2012.
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„Das Studium bereitet mit seinen musik-, medien-, wirtschafts- und kulturwissenschaftlichen sowie medienpraktischen Studienanteilen auf Tätigkeiten in der Popmusik- und Medienbranche vor, zum Beispiel: – Musikjournalismus in Print, Radio, Online und TV – Artist & Repertoire/Promotion in der Musikindustrie – Konzert- und Club-Veranstaltungen, Booking-Agenturen, Künstler-Betreuung – Planung, Organisation und Durchführung von Events – Werbung und Marketing – Musik- und Kulturmanagement – Live-Sektor und Studio.“37 Irritierenderweise ist infolge der oben beschriebenen kultur- und medienwissenschaftlichen sowie der theoretisch ausgerichteten Studieninhalte die Universität selbst als Tätigkeitsfeld nicht erwähnt. Es dürfte eine Folge von eher pseudo-wirtschaftlichen Evaluationsprozessen sein, dass die Universitäten so erscheinen, als seien sie kein Praxisfeld. Festzustellen ist aber, dass zum Beispiel die „Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik“38 ganz stark darauf setzt, sich mit ihren theoretischen Arbeiten etwa über gerade diese prekären Wirtschaftsformen in den Universitäten zu platzieren versucht. Zum Überleben in den trendigsten Musikszeneökonomien und zur musikalischen Praxis gehören auch in der ausdifferenziertesten, kapitalistischen Gesellschaft selbstverständlich und seit jeher Forschungsstipendien und Lehrstühle. Parallelen und Schlüsse Wissenschaft und Forschung werden zumeist als frei von ästhetischer Praxis imaginiert. Die ästhetische Praxis des Theoretisierens oder „ästhetische Rationalität“39 besteht genauso wie das Musizieren darin, einen Resonanzraum zu kreieren. „The Sound of Science“ weist darauf
37 Ebd. 38 Kühn, Jan Michael, „Die Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik – eine explorative Skizze“, in: Journal der Jugend 17 (2011), http://www.berlin-mitteinstitut.de/text-die-szenewirtschaft-elektronischer-tanzmusik-eine-explorativeskizze/, letzter Zugriff am 03.12.2013. 39 Stierle, Karlheinz, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München, 1997.
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hin, dass Forschung immer auch versucht, mit ästhetischen Mitteln Widerhall in den Communities zu finden. Wissenschaft und Forschung sind als kulturpoetische Akte anzuerkennen: Sie generieren ihre Untersuchungsgegenstände und Fragestellungen selbst.40 Das klingt vielleicht praxisfremd, ist aber sicherlich die ehrlichere Performance und nicht verwerflicher, als etwa Kunst zu betreiben. Wenn Wissenschaft ohnehin ihre Gegenstände zumindest immer auch selbst mitproduziert, kulturpoetisch wirkt, warum sollten sich Wissenschaftler_innen und Forscher_innen nicht als ÄsthetischPraktizierende begreifen? – Damit ist im Umkehrschluss noch nicht gemeint, dass Forschende selbstverständlich auch Künstler_innen sind. Verflechtungen zwischen forscherischer und musikalischer Praxis sind oben exemplarisch dargestellt. Wenn Dualismen aufgegeben werden, weil Wesensbestimmungen und normative Wahrheiten aufzugeben sind, so müsste auch der Dualismus Wissenschaft/Forschung vs. ästhetische Praxis aufgegeben werden – und zwar in beide Richtungen. Im Sinne Walter Benjamins pflege ich demnach eine Utopie oder halte ein Plädoyer für die „profane Erleuchtung“,41 bei der es mir auch um eine Rationalisierung der mystifizierten ästhetischen Praxis geht.
40 Vgl. Jochen Bonz’ Kommentar in Brunner, Anja/Parzer, Michael (Hg.), Pop:aesthetiken. Beiträge zum Schönen in der populären Musik, Innsbruck, 2010, S. 204. 41 Vgl. Benjamin, Walter, Profane Erleuchtung und rettende Kritik, Würzburg, 1995.
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Aspekte allgemeiner Poetik Eine Grundlegung Allgemeine Poetik Der Begriff der allgemeinen Poetik entsteht in einer kulturellen Situation, in der sich in den unterschiedlichen Subsystemen der Gesellschaft Handlungsweisen herausgebildet haben, die keiner auf ein Ganzes gerichteten Motivierung folgen. Vielmehr organisieren sich diese Szenarien dezentral und temporär begrenzt im Aktionsrahmen lokaler Grammatiken und erzeugen ihre jeweilige Motivation aus sich selbst heraus. Die Handlungsfelder sind dann dadurch bestimmt, dass sie sich über die Erzählformen von Poetiken motivieren, also über die Reflexionsrelais konstruktiver Prozesse, die in jeder lokalen Gegebenheit andere Strukturen annehmen können und dabei stets einen hohen Grad an Flexibilität aufweisen. In jedem Falle aber sind solche Poetiken ausgewiesene Handlungslogiken mit einer sinngeschichtlichen Überschussgröße. Das bedeutet, nicht allein die Logik des Handelns ist das Entscheidende, sondern deren Sinn, der sich nur in seiner konstruktiven Prozessform, etwa in seinem Erzähltwerden zeigen kann. Wir können heute nicht mehr von einem Ganzen, einem Zentrum oder einer leitenden Diskursivität ausgehen. Weder zeigen sich über längere Zeit vorherrschende Themen und Fragestellungen, noch können wir von einer Leitwissenschaft oder einer Leitkultur sprechen. Zur Erreichung dieser Lage haben sicherlich die dezentrale Struktur des Internet sowie zuvor die Multiplikation der Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen. Als Folge der über digitale Techniken umgestalteten Lebensweisen kommt es an immer wieder anderen Stellen und in immer wieder anderen Konstellationen zu der Notwendigkeit, die Lage neu zu bestimmen und zu reflektieren. Entscheidend ist hierbei der prima vista regressiv anmutende Begriff der Sinngeschichte. Poetiken erschaffen und erzählen diese Sinngeschichten, die dann selbst wieder zu den Hintergrundflächen gestaltenden Handelns werden. Die Frage dabei ist, inwieweit Geschichten notwendig sind, um Lebensformen unter den gegebenen Bedingungen der naturwissenschaftlich-technologischen, vor allem aber digital-elektronischen Steuerungen der Systeme zu gründen und weiterzuführen. Wenn Big Data verspricht, die Interpretation der Welt durch die schie-
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re Menge an Datenströmen zu ersetzen, wenn also die epistemischen Konsequenzen quantifizierender Methoden darin bestehen, das Warum überflüssig erscheinen zu lassen, dann erhebt sich die Frage nach dem sinnstiftenden Akt des Erzählens von Geschichten in einer ganz und gar ursächlichen Art und Weise. Die Cloud stellt eine Datenmenge zur Verfügung, die, so die Vertreter einer Data-driven-science, für sich selbst sprechen kann und keiner interpretierenden Erklärung bedarf. Die Konfrontation herkömmlicher Interpretationswissenschaften mit den Konzepten der Digital Humanities ereignet sich an eben dieser neuralgischen Stelle. Während die Digital Humanities vorgeben, die schiere Quantität der Datenströme mache jede interpretatorische Anstrengung zu einer regressiven Geste, muss man sich andererseits fragen, welche Interpretationen unseren Sinnfragen noch beigefügt werden können und welche Welt damit erklärt wird, wenn nicht doch wieder die von Big Data selbst. Von Big Data zu Greater Dada ist es nur ein kleiner Schritt. Dieser Streit ist entgegen der Verlautbarungen der Digitalisten längst nicht entschieden. Poetiken sind vor diesem Hintergrund Erzählungen, die Sinngeschichten erzeugen. Diese Stiftungen beziehen sich unmittelbar auch auf die Frage der Aktion, die dabei durchzuführen ist, also den semiologischen Vorgang des Erzählens. Angesichts eines vollständigen aufgelösten diskursiven Raums können wir etwa nicht von Grund auf sagen, weshalb wir kreativ, produktiv oder in irgendeiner Art und Weise konzeptionell dynamisch sein sollen. Für diese Absichten existieren keine intersubjektiv vermittelbaren Motivationsgründe. Und da es keine generellen Motivationen gibt, kann es auch keine individuellen geben, die nicht sofort wieder eine Form der kreativen Idiotie darstellte. Etwas zu machen, ist noch nicht viel mehr als der Versuch, nicht nichts zu machen. Entscheidend ist die Frage, welche Ideen dem Machen unterlegt sind. Und eben darin liegt das mentalitätsbedingte Problem der Kreativität heute. Es herrscht heute hinter den Diskursen, von denen allenthalben die Rede ist, der motivatorische Nihilismus einer leer laufenden Kreativitätsbehauptung, die zuerst einmal sich selbst bestätigt sehen will, aber kein außerhalb ihr liegendes Ziel verfolgt. Kultur ist keine Motivationsquelle an sich, solange sie sich als Archiv präsentiert. Erst das Intervenieren in die Archive stiftet unter jeweils ganz spezifischen Bedingungen einen Motivationsrahmen, von dem her Grammatiken von Poetiken entworfen werden können, aus denen dann allererst manifeste Motivationsszenarien hervortreten. Kulturwissenschaftliches Handeln (und die entsprechende Lehre) müssen also im-
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mer zugleich erklären können, welches die Archive sind, aus denen sich ihr Begriff von Kultur zusammensetzt und mit welchen Weisen der Intervention in diese eingegriffen wird. Daher muss Kulturwissenschaft immer die Verbindung von dem herstellen, was man früher „Theorie und Praxis“ genannt hat und was ich stattdessen „Archiv und Intervention“ nennen möchte. Der Schritt vom Archiv als Speicherort der Kultur zur akuten Intervention ins Archiv beschreibt den Schritt von der leeren Kreativität zur sinngeschichtlichen Motivation. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, kann es keine die kulturelle Lage oder den Prozess des Schreibens oder die Weisen des Gestaltens umfassende Poetik geben. Die damit gemeinten älteren Kulturstufen des Westens betreffenden Reflexionszentren sind ausnahmslos hegemoniale oder Vormacht-Poetiken. Demgegenüber formiert sich an unterschiedlichen Orten eine Vielzahl von lokalen Grammatiken, aus denen Sinngeschichten entspringen, die jeweils als Poetik einer bestimmten Konzeptionsmotivation für Produktionsprozesse fungieren. Diese müssten miteinander interagieren, um größere Felder der Vernetzung herzustellen – Sinn-Felder –, wobei die Stabilität dieser Netze als äußerst labil anzusehen wäre. Produktion selbst ist ebenso wenig wie Diskursivität ein Wert an sich. Erst auf der Grundlage einer Sinngeschichte wird Produktivität überhaupt relevant, und zwar vorerst nur für das Individuum, das sich zum Produzieren entschließt. Bezeichnend ist, dass auch frühere Zeiten niemals strikt nach den Maßstäben der Vormachtpoetiken vorgegangen sind, sondern dass es schon immer die Herausbildungen lokaler Grammatiken waren, die kulturelle Leistungen begünstigt haben. Peripherien sind die Quellgebiete der Innovation. Diese wurden jedoch meist sogleich durch reinterpretierende Diskurse hegemonial überlagert. Praktisch alle großen Systementwürfe leisten diese Hegemonialisierung des Lokalen im Sinne des Ganzen oder gar des Absoluten. Das gilt von der Hermeneutik Schleiermacherscher Prägung über Hegels Dialektik oder die Fundamentalontologie Heideggers bis hin zu den die Großen Erzählungen verabschiedenden Diskursen des Poststrukturalismus, der selbst nichts anderes als eine Vormachtpoetik entworfen hat, indem er überkommene Vormachtpoetiken als dem Zeitgeist gegenüber inadäquat abqualifizierte. Heute sammeln sich Vormachtpoetiken unter dem Dach der Wissenschaft, indem diese sich selbst die politische Diskurshegemonie zuspricht, die die Gesellschaft angeblich von ihr verlangt. Eine dezentrale Poetik ist als solche noch gar nicht bis an die akademische Wahrnehmungsschwelle gelangt. Ihre vielleicht einzige Vorprägung besteht in den Mille Plateaux von Gilles Deleuze und Félix Guattari aus den
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1980er Jahren. Solange man aber auch dieses Denken, wie in Deutschland geschehen, als Meisterdenkerkurs glaubte rezipieren zu müssen, blieb es in seiner eigentlichen Potenz fruchtlos. Dass dezentrale Poetik den Anspruch erhebt, Schaffensprozesse zu reflektieren, erscheint vollends ungewöhnlich angesichts herkömmlicher, in ihrer Behauptungsenergie spürbar verbrauchter Diskurshoheitsansprüche. Man kann sogar behaupten, dass dem Horizont der Poetik selbst noch gar keine Beschreibungsrelevanz zuerkannt wurde, da der Ausdruck in der aristotelischen Tradition nur auf das kleine Gebiet literarischer Formen eingeschränkt bleiben musste und allenfalls in der Frühen Neuzeit im Zusammenspiel von Poetik und Rhetorik eine etwas weiter gefasste Reichweite aufbieten konnte. Was ich heute unter Poetik verstehe, geht aber weit darüber hinaus und umfasst alle reflektierten Handlungsvollzüge im Schnittfeld von Archiv und Intervention. Anthropologisches Basisargument Bekanntlich gibt es Dutzende von Definitionen des Menschen. Die philosophische Anthropologie sammelt sie und beschäftigt sich danach meist sofort mit der geradezu zwingend erscheinenden Konsequenz ihrer Selbstauflösung. Wie soll man sagen, was der Mensch ist, wenn es unendlich viele gleichermaßen plausible und erfolgreich nebeneinander existierende Erklärungen und Begriffe dafür gibt? Welchen Wert hat eine philosophische Disziplin zur Bestimmung des Menschen, wenn diese Selbstbeobachtung des Menschen pausenlos neue und andere Attribute hervorbringt, vom homo faber bis zum homo ludens, die sich noch dazu meist gegenseitig ausschließen? Friedrich Nietzsches Wort vom Menschen als dem nicht festgestellten Tier trifft die Sache in doppelter Hinsicht. Denn erstens konnte bislang nicht festgestellt werden, was für ein Tier der Mensch ist, und zweitens ist er damit das Tier, das sich nicht feststellen lässt. Ein Wesen, das davon lebt, sein Wesen ständig zu verändern, d. h. anzupassen und bei dieser Anpassung seine Fähigkeit in dem Sinne zu verfeinern, dass er sie auf eine bestimmte Ebene hin spezialisiert. Es ist wohl das Faktum der Nichtfestlegbarkeit, die verwirrende Pluralität in den Möglichkeiten der Selbstbestimmung eines „flexiblen Vielfachwesens“ (Hans Lenk), welche mehr als nur einen Hinweis auf eine Definitionskonstante des Menschen wahrscheinlich erscheinen lassen. Denn eigentlich alles am Menschen – die zahllosen unterschied-
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lichen Fähigkeiten, die diese vielen verschiedenen Definitionsebenen des homo sapiens begründen – hat den Anstrich eines Kultur gründenden Aktes, der aus der Notwendigkeit heraus geschieht, die konkrete Umwelt als das ganz und gar Unbestimmte hinter sich zu lassen. Nicht die triviale Überwindung der Natur ist das Ziel, sondern ihre Erschaffung durch Zeichensysteme. Erst die vom Menschen erschaffene Natur trägt die Anzeichen ihrer Beherrschbarkeit. Als die Philosophie mit Hilfe Kants diese Einsicht gewinnen konnte, ging es mit den Naturwissenschaften unaufhaltsam bergauf. Der Mensch ist dort, wo er zuerst auftritt und sich einer Welt gegenübersieht, bereits ein Kulturwesen. Die Dringlichkeit und die aus ihr entspringende Fähigkeit der Einschreibung eigener Zeichen in den Stoff der Welt muss bereits vorhanden gewesen sein, bevor wir vom Menschen sprechen können. In gewisser Weise existiert der Mensch notwendigerweise vor dem Menschen, als Bedingung seiner Möglichkeit. Wir können uns erst Menschen nennen, wenn wir uns dazu gemacht haben; um das aber zu leisten, muss zuvor der Mensch aus den Zeichen erstanden sein, die ihm zur Verfügung stehen oder die er geschaffen hat. Wie aber und woraus sollte er Zeichen erschaffen, wenn ihm nicht schon der Zeichengebrauch und seine Vermittlungseffekte zu Gebote standen? Die Zeichen, die der Mensch schafft, sind die, die ihn geschaffen haben. Die aus dieser paradoxen Inauguralthese zu ersehende Abwesenheit des Anfangs kennzeichnet die Interventionsprozesse der Kultur in die Faktizität des Vorfindbaren. Damit aber ist der Mensch, anthropos, als zeichenerzeugter Zeichenerzeuger selber nichts als eine paradoxe Intervention in diese Prozesse. Diese ironische Aushebelung aller semiologischen Autonomie markiert den Grad der kosmischen Fremdheit des Menschenwesens und umreißt das Bild seines Außenstehens im Horizont alles Existierenden. Mit dem Menschen kommt das Fremde in die kosmischen Abläufe, ein sich selbst von Anfang an als ex-sistent, nämlich: ein aus den Dingen herausstehend erlebendes Wesen, dessen Fremdheitsmal die Zeichenpotenz des Benennens selbst ist. Kritik der Kreativität Kreativität galt, unter Intellektuellen zumal, lange als Unwort des Jahrhunderts. Es stand für einen naiven Anspruch auf Gestaltung, für beschäftigungstherapeutische Selbstumkreisung, für die willkürlich um-
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gesetzte Lust am Machen und wurde gern ironisch in die Nähe von Töpferkursen und Batikseminaren gerückt. Kreativ waren die Halbgenies, Möchtegernkünstler und Musterschüler. Kreative galten als die Propagandisten einer Subkultur, die seit den 1970er Jahren an einer alternativen Subjektivität arbeitete. Wenn es seit der Antike einen Diskurs über Kreativität gab, wurde er bis ins 20. Jahrhundert hinein jedenfalls nie so bezeichnet, sondern stets unter Gesichtspunkten der Poetik oder der Kunsttheorie abgehandelt. Erst die Perspektive der philosophischen Anthropologie erhebt den Anspruch, Aussagen über den Menschen als Kreator zu treffen, die von allgemeingültiger, die Geschichte des Spezies homo sapiens zentral betreffender Bedeutung sein sollten. Vor diesem Hintergrund kam es zu einer Annäherung der anthropologischen Kreativitätstheorie an die traditionellen Poetiken der Kunst. Mit der Entdeckung der Höhle von Lascaux in den 1940er Jahren kam es zu einer Gleichsetzung des Menschen als Gattungswesen und seinen evolutionären Möglichkeiten mit seinen schöpferischen Anlagen. Insbesondere Georges Bataille hat in seinem Buch Lascaux ou la naissance de l’art im Jahre 1952 dazu beigetragen, dass Kreativität als anthropologische Bedingung erkannt und verbreitet worden ist. Der Mensch wird zum Menschen als Künstler, lautete die These, die von Bataille über Barnett Newman bis Gottfried Benn in den 1950er und 1960er Jahren enorme Konjunktur hatte. Diese im weitesten Sinne philosophische These hat allerdings kaum noch etwas mit dem Gebrauch des Ausdrucks Kreativität in der Jetztzeit zu tun. Der Ausdruck fungiert vor allem zur Bezeichnung selbstgestellter permanenter Anforderungen ans Leistungs-Ich im Rahmen des liberalisierten Wirtschaftssystems, dem auch die Kulturbetriebe und die Wissenschaftsszenen unterworfen sind. Wo die Kontrollgesellschaft in individualisierte Selbstkontrolle übergeht, steht die Anforderungsgröße eigener Kreativität als Selbstkontrollmechanismus für Subjekte allzeit bereit. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss ein Horizont von allgemeiner Poetik von dem Begriff der Kreativität, wie er gegenwärtig kursiert, unterschieden werden. Das Unterscheidungskriterium liegt in der schöpferischen Souveränität. Während Kreativität unter dem Verdacht einer paranoiden Selbstüberforderung des flexiblen, selbstgesteuerten und durchevaluierten Arbeitskraftunternehmers gerät, steht der Begriff der Poetik gerade deshalb im Zeichen künstlerischer Freiheit, weil er aus der Geschichte dieses Freiheitsdiskurses vielschichtig ableitbar erscheint. Zwar lässt sich das künstlerische Tun nicht von seinen zeitbewusstseinsspezifischen und insgesamt gesellschaftlichen Bedin-
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gungen ablösen, es transportiert aber immer die Behauptung von Eigenständigkeit und Widerständigkeit, die dem Begriff der allgemeinen Poetik erst seinen dialektischen Status geben. Erst die Integration historischer Selbstkritik und freiheitlicher Selbstsetzung lässt den Begriff einer allgemeinen Poetik kulturtheoretisch relevant erscheinen und hebt ihn von der reinen Positivität des Kreativitätswillens funktional ab, der überdies längst von der profitorientierten Ökonomisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche kompromittiert ist. Pragmatisches Fundament Die analytischen Methoden allgemeiner Poetik gehen von einem pragmatischen Fundament aus. Basistheoretiker sind in diesem Verständnis Charles S. Peirce, William James und Ludwig Wittgenstein. Denn die philosophischen Grundlagen des Blicks auf Poetiken in den unterschiedlichsten kulturellen Ebenen und Spielarten sind vor allem in der Zeichentheorie, in der Philosophie des Geistes und in der Sprachspieltheorie zu erkennen. Aus diesen drei in der Moderne entstandenen Ansätzen und ihren weit verzweigten Ausdifferenzierungen leitet sich das explizierende Potenzial ab, mit dem eine Theorie der Poetik betrieben werden kann. Eine besondere Rolle spielt hierbei Wittgensteins Rede von den Sprachspielen in den Philosophischen Untersuchungen. Es ist von herausragender Bedeutung, dass die Sprachspiele in Wittgensteins Sinne einen Pluralismus ins Recht setzen, der überhaupt erst eine Vorstellung von einer kulturpoetischen Dynamik erkennen lässt, deren Ableitung nicht ideologischer Natur wäre. Wenn nach Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes mit seinem Gebrauch in der Sprache identisch ist, muss man daraus schließen, dass sich Bedeutungen überhaupt erst im Gebrauch der Sprache herstellen. Die Sprachhandlung wäre damit nicht dem Bedeutungsprozess nachgeordnet, sondern ihm übergeordnet. Sprechen oder Schreiben schaffen Bedeutung und damit eine zeichenhaft gefasste Wirklichkeit über die Modellierung von Formen. Demnach ist der formkünstlerische Aspekt ebenfalls nicht dem prozessierenden Entwurf von Bedeutungen nachgeordnet, sondern ihm unmittelbar zugewiesen. Sprache und Lebensform konvergieren daher ganz im Sinne Wittgensteins; jegliche schöpferische Anstrengung ist immer zugleich als Entwurf einer Lebensform zu begreifen. Allgemeine Poetik forscht genau dieser Schnittfläche nach. Die Frage ist immer, inwiefern sich künstlerische Prozesse und Lebensformen
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treffen, auseinander hervorgehen oder sich allererst wechselseitig hervor treiben. Erst im Rahmen einer tatsächlich praktizierten Lebensform ist der Status von Kultur erreicht. Kultur bezeichnet Lebensformen in ihrer Vielfalt und ihrer Modifikationstendenz; es darf kein abstrakter Begriff bleiben, der auf Antiwerk-Werke der Gegenwartskunst ebenso leichtfertig und beliebig projiziert wird wie auf basale Errungenschaften im frühen Ackerbau. Die Allgemeinheit des Kulturbegriffs wurzelt allein im Horizont der Lebensform, welche wiederum unmittelbar an den konkreten, pragmatischen Gebrauch der Sprache gekoppelt ist. Daraus wird der Begriff der Poetik nun selbst transparent. Er ist stets auf die Punkte in einem Werk, einer historischen Phase oder einem diskursiven Geschehen ausgerichtet, in denen die konstruktive Intelligenz aus den Sprachspielen und Zeichenoperationen eine Lebensform oder unterschiedliche Lebensformalternativen entfaltet und dazu in der Lage ist, diese zu reflektieren und in die dabei entstehenden Speicherarchive mit neuen Sprachspielen zu intervenieren. Essay, Essayismus und Jetztzeit Allgemeine Poetik kennt nicht nur keinen zentralen Ort, von dem aus sie betrieben wird, sie verzichtet auch auf die wissende Rede. Diese ist, wo immer sie angestrengt wird, vor allem eine Geste des Zentralismus. In diesem Sinne erscheint auch die wissenschaftlich-theoretische Rede, wie sie gerade aus den kulturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen überliefert ist, als der Pluralität der Perspektiven gegenüber unangemessen. Auch wissenschaftliche und die theoretisch-philosophische Schreibweisen unterliegen den Bedingungen literarischer Komposition. Dennoch sollen und dürfen die Schreibweisen der Poetiken, um die es geht, nicht in jedem Fall als fiktional gelten. In die Schnittstelle zwischen der Wissensgeste und dem Fiktionalitätssignal tritt der Essay. Der Essay ist eine weit gefasste Form der Rede, in der das Subjekt als skeptische Größe anwesend ist. Da niemand das Ganze kennt und folglich niemand behaupten dürfte, darüber zu sprechen, muss in einem Poetik-Diskurs die Geste der begrenzten Verfügung über die Wissenspotenziale einer Sache oder eines Sachverhalts erkennbar werden. Die daraus aufsteigende Haltung eines produktiven Skeptizismus nenne ich mit Robert Musil Essayismus. Wie Musil gezeigt hat, ist der Essayismus der Geisteszustand eines Postmodernismus’, der sowohl die Identität seines Subjekts als auch die
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Relativität der Standpunkte permanent in seiner Rede perspektivisch wendet. Allgemeine Poetik ist bis zu einem hohen Maße Zeitbewusstseinsreflexion. Jeder Diskurs, der im Rahmen einer allgemeinen Poetik in Gang gesetzt wird, geht von einer Prüfung des Jetztzeitstatus’ seiner Relevanzen oder seiner Überzeugungskraft aus. Jetztzeit unterliegt als kritische Größe einer Analyse ihrer Poetiken. Was ich Jetztzeit nenne ist, entgegengesetzt zu dem Begriff der Gegenwart, das Ergebnis einer Poetik oder die Zusammenschau vieler Poetiken auf einer synchronen Zeitachse. So gibt es die Jetztzeit von 1517 und die Frage, welche Rolle den Thesen Martin Luthers im damaligen Jetztzeitnetz zuerkannt werden kann. Oder es gibt die Jetztzeit von 1910 mit der Frage, wie eine ganze Generation sich einen Philosophen wie Friedrich Nietzsche zum Fetisch ihrer Selbstbegeisterung hat erwählen können. Immer muss gefragt werden, welche Sinngeschichten und Konstellationen von Sinngeschichten sich zu einem Jetztzeitphänomen verdichten. Es folgt daraus, dass eine Poetik durchaus als transindividueller Begriff verstanden und entsprechend im Sinne lokalen oder auch epochalen Zeitbewusstseins aufgefasst werden kann. Kulturen des Essays Eine Forschungsperspektive, die sich gleichsam global aus den Ansätzen einer allgemeinen Poetik ergibt, ist etwa die der Kulturen des Essays. Dabei werden unterschiedliche Kulturen weltweit daraufhin untersucht, welche selbstreflexive Poetiken im Sinne von Übungsmustern und Anthropotechniken jeweils vorhanden sind, wie sie sich ausgebildet haben und aktiv genutzt werden. Essay meint hier die Art und Weise, wie eine Kultur den Versuch ihrer Mitglieder reflektiert, die Praktiken, Skills und Poetiken zu reflektieren, die ihre Handlungsszenen bestimmt. Essay ist eine Denkfigur im Horizont der Reflexion der Reflexion, und das bereits seit Michel de Montaigne den ersten Essay geschrieben hat. Die Reflexion der Reflexion aber ist eine grundsätzlich performative Lage, ein Denken und Schreiben auf der Bühne. Der Essay inszeniert Denken und Schreiben als Spiel, jedoch mit dem Ziel, dieses Spiel auf einer potenzierten Ebene wieder in eine Erlebnisweise von Wirklichkeit zu überführen, in der das Spiel dialektisch aufgehoben wäre. Vor diesem Hintergrund lassen sich weltweit Poetiken des Essayismus ausmachen, deren Herkommen aus unterschiedlichen Zonen von
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Geschichtlichkeit und deren Verankerung in unterschiedlichen kognitiven Netzen der Jetztzeit miteinander in Kontrast gesetzt werden könnten. Die Kulturwissenschaften erhalten so ein sowohl die einzelnen Fachgebiete als auch die spezifischen Kulturräume verbindendes Band, das die Forscher und Forscherinnen auf der ganzen Welt in Diskussion miteinander bringen kann. Wichtig ist festzuhalten, dass Essay hierin keineswegs nur oder auch nur in erster Linie als Schriftform gemeint ist. Die Techniken des Versuchs können sehr vielfältig sein. Sie bezeichnen aber die Gattung Mensch insgesamt, indem sie das jeder Kultur zugrunde liegende Moment des Lernens in den Mittelpunkt stellen. Schreiben und Theorie der Poetik Schreiben im Sinne des in Hildesheim praktizierten Kreativen Schreibens im Bachelorstudiengang und Literarischen Schreibens im Masterstudiengang kann im Horizont einer allgemeinen Poetik verankert werden. Es kommt jeweils darauf an, in welcher Situation eine Schreibweise sich entfaltet und wie sie innerhalb eines Projekts fortgesetzt wird. Das ist von vornherein nicht anzugeben und nicht voraussagbar. Dennoch ist es kein bloß privates Geschehen, das etwa zwischen einem Studierenden und einer Mentorin ausgetragen werden würde. Vielmehr geht es im Schreiben darum, den Raum der Sinngeschichte zu finden, in der Schreiben möglich ist und in dem die gesamte Geschichte im Sinne der Reflexion erzählbar wird. So kommt es, dass Schreibende bei diesem Verfahren schon relativ früh zu ihrem Schreiben auch dann stehen können, wenn es noch kaum Fortschritte gemacht hat oder wenn sie von Rückschlägen heimgesucht werden. Die Genese der Sinngeschichte schließt ja gerade Rückschläge, Scheitern und Neubeginnen mit ein. An ihrer Basis steht nicht das Beherrschen, sondern das Lernen und als mentale Disposition der Essayismus als Einübung in eine Mentalität der Reflexion der Reflexion. Der Essayismus ist die innere Haltung gegenüber der eigenen Produktivität, die aus dem Scheitern einer Stufe der Reflexion neue Energien fürs Erreichen der nächsten zieht. Eine Poetik ist dann nicht mehr die retrospektiv stimmige Geschichte vom Sinn des eigenen Schreibens, sondern entspricht vielmehr der Sinngeschichte der eigenen Stimme im Schreiben. Die bis heute vielfach praktizierte Privatpoetik der Schriftsteller, die sie mit
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Vorliebe bei Poetik-Dozenturen vortragen, ist als Erkenntnisform wie auch als Diskurs von sekundärer Bedeutung gegenüber der Stellung des eigenen Schreibens im Horizont einer allgemeinen Poetik, also im Rahmen der Sinngeschichten, die den kulturell verankerten Motivationsfonds darstellen. Die Poetik der Zukunft wird eine Kulturreflexion des Werdens von Texten sein und, darin verwoben, des Werdens von Autorinnen und Autoren. Aus dieser Sicht wird nachvollziehbar, dass die Theorie der Poetik eine vorrangige Rolle bei der Frage spielt, inwiefern Literarisches Schreiben seine Methoden und Praktiken im Sinne eines Jetztzeitbewusstseins reflektiert. Die Theorie der Poetik sondiert das Gelände der Reflexionsformen, das sich in den Kartografien der Literatur zeigt, vor allem dort, wo Literatur, Literaturwissenschaft, Kulturjournalismus und Kreatives Schreiben miteinander in eine Konvergenz gebracht werden sollen. Dabei kann es nicht darum gehen, bestimmte Poetiken gegenüber anderen zu profilieren. Vielmehr muss der gesamte Raum der Poetik offen stehen für den Pluralismus der Sprachspiele, die sich als Lebensformen erkennen lassen. Hier gibt es keinen Verdrängungswettbewerb, eben weil es keine Hegemonialtheorie geben kann. Ein Ziel besteht darin, Poetiken des Schreibens als Poetiken der Kultur zu verstehen und damit den Literaturbegriff (der vor allem in den sozialen Netzwerken einen erschreckend engen Horizont aufreißt) im Hinblick auf ein weit gefasstes Verständnis von Kulturpoetik auszudehnen. In diesem Rahmen wäre ein Fach wie Literarisches Schreiben als explizit kulturwissenschaftlich orientierte Disziplin zu begreifen, die im Zusammenwirken von Theorie und Praxis einen dialektisch geprägten Begriff von Poetik als Grundlage hat.
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Eleganter Code. Friedrich Kittlers Montage der Medientheorie Ich er se n den bebe e ichrs ben we ich ebe ders ich e moden lich oder voneine gennein mir gen mir geduldigebenzein wo ohner es die den wirder frin nword dieduldigefnundenicht selbst der platz zurückhaltung in heftigst nie faß ergibt ein wäre.1
Große Männer, kleine Formen Eine markante alltagsperformative Eigenart vieler Berliner Medienund Kulturwissenschaftler war der Austausch von Kittler-Anekdoten. Bereits zu seinen Lebzeiten wurden sie im Umfeld der Sophienstraße hoch gehandelt und hatten nach seinem Tod im Jahr 2011 noch einmal besondere Konjunktur. Der Grund dafür ist leicht ersichtlich – durch die Erzählungen ließ sich Nähe zur mythischen Gründerfigur demonstrieren. Doch bildete Kittler nicht nur einen dankbaren Fundus für akademisches storytelling, er war selbst eifriger Propagandist anekdotischer Praktiken in wissenschaftlichem Text und universitärer Alltagsinszenierung. Ich erinnere mich an eine Szene aus dem Jahr 2007: Aus einem Gespräch mit einigen StudienanfängerInnen verabschiedete er sich damals abrupt mit der ersichtlich auf Effekt berechneten Bemerkung, er müsse nun Pynchon noch zum Siebzigsten gratulieren und verschwand in seinem Büro. Eigentlich kein schlechter Abgang. In diesem Fall hinterließ aber der Autorenname die damit verbundene Koketterie bei den Zuhörern den gewünschten Eindruck: Pynchon, geschweige denn seine Autorenpolitik der Anonymität war dieser Generation von Studierenden einfach nicht mehr geläufig. Kittlers Koketterie mit exklusivem Zutritt zum cultural icon der 1970er Jahre verpuffte also wirkungslos. Und mit einem Mal schien ein alles datierendes Denken unwiderruflich selbst datiert. Nicht nur inhaltlich und nicht nur in seiner Selbstinszenierung erweist sich Kittlers Denken aber im Rückblick kontextualisierbar. Auch 1 Kittler, Friedrich, „Vorrede“, in: Ders./Rudolf Heinz (Hg.), Echo. Roman von Heide Heinz und Melanie Heinz, Wien, 1990, S. 11.
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für seine wissenschaftliche Praxis ist dies der Fall. Die Entstehung der deutschen Medientheorie der 1980er Jahre, so möchte ich im Folgenden zeigen, hat in den Praktiken und Formexperimenten der amerikanischen Avantgarde-Literatur der 1960er und 1970er Jahre einen ästhetischen Index. Technische Gerätschaften und körperliche Praktiken – Vor- und Verrichtungen könnte man sagen – ermöglichten, verbunden mit bestimmten ästhetischen Entscheidungen, die Etablierung und Stabilisierung der neuen Signifikantenkette „Medientheorie.“2 Für eine Theorie der ästhetischen Praxis hieße das: Es kann kein Wissen ohne den Rekurs auf kulturtechnische Operationen geben, die Zeichen in sprachlicher, tönender, bildlicher, performativer oder dinglicher Form für die Sinne menschlicher Akteure zurichten. Als Glieder einer Operationskette verstanden, bringen ästhetische Formen und die Medien und Praktiken ihrer Zirkulation epistemische Rekonfigurationen in Gang. Für Kittlers Medientheorie lässt sich dies anhand einer Genealogie der Schreibpraktiken und formalen Eigenheiten seiner Texte zeigen. Meine Frage, und über den bloßen Näherungswert meiner Antwort an dieser Stelle bin ich mir bewusst, lautet also streng nach Kittler: Von welchen Techniken und Praktiken ausgehend war es eigentlich möglich, Medien als Grundlage des Wissens zu beschreiben?3 Diese Frage erscheint mir interessanter als die gegenwärtig verbreitete Tendenz zur disziplinären Domestizierung in der Kittler-Rezeption. Seine notorische Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften wird dabei mit einer Haltung relativierender Nachkommenschaft wohlmeinend für Technikgeschichten und andere Fachdiskurse korrigiert und begrenzt.4 Der apodiktische und angriffslustige Kittler, in dessen Vorträ2 Damit lese ich Kittler aus der Perspektive der von ihm selbst angestoßenen Weiterentwicklung der Medientheorie zur Theorie der Kulturtechniken, nach der Instrumente, Zeichensysteme und Praktiken einer Kultur durch Ketten von Operationen verknüpft sind, vgl. Siegert, Bernhard, „Kulturtechniken“, in: Harun Maye/Leander Scholz (Hg.), Einführung in die Kulturwissenschaft, München, 2011, S. 95-119, S. 100. 3 In der aktuellen Diskussion um eine angemessene Rezeption Kittlers votiere ich für den Vorschlag von Claus Pias, der die historischen Bedingungen medientheoretischen Denkens untersuchen will. Claus Pias, „Kittler und der ‚Mißbrauch von Heeresgerät‘“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69 (2015), S. 31-44, S. 32f. 4 Was natürlich institutionslogische Gründe hat. Die deutsche Medienwissenschaft ist akademisch mittlerweile so etabliert, dass die rüden Gesten des Gründervaters gegenüber den nun benachbarten Fakultäten zu störenden Nebenge-
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gen Fakt und Fiktion nicht immer auf Anhieb zu unterscheiden sind, dessen Herleitungen historisch gesehen waghalsig, literarisch gesehen aber immer hochwertig waren – das alles muss dabei außen vor bleiben. Ebenso jener Kittler, der formale Eigenschaften, literarische Vorbilder und bestimmte Produktionsbedingungen für sein Schreiben und Denken wählt. Wenn man diese Momente seiner Theorie untersucht, werden auch implizit die gewaltig veränderten ästhetischen Grundlagen kulturanalytischen Denkens dreißig Jahre nach Veröffentlichung von Aufschreibesysteme 1800 – 1900 und Grammophon, Film, Typewriter sichtbar. Californication Da sie telefonisch mit einiger Sicherheit nicht stattgefunden hat, lässt sich nur von Kittlers kommentierender Anrufung Pynchons sprechen.5 Aus ihr kann man eine historische Genealogie seiner Poetik ableiten. Im Winter 1982 lehrte also ein junger Renegat der Freiburger Germanistik als Gastprofessor in Berkeley, während die heimische Fakultät über die Frage debattierte, ob seine zweite Qualifikationsarbeit nun innovative Forschung, schöne Literatur oder schlicht poststrukturalistischer Unsinn sei.6 In diesem Verfahrenslimbo beginnt Kittler mit der Lektüre einer literarischen Technikgeschichte des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive kalifornischer Kontrollparanoia – zu dieser Zeit vielleicht auch unter Erstsemestern noch unter dem Titel Gravity’s Rainbow oder Die Enden der Parabel bekannt. Diese Lektüreerfahrung beschreibt er später als eine der primären Bedingungen seiner Transformation vom provokationsfreudigen Philologen zum Medienwissenschaftler. Ihre Wirkung glich einem Schock, wenn man seinem Erinnerungsbericht glauben darf: „Ich las das Buch wie hinter Schleiern, denn, um Englisch zu lernen, hatte ich immer nur Chandler verschlungen. Und dann nahm ich die deutsche Fassung immer wieder ins Flugräuschen werden. Und auf den Partys von Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegs tendiert die Musikauswahl ohnehin zum Easy Listening. 5 Kittlers kleine Hochstapelei in obiger Episode entlarvte sich wenige Tage später von selbst: Seine Gratulation erschien in Form eines von seinem ehemaligen Doktoranden Ulf Poschardt geführten Interviews im Fachblatt der Eitlen, der Vanity Fair. 6 Kittler, Friedrich, Platz der Luftbrücke. Ein Gespräch mit Stefan Banz, Nürnberg, 2011, S. 20. Die legendären neun Einzelgutachten wurden unlängst in der Zeitschrift für Medienwissenschaft 6/1 (2012) veröffentlicht.
