Krisengeschichte(n): „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive 3515096590, 9783515096591

Krisen sie bezeichnen das, was eigentlich undenkbar ist: Die Ereignisse überschlagen sich, werden als unkalkulierbar wah

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German Pages 432 [438] Year 2013

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT UND DANKSAGUNG
KRISENGESCHICHTE(N). „KRISE“ ALS LEITBEGRIFF UND ERZÄHLMUSTERIN KULTURWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE – EINE EINFÜHRUNG
I. DIE „KRISE“ ALS LEITBEGRIFF IM TRANSDISZIPLINÄREN DISKURS
DER BEGRIFF DER KRISE IN DER PSYCHOLOGIE
KRISE AUS EINER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLICHEN PERSPEKTIVE.
VON DER NATURKATASTROPHE ZUR MODERNISIERUNGSKRISE?
KRISE ALS ERZÄHLUNG UND METAPHER:
ZWISCHEN NORMABWEICHUNG UND REVOLUTION – ‚KRISE‘ IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
II. DIE „KRISE“ ALS MODELL ZUR DEUTUNG VON GESCHICHTE UND DIE HERMENEUTISCHEN KONSEQUENZEN SOLCHER „KRISENGESCHICHTEN“
A. WIE LÄSST SICH DIE KRISE BEGREIFEN? BEGRIFFE, KONZEPTE UND ERZÄHLMUSTER
VORMODERNE SATTELZEIT? DISASTRO, KATASTROPHE, STRAFGERICHT – WORTE, BEGRIFFE UND KONZEPTE FÜR RAPIDEN WANDEL IM LANGEN MITTELALTER
ALTE BÜCHER FÜR NEUE KRISEN. DIE SALLUST-REZEPTION IN DER SPÄTMITTELALTERLICHEN CHRONISTIK
„UNSAGBARES GRAUEN". ERZÄHLMUSTER DER MEDIENBERICHTERSTATTUNG ÜBER DIE EXPLOSIONSUNGLÜCKE BEI DER BASF 1921 UND 1948
RISIKOVERHALTEN UND ‚STÖRFALLKRISEN‘ IN DER CHEMISCHEN INDUSTRIE. EINE UNTERNEHMENSGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVE
B. WIE LÄSST SICH DIE KRISE DEUTEN? AUFSTIEG UND NIEDERGANG ALS INTERPRETATIONSMODELLE
DAS HOCHMITTELALTER ALS KRISE? EIN ESSAY ZUM PROFIL INSTITUTIONELLER STRUKTUREN
WIE DIE KRISE DEN NIEDERGANG ALS REFORM ERFASST. DER DISKURS ÜBER ZEITGENÖSSISCHE REPUBLIKEN UM 1700
DIE DARSTELLUNG DER ‚TERRORISMUS-KRISE‘ IM NEUEN DEUTSCHEN FILM DER 1970ER JAHRE
C. WIE LÄSST SICH DER KRISE BEGEGNEN? RISIKO- UND EXPERTENDISKURSE
MACHT DER STERNE, ALLMACHT GOTTES ODER LAUNE DER NATUR?
„KRISENKOMMUNIKATION“. MODELLBILDUNG UND DAS EMPIRISCHE BEISPIE LDER TEUERUNGSKRISEN 1770/72, 1816/18, 1845/46 IM SÜDWESTDEUTSCHEN RAUM
„AUF MEINE SEELE LEGTE SICH WIE EIN ALP DIE IN LETZTER ZEIT SO HÄUFIG WIEDERKEHRENDE FURCHTVOR EINEM NAHENDEN UNHEIL." KRISENSTIMMUNG UND GEWALT IN DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA
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Krisengeschichte(n): „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive
 3515096590, 9783515096591

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Carla Meyer / Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk (Hg.)

Krisengeschichte(n) „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Geschichte Franz Steiner Verlag

VSWG – Beihefte 210

Carla Meyer / Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk (Hg.) Krisengeschichte(n)

vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet

band 210

Carla Meyer / Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk (Hg.)

Krisengeschichte(n) „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Die vier apokalyptischen Reiter aus der Apokalypse von Albrecht Dürer (Detail), 1498. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09659-1

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort und Danksagung ................................................................................

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Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung ............................ Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk

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I. DIE „KRISE“ ALS LEITBEGRIFF IM TRANSDISZIPLINÄREN DISKURS........................................................................................................ Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk

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Der Begriff der Krise in der Psychologie ........................................................ Jürgen Straub Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive. Einige Überlegungen zur Entwicklung eines Terminologiesystems und zur Eignung organisationstheoretischer Erklärungsansätze ..................... Michael Hülsmann, Philip Cordes Von der Naturkatastrophe zur Modernisierungskrise? Ein ethnologischer Blick auf kulturspezifische Varianten im Umgang mit Erdbeben und Tsunamis ........................................................ Annette Hornbacher

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Krise als Erzählung und Metapher: Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie von Krisen .................................. 117 Ansgar Nünning Zwischen Normabweichung und Revolution – ‚Krise‘ in der Geschichtswissenschaft ............................................................ 145 Jan Marco Sawilla II. DIE „KRISE“ ALS MODELL ZUR DEUTUNG VON GESCHICHTE UND DIE HERMENEUTISCHEN KONSEQUENZEN SOLCHER „KRISENGESCHICHTEN“ ........................................................................... 173 A. WIE LÄSST SICH DIE KRISE BEGREIFEN? Begriffe, Konzepte und Erzählmuster ............................................................. 175 Gerrit Jasper Schenk Vormoderne Sattelzeit? Disastro, Katastrophe, Strafgericht – Worte, Begriffe und Konzepte für rapiden Wandel im langen Mittelalter ....... 177 Gerrit Jasper Schenk

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Alte Bücher für neue Krisen. Die Sallust-Rezeption in der spätmittelalterlichen Chronistik ............................................................ 213 Carla Meyer „Unsagbares Grauen“. Erzählmuster der Medienberichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948 ........................... 249 Katja Patzel-Mattern Risikoverhalten und ‚Störfallkrisen‘ in der chemischen Industrie. Eine unternehmensgeschichtliche Perspektive ............................................... 281 Thilo Jungkind B. WIE LÄSST SICH DIE KRISE DEUTEN? Aufstieg und Niedergang als Interpretationsmodelle ...................................... 303 Carla Meyer Das Hochmittelalter als Krise? Ein Essay zum Profil institutioneller Strukturen .............................................................. 305 Christoph Dartmann Wie die Krise den Niedergang als Reform erfasst. Der Diskurs über zeitgenössische Republiken um 1700 ..................................................... 325 Urte Weeber Die Darstellung der ‚Terrorismus-Krise‘ im Neuen Deutschen Film der 1970er Jahre ............................................................................................. 341 Cordia Baumann C. WIE LÄSST SICH DER KRISE BEGEGNEN? Risiko- und Expertendiskurse ......................................................................... 359 Katja Patzel-Mattern Macht der Sterne, Allmacht Gottes oder Laune der Natur? Astrologische Expertendiskurse über Krisen und Naturrisiken im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit ............................................................................. 361 Christian Rohr „Krisenkommunikation“. Modellbildung und das empirische Beispiel der Teuerungskrisen 1770/72, 1816/18, 1845/46 im südwestdeutschen Raum ............................................................................ 387 Clemens Zimmermann „Auf meine Seele legte sich wie ein Alp die in letzter Zeit so häufig wiederkehrende Furcht vor einem nahenden Unheil.“ Krisenstimmung und Gewalt in Deutsch-Südwestafrika ............................................................ 407 Dominik J. Schaller Register ........................................................................................................... 425