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zeug mit, las so zehn bis zwölf Stunden durch und lernte das Buch dabei fast ein wenig auswendig.“7 Gravity’s Rainbow wird also im Erstkontakt mit lückenhaften Englischkenntnissen zu einer Art concrete poetry – mehr Lautlyrik als Roman und mehr Rauschen als intelligibles Sprechen. Kittler rezipiert Pynchon diesseits dessen, was nur die zeitgleich über sein Denken richtenden Germanisten als Verstehen missverstehen können. Und auf diese Erfahrung folgt die regelrechte Verinnerlichung, vermittelt durch Elfriede Jelineks Übersetzung in der modernen Übersee-Klausur aviatischer Druckkabinen. Mir scheint diese Lektüreszene als Gründungsmythos der deutschen Medientheorie aufschlussreich. Insofern Lektüre immer innerhalb einer kulturtechnischen Rahmung stattfindet – Distributionstechnik, Rezeptionsgewohnheiten, Lesehaltung und Aufmerksamkeitstraining – besteht hier ein unschwer zu erkennender Kontaktpunkt zwischen instrumentellen Vor- und körperlichen Verrichtungen auf der einen sowie Symbolverarbeitung auf der anderen Seite. Nun ist Kittlers Lektüreszene im pazifischen Exil offenbar von der Erfahrung einer besonderen Form der kommunikativen Störung geprägt: Lesen ist hier auch performative Einübung der Erfahrung des Rauschens, das nach Claude E. Shannon, wie von Michel Serres fast zeitgleich zu Kittlers Amerikaaufenthalt für die Kulturtheorie ausbuchstabiert, jeder übermittelten Nachricht vorausgeht.8 Interessanterweise setzt Kittler dieser Erfahrung dann geradezu klassisch-alteuropäisch eine Mnemotechnik unter disziplinarischen Bedingungen entgegen: Er memoriert den PynchonSound, verleibt ihn sich buchstäblich ein und eröffnet sich auf diese Weise einen neuen Diskurs.9 Die Rede von Technik, Krieg und medialem Apriori beginnt als Rezitationsübung, als Aufsagen von Romanstellen, in denen Mediengeschichte codiert wurde. Diese besondere Pynchon-Rezeption schlägt sich offenbar in einem mit der Verwendung in Gravity’s Rainbow übereinstimmenden Gebrauch des Begriffs der Eleganz in vielen Kittler-Texten nieder: Der Eleganz als zugleich ästhetischer und informationstechnischer Kategorie. Der frühe Aufsatz Pynchon und die Elektromystik zitiert eine Stelle aus 7 Kittler, Friedrich, Platz der Luftbrücke, S. 18. 8 Vgl. Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt/Main, 1984, S. 84f. 9 Zur Rezitation als präliterale Speichertechnik vgl. Kittler, Friedrich, „Rockmusik – ein Mißbrauch von Heeresgerät“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Die Wahrheit der technischen Welt, Berlin, 2013, S. 198-213, S. 199.
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dem Roman: „So wurde der furchtbare Pfad der Rakete buchstäblich reduziert auf bürgerliche Termini, auf Ausdrücke einer Gleichung wie jener eleganten Vermählung von Philosophie und Stahl, von abstraktem Wandel und Drehbolzen aus realem Metall.“10 Das Adjektiv für die Verbindung von Materialität und Abstraktion, Technik und Geschichte wählt Pynchon hier ersichtlich im Hinblick auf die mathematische Definition von Eleganz, denn der Erzähler in Gravity’s Rainbow spricht an dieser Stelle von einer Gleichung zur Berechnung der Pendelungsdämpfung für Flugobjekte. Insofern besagt Eleganz an dieser Stelle zunächst nichts anderes, als dass ein Sachverhalt in möglichst sparsamer Weise für den Zeichengebrauch codiert wird. In der Informatik ist diese Kondensation ein ökonomisches Gebot. Gleichzeitig ist Eleganz im Zitat aber auch eine ästhetische, um nicht zu sagen literarische Kategorie, eine Eigenschaft der Metaphern der Vermählung. Eleganz wäre also nach Pynchon die möglichst ökonomische ästhetische Bereitstellung von Information. Und in genau dieser Hinsicht greift Kittler nun auch die Rede von der Eleganz für das eigene Schreiben auf, denn sein Aufsatz reklamiert die Eigenschaft von wohldurchdachten Formeln und Weltliteratur nicht gerade bescheiden für sich selbst: „Ökonomischer und das heißt eleganter […] ist der Schwenk, den Pynchons Romane ihren Lesern antun, kaum mehr vorzuführen.“11 Auch der wissenschaftliche Kommentar ist also nach Kittler ein eleganter Akt: ein selbst nicht sinnhafter Prozess der Selektion von Zeichen aus einem Set symbolischer Formen, der neue Sinnzusammenhänge generiert. Kittlers Poetik der Medientheorie folgt diesem Prinzip der Informationsanordnung und orientiert sich dabei an Pynchon in wenigstens drei wiederkehrenden formalen Merkmalen. Erstens entwickeln historische Argumentationslinien in Kittlers Texten immer besondere suggestive Kraft durch den Rekurs auf Vermittlerfiguren zwischen militärischer Technologieentwicklung, Medienevolution und Kunst oder Wissenschaft. Kittler wählt hierfür zumeist historische Figuren aus der weltgeschichtlichen zweiten oder x-ten Reihe: Zuarbeiter, Vorzimmerdamen, Sekretäre oder Unteroffiziere, die in den Büros, Planungsstäben und Schützengräben nahe an der technologischen Entwicklung stationiert sind und so zum Teil exaktere Lagebe10 Pynchon, Thomas, Die Enden der Parabel, Reinbek, 1981, S. 278 (Hervorhebung SR). Vgl. Kittler, Friedrich, „Pynchon und die Elektromystik“, in: Bernhard Siegert/Markus Krajewski (Hg.), Thomas Pynchon. Archiv – Verschwörung – Geschichte, Weimar, 2003, S. 123-137, S. 133. 11 Kittler, Friedrich, „Pynchon und die Elektromystik“, S. 130.
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richte für den historischen Stand ihrer Zeit abgeben können als Generäle und Staatsmänner oder gar Könige und Kaiser. Auf diese Weise versucht Kittlers Poetik der Geschichte die ereignisgeschichtlichen und hermeneutischen Historiografien zu durchbrechen. Deshalb taucht an einer Stelle der ansonsten sicher nur Spezialisten bekannte Architekt Michael Ventris auf, der als ehemaliger Navigator und Nachrichtenoffizier der Royal Air Force an der Entzifferung des Altgriechischen als indogermanische Sprache arbeitete.12 Oder jener Dr. Hans Bredow, dessen Biografie von einer Ausbildung zum AEG-Ingenieur in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs führt, wo er einen Röhrensender mit einem Nachrichtensprecher und einem Phonografen koppelt und auf diese Weise das Radio als Unterhaltungsmedium erfindet. Und nicht zuletzt Hasso von Wedel, Leiter der Abteilung für Wehrmachtspropaganda des OKW und Schöpfer der Formel „Missbrauch von Heeresgerät“, die ebendiese Praxis untersagt und von Kittler zur Bündelung seiner Theorie eines Techniktransfers von Militär und Unterhaltungsindustrie aufgegriffen wird.13 Entscheidend ist: Derartige Anekdoten und ihre Akteure haben in Kittlers Argumentation mehr als illustrative Funktion. Sie sind historische Übertragungskanäle aus Fleisch und Blut, verkörpern geradezu die schnellen Schnitte zwischen den Disziplinen in der Mediengeschichte und sind auf diese Weise Mittel einer eleganten Argumentation, die statt historischer Verläufe horizontale Schnitte der Materialitätsgeschichte ansetzt. So entstehen statt Chroniken Lageberichte des Austauschs zwischen militärischer Innovation und Unterhaltungsmedien. Die minderen historischen Subjekte Kittlers sind in ihrer passiven Überträgerfunktion mediengeschichtlich gesehen einzig der Fall und erinnern insofern nicht ganz von ungefähr an Tyrone Slothrops Raketenbiografie.14 Zweitens arbeiten Kittlers Texte mit einer die Leser nicht selten verwirrenden Technik der Andeutung und Auslassung, mit Spannungsmomenten in der Argumentation, deren Auflösung sich immer wieder ausgesetzt findet. Das scheint einer poetologischen Konsequenz geschuldet: Wer in seiner Habilitation den Zusammenbruch des herme12 Vgl. Kittler, Friedrich, „Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Die Wahrheit der technischen Welt, S. 351-359, S. 351f. 13 Vgl. Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin, 1986, S. 149. 14 Bekanntlich deckt die Erzählung von Gravity’s Rainbow den militärisch-industriellen Komplex hinter den Unterhaltungsmedien auf, nachdem zu Beginn Tyrone Slothrops Erektionskonditionierung auf V2-Abschüsse enthüllt wird.
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neutischen Zirkels medienhistorisch erklärt, kann wohl kaum im eigenen Schreiben auf den ungestörten Nachrichtenkanal von Autor und Leser bauen. Das detektivische Unternehmen Hermeneutik muss also von Kittlers Texten programmatisch an die Wand gefahren werden. Anders gesagt: Die zuweilen bewusst mit paranoisch delirierenden Andeutungen spielende Ellipse ist, wie in Pynchons Crying of Lot 49 oder wiederum Gravity’s Rainbow, performativer Teil von Kittlers Argumentation. Man muss nur die folgende Konstellation von Fakten der Militärgeschichte so ernst nehmen, wie es Pynchons Detektive tun: „Turing mußte 1954 in einen vergifteten Apfel beißen und war auf der Stelle tot. Und Michael Ventris hatte 1956 allein im Auto einen merkwürdigen Unfall – auf einer leeren Straße frühmorgens in einem Vorort von London. Erst 1974 ist freigegeben worden, daß automatische Entzifferungsverfahren am Sieg gegen Hitler beteiligt waren.“15 In Reminiszenz an Pynchons entropische Ermittlungen, deren Hinweise letztlich immer ins Leere laufen, zielen Kittlers Texte also statt auf Aufklärung der angedeuteten und erahnten Zusammenhänge auf eine Multiplikation möglicher Bezüge der wissbaren Fakten, auf eine Explosion von Information statt ihrer intelligiblen Reduktion. Dieses Spiel mit dem Verdacht, mit Andeutung und Ahnung vollzieht, was nur Literatur, nicht aber ein wissenschaftlicher Aufsatz vermag: von Medien sprechen, denen sie ihre Entstehung und Distribution verdanken. Kittlers erklärte Liebe für die narrativen Sequenzierungen des Detektivs bei Chandler, Pynchon oder Borges, „[…] deren Geschichten so erzählt sind, dass es spannend ist sie zu lesen, und man am Anfang nicht weiß, was am Ende rauskommt […]“16 geht hier in eine Poetik der Medientheorie als offene Ermittlung ein. Es liegt nahe, einen dritten Anknüpfungspunkt an Pynchons Poetik in einer Kontinuitätsbeziehung mit diesem Spiel des Verdachts in Kittlers Mediengeschichte zu sehen: die Text-Bild-Montagen und das Verfahren einer argumentativen Engführung von Dokumenten in Grammophon, Film, Typewriter. Nicht umsonst konstatiert das Vorwort: „Technologien […], die die Schrift nicht bloß unterlaufen, sondern 15 Kittler, Friedrich, „Das Alphabet der Griechen“, S. 352. 16 Barberi, Allessandro, „Weil das Sein eine Geschichte hat. Interview mit Friedrich Kittler“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4/11 (2000), S. 109-123, S. 111. Zit. n. Hron, Tanja/Stingelin, Martin, „Fingerkunst: Zu Friedrich Kittlers Zettelwirtschaft und ihrer ‚Übertragung‘ auf die Festplatte“, in: Heike Gfrereis u.a. (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach, 2013, S. 48-56, S. 56.
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mitsamt dem sogenannten Menschen aufsaugen und davontragen, machen ihre Beschreibung unmöglich.17 Kittler sieht Pynchons Ästhetik mit einer ähnlichen Problemstellung konfrontiert – in Gravity’s Rainbow wird, was Kittler als Einbruch des Realen in den Text liest durch Auflösung der Erzählinstanz und Genrebastardisierung indiziert. Tyrone Slothrops Ermittlung gerät ab einem bestimmten Punkt zu einer Erzählung, die nicht mehr erzählt werden kann, sondern nur noch als Massierung von „Episoden, Comic-Strips, Mythen und zuallerletzt Platten-Covern“ unterbrochen von Operettenchören in der Zeit vorund zurückspringt.18 Wie das zerfledderte Register eines durch einen V2-Einschlag ausgebombten Archivs oder eine zerkratzte Langspielplatte – oder eben die Massierung von mediengeschichtlichen Splittern in Bild und Text in Kittlers erster Veröffentlichung nach der so problematischen Rezeptionsgeschichte seiner Habilitation. In Grammophon, Film Typewriter zeichnet sich das erste Mal in Kittlers Schreiben eine an Pynchons Poetik orientierte Lösung für das Problem der Gebundenheit aller Medientheorie an ein längst überkommenes Medium wie der Schrift ab. In diesem zunächst als Dokument-Montage angelegten Buch, kann der überkommene Schriftspeicher der Gutenberg-Galaxis Information durch Text-Bild-Collagen sichtbar machen. Und zwar, indem Fotografien und Dokumente in ein gegenseitiges Verhältnis der Bestätigung, sondern der Unterbrechung und assoziativen Weiterführung treten. Auf diese Weise kann ein Medium des Symbolischen von der Genese anderer Medien erzählen. In Effekten der Montage, Überlagerung und Interferenz wird Mediengeschichte sichtbar: „Wie es dazu kam, was in keinem Buch mehr steht, ist von Büchern gerade noch aufzuschreiben. In ihren Grenzbereich getrieben, werden auch veraltete Medien empfindsam genug, um die Zeichen und Indizien einer Lage zu registrieren. Dann entstehen, wie an den Schnittflächen von optischen Medien auch, Raster und Moirés: Mythen, Wissenschaftsfiktionen, Orakel…“19
Sehr klar wird dieses Verfahren etwa in dem von Brinkmann und Bose verwendeten Satz, wenn hier, entgegen allen üblichen Konventionen immer wieder einzelne Wörter durch Bildsequenzen und Dokumente 17 Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, S. 3. 18 Vgl. Kittler, Friedrich, „Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Die Wahrheit der technischen Welt, S. 113131, S. 121. 19 Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, S. 4.
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aufgetrennt werden.20 Das Wort „Tech-nik“ auf Seite 288 etwa ist durch eine assoziative Bilderreihe unterbrochen, die eine Art Daumenkino des Medienbruchs zwischen Handschrift und Schreibmaschine im Schnellvorlauf in Szene setzt. Durch technische Mimikry am Film macht Text im Inneren des Wortes Technik den Raum kulturtechnischer Transformation sichtbar, dessen Umriss das Ziel von Grammophon, Film, Typewriter ist. Es gibt also einen spezifischen literarischen Anteil in Kittlers Texten und Vorträgen. Die Engführung von Kriegs-, Medien- und Diskursgeschichte durch parasitäre Überträgerfiguren, die elliptische Auslassung und Anbahnung von abgebrochenen detektivischen Ermittlungen, schließlich die sich gegenseitig unterbrechende Montage von Bild und Text und ein Rückkopplungseffekt der ersten Sätze – in diesen Merkmalen zeichnet sich eine Poetik der Montage ab, die Schreiben zuallererst als eine Praxis, als eine performative Intervention, einen Eingriff im Archiv der Weltgeschichte versteht. Eine Poetik der eleganten Schnitte erzeugt bisher unbekannte Näherelationen und schreibt Loops und Feedbacks zwischen Diskurs- und Materialitätsgeschichte ein. Der dabei zum Tragen kommende besondere Bezug zu Texten als Verschiebemasse im Furor einer Neuschreibung der europäischen Kulturgeschichte kann kaum verwundern bei einem Theoretiker, der für eine technische Praxis wie den Bau von Synthesizern, Computerhardware und seine Programmierexperimente bekannt ist: Der handwerklichtechnische Nachvollzug des Seins der Medien war für ihn Bedingung der Möglichkeit auch des eigenen Denkens. Feedback Auch Kulturwissenschaftler, die zu Technikexperten geworden sind müssen weiter Texte schreiben, um die von ihnen gezündeten Bomben im Archiv der Geisteswissenschaften zu hinterlegen. Und hier sind für Kittler im Gefolge seiner Pynchon-Erfahrung offenbar literarische Ausdrucksmittel nicht nur Effekte epistemischer Verschiebungen, sondern erzeugen neue Sichtbarkeit und damit die Ermöglichung eines neuen Diskurses. Der epistemische Transfer zwischen Kunst und Wissenschaft 20 Vgl. Wiedemeyer, Nina, „Friedrich Kittlers Bücher. Die Montage stammt nicht vom Autor“, in: Friedrich Balke u.a. (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler (= Sondernummer des Archivs für Mediengeschichte), München, 2013, S. 104-116, S. 115.
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ist bei ihm an manchen Stellen überraschend gegenläufig gedacht. Unter bestimmten historischen Bedingungen, etwa zur Zeit Homers, Brunelleschis oder Dürers, können die Künste selbst technische Entwicklungen in Gang setzen und auf diese Weise epistemologische Paradigmen verschieben: „In diesem Sinne standen die Künste zu einer bestimmten Zeit wirklich an der Spitze der technologischen und theoretisch-mathematischen Entwicklung.“21 Hierzu bilden literarische Mittel in Kittlers Texten und Vorträgen eine exakte strukturelle Äquivalenz. Sie sind als künstlerische Formen für die Entstehung und Entwicklung seiner Medientheorie Mitte der 1980er Jahre grundlegend: Bedingungen der Möglichkeit für einen epistemologischen Sprung, indem sie historische und gegenwärtige Medienlagen sichtbar machen. Und hier ist neben der Form seiner Texte auch die Schreibpraxis Kittlers relevant. Für deren genaue Rekonstruktion müssen wohl die gegenwärtigen philologischen Bemühungen um sein Gesamtwerk abgewartet werden, die auch Hardwarebau und Programmierarbeiten einbeziehen. Einige Tendenzen lassen sich aber bereits feststellen. So verwundert es natürlich nicht, dass der technikbegeisterte Germanist mit dem Aufkommen der ersten Homecomputer aus IBM-Produktion seine Textproduktion auf den PC umstellt. Das war laut Aussagen seines Bruders Wolf 1987, also erst nach der Publikation von Grammophon, Film, Typewriter der Fall.22 Es besteht also bereits ein bestimmter Stil und ein besonderer Sound des Schreibens, dem die zum Schreiben umgewendete militärische Militärtechnik PC stabilisierend und auf technischer Ebene implementierend zur Seite tritt. Der Computer war für Kittler aber nicht einfach eine um nützliche Funktionen erweiterte Schreibmaschine, sondern ein eigenes Medium, das eine eigene Arbeitsweise erforderte. Das bezieht sich vor allem auf seine Funktion als Speichermedium, als Ablage und Suchsystem für Texte und Notate, mit dem er laut Martin Stingelin und Tania Hron sein Wissen organisierte und in Texte überführte. In bereits bestehenden digitalen Notizen und Texten suchte er mit dem grep-Suchbefehl Unix-basierter Betriebssysteme, mit dessen Exekution alle Dateien angezeigt werden, in denen beispielsweise die Buchstabenfolge turing auftaucht. Ausdrucke, Kopien und Notate gingen derweil in ein gegenüber dem klassischen Zettelkasten bemerkenswert unsystematisches und teilweise nur von seinen Mitarbeitern geführtes Ordner- und Mappenarchiv über.23 Die Umstellung auf den 21 Kittler, Friedrich, Platz der Luftbrücke, S. 44. 22 Vgl. Hron, Tanja/Stingelin, Martin (Hg.), „Fingerkunst“, S. 52. 23 Vgl. ebd., S. 54f.
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Computer und die Aufgabe des geradezu gängigen Wissensspeichers für Dissertationen und Habilitationen im 20. Jahrhundert wird von Kittler also in besonderer Weise betrieben und hat weitreichende Konsequenzen: Das neue Medium erlaubt auf der einen Seite die direkte Verknüpfung von Texten ohne Verschlagwortung. Weil diese Funktion für ihn zentral war, legte Kittler Dateien wohl auch nicht wie viele andere Nutzer in Verzeichnisstrukturen ab, sondern ordnete sie einfach nach ihren Dateiendungen. Und auf der anderen Seite vertraute er den Zufällen des eigenen Gedächtnisses im Umgang mit der eigenen Bibliothek und dem eigenen Textarchiv.24 Wenn Texte aber unter dem Einfluss von Suchbefehlen in Wortreihen zerlegt und die losgelösten Passagen, Sätze und Wörter zu neuen Texten zusammengefügt werden, so scheint eine Genealogie dieser Praxis – und also der aller Schreibenden, die heute mit Hilfe von VolltextSuchmaschinen im Web oder am heimischen PC arbeiten – wiederum in der literarischen Avantgarde der 1960er Jahre zu liegen. Wie William S. Burroughs und Brion Gysin setzt Kittler das Archiv der Menschheitsgeschichte einer technischen Verarbeitung durch die Medien seiner Zeit aus und überführt das Ergebnis wieder in Text. Wohl nicht zufällig gehören den Cut-Ups in Grammophon, Film, Typewriter die Schlusspassagen des ersten Kapitels. Wo Burroughs durch Schnitte in eigene und fremde Texte und ihre Rekombination zu neuen Texten das Archiv der Kulturgeschichte neu anordnet, so vollzieht auch Kittlers Schreibpraxis ausgehend vom Suchbefehl offenbar zunächst eine Zerstückelung, die alles Geschriebene auf seine Materialität reduziert und neu anordnet.25 Die Funde können dann neu zusammengesetzt und zu Texten werden, die das mediale Apriori einer Zeit offenlegen. „Man muss nur darauf kommen, was mit Shannon/Turings Zerhakker [sic] oder dem deutschen Magnetophon alles geht.“26 Nicht zufällig lässt Kittler als Herausgeber eines Romans dessen Textende in der hier eingangs zitierten Vorrede durch den Filter eines Sprachsynthese-Programms laufen, das zunächst die Übergangswahrscheinlichkeiten zwi24 Vgl. ebd., S. 53. 25 Auf diese Weise ist das Cut-Up ein schreibtechnischer Vorgänger von Kittlers Medientheorie. Zur epistemischen Engführung von medialer Historiographie und Cut-Up vgl. Kaiser, Marian, „Rausch und Regeltechnik. Counter Culture als Electronic Revolution bei William S. Burroughs und Friedrich A. Kittler“, in: Friedrich Balke u.a. (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, S. 79-95, S. 90. 26 Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, S. 169.
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schen allen 27 Zeichen des Alphabets (plus Leerzeichen) bestimmt und dann einen neuen Text synthetisiert. Wie diese Markov-Kette sind zerlegende und neu synthetisierte Nachrichtentechniken die mathematische Grundlage aller Texte des 20. Jahrhunderts. Ordnet Kittlers Schreibpraxis also das kulturgeschichtliche Archiv im Filter des Outputs seiner Suchbefehle, so lässt sich darin durchaus ein bemächtigender und gewaltvoller Akt erkennen. Schreiben bedeutet für Kittler in den 1980er Jahren Diskurspraxis auf dem Niveau der Nachrichtentechnik des Zweiten Weltkriegs. Insofern sind seine hier beschriebenen ästhetischen Vorbilder nicht zufällig gewählt. Pynchons Biografie als Nachrichtentechniker der US-Marine verbürgte gewissermaßen die strategische Nähe seines Textes zur technologisch-medialen Innovationsspeerspitze der Gegenwart. Das ist auch bei William S. Burroughs der Fall, dessen Cut-Ups ja nur auf die Ebene von Buchstaben übertragen, was die Nachrichtentechnik der 1940er Jahre für den Sound unternommen hat: „Weltkriegswaffen wie das Magnetophon sind als Kassettenrekorder kommerzialisiert, also können Ex-Schriftsteller wie Burroughs zu Taten schreiten. Anstelle der klassischen Spaltung zwischen Produktion und Rezeption von Büchern tritt eine einzige und militärtechnische Interzeption.27 Und in der Verfahrensappropriation von Cut-Up und literarischer Poetik der Störung ist auch Kittlers Schreiben auf dem „Medienplateau des Zweiten Weltkriegs“ als Manipulation des Symbolischen zur Entbergung des Realen möglich.28 Damit aber ist die Wahl einer bestimmten Schreibtechnik und einer besonderen formalen Argumentationsstruktur dann eben auch Taktik in den universitären Spielen der Macht. Pynchon und Burroughs waren wohl allein als Textkorpus bereits genug Provokation an die Adresse der auf ihre Nationalheiligtümer spezialisierten hermeneutischen Germanistik. Aber über das reine Überschreitungsbegehren hinaus ist für Kittler die Nähe mancher Literatur zu den Medien für das Erkennen der berühmten Lage zentral. Die „Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“29 wie das die Philosophie des Werdens nennt, besteht für ihn schlicht in ihrer geografischen und biografischen Nähe zur technologischen frontier. Und hier gewinnt die über den bloßen Kommentar hinausgehende literarische Adaption literarischer Praktiken an Bedeutung: Mit ihrer Hilfe konnte der hermeneutische Diskurs der Germanistik ästhetisch ausgehebelt werden. Die Austreibung des 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd., 172. 29 Deleuze, Gilles/Parnet, Claire, Dialoge, Frankfurt/Main, 1980, S. 43.
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Geistes aus den Geisteswissenschaften mag von französischer Theorie inspiriert worden sein, aber in der Praxis geschah sie mit Hilfe amerikanischer Militärtechnik. Die Macht der Eleganz Das informationstechnische Prinzip der Eleganz, der richtigen Codierung und d.h. Verkürzung von Information, wie es Kittler von Pynchon übernimmt, bedeutet für ihn nichts anderes als eine ökonomischere Formulierung von Foucaults Theorie der Verknappung: In der Archäologie des Wissens bildet sie das entscheidende Scharnier zwischen Institutionen und Diskursen durch Selektionsregulierung von Zeichen in Regeln, Sprechordnungen und Praktiken. Die Aufschreibesysteme wenden dies mehr oder minder im Hinblick auf die familiär implementierte Alphabetisierungspraxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts an. Kittlers postkalifornische Lösung aber ist einfacher, oder eben eleganter und koinzidiert mit seiner Hinwendung zu neuen Schreibverfahren der Montage und zum Computer als Verwaltungsmedium des Wissens: Von nun an sind es in seiner Theorie allein die Apparaturen in militärischem Kontext, die über die Distribution der Zeichen in den Nachrichtenkanälen einer Kultur entscheiden. Diskurse und Institutionen sind nachgelagerte Phänomene. In gewisser Weise ist die frühe deutsche Medientheorie deshalb immer auch der Versuch, eleganter zu schreiben als „einer der elegantesten Schreiber unserer Zeit“30, in Büchern, die eleganter sind als „Foucaults elegantestes Buch“.31 Es lässt sich zeigen, dass die Eleganz der Verknappung in Kittlers Diskurs, seine Beschränkung der historisch benennbaren Wirkungsfaktoren auf die Medien an eine bestimmte Konstellation technischer und ästhetischer Praktiken in den 1980er Jahren gebunden war. Das Wissen von den Medien, seine Entstehung, Entwicklung, Etablierung und Durchsetzung verdankt sich einer Montagepraxis, die Kittlers Texte noch in ihrer Form sichtbar machen: Einem Rekurs auf Praktiken und formale Eigenheiten der nachklassischen amerikanischen Avantgardeliteratur. Wo sich Medientheorie derart auf literarische Mittel 30 Kittler über Foucault in: Kittler, Friedrich, „Zum Geleit“, in: Jan Engelmann (Hg.), Foucault – Botschaften der Macht, Stuttgart, 1999, S. 7. 31 Kittler über Die Ordnung der Dinge in: Kittler, Friedrich, „Spiele des Wahren und des Falschen“, in: Ders., Short Cuts, Frankfurt/Main, 2002, S. 31-40, S. 38.
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und die sie ermöglichenden Praktiken als Denkwerkzeuge verlässt, wird sie zum Effekt einer kulturtechnischen Operationskette aus Instrumenten und Handgriffen, die sie im Verbund mit ästhetischen Formen wählt. Damit lässt sich aus heutiger Perspektive an Kittlers Theorie selbst feststellen, was eine ihrer interessantesten Entdeckungen gewesen ist: Ästhetische Formen und die ihnen angeschlossenen Praktiken sind nicht zufälliges Beiwerk epistemologischer Konstellationen, sondern ihre notwendige Bedingung.
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Philosophie und ästhetische Praxis Einleitung Die Ordnungen und Praktiken des Wissens in der Philosophie haben sich in den vergangenen 2500 Jahren immer wieder verändert. Die Verschiebungen wurden dabei häufig durch inhaltliche Neuerungen oder auch allein durch institutionelle Veränderungen ausgelöst. Durch die Neuordnung der universitären Wissensvermittlung im Bologna-Prozess in Form von Studiengängen, haben sich Studienprofile entwickelt, die vorher zwar schon möglich, aber eher einer individuellen Studiengestaltung entsprungen waren. Diese Neuordnung wurde und wird für einige Wissensfelder als sehr nachteilhaft beurteilt, in einigen Wissensfeldern konnte sich dabei aber Neues bilden, das in dieser Konsequenz zuvor noch nicht angeboten wurde. An der Universität Hildesheim haben sich in den letzten 10 Jahren ein BA (Philosophie – Künste – Medien) und ein MA Studiengang (Philosophie und Künste interkulturell) für Philosophie entwickelt, die jeweils das Hauptfach Philosophie mit einem künstlerischen Nebenfach (Musik, Theater, Literatur, Bildende Kunst, Medien) bzw. mit verschiedenen künstlerischen Nebenfächern verbinden. Eine solche Kombination war auch früher bereits möglich, wenn man beispielsweise das Studium der Philosophie mit den Nebenfächern Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Musikwissenschaft usw. kombinierte, was nicht selten war. Die Besonderheit an den Hildesheimer Philosophie-Studiengängen ist jedoch, dass die künstlerischen Nebenfächer nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern auch mehr oder weniger ausführlich in praktischer Hinsicht studiert werden. Somit gehört in diesen Studiengängen künstlerische-, bzw. allgemeiner formuliert ästhetische Praxis zum Studium der Philosophie. So ist es möglich, dass man im Hauptfach Platon, Kant oder Heidegger studiert, aber im Nebenfach an der Inszenierung eines Theaterstücks beteiligt ist, einmal in der Woche Gesangsunterricht hat oder beim Drehen eines Films mitarbeitet. Erst durch den Bologna-Prozess hat sich die Philosophie in Hildesheim an diese bereits seit 1981 in Hildesheim institutionalisierte Studienausrichtung angeschlossen. Spätestens nach zehn Jahren ist es notwendig, diese mögliche Studienkombination nicht nur als interessant und zufällig entstanden zu verbuchen, sondern auch philosophisch Rechenschaft darüber abzulegen, was dieses Profil für das Phi-
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losophieren selbst bedeutet und aus welchen philosophiegeschichtlichen Gründen es heute an der Zeit ist. Philosophiegeschichtliche Herleitung der Verbindung von Philosophie und ästhetischer Praxis Seit Aristoteles ist der Ort der philosophischen Wahrheit der Aussagesatz. Ausgehend von dieser Bestimmung sind Philosophierende in Europa seit Jahrhunderten darum bemüht, präzise Begriffe zu definieren und aus diesen nach den Regeln der Logik wahre Sätze zu bilden, um sich so der Wahrheit anzunähern. Diese Form des Philosophierens hat zu großartigen Entwürfen geführt, die sich nicht nur mit dem Handeln des Menschen, den Regeln der Natur oder der Wirklichkeit Gottes beschäftigt haben, sondern auch mit der Form der philosophischen Wahrheit selbst. Im Zentrum stand stets die philosophische Wahrheit, die auch schon vor ihrer sprachlichen Formulierung als gegeben und gültig angesehen wurde. Philosophierende brauchten sie nur aufzusuchen. Die Vorschläge dafür, wie es möglich ist, die philosophische Wahrheit auszusagen, waren jedoch verschieden. Im Rahmen dieses Wahrheitsmodells, das auch heute noch vielerorts Aktualität besitzt, ist eine produktive und gleichberechtigte Verbindung von Philosophie und ästhetischer Praxis kaum möglich. Denn Aussagen mit Wahrheitsanspruch sind allgemein und übersteigen die sinnlichen und konkreten Bedingungen jeder Situation. Legt man sich auf dieses Wahrheitsmodell im philosophischen Sprachgebrauch fest, so erscheinen die Fragen, die im Folgenden aufgeworfen werden sollen, als philosophisch nicht relevant. Bereits in der Antike existieren jedoch alternative Entwürfe. So waren die Skeptiker davon überzeugt, dass sich die Wahrheit nicht in der Form des Aussagesatzes fassen lasse. Dies führte dazu, dass sie unter höchster Aufbietung logischer Argumentationen die Widersprüche in jeder Wahrheitsbehauptung aufzeigten, die in Form eines Aussagesatzes aufgestellt wurde. Als positives Endziel dieses Philosophierens stellt sich – so die Ansicht in dieser Schule der Philosophie – durch das widerlegende Verfahren eine Beruhigung in der Seele des Philosophierenden ein, die vor allem durch die wachsende Einsicht erzeugt wird, dass sich die Wahrheit nicht in Aussagen fassen lässt. Es zeigt sich hier, wie eine bestimmte Form des Lebens das eigentliche Ziel des Philosophierens ist, die aber nicht in der Definition von Begriffen und der Wahrheitssuche in Aussagesätzen besteht, sondern in der Beruhigung der Seele durch ein radikalisiertes Denken, das über die philosophische Wahrheitsfunktion der Sprache hinausführt in das alltägliche Leben.
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Eine andere Richtung schlug das christliche Denken ein, in dem der einzige, wirklich wichtige Gegenstand die Wirklichkeit Gottes war. An Gott als dem Grund aller Wahrheit konnte man sich zwar durch philosophische Aussagen annähern, aber dabei tauchte zugleich die Unmöglichkeit auf, Gott selbst in einer wahren Aussage objektiv zu fassen. Denn jede Aussage setzt bereits Gott als den Grund der Wahrheit voraus, so dass auch in diesem Rahmen die Wahrheit der Aussagesätze überstiegen werden musste, um im Glauben mit der Realität und Wahrheit Gottes eins werden zu können. Sowohl die skeptische wie auch die christliche Philosophie ringen mit den Grenzen der Objektivierbarkeit von Wahrheit im Rahmen von Aussagesätzen. Sie weisen auf etwas hin, was diesen Aussagesätzen voraus liegt und sich nicht ohne weiteres sprachlich fassen lässt. Auch wenn schon seit Platon die bildenden Künste – wobei die Dichtung und die Musik eine jeweils besondere Rolle spielten – in ein Verhältnis zur Philosophie traten, so begannen die bildenden Künste erst im 18. Jahrhundert eine zunehmend bedeutende Rolle in der Philosophie und für das Philosophieren zu spielen. Als Alexander Gottlieb Baumgarten 1750 die Ästhetik als die Lehre von der „sinnlichen Erkenntnis“1 (scientia cognitionis sentiviae) und der „ästhetischen Wahrheit“ (veritas aesthetica) entwickelte,2 schien sich etwas Neues mit dem Anspruch auf Wahrheit zu verbinden. Wahrheit wurde als sinnlich wahrnehmbar und erkennbar gedacht und „das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher.“3 Diese Vollkommenheit verbindet Baumgarten im Text direkt mit der Schönheit (pulchritudo), wodurch bei Baumgarten und in der weiteren Entwicklung der Ästhetik der Anspruch auf ästhetische Erkenntnis und Wahrheit zugunsten einer Lehre von der Schönheit zurückgedrängt wurde. Auch wenn die Wahrheit sich nach dieser Lehre nicht allein begrifflich, sondern auf einer unteren Ebene4 auch sinnlich wahrnehmbar zeigen kann, so war bei Baumgarten der Aussagesatz noch immer der eigentliche und höchste Ort der Wahrheit. Die Ästhetik war eben nur für die unteren und diffusen Erkenntnisvermögen zuständig. Mit der Entwicklung dieser philosophischen Disziplin war jedoch in1 2 3 4
Baumgarten, Gottlieb Alexander, Ästhetik [§ 1], Hamburg, 2007, S. 11. Vgl. ebd. [§ 423], S. 403. Ebd. [§ 14], S. 21. Baumgarten schreibt: „Die sinnliche Erkenntnis ist gemäß der nach ihrer Hauptsache gewählten Benennung die Gesamtheit der Vorstellungen, die unter der Deutlichkeit verbleiben.“ Ebd., [§ 17], S. 21.
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nerhalb der Philosophie ein Ort markiert, wo es im engeren philosophischen Sinne um die Sinnlichkeit, die Künste und die künstlerische Praxis gehen konnte. Somit zeigt sich hier eine deutliche Verschiebung in der Ordnung des philosophischen Wissens. Bis heute schwankt jedoch die Ästhetik zwischen dem Anspruch, eine Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung oder eine Theorie der Künste zu sein. Ob sich alles in einem Entwurf integrieren lässt, ist bis heute fraglich. Eine weitere Intensivierung der Verbindung von Kunst und Philosophie ist ein halbes Jahrhundert nach Baumgartens Entwurf einer Ästhetik beispielsweise bei Friedrich Schelling zu beobachten, der in seinem Werk System des transcendentalen Idealismus von 1800 die Kunst selbst zum Ausgangsprinzip der Philosophie erklärt: „Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Prinzip, das als das absolut Identische schlechthin nicht-objektiv ist. Wie soll nun aber dieses absolut Nichtobjektive doch zum Bewußtsein hervorgerufen und verstanden werden, was notwendig ist, wenn es Bedingung des Verstehens der ganzen Philosophie ist? Daß es durch Begriffe ebensowenig aufgefaßt als dargestellt werden könne, bedarf keines Beweises. […] Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseins sich trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt.“5
Schelling verbindet mit der Kunst und ihren Produkten bzw. Werken die Möglichkeit zu einer Ebene vorzustoßen, in die die Philosophie mit den Mitteln der begrifflichen Erkenntnis nicht hinreicht.6 Unschwer ist zu erkennen, dass die Kunst bei Schelling die Position einer göttlichen Realität eingenommen hat. Sie zeigt dem Menschen das absolut Identische in unmittelbarer Anschauung, das durch jede begriffliche Reflexion eine Aufspaltung erfährt und somit nicht mehr das absolut Identische ist. Dieser Gedanke ist tief verbunden mit dem Konzept des Genies in der Kunst, wie es sich im 18. Jahrhundert entwickelt hat. Schelling sagt sehr folgerichtig, dass das Genie „ein Stück aus der Ab5 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, System des trancendentalen Idealismus [1800], Hamburg, 2000, S. 692. 6 Vgl. Iber, Christian, Das andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Blick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin, 1994.
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solutheit Gottes“7 sei. Die Philosophierenden haben somit durch die Kunst und ihre Werke die Möglichkeit, ihr eigenes ursprünglichstes Prinzip – die absolute Identität – vor aller Reflexion und Begrifflichkeit anzuschauen. Die Kunst und ihre Werke führen somit in einen vorphilosophischen Bereich, der aber zugleich notwendiger Ausgangspunkt des begrifflichen Philosophierens ist. Spätestens mit der Integration des Hässlichen in die bildenden Künste, die ästhetische Praxis und die Konzeptionen von der Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte dieser Gedanke kaum noch überzeugen.8 Denn in den Künsten und ihrer ästhetischen Praxis wurde zunehmend nicht das Vollkommene und Identische gezeigt, sondern das Häßliche, sich Reibende, Gestörte und Irritierende. Wieder gut ein halbes Jahrhundert nach Schelling setzte Ludwig Feuerbach einen anderen neuen Akzent, indem er das neue Philosophieren radikal ausgehen lässt vom Sinnlichen und Endlichen im Leben: „Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkt den Satz hatte: Ich bin ein abstraktes, ein nur denkendes Wesen, der Leib gehört nicht zu meinem Wesen, so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satze: Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen: Der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber. Der alte Philosoph dachte daher in einem fortwährenden Widerspruch und Hader mit den Sinnen, um die sinnlichen Vorstellungen abzuwehren, die abstrakten Begriffe nicht zu verunreinigen; der neue Philosoph dagegen denkt im Einklang und Frieden mit den Sinnen.“9
Diese Sätze veröffentlicht er im Jahr 1843. Anders als bei Schelling ist nicht die Kunst in ihrer göttlichen Überhöhung das Prinzip der Philosophie, sondern Ausgangspunkt ist vielmehr die leiblich-sinnliche Situation des Menschen in der Welt. Es geht darum, in das Philosophieren das „Nichtphilosophische“ als eine zentrale Quelle der Philosophie
7 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, „Philosophie der Kunst“ [§ 63], in: Schellings Werke. Bd. 3 (= Schriften zur Identitätsphilosophie), hg. v. Manfred Schröter, München, 1994, S. 480. 8 Vgl. Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Hässlichen, Königsberg, 1853. 9 Feuerbach, Ludwig, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ [§ 37], in: Ders., Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hg. v. Walter Jaeschke u. Werner Schuffenhauer, Hamburg, 1996, S. 25-99, S. 78f.
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aufzunehmen.10 Denn solange sich die Philosophie nicht mit dem „Nichtphilosophischen“ z. B. in Formen des alltäglichen Lebens verbindet, muss ihr Anspruch begrenzt bleiben. Feuerbach schwebt für die neue Weise des Philosophierens vor, dass diese die Menschen konkreter und leiblicher verbindet mit dem, was in ihrem endlichen und sinnlichen Leben geschieht: „Die Aufgabe der Philosophie, der Wissenschaft überhaupt besteht daher nicht darin, von den sinnlichen, d.i. wirklichen Dingen weg, sondern zu ihnen hin zu kommen – nicht darin, die Gegenstände in Gedanken und Vorstellungen zu verwandeln, sondern darin, das den gemeinen Augen Unsichtbare sichtbar, d.i. gegenständlich zu machen. Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind, sehen in den Dingen nicht sie selbst, sondern nur ihre Einbildungen von ihnen, legen ihr eigenes Wesen in sie hinein, unterscheiden nicht den Gegenstand und die Vorstellung von ihm. Die Vorstellung liegt dem ungebildeten, subjektiven Menschen näher als die Anschauung, denn in der Anschauung wird er aus sich herausgerissen; in der Vorstellung bleibt er bei sich.“11
Die zentrale Unterscheidung, die Feuerbach hier ins Spiel bringt, ist die zwischen „Vorstellung“ und „Anschauung“. Er kritisiert, dass wir Menschen oft nur eine vage subjektive Vorstellung von Gegenständen und Sachverhalten besitzen, die in nur schwacher Korrespondenz mit diesen selbst stehen. Erst in der intensiven Beschäftigung mit den Sachen selbst in konkreter Anschauung kann die vage Vorstellung abgelöst und aufgelöste werden, so dass die Sache sich in ihrer Vielschichtigkeit immer weiter öffnet. So sind beispielsweise das Japan, bevor man dort gewesen ist und das Japan, das sich durch immer wieder neue Anschauungen in Japan selbst zeigt, erheblich voneinander verschieden. Mit der zentralen Bedeutung der konkreten und lebendigen Anschauung als Quelle und Ausgangspunkt des Philosophierens wird das 10 Vgl. Feuerbach, Ludwig, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, in: Ders., Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, S. 3-23. S. 13. Feuerbach schreibt: „Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert […] in den Text der Philosophie aufnehmen. […] Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus.“ 11 Feuerbach, Ludwig, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ [§ 44], S. 84.
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philosophische Denken stets zurückgebunden an sinnlich-leibliche Situationen, die eine Sache fortwährend neu zeigen. Feuerbach betont zwar nicht die Künste als herausgehobene Möglichkeiten der Erfahrungserweiterung, er legt aber eine entscheidende philosophische Spur hin zur Leiblichkeit und Sinnlichkeit. Diese Spur entfaltet sich bereits im 19. Jahrhundert bei Friedrich Nietzsche erheblich weiter. Methodisch wird dieser Ansatz in der Philosophie aber erst im 20. Jahrhundert in zwei großen philosophischen Strömungen entwickelt: Phänomenologie und Pragmatismus. Edmund Husserl entwickelt die Phänomenologie unter der Maxime: „Zu den Sachen selbst“. Dies bedeutet, dass die konkrete menschliche Erfahrung bzw. die Anschauung für das Philosophieren erheblich an Bedeutung gewinnt. Husserl geht in seinen phänomenologischen Beschreibungen aus von den Erscheinungsweisen konkreter Phänomene. Erstmalig geschieht dies in einer Vorlesung von 1907 zum Thema „Ding und Raum“. In eingehenden Detailbeschreibungen der Ding-Wahrnehmung hebt er die Strukturen der Erscheinungsweise von Dingen im Raum ins Bewusstsein. Es geht ihm darum, das, was als Struktur in der Wahrnehmung von Dingen immer schon wirksam ist, aufzuzeigen und sichtbar zu machen. Der einfache Ausgangspunkt seiner Beschreibung ist dabei: „Ich sehe einen Tisch im Raum“. In diesem sehr einfach wirkenden Akt zeigt sich durch die Beschreibung alsbald eine komplexe Struktur, die in jeder Wahrnehmung dieser Art wirksam ist. Das Philosophische an dieser Beschreibung ist, das ausgehend von einer sinnlichleiblichen Wahrnehmungssituation – Feuerbach würde es das „Nichtphilosophische“ nennen – und unter konkreter Teilnahme an dieser Wahrnehmungssituation eine philosophische Strukturbeschreibung erfolgt, die nicht nur die subjektive Wahrnehmung der jeweils einzelnen Situation ist, sondern auch in anderen Wahrnehmungssituationen dieser Art beobachtet werden kann. Eines der Ergebnisse der Beschreibung des Verhältnisses von Ding und Raum in der Wahrnehmung ist beispielsweise, dass Dinge im Raum in der menschlichen Wahrnehmung nie ganz und von allen Seiten gesehen werden können. Irgendeine Seite ist in der jeweils aktuellen Wahrnehmung nicht gegeben. So nehme ich einen Tisch nur als quadratische Platte wahr, wenn ich von oben auf ihn schaue und seine Beine nicht sehen kann. Husserl nennt dies das Prinzip der „Abschattung“ in jeder einzelnen Ding-Wahrnehmung. Diese zunächst sehr einfach wirkende Tatsache hat erhebliche Folgen für die Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis. Denn wenn ich ein Ding nie ganz sehen kann, so wirken in jeder Wahrnehmung eines
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Dinges auch die Erinnerungen an vorhergegangene Wahrnehmungen mit, so dass ich zu der Holzplatte, die ich von oben sehe, durch meine Erinnerung auch die Tischbeine hinzufüge, ohne sie aktuell zu sehen. Meine konkrete Wahrnehmung erweist sich auf diese Weise als ein komplexes Gefüge von Perzeption und Apperzeption d. h. erinnernde Hinzuwahrnehmung. Da die Wahrnehmung eines Dinges im Raum noch vergleichsweise einfach ist, wird deutlich, welch komplexe philosophische Beschreibungen notwendig sind, wenn nicht nur ein Sinn, sondern verschiedene und wenn nicht nur die Sinnlichkeit, sondern auch die Gefühle und leiblichen Befindlichkeiten einbezogen werden. Dies alles ist jedoch keine Psychologie, sondern der Versuch, auf philosophische Weise Erfahrungsstrukturen sichtbar zu machen, in denen sich unser Leben vollzieht. Husserl selbst ist bei seinen Deskriptionsversuchen immer wieder auf neue Zusammenhänge gestoßen, so dass seine Philosophie prinzipiell unabgeschlossen blieb. Andere haben seine Impulse aufgenommen und auch mit den Künsten und ihren ästhetischen Praktiken in direkte Verbindung gebracht. In der Phänomenologie ist hier vor allem der Ansatz von Maurice Merleau-Ponty hervorzuheben. Als sein Hauptwerkt kann die Phénoménologie de la perception (Phänomenologie der Wahrnehmung) aus dem Jahr 1945 bezeichnet werden. Dieses Werk setzt sich intensiv mit physiologischen Forschungen zur Leiblichkeit auseinander, um daran anschließend eine phänomenologische Kritik an den Zugangsweisen zu entfalten, die zugleich in einer phänomenologischen Analyse der Leiblichkeit besteht. In der Phänomenologie der Wahrnehmung wird die phänomenologische Methode auf neue Weise entworfen. Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass Merleau-Ponty im Vorwort in eindringlicher Weise eine tiefreichende Parallele zwischen Phänomenologie und den Künsten herausstellt. Er sieht hier keine prinzipiellen Unterschiede mehr, sondern betont vielmehr die Möglichkeit der gegenseitigen Bereicherung. „Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins: die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit. […] Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen, und insofern kann eine schlichte Erzählung – erzählte Geschichte – ebenso ‚tief‘ die Welt bedeuten wie eine philosophische Abhandlung. […] So ist es weder Zufall noch Trug, wenn die Phänomenologie eher als eine Bewegung denn als System und Lehre sich gibt. Sie ist mühsam wie das Werk von Balzac, von
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Proust, Valéry oder Cézanne: in gleichem Aufmerken und Erstaunen, in gleicher Strenge der Forderung an das Bewußtsein, in gleichem Willen, den Sinn von Welt und Geschichte zu fassen in statu nascendi.“12
Das Hervorgehen von Wirklichkeit in statu nascendi zu beobachten und zu beschreiben ist gemeinsame Sache von Künsten und Philosophie. Mit dieser methodischen Perspektive sind somit die traditionellen Unterscheidungen und Grenzen zwischen Philosophieren und ästhetischer Praxis unterlaufen. Indem sich das Philosophieren radikal für die konkreten sinnlichen Erfahrungen – Feuerbach würde Anschauungen sagen – öffnet, ohne dadurch jedoch die analytischen Ansprüche einzubüßen, erhält die Philosophie selbst einen neuen Sinn, der in verschiedener Hinsicht in Entsprechung zur künstlerischen bzw. ästhetischen Praxis steht. Für Merleau-Ponty ist es von entscheidender Bedeutung, das Denken und die phänomenologische Beschreibung immer wieder neu an den Reichtum der Erfahrung zurückzubinden, um dadurch den Gebrauch der Sprache in der Philosophie sich jeweils neu und anders bilden zu lassen. Begriffe werden somit nicht nur begriffslogisch gebildet, sondern erhalten ihre Bedeutungen im Rückbezug auf konkrete sinnliche Erfahrungen. Um dies durchführen zu können, sind die Philosophierenden aufgefordert, sich immer wieder der Fülle der Erfahrungen auszusetzen und dabei nicht die bereits gebildeten Begriffe nur anzuwenden. Vielmehr geht es darum, die Erfahrungen so wirksam werden zu lassen, dass die Begriffe noch einmal neu überdacht werden können im Rückgang auf die leiblich-sinnliche Fülle gelebter Erfahrungen: „Wenn zutrifft, daß die Philosophie, die sobald sie sich als Reflexion oder als Koinzidenz deklariert, das zu Findende urteilend vorwegnimmt, so muß sie alles noch einmal aufgreifen, muß sie die Werkzeuge der Reflexion und der Intuition ablehnen, muß sie sich dort einrichten, wo diese sich noch nicht unterscheiden, in Erfahrungen, die noch nicht ,verarbeitet‘ sind, sondern uns ein ganzes Gemisch auf einmal anbieten – ,Subjekt‘ und ,Objekt‘, Existenz und Wesen –, wodurch es der Philosophie möglich wird, diese Begriffe neu zu bestimmen.“13 12 Merleau-Ponty, Maurise, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, S. 18. 13 Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, 1994, S. 172.
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Im Zitat wird nicht bestimmt, um welche Erfahrungen es sich handeln soll. Wichtig schein nur zu sein, dass es sich um komplexe Erfahrungsformen handelt, die sich durch Vielschichtigkeit auszeichnen. An diesem Punkt ist es naheliegend, ästhetische oder künstlerische Erfahrungen ins Spiel zu bringen. John Dewey veröffentlicht 1934 seinen Ansatz zur Ästhetik unter dem Titel: Art as Experience. Wie bereits der Titel sagt, versteht er die Kunst ausgehend von besonderen Formen der Erfahrung. Die ästhetischen Erfahrungen bilden sich nach Dewey ausgehend von alltäglichen Erfahrungen, wobei die ersteren durch eine besondere Dynamik und Intensität ausgezeichnet sind. In der künstlerischen Praxis bilden sich somit Erfahrungen, die für alle Rezipienten von Kunst eine Bereicherung der eigenen Wirklichkeit darstellen können. Genau an diesem Punkt sind auch Philosophierende eingeladen, an diesen Erfahrungen zu partizipieren, um die eigenen Erfahrungshorizonte zu erweitern. Künste und ästhetische Praxis bilden somit Herausforderungen für das, was in der Philosophie als Erfahrung beschrieben wird und können dieses durch die ästhetische Erfahrung in ein neues Licht rücken: „The work of art is thus a challenge to the performance of a like act of evocation and organization, through imagination, on the part of the one who experiences it. […] This fact constitutes the uniqueness of esthetic experience, and this uniqueness is in turn a challenge to thought. It is particularly a challenge to that systematic thought called philosophy. […] To esthetic experience, then, the philosopher must go to understand what experience is.“14
Neben Merleau-Ponty und Dewey könnte an dieser Stelle auch auf Leslie Fiedler, Nietzsche, Kitarō Nishida, Walter Benjamin, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre, Georg Picht, Heinrich Rombach und andere eingegangen werden. Im 20. Jahrhundert hat sich somit die Philosophie auf verschiedene Weise mit den Künsten und der ästhetischen Praxis verbunden. Bisher gibt es hierzu noch keine systematischen Untersuchungen. Die neuesten und radikalsten Entwicklungen in diesem Bereich versammeln sich inzwischen unter dem Stichwort Performative Philosophie. In den letzten Jahren wurden etwa philosophische Performancefestivals entwickelt und durchgeführt, auf denen verschiedene Formate der Verbindung von Philosophie und äs-
14 Dewey, John, Art as Experience [1934], London, 2005, S. 285.
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thetischer Performance erprobt wurden und werden.15 Noch ist nicht abzusehen, wohin sich die Formen performativen Philosophierens entwickeln. Sicher ist, dass bei diesen Experimenten Philosophierende nicht nur Rezipienten von Kunst sind, sondern selbst ästhetische bzw. künstlerische Erfahrungsformen erzeugen, die mit einem spezifischen philosophischen Anspruch verbunden sind. Worin im Einzelnen diese Ansprüche bestehen können, wird sich noch erweisen müssen. Der Einbezug ästhetischer Praxis in philosophische Seminare Je wichtiger die konkreten Gehalte der Erfahrung in der Methode des Philosophierens werden, umso mehr kann sich eine Nähe zwischen Philosophieren, den Künsten und ästhetischen Praktiken entfalten. Die philosophischen Ansätze, die eine solche Nähe entwickeln, sind in der Philosophiegeschichte nicht mehr nur Einzelfälle. Im 20. Jahrhundert hat sich diese Tendenz verstärkt, auch wenn weiterhin Gegner solcher Ansätze diese kategorisch aus der Philosophie ausschließen. Hier gilt es, die Auseinandersetzung zu suchen, die allerdings nur auf der Ebene der methodischen Ansätze geführt werden kann, da ansonsten die kritischen Einwände die Dimension des anderen Ansatzes nicht treffen. Dies ist jedoch nicht einfach, da eine Auseinandersetzung auf der Ebene der philosophischen Ansätze all zu leicht als Relativierung der einzelnen Positionen missverstanden werden kann. Die bisherige philosophische Herleitung legt nahe, dass die Kombination von Philosophie und ästhetischer Praxis von einigen Denkern sehr dringlich empfohlen wird. Diese philosophischen Begründungen sagen aber noch nicht, wie genau dies in der Praxis zu vollziehen ist. Ausgehend von dem Zitat Deweys könnte man sagen, dass die Philosophierenden ins Theater, in Museen, ins Konzert usw. gehen sollten, um auf Basis dieser Erfahrungen dann über Erfahrung nachzudenken. Genau dies ist aber schon immer passiert. Es ändert nicht den institutionellen Rahmen der philosophischen Ausbildung. Erst dann, wenn 15 An dieser Stelle ist besonders auf das Projekt von Arno Böhler und Susanne Granzer Philosophy on stage zu verweisen, in dem schon mehrere PhilosophiePerformance-Festivals stattgefunden haben. In diesem innovativen Rahmen werden Formate und Medialisierungen des Denkens erprobt, die es bisher nicht gegeben hat. Eine weitere wichtige Plattform für die Themen performativer Philosophie ist zu finden unter: http://www.performancephilosophy.org/ journal, letzter Zugriff am 25.05.2016.
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die Erfahrungen mit ästhetischer Praxis in die institutionalisierte Ausbildung im Fach Philosophie selbst einbezogen werden, ergibt sich eine nachhaltige Veränderung, die es zu reflektieren gilt. Viele Philosophen waren immer schon interessiert an den Künsten, oder waren sogar künstlerisch tätig.16 Die Kombination war aber eher dem Zufall überlassen. Man kann daran beobachten, dass es nicht wenige Menschen gibt, die theoretisch-reflexive Möglichkeiten auch sehr abstrakter und formaler Art besitzen und zugleich ausgeprägte ästhetische Fähigkeiten zeigen. Der erste Schritt, um diese teils sich widersprechenden Fähigkeiten zu entfalten ist, sie in eine Hauptfach-Nebenfach-Struktur zu integrieren, so wie es in den philosophischen Studiengängen in Hildesheim der Fall ist. Ein weiterer, naheliegender Schritt ist, das Philosophieren und die ästhetische Praxis direkt im Rahmen philosophischer Seminare zu verbinden, was ebenfalls nicht ganz neu ist an deutschsprachigen Universitäten.17 Um den Ansatz für eine Verbindung von Philosophieren und ästhetischer Praxis im Fach Philosophie weiter zu konkretisieren, sollen zwei Beispiele einer solchen Integration beschrieben werden, die im Sommersemester 2012 an der Universität Hildesheim als philosophische Seminare stattgefunden haben. Das erste Seminar trug den Titel Philosophie und Tanz und wurde gemeinsam von Monica Alarcon und Rolf Elberfeld durchgeführt. Das zweite trug den Titel Theorie und Praxis klassisch chinesischer Literatenkünste und wurde gemeinsam von Fabian Heubel und Rolf Elberfeld durchgeführt. Als Ausgangspunkt für das Blockseminar Philosophie und Tanz diente ein Text von Husserl zur phänomenologischen Analyse der Leiblichkeit.18 Dieser Text wurde vor dem Intensivseminar verteilt und von allen gelesen. Um die Früchte der Textlektüre nachvollziehen zu können, wurden alle gebeten, Fragen und Gedanken zu dem Text auf einer Seite zu notieren und zum Seminar mitzubringen. Auf der Grundlage dieser Texte konnte von den Seminarleitern nachvollzogen werden, in16 An dieser Stelle sei beispielsweise an Theodor W. Adorno zu erinnern, der zugleich auch als Komponist tätig war. 17 Sowohl Rudolf zur Lippe, ehemals Professor für Philosophie in Oldenburg, wie auch Gernot Böhme, ehemals Professor für Philosophie in Darmstadt, haben schon vor über 30 Jahren ästhetische Praxis im Rahmen ihrer philosophischen Seminare einbezogen. 18 Vgl. Husserl, Edmund, „Die Konstitution der seelischen Realität durch den Leib“, in: Ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Den Haag, 1952, S. 143-160.
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wieweit das Verständnis des Textes im Eigenstudium gediehen war. Das Seminar selbst begann nicht mit der Lektüre des Textes, sondern mit leibpraktischen19 Übungen zu Themen des Textes. Diese Übungen wurden dann im Gespräch darüber mit dem Text verbunden, so dass die gemachten Erfahrungen einerseits anhand des Textes reflektiert und andererseits die Beschreibungen im Text anhand der Erfahrungen erweitert und kritisiert werden konnten. Im vorliegenden Zusammenhang sollen drei Übungssequenzen beschrieben und reflektiert werden, die sich jeweils auf bestimmte Themen im Text bezogen haben. Die erste Übung erfolgte zur Ding-Wahrnehmung anhand des Tastsinns, die zweite zur Doppelempfindung und die dritte zur zwischenleiblichen Wahrnehmung, eine Übung, die über den Text Husserls hinausführte. Für die Übung zur Ding-Wahrnehmung taten sich zwei Personen zusammen. Der einen Person wurden die Augen verbunden, während die andere Person die Hand der Person mit verbundenen Augen zu verschiedenen Gegenständen im Raum oder außerhalb des Gebäudes führte. Die nicht-sehende Person betastete die Gegenstände mit den Händen und sollte herausfinden, um welchen Gegenstand es sich handele. Einige Gegenstände ließen sich leicht identifizieren, andere führten beim ersten Betasten auf falsche Spuren und erst nach längerem Umherwandern der Hand auf dem Gegenstand wurde klar, was die Hand ertastete. Tasten wir einen anderen Gegenstand, so spüren wir sofort, dass es sich nicht um unseren eigenen Leib handelt. Diese Tasterfahrung konstituiert ein Außerhalb unserer selbst. In diesem Außen, das sich grundlegend auf der Ebene des Tastsinns bildet und bestätigt, können wir dann die verschiedensten Gegenstände identifizieren. In Husserls Text ist bereits zu Anfang der Unterschied zwischen der leiblichen Tasterfahrung eines Gegenstandes und der leiblichen Tasterfahrung des eigenen Leibes von zentraler Bedeutung. Im Unterschied zu der Tasterfahrung eines Gegenstandes nennt er die Tasterfahrung des eigenen Leibes „Doppelempfindung“: Die Hand, die meinen Arm berührt, spürt einerseits den Arm, der zu meinem Leib gehört, andererseits spürt aber auch mein Arm – unter normalen Umständen – die berührende Hand auf der Haut des Armes. Ich selbst spüre mich somit doppelt in der Hand und im Arm. Hierin bestand die zweite Übung, die intensiv ausgelotet wurde. Dabei ergab sich beispielsweise die Frage nach Aktivität und Passivität in der Berührung. Wird der Arm berührt, so die An19 Dieses Wort übernehme ich von Rudolf zur Lippe, der in seinen Seminaren ähnliche Versuchsanordnungen durchgeführt hat.
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nahme, scheint er in der Beschreibung passiv zu sein und die berührende Hand aktiv. Untersucht man jedoch die Doppelheit der Berührung genauer, so scheint diese Unterscheidung nicht haltbar zu sein. Denn im Berührt werden spürt auch der Arm aktiv die Qualität der Hand. Beginnt man, sich weiter in diese Qualität zu vertiefen, fängt die Aufmerksamkeit an zu oszillieren, so dass die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv sich auflöst bzw. die Tastqualität zu einem Wechselspiel wird. Diese Beobachtung geht bereits über die Beschreibung in Husserls Text hinaus. Wichtig ist dabei in diesem Zusammenhang, darauf hinzuweisen, dass der Text selbst zum beschreibenden Nachvollzug der Erfahrung einlud. Kommt man dieser Einladung ernsthaft nach, so zeigt sich alsbald, dass die Beschreibungen sich erweitern, neue Themen hinzutreten und einiges in der Form der sprachlichen Beschreibung fraglich wird. In den beiden zuvor beschriebenen Übungen handelte es sich um Wahrnehmungsübungen, die selbst nicht in direktem Zusammenhang mit einer Kunst wie dem Tanz gesehen werden müssen. Erst in der dritten, hier zu beschreibenden Übung kamen tänzerische Elemente mit ins Spiel, die jedoch aus Zeitgründen nur ansatzweise entfaltet werden konnten.20 Die Ausgangsübung bestand darin, dass zwei Personen sich gegenüber stellten und die Hände zusammenlegten. Eine Person schloss daraufhin die Augen, während die andere Person damit begann, mit der Kraft der Hände die Arme in Bewegung zu bringen. Diese Bewegungen konnten langsam und bedächtig oder schnell und tänzerisch ausgeführt werden. Die Aufmerksamkeit sollte dabei auf die Tast- und Bewegungswahrnehmungen gerichtet werden. Die Hand einer anderen Person zu berühren ist deutlich unterschieden von der Berührung eines Gegenstandes und der Berührung eines eigenen Körperteils. Die Frage bestand darin, zu beschreiben, was genau wahrgenommen wird durch die Tast- und Bewegungswahrnehmung. Eine Besonderheit, die auffallen kann, besteht darin, dass Reibungen und Verhärtungen im anderen Leib über die aneinandergelegten Hände wahrgenommen werden können. Zu fragen wäre, ob dies zutreffend beschrieben wird, wenn man davon spricht, in den Leib des anderen hinein zu tasten, oder ob hier 20 An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sich bei der Kunst des Tanzes um ein sehr weites Feld handelt. Volkstanz, Ballett und rituelle Tänze gehören ebenso dazu wie künstlerische Tanzentwicklung im 20. Jahrhundert, wo der Tanz selbst in vieler Hinsicht zu einer Erforschung von leiblicher Bewegung wird. Im Seminar wurde somit Tanz in einem sehr weiten Sinne verstanden. Vgl. hierzu: Alarcon, Monica, Ordnungen des Leibes. Eine tanzphilosophische Betrachtung, Würzburg, 2009.
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andere sinnliche Wahrnehmungsebenen mit ins Spiel kommen, die durch die Einteilung der Wahrnehmung in fünf Sinne nicht in den Blick treten. Solche und ähnliche Fragestellungen wurden durch die Übungen evoziert und als Forschungsperspektiven festgehalten. Im Seminar zur Theorie und Praxis klassisch chinesischer Literatenkünste wurden die vier klassischen konfuzianischen Künste Chinas behandelt: 1. Chinesische Zither (Qin), 2. Weiqi- bzw. Go-Spiel, 3. Schriftkunst (Shufa) und 4. Berg-Wasser-Malerei (Shan shui hua). Nach einer theoretischen und kulturhistorischen Einführung am ersten Nachmittag teilte sich das Seminar in vier Tage auf, die jeweils einer der Künste gewidmet waren. Die Tage waren so konzipiert, dass, ausgehend von der Praxis der Künste, sich Fragen und Reflexionen ergeben sollten, die dann mit den Ausführungen zu den vier Künsten in den alten chinesischen Texten zusammengeführt werden sollten. Der erste Tag begann mit einem etwa 20-minütigen Qin-Konzert in einem kleinen verwachsenen Garten. Da die Qin in ihrer klassischen Ausstattung mit Seidensaiten bespannt ist, ist ihr Ton äußerst zart und nicht für große Konzertsäle geschaffen. Doch während des kleinen Konzerts inmitten der Natur entwickelte sich ein Klangraum, in dem sich die zarten Schwingungen der Qin mit den umgebenden Geräuschen aus der Natur in immer wieder neuen und überraschenden Weisen verbanden. Der zweite Tag war dem Go-Spiel gewidmet. Den ganzen Tag spielten wir Go und versuchten beim Zuschauen oder während des Spielens die besonderen Qualitäten des Spiels zu erörtern. Am dritten Tag wurden wir von einem taiwanesischen Schreibkünstler in das Schreiben chinesischer Zeichen mit dem Pinsel eingeführt. Die von ihm besonders in die Aufmerksamkeit gehobene Qualität beim Schreiben bezog sich nicht so sehr auf die Formen der Zeichen, sondern auf die tastsinnliche Empfindung bei den Berührungen des Pinsels auf dem Papier. Dies erlaubte es uns, die Schreibkunst von einer ganz anderen Seite kennenzulernen, die auch in den alten Texten zur Schreibkunst in China eine wichtige Rolle spielt. Am vierten Tag wurden wir von einer taiwanesischen Berg-Wasser Malerin in die Berg-Wasser-Malerei eingeführt. Nach kurzen Erklärungen ging die gesamte Gruppe in einen größeren Park und begann unter großen alten Bäumen mit Tusche und Pinsel die Kraftlinien der Bäume auf dem Papier zu realisieren. Wir nahmen uns dann Zeit, die Ergebnisse ausführlich zu besprechen. An allen vier Tagen erwuchsen aus der Praxis und der Wahrnehmung Fragestellungen, die immer wieder in erstaunlicher Weise mit den Aussagen in den alten chinesischen Texten korrespondierten. Es traten Fragen auf bezüglich der Energien, der Persönlichkeitsentwicklung, der Leiblichkeit, der Übung, der verwendeten Materialien, der
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Bewegung, der Natur und der zwischenmenschlichen Beziehung. All dies konnte sicherlich für diejenigen, die sich noch nie mit der chinesischen Philosophie im Allgemeinen und den vier chinesischen Künsten im Besonderen beschäftigt hatten, nur eine erste Einführung sein. Dennoch haben die Tage gezeigt, dass es bei Fragen der interkulturellen Ästhetik21 von besonderer Fruchtbarkeit sein kann, die ästhetische Praxis direkt als Ausgangspunkt zu nutzen. Die beiden geschilderten Beispiele waren explizit als Seminare aufgebaut. Sie führten zwar in verschiedener Hinsicht zu Fragen, die als Ausgangspunkte für weitere Forschungen dienen können. Dies konnte jedoch im Seminar selbst nicht mehr realisiert werden. Dabei wurde aber sichtbar, dass über den Seminarrahmen hinaus Forschungssettings denkbar sind, die unter Einbezug ästhetischer Praktiken und verschiedener Wahrnehmungsübungen von einer kleineren Gruppe von spezialisierten Personen durchgeführt werden können. Bei einem solch experimentellen Forschungssetting kann vor allem längere Zeit darauf verwendet werden, die gemachten Erfahrungen in aufschließender Weise mit den sprachlichen Reflexionen zu verbinden. Dadurch können allzu selbstverständliche sprachliche Gewohnheiten und Unterscheidungen aufgebrochen und neue Wege der sprachlichen Evidenzerzeugung eröffnet werden. Philosophisch gibt es hier noch Vieles zu entdecken, da die Phänomene, die sich fruchtbar auf diese Weise bearbeiten lassen, ein weites Feld menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten bilden. Transformative Phänomenologie als Methode22 Methodisch lässt sich die angedeutete Verbindung von Philosophie und ästhetischer Praxis bzw. Wahrnehmungsübungen am Besten im Rahmen der Phänomenologie realisieren. Die Phänomenologie ist seit ihrer 21 In der interkulturellen bzw. komparativen Ästhetik geht es darum, Künste und ästhetische Praktiken in verschiedenen Kulturen zunächst zu sichten und dann in ihrer Bedeutung für die Entwicklung verschiedener ästhetischer Traditionen auch im Hinblick auf ihre Verflechtungen zu untersuchen und zu vergleichen. Vgl. hierzu: Elberfeld, Rolf/Wohlfart, Günter (Hg.), Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, Köln, 2000. Das Buch ist digital verfügbar unter: https://www.uni-hildesheim.de/fb2/institute/philosophie/ team/prof-dr-rolf-elberfeld/buecher/, letzter Zugriff am 15.06.2016. 22 Vgl. Elberfeld, Rolf, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2004; Ders., „Transformative Phänomenologie“, in: Information Philosophie 5 (2007), S. 26-29.
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Begründung durch Edmund Husserl in besonderer Weise angebunden an alle Dimensionen der Erfahrung. Die Entwicklung der Phänomenologie im 20. Jahrhundert als eine philosophische Bewegung hat gezeigt, dass die noch engen Grenzen, die Husserl der Phänomenologie gesteckt hatte, bald überwunden wurden und immer mehr Möglichkeiten der phänomenologischen Betrachtung auftauchten.23 Meine eigene Arbeit zielte von Anfang an darauf, die Phänomenologie und ihre Weise des Forschens mit den Erfahrungshorizonten asiatischer Philosophien zu verbinden. In verschiedenen asiatischen Traditionen der Philosophie ist es selbstverständlich, dass die philosophische Theoriebildung einhergeht mit einer leiblichen oder auch spirituellen Übungspraxis.24 Dies bedeutet für die phänomenologische Vorgehensweise nicht, dass diese religiös werden muss. Vielmehr ist es umgekehrt der Fall, dass die vielfältigen Übungsformen in ein philosophisch-reflektierendes Vorgehen integriert werden. Wichtig ist dabei in philosophischer Hinsicht, dass die Phänomenologie selbst als eine Übung im radikalen Sinne verstanden wird, die sprachlich aber auch leiblich vollzogen werden kann. Durch diese Neuperspektivierung der Vorgehensweisen in der Phänomenologie wird der methodische Rahmen des Philosophierens erheblich erweitert. Dies geschieht jedoch nicht willkürlich, sondern unter streng methodischen Gesichtspunkten. Wenn die zu bearbeitenden Phänomene in der Phänomenologie im strengen Sinne selbst zu Übungen werden, so dass eine letztgültige Beschreibung nicht mehr das eigentliche Ziel sein kann, werden diese vielmehr zu Möglichkeiten der Selbsttransformation im Sinne radikaler Geschichtlichkeit. Bei Husserl waren die Phänomene, die er strukturell zu beschreiben versuchte, oft sehr naheliegend wie zum Beispiel der Tisch oder der Stuhl vor mir, meine eigene Hand, die die andere Hand berührt oder eine Zahl, die ich mir denke. Ist man einmal aufmerksam geworden auf die verschiedenen Möglichkeiten des Erfahrens und auf die Strukturen, in denen dieses Erfahren sich vollzieht, so bedarf es keiner großen Schritte, um weitere Erfahrungsfelder wie Gefühle, Phantasie, Arbeit, Geld, Technik, Natur usw. aufzutun. Beim Auftun, Entdecken und Erfahrbachmachen dieser Erfahrungsfelder zeichnet sich im 20. Jahrhundert eine fruchtbare Koalition zwischen Phänomenologie, den Künsten
23 Vgl. Depraz, Natalie, Phänomenologie in der Praxis, Freiburg i. B., 2012. 24 Vgl. Schmitthausen, Lambert, „Spirituelle Praxis und philosophische Theorie im Buddhismus“, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 57 (1973), S. 161-186.
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und anderen ästhetischen Praktiken ab.25 Denn spätestens mit der Entwicklung der Künste in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden diese in vielen Fällen reflexiv, so dass sie das Medium, in dem sich die jeweilige Kunst vollzieht, selbst zum Thema machen. Die Malerei von Cézanne oder der große Roman von Proust sind hierfür besonders herausragende Beispiele.26 Phänomenologisch gesehen wachsen hier reflexive Potentiale zusammen, die sich in verschiedenen Medien vollziehen. Der phänomenologischen Arbeit werden somit in den Künsten Erfahrungsdimensionen angeboten, die im Alltag nicht einfach vorliegen, aber die phänomenologische Arbeit erheblich bereichern. Abschließend können hier fünf grundlegende Erfahrungsfelder benannt werden, aus denen die phänomenologische Arbeit schöpfen und die sie als Übungsfeld ihrer eigenen Arbeit begreifen kann. Das erste große und noch längst nicht ausgeschöpfte Feld ist weiterhin der Alltag, aus dem bereits Husserl und aber auch Merleau-Ponty zentrale Anregungen erhalten haben. Das zweite Feld sind die Künste und ihre ästhetischen Praktiken, auch verbunden mit ihrer Rezeption. Ästhetische Praktiken und ästhetische Erfahrungen in und durch Künste erschließen immer wieder neue Erfahrungsebenen, die häufig durch den gewohnten Alltag unsichtbar gemacht werden. Das dritte Feld sind asiatische aber auch europäische Übungspraktiken, die sich in der Vergangenheit häufig im Rahmen von Religionen entwickelt haben. Yoga, buddhistische Meditation, Qigong und Judō gehören hier ebenso hin wie Taijiquan, Sadō und Tantra. Für die phänomenologisch strenge Integration, die nichts mit schlechter Esoterik zu tun hat, ist sicher noch Vieles zu erproben und zu leisten. Dennoch bieten diese Erfahrungswege einen Reichtum an Erfahrungen, der in der phänomenologischen Arbeit keinesfalls vernachlässigt werden darf. Das vierte Feld sind Schulen der Wahrnehmung, die zumeist im 20. Jahrhundert entstanden sind wie beispielsweise die Feldenkrais-Methode, AlexanderTechnik, Atemtherapie, Body-mind-centering, Rolfing und viele mehr. Auch diese Wege können phänomenologisch fruchtbar einbezogen werden, indem die ermöglichten Erfahrungsdimensionen in ihrer Struktur reflektiert werden.27 Das fünfte Feld sind die natürlichen Sprachen, 25 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Sinnesschwellen – Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/Main, 1999. 26 Vgl. Böhm, Gottfried, Paul Cézanne: Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt/ Main, 1988. 27 Vgl. Böhme, Gernot, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen, 2003.