VORWORT UND DANKSAGUNG Der vorliegende Sammelband „Krisengeschichte(n). ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ vereint Vorträge der gleichnamigen Tagung, die im Juli 2009 im Karl Jaspers Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Heidelberg stattgefunden hat. Sie wurde von der Junior Research Group A6 „Cultures of Disaster“ des Clusters „Asia and Europe in a Global Context“, der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Historischen Seminars und dem Institut für Fränkisch Pfälzische Geschichte und Landeskunde an der Universität Heidelberg veranstaltet. Nicht alle, die mit ihren Überlegungen die Tagung bereichert haben, veröffentlichen diese auch in dieser Publikation. Dies gilt für Cornelia Knab, Michael North, Karl Siegbert Rehberg, Heinz Reif und Harald Welzer. Dafür gelang es, neue Autoren zu gewinnen. Jan Marco Sawilla widmet sich dem Krisenbegriff in der Geschichtswissenschaft, Christoph Dartmann nimmt das 12. Jahrhundert als Krisenzeit oder Epoche des Aufbruchs in den Blick und Clemens Zimmermann diskutiert Formen der Krisenkommunikation am Beispiel von Teuerungskrisen in Südwestdeutschland. Ihre Beiträge integrieren sich in die transdisziplinären und epochenübergreifenden ReÁexionen über Krise als Leitbegriff historischer Deutung wie auch wissenschaftlicher Forschung. Ohne die großzügige Ànanzielle Unterstützung durch Mittel des Clusters „Asia and Europe“ sowie der dritten Säule der Exzellenzinitiative wären der wissenschaftliche Austausch sowie die Drucklegung seiner Ergebnisse nicht möglich gewesen. Aber auch zahlreiche Einzelpersonen haben das Gelingen der Tagung wie auch des Sammelbandes befördert. Unser besonderer Dank gilt zunächst dem Herausgeber der Beihefte der Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Günther Schulz, für die freundliche Aufnahme in die Reihe. Mit großem Engagement sowohl zur Vorbereitung und Durchführung der Tagung wie auch zur Korrektur des Sammelbandes beigetragen haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller drei veranstaltenden Institutionen. Übersetzungsarbeiten im Rahmen der Tagungsvorbereitung übernahmen Ewa Sowula und Vrushali Deshpande. Für die Presseund Öffentlichkeitsarbeit waren Barbara Kramp und Iris Mucha vom Cluster „Asia and Europe“ zuständig. Wir freuen uns, nach manchen „Krisen“-Sitzungen nun die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit vorzulegen und hoffen, dass unsere „Krisengeschichte(n)“ das Nachdenken über die Konstruktivität der wissenschaftlichen wie öffentlichen Rede vom Niedergang, Kollaps und Desaster befruchten möge. Heidelberg, im Juni 2012

Carla Meyer Katja Patzel-Mattern Gerrit Jasper Schenk

KRISENGESCHICHTE(N). „KRISE“ ALS LEITBEGRIFF UND ERZÄHLMUSTER IN KULTURWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE – EINE EINFÜHRUNG Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk „Wenn es nicht zu weit gehen würde, könnte man sich z. B. damit befassen, was der Begriff ‚Krise‘ alles auf dem Kerbholz hat, welche Gebrauchsspuren er zeigt, welchen Herren er im Laufe seiner historischen Karrieren gedient und welche er vom Thron zu stoßen geholfen hat, kurz: was er an- und ausgerichtet hat.“1

Krisen – sie bezeichnen das, was eigentlich undenkbar, unsagbar ist und als überraschend wahrgenommen wird: Unvorhersehbar scheinen sie Menschen zu treffen und aller Sicherheiten zu berauben.2 Der Wendepunkt steht noch bevor: Die Krise herrscht, wenn nicht absehbar ist, ob sich alles zum Guten oder Schlechten kehrt. Diese quälende Offenheit der Situation steht im Widerspruch zu den festen narrativen Mustern, mit denen krisenhafte und katastrophale Geschehnisse beschrieben werden.3 Die weltweite ‚Finanzkrise‘4 mag hier ein schillerndes Beispiel sein, stellt sie doch kaum Bilder zur Verfügung, wie dies bei einer Naturkatastrophe, einer Epidemie oder bei einem Industrieunglück der Fall wäre. Daher wird die Dramatik dieser Krise in genau solchen Vorstellungswelten beschworen: Aktienkurse fallen nicht nur, sie ‚stürzen‘. Die Nachfrage ‚bricht ein‘, die ganze Wirtschaft ist ‚erschüttert‘, die Gesellschaft wird von diesen Auswirkungen wie von einer Woge ‚überrollt‘. Noch stärker proÀtieren die sprachlichen Krisen-Bilder – nicht erst in der Gegenwart, sondern schon seit dem späten 18. Jahrhundert, als der Begriff in die Alltags1 2

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Schlaeger: Krise, S. 238. Die „vorsprachliche Erfahrung der Zeitgenossen, daß das, was vorgefallen ist, die ‚Vorstellung erschüttert‘“, ist nach Suter und Hettling: Struktur, S. 24, als erstes von drei Kriterien zur Bestimmung von Krisen zu nennen. Als zweites Kriterium benennen sie, dass die Erschütterung kollektiver Natur sein müsse; zum dritten Kriterium vgl. unten Anm. 16. Zum Überraschungscharakter von Krisen vgl. auch Friedrichs: Krisen, S. 15. Zur Metaphorik der ‚Krise‘ im historischen Diskurs – als Sturm, Brand, Übergang, Krankheit, Wiedergeburt, Beschleunigung und Kristallisation – vgl. Demandt: Geschichte, Register S. 504. Vgl. dazu die Beiträge von Karl-Heinz Moritz und Stephanie Mucha, Ronald Lutz, Norbert Kleinheyer sowie Wolf Wagner in der auf eine Vortragsreihe der Erfurter Hochschulen zurückgehenden Publikation von Ettrich und Wagner (Hg.): KRISE.

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Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk

sprache eindrang5 – von Anleihen aus der Medizin: Die Weltwirtschaft wird zum ‚Patienten‘, ganze Länder ‚hängen am Tropf‘ ihrer Nachbarn, die Angst geht um, dass dieser Zustand ‚chronisch‘ werde, ja dass der ‚Organismus‘ des Finanzsystems endgültig ‚kollabiert‘. Und auch apokalyptisch-eschatologische Deutungsmuster haben in unserer vielleicht nur scheinbar säkularisierten Welt nicht ausgedient.6 Da ist von einer ‚schleichenden Apokalypse‘ die Rede, es wird nach der Rettung vor dem ‚Finanz-Armageddon‘ gefragt und eine ‚Ökonomie der Angst und der Erlösung‘ diskutiert. Doch nicht nur die Metaphorik der Krisenberichterstatter ist erstaunlich stereotyp. In der Krise scheint zwar das Chaos zu herrschen. Ihre Kommunikation und Darstellung suchen die komplexe, überfordernde Fülle an Ereignissen, Motiven, Handlungs- und Bedingungszusammenhängen jedoch ordnend zu fassen.7 Den ‚Krisen‘ wird damit ein logischer Ablauf unterstellt, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Plot verknüpft.8 Dies gilt für aktuelle, akute Krisen: Die Beobachtung der Krise zielt nicht nur auf die Diagnose und die Anamnese ihrer Vorgeschichte, sondern sie ist immer auch Prognose. Schon die medizinische Krisenlehre der Antike, wie sie im „Corpus Hippocraticum“ formuliert und von Galen verbreitet wurde, verstand die Krisis einer Krankheit sowohl als beobachtbaren Befund als auch als Urteil über deren Verlauf, als (Ent-)Scheidung zwischen Leben und Tod.9 Derjenige, der die dramatische Diagnose ‚Krise‘ stellt, – und dies gilt gleichermaßen für den Arzt wie in der kollektiven, gesellschaftlichen Krise für den ‚Politiker‘ oder ‚Experten‘ – kann sich selbst zum Akteur machen und als ‚Therapeut‘ oder ‚Krisenmanager‘ anbieten: Unentrinnbare, in einer inÁationär gebrauchten Wendung ‚alternativlose‘ Handlungszwänge dienen ihm als Argument, das Heft 5 6

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Vgl. Koselleck: Krise, S. 617 und S. 622. Dies diskutieren nicht nur der Beitrag von Katja Patzel-Mattern in diesem Band sowie ihre Forschungen im Rahmen des Teilprojekts „Der Hölle entronnen … Eine Fallstudie zur Krisenkommunikation in der chemischen Industrie“ im Konstanzer Cluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, sondern auch verschiedene, unter der Überschrift „Apokalypse als Geschichtsmacht: Deutung und Diskurse“ zusammengefasste Aufsätze des Sammelbandes „Apokalypse“. Exemplarisch im Hinblick auf den Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert Etzemüller: Jahre. Neumaier: Zeit, betrachtet apokalyptische Formen in Reden Adolfs Hitlers. Für die Bedeutung apokalyptisch-eschatologischer Deutungsmuster bis in die Gegenwart spricht vielleicht auch die frequente Rede vom ‚Klimasünder‘ und der ‚Mutter Natur‘, die ‚zurückschlägt‘, womit ein altes straftheologisches Erzählmuster aufgegriffen wird, vgl. Schenk: Lektüren, S. 508 f. Grenzen einer solchen langen Perspektive thematisiert Kaube: Apokalypse. Vgl. Vierhaus: Krisen, S. 314. Vgl. dazu mit ähnlichen Thesen und Ergebnissen den Sammelband „Krisis!“ von 2007, hier insbesondere die Einleitung von Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 12: „Krisengeschichten folgen […] beschreibbaren Verlaufsmustern und involvieren erwartbare Handlungsrollen, wie sie ja schon in der medizinischen Krisenmetaphorik und -idiomatik – von den ersten Symptomen zum vollen Krankheitsbild, von der Diagnose zur Therapie bzw. zum Tod, vom Patienten zum Arzt und Experten – vorgezeichnet sind.“ Vgl. auch Nünning: Grundzüge, S. 64: „Die Etikettierung eines Geschehens als ‚Krise‘ liefert somit nicht nur eine speziÀsche DeÀnition der jeweiligen Situation, sondern sie ruft auch bestimmte Erzählschemata und Verlaufsmuster auf“. Vgl. Winau: Krise, S. 41–44, und Koselleck: Krise, S. 619.

Krisengeschichte(n)

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in die Hand zu nehmen.10 So hat etwa auch der anthropogene Klimawandel erst in einem ganz bestimmten diskursiven Rahmen „von der Hypothese zur Katastrophe“ gefunden – und die Diskurshoheit spielt eine Rolle dabei, ob und welche Handlungen im „Anthropozän“ politisch durchsetzbar werden.11 Der Politologe Werner Link bringt dies in einer Rezension des Buches „Klimakriege“ von Harald Welzer im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung12 auf den Punkt, wenn er auf die Redewendung des Kommunistischen Manifests vom Gespenst, das in Europa umgeht, Bezug nimmt: „Seit einiger Zeit scheint nun das Gespenst der Klimakatastrophen umzugehen – nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Und inzwischen gilt in Wissenschaft und Politik der Klimawandel als reales globales Problem ersten Ranges, zu dessen Lösung unzählige nationale und internationale Konferenzen abgehalten und mehr oder weniger verpÁichtende Resolutionen und Programme verabschiedet werden – von Kyoto bis Heiligendamm.“13 Erst der Krisen-Diskurs erzeugt also durch die fortgesetzte Thematisierung der Bedrohung (unabhängig davon, ob sie ‚real‘ oder ‚eingebildet‘ ist14) den nötigen Handlungsdruck. Zugleich spielt die ‚Krise‘ jedoch nicht nur eine Rolle für die Zukunftsbewältigung: In der Retrospektive ist das Schlagwort der Krise ein zentraler Kristallisationspunkt für Erklärungsansätze, um sowohl Kontinuitäten über Brüche hinweg als auch Wandel zu begründen und zu deuten.15 Hier sind es nicht allein die Verknüpfung von situativer Offenheit und narrativer Gebundenheit, sondern auch die ArgumentationsÀguren von Ereignis und Struktur, die den Terminus der Krise in den Kulturwissenschaften so attraktiv machen:16 Anders als im medizinischen Verständnis unterscheidet ‚Krise‘ als geschichtstheoretischer Begriff nicht zwischen den Alternativen Tod 10

Über die Rolle der „Krisenwarner, -mahner und -manager“ vgl. Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 9: „Wer von Krise spricht, diagnostiziert Notstand, Zeitknappheit und Handlungsbedarf. Gleichzeitig wird die eigene Position als eine die Krise erkennende und reÁektierende legitimiert und inszeniert sich das Krisengerede als Voraussetzung des Krisenmanagements oder der Therapie.“ 11 Vgl. Weingart, Engels und Pansegrau: Hypothese; zur Etablierung des schon älteren Begriffs „Anthropozän“ im klimageschichtlichen Diskurs und darüber hinaus Chakrabarty: Klima. 12 Welzer selbst entwickelt in seinem Buch einen Lösungsvorschlag, der auf einer mittleren, gesellschaftlichen Handlungsebene angesiedelt ist, auf Partizipation basiert und, optimistisch, in eine dritte Moderne führt. Welzer: Klimakriege, im Hinblick auf eine mögliche Lösung v. a. S. 270 f. 13 Link: Aussichten. 14 Die Frage nach dem ontologischen Status dessen, was als ‚Krise‘ bezeichnet wird, soll also gerade nicht thematisiert werden: Dass diese Frage gleichwohl legitim ist, sei eigens betont. 15 Von Reinhart Koselleck, dem Herausgeber selbst, stammt der hier schon mehrfach zitierte Eintrag „Krise“ im dritten Band der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ aus dem Jahr 1982. Das Lemma trägt dem Umstand Rechnung, dass die Krise zu den zentralen interdisziplinären und transepochalen Termini zählt, mit denen in den Sozial- und Geisteswissenschaften Prozesse des Umbruchs gefasst und erklärt werden. Mit negativem Tenor erklären Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 15, die Geschichtsschreibung habe sich „immer wieder des Begriffs der Krise als metahistorischer Metapher (Hayden White) bedient, um ihren Darstellungen historischer Verläufe narrative Stringenz und aufmerksamkeitsheischende Dramatik zu verleihen“. 16 So etwa Koselleck: Krise, S. 629. Für den engen Konnex zwischen Krise und Struktur vgl. auch Frank Klaars Überlegungen zur Krisenphänomenologie des Mediävisten František Graus, vgl. Klaar: Krise, bes. S. 301–303 und S. 312–316.