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die in ihrem Wortschatz, ihrer unterschiedlichen Struktur und den verschiedenen Weisen der Verschriftlichung einen großen Reichtum an Unterscheidungen bereit halten, der vor allem dann hilfreich ist, wenn die verschiedenen zuvor benannten Erfahrungsdimensionen sprachlich erschlossen und reflektiert werden sollen.28 Im Verlauf des Textes hat sich die Frage nach der Verbindung von Philosophie und ästhetischer Praxis verwandelt zu der Frage, welche Erfahrungsfelder und -dimensionen für die philosophische Reflexion von Bedeutung sein können. Letztlich stoßen wir in dieser Suche auf das Leben selbst, das in seiner Vielfältigkeit sicher nie abschließend beschrieben werden kann. Dennoch besteht ständig ein dringender Bedarf, sich in die Vollzüge des Lebens anhand verschiedener reflexiver Formen einzuüben. Die Phänomenologie ist hierfür nur eine Weise, so dass sie auch als philosophische Methode keinerlei Alleindeutungsanspruch vertritt. Sie sucht vielmehr unablässig nach neuen Koalitionen, um sich weiter in Phänomene einzuüben. In diesen Übungen entwickelt sie eigene Weisen der Präzision, die wiederum für andere Formen der Reflexion von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein können. Letztlich ist ihr Ziel, ins Leben selbst hineinzuführen, das sich aber dann mehr und mehr als nicht getrennt vom Tod erweist.
28 Vgl. Elberfeld, Rolf, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg i. B., 2012.
STEFAN KRANKENHAGEN UND ROLF ELBERFELD
Aus dem Archiv: Die Entwicklung wissenschaftlich-künstlerischer Studiengänge an der Universität Hildesheim In seinem Buch Wiedersehen mit den Siebzigern beschreibt Ulrich Raulff die „ungeheure Evidenz pädagogischer Diskurse und Praktiken“1 in diesem Jahrzehnt. So scheint es nur konsequent, dass 1979 an einer Pädagogischen Hochschule ein Diplom-Studiengang „Kulturpädagogik“ entwickelt wurde. Erstaunlich in der Rückschau ist jedoch, dass die Namensgebung des neuen Studiengangs in Hildesheim nicht zuletzt von den dort wirkenden Pädagogen zu Beginn eher skeptisch gesehen wurde, denn das Studium der Kulturpädagogik konnte man in Hildesheim auch gänzlich ohne das Beifach Pädagogik studieren.2 Eine traditionell pädagogische Ausbildung hatten die Gründer also nicht im Sinn, als sie 1981 den Fachbereich „Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation“, sowie das kulturwissenschaftliche „Institut für ästhetische Erziehung und Kulturpädagogik“ inthronisierten. Stattdessen wählten sie einen anderen Schwerpunkt für das Fach: den der Künste und der Medien. Klassische Felder der Künste, erweitert durch die Populäre Kultur sowie die in den 1970er Jahren aufkommenden Studien zu Medienkonsum und Medienbildung, sollten die Grundlage für eine wissenschaftliche wie ästhetische Auseinandersetzung bilden. Vorangegangen war das Konzept des nicht verwirklichten Studiengangs „Polyästhetische Erziehung“, das von Vertretern aus der Musikpädagogik, der Literaturwissenschaft und der Kunst entwickelt wurde: „Angetrieben von den avantgardistischen Projekten des Kollegen Roscher [Prof. Wolfang Roscher, Lehrstuhl für Musik und Auditive Kommunikation, Anm. der Verf.], Klangeffekte lichtkinetisch zu unterstützen und mit Gestik, Pantomime, szenischer Gestaltung, Tanz und Rezitationen auf echter oder virtueller Bühne zu einem polyästhetischen Ereignis zu verschmelzen, konzipierten diese Kollegen einen Di1 Raulff, Ulrich, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart, 2014, S. 23. 2 Vgl. Alten, Heinz-Wilhelm, Zur Geschichte der Universität Hildesheim, Hildesheim, 2004, S. 13.
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plomstudiengang „Polyästhetische Erziehung“3. Die gleichlautende Publikation aus dieser Zeit trug im Untertitel die Stichworte „Klänge – Texte – Bilder – Szenen“4 und machte jene inter- und transdisziplinären Zugänge stark, die die Hildesheimer Kulturwissenschaften bis heute prägen, seit 2009 gebündelt im „Herder Kolleg – Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung“. Entsprechend besaßen und besitzen pädagogische Diskurse und Praktiken eine hohe Relevanz für die Ausrichtung eines auf inter- und transdisziplinäre Vermittlung hin konzipierten Studiengangs: Vermittlung zwischen den verschiedenen Disziplinen und Vermittlung über die wissenschaftlichen Disziplinen hinaus in ästhetische Praktiken hinein, die wiederum Anlässe zu theoretischer Reflexion bieten. Mit dieser explizit wissenschaftlich-künstlerischen Ausrichtung wurde der Studiengang sowohl zum Sonderfall der bundesdeutschen Universitätslandschaft, als auch zum eigenständigen Erfolgsmodell. Der experimentelle Charakter der 1970er Jahre schrieb sich durch die Möglichkeit einer praktischen Diplomarbeit (ab 1989), dem Projektsemester (ab 1992) oder studentisch konzipierten und durchgeführten Festivals (das Theaterfestival transeuropa seit 1994, das Literaturfestival Prosanova seit 2005) kontinuierlich fort. 2001 wurden aus der Kulturpädagogik die drei kulturwissenschaftlichen Studiengänge „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“, „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ und „Szenische Künste“, die seit der Umstrukturierung 2008 als Bachelor-Studiengänge zugänglich sind. Ebenso relevant war die Gründung des Instituts für Kulturpolitik (1998) sowie die Einbindung der Philosophie in den Fachbereich und in die kulturwissenschaftlichen Disziplinen (seit 2009). Als Bachelor-Studiengang „Philosophie-Künste-Medien“ (seit 2004) und Master-Studiengang „Philosophie und Künste interkulturell“ (2009) folgt auch die Philosophie der Idee, die Verbindung von kulturwissenschaftlicher Theorie und ästhetischer Praxis kontinuierlich als ein Gegenstand und als Methode ihres Fachs zu verstehen und zu erproben. Im Jahr 2011 wurde das Gesamttableau der Hildesheimer Kulturwissenschaften durch die drei MA-Studiengänge „Inszenierung der Künste und der Medien“, „Literarisches Schreiben“ und „Kulturvermittlung“ komplettiert. Wie die neuen Studiengänge, so zeugen auch die hier wiederabgedruckten Texte von der Kontinuität im Theorie-Praxis-Verständnis der Hildesheimer Kulturwissenschaften. 3 Ebd. 4 Vgl. Roscher, Wolfgang (Hg.), Polyästhetische Erziehung. Klänge – Texte – Bilder – Szenen. Theorien und Modelle zur pädagogischen Praxis, Köln, 1982.
WISSENSCHAFTLICHKÜNSTLERISCHER STUDIENGÄNGE
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Der Text von Hans-Otto Hügel, 1983 deutschlandweit als erster Professor für Populäre Kultur berufen, zeigt sehr deutlich, dass die Einbeziehung ästhetischer Praxis in kulturwissenschaftliche Forschung nicht bedeutet, dass dadurch Künstlerinnen und Künstler ausgebildet werden müssten. Indem Hügel die curriculare Verfasstheit des Studiengangs Kulturpädagogik befragt und dabei den semantischen Unterschied zwischen Kunst und Ästhetik ernst nimmt, bringt der Text eine wichtige Unterscheidung in Anschlag, die für die Geschichte der Hildesheimer Kulturwissenschaften Geltung besitzt: nicht für die Künste, sondern in den Künsten auszubilden. Exemplarisch führt der Text die hermeneutische Bewegung vor, die eine so verstandene kulturwissenschaftliche Praxis rückwirkend auf die theoretische und methodologische Reflexion ausübt: sie verlange, so Hügel, eine „sinnliche, durch Form vermittelte Erkenntnis“. Die so vermittelten Fähigkeiten prüft der Text gleichzeitig auf ihre Relevanz für die Arbeitsfelder der Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen ab. Das Theater und die Theaterwissenschaft besaß von Anfang an eine zentrale Funktion im Fächerkanon der Hildesheimer Kulturwissenschaften. In der Konzeptionsphase wurde das Theater als polyästhetische Schnittstelle der Künste und Medien ausgemacht; entsprechend wurde die erste Professur des neugeschaffenen Studiengangs 1980 mit dem Theaterwissenschaftler und Regisseur Hajo Kurzenberger besetzt. In seinem Text „Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie“ lässt er die beiden Perspektiven soweit ineinander dringen, dass forschende Theaterpraxis und praxisbezogene Theaterwissenschaft als zwei Seiten einer Medaille erscheinen. Sein Plädoyer, dabei vor allem auch die Differenzen zwischen Theorie und Praxis fruchtbar zu machen, kann wie ein Kommentar avant la lettre zu den mancherorts naiven Projektionen im Feld der künstlerischen Forschung gelesen werden. Der Dramaturg Hartwin Gromes, 1988 vom Theater Basel an die Universität Hildesheim gekommen, gibt einen Einblick in die sogenannten „Projektsemester“ der kulturwissenschaftlichen Studiengänge, die seit 1992 jedes zweite Sommersemester stattfinden. Es wird in diesem Texts damit nicht nur eine besonders innovative Form universitärer Lehre vorgestellt (die die Umstellung auf ein modularisiertes Curriculum überlebt hat), sondern auch verdeutlicht, wie sich ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode in hochschuldidaktischer Weise als Lehr- und Forschungsformat ausbuchstabieren lässt. Gromes, seit seinem Eintritt durchgängig als Hochschullehrer in Hildesheim und Dramaturg an verschiedenen Theatern tätig, befragt die kulturwissen-
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schaftliche Lehre als eine „soziale Kunst“ und verdeutlicht, wie die Praxis der kollektiven Projektarbeit selbst zu einer Ästhetik des Kollektivs wird, die die Theaterwissenschaft in Hildesheim und die Theaterpraxis deutschlandweit geprägt hat. Einblick in die ganz spezifische Entwicklung und Dynamik der Hildesheimer Studiengänge gibt darüber hinaus Hajo Kurzenbergers Vortrag „25 Jahre Hildesheimer Kulturwissenschaften: Von der ‚polyästhetischen Erziehung‘ zur intermedialen Kunstkompetenz“ vom 2. Februar 2004. Die bis in die Gegenwart reichende Chronologie, die sich daran anschließt, verweist indes gleichermaßen auf Kontinuität und Vielfalt der Hildesheimer Kulturwissenschaften, die stets, in Lehre wie in der Forschung, das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis vermitteln.
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Kulturelle Praxis im kulturwissenschaftlichen Studium1 Das Verhältnis von Praxis und Wissenschaft gehört zu den beliebten Themen curricularer Überlegungen in Bildungspolitik, Pädagogik und Journalismus. Bei dieser Diskussion wird häutig behauptet, Wissenschaft sei praxisfern, und es wird daher die Forderung erhoben, man dürfe das Verhältnis von Praxis und Wissenschaft nicht als Gegensatz begreifen, er sei vielmehr aufzuheben. Diese Diskussion hat in jüngster Zeit noch an Schärfe gewonnen, da Universitäten und Fachhochschulen gegeneinander ausgespielt werden mit dem Argument, Jene seien praxisfern, diese praxisnah. Praxen zur Auswahl: Kunst-, Berufs- oder Wissenschaftsorientierung Die Gegenüberstellung von Praxis und Wissenschaft verkennt, dass in Curricula nahezu aller Wissenschaften die jeweilige Praxis einen wichtigen Anteil hat. Im Chemiestudium probieren die Studierenden Analyseverfahren aus und wiederholen dabei die Erfahrungen, die Generationen von Chemikern schon gemacht haben und die zu ihrem beruflichen Handwerkszeug gehören. Ähnlich Ist es in der Physik. Solche Einübung in die Praxis, Praktika genannt, gibt es nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern ebenso in Jura oder Literaturwissenschaften. Denn sind die Klausuren im Bürgerlichen Recht oder im Strafrecht nicht fall-, also praxisorientiert? Und ist ein Seminar zur Prosa von Rolf Dieter Brinkmann das meine Studenten so gerne und so falsch Theorie-Seminar nennen, nicht zuletzt auch ein Praxisseminar; da es in die Praxis der Literaturinterpretation einführt und sie übt? Ein solches Argument, vorgebracht in universitären Diskussionen, z. B. mit mehr Praxis fordernden Studenten, wie in außeruniversitären Zusammenhängen, etwa mit dem Geschäftsführer einer Kulturstiftung, bei der man Geld für eine Exkursion nach Rom beantragt, um die interpretatorischen Ergebnisse von Rom-Blicke zu überprüfen und zu ergänzen, stößt auf irritiertes Lächeln. Eine solche Praxis sei nicht 1 Erstveröffentlicht in: Winter, Carsten (Hg.), Kulturwissenschaft. Perspektiven, Erfahrungen, Beobachtungen, Bonn, 1996, S. 111-119.
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gemeint, das sei gar keine richtige Praxis, wird man zurechtgewiesen. Und schnell stellt sich heraus: Für die Studierenden ist Praxis eingeschränkt auf künstlerisches Tun, bei dem sie sich ausprobieren können. Für den Kurator der Kulturstiftung bedeutet Praxis hingegen berufs-, anwendungsorientiertes Handeln, also möglichst Einübung von Fertigkeiten, die auch in später Ferne noch in einem künftigen Berufsalltag wieder anwendbar sind (z. B. verwaltungsrechtliche Kenntnisse oder Fertigkeiten). Mir scheint, dass beide Vorstellungen von Praxis, so stimmig sie für sich genommen sind, für einen kulturwissenschaftlichen Studiengang wenig taugen. Praxis eingeschränkt auf künstlerisches Erproben, führt die Kulturwissenschaften in die Nähe der Kunsthochschulen. Praxis eingeschränkt auf berufsorientiertes Handeln in die Nähe der Fachhochschulen. Das eine oder das andere wäre in Kauf zu nehmen, wenn dadurch die künftigen Kulturwissenschaftler/Kulturpädagogen optimal auf ihr Berufsleben vorbereitet würden. Dies scheint mir aber gerade nicht der Fall zu sein. Künstlerisches Erproben, wichtig und ernst genommen im Studium, bereitet auf den Beruf des ausübenden Künstlers vor, schult aber wegen der Unbedingtheit der Kunst gleichzeitig Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten, die kulturvermittelnder Arbeit entgegenstehen. Denn: Der Künstler macht – offene – Kommunikationsangebote, kümmert sich nur in Grenzen, wie und ob sein Angebot auch wahrgenommen wird; während der Kunsthandwerker oder der Kleiderfabrikant Kommunikation mit dem Markt bzw. mit seiner Klientel betreiben. Gewiss: Auch der Künstler leistet Arbeit für den Markt und ist sich hierüber auch bewusst, wie sich historisch und soziologisch belegen lässt. Er verhält sich trotzdem anders. Wird ein (freier) Regisseur eines Stadttheaters seiner Meinung nach aus mangelndem Kunstverstand von Publikum und Presse ausgebuht bzw. kritisiert, wird er kaum bereit sein, seinen Regiestil zu ändern. Er sucht eher eine neue Bühne. Bei ähnlichem Verhalten der Kundschaft wird ein Ladenbesitzer hingegen seine Marken wechseln. Und gegen die Vermittlung einzelner berufsorientierter Fertigkeiten und Kenntnisse ist einzuwenden, dass dadurch kaum mehr erreicht wird als die Ausbildung von Kulturfacharbeitern. Kunstpraxis scheint also die falsche Praxis für Kulturwissenschaften zu sein, während ausgewählte Kapitel aus der Berufspraxis von Kulturwissenschaftlern einerseits zu eingeschränkt, andererseits zu sehr auf automatisches Handeln bzw. auf Handreichungen abgestellt sind, um kulturwissenschaftliche Praxis im Studium im Ganzen zu begründen. (Denn: Handreichungen zielen darauf, den Anteil individuell bestimmter Arbeit überflüssig zu machen und aus der zu bewältigenden
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Aufgabe durch die Anwendung verpflichtender Richtlinien einen bloßen Fall zu machen, der einem Gesetz folgt. Solche Arbeit gründet zwar glatte Lösungen, bedarf aber kaum des Verantwortung tragenden Kulturwissenschaftlers. Im übrigen gibt auch mein Beispiel eines Praxisseminars „LiteraturInterpretation“ kein gutes Modell für kulturwissenschaftliche Praxis ab; obwohl es zunächst eine simple Lösung für unser Problem bereitzuhalten scheint, indem es darauf verweist, dass in die Praxis einer Wissenschaft: durch die Vermittlung ihrer Methode(n) hingeführt werden kann. Diese Behauptung erweist sich bei näherem Hinsehen als mehr spitzfindig denn sinnreich. Eine kulturwissenschaftliche Studie etwa über das Verhalten der Fußballfans in der Ostkurve durchführen, ist – wie die Verständigungsbemühung um ein Kunstwerk – eigentlich keine kulturelle Praxis, also Leben durch Tun, sondern Erweiterung des methodischen Wissenschaftsinstrumentariums. (Nur insofern wissenschaftliche Methodik Bestandteil meines außerwissenschaftlichen Lebens werden kann, bzw. mein Leben im Wissenschaftler-Sein aufgeht, ließe sich solche Wissenschaftspraxis als kulturelle Praxis verstehen.) Kultur und Arbeitsfeld Kultur Wenn also die kulturwissenschaftliche Praxis für das Studium weder im künstlerischen Erproben noch im berufsorientierten Handeln, noch in der methodischen Schulung der Kulturwissenschaften bestehen kann, scheint es als Begründung für unsere kulturwissenschaftliche Praxis unerlässlich zu sein, auf unseren Begriff von Kultur und in der Folge davon auf unsere Vorstellungen vom Arbeitsfeld Kultur, für das wir ausbilden, einzugehen. (Was etwas anderes ist als: Handreichungen für den Berufsalltag des Kulturwissenschaftlers zur Maxime unseres Curriculums zu machen.) Keine Angst: Ich problematisiere jetzt nicht zum hundertsten Mal den historisch und sozialgeschichtlich bedingten Gegensatz vom engen oder weiten Kulturbegriff; sondern verweise darauf, was jeder Kultur, sei sie eng oder weit gefasst, innewohnt und suche daraus Aufgaben und Tätigkeitsmerkmale eines in der Praxis stehenden Kulturwissenschaftlers abzuleiten. Im weitesten Sinn ist Kultur die Summe aller Tätigkeiten und Vorgänge, die die Bindung der Menschen untereinander fördern. Ohne Kultur vermag der Mensch weder zu sich selbst noch zu den Menschen in seiner näheren wie weiteren Umgebung, noch zu seiner Umwelt ein positives Verhältnis finden.
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Wer Kultur hat, hat seinen Platz in der Welt gefunden, findet sich zurecht bei den allereinfachsten und alltäglichen Verrichtungen, die der Reproduktion dienen, wie bei komplexen geistigen oder sozialen Aufgaben. Wer Kultur hat, weiß sich angemessen zu kleiden, zu ernähren, wie seine Rechte und Pflichten verantwortungsbewusst als Staatsbürger oder als Mitglied einer Gemeinde wahrzunehmen; er vermag seine Lebens- wie Berufsaufgaben im Privaten wie Öffentlichen zu erfüllen, wie sich entsprechend seines sozialen Standes oder seines Alters zu verhalten, etwa kraftvoll und enthusiastisch jung zu sein wie in Würde alt zu werden. Selbstverständlich gilt diese Rede von der kulturstiftenden Kraft von Bindungen mutatis mutandis auch für die Hilfen zur Befreiung. Streitkultur haben heißt Auseinandersetzungen führen, vielleicht sogar, sich endgültig zu trennen, aber sich doch (gegenseitig) am Leben zu lassen. Da es so betrachtet kein Tun gibt, das nicht negativ oder positiv zur Kultur des Handelnden beiträgt, ist jede berufliche wie nichtberufliche Tätigkeit Kulturarbeit. Die Aufgaben des (praktischen) Kulturwissenschaftlers/Kulturpädagogen lassen sich daher nicht prinzipiell von denen anderer Berufe trennen. Wegen der Bindungsfunktion, die alle Kultur letztlich zum Ziel hat, lässt sich jedoch sagen, dass im Zentrum aller Aufgaben eines Kulturwissenschaftlers integrative, kommunikative Aufgaben stehen. Der Kulturwissenschaftler/Kulturpädagoge ist aber nicht nur ein bloßer Kommunikationsgeneralist, der an beliebigem Ort einzusetzen wäre. Zugleich ist er immer auch Spezialist für eine bestimmte Kultursparte oder bestimmte kulturelle Aufgaben. Die Verbindung aus Integrations- und Kommunikationsaufgaben mit solchen Aufgaben, die eine besondere kulturelle Sachkompetenz bzw. Rezipientenorientierung erfordern, ist daher, neben der Interdisziplinarität und dem Neben- und Miteinander von eigener Praxis und Anleiten anderer, für die Aufgaben des Kulturwissenschaftlers charakteristisch. Ein Ausstellungsmacher muss nicht nur etwas von den auszustellenden Gegenständen oder den rein logistischen Aufgaben verstehen; er muss zugleich selbst die Ausstellungsexponate inszenieren und arrangieren wie hierzu Initiativen geben können. Ähnliches gilt etwa für die Organisation eines Film- oder Theaterfestivals. Zwar muss der Kulturwissenschaftler/Kulturpädagoge hierfür gewiss nicht in der Lage sein, die betreffende Kunst auszuüben, einen Film zu drehen oder Schauspieler sein; aber er hat die künstlerisch/kulturelle Sache, um die es geht, entsprechend seiner Position im Team zu vertreten. Gleichgültig, ob er Kritiken schreibt, Öffentlichkeitsarbeit betreibt, Gelder akquiriert, Einladun-
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gen an Künstler wie Publikum ausspricht, Plakate entwirft … immer muss der Kulturpädagoge/Kulturwissenschaftler selbst ein Stück Film-/ Theater- etc. -Kultur produzieren wie wahrnehmen. In besonderer Weise sind Kulturwissenschaftler/Kulturpädagogen durch die starke Zunahme des Kultur- und Freizeitangebots angesprochen. Die Konkurrenz der einzelnen kulturellen Unternehmungen hat in vielen, auch Non-Profit-Bereichen der Kulturarbeit zur Etablierung professioneller Methoden geführt. Kultureller Dilettantismus ist im Bereich der ständig wachsenden kulturellen Do-it-yourself Unternehmungen in Kommunen und Vereinen auf dem Rückzug. Wer etwa erfolgreich ein Stadtfest organisieren will, kommt ohne das Beachten der ästhetischen Qualität der hierfür einzubauenden Kulturangebote von Laien (Sketche, Theater- und Musikaufführungen, verschiedene Formen der Illustrierung von Stadtgeschichte etc.) nicht aus. Er muss also mehr als organisieren, hat einen künstlerisch/kulturellen Qualitätsstandard wahrzunehmen und durchzusetzen. Wie die Aufgaben integrativ und kommunikativ sind und zugleich einen fachspezifischen Aspekt haben, so sind es auch die Tätigkeiten. Die Tätigkeiten der Kulturwissenschaftler/Kulturpädagogen ähneln daher, obwohl sie in vielen Bereichen mit Kunst und Kultur (im traditionellen Sinne) umzugehen haben, weder denen eines Künstlers, der in der Produktion seines Werkes seine Erfüllung sieht, noch denen eines (kontemplativen) Schöngeistes, der die großen Werke der Vergangenheit verstehen lernen will, noch denen eines Welt-und Ich-Verbesserers, der angesichts der materialistischen Gegenwart neuartige Erfahrungen für sein Selbst machen will. Die Dienstleistungen erbringenden Kulturarbeiter sind statt auf eigene Werke auf kommunikative Prozesse konzentriert. Sie verlangen statt des Schutzes enger Fachgrenzen sowohl Bereitschaft zur Ausgrenzung wie zu interdisziplinärer Verknüpfung. Sie setzen statt auf Selbsterfahrung auf ästhetische Wahrnehmung und fachspezifisch angemessene Produktion. In jedem Fall verlangen die Tätigkeiten des Kulturwissenschaftlers/ Kulturpädagogen, dass er zu beständiger Neuorientierung fähig bleibt. Lebenslanges Lernen ist in Sachen Kultur wohl so wichtig wie in kaum einem anderen Berufsfeld, und schon daher verbietet es sich, die Praxisanteile unseres Curriculums allzu eng auf bestimmte berufliche Aufgaben auszurichten. Und doch darf der Kulturwissenschaftler/Kulturpädagoge bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber neuen kulturellen Formen seine kulturellen wie ästhetischen Maßstäbe weder verlieren noch aufgeben, will er auf Dauer seine Aufgaben erfüllen. Denn Kulturarbeit erschöpft sich nicht im Vollzug formaler Kommunikationstechni-
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ken, noch hat sie ihr Ziel allein in der Vermittlung von Fakten und Fertigkeiten. Sie bleibt immer gebunden an die jeweilig zur Disposition stehende kulturelle Sache, und diese ist weder ästhetisch noch moralisch wertfrei. Den Wert-Aspekt der Kultur hervorheben heißt jedoch nicht, die Qualitätsmaßstäbe der Kulturarbeit ins subjektive Belieben zu stellen. Vielmehr trifft das Gegenteil zu. Gerade wenn man die Weltorientierung aller kulturellen Tätigkeiten betont, kommt man nahezu automatisch dazu, deren Sachbezogenheit und damit die Sachkompetenz als Voraussetzung für Kulturarbeit festzuhalten. Wer kompetent bildkünstlerisch mit Rehabilitanten arbeiten kann, kann nicht unbedingt Kunstkritiken schreiben (und umgekehrt). Daher befähigen Schlüsselqualifikationen alleine nicht für kulturelle Arbeitsfelder. Auch wenn ästhetische Kompetenz in Produktion und Rezeption – sei sie schreibend-literarisch, bildorientiert oder musikbezogen oder ganz allgemein als Neugier und Sensibilität auf kulturelle/künstlerische Prozesse gefasst – für nahezu alle Tätigkeiten von kultureller Arbeit grundlegend ist. Kulturelle Praxis ist also sozial-, bindungsorientiert. Geht aber nicht in Sozialarbeit auf. Sie befähigt, integrativ und kommunikativ zu arbeiten bzw. hierzu anzuleiten. Sie ist einerseits an den jeweils zur Disposition stehenden Sachen orientiert, da abstrakt und formal weder Integration noch Kommunikation gelingt. Andererseits geht sie nicht in der Produktion der jeweiligen Sache auf, sondern will durch die Produktion Erfahrungen vom Schönen/Lebensvollen machen lassen. Sie ist einerseits von dem Vermögen des Hervorbringens (griechisch: poesis) andererseits vom Vermögen des Ausübens (griechisch, im engeren Sinn: praxis) oder des Anwendens bestimmt. Kulturelle Praxis verlangt daher sowohl Erfindungsreichtum wie die Fähigkeit, den Erfindungsreichtum anzuwenden. Erst indem man diesen beiden Seiten kultureller Praxis gerecht wird, eignet man sich das jeweilige kulturelle Feld an, erfährt man sich durch sein Tun und übt Praxis, und nicht nur (mehr oder weniger unbewusst) eine Verrichtung aus. Aneignung dient daher als zentraler Begriff für kulturelle Praxis; er verdeutlicht, dass kulturelle Praxis weder nur automatisches Wiederverrichten von Eingeübtem noch vorwärtstastendes Neuschöpfen ist; wie er auch die Mitte bezeichnet zwischen produktivem Umgang mit gegebenen Verhältnissen/Sachen (diese verändernd) und der Bereitschaft, sich vom Gegebenen etwas sagen zu lassen.
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Ästhetische Praxis als Praxis der Kulturwissenschaft Von dieser Kennzeichnung von Kultur und kultureller Praxis aus läßt sich, denke ich, am besten verstehen, warum die sechs Universitäten, die in Deutschland grundständige und nicht spezialisierte kulturwissenschaftliche Studiengänge anbieten ästhetischer Praxis einen besonderen Platz in ihrem Curriculum einräumen. Denn die Eigenheit des Ästhetischen ist geradezu ideal auf diese Zwischenstellung kultureller Praxis zwischen Hervorheben/Ausüben ausgerichtet. So ist das Ästhetische als Form in allem wahrnehmbar, aber nur dann, wenn die Wahrnehmung gleichsam entautomatisiert ist; der wahrgenommene Gegenstand aus dem alltäglichen Nutzungsprozeß hervorgehoben wird. Es provoziert damit sinnliche. durch Form vermittelte Erkenntnis, die, wenn sie nicht formal ist, d. h. beliebig ausgerichtet, übertragbar ist. Ästhetische Praxis ist daher per se nicht einseitig finalisierbar. Sie bleibt, weil sie immer auf Bewußtheit der Wahrnehmung wie auf der Widerstandskraft des ästhetischen Objekts beruht, geschützt vor jeder Art von automatisierter Anwendung, wird, solange sie ästhetisch bleibt, geschützt davor, unhinterfragbare Alltags- also EinfachPraxis zu werden. Zugleich, und dies macht ihren traditionell hohen Kulturwert aus, ist sie qualitätsorientiert. Aller vorgeblich postmodernen Beliebigkeit zum Trotz: Auch wenn alles gehen mag, fordert das Ästhetische doch stets die Fragen heraus, ob dies alles gerade hier und jetzt in diesem kulturellen Zusammenhang geht. Gewiß wird auch die Qualitätsorientierung des Ästhetischen vielmals vor allem sozialer Anpassung dienen, etwa bei der Ausrichtung an einer bestimmten Jugendkultur. Aber nie geht das Ästhetische ganz in solcher Anpassung auf, wie ein genauer Blick etwa auf selbstverzierte Lederkleidung von Motorradfahrern oder auf die gezielt ausgesuchte zur Trägerin wie zum Anlaß passende Abendgarderobe beim großstädtischen Opernpublikum leicht zeigt. Das Ästhetische formuliert stets mehr, als für seine soziale Funktion nötig wäre, ist – wenn auch oft kaum bemerkbar – querstehend zum sozial Vorgegebenen. Zu ästhetischer Praxis anzuleiten ist daher für die Kulturarbeit eine hervorragende Möglichkeit zur „Herstellung von Initiativfähigkeit“ und unterscheidet sich gerade dadurch von der Sozialarbeit, deren Schwerpunkt „im fürsorglichen Denken und Handeln liegt“ (Schuchardt). Daß dieses Querstehende des Ästhetischen zunimmt, je weiter wir uns in Richtung Kunst bewegen, ist selbstverständlich. Daß ich trotzdem stets von Ästhetik und ästhetischer Praxis und nicht von Kunst und künstlerischer Praxis spreche, wenn ich die kulturwissen-
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schaftliche Praxis für die kulturwissenschaftlichen Studiengänge beschreibe, liegt daran, daß ich Berufsfeld und Studium möglichst eng miteinander verzahnt sehen möchte, um den Kulturwissenschaft-Studierenden den Übergang ins Berufsleben möglichst zu erleichtern. Neben diese pragmatische Begründung tritt noch eine historische. Auch wenn die Genie-Ästhetik schon lange abgedankt hat, verlangt unsere Gesellschaft vom Künstler – dies gilt auch für eine ganze Reihe von Unterhaltungs-Künstlern – Radikalität bei der Entwicklung der Formensprache. (Wieweit Mainstream-Kunst und Unterhaltungskunst ihren unbestrittenen Verkaufserfolg mehr Verkaufsmanagement als der Mitteilungsqualität ihrer Produkte verdanken, sei ebenso dahingestellt wie die Antwort auf die Frage offen gelassen wird, ob die hier anvisierte Radikalität der künstlerischen Formensprache in Unterhaltungskunst mehr eine Wiedererkennbarkeit meint.) Ein bildender Künstler, der nicht seine Handschrift (oder deren mehrere) gefunden hat, kann sich nicht durchsetzen. Nicht nur weil der Markt so böse oder verbohrt ist und das aus Verkaufsstrategien verlangt, sondern weil wir in unserer Geschichte gelernt haben, von der Kunst diese Radikalität zu fordern. Die Künstler haben auf diese Anforderung reagiert. Auch wenn ihr Produkt, die Kunst, letztlich, aber eben nur letztlich, darauf abzielt, verstanden zu werden, kommunikativ zu sein, sind sie – und hier deckt sich meine persönliche Erfahrung mit meinen Überlegungen – in den allerseltensten Fällen selbst kommunikativ und integrativ. Fast bin ich geneigt zu sagen, je kommunikativer der Künstler, desto schwächer seine Kunst. Künstler im kulturwissenschaftlichen Studium auszubilden würde diese also nicht nur zu verkappten Kunsthochschulen (evtl. solcher zweiter Wahl) machen, sondern auch den Studienbetrieb fortwährend auf Zerreißproben stellen. (Daher spielt, um ein Beispiel zu geben, im Curriculum der Filmkunstschule in Potsdam die Filmwissenschaft aus gutem Grund nur eine absolute Nebenrolle.) In Künsten oder für Künste ausbilden Nun höre ich – soweit Sie den Hildesheimer Studiengang kennen – geradezu Ihr Erstaunen. Und ich denke, ich bin es Ihnen und mir schuldig, meine Herkunft aus einem bestimmten kulturwissenschaftlichen Studiengang nicht zu leugnen. Widerspricht das bis jetzt Vorgetragene nicht diametral dem Hildesheimer Curriculum mit seiner Ausrichtung auf „künstlerische oder kunstvermittelnde Tätigkeiten“ wie
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Rüdiger Bittner das auf die drei künstlerisch-wissenschaftlichen Hauptfächer Bildende Kunst, Musik, Literatur/Theater/Medien konzentrierte Curriculum zusammengefaßt hat? Ich denke, daß ein kurzer Blick auf die Hildesheimer Verhältnisse hilft, über die Formel „Ästhetische Praxis eignet sich besonders gut als Beispiel für kulturwissenschaftliche Praxis im kulturwissenschaftlichen Studiengang“ hinauszukommen. Bittner schränkte schon damals, 1987, im direkten Anschluß an das eben Zitierte ein: „Kulturpädagogik ist: eine bestimmte Art von Unterricht in manchen Künsten oder der Vermittlung von ihnen. Welche Art von Unterricht, insbesondere wie sich dieser Unterricht von der professionellen Ausbildung in den verschiedenen Künsten unterscheidet, davon […] wird die Rede sein. Für jetzt ist wichtig: Der Schlüssel für ein Verständnis und eben auch Selbstverständnis der Kulturpädagogik ist ein Verständnis von Kunst.“ Hier klingt, zwar nur von fern bemerkbar, aber doch vernehmbar, ein Widerspruch, zumindest etwas Missverständliches an: Einerseits sah Bittner den Unterschied zwischen der Ausbildung im kulturwissenschaftlichen Studiengang und der professionellen, an Kunsthochschulen betriebenen Ausbildung; andererseits glaubte er trotzdem noch, der „Schlüssel für ein Verständnis […] der Kulturpädagogik“, also der heutigen Praxis im kuIturwissenschaftlichen Studiengang, sei ein besonderes „Verständnis von Kunst“. Indem ich als Orientierungsbegriff für das Curriculum nicht Kunst, sondern Ästhetik setzte wird, so hoffe ich, keine bloße Begriffsklauberei betrieben. (Kunst meint dabei nicht nur das, was Leute machen; während entsprechend das Ästhetische das sein könnte, was sich auf die Erfahrungen von Leuten bezieht, die dem, was andere machen, zuhören oder zusehen. Vielmehr wird Kunst hier verstanden als eine Qualität, die einer sozial getroffenen Verabredung nach nur wenigen Artefakten zukommt, während das Ästhetische eine Qualität meint, die unter bestimmten Bedingungen – z. B. Entautomatisierung – allen zukommt.) Ich nehme auch keinen Anspruch zurück, noch korrigiere ich unser Curriculum. Denn den Anspruch, Kunst zu betreiben, Künstler auszubilden, hatten wir in Hildesheim nie. Er kommt aus vielen Gründen für einen kulturwissenschaftlichen Studiengang generell nicht in Betracht. Vielmehr bilden wir in den Künsten aus, um Sensibilität für ästhetische Prozesse und kulturelle Praxis zu entwickeln; und dies ist etwas ganz anderes als für die Kunst auszubilden. Ob das, was wir in Hildesheim flötend, theaterspielend oder malend betreiben, Kunst ist, darum geht es uns nur zweitrangig. In erster Linie bietet uns der Umgang mit künstlerischer Praxis im Alltag des Lehrbetriebs vielfältige
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Möglichkeiten, ästhetische Praxis mit genügender Strenge und Konzentration in Gang zu setzen. Von hier aus läßt sich auch der im einzelnen notwendige Umfang der ästhetischen Praxis begründen. Stichwort: so viel, um Sensibilität und Wahrnehmung zu schulen, damit ein Leben lang der Kulturwissenschaftler offen bleibt, um Neues sehen, fördern und vermitteln zu können; nicht so viel, um kunstausübende Berufe zu ergreifen. Die heuristische Funktion der ln-Künsten-Ausbildung an der Universität Hildesheim wird besonders deutlich, wenn man näher auf unser Curriculum und unsere Studienpraxis blickt. Nicht ohne Grund nimmt das Theater darin eine besondere Rolle ein. Theater ist aber eine Kunst, die nahezu alle künstlerischen Disziplinen vereinigt und vor allem in der in Hildesheim entwickelten Form des chorischen Theaters, Gruppenarbeit, integrative und kommunikative Fähigkeiten schult, also in sehr direkter Weise jene Tätigkeitsmerkmale fördert, die auch die Berufspraxis der Kulturwissenschaftler bestimmt. Ähnliches ließe sich sagen und zeigen von den anderen Künsten, den vielen journalistischen Gebrauchsformen der Kunstvermittlung und der Weise, wie sie im einzelnen in Hildesheim betrieben werden. So werden auch in der Bildenden Kunst diese integrativen und kommunikativen Fähigkeiten angesprochen. wenn Ausstellungen unter einem gemeinsamen und ernst genommenen Oberthema ausgerichtet werden und eine genuin hierzu passende Inszenierungsform entwickelt wird. Vor allem aber, und dies sollen diese Beispiele vermitteln, kommt es für die Bestimmung der kulturellen Praxis im kulturwissenschaftlichen Studium überhaupt weniger auf eine bestimmte Sparte von Praxis an als vielmehr auf die Weise, wie diese angegangen und ausgeübt wird. Die Haltung, mit der man das Ästhetische im Lehrbetrieb betreibt, ist wichtiger als die künstlerische Qualität der in der Lehre hergestellten Produkte. Diese gibt nur Hilfe für ein bestimmtes kulturelles Arbeitsgebiet, jene vermittelt die Grundsätze der Kulturarbeit, wenn sie auf das zentrale Sowohlals-auch von Hervorbringen und Anwenden, also auf die Aneignungsqualität von Praxis ausgerichtet ist. Ästhetische Praxis hat darüber hinaus den Vorzug, daß sie wegen ihres historischen Charakters aufs leichteste sich mit dem für Universitäten unverzichtbaren wissenschaftlichen Arbeiten des Curriculums verbinden läßt; und daher im Lehralltag eine Einheit von Wissenschaft und Praxis erlaubt wie bei kaum einer anderen Praxis – nach der (verkürzt zitierten) Maxime von Novalis: „Je fertiger und mannigfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wie es…“.
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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie1 Ungeklärte Verhältnisse: Theaterpraxis, Theatertheorie Theaterpraxis und Theatertheorie sind wohlfeile Begriffe. Sie gehen eben so leicht von der Zunge wie sie klare Unterschiede verheißen: Theater machen und über Theater theoretisch nachdenken, das ist nach gängigem Verständnis zweierlei, auch wenn sich dabei ein gemeinsames Interesse auf das Theater richtet. Freilich, die scheinbar festen Begriffe, die eine so deutliche Differenz markieren, sind jeweils in sich porös. Was man unter Theaterpraxis, was man unter Theatertheorie versteht, ist keineswegs eindeutig, genauso wenig, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Nehmen wir z. B. die theatrale Darstellung als zentrales Tun der Theaterpraxis. Ist dieses die schauspielerische Verkörperung einer Rolle, die Selbstdarstellung oder Selbstinszenierung einer Per-formerin, die Probenarbeit des Regisseurs, der die Strategien seiner Inszenierung ausheckt und in Bühnenrealität umsetzen will, das aufmerksame Zuschauen und genaue Beobachten des Dramaturgen, der das darstellerische Tun der Beteiligten verbal zurückspiegelt, um szenische Vorgänge zu beeinflussen? Oder ist theatrale Darstellung die Konzeption und Verwirklichung eines Kunst-, Seh- und Erlebnisraumes, den die Bühnenbildnerin setzt. Und was bedeutet Theaterpraxis für die Tätigkeit des Theaterleiters, der ein Ensemble engagiert und formt, Personenkonstellationen und ihre potentielle theatrale Produktivität im Auge hat und zusammenführt? Und kann man den Stückeschreiber, den Dramatiker außen vor lassen, der heute nicht selten als Hausautor eines Theaters fungiert und dabei auch dramaturgische Aufgaben wahrnimmt? Wie sehr Theaterpraxis als Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte und Kompetenzen zu begreifen ist, pointiert die Behauptung, auch die Theaterkritik habe ihren Anteil am Produktionsprozess. Nimmt sie nicht direkt oder indirekt Einfluss auf Personalentscheidungen und Bühnenkarrieren, verstärkt sie nicht ästhetische Trends oder schweigt sie 1 Erstveröffentlicht in: Porombka, Stephan/Schneider, Wolfgang/Wortmann, Volker (Hg.), Theorie und Praxis der Künste. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2008, Hildesheim, 2008, S. 81-100.
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tot? Schließlich: Gilt das skizzierte arbeitsteilig hierarchische Praxismodell nicht vor allem für eine bestimmte historische Theaterform, nämlich die des deutschen Stadt- und Regietheaters? Was heißt und bedeutet Theaterpraxis für jene Produktionskollektive, die in der aktuellen freien Theaterszene zunehmend erfolgreicher das bestehende Theater konterkarieren, deren Mitglieder mehr oder weniger gleichberechtigt ihre spezifischen, oft multimedialen Fähigkeiten in den gemeinsamen Theaterherstellungsprozess einbringen? Fest steht also nur: Theatermachen ist ein arbeitsteiliges, ein gemeinsames, ein kollektives Produktionsgeschäft mit mehr oder weniger hierarchischen Gewichtungen und Personenkonstellationen. Theaterpraxis zeigt sich dabei als ein interaktives Kräftefeld, das den Darstellungsprozess eher erzeugt als gradlinig steuert. Die Arbeitsteiligkeit, die sich im deutschen Stadt- und Staatstheatersystem herausgebildet und standardisiert hat, ist freilich auch ein wichtiger Hinweis auf die Theoriehaltigkeit dieser Theaterpraxis. Der Dramaturg, der als sogenannter Produktionsdramaturg seit der Steinschen Schaubühne an Bedeutung und intellektueller Einflussnahme deutlich gewonnen hat, ist längst nicht mehr der Sachwalter und Aufsichtsrat der Interessen des Dramatikers und seines Textes. Er reflektiert als Außenauge den gesamten Produktionsprozess, vor allem die ästhetische Plausibilität der Aufführung. Nicht selten gibt er ihr wichtige Impulse, wenn er die gemeinsame Theaterarbeit durch aktuelle Diskurse, meist der Kultur- und Gesellschaftstheorie, kontextualisiert, ja mit ihrer Hilfe auch konzeptionell und szenisch beeinflusst. Die andere, vielleicht noch wichtigere Funktion, die er in der Regel mit dem Regieteam teilt, ist das Wahrnehmen, Beschreiben und Reflektieren szenischer Vorgänge. Hier sind er und die anderen Theatermacher im Terrain ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung, die nach der angemessenen Verbalisierung, dem zutreffenden Begriff sucht. Dabei geht es nicht nur um eine angemessene Transformation des Probenereignisses ins Medium der Sprache, sondern immer auch um einen Vergleich mit anderen, vorangegangenen Probenergebnissen, um ästhetische Standards und ihre Durchbrechung, um die signifikante Individualität der Darsteller und ihrer Darstellungswirkung, nicht zuletzt um die Weiterführung und Neuerfindung des Probenvorgangs bzw. das Verwerfen bisheriger szenischer Lösungen. Die Mischung aus Beschreibung, Wertung, Interpretation und Neuentwurf ist so momentan und zuweilen spontan wie das Darstellungszwischenergebnis des Probenprozesses, der Theoretisierungsgrad höchst unterschiedlich, was nicht nur an den verschiedenen Artikulationsmöglichkeiten der Beteiligten liegt, sondern auch daran, wie viel Theorie dem zu lösenden Darstellungsproblem gut tut.
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Betrachten wir den Begriff der Theatertheorie in seinem angestammten Bereich, in den Feldern der Kunstkritik und Kunstphilosophie, der Theater- und Kulturwissenschaften, begegnen uns vergleichbare Verwerfungen, Inkonsequenzen und Unklarheiten, Ein Standardkompendium wie Balmes und Lazarowiczs Texte zur Theorie des Theaters unterscheidet nicht nur eine „All gemeine Theatertheorie“ von der „Speziellen Theatertheorie“ unter der gänzlich unterschiedliche Aspekte, von der „Schauspielkunst“ bis zum „Paratheater“ subsumiert sind, sondern versammelt vor allem Texte von Praktikern.2 Die Beiträge der Philosophen und Soziologen, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Literaten und Dichter zusammen können sich gegenüber den Theaterpraktikern hier nur knapp behaupten. Das lässt den vorschnellen, aber prüfenswerten Schluss zu, dass Theatertheorie auf Theaterpraxis angewiesen ist, ja von ihr als Erfahrungsfeld ausgeht, seit Kunsttheorie nach Auflösung der Regelpoetiken im 18. Jahrhundert darum bemüht ist, das Tun der Kunstproduzenten aus dem Produzieren heraus zu begreifen und zu begründen. Legt man allerdings einen strengeren Theorieanspruch an, etwa den, dass Kunsttheorie „Fundierungskategorien“ bereitzustellen und jede Theorie „eine Abstraktion von dem Sachverhalt, den sie zu fundieren bestrebt ist“ zu leisten habe, muss man neu und anders sortieren.3 Die meisten theatertheoretischen Texte, etwa die der Avantgarde oder jene von Brecht und Artaud, sind vor allem Theaterprogrammatiken, die in erster Linie dem eigenen künstlerischen Anspruch und seiner Verwirklichung dienen sollen und nur selten den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses folgen, also sich um Begriffsbildung und Abstraktion, Stringenz und Kausalität der Argumentation oder die reflektierte Aspektierung ihres Gegenstandes bemühen. Wenn heute theaterwissenschaftlicher Konsens ist, dass Theatertheorie das Theater „nicht verändern“ sondern „erklären“ soll,4 ist gegenwärtige und vergangene Theaterpraxis als erklärungsbedürftiger und erklärungsfähiger Ausgangs- und Bezugspunkt von theaterwissenschaftlicher Theatertheorie selbstverständlich vorausgesetzt. Dabei bleibt freilich 2 Vgl. Lazarowicz, Klaus/Balme, Christopher (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart, 1991. 3 Vgl. Iser, Wolfgang, „Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie“ in: Dieter Henrich/Ders. (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt/Main, 1982, S. 3358, S. 37. 4 Fischer-Lichte, Erika, „Ah, die alten Fragen… und wie Theatertheorie heute mit ihnen umgeht“ in: Hans-Wolfgang Nickel (Hg.), Symposion Theatertheorie, Berlin, 1999, S. 11-28, S. 13.
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offen, welche Begriffe, Theoreme und Theorien dazu imstande sind, außerdem, welche Perspektivierung mit dem Erklärungsanspruch verbunden ist. Der in den vergangenen vierzig Jahren zunehmende Theoriehunger der Theaterwissenschaft – die notwendige Reaktion auf die historistische Tradition des Faches – hat sie in viele benachbarte Wissenschaftsbereiche geführt, deren sie sich legitimerweise als Hilfswissenschaft bedient hat: bei der soziologischen Rollentheorie, der Zeichenoder der Sprechakttheorie. Allein mit dem Begriff der Theatralität, der ja ursprünglich das Spezifische des Theaters charakterisieren wollte, bewegte man sich zunächst im eigenen Terrain, sah aber schnell die vermeintliche Chance Theatralität als neues interdisziplinäres Wissenschaftsparadigma, als kulturelles Modell der Kulturwissenschaften zu propagieren, an dem alle teilhaben sollten, deren Themen und Untersuchungsgegenstände durch inszenatorische Verfahren und theatrales Handeln konstituiert werden, da unsere Gegenwartskultur sich zunehmend nicht mehr in Werken, sondern in theatralen Prozessen formuliere. Je mehr sich der Geltungsanspruch der Fundierungskategorien allerdings ausdehnt, umso mehr führt ein solches Programm vom Theater und seiner Kunstpraxis weg. Es verkürzt sich häufig der Erkenntnisgewinn für das Theater der Kunst und seine spezifischen Phänomene. Dort wo der Theatralitätsbegriff, wie zu Beginn seiner Wissenschaftskarriere, diskutiert wurde, um „die Suche nach der Mitte“ zu befördern, also den kleinsten gemeinsamen Nenner auszumachen, der Theater definieren sollte, etwa die berühmt-berüchtigte A-B-C-Formel (A spielt B vor C), hat eine sich laufend verändernde und erweiternde Theaterpraxis diese Theorie schnell ad absurdum geführt.5 Wir sehen: Theaterpraxis und ihre szenischen Ergebnisse fungieren sinnvollerweise als Lackmustest und Korrektiv für zu weit ausgreifende wie für den Gegenstand verengende Theorieansätze und. Terminologien. Theaterwissenschaftliche Theatertheorie bringt dort offenkundig am meisten konkreten Erkenntniszuwachs, wo sie die Praxis des Theaters fest im Auge hat, d. h. sich direkt aus ihr herleitet oder analytisch auf sie einwirken will. Lehmanns Postdramatisches Theater z. B., die erfolgreichste theaterwissenschaftliche Publikation der letzten Jahre, leistet nicht nur die Systematisierung verschiedener Formen des Gegenwartstheaters, sondern liefert auch ein Netz von Begriffen, die die herkömmlichen Kategorien der Dramaturgie fort- und umschreiben, 5 Vgl. Kotte, Andreas, „Die Suche nach der Mitte. Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner für Theatertheorien?“ in: Hans-Wolfgang Nickel (Hg.), Symposium Theatertheorie, S. 81-88, S. 81.
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um die ästhetische Logik der neuen Theaterformen sichtbar zu machen. Die Theorien der Aufführungsanalyse z. B. fundieren eine Metatheorie theaterwissenschaftlicher Rezeption, die zeigt, wie Aufführungsanalyse sich ihren Gegenstand erst schaffen muss, um die Regeln und Besonderheiten der jeweiligen Inszenierungen kenntlich machen zu können. Beide Male ist Warburgs Maxime beherzigt, dass jede Kunsttheorie aus dem Material erarbeitet werden muss. Auffällig ist dabei: Die Unterschiede der theoretischen Zielsetzungen und der Blickrichtungen, die Grade der Theoretisierung bleiben selbst im fachspezifischen theaterwissenschaftlichen Feld höchst unterschiedlich. Oft verschwimmen die Grenzen zur Beschreibung und Interpretation. Ein theatrales Phänomen historisch verstehen und theoretisch erklären zu wollen, ist meist nicht voneinander zu trennen. Das gerade erschienene Lexikon Theatertheorie liefert dafür viele Beispiele, selbstverständlich auch dafür, dass die Theoriediskussion einer Disziplin ebenso gegenwartsfixiert, d. h. historisch ist, wie die Theaterpraxis, die sie erfassen will. Lemmata wie Atmosphäre, Emergenz, Ereignis, Gender, Performance, Medialität, Performativität oder Präsenz erobern theaterwissenschaftliches Neuland und spiegeln den kultur- und theaterwissenschaftlichen Zeitgeist, wohingegen Begriffe wie Darstellung, Dramentheorie, Einfühlung, Gattungstheorie, Geste, Interaktion, Mimesis, Raum, Schauspieltheorie oder Verkörperung die Literatur- und theaterwissenschaftliche Tradition einholen und weiterführen.6 Jan Mukarovskys 1941 formulierte Bemerkungen zum Stand einer Theorie des Theaters, begreifen mit erstaunlich prognostischem Blick die „Konzeption des Theaters“ als eine „Gesamtheit unstofflicher Beziehungen“ das Bühnengeschehen als dynamischer Prozess von „Aktion und Reaktion“ dessen Energetik „Schaubühne und Zuschauerraum zusammenfasst“. Die Aufzählung der Komponenten dieses Prozesses an sich sei „eine tote Liste“.7 Dasselbe gilt für die Begriffe der Theatertheorie. Wer sie nicht fortwährend dynamisiert, d. h. kritisch gebraucht und am sich weiter entwickelnden Theatergeschehen weiter denkt, landet auch hier schnell im Formelhaft-Toten.
6 Vgl. Fischer-Lichte, Erika/Kolsch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.), Theatertheorien, Stuttgart, Weimar, 2005. 7 Mukarovsky, Jan, „Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters“, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme, Texte zur Theorie des Theaters, S. 87-99, S. 91f u. 95.
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Angewandte und Praktische Theaterwissenschaft: Das Spannungsverhältnis zwischen Theatertheorie und Theaterpraxis Zu den gängigen Einschätzungen gehört, die Theorie diene der Vorbereitung der praktischen Arbeit,8 sie ginge der Theaterpraxis nicht nur voraus, sondern gleitend in sie über. Diese Vorstellung mag nicht zuletzt auf Produktionszusammenhängen des herkömmlichen Theaterbetriebs beruhen, wo Konzeptionsgespräche den Proben vorangehen, wo die dramaturgische Vorarbeit in Form von Lektürekompendien den anderen Produktionsmitgliedern verabreicht wird. In der Hildesheimer Lehre einer Praktischen Theaterwissenschaft sind wissenschaftliche Seminare und praktische Übungen oft miteinander verknüpft, d. h. thematisch aufeinander bezogen. Auch hier ist die theaterhistorische oder dramaturgische Lektüre eines Shakespeare-Textes ein sinnvoller Vorlauf für die szenische Arbeit an Shakespeare-Szenen. Freilich handelt es sich bei dieser wissenschaftlichen Beschäftigung nicht um Theatertheorie, selbst wenn eine solche dem Shakespeareschen Theater inhärent und aus ihm ableitbar wäre, etwa Weimanns Konzept einer subversiven Mimesis des Theaters der Shakespearezeit.9 Um einiges theoriehaltiger ist z. B. eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jelineks Theatertexten unter dem Leitbegriff der Dialogizität, einer Fundierungskategorie, die weder geläufig noch sofort durch gängige Praxis zu vereinnahmen ist.10 Hier tritt beim Versuch ihrer Anwendung auf Theaterpraxis wahrscheinlich eine Blockade ein: So wie wir sonst gewohnt sind auf der Bühne zu sprechen, wird die derart begrifflich erfasste Eigenart der Jelinek-Texte kaum hörbar. Was kann, was muss also auf der Bühne geschehen, wenn die Referenz auf einen auktorialen Sprecher ausfällt? Wie wird die vom Text eingeforderte Pluralität und Eigenmächtigkeit der Sprache und des Sprechens in einer dialog- und figurenbezogenen Theatertradition realisiert? Noch vertrackter wird die Angelegenheit, bewegen wir uns in Wissenschaftsdiskursen von großer Allgemeinheit und ebenso großer Komplexität, etwa im Authentizitäts-Diskurs, der über „paradoxale Struktur des Authenti8 Felde, Thorsten zum, „Grenzgänge Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis“, in: Hartwin Gromes/Wolfgang Sting, Theater studieren, Hildesheim, 2005, S. 7-16, S. 9. 9 Vgl. Weimann, Robert, Shakespeare und die Macht der Mimesis, Berlin, Weimar, 1988. 10 Vgl. Pflüger, Maja Sybille, Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen, 1996.
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schen einer vermittelten Unmittelbarkeit“ nachdenkt.11 Die Hermetik eines solchen wissenschaftlichen Diskurses ist hier ebenso groß wie die Distanz zur szenischen Praxis, obwohl dort ja überall mit denselben Begriffen, mit Unmittelbarkeitsforderungen und Echtheitsversprechen hantiert wird. Hier wird noch evidenter: „Wissenschaft lässt sich nicht einfach anwenden“12 es gibt keine direkte Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem theatertheoretischen und dem szenischen Diskurs. Heiner Goebbels hat vorgeschlagen, zwischen Theorie und Praxis einen merkwürdigen Zwischenraum zu errichten, „vielleicht wie eine Schleuse im Eingangsbereich einer Bank in unsicherer Nachbarschaft, bei der erst das Tor zur Straße hermetisch geschlossen sein muss, bevor die Tür zum Schalterraum und zur Kasse sich einladend öffnen.“ Ein solcher Schwellenort ist ein exterritoriales Gelände, der es erlaubt, den Blick auf zwei ganz unterschiedliche Seiten einer Sache zu richten. Reflexion und Theorie ist aus diesem Blickwinkel nicht nur ein „Abstandhalter“ zum künstlerischen Prozess der Praxis,13 sondern die Praxis erscheint, blickt man in die andere Richtung, auch immer wieder im fremden Licht der Theorie, wenn man diesen Ort aufsucht. Dieser alltägliche und zugleich ungewöhnliche Sparkassenort wird im Terrain einer Angewandten oder Praktischen Theaterwissenschaft zum Labor, zum Experimentierraum. Und dieser ist nicht nur eine Metapher, sondern ein bewusst immer wieder anders erdachter und gesetzter Raum, der durch das jeweilige künstlerische und theoretische Problem, durch die jeweilige Darstellungsaufgabe und ihre Reflexion eingerichtet wird. Je weiter sich diese von herkömmlichen Darstellungsaufgaben entfernen, umso mehr baut sich dieser Raum als Spannungsfeld auf, das sich schnellen oder gar konventionellen szenischen Lösungen widersetzt und gleichzeitig mit den Schwierigkeiten der Darstellung den genauen, den fragenden Blick auf die Theorien des Theaters erhöht. In zwei Hildesheimer Projektsemestern war die Vorgabe, Texte der Theatertheorie szenisch zu machen, Theorietexte von Aristoteles bis Roland Barthes, Theaterprogrammatiken von Artaud bis Schleef. Das 11 Berg, Jan/Hügel, Hans-Otto/Kurzenberger, Hajo (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim, 1997, S. 5. 12 Goebbels, Heiner, „‚den immer anderen Bauplan der Maschine lesen…‘ Widerstände zwischen Theorie und Praxis“ in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin, 2004, S. 17-26, S. 17. 13 Ebd. S. 17f.
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Ergebnis war nicht nur, dass man Theatertheorie auf höchst erhellende und vergnügliche Weise verkörpern und performen kann, sondern vor allem, dass die Bedingungen des Theaterspielens und Theatermachens grundlegend in Frage stehen und theoretisiert werden müssen, um zu gemeinsamen szenischen Ergebnissen zu kommen. „Angesichts der Heterogenität der Ansätze und Theatermodelle muss – will man den konventionellen Darstellungsmustern nicht unreflektiert verfallen bzw. sich nicht wahllos und nivellierend im Durcheinander des historischen Fundus verirren – das jeweils zu Grunde liegende Theaterverständnis bei jeder Produktion neu verhandelt werden.“ Spielregeln und Rahmenbedingungen müssen gefunden und formuliert werden auf der Basis gemeinsamer Probenversuche, vielfältiger Spielerfahrungen und der Reflexion des Stoffes, des Themas, des Sujets und der selbst gewählten Darstellungsaufgabe. Dies ist die ästhetische Fundierung aller am Probenprozess Beteiligten. Sie ist im Fall des Artaud-Projektes Über das balinesische Theater zugleich bezogen auf und inspiriert von einem Theoriehorizont, der im Authentizitäts-Diskurs entfaltet wurde, in der Theaterpraxis aber zunehmend restriktiv gewirkt hat. „Zu untersuchen ist, auf welche Weise die moralische Wertung traditioneller Oppositionspaare wie ‚natürlich‘ im Gegensatz zu ,künstlich‘ ‚unmittelbar‘ gegenüber ‚vermittelt‘, ‚tief‘ gegenüber ‚oberflächlich‘, authentisch‘ gegenüber ‚konstruiert‘ etc. im Theater legitimiert und kulturell festgeschrieben wird. Wie dadurch Wege sanktioniert und Entwicklungen blockiert wurden“.14
Universitäre Theaterpraxis erweist sich nicht nur bei diesem Beispiel als Such- und Experimentierfeld im doppelten Sinne: Als Entwicklungsversuch eines szenischen Produkts, für den es keine Vorbilder und deshalb keine orientierenden Konventionen gibt, als Reflexion von Begriffsoppositionen, die den Theoriediskurs des Theaters über zwei Jahrhunderte entscheidend bestimmt haben, was besonders deutlich sichtbar wurde im Umbruch der Theatertradition, den die Avantgarde Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet hat und der bis in die Postmoderne fortwirkt. Allerdings zeigt sich dabei auch: Genauso wenig wie Theorie sich einfach anwenden lässt, lässt sich Praxis in direkter Weise in Theorie ver14 Sappelt, Sven, „Von Artaud zu Wilson, von Wilson zu Artaud. Zur Historizität künstlerischer Praxis“, in: Hartwin Gromes/Hajo Kurzenberger (Hg.), Theatertheorie szenisch. Reflexion eines Theaterprojekts, S. 35-51, S. 44f.
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wandeln. Eine neue Theatertheorie ist damit noch nicht entwickelt. Zu konstatieren aber ist: Der wissenschaftliche und der szenische Diskurs stehen in einer produktiven Wechselwirkung. Gerade weil sie beide auf Abstand und getrennt bleiben, halten sie sich gegenseitig in Bewegung und entwickeln im Sog der zu realisierenden Darstellungsaufgabe ihre besondere Kraft. Die Produktivität des geschilderten Spannungsverhältnisses liegt nicht zuletzt darin, dass Theorien generell „eine Distanz zu den Realitäten, mit denen wir in unserem Leben umgehen“ „etablieren“15 und, es wurde schon gesagt, auf die Verallgemeinerung und Systematisierung wahrgenommener Phänomene aus sind. Die künstlerische Praxis betreibt das genaue Gegenteil. Sie sucht gerade das nicht Verallgemeinerbare, hat das Besondere im Blick und zum Ziel. Nicht nur im Probenund Produktionsprozess versenkt sie sich ins Einzelne. Und sie hat an ihm leibhaftigen Anteil. Theatermachen ist ein sozialer und ästhetischer Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang, der die Beteiligten affiziert. Sein Strukturgesetz ist (er)finden und verwerfen, wiederholen und variieren, sein Zeitmaß: Entschleunigung. All dies erzeugt Nähe, nicht selten eine zu große Affinität, eine Verliebt- und Verranntheit in die gefundenen szenischen Lösungen. Die Distanz schaffende Theorie wirkt entgegengesetzt: verallgemeinernd und abstrahierend, ernüchternd und klärend, linear und voranschreitend. Beider Stärken, die zugleich ihre Schwäche sein können, sind theaterwissenschaftlich zu nutzen im Wechsel von Nähe und Distanz, im Wechsel der Perspektiven und im differenten Modus der Artikulations- und Reflexionsweisen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist also integrativ nicht im wechselseitig direkten Zugriff, sondern in einem komplexen Sinn: Weil künstlerische und wissenschaftliche Verfahren unterschiedlich sind, weil Theaterpraxis und Theatertheorie verschiedene Artikulationsmodi und differente Zielsetzungen haben, werden sie für einander interessant und wichtig, denn sie sind auf den selben Gegenstand gerichtet, den sie als gemeinsamen unterschiedlich hervorbringen und modellieren. Zu den Topoi der Kunstwissenschaften und der Theorie der Künste zählt, dass Theorien zwar die Übersetzung des Kunstwerks in den Diskurs betreiben, das Kunstphänomen aber unübersetzbar ist, in der Kunsttheorie also immer nur Aspektierungen des Kunstwerks oder des Kunstprozesses sichtbar gemacht werden, wenn eine Systematisierung mittels logozentrischer Begrifflichkeit erfolgt, die dem Kunstphäno15 Henrich, Dieter, „Theorieformen moderner Kunsttheorien“ in: Ders./Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, S. 11-32, S. 11.
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men und dem Kunstereignis fremd ist. Dessen Individualität und Besonderheit, seine Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit sorgen dafür, dass es im Theoriediskurs nicht aufgehen kann. Eben dieser Sachverhalt erzeugt freilich eine „Interpretationsbedürftigkeit, die nicht mehr von der Theorie selbst erfüllt, sondern nur im Rückgriff auf die Phänomene geleistet werden kann, also durch Interpretation.“ Für die ist, wie Iser betont, aber nicht Theorie zuständig, sondern Methode, also „die Instrumentarien der Interpretationsverfahren“.16 Geht man, wie er, von der Vorrangigkeit der Theorie aus, die das Interpretationsbedürfnis und die Hinwendung zum ästhetischen Phänomen zwangsläufig erzeugt, kann Kunst- und Theaterpraxis im universitären Feld auch als eine Methode verstanden und gebraucht werden, die das ästhetische Phänomen auf neuen Wegen und mit anderen Mitteln und Fragen entdeckt als herkömmliche Interpretationsverfahren. Theatertheorien körperlich zu lesen, sie szenisch organisieren zu müssen und zu veranschaulichen mittels und kraft der kollektiven Kreativität einer Gruppe, die die traditionelle Regiefunktion und ein überkommenes Theaterverständnis weitgehend außer Kraft setzt, ist das methodische Instrumentarium dieser Praxis. Die Doppelheit von szenischem Operieren und Beobachtung, von praktischem Tun und beschreibender Auswertung, das Zerlegen in Einzelteile und der Versuch, immer wieder ein Ganzes in den Blick zu nehmen, auch wenn dieses konzeptionell fragmentarisch ist, wäre das Besondere dieses Verfahrens. Diese Art von Theaterpraxis ist teilnehmende Beobachtung in einem sehr wörtlichen, körperlich umfassenden Sinn. Im Gegen- und Zusammenspiel mit der Theoriereflexion betreibt sie nicht nur eine fortlaufende „Dezentrierung von Perspektiven“17 sondern ist auch ein erfolgreicher Weg zu einer erfahrungsgesättigten Beschreibung des jeweiligen Kunstphänomens. Allerdings sollte universitäre experimentelle Theaterpraxis nicht als Hilfsvehikel einer vorgelagerten Theorie verstanden und eingesetzt werden, die die aufgerissenen Abstraktionslücken durch praktische Phänomenologie zu schließen hat. Ein solches Verhältnis nähme die Äquivalenz von Theorie und Praxis nicht wirklich zur Kenntnis und ernst. Künstlerische Werke oder Prozesse dürfen, was leider häufig geschieht, auch im wissenschaftlichen Diskurs nicht zum Ausgangs- und Beleg16 Iser, Wolfgang, „Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorien“, in: Dieter Henrich/Ders. (Hg.), Theorien der Kunst, S. 37. 17 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main, 1983, S. 49f.
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material von Theorie degradiert werden. Eben weil sie oft nicht ins Begriffsschema passen, sie sich nicht restlos in terminologische Allgemeinheit auflösen lassen, können sie ihre auch begrifflich verstörende Kraft entwickeln. Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist also keine Einbahnstraße. Es muss auch immer umgekehrt, also als Praxis-Theorie-Relation gedacht und praktiziert werden. Das heißt, auch theatrale Praxis kann wissenschaftliche Fragen auf den Weg bringen und theoriebildend sein. In der Regel sind es häufig solche Fragestellungen, die durch die vorrangige Rezipientenperspektive der Theaterwissenschaft ausgeblendet oder für sie gar nicht sichtbar werden. Etwa der Zusammenhang von Organisation und Ästhetik, von Produktionsweisen und szenischen Produkten. Was es mit Hilfe der Praxis z. B. zu lesen und zu theoretisieren gilt, sind eine Vielzahl wohl unterschiedener theatraler Formen mit je eigenen Logiken und einer oft aussagekräftigen Genese. Die Entdeckung des antiken, die Neuerfindung des modernen Theaterchors z. B. ist in einer wissenschaftlichen Theaterpraxis nicht nur die Wiederentdeckung und Reproduktion einer alten dramatischen Formkategorie. Es ist die Reflexion und Theoretisierung, wie ein soziales Ereignis, eine politische Verfasstheit als theatrale Form sich festigt und wirksam wird. Der Prozess der Chorbildung und Individualisierung erweist sich nicht nur als ein wichtiges Kapitel vergangener Theatergeschichte, sondern in der Herausbildung und Neuentdeckung dieser Formsemantik wird evident, aus welchen sozialen und politischen Erfahrungen szenische Formen hervorgehen. „Theater als Chor“ praktiziert und reflektiert eine ästhetische Konsensbildung, die auf kollektiven Prozessen unterschiedlicher Art beruht: solchen der Einpassung und Formierung ebenso wie der Vereinzelung und der Absetzung von der Gruppe.18 Theater als Chor fungiert im Experimentierraum der Universität als Sonde, die soziale Kunstform Theater zu entdecken, und darüber hinaus die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in einer theatralen Form spiegeln, genauer in ihr zur Anschauung kommen. Zugleich wirkt Theater als Chor als ein Katalysator, der ein psychologisches Protagonistentheater, in dem der „Schauspieler der Innerlichkeit“ (Roland Barthes) im Zentrum. steht, produktiv zersetzt. Theater als Chor praktiziert den „Rhythmus“ als „verbindendes Element zwischen Individuum und
18 Kurzenberger, Hajo, „Theater als Chor“, in: Ders. (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim, 1998, S. 8-36.
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Gruppe“19 untersucht und theoretisiert ihn als musikalisches Verfahren in chorischen Formen des postdramatischen Theaters oder als energetische Kraft im „Chor-Körper“20 Ein praxisgesättigtes Theorieinteresse ist freilich nicht nur für produktionsästhetische Einblicke zuständig. Die Kenntnis und Erfahrungen des Produktionsprozesses können auch die Diskussion um Fragen der Rezeption vom Theater bereichern und konkretisieren. Forschende Theaterpraxis und innovative Theaterwissenschaft auf gleicher Augenhöhe: Hamlet – no signal und Die Szene der Phänomenologen „Mehr Jetzt auf der Bühne“ die „offenbarende Evidenz“ des theatralen Augenblicks stehen derzeit auf dem Programm der Theaterwissenschaft ebenso wie auf jenem der Theaterpraxis.21 Die „Ästhetik des Performativen“ huldigt der „Aufführung als Ereignis“ will in ihr gar „die „Wiederverzauberung der Welt“ erkennen.22 Der alte romantische Traum wird auf der Bühne freilich meist mit Hilfe neuester Videotechnik realisiert, denn „mit Video kann das Bild erstmals Teil des Augenblicks werden, in dem es entsteht“. Das Videobild ist also nicht nur „Teil der Aktualität“23 sondern in simultaner Präsenz und Wechselwirkung zu den Schauspielerkörpern auf der Szene performativer Vollzug. War das 19 Nübling, Sebastian, „Chorisches Spiel I und II. Zur Aktualität eines szenischen Verfahrens in der theaterwissenschaftlichen Projektarbeit: Shakespeare, Schwitters, Handke“ S. 41-62; „Übungsbeispiele und Strukturelemente eines theatralen Verfahrens“ S. 63-87, S. 83, beides in: Kurzenberger, Hajo (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. 20 Vgl. Roesner, David, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen, 2003; Kurzenberger, Hajo, „Chor-Körper“, in: Ders./Hanns-Josef Ortheil/Matthias Rebstock (Hg.), Kollektive in den Künsten (Medien und Theater), Hildesheim, 2008. 21 Oberender, Thomas, „Mehr Jetzt auf der Bühne. Sehen heißt entscheiden: über verschiedene Video-Wirkungen auf der Bühne, den ‚doppelten Blick mit‘ der Kamera und die unterschiedlichen Strategien von Matthias Hartmann und Frank Castorf“, in: Theater heute 4 (2004), S. 20-26, S. 20. 22 Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main, 2004, S. 281 u. S. 315. „Was sich in Aufführungen ereignet, lässt sich zusammenfassend als eine Wiederverzauberung der Welt und eine Verwandlung der an ihnen Beteiligten beschreiben“. 23 Oberender, Thomas, „Mehr Jetzt auf der Bühne“, S. 20.
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Theater in seiner Transitorik schon immer die Kunstform der Gegenwartserzeugung, verstärkt und vergrößert die technisch hochgerüstete Videoszene des Gegenwartstheaters den theatralen Moment, um damit selbstverständlich auch seine Vergänglichkeit zu vergrößern. Hamlet – no signal war der Titel einer intermedialen Versuchsanordnung und Performance, die aus der praktischen Übung „crossing media“ entstanden war, die im Wintersemester 2006/07 wiederum mit meinem Hauptseminar „Literaturtheater mit der Videokamera?“ verknüpft war, wo intermediale Inszenierungen wie Puchers Othello oder Castorfs Forever young untersucht und interpretiert wurden. Hamlet – no signal verstand sich laut Programmzettel als „Tragödie der medialen Selbstreflexion, in der sich der Held spielerisch ausprobiert. Er nutzt die Medien für sein eigenes Drama“. „In immer neuen technischen Arrangements“ versuchen die Darsteller, Arrangeure, Performer dieser Veranstaltung „Gefühls- und Gedankenwelt“ des Rollenspielers Hamlet vor allem optisch „zu veräußern“. „Die flüchtigen Momente des Seins werden gespeichert, wiederholt, vergrößert oder alles zugleich. Denn Hamlet ist jend, der sich selbst ständig sein eigener Zuschauer ist“ (Frank Günther).24 Hamlet – no signal ist also „ein Drama des Sehens“25 und dies in gleich mehrfacher Weise: Als Selbstbetrachtung des Titelhelden (vor allem mittels Video), als Inszenierung von Bild- und Wahrnehmungsvorgängen im szenischen Feld und als grundlegende Untersuchung, wie die Darsteller, die eher Arrangeure und Funktionäre der Technik als herkömmliche Schauspieler sind, mit ihren Zuschauern szenischbildlich korrespondieren und zusammenwirken. Das „Spiel mit der gebrochenen Identität der Figur“ die Oberender generell für das Videotheater konstatiert,26 bleibt bei Hamlet – no signal also kein dem Shakespeare-Stück immanentes Thema, sondern ist darüber hinaus das szenisch-bildhafte Verfahren, das einen offenen Figurenentwurf gleichsam als Puzzle von Bilderfragmenten, Text- und Videozitaten hin- und vorstellt. Dieses Spiel ist zugleich und vor allem die Reflexion darüber, wie Performer und Zuschauer die Figur, und d. h. die Bilder von ihr
24 Spaniel, Matthias, „Hamlet – no signal“, Programmzettel: Hamlet – no signal von und mit: Kira Alin, Katharina Bill, Markus Brinkmann, Sami Cornelius, Kai Fischer, Johannes von Götz, Nora Hoch, Robin Krause, Tinu Lewers, Matthias Spaniel, Hajo Kurzenberger. 25 Oberender, Thomas, „Mehr Jetzt auf der Bühne“, S. 23. 26 Ebd., S. 26.