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und Genesung im Sinn der Rückkehr zum alten Zustand. Die geschichtliche Krise wird vielmehr deÀniert als Umbruch, der die sozialen Verhältnisse tiefgreifend verändert, nach dem ‚alles anders‘ ist. Krisen dürfen die Gesellschaft also nicht nur unerwartet erschüttern, sondern müssen strukturverändernde Folgen haben.17 Diese (normative) Prämisse lässt den Begriff der Krise nach Vierhaus zu jenen Abstracta gehören, die dem Historiker nicht nur erlauben, Ereignisse nachzuerzählen, sondern Zusammenhänge und Verläufe, kurz Strukturen zu benennen.18 Die Beiträge des Sammelbandes eint, dass sie Krisen nicht als manifeste ‚Krankheit‘, sondern als Diagnose beschreiben: Damit verlagert sich das Interesse vom „fertigen Produkt“19 Krise auf den Narrationsprozess und die Diskursstrategien, mit denen Krisen erkannt und Krisenszenarien konstituiert werden. Diese entscheidende Prämisse teilt der Band mit anderen aktuellen Beiträgen zum Thema Krise, auf deren Erkenntnissen und Ergebnissen er zugleich aufbaut: Einschlägig sind hier vor allem mehrere ebenfalls aus Tagungen erwachsene Publikationen zur Krisenwahrnehmung, so die beiden Bände mit Beispielen von der Antike bis zur Neuzeit, herausgegeben einmal von Helga Scholten und einmal von Henning Grunwald und Manfred PÀster, ferner der von Elizabeth Harding und Natalie Kranz herausgegebene Band mit einem Fokus auf die Vormoderne einerseits und Symbole und Rituale andererseits sowie die noch unveröffentlichten Beiträge einer von Rudolf Schlögl initiierten Konferenz aus dem Jahr 2007.20 Ausgehend von der These, dass die Verwendung des Krisenbegriffs zunächst Selbstdiagnose und Mittel der SelbstreÁexion ist, stellt der vorliegende Sammel17

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Vgl. Koselleck: Krise, S. 637–641, sowie Suter und Hettling: Struktur, S. 25, mit dem diskussionswürdigen Zusatz, dass diese Folgen auch von den Akteuren wahrgenommen werden müssen. Zu ihrer KrisendeÀnition vgl. auch oben Anm. 2. Für ganz vergleichbare DeÀnitionen aus dem Blickwinkel der Soziologie vgl. Friedrichs: Krisen, S. 14 und 23: Jürgen Friedrichs deÀniert die gesellschaftliche Krise als „wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters“, das nicht nur ein Teilsystem der Gesellschaft erschüttert, sondern auf die Gesamtheit übergreift. Als Krise dürfen solche Ereignisse dabei nach seiner DeÀnition nur bezeichnet werden, wenn sie die Handlungsmuster auch verändern. Vierhaus: Problem, S. 313 f. Die strukturierende Wirkung von Krisen und Krisenwahrnehmung ist in den vergangenen Jahren (in Ablösung des Gegensatzes ‚eigen‘ – ‚fremd‘) zum zentralen Erzählmuster in vielen Studien geworden, die sich mit der Entwicklung kollektiver Identitäten beschäftigen, vgl. Meyer: City, S. 25–45. Nünning: Grundzüge, S. 51. Scholten (Hg.): Wahrnehmung; Grunwaldt und PÀster (Hg.): Krisis!; Harding und Krentz (Hg.): Einleitung, S. 11 f. Damit wird also der von Prisching: Krisen, S. 39–42, diskutierte Gegensatz einer narrativistischen und einer an theoretischen Modellen interessierten Geschichtswissenschaft auf ein anderes Niveau gehoben, indem die Gesetze von Krisenerzählungen selbst als eine Konstruktion der Wirklichkeitswahrnehmung thematisiert werden. Vgl. auch Studien, die den Krisenbegriff als geschichtswissenschaftlich-beschreibungssprachlichen Begriff verwenden, etwa die imponierende Studie von Parker: Crisis, zur weltweiten Krise des 17. Jahrhunderts und mit methodologischen Überlegungen auch Shank: Crises. Anders Rudolf Vierhaus, der in seinen Studien zur Krise in den Geschichtswissenschaften mehrfach fordert, dass die Wahrnehmung allein nicht ausreiche, sondern Krisen „objektiven Charakter“ haben müssten und „nicht nur herbeigeredet sein“ dürften, vgl. Vierhaus: Krisen, S. 194, ebenso ders.: Problem, S. 322.

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band die Analyse von gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, des Narrativs von Niedergang, Untergang, Kollaps und Erosion, aber auch von (ersehntem) kathartischem Wandel in den Mittelpunkt.21 Er geht davon aus, dass dem ‚Verlauf der Krise‘ in der Darstellung stets eine (mehr oder minder feste) ‚Plotstruktur‘ unterstellt wird, die den Krisenverlauf entweder im Niedergang kulminieren lässt oder zur Überwindung der Krise führt und in jedem Fall mit einem bestimmten Set an Bewertungen kombiniert ist. Hier ist an den von Hayden White geprägten Begriff des „emplotments“ zu denken, der historische ‚Fakten‘ stets in einen übergeordneten Sinn- und Erzählzusammenhang eingebettet versteht. Strategien des „emplotments“ dienen dazu, die Kontingenz des historischen Geschehens zu überwinden, die ausgewählten Ereignisse zu konkreten Geschichten zu formen und damit zu deuten.22 Dieser grundlegenden Einsicht folgend wollte White in seiner Studie über die großen Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts literarische Konstruktionstypen wie Komödie, Satire oder – passend zur Krise – die Tragödie plausibel machen. Nicht nur die historiographischen Texte der Vergangenheit, auch wissenschaftliche Studien entfalten demnach eine sprachlich-strukturelle Eigenlogik, die sich im Fall der Krisenerzählung etwa mit dem Ziel einer pathologischen Verfallsgeschichte oder aber umgekehrt in Form einer kathartischen Erfolgsstory organisiert. Forschungspragmatisch haftet der Beschäftigung mit solchen Erzählmustern häuÀg der Ruch des Ideologieverdachts an. Ein solcher Umgang kann freilich nicht länger angebracht erscheinen, nimmt man das oben formulierte Postulat ernst, dass kein Text seiner narrativen Organisation entkommt. Dementsprechend ist jede Synthese fundamental auf Komplexitätsreduktion, Kohärenzbildung, auf chronologische und teleologische Strukturierung ihres Stoffs angewiesen. Ebenso zutreffend ist freilich, dass die Diagnose ‚Krise‘ mit einer (politischen, wirtschaftlichen, religiösen) Agenda des Diagnostikers verbunden sein und der Ideologieverdacht insofern auch als erkenntnisfördernder Treibsatz dienen kann. Der vorliegende Sammelband verfolgt ein doppeltes Ziel: Erstens fragt er danach, inwieweit der Terminus ‚Krise‘ in der aktuellen kulturwissenschaftlichen und transdiziplinären Forschungsdebatte als Leitbegriff taugt: Wie kann er über konkrete, aus dem je eigenen Material entwickelte Vorstellungen hinaus ‚intersubjektiv‘ deÀniert werden? Welche Implikationen und Prämissen setzt eine Forschungsrichtung, die die Krise in den Mittelpunkt ihrer Analyse- und Erklärungsraster rückt? Zweitens sucht er nach Antworten darauf, wie sich historische „Krisenerzählungen“ identiÀzieren und in ihrer Struktur und Wirkung beschreiben lassen. Die beiden Zielsetzungen, die der Band verfolgt, scheinen auf den ersten Blick in unterschiedliche Richtungen zu führen. ZwangsläuÀg kreuzen sich situative und 21

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Vgl. dazu Koselleck: Krise, S. 645, mit dem Verweis auf Marx und Engels, für die die Aussicht auf den ökonomischen Zusammenbruch – in den politischen und sozialen Zusammenhang gerückt – die Gewissheit der Revolution erhöhte, dort zit. Engels in einem Brief an Marx 1857: „Die Krise wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad.“ Vgl. White: Metahistory (S. 7: „Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind“) wie auch seine weiteren Werke, v. a. Tropics und Content.