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auf verschiedenen Wahrnehmungs- und Vorstellungsebenen in Erscheinung treten lassen. Hamlet – no signal beginnt mit der ersten Szene der Tragödie. Im realen Fackelschein vor der Theaterhalle vollzieht sich die Wachablösung zwischen dem frierenden Bernardo und Franzisco als bekannt naturalistische Szene, die die gängigen degenklirrenden Theaterklischees bedient. Mit dem Einlass der Zuschauer ins mediale Spielfeld wird die Szene ver- und zerlegt. Das Fackelfeuer ist jetzt als medialer Widerschein per Live-Kamera auf der zentral im Raum stehenden Leinwand zu sehen, und die sofortige Wiederholung der ersten Szene geschieht nun gänzlich gegen ihre Konvention mit zwei neuen Darstellerinnen, die nebeneinander auf dem Hallenboden liegen, die eine, Bernardo, auf dem Bauch, der andere, Franzisco, auf dem Rücken. Der jeweilige Wechsel von der Bauch- in die Rückenlage markiert die Wachablösung. Sie verlängert sich in der zweiten Version um die Schilderung des mitternächtlichen Schreckbildes, das beide Wachen gesehen haben. Währenddessen lässt eine andere Performerin am anderen Ort immer wieder einen kleinen Blechdeckel scheppernd kreisen, der nun von den beiden Darstellerinnen der zwei Wachen per Mikro und Kamera vergrößert wird. Das Fackelbild verformt sich und wird überlagert von dem jetzt visuell überdimensionierten sich drehenden Deckeichen, parallel dazu beginnt der .Aufbau eines low-budget-Studiosets, das ab jetzt zum Sammelpunkt der Darsteller dieser szenischen Installation wird. Der Zuschauer ist einem sich zunehmend dissoziierenden Geschehen überlassen. Ab hier ist ihm zumindest klar: Die eingangs betriebene Wirkungsmechanik des Schauspiels, die Wer da!-Ästhetik der traditionellen Shakespeare-Eingangsszene war nur Fake. Ab jetzt befindet sich der Zuschauer auf unsicherem Boden, was da oder ob überhaupt gespielt wird. Denn gänzlich entspannt und technikfixiert stöpseln und schalten die Leute auf dem Spielfeld ihre Computer, Kameras und Mikros. Sie produzieren damit ohne Hast und Wirkungsambition theatrale Lücken und Leerstellen, lassen dem Zuschauer Zeit, das offene, visuell dominierte Geschehen mit eigenen Projektionen zu verknüpfen, die Hamlet gewöhnlich auf- und abruft. Ist das geisterhafte Deckeldrehen, das auf der Leinwand auch noch in sein optisches Negativ wechselt, mehr als die überdimensionale Ablichtung eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes? Scheppert da vielleicht die Rüstung des abgelebten Königs, der mitternächtlich umgeht? Bevor es zu Antworten auf gewichtige Interpretationsfragen kommt, ist die Szene eingefangen durch ein Medienklischee. Einer der Darstel-
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ler spricht, im wörtlichen Sinne locker vom Hocker, den ersten Monolog der Tragödie: „Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch, zerging‘ und löst‘ in einen Tau sich auf!“ (I. Aufzug, 2. Szene). Und sein medialer Kooperateur greift in die Computereffekttasten, illustriert optisch mit leichter Hand und ziemlich hemmungslos, was ihm gerade dazu einfällt bzw. was der Text anbietet: Selbstmordutensilien, ein wüster Garten oder eine Statue des Herkules und immer wieder das per Computeranimation sich verzerrende Gesicht des HamletEntertainers („Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch…..!“)‚ der live im Profil, auf der Leinwand aber meist monumental-frontal zu sehen ist. Hamlet, ein rivalisierendes Doppelgesicht, dessen eine Hälfte zu zerfließen droht? Oder doch nur ein Hamlet zitierender Fernsehansager, der sich optische Assoziationen in den visualisierten Monolog streuen lässt? „Sein oder Nichtsein“ traditionell das Sinnzentrum und die Bedeutungsachse jeder Hamlet-Aufführung, gibt es in Hamlet – no signal in doppelter Ausführung, allerdings mit gänzlich unterschiedlichen medialen Settings. Im ersten bleibt der Hamlet-Monologsprecher draußen vor der Tür. Im Innenraum präpariert eine junge Frau, deren Haare grellblond gefärbt sind und die in einer schwarzen Jeans und Jacke steckt (das traditionelle Hamlet-Outfit?) einen Galgen, von dem an langem Kabel ein Mikro herabhängt. Sie schaltet ihr Handy ein, legt es empfangsbereit unter das leicht pendelnde Mikrofon, auf drei aufgeschichtete Hamlet-Textbücher. Der Hamlet-Sprecher meldet sich mit „Sein oder Nichtsein“ per Handy, vor der Hallentür für den Zuschauer sichtbar auf und ab gehend. An wen er seine Botschaft richtet, ist unklar. Sie tönt aus dem Empfangshandy mikroverstärkt und tonverzerrt. Die junge Frau sitzt regungs- und teilnahmslos neben den Geräten. Spricht Hamlet zu ihr, zu sich selbst, zu den unterlegten Hamlet-Texten? Ist die junge Frau Ophelia? Oder ein anderer Hamlet? Warum vermittelt der Sprecher seine Botschaft indirekt und nicht live? Mit einem Schritt wäre er im beleuchteten Spielfeld. Ein Spektrum von Fragen, die das Arrangement an den Zuschauer, die der Zuschauer an das szenische Arrangement stellt. Die zweite „Sein oder Nichtsein“-Versuchsanordnung ist nicht wie die erste durch extreme Ruhe und Zurückgenommenheit der Darsteller geprägt, sondern durch ihr Gegenteil. Der Hamlet-Performer arbeitet zunehmend hektisch und mit komischer Wirkung am medialen Selbstversuch: ein videoarrangierter Probelauf seiner Entleibung. Immer wieder muss er die Kamera in die richtige Position bringen, immer wieder bedient er den Kassettenrecorder, auf den er den Monolog auf-
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genommen und mit historischen Monologversionen Hamlets verschnitten hat. Immer wieder verrutscht die Kameraeinstellung, versagt die Technik. Ton und Bild finden nur in seltenen Augenblicken zusammen. Offenbar arbeitet der Hamlet-Darsteller aber an einer ganz bestimmten szenisch-medialen Version, die ihm nicht gelingt, die er aber im Kopf und Blick zu haben scheint. Immer wieder stößt er sich sein Plastikschwert in die Rippen bzw. zwischen Arm und Brust. Und der gewählte Bildausschnitt und Computer-Effekt wiederholen die Selbsthinrichtungspose, die um Zehntelsekunden zeitversetzt mehrfach gereiht auf der Leinwand verebbt. Worum geht es dem Darsteller? Um eine perfekte Kameraeinstellung, um das Gelingen der Selbstmordpose, die Möglichkeit, sie wiederholt anzuschauen, um den Narzissmus der Figur? Wieder ist der Zuschauer in seiner Wahrnehmungs- und Deutungsaktivität gefordert. Endgültig und optisch real ins Zentrum rückt er in der MausefalleSzene. Jetzt wird die Videokamera zum Suchinstrument und zum Überwachungssystem. Sie holt sich wahllos Gesichter aus dem Publikum, hält sie fest, unterlegt deren Livebild schriftlich mit Kommentaren, Vermutungen und Kenntnissen. Etwa: „Heike, kunstbegeistert, lächelt süffisant, kommt als Täter kaum in Frage“. Das Kamera-Computerteam am Set spielt mit seinem Publikum und dessen Reaktionen. Es macht sie zu Hauptakteuren und meist zu „Zwangsdarstellern“27 die eher verlegen oder peinlich berührt darauf reagieren, in dieser Weise ausgestellt und kommentiert zu werden. Die Medien-Crew, die die Kamera führt und den Computer bedient, spielt also nicht nur mit der szenischen Rahmung und Bedeutung der Mausefalle-Szene, mit der Hamlet den Mörder seines Vaters entdecken will. Sie spielt auch (selbstironisch) mit dem theaterwissenschaftlichen Lieblingskind, dem produktiven Zuschauer, der sich die Aufführung, seine Aufführung selber schafft. Hier aber ist der Zuschauer kaum freier Koproduzent der Aufführung. Er ist ihr hilflos ausgeliefert, weil optisch aus dem Dunkel geholt und auf der Leinwand bloßgestellt. Der szenische Schwenk, mit dem die Szene weitergeführt wird, ist ähnlich subversiv und theatertheorieorientiert. Die Kamera hält als letztes in der Reihe der Fahndungsbilder den medialen Strippenzieher am Set selbst fest. Derjenige, der bisher still und präzise die Computertasten bedient und die Textkommentare geschrieben hat, wird ins Bild gerückt, dazu von ihm selbst der Text unterlegt bzw. suchend gefunden: 27 Berg, Jan, Zur Geschichte und Theorie des spektatorischen Ereignisses. Einführung in die Theaterwissenschaft. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin, 1985, S. 49.
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Claudius Krause. Böser Onkel. Täter. Im mikroverstärkt sich steigerndem Rhythmus hämmert der Schreiber über dreißig Mal Mörder unter sein eigenes Bild. Auch hier ist das szenische Arrangement theater- und medienreflexiv im hohen Grade: Vorgeführt und vollzogen wird hier eine Rollenzuweisung, die Kommentierung Böser Onkel und die Identifikation der Täterfigur als Claudius Krause, die den Schreiber als theatralen Zwitter ausweist: Halb Rollenträger, halb – so die Behauptung – Privatperson. Soll der Zuschauer ihn als den fiktiven Bösewicht oder als reale Person Robin Krause wahrnehmen, zumal jetzt plötzlich auffällt, dass ihm kontinuierlich zur Seite eine Frau assistiert, die am Ende von Hamlets Selbstversuch der Entleibung beruhigend auf diesen eingewirkt hat, indem sie ihm die Kamera sanft aus der Hand nahm? Zu den besonderen Irritationen von Hamlet – no signal gehört der meist ungeklärte Status der Darsteller. Wann spielen sie, wann bedienen sie die medialen Mittel und die Kamera, wann sind sie Schauspieler, wann sind sie Funktionäre der Technik? Oft berühren sie die Figur wie zufällig, im Vorbeigehen, dann überlassen sie die Bedeutungsproduktion dessen, was sie tun, wieder ganz dem Zuschauer. So entsteht ein labiler Zwischenraum, von dem keiner sagen kann, wann eine Rolle gespielt wird und wann nicht, wo eine Figur durch Zuschreibung des Zuschauers entsteht oder durch minimale Identifikation und Darstellung des Performers, wann der Status des Dargestellten Fiktion oder bühnenreales bzw. mediales Faktum ist. Hinzu kommen die optischen und akustischen Verfahren: Die Selektion und das Zitieren der Bilder, die auf den Erinnerungsraum Hamlet bildlich und akustisch anspielen oder auf sein mediales Tun in der szenischen Gegenwart gerichtet sind. All dies dient einer zeitweiligen Überflutung und zugleich Dissoziation der Szene, der Auflösung ihrer Beziehungskonventionen und Formkategorien (Wachablösung und Monolog), der Verweigerung, die Figur als Fokus und Sinnklammer zu sehen und zu nutzen. Zugleich aber beruht das Arrangement auf der Rahmung Hamlet, um dieses dissoziierende und assoziierende Spiel in Gang zu setzen, um es zwischen theatraler Fiktion, realer Person und medialer Realität spielen zu können. Die medialen Wechsel, Livedarstellungen und Bildrepetitionen, das Spannungsverhältnis zwischen Nicht-Figur, Figur und ihrer visuellen Verdoppelung auf der Leinwand, die simultan oft rivalisierenden Szenen, die Differenz zwischen Nähe und Ferne der Darsteller zum Publikum, die die Ausschnitthaftigkeit und Vergrößerung der Videobilder herstellen, all dies macht die Szene in einem hohen Maße beobachtungsintensiv und selbstreflexiv, zu einem in der Fülle der unterschiedlichen Wahrnehmungen besonders aktiven Vorgang für den Zuschauer.
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Dass ästhetische Objekte Objekte des Erscheinens sind, hat angesichts von Hamlet – no signal eine spezielle und eine grundsätzliche Bedeutung. Seel legt in seiner Ästhetik des Erscheinens dar, dass „das Erscheinen ein konstitutives Element aller Formen der ästhetischen Herstellung und Wahrnehmung ist“. Es macht den Unterschied zum „sinnlichen Sosein“28 aus. Die besondere Einstellung und Situation der ästhetischen Wahrnehmung ist dafür maßgeblich. Bei der skizzierten Video-Performance um und über Hamlet ist diese medial dominiert. Das Erscheinen des ästhetischen Objektes ist häufig ein Erscheinen des digitalen Scheins des ästhetischen Objekts. Das mindert nicht seine ästhetische Wahrnehmungsqualität und seinen Realitätsgrad. Im Gegenteil: Wie gezeigt wurde, wird die Wahrnehmungssituation und das theatral-mediale Wahrnehmen explizit zum Thema und mit ihr zugleich die Basis jedes ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsvollzugs.“ Die Philosophen und Theatertheoretiker haben die „Interaktion des sinnlichen Vernehmens“ die Interaktion zwischen dem ästhetischen Objekt als „Ereignis-Objekt“29 und seinem Rezipienten, der es als solches im Wahrnehmen mitkonstituiert, haben den „Akt“ der zwischen Schauspieler und Zuschauer in einer Aufführung vollzogen wird,30 zum derzeit aktuellsten Theorie-Thema gemacht, weil er offenkundig alles ästhetische und damit auch alles theatrale Geschehen fundiert. Es ist dies, wie jetzt kenntlicher wird, die zwar sinnliche, aber unstoffliche Beziehung, die Mukarovsky im dynamischen Prozess des Theaters eher erahnte als begrifflich klären konnte. „Die Szene der Phänomenologen“ stellt die Analysekategorien der basalen Bewusstseins- und Erfahrungsakte auch für die Theorie des Theaters bereit. Jens Roselt hat sie in dieser Funktion entdeckt und Bewusstseinsphilosophie mit Hilfe eines Begriffs aus der Theaterpraxis performativ ausgelegt: „Erst der Auftritt im Bewusstsein schafft die Bühne des Erlebens, in dem etwas sich als etwas zeigt.“31 Aber nicht nur das Bewusstsein, auch die ästhetische Wahrnehmung als Teil von ihm kann als performativ verstanden werden, denn sie ist Entfaltung, Vollzug und Realisierung der Fülle sinnlich wahrnehmbarer Aspekte, macht das wahrgenommene Objekt so erst zum EreignisObjekt. Dabei ist ästhetische Wahrnehmung „auf das gleichzeitige und 28 Vgl. Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/Main, 2003, S. 47f. 29 Ebd., S. 147, 98. 30 Roselt, Jens, Markante Momente. Untersuchungen zur Phänomenologie des Theaers, Typoskript der Habilitationsschrift, Berlin, 2007, S. 131. 31 Ebd., S. 139.
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das augenblickliche Gegebensein ihres Gegenübers gerichtet“ wobei die Gegenwart des Gegenstandes auch durch „eine besondere Gegenwärtigkeit des Vollzugs dieser Wahrnehmung“32 entstehe. Freilich, das gilt nicht nur für das Theater und seine ihm zu Recht zugeschriebenen Attribute: Ereignishaftigkeit, Transitorik und Präsenz. Es trifft auch für den ruhenden roten Ball auf der Wiese zu, der ästhetisch wahrgenommen wird, wie Seel zeigt. Das Theater kommt als Exempel bei ihm nicht in den Blick, auch wenn er über die „Interaktion des sinnlichen Vernehmens“ über die „Offenheit für die unmittelbare Gegenwart der Situation ihres Vollzugs [der sinnlichen Wahrnehmung, Anm. des. Verf.], verstanden als je augenblickliche Konstellation der Dinge und Ereignisse“ philosophiert.33 Das Theater ist nur der in die allgemeine Theorie passende Spezialfall, die wörtliche Anwendung dieser theoretischen Grundlagen der ästhetischen Wahrnehmung. Der Theaterwissenschaftler Roselt sucht, wie oben schon angedeutet, die wortwörtliche Analogie. Die Bewusstseinsakte, die die Phänomenologie beschreibt, gleichen allerdings nicht nur terminologisch dem Theatervorgang. Sie sind auf ihn anwendbar. Intentionalität und Responsivität sind die Kategorien, die Roselt für den Rezeptionsvorgang des Zuschauers in Anschlag bringt. Er installiert mit ihnen einen Zuschauer, von dem Intentionen ausgehen, als zentrale Produktionsinstanz und zielt damit „auf eine radikale Umkehr des Verständnisses von Rezeption im Theater ab“.34 Am Beispiel der Schilderungen seiner subjektiven Wahrnehmung einer Theaterfigur wird diese als im Prozess des Aufführungsereignisses und seiner Rezeption erst werdend erfahren und theoretisiert: „Im Sinne Husserls könnte man von Anmutungen und Vermutungen sprechen und nicht von Tatsachen. Eine Figur baut sich nicht nur allmählich auf, sondern wird dabei auch permanent umgebaut und in Frage gestellt.“ Dabei haben die „Intentionen, mit denen Zuschauer die Figur beleben“ ihren wichtigen produktiven Anteil. Figurenidentität wird ganz ähnlich wie in Hamlet – no signal „erfahrbar als flüchtiges Gebilde, als eine Art Provisorium, das sich zwischen Zuschauern und Schauspielern abspielt“ wobei das, was sich zwischen Schauspielern und Zuschauern ereignet „ein Drittes“ ist, das keinem ausschließlich zu eigen sei.35
32 33 34 35
Vgl. Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, S. 54 u. S. 60. Ebd., S. 147. Roselt, Jens, Markante Momente, S. 151. Ebd., S. 229f.
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Man mag gerne zustimmen, dass ein „dialogisches Zwischengeschehen von Bühne und Publikum“ „zum Dreh- und Angelpunkt einer phänomenologischen Auffassung von Theater“ wird.36 Aber Intentionalität und Responsivität müssen, will man dem Aufführungsereignis gerecht werden, auf beiden Dialogseiten verortet werden, also auch auf der sogenannten Produzentenseite. Sie bleibt in Roselts Darstellung nicht nur unterbelichtet, was das gute Recht seiner Aspektierung des Untersuchungsgegenstandes ist, sondern auch mit gängigen theaterwissenschaftlichen Vorurteilen über die Produktion behaftet. Die „Verfügungsmacht über die Aufführung“ wird subkutan vor allem der Regie zugeschrieben, die um die Disziplinierung ihres Publikums bemüht ist, den Zuschauer beständig der „Prüfungssituation“ aussetzt, die Inszenierung richtig zu lesen bzw. sie angemessen mitzuvollziehen.37 Auch wenn nicht in Abrede gestellt wird, dass es Wirkungsabsichten des Regisseurs oder Produzenten gibt, und man sicherlich zustimmen wird, dass sich die theoretische Thematisierung und Analyse der Aufführung nicht darauf beschränken kann, „Wirkintentionen, Aussageansprüche und Interpretation zu ermitteln“ ist die Aufführung kein rigides „Ordnungsgefüge.38 Der Regisseur ist nur im schlimmsten, verzerrtesten und überholtesten Fall der Einpeitscher der Schauspieler. Das Publikum kann sich solchen Regiekonzepten ja verweigern. Außerdem suchen gegenwärtige Regisseure eher die Offenheit als die kunstwidrige Aussage, produzieren sie gerade in intermedialen Inszenierungen ästhetische Verweissysteme und Kontextualisierungen, die den Regisseur eher zum Arrangeur von Programmangeboten an den Zuschauer macht als zum Vollstrecker eindeutiger Wirkungsintentionen und Interpretationen (Pucher z. B. fungiert gern als ein derartiger Programmdirektor). Das Aufführungsbeispiel Hamlet – no signal und seine implizite Theoretisierung des Produzenten-Zuschauer-Verhältnisses belegt zudem ein anderes, ein neues Verständnis theatraler Produktion, das zunehmend nicht nur im universitär-experimentellen Bereich gilt. Im kollektiven Produktionsprozess, der keine festen Hierarchien kennt, ist die kreative, die konstitutive Leistung des Produzierenden ebenso auf Responsivität und auf Intentionalität angewiesen wie die des Zuschauers.39 Auch Produzieren ist zuallererst Wahrnehmen und Zuschauen, 36 37 38 39
Ebd., S. 231. Ebd., S. 109 u. S. 170. Ebd., S. 121. Vgl. Kurzenberger, Hajo, „Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der praktischen Theaterwissenschaft“, in: Stephan Porombka/Wolf-
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benötigt die Erfahrung des ästhetischen Moments und muss die Besonderheit des ästhetischen Phänomens suchen und aufnehmen, das sich nur als Zwischengeschehen ereignen kann.40 Nur schlechte Regie verlässt sich auf Direktiven und den verallgemeinernden Effekt, statt eine ästhetische Eigenheit dialogisch im Probenprozess zu entfalten, das individuelle und Besondere zu suchen, das verstört und Neues in die Darstellung bringt. Die skizzierten Theorien und ihre Thematik wären nicht zuletzt durch Theaterpraxis in dieser Richtung weiterzudenken. „Eine disfunktionale Präsenz der Phänomene“ der „Abstand von einer ausschließlichen Zweckverfolgung“ gehört gewiss zum „Wahrnehmungsspiel“ ästhetischer Erfahrungen. Wenn also gilt, dass wir in der ästhetischen Begegnung „nicht auf Festlegung festgelegt sind“41 muss man überlegen, was es für die Produzenten und ihr Tun bedeutet, wenn sie eine bestimmte szenische Lösung fixieren und doch die ästhetische Stärke der Wahrnehmung, nämlich die Nichtfestlegung bewahren wollen. Eine solche Paradoxie strukturiert in der Tat kollektive Regiekonzepte wie etwa das Eisler-Projekt von Heiner Goebbels, prägt aber auch Regiestile. Jossi Wielers Gesprächs- und Ensemblekunst wäre ein solches Beispiel. Dass es szenische Möglichkeiten gibt, die sich nicht auf Festlegungen festlegen, bestenfalls Rahmen schaffen und fixieren, in denen sich das ästhetische Wahrnehmungsspiel für Macher und Zuschauer ereignen kann, wurde am Beispiel von Hamlet – no signal kenntlich. Freilich stellt sich mit einem sogenannten offenen Konzept die Frage, wann die Grenze erreicht ist, wo das dialogische Wahrnehmungsspiel zwischen Szene und Zuschauern kollabiert. Es ist dies die grundsätzliche Frage nach Kunst und/oder Nicht-Kunst, nach ästhetischer Organisation und/oder szenischer Anarchie, nach artifizieller Formgebung und/oder performativem Ereignis. Auch wenn Begriffe wie Autorschaft oder Werk als historisch obsolet verabschiedet wurden, auch wenn es zunehmend weniger um stringente Bedeutungszusammenhänge der szenischen Artikulation, wie etwa im klassischen dramatischen Theater, geht, noch immer werden Kunst und Theater als strukturierter Kommunikationsprozess gedacht – von den Kunstproduzenten wie vom Publikum, auch dort, wo er auf Kommunikationsstörung oder -verweigerung angelegt ist. gang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Kollektive Kreativität, Tübingen, 2006, S. 53-69. 40 Roselt, Jens, Markante Momente, S. 108. 41 Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, S. 57f.
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Produktive Auflösung eines Gegensatzes Hamlet – no signal zeigt mit den Theoriefragehorizonten der Aufführung aber auch, dass und wie Theatertheorie und Theaterpraxis miteinander verknüpft sind. Im (scheinbaren) Widerspruch zu unserer Ausgangsthese, dass Theatertheorie und Theaterpraxis in einem Spannungsverhältnis stehen. und durch Abstand markiert sind, soll zum Schluss das (scheinbare) Gegenteil belegt und erörtert werden: Theorie und Praxis sind aufeinander angewiesen, ja ohne einander gar nicht möglich. Das praktische Tun der Produzenten von Hamlet – no signal war eingebettet in Theatertheorie. Es rekurrierte nicht nur auf ästhetische Standards des intermedialen und postdramatischen Performance-Theaters und deren Darstellungsansprüche, sondern reflektierte szenisch auch die theoretischen Prämissen dieser Theaterform, nicht zuletzt die Schlüsselkategorie der ästhetischen Wahrnehmung und die aktive Funktion des Zuschauers. Über sie sind sich die Wissenschaftler in einem Punkte einig: Wahrnehmung und Erfahrung sind weder vorgelagerte noch nachrangige Prozesse, sondern „in der Wahrnehmung entsteht Sinn“42 ja, Sinnproduktion und sinnliche Erfahrung gehören im ästhetischen Terrain unauflöslich zusammen. Begriffliche und nicht begriffliche Wahrnehmung sind nicht nur nicht voneinander zu trennen, sondern aufeinander angewiesen. Wahrnehmung „ist immer bereits begrifflich instrumentiert“43 was nicht heißt, dass sie sich auf das begriffliche Erkennen, auf Theorie ausrichten muss. Aber „ästhetische Anschauung“ muss sich „im Kontext einer mit Namen und Allgemeinbegriffen instrumentierten Wahrnehmung vollziehen“ um die Besonderheit, die Individualität des ästhetischen Gegenstands erfahren und anschaulich machen zu können.44 Für das praktische Tun zeigt sich eine ähnliche Disposition. Praxis ist, wie der Philosoph Georg W. Bertram pointiert, eine erstaunlich „theoretische Angelegenheit“45 zuallererst weil sie in Wissen und Vorwissen eingebettet ist und als Praxis immer wieder neues Wissen produziert, historisches, kulturhistorisches, theoretisches. Zum anderen: Praktiken sind in sich bedeutungstragend und bedeutungsgenerierend, 42 43 44 45
Roselt, Jens, Markante Momente, S. 134. Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, S. 86. Vgl. ebd., S. 76. Bertram, Georg W., „Die menschliche Praxis – eine unerwartet theoretische Angelegenheit“. Vortrag im philosophischen Kolloquium Theorie und Praxis, Hildesheim, 16.12.2004, unveröffentlichtes Typoskript.
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weil sie Strukturen realisieren. Das lässt sich zweifelsohne auch von der Theaterpraxis und ihrem Spezialfall dem Darstellen sagen. Jedes Gehen, Stehen, Schauen, Sich-Abwenden eines Darstellers auf der Szene realisiert sinnhafte Raumstrukturen, jedes Laut und Leise, jeder Rhythmus der Abfolge, jede Aktion oder Reaktion des Schauspielers oder Performers formt und strukturiert Abläufe auch als Bedeutungseinheit, die freilich nicht immer lesbar sein müssen, meist aber korrespondieren mit anderen Bedeutungsträgern, die in der Regel sinnlich materiell sind. Die Geste zum Beispiel ist ein sogenanntes Ausdrucksmittel, dessen sinnliche Unmittelbarkeit einhergeht mit einer szenischen Strukturierung, die ästhetisches Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Erkenntnismedium zugleich ist. Als einzelne ist sie in der Regel kaum zu isolieren. Sie erweitert sich zu einem Komplex des Gestischen, der sich aus körperlichen, sprachlichen, aber auch situativen Elementen und Zeichen zusammensetzt. Brecht hat auf der Basis dieses Theorems, den sozialen Gestus als theatrales Gestaltungsprinzip mit analytischer Funktion propagiert und szenisch realisiert. Artaud hat die Gebärde gegen die verbale Sprache und ihre Konventionalisierungen in Angriffsstellung gebracht. Sozialwissenschaftler wie Gebauer und Wulf haben Gesten als „Kulturformen“ ausgewiesen, die Machtansprüche institutionalisierter Gesten oder die Gesten des Handelns, Machens und Arbeitens beschrieben.46 Was hieran deutlich wird: Szenische Praktiken schaffen nicht nur bedeutungsvolle Mikrostrukturen, sondern erweitern sich bzw. korrespondieren mit anderen szenisch-diskursiven Artikulationsformen. Es handelt sich dabei um ein Bündel von praktischen und theoretischen Teildiskursen, um eine Diskursformation, die zugleich als Einheit und in ihrer qualitativen Differenz begriffen werden muss. Erst wenn man aber, wie es Bertram im foucaultschen Sinne tut, „Praktiken als Elemente von komplexen bedeutungstragenden oder bedeutungskonstituierenden Systemen“ begreift, die „symbolische Artikulation“ also die verbale und begriffliche, als Teil der Praxis, sie zugleich aber als eine eigene Strukturierung ansieht, deren Abstraktionen und Verallgemeinerungen die Praktiken zumindest in Teilen verfehlen, hat man Theorie und Praxis zusammen und getrennt gedacht.47 Das ist kein philosophischer Taschenspielertrick. Die Unterscheidung in symbolische Artikulation, die eigene, z.B. sprachliche Struktur entwickelt, 46 Vgl. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek, 1998, S. 86, S. 95f, S. 110. 47 Bertram, Georg W., „Die menschliche Praxis“.
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und Praktiken, die das nicht tun, etwa die körperlichen, arbeitet zweierlei heraus: Sie erklärt die Ungleichheit und das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis („Wir müssen Praktiken als etwas verstehen, das von Theorien nicht angemessen erfasst werden kann“), begründet den sich hieraus ergebenden Hiat und Spielraum zwischen beiden. Zugleich wird aber auch sichtbar, dass Theorie und Praxis keine voneinander unabhängige Größen sind: Praxis und Theorie sind „kokonstituiert“ d. h., es handelt sich um das „Verhältnis zweier Größen, von denen man die jeweils andere nicht ausblenden kann, will man die eine verstehen“.48 Damit hat sich der anfängliche Widerspruch zwischen der scheinbaren Entgegensetzung von Theorie und Praxis und der Zusammengehörigkeit von Theorie und Praxis aufgelöst. Wir können Zusammengehörigkeit und Getrenntheit im Wechselspiel von Theatertheorie und Theaterpraxis, von Theaterpraxis und Theatertheorie erkennen und praktisch produktiv machen. Dieses Wechselspiel ist Teil des ästhetischen Wahrnehmungsspiels, von dem künstlerisches Tun und die Kunstrezeption ausgehen und getragen werden. Der dynamische Prozess des Wahrnehmens, Erscheinens, Verstehens, Vollziehens, Erklärens und Theoretisierens ist und bleibt für beide Seiten ein Zusammenhang und ein dialogisches Verhältnis, an dem sich zeigt, dass Kunstwerke „in gesteigerten und gesättigten Bewusstseinszuständen geschaffen und erfahren“49 werden.
48 Ebd. 49 Henrich, Dieter, „Theorieformen moderner Kunsttheorien“, S. 12.
HARTWIN GROMES
Praktische Theaterwissenschaft in der Hildesheimer Projektarbeit1 Am Anfang der praktischen Theaterwissenschaft in Hildesheim stehen zwei Projekte unter der Leitung von Hajo Kurzenberger. Die Beschäftigung mit Shakespeare kulminierte 1984 in einem zweisemestrigen Hamlet-Projekt; nach einer drei Semester dauernden intensiven Beschäftigung mit dem antiken Theater gelangten im Sommersemester 1987 Die Hiketiden von Aischylos zur Aufftührung. Beide Theaterprojekte, an denen jeweils etwa vierzig Studierende beteiligt waren, waren auch erste Versuche mit dem chorischen Theater, was zumindest im Falle Hamlet auf den ersten Blick befremdet. „Ausgerechnet dieses hierarchische und extrem auf eine Zentralfigur zugeschnittene Drama war die Grundlage für kollektives Arbeiten […]“2 bemerkt Sebastian Nübling, einer der damaligen Mitwirkenden, der später auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts der Hildesheimer Theaterarbeit kräftige Impulse gegeben hat. Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung von Formen des chorischen Theaters und ihre Anwendung auf die eigene künstlerische Praxis gehören auch deshalb von Anfang an zusammen, weil die nicht-hierarchische Produktionsweise von Theater in Hildesheim von vornherein die Nachahmung der Verfahren des Protagonistentheaters ausschloss. Mit der Anwendung nicht-psychologischer Theaterformen wurde vielmehr auf dem Theaterspielen als soziale Kunstform insistiert, basierend auf der Ausgangsbedingung, keine Schauspieler für das herkömmliche Theater auszubilden3, sondern Theaterpersönlichkeiten, die auf vielen Ebenen des Tuns und Reflektierens Kompetenz erworben haben. Die Schwierigkeiten, die die veröffentlichte Meinung mit den ungewohnten Theaterformen hatte (vor Marthaler, vor Schleef ), zeigen sich in der Unsicherheit der Beschreibungsversuche, wenn etwa Die Hiketiden als Tragödie mit selbstkom1 Erstveröffentlicht in: Ders./Kurzenberger, Hajo (Hg.), Theatertheorie szenisch. Reflexionen eines Theaterprojekts, Hildesheim, 2000, S. 9-17. 2 Nübling, Sebastian, „Chorisches Spiel I“, in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text. MuTh, Bd. 7, Hildesheim, 1998, S. 41-62, S. 42. 3 Kurzenberger, Hajo, „Theater als Chor“, in: Ders., Praktische Theaterwissenschaft, S. 17-36, S. 19.
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ponierter Musik, Sprechgesang, Tanz und Gruppenbewegung“4 doch sehr unzulänglich charakterisiert wurden. Theatererfahrung und Theaterwissenschaft Traditionelle Theaterwissenschaftler befinden sich, wie die anderen Rezipienten auch, als genießende und analysierende Zuschauer immer jenseits der Rampe in einem Gegenüber zum abgeschlossenen Kunstwerk. Studierenden der Hildesheimer praktischen Theaterwissenschaft eröffnen sich zusätzlich andere Zugänge, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Theater vorangehen bzw. diese begleiten. In den Wochen der Proben und während der Aufführungen erfahren sie „[…] die lustvollen Mühen des Theatermachens, Probieren und Konzeptionieren, Wiederholen und Verändern, Präzisieren und Verwerfen, die Beglückung durch ein Spiel, das gelingen und misslingen kann, das der Spielpartner, und zwar der Mitspieler und des Publikums bedarf.“5 Sie lernen Theater als „sozialen und ästhetischen Erlebniszusammenhang“6 begreifen. Im eigenen Tun lernen sie, dass Theater ein beschreibbarer Prozess ist, an dem vieles und viele beteiligt sind und der zu Wahrnehmungsveränderungen führt. Theaterpraxis ist innerhalb des Studiengangs als ein operationaler Zugang zum Kunstwerk zu verstehen, der qualitativ anders ist als eine interpretierende Lektüre des Textes oder die mehr oder weniger passive Rolle als Zuschauer der fertigen Aufführung. Theaterpraxis kann aber auch selbst zum Gegenstand der Forschung werden. Chorisches Theater und andere Formen nichtpsychologischen Theaterspiels gehören seit Iangem zu den Hildesheimer Forschungsgebieten, z. B. auch im Graduiertenkolleg „Authentizität als Darstellung“.7 Das Projektsemester „Theatertheorie szenisch“ hat darüber hinaus im Studiengang ein neues Interesse an der wissenschaftlichen Durchdringung der Theaterkunst geweckt, das beste Mittel, der stets drohenden Gefährdung des Gleichgewichts durch eine sich selbst genügende Praxis entgegenzuwirken: Forschung und künstlerische Praxis beziehen sich im idealen Fall aufeinander, regen 4 5 6 7
Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 25.06.1987. Kurzenberger, Hajo, Praktische Theaterwissenschaft, S. 9. Ebd. In die Gegenstände der interdisziplinären Forschung führt der gleichnamige Band in der Reihe MuTh ein: Berg, Jan/Hügel, Hans-Otto/Kurzenberger, Hajo (Hg.), Authentizität als Darstellung, (=MuTh Bd. 9), Hildesheim, 1997.
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sich wechselseitig an. Aus dieser Konstellation entstehen Diplomarbeiten und Promotionsvorhaben, aber auch Lehrveranstaltungen, die wiederum zu wissenschaftlichen Publikationen führen. Projektsemester als Lehr- und Lernform – Zur Geschichte des Projektsemesters Projektarbeit gibt es in der Kulturpädagogik8 seit je, und nicht allein im Theaterbereich. Das Projektsemester jedoch wurde erstmals 1992 eingerichtet. Seitdem findet alle zwei Jahre im Sommersemester an drei Tagen in der Woche (die übrigcn Tage dienen dem Studium der sogenannten Bezugsfächer wie Psychologie, Philosophie, Pädagogik u.a.) Projektarbeit in allen künstlerisch-wissenschaftlichen Fächern statt, die an der Universität Hildesheirn angesiedelt sind: Neben dem Theater sind dies Film/Femsehen, Musik, Bildende Kunst, Populäre Kultur und Literatur. Auch das Fach KulturpoIitik/Kulturmanagement arbeitet projektbezogen. Da die Studierenden von den drei in der Studienordnung ausgewiesenen künstlerisch-wissenschaftlichen Fächern Literaturtheater/Medien, Musik und Bildende Kunst zwei als Haupt- bzw. Nebenfach studieren, nimmt das projektbezogene Studium und dabei besonders das interdisziplinäre einen großen Raum ein. Am Ende des Semesters werden die Ergebnisse einer nicht nur hochschulintemen Öffentlichkeit präsentiert: im Projektsemester 1998 etwa in Form eines über 200 Seiten starken Katalogs zur James-Bond-AussteIIung im Hildesheimer Roemer- und PeIizaeus-Museum, an dem Studierende unter Anleitung von Hans-Otto Hügel, Professor für populäre Kultur, forschend und schreibend mitgearbeitet haben. Andere Formen der Präsentation von Projektsemesterergebnissen sind Konzerte, Hörspielund Filmproduktionen, Ausstellungen, Lesungen oder eben Theateraufführungen. Die ursprüngliche Idee des Projektsemesters war weiter gefasst als die tatsächlich realisierte. Denkbar ist nämlich über die künstlerischwissenschaftlichen Fächer hinaus eine Beteiligung der oben erwähnten sogenannten Bezugsfächer, ein Mitwirken nicht nur benachbarter Institute und Fachbereiche, sondern das Ausnützen von Synergieeffekten einer ganzen Universität, wenn sie durch ihre geringe Größe den Vor8 Der Diplomstudiengang „Kulturpädagogik“ heißt seit dem Sommersemester 2000 „Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis“, bleibt aber in der Struktur erhalten.