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apodiktische Zugänge jedoch in Fragen und Problemen, inwiefern der Krisenbegriff und das, was man ihm an ‚Leistungen‘ zuschreibt, den Blick lenkt. Seine Offenheit und Vielseitigkeit erlauben, ihn gleichermaßen auf Staats-, Herrschafts- und Wirtschaftskrisen, Umwelt-, Natur- und Industriekatastrophen sowie gesellschaftliche oder politische Skandale anzuwenden. Auch die Dauer bietet kein klares Kriterium: Als „Krise“ kann ebenso die akute Krisensituation bezeichnet werden wie die schleichende Verunsicherung und Erosion einer Gesellschaft; die Geschichtswissenschaft hat ganze Epochen – neben dem bereits genannten „14. Jahrhundert“ etwa den „Untergang des römischen Imperiums“, „das 17. Jahrhundert“ oder „die [bürgerliche] Moderne“ – als ‚Krisenzeit‘ qualiÀziert. Selbst in der Retrospektive lässt sich, wie oben dargelegt, keine Sicherheit gewinnen: Durchgang und Untergang, Strukturwandel und Zusammenbruch erscheinen je nach Betrachtungsweise möglich. Diese heterogenen Zuschreibungen evozieren damit immer neu die Frage, inwieweit die Krise – über die Verständigung zu einem konkreten Phänomen, etwa einer Hungersnot hinaus – sich hermeneutisch eindeutig fassen lässt:23 Welche Prämissen sind wesentlich für eine theoretisch fundierte ‚Krisengeschichte‘ und können damit als gemeinsame Ausgangsbasis für die Diskussion deÀniert werden? Welche Annahmen und Positionen sind dagegen durch das jeweilige Untersuchungsdesign bestimmt und demnach vom Einzelbeispiel abhängig? Folgende Positionierungen sollen dem Band voran und zugleich zur Debatte gestellt werden: 1. Erstens stellt sich übergreifend die Frage, ob Krisen und Krisenwahrnehmung überhaupt als anthropologische Konstanten zu sehen sind oder ob sie sich nicht vielmehr im Verlauf der Jahrhunderte bzw. von Kultur zu Kultur verändern. Unterstellt man die Diskursivität und Konstruktivität von Krisen, so ist ihre kulturelle und historische Variabilität eigentlich unvermeidbar. Mit den Worten Ansgar Nünnings formuliert ist das, „was als krisenhaft gilt, […] nicht ein für alle Mal deÀnierbar, sondern abhängig von den jeweiligen Relevanzkriterien, und diese unterliegen dem historischen Wandel und sind kulturell unterschiedlich“.24 Von Reinhart Koselleck stammt das Diktum, dass der moderne Krisenbegriff wesentlich in der Sattelzeit der Moderne von 1750 bis 1850 geformt wurde.25 Taugt der moderne Terminus also für die begrifÁiche Fassung von Phänomenen vor dieser Epochenschwelle und außerhalb der westlich geprägten Welt? Dieser Sammelband beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja: Krisen sind kein speziÀsch modernes Phänomen, wohl aber die heutigen Formen der Krisenerzählung, auf die ihrerseits 23

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Dieser Sammelband geht damit wie auch andere aktuelle Beiträge zum Thema Krise einen anderen Weg als noch 2002 Rudolf Vierhaus, der in seinem Artikel „Krisen“ im „Lexikon Geschichtswissenschaft“ eine normative DeÀnition der historischen Krise vorgeben möchte, vgl. oben Anm. 18. Nünning: Narratologie, S. 59. Vgl. Koselleck: Krise, programmatisch S. 627 und nochmals S. 629: „‚Krise‘ wird zur strukturellen Signatur der Neuzeit“; vgl. auch Kosellecks Interpretation der Schriften Saint-Simons und seiner Schüler, ibid., S. 631: „‚Krise‘, streckenweise deckungsgleich mit ‚Revolution‘, wird zum zeitlich elastischen Oberbegriff der Moderne.“ Diese These stützend vgl. auch die Ausführungen von Oexle: Krise.

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überkommene Narrative einwirken.26 Es bleibt angesichts eines je nach soziokulturellem Kontext regional und temporal unterschiedlich verlaufenden, ganz normalen Sprachwandels eine offene Frage, ob diese Dynamik in ihrer Differenziertheit nicht entweder für eine Vervielfachung von begriffsgeschichtlichen Sattelzeiten oder sogar für eine Verabschiedung vom Konzept einer ‚Sattelzeit‘ überhaupt spricht.27 Schließlich erlaubt die Vorannahme, dass Krisen sowohl auf der Ebene zeitgenössischer ReÁexion wie auch moderner Forschung nur im Narrativ kommunizierbar sind, noch einen Schritt weiter zu gehen: Diese Prämisse setzt den Historiker ins Recht, auch dort Krisen zu statuieren, wo zeitgenössische Quellen keine entsprechende Wertung kennen – und dies nicht, weil eine Krise ‚objektiv‘ (im Sinn von außer-/vorsprachlich) ‚gegeben‘ sei. Was aus dem Blickwinkel der Zeitgenossen noch nicht in dieser Schärfe wahrgenommen und benannt wurde, kann damit gleichwohl aus heutiger Perspektive als Krise qualiÀziert werden.28 2. Versteht man mit Siegfried J. Schmidt Krisen als „Kulturbeschreibungen“, die „immer auf Beschreibungskulturen“ verweisen,29 so muss sich eine Analyse von Krisenerzählungen zweitens fragen, wie die ‚Krise‘ avant la lettre begrifÁich bzw. metaphorisch gefasst wurde und welche Parallel- oder Konkurrenzbegriffe existieren. Zu denken ist etwa an Begriffe wie Niedergang bzw. Untergang, Risiko, Reform, Revolution, Desaster, Katastrophe, Depression, Regression, Verfall, Vorsehung, Schicksal usw. Auch bei diesen Konzepten ist selbstverständlich mit einer eigenen Begriffsgeschichte, je eigenen Verlaufsmodellen und Wertungen zu rechnen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Katastrophenbegriff zu. Er scheint einen Krisenbegriff, der inÁationär verwendet wird und dadurch in seiner Erklärungskraft zu verÁachen droht,30 abzulösen. Innerhalb von vielfältig konstatierten Teil-, Dauer- und Weltkrisen verspricht er unvorhersehbare Ereignisse mit

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Nünning: Grundzüge, S. 59. So der Vorschlag von Schenk in diesem Band; in seinen späteren Überlegungen zur Begriffsgeschichte hat Koselleck selbst im übrigen deutlich anders als in seinen ersten konzeptionellen Entwürfen einer Begriffsgeschichte argumentiert – eine Folge der von ihm maßgeblich initiierten und vorangetriebenen Forschung über Begriffswandel, vgl. etwa Koselleck: Hinweise, im Vergleich zu Koselleck: Einleitung. So auch Scholten: Einführung, S. 6. František Graus dagegen kommt zum Fazit, dass das 14. Jahrhundert objektiv (d. h. wirtschaftlich oder gesellschaftlich) weniger eine Krisen- als eine Umbruchszeit war. Erst der durch die Zeitgenossen empfundene Verlust von Sicherheiten habe das Spätmittelalter zur Krisenzeit werden lassen. Vgl. dazu zusammenfassend Klaar: Krise, nach dessen Einschätzung für Graus die Krise „vor allem eine Krise des Bewußtseins oder besser ein ‚Sich-der-Krise-bewußt-sein‘“ bedeutet habe (S. 318). Schuster: Krise, freilich beharrt auf dem Standpunkt, dass die sogenannte Krise des 14. Jahrhunderts eine rückprojizierte „Imagination“ (S. 55) von Historikern wie Graus sei und der Evidenz entbehre. Schmidt: Geschichten, S. 42. Vgl. hierzu Vierhaus: Problem, S. 315, der polemisiert, dass „jedes Formtief einer Bundesligamannschaft“, „jede Verstimmung in der Ehe“ bereits als Krise gewertet würde. Viele Gesellschaften diagnostizieren sich selbst oder einzelnen ihrer Subsysteme eine Dauerkrise. Die „Krise“ ist damit als globalisiertes Gefühl „beschleunigten Wandels“ zum Normalzustand der Postmoderne geworden. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 208; Strobel: Imperium, S. 345.

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gravierenden Folgen wie Tod, Zerstörung und Verwüstung wieder angemessen auf den Punkt zu bringen. Nur im Alltagsverständnis sind Krisen- und KatastrophenbegrifÁichkeit freilich so klar zu scheiden. Die jüngere Katastrophenforschung vieler Disziplinen nimmt dagegen längst die Charakteristika der Krise auch für die Katastrophe in Anspruch: allen voran den Prozesscharakter von Katastrophen – ein Extremereignis wird demnach nur dann zur Katastrophe, wenn es auf bestimmte verwundbare kulturelle Strukturen trifft und längerfristig soziale Wirkungen entfaltet.31 Der Begriff kann somit als subjektive kulturelle Beschreibungskategorie gelten.32 Im jüngsten „Handbook of Disaster Research“ (2006) werden „Crisis“ und „Disaster“ daher gemeinsam als Übergangsphänomene behandelt.33 3. Das Stichwort „Übergangsphänomen“ leitet über zu einer dritten Vorüberlegung. Sie knüpft vor allem an die Beobachtung einer ‚Dauerkrise‘ an. Liest man die ‚Dauerkrise‘ mit Koselleck als SpeziÀkum eines Zeitalters, der Moderne, so ist ihr in dieser Lesart das Ungewiss-Bedrohliche in besonderem Maße eingeschrieben, das – so Walther Lammers im Jahr 1950 nach der Erfahrung der beiden Weltkriege – auch „den kühleren, dem Stoff näheren Historiker“ nicht auslasse:34 „Ist es nicht geradezu ein Grundgefühl unserer Zeit, in geringerer oder größerer Tiefe überall auftretend wie das Grundwasser?“, so zitiert er seinen Kollegen Ludwig Dehio aus einem Aufsatz von 1948.35 Eine ähnliche SelbstreÁexion Àndet sich in Barbara Tuchmans Werk über das ‚verhängnisvolle‘, ‚elende‘ 14. Jahrhundert, das dem Bewusstsein der siebziger Jahre in Amerika so nahe zu kommen schien. Unaufgeregter klingt dieselbe Diagnose einer ‚Dauerkrise‘ freilich aus der Perspektive des Jahres 2011 (auch wenn die akuten Krisen und Katastrophen zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum weniger und kleiner geworden sind). Ansgar Nünning erklärt den inÁationären Einsatz des Begriffs Krise nicht unheilvoll, sondern pragmatisch als Diskursstrategie der Massenmedien, für die ‚Krise‘ das mediale Gegenstück zur uninteressanten Normalität alltäglicher Situationen geworden sei: „Man braucht kein radikaler Konstruktivist zu sein, um der Auffassung zuzustimmen, dass die mediale Redeweise von ‚Krise‘ bestimmte Situationen und Geschichten überhaupt erst zu Medienereignissen macht.“36

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Vgl. zum Katastrophenbegriff allgemein Felgentreff und Glade: Naturrisiken, S. 1–10; soziologisch zum Prozesscharakter auch von Katastrophen die Beiträge in Clausen, Genen und Macamo: Prozesse; aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zum Katastrophenbegriff Berlioz und Quenet: Catastrophes, S. 24–28; Nowosadtko und Pröve: Wahrnehmung, S. 212 f.; Massard-Guilbaud: Introduction, S. 12 f.; Groh, Kempe und Mauelshagen: Einleitung, S. 15– 19, Schenk: Disaster. Zum Krisenbegriff immer noch Koselleck: Krise, weitgehend undifferenziert z. B. Thom: Krise, S. 30–37. Vgl. Felgentreff und Glade: Naturrisiken, S. 1–10; Perry: Disaster. Vgl. Quarantelli, Lagadec und Boin: Approach; Boin und t’Hart: Approach; ferner Kreuzer: Katastrophe, S. 4. Lammers: Herkunft, S. 47, mit Verweis auf etwa José Ortega y Gasset, Johan Huizinga, Arnold J. Toynbee, Bela Bàcskai und Karl Jaspers. Dehio: Gleichgewicht, S. 233. Nünning: Grundzüge, S. 53.

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Die Krise als Dauerzustand ist jedoch nicht allein ein Phänomen der Medienwelt; noch unmittelbarer gilt sie für die klinische Psychiatrie, die als permanentes, institutionalisiertes Krisenmanagement zu verstehen ist.37 Sie deÀniert die Krise als ‚conditio humana‘ und damit als ‚Normalzustand‘, in dem sich das Subjekt überhaupt erst als solches konstituiert. Krisen sind zwar immer schmerzhaft; werden sie erfolgreich überwunden, so wird in ihnen jedoch Identität herausgebildet, reift an ihnen die Persönlichkeit.38 Eine solche Sicht der Reifung, verstanden als gleichsam evolutionärer Fortschritt, beanspruchen jene, die in Krisen handeln, auch für ganze Gesellschaften. Sie propagieren auf diese Weise, wie Franklin D. Roosevelt in der historischen Situation der Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, die Wirksamkeit eigener Krisenstrategien. „Out of every crisis, every tribulation, every disaster, mankind rises with some share of greater knowledge, of higher decency, of purer purpose.“39 Der Fokus auf die Krisenbewältigung dominiert längst auch die geschichtswissenschaftlichen Studien: Dem Begriff Krise ist zwar qua DeÀnition die Option inhärent, mit dem Tod bzw. Niedergang zu enden. Implizit bevorzugt die geschichtstheoretische Begriffsbildung jedoch mit ihrer Forderung, die Krise müsse strukturverändernd wirken, die karthatische und damit langfristig positive Wirkung.40 Die Krise ist in dieser Perspektive auch durch Bedeutungszuweisungen gekennzeichnet, die sie als Durchgangsstadium deÀnieren. Sie schafft, wie Siegenthaler darlegt, Bedingungen für fundamentales Lernen als Grundlage eines möglichen Strukturwandels.41 Damit grenzt sie sich von Darstellungen des Niedergangs, Kollapses oder Verfalls ab.42 4. Die DeÀnition von Krise als „Übergangsphänomen“ führt zu einer vierten und letzten Überlegung, die diesem Band vorangestellt sein soll: Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Ereignis und Struktur, das bereits oben als Konstituens des Krisenbegriffs in den Geschichtswissenschaften benannt wurde und zweifellos zugleich als Grund für dessen Wirkmacht zu beschreiben ist. Zugleich hat gerade dieser Konnex von Ereignis und Krise jedoch immer wieder harsche Kritik hervorgerufen: So konnte der (bereits als krisen-kritisch präsentierte) Mediävist Peter Schuster in einem Aufsatz ein halbes Dutzend Stimmen zusammentragen, die die immer wieder statuierte ‚Krise des Spätmittelalters‘ für eine Imagination des