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teil überschaubarer Strukturen besitzt. Es könnte durchaus reizvoll und ertragreich sein, die personellen Ressourcen temporär für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Bislang jedoch blieb und bleibt es bei jeweils einem Thema für das zentrale Theaterprojekt, darüber hinaus aber bei vielen ganz unterschiedlichen Projekten von unterschiedlicher Dauer (vierwöchig bis zwölfwöchig) in den oben genannten künstlerischen Fächern. Das zentrale Theaterprojekt, das viele Arbeits- und Projektgruppen unter dem gemeinsamen Dach versammelt, verfolgt immer wieder neue Ziele, die eng mit den Schwerpunkten in Forschung und Lehre zusammenhängen. Die Erfahrungen des jeweils abgeschlossenen Projekts gehen dabei in die Planungen für das neue ein: thematisch, didaktisch, organisatorisch und natürlich künstlerisch. 1992 interessierten sich die Beteiligten in dem Projekt Kafkas Amerika für Formen des Erzähltheaters, mit denen in sechs Stationen, die in Innen- und Außenräumen der Universität (Garage, Probebühnen, Treppenhaus, Zuschauerraum und Hinterbühne des Audimax) lokalisiert waren, Franz Kafkas Amerika-Roman Der Verschollene theatral-erzählend entfaltet wurde. Und 1994 waren es Collage- und Montagetechniken in dem zeitkritischen Projekt Café Deutschland. Angeregt von dem Bilderzyklus gleichen Namens von Jörg Immendorff wurde die gesellschaftliche Verfassung des Neuen Deutschland – so der Titel der Arbeit einer beteiligten Gruppe – in vielen thematisch und stilistisch verschieden akzentuierten Teilprojekten beleuchtet. Schauplatz dieses Theaterprojekts war erstmals die Domäne Marienburg, seit 1995 Sitz des Instituts für Medien- und Theaterwissenschaft. In Kafkas Amerika schufen der Erzählduktus des Autors und seine Hauptfigur Karl Roßmann, die verdoppelt bis vervielfacht, aber immer erkennbar identitätsstiftend war, den szenischen Zusammenhang; im heterogenen Cafe Deutschland-Projekt gelang dies durch die Formation des Chores der mündigen Bürger. Der szenisch agierende Chor brachte so bescheiden wie nachdrücklich seinen ironischen Kommentar in die leicht abgewandelten Chorsätze deutschen Volksliedguts ein, brillierte aber auch durch auskomponierte Wahlparolen. Er setzte den Inszenierungsrahmen und bestimmte auch den Rhythmus des Abends, der zwar viele Themen und Stoffe aufgriff, sich aber diesmal auf einem Schauplatz konzentrierte, die zur Bühne umfunktionierte ehemalige Kühlhalle einer Eisfabrik auf dem Gelände der Domäne Marienburg. Die Geschlossenheit von Café Deutschland war wegen der stilistischen und inhaltlichen Verschiedenheit der einzelnen Teile nur durch die gleichberechtigte und gleichwertige Einbeziehung der Studieren-
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den (und Lehrenden) des Faches Musik ins Theaterprojekt zu erreichen. Um Wolfgang Löffler, einen ausgewiesenen Komponisten von Schauspielmusik, scharte sich eine Gruppe von Studierenden, die komponierend, arrangierend und musizierend den Chor der mündigen Bürger auch szenisch realisierte. Da viele Studierende der Kulturpädagogik Theater und Musik in Haupt- und Nebenfach belegen, stellen sich die erwünschten Synergieffekte automatisch ein: Das Musikalische und das Theatrale wird nicht nur von vornherein zusammengedacht, es kann auch mit gleicher Kompetenz auf der Bühne realisiert werden. Wieder zwei Jahre später war es 1996 (neben der Inkommensurabilität von der Goethe selbst spricht) die Vielfalt der Theaterformen, die Faust II zum Gegenstand des zentralen Theaterprojekts werden ließ: Musiktheater, Landschaftstheater, chorisches Theater, Erzähltheater, Theater der Gegenstände. Faust II wurde zu einem Höhepunkt bisheriger Projektarbeit. Wieder folgten die Initiatoren und Leiter des Projekts mit leichter Modifikation einer Arbeitsweise, die sich in den vorangegangenen Projektsemestern bewährt hatte: Gruppen arbeiteten selbständig an Teilen (des Stückes und des Abends), aber in dem Bewusstsein, dass aus den Teilen ein Ganzes werden soll. Gestärkt wurde dieses Bewusstsein dadurch, dass neben den übergreifend tätigen (Dienstleistungs-)Gruppen für Musik und Bühnenbild/Kostüme auch drei zentrale Szenen gemeinsam von allen Beteiligten – den knapp hundert Mitwirkenden – erarbeitet und gespielt wurden: der Übergang von Faust I zu Faust II als Prolog, die mythologische Landschaft der Klassischen Walpurgisnacht in der Mitte und die Bergschluchten am Schluss des Abends. Faust II ist eine Reise ins Innere der Seele und in die Welt und durch die Zeiten – von der griechischen Antike bis zu Goethes Gegenwart. Man hätte den äußerlichen Aufwand klein halten können als Reise durch die Phantasieräume ausschließlich in den Köpfen der Zuschauer. Man hätte den Aspekt der Reise auch ganz groß aufziehen können und die Schauplätze des Geschehens im mittelalterlichen bis zum modernsten Hildesheim auswählen können. Letztendlich spielten die Szenen in und um die Domäne Marienburg, diesem 600 Jahre alten Gemäuer mit merkwürdigen Ergänzungsbauten aus der unmittelbaren Neuzeit, der Zeit ihrer Nutzung als Eisfabrik – auch hier analog zum Faust II ein Ganzes in heterogenen Teilen. Die räumlichen Wege, die die Zuschauer auf ihrer Reise durch Faust II zurückzulegen hatten, sollten allerdings den Zusammenhang der Teile nicht sprengen, sollten nicht dekonzentrierend wirken. Also wurde zum Spielzentrum die Eishalle gewählt. Von hier startete die Inszenierung mit dem Prolog und I. Akt,
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der schon erwähnten Übergangsszene von Faust I zu Faust II und dem Szenenkomplex Kaiserliche Pfalz, der in Hildesheim den Namen Gesellschaft trug. Und hierhin kehrte sie mit den letzten beiden Akten zurück: Kolonisator zeigt Faust beim rücksichtslosen Vorantreiben der Landgewinnung, in den Bergschluchten vollzieht sich die Rettung seiner Seele. Zwei Akte spielten im Freien: die Klassische Walpurgisnacht als Theater der Gegenstände in der Wiesenlandschaft der Innerste, der Helena-Akt, der 3.000 Jahre umfasst, im mittelalterlichen Burghof der Domäne. Laboratorium (Studierstube) fand als Reverenz an den nun akademischen Ort Domäne im Großen Seminarraum des Instituts statt. Für die Konzeption dieser Aufführung von Faust II war es wichtig, intern und extern sichtbare Zeichen für das Verbindende aller am Projekt Arbeitenden zu finden; etwas, das mehr Zusammenhang stiften konnte als es die größtmögliche Kooperation von Einzelgruppen bei der Herstellung szenischer Übergänge oder beim bewussten Aufgreifen bestimmter Spiel- und Stilmittel aus der Arbeit anderer Gruppen hätte bewirken können. Die Versuche, die künstlerisch-wissenschaftlichen Fächer Musik und Bildende Kunst gleichwertig in die Projektarbeit einzubeziehen, wurden deshalb verstärkt fortgesetzt: Zum musikalisch dominierten Schlussteil Bergschluchten trat erstmals ein vor allem bildnerisch gestalteter Teil: Die Klassische Walpurgisnacht ereignete sich als Objekttheater in der weiten Landschaft jenseits des Flüsschens Innerste hinter den Gebäuden der Domäne. Die großen Objekte wurden von Spielerinnen und Spielern bewegt, die sich ganz in den Dienst der Sache stellten und für die Zuschauer weitgehend unsichtbar blieben. Ein bedeutsames und verbindendes Zeichen wurde in einer Figur gefunden, die kontrastiv zu den meist chorischen szenischen Umsetzungen der jungen Spieler auf einer zweiten Ebene Faust II (zu) Wort, Reim und Klang (Programmheft zu Faust II) werden ließ. Der weit über achtzigjährige ehemalige Intendant des Hildesheimer Stadttheaters, Walter Zibell, der die Aktivitäten des Studiengangs von Anfang an mit Neugierde und kritischem Zuspruch begleitete, „rezitierte brillant Schlüsselstellen“9 des Stückes. Diese Figur war nicht als zusätzlicher oder gar wahrer, weil alter und sprachmächtiger Faust gedacht, sondern sie fungierte als Anwalt des Autors, dessen Stück in Stücken lebendige Aufführung wurde. Zugleich erwies sich die Bereitschaft des Sprechkünstlers und Schauspielpädagogen ZibelI, an dem Projekt mitzuwir9 Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 29.06.1996.
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ken, als Ansporn und Vorbild für die künstlerische Arbeit der Studierenden. Faust II kam der Arbeitsweise im Studiengang entgegen, weil hier nicht die psychologische Einfühlung in komplizierte Persönlichkeitsstrukturen der Figuren Darstellungsaufgabe ist. Faust ist ja als dramatisches Subjekt im herkömmlichen Sinne gar nicht mehr vorhanden. Den Vorlauf zum Projektsemester Faust Il begann Hajo Kurzenberger im Sommer 1995 mit einem Seminar zu historischen Faust-Inszenierungen und einer theaterpraktischen Übung, als deren Ergebnis Gertrude Steins Doktor Faustus Lichterloh aufgeführt wurde. Im Wintersemester 1995/96 folgte eine Lehrveranstaltung zu Faust II, ergänzt von theaterpraktischen Übungen, in denen erste Erfahrungen zum szenischen Umgang mit dem Stück gesammelt wurden. Die Teilnahme am Faust-Seminar war für die Projektteilnehmer allerdings nicht verpflichtend, was sich nachteilig auf die spätere Projektarbeit auswirkte, war doch der Kenntnisstand, Goethes Stück betreffend, zu unterschiedlich. Erstmals wurde auch eine Nachbereitung des Projektsemesters im Rahmen der Wiederaufnahme am I. November 1996 durchgeführt. Der Tag nahm einen stürmischen Verlauf mit viel, auch grundsätzlicher, Kritik. Faust II wurde zum bisher erfolgreichsten Projekt des Studiengangs. Erstmals gelang es in großem Umfang, ein nichtstudentisches Publikum zu gewinnen (was vor allem dem Stoff zu verdanken war) und erstmals gelang es auch, die Medien über die lokale Berichterstattung hinaus an der Theaterpraxis des Instituts zu interessieren. Das wiederum lag auch an der Professionalisierung der internen und externen Öffentlichkeitsarbeit durch die Studentinnen Tanja Drill und Astrid Reibstein und eine Gruppe von Studierenden, die an kultureller Projektorganisation besonders interessiert waren. Auch der Film einer Gruppe von Studierenden aus dem benachbarten Institut für Audiovisuelle Medien, die parallel zum Entstehen der Inszenierung eine Dokumentation des Faust II-Projekts erarbeitete, vermittelte einen witziganschaulichen Einblick in die Projektarbeit. Durch die ausführliche Darstellung des Faust II wird deutlich, dass Theaterarbeit im Studiengang „Kulturpädagogik“ nicht aus Probenarbeit allein besteht. Im Grunde beginnt das Projekt ein gutes Jahr davor mit vorbereitenden Lehrveranstaltungen und endet im aufs Projektsemester folgenden Wintersemester mit der kritischen Auswertung oder auch – wie etwa bei der filmischen Faust lI-Dokumentation – mit der öffentlichen Präsentation letzter Projektarbeiten.
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Das Projektsemester 1998 – Theatertheorie szenisch Die verantwortlichen Leiter zogen aus den gemachten Erfahrungen und der Kritik von Projektteilnehmern für die Konzeptionierung des Projektsemesters 1998 den Schluss, der theoretischen Durchdringung des Gegenstands und der laufenden Reflexion der künstlerischen Praxis durch eine Neustrukturierung der Projekttage mehr Gewicht zu geben. Eine zweite Entscheidung betraf den Gegenstand des Theaterprojekts. Bisher waren literarische Texte oder Themen zu denen literarische Texte versammelt wurden, Ausgangspunkt der Theaterarbeit. Im Sommer 1998 sollte die Praktische Theaterwissenschaft gleichsam beim Wort genommen werden: Theatertheoretische Texte sollten zum Gegenstand szenischer Realisation werden, also Theaterforschung als Theaterspiel. Hierzu gab es anregende Vorläufer im Lehrangebot des Instituts. Im Sommersemester 1992 etwa veranstalteten Siemke Böhnisch und Geesche Wartemann eine Übung in der unter dem Titel Seien sie wahr! „schauspieltheoretische Texte in Form einer Lesung dargestellt“10 wurden. Selbstverständlich war dieser Übung ein Seminar vorangegangen, das sich Im Wintersemester 1991/92 mit „Texten zur Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts“ beschäftigte. Nachdem als Gegenstand für das Projektsemester 1998 der Erkenntniszusammenhang von Programmschriften der Theateravantgarde und der Theaterpraxis deutlich geworden war, wurde dieses Thema zum Gegenstand des wissenschaftlichkünstlerischen Vorlaufs zu „Theatertheorie szenisch“, wie der paradoxe Arbeitstitel des Unternehmens lautete. Noch nicht projektspezifisch, aber doch gegenstandsorientiert waren im Sommersemester 1997 mein Seminar „Schlüsseltexte zur Theatertheorie und -praxis“ mit der dazugehörigen Übung „Der leere Raum“. Dagegen führten die beiden aufeinander bezogenen Seminare von Hajo Kurzenberger‚ und mir „Artaud vs. Brecht“ und „Brecht vs. Schiller“ im Wintersemester 1997/98 schon direkt zum Projektsemester hin. In den diesen Seminaren zugeordneten Übungen wurden erste Versuche zur szenischen Realisation theatertheoretischer Texte gemacht. Darüber hinaus waren Projekt und Projektsemester als Lehr- und Lernform auch Gegenstand eines interdisziplinären Kolloquiums, in dem neben wissenschaftlichen und künstlerischen auch didaktische und organisatorische Fragen erörtert wurden. Das Kolloquium wurde von Wolfgang Sting als wissenschaftliches Begleitseminar für die Gruppenleiterinnen und Gruppenlei10 Fischer, Alexandra, Wie kulturpädagogisch ist die Kulturpädagogik?, Diplomarbeit Universität Hildesheim, 1997, S. 57.
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ter fortgeführt. Während des Projekts wurde in diesem Seminar die Probenarbeit in ihrem Zusammenspiel von Thema, Arbeitsstruktur, Gruppe und Anleitung theaterpädagogisch und didaktisch reflektiert. Die Vorschläge für die Auswahl der Theatertheorietexte wurden in den Semesterferien in mehreren Sitzungen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diskutiert. Mit Mitarbeitern sind nicht die wissenschaftlichen Angestellten des Instituts allein gemeint, dazu zählen auch Studierende, die ihr Studium gerade erfolgreich abgeschlossen haben und Studierende höherer Semester, die mit in die Leitungs- und Lehrverantwortung einbezogen werden. Die Struktur der drei Projekttage wurde verändert. Der theoretischen Begleitung des Projekts wurde ein fester Tag in der Woche zugewiesen und damit die Verschränkung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Kunst für alle Beteiligten sichtbar gemacht. Theaterpraxis innerhalb des universitären Curriculums ist nicht zweckfreie Lust am Spiel, sondern immer auch Lust an wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie das Projekt Theatertheorie szenisch realisiert wurde Künstlerische Arbeit, wissenschaftliche Reflexion dieser Arbeit und der ihr zugrunde liegenden Theorietexte und nicht zuletzt Organisationsund Öffentlichkeitsarbeit bestimmten den Gang des Projekts. Die Teilgruppen stellten dem Plenum aller am Projekt Beteiligten (den über 100 Studierenden, Anleitenden, Lehrenden) ihren jeweiligen Text vor. In anschließenden kleineren Seminargruppen wurden Text und Referate zum Text unter verschiedenen Fragestellungen erörtert. Protokolle dieser Seminare machten die Ergebnisse wiederum dem Plenum zugänglich. In den einzelnen Gruppen wurde die Probenarbeit in Probentagebüchern protokolliert und reflektiert und dadurch wiederum zum Ausgangspunkt neuer Erprobungen. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurden auch szenische Zwischenergebnisse durch Vorspielen für andere Gruppen öffentlich gemacht. Die Gruppen sollten die Arbeit der jeweils anderen wahrnehmen und alle Mitwirkenden sollten ein Gefühl dafür bekommen, an einem gemeinsamen Projekt teilzunehmen. Bei neun parallel probierenden Gruppen ist allerdings der Idealzustand, jeder sieht alles, schon von der Logistik her nicht zu erreichen. Die Projektleitung, die Thema und Konzept initiiert hatte, begleitete nun als dramaturgischer Impulsgeber das Projekt mit produktiver Kritik. Für jeden Bereich des Projekts galt, dass bei aller Selbständigkeit der Gruppenarbeit keine weitreichende Entscheidung ohne die
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Projektleitung gefällt wurde. Die Leitenden der einzelnen Teilgruppen leisteten konzeptionelle Vorarbeit, regten mit szenischen Aufgabenstellungen die Kreativität in den Gruppen an (die szenischen Erfindungen sind die Leistung der kollektiven Theaterarbeit der Gruppen selbst), waren die Beobachter von außen und, zusammen mit den Projektleitern (Gromes, Kurzenberger und, für die Musik, Löffler), verantwortlich für die dramaturgische und szenische Endfassung. Die Gruppen der Neun Reisen in die theatrale Welt der Zeichen arbeiteten erfreulicherweise sehr unterschiedlich. Impulse von außerhalb der Universität belebten die Projektarbeit – neben dem Bildhauer WiIIi Weiner, der bei Genets Der Seiltänzer in der Gruppe Theatertheorie bildnerisch wirkte, leitete der Theater- und Filmkomponist Biber GuIIatz ein Teilprojekt Theatertheorie musikalisch an. Für dieses Unterfangen suchte sich Biber Gullatz den einzigen klassischen Text aus, Kleists Essay Über das Marionettentheater. In den meisten der Theatertheorietexte war die Puppe oder Marionette als Kontrastfigur und Gegenspielerin zum menschlichen Schauspieler konzipiert: Kleists ironischer Text, in dem die Tänzer aufgefordert werden, bei der Marionette in die Schule zu gehen, oder Craigs Übermarionette, die selbst als imaginierte Figur soviel Kraft besitzt die Schauspieler von der Bühne zu fegen, oder Meyerholds biomechanische Theatermaschine – es sind die künstlichen Figuren, mit denen die Theatertheoretiker ihrer Kritik an der illusionistischen Theaterpraxis ihrer Zeit sinnlichen Ausdruck verleihen. Deshalb wurde auch die Puppe bzw. Marionette zum verbindenden Motiv nicht allein der Textauswahl, sondern ebenso bei der szenischen Ausformulierung dieser Texte, die von ihren Autoren manchmal als Essay bezeichnet werden, manchmal aber manchmal aber auch wie bei Genets Der Seiltänzer, als Gedicht. So unterschiedlich die Texte, so unterschiedlich auch die Arbeitsweisen. Es gab Gruppen, die eher prozessorientiert arbeiteten, mit der bekannten Schwierigkeit, die vielen Ideen und szenischen Skizzen zu einer Aufführung zu bündeln; es gab Gruppen, die eher produkt- und regieorientiert arbeiteten, mit der Gefahr den schöpferischen Entwicklungsprozess der Gruppe zu früh abzubremsen – und es gab alle Schattierungen dazwischen. Es entstand ein Programmbuch, das Arbeitsweisen und Arbeitsergebnisse dokumentierte, und es gab Fotos und Videodokumentationen der einzelnen Produktionen.
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Projektarbeit und Theater als soziale Kunst Es ist viel von Gruppen und Gruppenarbeit die Rede gewesen. Aber wie funktioniert die Arbeit in den verschiedenen Gruppen, denen jeweils unterschiedliche Aufgabenstellungen zugeordnet sind? Und wie kommen die Gruppen im Projektsemester zustande? Es gibt die Gesamtgruppe, die sich entschließt, am Theaterprojekt des Instituts teilzunehmen. Sie besteht nach den bisherigen Erfahrungen von vier Projektsemestern aus 80 bis über 100 Teilnehmern: Studierenden und lehrenden Studierenden. Die künstlerische kreative Arbeit wird in kleinen Gruppen (zehn bis zwölf Teilnehmer) in den Teilprojekten gemacht. Eine solche Gruppe stellt, weil die Teilnehmenden verschieden sind, einen Pool unterschiedlichster Talente, Fähigund Fertigkeiten dar. Dieser Pool ist das eigentliche Kapital für das Gelingen der Projektarbeit.11 Dieses Kapital kann aber nur im Sinne der sozialen Kunstform Theater wirksam werden, wenn es gelingt, jenes Gruppenbewusstsein zu entwickeln, bei dem das Ziel nicht in der herausragenden Einzelleistung besteht (die die schwächere Einzelleistung eines anderen Teilnehmers überstrahlt und in den Hintergrund treten lässt), sondern in einer herausragenden Gruppenleistung. Mit dieser These, die natürlich nicht den Wert hervorragender Einzelleistungen leugnet, befinde ich mich im Dissens zu den Vorgaben der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und zu gängigen Ansichten über künstlerische Arbeit überhaupt. Möglich wird das Erreichen einer herausragenden Gruppenleistung durch einen Bewusstseinswandel. In diesem Bewusstseinswandel bekommt die Idee des Verschenkens einen zentralen Stellenwert. Jemand verschenkt eine Spielidee, weil sie im Inszenierungskonzept für die Figur eines anderen wirksamer ist. Jemand macht mehrere Spielvorschläge, die sich alle nicht als optimal erweisen. Aber diese Spielideen geben die Anregung zu einer verwertbaren Spielidee einer anderen Teilnehmerin. Ein solcher Vorgang wird nicht zum Anlass für Frust, sondern wird als Anlass zur Freude begriffen – auch wenn der Beitrag desjenigen, der die letztlich verworfenen Ideen eingebracht hat, im Endergebnis nicht sichtbar wird. Aber wird das Ergebnis einer solchen Arbeit
11 Fragestellungen der Projektarbeit erörtert Wolfgang Sting in seinem Beitrag „Oh neee, ausgerechnet Brecht. Warum ich? Flucht!“, in: Gromes, Hartwin/ Kurzenberger, Hajo (Hg.), Theatertheorie szenisch. Reflexion eines Theaterprojekts, Hildesheim, 2000, S. 152-168.
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von den Rezipienten nicht ohnehin als gemeinsame Leistung verstanden? Gruppenarbeit im Projekt ist eine stetiges Geben und Nehmen. Der einen Stärke ist die wissenschaftliche bzw. die dramaturgische Durchdringung des Stoffes (hier gibt sie dazu), ihre Schwäche ist die szenische Umsetzung (hier nimmt sie). Die Stärke eines anderen Teilnehmers liegt im organisatorischen Bereich, wieder eine andere ist technisch versiert oder übernimmt die Arbeit am Computer (und spielt natürlich und arbeitet auch an der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts mit). Es kommt darauf an, großzügig zu sein im Umgang mit Ideen, für die man kein Copyright beanspruchen sollte. Da eine Projekt-Theatergruppe nicht eine Spielgemeinschaft (auf Zeit) allein ist, sondern die technischen, wissenschaftlich-dramaturgischen, bildnerischen, musikalischen und organisatorischen Elemente des Projekts gleichermaßen und gleichgewichtig in integrierter Arbeit zu verwirklichen hat, können und müssen alle Spezialbegabungen ans Licht gebracht und genutzt werden. Zu lernen ist auch, dass man nicht befreundet sein muss, um gemeinsam an einem Theaterprojekt arbeiten zu können. Auch allzu große Zuneigung kann zu einem Problem werden. Es geht um die dritte Sache von der Brecht spricht, auch wenn er damit auch eher etwas Großes wie ein Gesellschaftsprojekt meint und nicht etwas vergleichsweise Kleines wie ein Theaterprojekt. Die eine bringt letztlich mehr ein, der andere weniger. Damit müssen alle umgehen lernen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind nicht gleich, nur in ihrem Status als Teilnehmende. Die Projektarbeit ist gelungen, wenn jeder seine Fähigkeiten ausschöpfen konnte. Der äußere Erfolg, so erfreulich er ist, macht sich nur an dem sichtbaren Teil der gelungenen Projektarbeit fest. Die Gruppe selbst kennt auch den anderen, den unsichtbaren Teil, der für das Gelingen ebenso wichtig war. Transeuropa – das andere Projekt Neben der Arbeit im Projektsemester, in das auch die Hildesheimer Partneruniversitäten im Ausland einbezogen sind, gibt es seit 1993 mit Transeuropa e.V. einen Verein, dessen kontinuierliche Arbeit alle drei Jahre in einem Theaterfestival innovativer freier Gruppen mündet. Transeuropa e.V., ein selbständig agierender Ableger des Instituts für Medien- und Theaterwissenschaft, dient als Lernfeld für internationale Festivalorganisation und produziert dazu vor Ort international beachtete Aufführungen mit Mitwirkenden der beteiligten Länder – Besu-
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cher und Künstler nehmen transeuropa natürlich vor allem als Festival aktueller Theaterkunst wahr. Studierende lernen im Vorlaufsemester im Seminar (gemeinsam veranstaltet mit dem 1996 neu errichteten Institut für Kulturpolitik) Grundlagen des Festivalmanagements und organisieren und betreuen das Festival transeuropa, für das im Sommer 2000 die EXPO als Partner gewonnen werden konnte, in allen Bereichen. transeuropa führt in Hildesheim, der gedachten Mitte, osteuropäisches (1997 aus Tschechien) und westeuropäisches (1997 England und Niederlande) freies und studentisches Theater zusammen, ergänzt um in Hildesheim entstehende Produktionen. Wobei das Besondere ist, dass gemeinsam produziert wird. So entstanden die Koproduktionen Bahnhof Europa (1994), frei nach Anna Seghers Roman Transit, mit niederländischen, polnischen und Hildesheimer Spielern oder Der Hungerkünstler (1997), nach Franz Kafka, mit Spielern aus Tschechien, Hildesheim, England und den Niederlanden. Junge Lehrende am Institut (Julia Lochte, Viola Hasselberg, und seit 1999 Olaf Kröck) halten neben ihren anderen Verpflichtungen die Fäden in der Hand. Auch transeuropa wird, wie das Projektsemester, in ständiger Selbstevaluation weiterentwickelt, und zwar nicht nur in Form der Steigerung von eingeworbenen Drittmitteln. So ist für das Jahr 2000, in dem transeuropa-Festival und Projektsemester zeitlich zusammenfallen, eine theaterwissenschaftliche und kulturpolitische Fachtagung zur Ergänzung und Vertiefung des Theaterprogramms geplant. Die vier Phasen des Projektsemesters Abschließend seien die vier wichtigen Phasen des Hildesheimer Projektsemesters12 skizziert: 1. Vorbereitungsphase Der Gegenstand wird geboren: Ein Stoff, ein Stück, ein Roman oder ein Thema wird entdeckt und untersucht. (Dies geschieht ein Jahr oder auch zwei vor Beginn des Projekts). Der Gegenstand sollte bedeutend, künstlerisch und wissenschaftlich anspruchsvoll genug sein, um den erheblichen Einsatz an Arbeits- und Lebenszeit von bis zu hundert Teilnehmern zu rechtfertigen. Die wissenschaftliche und künstlerische Vorarbeit beginnt im Sommersemester und entfaltet sich im Winterse12 Vgl. ebd., S. 154f.
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mester vor dem Projekt. Der Umfang der vorbereitenden Lehrveranstaltungen ist vom jeweiligen Projekt abhängig und sollte verpflichtend sein, was nicht immer durchführbar ist. 2. Produktionsphase Sie dauert während des Sommersemesters etwa 10 Wochen. Die szenische Arbeit wird von der Seminararbeit begleitet. Da die Hildesheimer Theaterstudierenden zusätzlich entweder Bildende Kunst oder Musik innerhalb des Studiengangs „Kunstpädagogik“ belegen, ergeben sich die für ein Theaterprojekt notwendigen Synergieeffekte. Auch Kulturorganisation ist Pflichtfach für alle Studierenden. Dies ist besonders wichtig für ein Projektsemester, das sich seine Organisationsstruktur inklusive Öffentlichkeitsarbeit, Catering, Probendisposition etc. jedes Mal neu schaffen muss, da jedes Mal einen neue Generation von Studierenden das Projektsemester gestaltet. Je nach Interesse und Bedarf engagieren sich die Teilnehmenden in den Bereichen Bühnenbild oder Kostüm, Licht oder Organisation, Dramaturgie oder Öffentlichkeitsarbeit. Für die ausschließliche Teilnahme am Projekt als Spielerin oder Spieler beansprucht das Projektsemester zu viel Zeit. Anzustreben ist eine Stärkung der Reflexion des künstlerischen Tuns. Jede Teilgruppe sollte ein Probentagebuch führen bzw. die künstlerische Praxis protokollieren. Einmal in der Woche sollte zusätzlich zum Theorietag, der alle Teilnehmenden am Projekt im Plenum zusammenführt, eine gruppeninterne Zusammenkunft die gemeinsame Arbeit überprüfen. (Es können natürlich auch andere Modelle für eine ständige Reflexion der Gruppenarbeit gefunden werden.) Ebenso wichtig wie der theoretische Austausch ist das gegenseitige Vorspiel der Zwischenergebnisse. Es hat sich bewährt, dies im kleinen Kreis zu tun, also von einer Teilgruppe für eine andere, um diesem Vorspiel den Charakter eines Wettbewerbs zu nehmen. 3. Aufführungsphase Das Projektsemester ist produktorientiert. Angestrebt wird eine Öffentlichkeit über die Universität hinaus. Während der Aufführungsphase entsteht eine unorganisierte und permanente Kommunikation zwischen den beteiligten Gruppen. Eine zahlende Öffentlichkeit ist auch deshalb wichtig, weil das Institut für das Projektsemester über keinen eigenen Etat verfügt, der die gegenüber anderen Semestern sehr hohen Sach- und Personalkosten deckte. Das Projekt muss sich weitge-
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hend über (von Studierenden betriebenes) Sponsoring und Kartenverkauf finanzieren. 4. Nachbereitung Nachbereitung muss sein und findet in der Regel rund um die Wiederaufnahme im Herbst statt. Die Wiederaufnahme zeigt den Studienanfängern, welcher Art die Theaterpraxis als wichtiger Teil des Studiums ist. Die Nachbereitung reflektiert aus größerer zeitlicher Distanz die Abläufe des Projekts durch die Rückmeldung der am Projekt Beteiligten. Aber schon während der Aufführungen im Sommer findet eine – unorganisierte, doch intensive – Nachbereitung statt. Projektarbeit in Hildesheim: ein vorläufiges Fazit In der praktischen Theaterwissenschaft in der Theorie und Praxis aufeinander bezogen sind, stellt das Projekt eine ideale Arbeitsform dar, das Projektsemester führt diese ideale Arbeitsform zur höchstmöglichen Reife. Diese Lehr- und Lernform muss immer wieder überprüft und reformiert werden. Vor allen Dingen muss sie den wechselnden und unterschiedlichen Gegenständen angepasst werden. Das Theaterprojekt (im Projektsemester, aber auch im Rahmen von transeuropa) ist auch deshalb eine ideale Lehr- und Lernform, weil es Interdisziplinarität aller in Hildesheim zu studierenden künstlerisch-wissenschaftlichen Fächer ermöglicht und erfordert. Dazu treten die immer wichtiger werdenden Anteile aus den Bereichen der Kulturorganisation, des Kulturmanagements. Zwischen den idealen Möglichkeiten und der Wirklichkeit des Projektsemesters klafft natürlich, wen wundert es, auch in Hildesheim, eine Lücke. Sie entsteht, weil die vielfältigen Möglichkeiten der Teilhabe von manchen Studierenden nicht immer erkannt werden, teils aber auch, weil deren vielfältige künstlerische, wissenschaftliche und kunstorganisatorische Interessen von den Projektplanern nicht genügend berücksichtigt wurden. Schon deshalb ist eine permanente Selbstevaluation notwendig, denn das Projektsemester als Lehr- und Lernform ist ausbaufähig. Der Beitrag ist die stark erweiterte und veränderte Fassung eines Vortrags, der am 29.6.1998 im Theater am Halleschen Ufer anlässlich der Theaterstudien 1998 gehalten wurde, eines internationalen Theater/Studentenfestivals im Rahmen der 50-Jahr-Feier der FU Berlin.