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Vgl. dazu etwa Heinz: Krise. S. dazu den Beitrag von Jürgen Straub in diesem Band. Vgl. mit ähnlichen Positionen für die Soziologie Friedrichs: Krisen, S. 26: „Jede Krise hat eine dynamische und positive Folge: Es tritt sozialer Wandel ein, der eine Anpassung der Gesellschaft an veränderte Bedingungen ermöglicht. Krisen tragen dazu bei, den Bestand der Gesellschaft immer neu zu überdenken.“ Roosevelt: Speech, S. 17. Vgl. Vierhaus: Problem, S. 318 f., und oben Anm. 23. Wie diese Überlegungen auch für die Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kollektiv-Identitäten fruchtbar gemacht werden können, zeigt der Sammelband Dartmann und Meyer (Hg.): Identität. Siegenthaler: Regelvertrauen. Vgl. hierzu auch Steiner: Bundesrepublik, in einer vergleichenden Betrachtung des sozioökonomischen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.

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20. Jahrhunderts halten.43 Von Hartmut Boockmann zitiert er die skeptische Bemerkung, es scheine, als „liegen die Ursachen dieser vermeintlich generellen Krise mehr in den Hoffnungen moderner Historiker auf die Aufdeckung eines biologischgenetischen Ablaufs der Geschichte als in der Vergangenheit selbst.“44 In der Tat bleiben moderne Narrative von der Krise des späten Mittelalters in den Bahnen der großen Nationalgeschichten des 19. Jahrhunderts, in deren zyklischem Denken das Spätmittelalter als Verfallszeit zwischen „stauÀscher“ und „Weimarer Klassik“ galt.45 Wie Schuster polemisch formuliert, tragen sie damit wesentlich dazu bei, „die traditionelle Epocheneinteilung aufrechtzuerhalten und mehr noch das Konzept eines gerichteten und zwangsläuÀgen Verlaufs der Geschichte scheinbar“ zu bestätigen,46 das häuÀg auch von linearen Fortschrittsvorstellungen getragen ist. Solche Studien drohen damit implizit auf Vorstellungen zu rekurrieren, wie sie Oswald Spengler in seinem raunenden Opus „Der Untergang des Abendlandes“ noch ganz offensiv vertrat: Es ist zu lesen als Versuch, ein morphologisches Schema der „Kulturen“ zu Ànden, wonach der Geschichtsablauf einer Hochkultur etwa 2000 Jahre umfasst.47 Zentral für Spenglers Überlegungen war die Vorstellung, dass die abendländische Geschichte in ihre letzte Periode eingetreten sei; in etwa 500 Jahren, so prognostizierte er, werde das Abendland daher wie einst Ägypten oder das römische Weltreich versinken.48 Spengler kam auf diese Systematik nicht als empirischer Historiker, sondern als Nachfolger Friedrich Nietzsches, dessen – so kommentiert Walther Lammers – „vielfach mit dichterischen Mitteln ausgedrücktes Bild der historischen Krise“ er habe „versachlichen“ und „konkretisieren“ wollen.49 Spenglers ‚Meistererzählung‘ vom Untergang des Abendlandes, die nicht von ungefähr auch die Zukunft einbezog, lässt sich aus heutiger Perspektive einerseits als Warnung vor den Fallstricken des Krisennarrativs lesen. Andererseits zeigt sie die Leistungskraft dieses Narrativs, wenn es um die Erfassung von Strukturen geht. Einen ähnlich hohen, normativen und doch ganz anders gearteten Abstraktionsgrad erreicht das im Gegensatz zu Spenglers Thesen weiterhin virulente ‚Krisenmodell‘ des Wissenschaftshistorikers Thomas S. Kuhn aus dem Jahr 1962: Abgeleitet aus 43 44 45 46 47 48

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Vgl. Schuster: Krise, S. 19–21 und S. 51: „Weder systematisch noch im Vergleich, weder mit statistischen Reihen noch mit präziser BegrifÁichkeit läßt sich die Krise des Spätmittelalters oder gar nur die Krise der Agrargesellschaft evident erhärten.“ Zit. nach ibid., S. 20; Boockmann: Stauferzeit, S. 245 f. So auch Schuster: Krise, S. 52. Ibid., S. 53. Spengler: Untergang. Diese von Spengler postulierte Zeitspanne sei gegliedert in eine Vorzeit von 400 Jahren, eine Zeit der „Kultur“ von 900 Jahren und eine Zeit der „Zivilisation“ von 700 Jahren. Vgl. zusammenfassend Lammers: Herkunft, S. 50 f. In einer Übersichtstafel am Schluss wird die Endphase der abendländischen Geschichte mit folgenden Schlagworten prognostiziert: „20. Jahrh. Übergang der verfassungsmäßigen in formlose Einzelgewalten, Vernichtungskriege, Imperialismus. 2000–2200. Ausbildung des Cäsarismus. Sieg der Gewaltpolitik über das Geld. Zunehmend primitiver Charakter der politischen Formen. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-despotischen Charakter.“ Spengler: Untergang, I., S. 68, Tabelle. Lammers: Herkunft, S. 50.