HAJO KURZENBERGER
25 Jahre Hildesheimer Kulturwissenschaften: Von der „polyästhetischen Erziehung“ zur intermedialen Kunstkompetenz Vortrag am 9. Februar 2004 an der Universität Hildesheim Am Anfang war eine kreative Idee. Da gab es in den Siebzigern ein paar quer und interdisziplinär denkende Professoren der Wissenschaftlichen Hochschule Hildesheim, wie z. B. Wolfgang Roscher oder Heinrich Maiworm oder Franz Kumher, die jenseits „der voneinander abgeschiedenen Schulfächer“ dem Ästhetischen auf die Spur kommen wollten. „Klänge – Texte – Bilder – Szenen“ lieferten das Anschauungs- und Erprobungsfeld ihrer Modelle zur kunstpädagogischen Praxis. „Polyästhetische Erziehung“ war das Label und die Zielrichtung ihrer Untersuchung, die sie unter gleichem Titel bei DuMont als Buch publizierten. Das war die Keimzelle eines neuen wissenschaftlich-künstlerischen Studiengangs, genannt „Kulturpädagogik“. Er war inspiriert von den Bauhauskonzepten, fundiert in der Tradition der musischen Erziehung an Pädagogischen Hochschulen, politisch umgesetzt von einer zu neuen Ufern aufbrechenden Hochschulleitung, die unter den Rektoren Lüttge und Alten die Weichen stellte für eine universitäre Zukunft der Hildesheimer Hochschule, die nicht nur der Lehrerbildung dienstbar sein wollte. Die erste neu ausgeschriebene Professur des 1979 gestarteten Modellversuchs war denn auch für Kulturpädagogik, die das Theater als Schnitt- und Integrationsfeld der Künste nutzen sollte. Weitere folgten, nun schon definiert und verantwortet von der nächsten Generation: die Professur für Populäre Kultur, bis heute einmalig im universitären Deutschland, Lehr-, Praxis- und Forschungsgebiete im Bereich der Museumspädagogik, des Films und der Medien, der Szenischen Musik, des Kreativen Schreibens und der Kulturpolitik. Mit dem aufmerksam wachen Blick für die Kultur- und Kunstszene der Gegenwart und ihre Entwicklungen blieb der Studiengang in dauernder Bewegung: aus der Kulturpädagogik wurden die drei kulturwissenschaftlichen Studiengänge „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“, „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ und „Szenische Künste“ – alle
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drei eng miteinander verknüpft und doch jeweils deutlich unterschieden in der Breite oder Spezifik einer Ausbildung, die alte Bildungsideale neu entdeckt und verwandelt hat: das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen praktisch berufsbezogener Anwendung und freiem Experiment. Eine entsprechende Studien-, Lehr- und Curriculumstruktur zu entwickeln, war und ist bis heute eine Aufgabe, die das konventionelle akademische Denken heraus- und zuweilen überfordert. Mit dem alle zwei Jahre stattfindenden Projektsemester hat sich seit 1992 eine besondere Lehr- und Forschungsform etabliert, die aus den utopischen Zielen eine lebendige, intensive Studienrealität macht und zudem die inner- und außeruniversitäre Öffentlichkeit mit den Präsentationen der Projektergebnisse in Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Film- oder Theatervorstellungen einbezieht. Aus dem anfangs immer wieder in Frage gestellten Studiengang Kulturpädagogik, dem man unkend seine Markttauglichkeit absprach, ist inzwischen ein bundesweit beachtetes Erfolgsmodell geworden. Das liegt vor allem an den Absolventen, die ihre Studienerfahrung und die erworbenen und erprobten Kenntnisse weiter vermittelt, an viele Orte der Bundesrepublik und in die verschiedensten Kulturinstitutionen getragen haben. Kaum ein kultureller Bereich, wo heute nicht in leitenden Positionen auch Hildesheimer Kulturpädagogen am Werke sind: Martin Köttering zum Beispiel, der rührige Präsident der Kunsthochschule Hamburg, oder der gegenwärtige Shooting-Star der Theaterszene, Sebastian Nübling, der in dieser Spielzeit an den Münchner Kammerspielen und in der nächsten Saison bei den Salzburger Festspielen inszeniert, oder Marianne Leky, um eine von vielen erfolgreichen Schriftstellerinnen zu nennen, denen gerade wieder ein Literaturpreis zuerkannt wurde, oder Matthias Krohn, der die Professur für Neue Medien an der Potsdamer Hochschule innehat, Lektorinnen bei Rowohlt oder DuMont, Kulturamts- und Kunstschulleiterinnen von Vaihingen bis Oldenburg, Rundfunkredakteure z.B. in der Musik-Abteilung des Hessischen Rundfunks oder Kulturjournalisten z.B. bei der Süddeutschen Zeitung. Die Liste ist inzwischen lang und die Zahl der Praktikumsorte für unsere heutigen Studierenden damit noch mehr gewachsen. Nicht zuletzt haben die kulturwissenschaftlichen Studiengänge in die Stadt Hildesheim ausgestrahlt, auch wenn man sich dort zuweilen schwer tat, so viel kreatives Potential zu verkraften: Radio Tonkuhle oder das Europäische Theaterfestival transeuropa, das Filmfest Best before, oder die Literaturzeitschrift Bella triste, das Tango-Orchester Faux pas oder Matthies and the Miltones, Via-Art-Genossen oder das jährliche
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Holler Theaterspektakel, die Kulturfabrik Löseke oder die Nachtbar des Stadttheaters – sie sind aus Hildesheim nicht nur nicht mehr weg zu denken, sondern sie machen eigentlich erst wahr und lebendig, was das Werbeetikett verkündet: Hildesheim, die heimliche Kulturhauptstadt Niedersachsens. Was ich Ihnen bis hierher vorgetragen habe, ist die Geschichts- und Erfolgsbilanz der Hildesheimer Kulturwissenschaften, wie sie zum 25jährigen Universitätsjubiläum kürzlich in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde. Zu dieser keineswegs sonderlich geschönten Vorzeigeseite gibt es selbstverständlich auch eine Kehrseite. Auf ihr werden Probleme sichtbar, mit denen der Studiengang, die Studiengänge seit ihrer Gründung zu kämpfen haben. Über diese Schwierigkeiten und ihre Konsequenzen für die Fortentwicklung der Hildesheimer Kultur-wissenschaften möchte ich gerne mit Ihnen aus Anlass dieser Feierstunde ein wenig nachdenken. Ich beginne pragmatisch: mit den Ausbildungszielen und ihrem Wandel, komme dann zu den Neustrukturierungen, die mit dem Generationswechsel der Lehrenden bevorstehen, streife die Einbindung bzw. Ausgrenzung der Studiengänge in die und aus der traditionellen akademischen Vorstellungswelt und versuche eher theoretisch zum offen Ende hin, die Hildesheimer Kulturwissenschaft zu verorten in der inzwischen breit geführten Diskussion über die Kulturwissenschaften generell. Als der Studiengang Kulturpädagogik eingerichtet wurde, war er in der Tat einmalig in der bundesrepublikanischen Hochschullandschaft. Aufgrund seines wissenschaftlich-künstlerischen Profils, seiner TheoriePraxis-Verschränkung ist er dies geblieben, auch wenn andernorts zahlreiche kulturwissenschaftliche Studiengänge entstanden sind. Die so oft und zu Recht gepriesene Einmaligkeit des Studiengangs, die im Zusatz „Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis“ zum Ausdruck kommt, ist ein erstes nicht zu unterschätzendes Problemfeld. Unikate heben sich nicht nur ab vom Üblichen, ihnen fehlt auch die Tradition. Und, was genau so schwer wiegt, für Einmaliges gibt es kein Allgemeinverständnis, kein sicherndes Vorwissen der Nichtbeteiligten, kein Orientierungswissen, das das eine mit dem Vergleichbaren verbindet. Die Hildesheimer Studiengänge waren und sind also unablässig erklärungsbedürftig. Bei der ehemals völlig solitären Kulturpädagogik war dies noch augenfälliger. Jede/r der hier anwesenden AbsolventInnen dieser Phase weiß davon ein Lied zu singen. Kaum weniger, bis heute, die hier Lehrenden, die vermitteln sollen, was sich hinter dem Namen verbirgt. Dass ziemlich Verschiedenes, zuweilen Disparates hinter den Studiengangsetiketten verborgen ist, gehörte von Anfang an zu den Vorzü-
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gen und Schwachpunkten der Hildesheimer Unternehmung. Trotz der Einrichtung von Basiscurricula, bei aller verdienstvollen Aufklärungsarbeit der Studiengangsbroschüren und Hochschuleinführungstage ist das so geblieben. Die Hildesheimer Kulturwissenschaft erzielt bei Studienanfängern immer noch den Effekt eines Überraschungseis. Zurück zur Einmaligkeit, oder sagen wir bescheidener, zur Besonderheit der Studiengänge. Sie ist der Motor, der alle und alles, nicht nur in den Gremien auf Trab hält: unablässig muss das eigene Tun begründet und definiert werden, steht zur Debatte, was notwendig und was überflüssig ist, was zum Ganzen gehört und was fehlt, was das Ganze soll und wohin es führt. In den 1980er Jahren wurde der polyästhetische Gesamtanspruch einer umfassenden ästhetischen Bildung, die hehre Generalforderung der Kulturvermittlung als Kulturbeglückung aufs Realmaß des vor Ort Gelehrten und Praktizierten gestutzt: „Wir bilden in einigen Künsten aus“ – also beileibe nicht in allen –, und zwar wissenschaftlich und künstlerisch-praktisch, hieß es damals, Ende der 1980er. Wir bilden „in den Künsten“ aus, aber nicht „für die Künste“, war die Anschluss-Definition. Was heißen sollte, wir bilden keine Künstler aus. Wir bilden Kulturvermittler aus, war die curricular konkretisierte Akzentuierung dieser Definition. Freilich, mit jeder Klärung und der damit verbundenen Fortentwicklung des Studiengangs und der Künste entstanden zugleich wieder neue Unwägbarkeiten. Kunstvermittlung zum Beispiel avancierte zwischenzeitlich zu einer aktuellen Kunstform. Auf der anderen Seite, gleichsam gegenläufig, wurde – ebenso aktuell – die Kunstvermittlung zur eingeforderten Dienst-, Service- und Organisationsleistung. Was also war und ist jetzt gemeint mit Kultur- und Kunstvermittlung als Ausbildungsziel? Der Kulturmanager, der möglichst viele neue Geldquellen anzapft und noch mehr Kultur-Events produziert, oder der postmoderne Avantgarde-Künstler, der den Kulturbetrieb mit innovativen Cross-Over-Kunstereignissen neu arrangiert und aufmischt? Oder doch die Kunst- oder Musikschulleiterin, die in Eigen- und Handarbeit ihren Laden schmeißt, von den Finanzverhandlungen mit dem Ortsbürgermeister über die Raumverteilung für ihre Lehrenden bis zu der von ihr selbst erteilten musikalischen Früherziehung? Soweit die unvollständige, ergänzungsbedürftige Problemskizze des beruflichen Suchbilds, das zur Diskussion steht. Kaum einfacher ist die Bestimmung der Lehrangebote und Lehrinhalte in den verschiedenen Künsten, auch wenn hier das Bildungsziel nicht an Berufsnormen auszurichten ist, ja im Gegenteil diese bewusst
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zu überschreiten sucht, um jenen intellektuellen und ästhetischen universitären Mehrwert zu erreichen, der die Absolventen frei und souverän macht im wissenschaftlichen und künstlerischen Tun, und sie dennoch nicht weltfremd und unbeholfen lässt im Anwendungspraktischen. Die Schwierigkeiten entstehen hier aus derselben Prämisse, die für die Ausbildungsziele gelten. Hildesheimer Kulturwissenschaften denken und praktizieren die Künste und die Kunstwissenschaften von der aktuellen Gegenwart her. Sie lassen sich wagemutig ein auf das, was im ästhetischen Feld als modern, postmodern und postpostmodern offeriert wird. Sie begreifen die Künste als gegenwärtige, um sie dabei auch in ihrer Tradition zu entdecken. Aktuelle Kunstentwicklungen aber sind weder vorhersehbar, noch passen sie ins Schema. Wer sich mit ihnen befasst, sich auf sie einlässt, sie zum Ausgangspunkt nimmt, läuft zwangsläufig hinterher, zumindest curricular. Und er gerät beständig in zwei Gefahren. Die erste: dem nur Zeitgeistigen anheim zu fallen oder von ihm beständig überholt und genarrt zu werden. Die zweite: sich in die Arme der Tradition zu werfen, die Sicherheit zu bieten scheint und doch brüchig ist. Hat man diese kulturwissenschaftliche Skylla und Charybdis vor Augen, ist das Schifflein der Hildesheimer Kulturwissenschaft einen soliden, ja guten Kurs gesteuert. Mutig und wichtig war es Anfang der 1980er, die Kultur nicht nur auf E zu begrenzen, sondern mit der Aufnahme der Populären Kultur ins Boot, E und U gleichermaßen als wichtig und wechselwirksam anzuerkennen. Und als ebenso richtig zeigt sich, der Entwicklung der technischen Medien, also Grafik, Foto, Film, Video, Computer, Internet eine eigene, spezifische Ästhetik und Erfahrung zuzutrauen und sie entsprechend zu positionieren, zuletzt etwa im Studiengang Szenische Künste. Mit der sozialen Kunstform Theater hatten ja, wie eingangs erwähnt, schon die Gründungsväter die ästhetische Integrationskunst schlechthin im Auge, wohl wissend, dass sich auf der Bühne, die heute ja an den verschiedensten Orten aufgestellt ist, alle Künste tummeln, vereinen, wechselseitig akzentuieren und stärken können. Was sie nicht gewusst haben und voraussehen konnten: den Theatralitäts- und Performativitätsschub der letzten Jahre, der zwar von den Theaterwissenschaften mit initiiert und mit reflektiert wurde, aber letztlich in den Darstellungsweisen einer durch die Medien geprägten Konsumgesellschaft gründet. Aber eben weil gesellschaftliche Entwicklungen die Hildesheimer Kulturwissenschaften fundieren, weil diese nicht eindimensional und widerspruchsfrei verlaufen, galt und gilt es immer wieder, auch auf Ge-
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genläufiges, auf Widerständiges zu achten. In alternativen Kunst- und Kulturformen kann es ebenso stecken wie in der Vereinzelung jener, die angehalten und gelehrt werden, wie man schreibt. Mit und gegen den Strom medialer Bilder, den vielzitierten Iconic-Turn, werden freilich heute alle ernst zu nehmenden Künstler produktiv, ob sie allein vor dem leeren Blatt oder dem Computer sitzen, gemeinsam Video oder Theater machen oder sich klang- oder raumbildnerisch betätigen. Aktuelle Kunstproduktion in Praxis und Wissenschaft zu erkunden, eine heutige ästhetische Erfahrung in ihrer Vielheit und Widersprüchlichkeit differenziert auszufalten und zugleich begrifflich zu formulieren, bleibt also, zeitgemäß verwandelt, durchgängiges Bildungsziel der Hildesheimer Kultur-wissenschaften. Denn damit ist das Fundament gelegt für das, was jede Art von Vermittlung braucht: Kunstkompetenz. Das unablässige Nachdenken über Lehrinhalte, Lehrformen, Bildungs- und Ausbildungsziele und deren Veränderung ist freilich nicht sonderlich beliebt. Offenkundig stört es manche Lehrenden genauso wie manche Studierende. Die zuletzt gemeinsam über Fachgrenzen hinaus getroffene, aus der Studiengangsgeschichte und bisherigen Erfahrungen hergeleitete Entscheidung, auf die Bildhauerei ebenso zu verzichten wie auf die Malerei und stattdessen als erstes eine Professur für die Gestaltung des Raums auszuschreiben, war vielen Studierenden und einigen Lehrenden nur schwer zu vermitteln. Einmal deshalb, weil bestimmte Bilder von der Kunst und vom Künstler sich in den Köpfen offenbar unverrückbar festgesetzt haben. Zum andern, weil man dem Prinzip der in Hildesheim praktizierten immer nur exemplarischen Kunstausübung zu wenig vertraut. Fragt man hingegen: „Welche Art von Kunstpraxis macht für KulturwissenschaftlerInnen möglichst viel Sinn, und welche Kunst verzichtet auf ideologischen Ballast wie Künstlergenie und Künstlergetue, und welche ist besonders sozial-kommunikativ und zugleich interdisziplinär vernetzbar?“ kommt man zu ganz anderen Ergebnissen. Die Fotografie zum Beispiel hat es mit professionellen, interdisziplinären Projekten und Ausstellungen vorgemacht, die Raumprofessur kann es in ihrer Weise ihr nach- und anderen Künsten und Kunstwissenschaften vormachen: mit Klang-Installationen, Ausstellungskonzeptionen, Rauminszenierungen und Performances, die wiederum andere Fächer und Künste anregen und einbeziehen. Interdisziplinarität und Intermedialität, das zeigen gerade die Ergebnisse des Projektsemesters, bringen das Hildesheim-Spezifische hervor. Die wahren Liebhaber der Künste, die kunstwilligen und kunstreflexiven Dilettanten also, die hier Kunstwissenschaft betreiben und Kunst machen, schaffen gemeinsam etwas, was andernorts gar nicht möglich
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und nicht zu haben ist, weil zu viele einzelne, echte oder angemaßte Kunstgenies, einander im Wege wären. Insofern arbeiten die Hildesheimer Kulturwissenschaften auch an einem eigenen Kunstbegriff, der von außen oft deutlicher und positiver wahrgenommen wird als von innen. (Ich erinnere nur an das Stichwort vom Chorischen Theater). Die Innensicht der Hildesheimer Kulturwissenschaften ist schwierig. Das gilt für die Außen-Innensicht ebenso wie für die Innen-Innensicht. Mit der Außen-Innensicht sind die Kollegen aus den anderen Fachbereichen und Studiengängen gemeint, mit der Innen-Innensicht die Studierenden und die StudiengangskollegInnen (die leider immer noch zu 96 % Kollegen sind). Letztere, ich schließe mich selbstverständlich ein, sind immer wieder gefährdet, ihre solistische Sicht der Studiengänge absolut setzen zu wollen, oder aber, was schwerer wiegt, den Partner- und Gemeinschaftsbezug zu ignorieren: weder die einzelnen Künste bzw. die daraus hervorgehenden Fächer, noch die einzelnen Studiengänge können als einzelne gedacht werden und bestehen. Die Vernetzung ist zuallererst eine pragmatische Notwendigkeit. Wir haben gar nicht genügend Lehrpersonal, die Studiengänge einzeln zu bestücken. Vernetzung ist aber auch eine der zentralen ideellen Vorstellungen von Anfang an. „Interdisziplinarität“ war nicht nur die Basis der Kulturpädagogik, sie war auch ein im Prüfungsgeschehen hoch gewichteter Studienbereich mit 25 % des Gesamtstudienaufkommens. Trotz der Abschaffung dieses Prüfungsbereichs bzw. seiner Ersetzung durch die Kulturpolitik und Kulturorganisation muss Interdisziplinarität und Verantwortung fürs Ganze in seiner wissenschaftlich-künstlerischen Wechselwirkung weiter gelten. Alleingänge haben in dieser kleinen Universität keine Chance, weil sie bestenfalls ästhetische Duodezfürstentümer ergeben, die bekanntlich keinen sonderlich weiten Horizont haben. Alleingänge sollten aber auch deshalb keine Chance bekommen dürfen, weil dann jene produktive Wechselwirkung zwischen den Künsten und Kunstwissenschaften zum Versiegen käme, die sich ja ohnehin bei den vorhandenen Studienordnungen vor allem in den Köpfen der Studierenden vollziehen muss. Der Beitrag der Studierenden zum Gelingen der Hildesheimer Kulturwissenschaften ist groß, ich habe es eingangs schon angedeutet. Ihr Interesse, ihr Engagement, ihre im Studium wachsende Kunst- und Wissenschaftskompetenz auf unterschiedlichen Gebieten, die sie wieder dem Ganzen zuführen und zugute kommen lassen, ist ein großes Kapital der Hildesheimer Studiengänge. Um so mehr haben Lehrende und Studierende ein wachsames Auge auf die Studieneffizienz zu richten. Sie ist formal seit der Evaluation gewachsen. Mit der Voranstellung der Diplomarbeit werden wir demnächst auch statistisch gut dastehen.
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Also: Studienzeiten im grünen Bereich! Wo ich mir, was das Ergebnis betrifft, nicht so sicher bin, ist ein zunehmend häufiger anzutreffendes Studienverhalten, das die Studiengänge unterminieren könnte. Immer mehr Studierende nutzen ihr Studium nach dem Vor-Diplom nicht mehr optimal: Nach dem obligaten und selbstverständlich fördernswerten Auslandssemester im 5. oder 6. wird das Haupt-Studium oft nur noch selektiv betrieben. Unser Anforderungs- und Schein-System erlaubt das. Noch! Gestärkt und bestätigt aus manchem Praktikum außerhalb der Universität, verlockt durch frühe Avancen von Kunst- und Kulturinstitutionen, verführt von der großen und verständlichen Lust, sich selbst in eigenen, freien Projekten zu profilieren, wird das Studium oft zweitrangig. Das, so meine ich, ist der falsch verstandene Praxisbezug. Nichts gegen das eigene Erproben, nichts gegen die Folgen der Praktika – sie führen ja oft zu festen beruflichen Tätigkeiten. Aber die Gewichtung muss stimmen. Und vor allem: was man im Feld der Lektüre und des Wissens, der Wissenschaften und der Theorie versäumt hat, wird sich später nur schwer einholen lassen. Das richtig gewichtete Theorie-Praxis-Verhältnis – das gilt nicht zuletzt für die Studierenden. Wechseln wir die Perspektive und die Zielgruppe der Kritik. Die Probleme bei den Vertretern der Außen-Innensicht liegen ganz anders. Von Kultur und Kunst meinen alle hinreichend Gebildeten etwas zu verstehen. Und welcher unserer geschätzten Kollegen wäre nicht gebildet? Also mischt man sich, das war von Anfang an so, nicht nur mit wohlmeinenden Ratschlägen ein. Bei keiner Informatikstelle, die im FB III ausgeschrieben wird, würde den Kollegen aus FB I oder II auch nur in den Sinn kommen, ein Komma des Ausschreibungstextes verändern zu wollen. Nicht so bei den Kulturwissenschaften. Da werden viele gerne tätig, oft ohne zu ahnen, dass es sich hier, soll die Sache gelingen, ebenso um Fein- und Präzisionseinstellungen handelt wie beim mathematischen oder betriebswirtschaftlichen Geschäft. Wie einzelne Fächer und das große Ganze konzipiert, austariert und inspiriert werden, hängt vor allem von Personen und geglückten Personenkonstellationen ab. Ob diese ihre wissenschaftliche oder künstlerische Eigenheit einer gemeinsamen offenen und lebendigen Idee verpflichten und wie sie zu anderen ins Studienprofil, also in die vorgegebene Struktur passen, das ist und bleibt das Entscheidende. Und diese Struktur lautet, zum wiederholten Male sei es hier gesagt, wissenschaftlich-künstlerisch. Wer diese magische Formel, die das Kernstück des Hildesheimer Erfolges ist, einseitig außer Kraft setzt, schadet dem Studiengang. Das heißt, er macht ihn vielen anderen gleich. Das muss man wissen, wenn man für die Zukunft planen will.
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Nicht häufig ist die Einheit von Wissenschaft und Kunst in einer Lehr-Person inkarniert. Und nicht in allen Kunstsparten ist diese doppelte Einheit möglich oder gar Tradition. Also ist darauf zu achten, dass nicht nur das Gleichgewicht zwischen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen im Studiengang stimmt, sondern auch, was fast noch wichtiger ist, dass sie miteinander reden und arbeiten können und wollen. Der kunstsinnige, kunsterfahrene, kunstbesessene Wissenschaftler ist dabei ebenso das Suchbild wie die reflektierte, formulierungsfähige, nachdenkliche Künstlerin. Und für beide gilt gleichermaßen: kommunikative Tauglich- und Lebendigkeit. Denn nur das ermöglicht gemeinsame Gespräche und gemeinsame Arbeit. All das passt wenig ins akademische Gelände. Die Wahrnehmungsdispositive, wie es im wissenschaftlichen Antragsdeutsch heute heißt, sind dort auf ganz andere Parameter gerichtet. Akademische Grade müssen absolviert sein und vorgewiesen werden. Drittmitteltauglich muss die einzustellende Person erscheinen (im Klartext: was holt der oder die KandidatIn durch Forschungsprojekte in den großen Topf der Stiftungsuniversität), dissertationsvermehrend muss sie wirken, will man künftigen Hochschulfinanzierungsmodellen genügen (Stichwort: formel-gebundene Mittel-zuweisung). Dass eine forschende Kunstund Vermittlungspraxis in diesem Kriterienkatalog ebenso wenig vorkommt wie die Frage, ob man künstlerische und wissenschaftliche Leistungen nicht auch promovieren und habilitieren könnte, dass man bei DFG-Anträgen den Praxisbezug eines Forschungsprojekts tunlichst zu verschweigen hat, zeigt die Grenze der Entwicklungsmöglichkeit eines wissenschaftlich-künstlerischen Unikat-Studiengangs wie den in Hildesheim. Jene Studiengänge also, die zum besonderen Profil der sogenannten Profil-Universität Hildesheim entscheidend beitragen, sind und bleiben, so das Zwischenfazit, von innen und außen gefährdet: von jenen, die nicht sehen wollen oder können, dass wissenschaftlich-künstlerisch mehr als eine curriculare Formel ist, nämlich ein immer wieder neu zu erringendes und zu verlebendigendes doppeltes Ziel. Und von jenen, in deren Universitätskonzept und -verständnis so viel Individualität gar nicht vorkommt, die unterschiedlichste Forschungen, Lehrformen und Lehrinhalte über den akademisch gleichen Leisten schlagen wollen. Die Peers unserer ersten so positiv verlaufenen Evaluation, Prof. Lämmert und Prof. Glaser, haben das Problem übrigens mit aller Deutlichkeit schon vor einigen Jahren gesehen und es auf die schwierige Nachwuchsfrage fokussiert. Im Grunde – so ihre Einschätzung –
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müssen die Hildesheimer kulturwissenschaftlichen Studiengänge ihre künftigen Lehrenden selbst hervorbringen, müssten sie eine eigene Wissenschaftsform paradigmatisch bundesweit bekannt machen und zur Diskussion stellen, weil es Vergleichbares ja nicht gebe. Suchen wir den Vergleich im überregionalen und internationalen Kontext, kann das Hildesheimer kulturwissenschaftliche Konzept bestehen, weil es, wie kaum eine andere deutsche Kulturwissenschaft, die „Verantwortung für ästhetische Erfahrung“ nicht nur auf dem Papier übernommen hat. Sie wird hier forschend praktiziert. „Verantwortung für ästhetische Erfahrung“ war nämlich das erste, ja primäre von vier Essentials, das unsere Stiftungsrätin, die Konstanzer Professorin Aleida Assmann, unlängst hier vor Ort als Voraussetzung und Ziel einer heutigen Kulturwissenschaft definiert hat. Zu deren Merkmalen zählte sie außerdem die „Verantwortung für die Sprache“, die uns nicht nur den Zugang zur Welt ermögliche, sondern die als sprachliche Darstellung erst Kultur schaffe. Nur mit ihrer Hilfe sei jene aktive kulturelle Erinnerungsarbeit möglich, die – Essential Nr. 3 – das kulturelle Gedächtnis sichere, in einer Zeit, die „Gegenwartschrumpfung“ (Lübbe) betreibe in immer schnellerer Historisierung des Vergangenen. Schließlich als 4. Merkmal: die „Verantwortung für kulturelle Besonderheiten“, die in Zeiten der Globalisierung und Immigration sichtbar werden müssten, um ein produktives Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem herzustellen. Sozial- und Kulturwissenschaften seien auf diesem vierfüßigen Fundament zuständig für Orientierungswissen, das in Zeiten der Weltunordnung zunehmend wichtig werde, ja zur „Sinnstiftung“ beitragen könne. Die Hildesheimer Kulturwissenschaften tragen ihr Scherflein bei zu solch weit gefasster Aufgabenstellung. Sie sehen sich nachdrücklich bestätigt in der Feststellung und Herleitung Assmanns, dass Kulturwissenschaft keine Schule und kein Forschungsparadigma sei, dass aus der Krise der Humanities, bei uns Geisteswissenschaften genannt, unter anderem die Cultural Studies erwachsen seien, die einem elitären Kunstbegriff mit der Ausweitung in die Pop-Kultur begegneten und dass der Kanon der Überlieferung durch verschiedenste gesellschaftliche Entwicklungen „hinweggefegt“ sei. Mit Hilfe von Kunstpraxis und Kunsttheorie unseren Standort in der gesellschaftlichen Gegenwart zu bestimmen, in Erfahrung bringen zu wollen, wo wir stehen, sind Selbstbeschränkung und hohes Ziel zugleich. Die Konzentration auf das Ästhetische hat im Hildesheimer Modell eine besondere Ausformung: zu erproben und zu wissen, was das Ästhetische heute ist und bedeutet, und in Erfahrung zu bringen,
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wie das Ästhetische das Heute, also die Gegenwart zur Anschauung und Evidenz bringt, ist mehr als ein Spiel. Es ist sinnliche Erkenntnis, die, wie Assmann es fordert, diagnostische Selbsterfahrung der Gesellschaft betreibt. Dass diese in Hildesheim oft spielerisch daher kommt, tut dem Ernst der Sache keinen Abbruch, im Gegenteil. Es zeigt nur, dass sinnliche Erkenntnis auch ein Vergnügen und eine Lust sein kann, ganz im Sinne von Altvater Brecht. Und es zeigt zugleich, dass in den Hildesheimer Kulturwissenschaften ein pädagogisches und didaktisches Konzept wirksam ist, das die Beteiligten dahin bringt, sich auf leichte und ernste Weise einzulassen, ja einzubringen auch in weit entfernte, zunächst scheinbar entlegene Bereiche. Im kommenden Projektsemester wird ein zentrales Projektthema Antike intermedial sein. Vier Institute, vier Kunstdisziplinen finden sich unter diesem Themendach zusammen: die Musik, die Fotografie und Szenografie, die Medien und das Theater. Und ich bin nicht nur sicher, dass „Themen wie Medien, Anthropologie, Körper, Gesellschaft, Theatralität oder Fremdheit“ hier in ihrer für unsere Gesellschaft zunehmend gewachsenen Relevanz sichtbar werden, wie Claudia Bentin und Hans Rudolf Velden dies in ihrer Einführung in neue Theoriekonzepte der Kultur-wissenschaften konstatieren. Ich bin mir auch sicher, dass eben diese Themen in diesem Projekt ihre konkret sinnliche Ausformung und Reflexion der vergnüglichen und verstörenden Hildesheimer Kunstart finden werden. In Teilprojekten wie z.B. Freischwimmen! Mit Medea im Blutbad, im Swimmingpool der Domäne, oder in www.Odysseus zu Hause.de, oder in Antike Körper neu belichtet, oder in Platons Höhle oder in Hotel Europa, oder in Elektras elektrische Störungen. Dort ist – so scheint es mir – die kulturelle Erinnerung am lebendigsten, wo sie dazu taugt, die Gegenwart neu zu entdecken und zu formulieren. Freuen wir uns aufs nächste Projektsemester im Sommer 2004! Und wünschen wir der Hildesheimer Kulturwissenschaft eine gute Zukunft! Vielen Dank!
Kulturwissenschaften und Künste an der Universität Hildesheim Chronik 1979-2016 1979
Studiengang „Kulturpädagogik“
Einrichtung des künstlerisch-wissenschaftlichen Diplomstudiengangs „Kulturpädagogik“ an der damaligen Wissenschaftlichen Hochschule Hildesheim im Rahmen des Modellversuchs „Konzeption und Entwicklung berufsqualifizierender Alternativen zur Lehrerausbildung“ (KEBAL), als deutschlandweit erster grundständiger Studiengang, der künstlerische und wissenschaftliche Praxis in der kulturwissenschaftlichen Forschung und Ausbildung verbindet. 1981
FB „Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation“
Nach dreisemestriger Erprobungsphase wird der Studiengang ohne weitere Befristung fest etabliert, mit der Gliederung der Hochschule in zwei Fachbereiche wird der Fachbereich II „Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation“, sowie das kulturwissenschaftliche „Institut für ästhetische Erziehung und Kulturpädagogik“ eingerichtet. 1981
Einrichtung der deutschlandweit ersten Professur für Kulturpädagogik.
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Professur für Populäre Kultur
Einrichtung der deutschlandweit ersten Professur für Populäre Kultur. 1984
Künstlerische Befähigungsprüfung
Die Höhe der Bewerberzahlen macht eine künstlerische Befähigungsprüfung zur Aufnahme notwendig.
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CHRONIK 19792016
1989 Kulturwissenschaftliche Institute „Praktische Diplomarbeit“ Die wissenschaftliche Hochschule Hildesheim wird 1989 zur Universität Hildesheim, das „Institut für ästhetische Erziehung und Kulturpädagogik“ differenziert sich in die einzelnen Institute: – Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft – Institut für Medien und Theaterwissenschaft – Institut für Deutsche Sprache und Literatur − Institut für Musik und Musikwissenschaft Als Form der Abschlussarbeit wird neben der herkömmlichen wissenschaftlichen Arbeit die „Praktische Diplomarbeit“ eingeführt, in der ein konkretes künstlerisches Projekt im Mittelpunkt steht, das ausgehend von der eigenen Praxis produktionsästhetisch reflektiert wird. 1992 Einführung der Projektsemester Mit dem Projektsemester wird eine besondere Lehr- und Forschungsform etabliert, in der fachbereichsweit unter gemeinsamen Problemstellungen wissenschaftlich angeleitete und anschließend evaluierte künstlerische Produktionen entstehen. 1992 Projektsemester: − „Kafkas Amerika – Erzähltheater in sechs Stationen“ − „Architektur der 50er Jahre in Hildesheim“ 1994 Projektsemester und Theaterfestival Projektsemester: − „Café Deutschland“ − „transeuropa 94“ (Planung Organisation und Ausrichtung eines Theaterfestivals) − „Schreibwerkstatt Kindertheater“ Ausrichtung des 1. Europäischen Theaterfestivals transeuropa, das seitdem alle drei Jahre stattfindet. 1995 Graduiertenkolleg 1995-2001 DFG-Graduiertenkolleg „Authentizität als Darstellungsform“
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1996 Projektsemester Projektsemster: – „Faust II“ 1997 Theaterfestival 2. Europäisches Theaterfestival transeuropa 1998 Institut für Kulturpolitik / Projektsemester Gründung des Instituts für Kulturpolitik und Einrichtung der deutschlandweit ersten und bis heute einzigen Professur für Kulturpolitik. Projektsemester: − „James Bond?“ Ausstellungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Roemer-Pelizaeus Museum − „Neun Reisen in die Welt der theatralen Zeichen unter der Anleitung der Herren Artaud, Craig, Barthes, Meyerhold, Genet, Kleist und Brecht“ 2000 Projektsemester und Theaterfestival Projektsemester: – „Babylon“ 3. Europäisches Theaterfestival transeuropa 2001 BA-Studiengang „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ BA-Studiengang „Szenische Künste“ BA-Studiengang „Kreatives Schreiben“ Umbenennung des Studiengangs „Kulturpädagogik“ in „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“, die der Ausrichtung- und Studienrealität Rechnung trägt. Einrichtung der zwei neuen, spezialisierten kulturwissenschaftlichen Studiengänge „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ sowie „Szenische Künste“. Die Hildesheimer Kulturwissenschaften ziehen auf die Domäne Marienburg.
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2002 Projektsemester Projektsemester: – „Vision 1800 – Theater 2002“ 2003 Theaterfestival 4. Europäisches Theaterfestival transeuropa 2004 BA Studiengang „Philosophie – Künste – Medien“ Projektsemester Start des BA Studiengangs „Philosophie – Künste – Medien“. Deutschlandweit der erste Studiengang, in dem das Hauptfach Philosophie programmatisch in Kombination mit zumindest einer Kunst (Theater / Literatur / Musik / Bildende Kunst / Medien) studiert wird. Projektsemester: – „Antike intermedial“ 2005 Festival für junge Literatur Prosanova – 1. Festival für junge Literatur 2006 Projektsemester und Theaterfestival Projektsemester: – „Kollektiv-Körper“ 5. Europäisches Theaterfestival transeuropa 2008 MA Studiengang „Philosophie der Künste und Medien“ BA Studiengang „Kreatives Schreiben“ BA Studiengang „Szenische Künste“ BA Studiengang „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ Der MA Studiengang „Philosophie der Künste und Medien“ wird eingeführt. Neben diesem Studiengang werden die alten Diplom-Studiengänge in die BA-Studiengänge „Kreatives Schreiben, Szenische Künste und Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ umgewandelt. Projektsemester:
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– „Re:“ Prosanova – 2. Festival für junge Literatur 2009 Gründung des „Herder-Kollegs – Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung“ „State of the Art“ (studentische Plattform) Das Institut für Philosophie wechselt in den Fachbereich II „Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation“. Die BA und MA Studiengänge Philosophie – Künste – Medien werden unter dem gleichen Namen akkreditiert. Das „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ differenziert sich in die Institute „Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ (FB II) und „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ (FB II, Lehramtsausbildung). 10. Oktober 2009 Gründung des „Herder-Kollegs – Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung“. Im Herder-Kolleg werden die Forschungsaktivitäten des Fachbereichs II reflektiert und gebündelt weiterentwickelt. 6. Europäisches Theater- und Performancefestival transeuropa 1. Ausgabe von: State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen (jährlich im Oktober) 2010 Projektsemester: – „Glauben machen“ 2. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen
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2011 MA-Studiengang „Inszenierung der Künste und der Medien“ MA-Studiengang „Literarisches Schreiben und Lektorieren“ MA-Studiengang „Kulturvermittlung“ Akkreditierung der MA-Studiengänge: „Inszenierung der Künste und der Medien“, „Literarisches Schreiben“ und „Lektorieren/Kulturvermittlung“ 3. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen 2012 Projektsemester: – „Arbeit(er)finden“ 7. Europäisches Theater- und Performancefestival transeuropa 4. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen 2013 5. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen 2014 Projektsemester: – „Verschwendung“ Prosanova – Festival für junge Literatur 6. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen 2015 8. transeuropa – Europäisches Festival für performative Künste 7. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen Akkreditierung des MA Studiengangs „Philosophie und Künste interkulturell“ (neuer Studiengangstitel)
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2016 Projektsemester: – „Aussetzen“ 8. State of the Art – Plattform für freie studentische Produktionen
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Über die Autoren ROLF ELBERFELD ist seit 2008 Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, interkulturelle Ethik/Ästhetik, Kulturphilosophie, Philosophie des Leibes und der Interkulturalität. Publikationen u.a.: Kitarō Nishida (18701945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität (1999); Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens (2004). Editionen: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa (Hg. m. Günter Wohlfart, 2000); Komparative Ethik. Das Gute Leben zwischen den Kulturen (Hg. m. Günter Wohlfart, 2002); Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida (2006); Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung (2012). HARTWIN GROMES, Professor i.R. für Schauspieltheorie und Schauspielpraxis an der Stiftung Universität Hildesheim sowie Theaterdramaturg u.a. in Münster, Wiesbaden, Düsseldorf und Bonn. Publikationen u.a.: Theatertheorie szenisch – Reflexionen eines Theaterprojekts (Hg. m. Hajo Kurzenberger, 2000); Theater studieren (Hg. m. Wolfgang Sting, 2005) sowie Aufsätze u.a. zu Bertolt Brecht, Fritz Kortner, Peter Brook sowie zur Schaubühne am Halleschen Ufer. JOHANNES SALIM ISMAIEL-WENDT ist Professor für Systematische Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Musiksoziologie an der Stiftung Universität Hildesheim. Publikationen u.a.: tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkoloniale Analyse (2011); Translating Hip Hop (Hg.m. Detlef Diederichsen u. Susanne Stemmler, 2012); A Talking Book. Essays zu Inszenierungen Stevie Wonders (Hg. m. Jasmin Osmanovic und Marina Schwabe, 2016); post_PRESETS. Kultur, Wissen und MusikmachDinge (2016). BARBARA HORNBERGER ist Professorin für Didaktik Populärer Musik an der Hochschule Osnabrück. Von 2006 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Populäre Musik, Theorie und Praxis der Populären Kultur, Kulturgeschichte des Populären, Didaktik des Populären. Publikationen u.a.: „Geschichte
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ÜBER DIE AUTOREN
wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik“ (2011); „Rohe Beats, harte Sounds. Konstruktionen von Aggressivität und Gender in populärer Musik“, in: Jahrbuch Musik und Gender, (Hg. m. Florian Heesch, 2016); „Bildungspotenziale populärer Kultur. Plädoyer für eine Didaktik des Populären“, in: Tom Braun/Max Fuchs (Hg.), Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung. Grundlagen, Analysen, Kritik (2016); „Einschließen, ausschließen. Eine Skizze zur Vermittlung populärer Musik vor dem Hintergrund von Honneths Konzept von Anerkennung“, in: Michael Ahlers (Hg.), Popmusikvermittlung. Theorie und Praxis der Musikvermittlung (2015). HANS-OTTO HÜGEL, Professor i.R. für Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Publikationen u.a.: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen (2003); Lob des Mainstreams. Zur Geschichte und Theorie von Unterhaltung und Populärer Kultur (2007). STEFAN KRANKENHAGEN ist Professor für Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Darstellung von Geschichte in populären Medien, Sport- und Fankultur, Diskurse der Moderne. Publikationen u.a.: De-/Professionalisierungen in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens (Hg. m. Jens Roselt, 2017); Exhibiting Europe: Institutions, People, Collections and Narratives in History Museums (Hg. m. Wolfram Kaiser und Kerstin Poehls); „Aus der Pop-Provinz“, in: Mittelweg 36 (2016); „Von der Kunst, Auschwitz darzustellen“, in: Merkur (2016). HAJO KURZENBERGER, Professor i.R. für Theorie und Praxis des Theaters der Stiftung Universität Hildesheim sowie Dramaturg und Theaterregisseur in Mannheim, Heidelberg, Berlin und Zürich. Publikationen u.a.: Der kollektive Prozess des Theaters (2009), Jossi Wieler. Theater (2011); Wirkungsmaschine Schauspieler (2011); Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell (2014). ANNEMARIE MATZKE ist Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Stiftung Universität Hildesheim und Performancekünstlerin. Sie ist Gründungsmitglied des Performancekollektivs She She Pop. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Theaterprobe, Gegenwartstheater, Schauspielformen, theatrale Raumkonzepte. Publikationen u.a.: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte
ÜBER DIE AUTOREN
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der Probe (2012); Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft (Hg. m. Christel Weiler und Isa Wortelkamp, 2012); Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien (Hg. m. Ulf Otto und Jens Roselt, 2015). ULF OTTO ist Post-Doc und Dilthey-Fellow am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim und Vertretungsprofessor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Konvergenzen von Theater- und Technikgeschichte, Gesten und Genealogien des Reenactments, Theatralität der digitalen Medien, mediale Versuchsanordnungen im zeitgenössischen Theater. Publikationen: Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments (Hg. m. Jens Roselt, 2012); Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien (2013). Das Habilitationsprojekt beschäftigt sich mit der Elektrifizierung des Theaters und der Theatralität der Elektrizität im ausgehenden 19. Jahrhundert. MATTHIAS REBSTOCK ist Professor für Szenische Musik an der Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich mit Formen der Inszenierung von Musik, insbesondere mit Formen des musikalisierten Theaters, Musiktheaters und der Oper, sowie der Geschichte und Ästhetik der Neuen Musik. Zuletzt erschienen ist Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes (2012, Hg. mit David Roesner). Er arbeitet zudem als Regisseur im Bereich des Neuen Musiktheaters. Schwerpunkt seiner Arbeit bilden Stückentwicklungen im Grenzbereich zwischen Musik und Theater sowie Uraufführungen im Spektrum von szenischen Konzerten bis neuen Opern. Regiearbeiten u.a.: Office for postidentical living, zusammen mit Tilman Rammstedt, Marc Rosich und Raquel GarcíaTomas, GREC Festival Barcelona 2016; Utopien von Dieter Schnebel, Uraufführung Münchner Biennale für neues Musiktheater mit den Neuen Vocalsolisten, München 2014; Expedition Freischütz zusammen mit Michael Emanuel Bauer, Staatsschauspiel Dresden 2014; Neither von Morton Feldman, Theater Bern 2013; Fernweh. Aus dem Leben eines Stubenhockers, zusammen mit Hermann Bohlen und Michael Emanuel Bauer, Neuköllner Oper 2012; Die Geisterinsel, Uraufführung der Oper von Ming Tsao, Staatsoper Stuttgart 2011. SIMON ROLOFF ist Kultur- und Literaturwissenschaftler. Er hat an der HU Berlin und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert. Er promovierte zu Robert Walser an der Bauhaus-Universität Weimar und
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ÜBER DIE AUTOREN
war wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“. Seit 2014 ist er Juniorprofessor für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim. CHRISTIAN SCHÄRF ist Direktor am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Literarisches Schreiben, neuere und neueste Literaturgeschichte, Mediengeschichte der Schrift und des Schreibens. Zuletzt erschienen ist sein Roman Die Reise des Zeichners (2016). BETTINA UHLIG ist Professorin für Kunstpädagogik und Didaktik der Bildenden Kunst an der Stiftung Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: kindliche Bildsprache, Kunst- und Bildvermittlung, Bilderbuchforschung. Publikationen u.a.: „Vom Anfang der Bilder. Bildgespräche mit Kindern“, in: Sprechende Bilder – Besprochene Bilder. Bild, Begriff und Sprachhandeln in der deiktisch-imaginativen Verständigungspraxis, Bd. 3 der Reihe IMAGO. Kunst-Pädagogik-Didaktik (Hg. m. Alexander Glas/Ulrich Heinen/Gabriele Lieber/Monika Miller und Hubert Sowa, 2016); „Bildkonzepte von Kindern“, in: Roswitha Staege (Hg.), Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit (2016); „Zeichnenwollen und Zeichnenkönnen. Zeichendidaktische Notate“, in: Barbara Lutz-Sterzenbach und Johannes Kirschenmann (Hg.), Zeichnen als Erkenntnis. Beiträge aus Kunst, Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik (2014).