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der Geschichte der Naturwissenschaften entwickelte Kuhn auch für die Geisteswissenschaften die Vorstellung vom sprunghaften ‚Paradigmenwechsel‘, dem eine Krise des etablierten wissenschaftlichen Paradigmas vorausgeht.50 Seine ungebrochene Attraktivität – so erklären Grunwald und PÀster – rühre daher, „die lange schon schwelenden Selbstverständniskrisen der Geisteswissenschaften ins Positive umzumünzen, in dem Krise hier nicht mehr (nur) katastrophale Negativität bedeutet, sondern die liminale Krisenphase mit ihren Zusammenbrüchen von Ordnungsund Orientierungsrahmen gerade die Möglichkeit des Neuen, des innovativen Durchbruchs eröffnet“.51 Überdies erlaubt es das Kuhn’sche Konzept, Wandel unabhängig vom Fortschrittsbegriff zu denken. Auch Kuhns Thesen sind freilich nicht allein aus dem Quellenmaterial gewonnen, sondern vom Zeithorizont bestimmt, in dem sie entstanden. Demnach erscheint als Strukturmerkmal der Krisenforschung, dass das Interesse der Wissenschaftler eher ihren gegenwärtigen Erfahrungshorizonten denn dem jeweiligen Gegenstand selbst entspringt. Zumeist Ànden sich diese Gedanken als Vorwurf formuliert, etwa in der argwöhnischen Beobachtung des Mediävisten Erich Meuthen, das Thema einer ‚Krise des Spätmittelalters‘ sei desto intensiver diskutiert worden, „je trostloser es dann im 20. Jahrhundert zuging“.52 Sein Fachkollege Peter Schuster sieht Arbeiten zu diesem Thema insgesamt in der Tradition der kulturkritischen Schriften seit Ende des Ersten Weltkriegs, die den Krisenbegriff als Topos in den Geisteswissenschaften fest verankert hätten. Sein Urteil trifft besonders die Mediävistin Barbara Tuchman und ihre Monographie „A Distant Mirror“ von 1978 über (so der Untertitel) „The Calamitous 14th Century“, die er als „Selbstbespiegelung“ des 20. Jahrhunderts wertet.53 Tuchman selbst macht freilich keinen Hehl daraus, dass ihre Analyse dieser „gewalttätige[n], gequälte[n], verwirrte[n], leidende[n] und zerfallende[n] Zeit“ vor der Folie der eigenen unruhigen Gegenwart – angesichts von Vietnam-Krieg, RassenkonÁikten und Studentenunruhen – entstand, ja dass sie daher „für uns in einer Zeit ähnlicher Unordnung eine trostreiche Zeit“ darstelle.54 Doch lassen sich auch positivere Wertungen des Gegenwartsbezugs historischer Krisenforschung Ànden. So formuliert Rudolf Vierhaus: „In der Wahrnehmung des In-Bewegung-Geratens von Gewohntem, des gewollten oder ungewollten Wandels in der eigenen Zeit wird der Blick geschärft für historische Wandlungsvorgänge.“55 Umso stärker erscheint vor diesem Hintergrund die parallele ReÁexion von Begriffen und empirischem Material geboten, wie der vorliegende Sammelband es praktiziert. Wenn die in diesem Band versammelten Beiträge danach fragen, wie der Fokus auf Krisen unsere wissenschaftlichen Aussagen formt, so sollen sie dies nicht nur dekonstruierend tun. Stattdessen wünschen wir uns einerseits die Offenheit für 50 51 52 53 54 55

Kuhn: Structure. Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 18. Meuthen: Mittelalter, S. 109. Schuster: Krise, S. 55. Tuchman: Spiegel, S. 9. Vierhaus: Problem, S. 313.

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neue, alternative ‚Krisenerzählungen‘ und den Mut, den „zweifellos […] poetische[n] Akt“56 ihrer Schöpfung nicht länger als Mangel zu deuten. Andererseits soll der Band dazu beitragen, den ‚Konstruktionsplänen‘ dieser ‚Krisenerzählungen‘ und ihren Folgen für Gesellschaft und Wissenschaft auf die Spur zu kommen. Im besten Fall will er damit einen Anfang schaffen, die schier unüberblickbaren Krisendiskurse – wie Karl Siegbert Rehberg es in seinem Schlusswort zur Tagung formulierte – im Sinne „Weberscher Idealtypen“ zu unterscheiden. Literatur Berlioz, Jacques und Grégory Quenet: Les catastrophes: déÀnitions, documentation, in: Histoire et mémoire des risques naturels, hg. von René Favier und Anne-Marie Granet-Abisset, Grenoble 2000, S. 19–37. Boockmann, Hartmut: Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland 1125–1517, Berlin 1987 (Das Reich und die Deutschen 8). Boin, Arjen und Paul t’Hart: The crises approach, in: Handbook of Disaster Research, hg. von Havidán Rodríguez, Enrico L. Quarantelli und Russell R. Dynes, New York 2006, S. 42–54. Chakrabarty, Dipesh: Das Klima der Geschichte: Vier Thesen, in: KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, hg. v. Harald Welzer, Hans-Georg Soeffner und Dana Giesecke, Frankfurt a. M., New York 2010, S. 270–301. Clausen, Lars, Elke M. Geenen und Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003 (KonÁikte, Krisen und Katastrophen – in sozialer und kultureller Sicht 1). Dartmann, Christoph und Carla Meyer (Hg.): Identität und Krise? Konzepte zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrungen, Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 17). Dehio, Ludwig: Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948. Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978. Ettrich, Frank und Wolf Wagner (Hg.): KRISE und ihre Bewältigung in Wirtschaft, Finanzen, Gesellschaft, Medizin, Klima, Geschichte, Moral, Bildung und Politik, Münster 2010 (Soziologie: Forschung und Wissenschaft 33). Etzemüller, Thomas: „Dreißig Jahre nach Zwölf“? Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, in: Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, hg. von Alexander K. Nagel, Bernd U. Schipper und Ansgar Weyman, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 197–216. Felgentreff, Carsten und Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Berlin, Heidelberg 2008. Friedrichs, Jürgen: Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse, in: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. von Helga Scholten, Köln, Weimar, Wien 2007, S. 12–26. Graus, František: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86). Groh, Dieter, Michael Kempe und Franz Mauelshagen: Einleitung. Naturkatastrophen – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt, in: Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, hg. von dens., Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie 13), S. 11–33. 56

Haye: Periodisierung, S. 47.

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Krisengeschichte(n)

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I. DIE „KRISE“ ALS LEITBEGRIFF IM TRANSDISZIPLINÄREN DISKURS Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk Gegen Ende seines „Krisen“-Artikels in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ formuliert Reinhart Koselleck 1982 einen Ausblick. Demnach bleibe die ‚Krise‘ ein Schlagwort, das nur in wenigen wissenschaftlichen Kontexten mit kategorialer Stringenz verwendet werde. Gerade weil er in den Medien ebenso inÁationär wie vage verwendet werde, seien die Wissenschaften herausgefordert, „den Begriff auszumessen“. Nicht allein die Geschichtswissenschaften, sondern auch viele andere Disziplinen kennen den Krisenbegriff als zentrale Analysekategorie. Der erste Teil dieses Sammelbandes wirft daher systematisch Blicke in benachbarte Fächer: in Psychologie, Ökonomie, Ethnologie und Literaturwissenschaften, um in einer wissenschaftsgeschichtlichen Annäherung an den Umgang der Historiker mit dem Begriff der Krise zu münden. Die Aufsätze verweisen auf theoretisch-methodische Differenzen. Diese begründen sich in unterschiedlichen disziplinären Selbstverständnissen und AnforderungsproÀlen. Jürgen Straubs Beitrag zeigt, wie die Konstituierung sowohl der Soziologie als auch der Psychologie als jeweils eigenständige Fachwissenschaft eng mit speziÀschen Krisendiagnosen verbunden war. Vor allem am Beispiel der Psychologie entfaltet er, wie sich die Institutionalisierung wissenschaftlicher ReÁexion und Forschung als ‚Antwort‘ auf praktische Herausforderungen und ‚Lebensprobleme‘ vollzog. Für die Wirtschaftswissenschaften ist die theoretische Erfassung von Krisen mit dem Ziel der Formulierung von Handlungsanweisungen zur Prävention von sowie zum Handeln in Krisen relevant. Wie Michael Hülsmann und Philipp Cordes in ihrem Beitrag zeigen, erlaubt die Benennung konstitutiver Krisenmerkmale einerseits die vergleichende Analyse ökonomischer Krisen auf unterschiedlichen Systemebenen. Andererseits limitiert der Abstraktionsgrad solcher Betrachtungen deren praktische Anwendbarkeit und verweist auf generelle Zweifel an der Lenkungsfähigkeit von Systemen. Annette Hornbacher stellt europäische und balinesische Katastrophen- und Krisendiskurse einander gegenüber. Sie versucht zu zeigen, dass dichotomische Annahmen über die Differenzen der Diskurse vor dem Hintergrund der pluralen Postmoderne an Grenzen stoßen: Die handlungstheoretisch inspirierte ethnologische Theorienbildung über eine rituelle Krisenbewältigung in vormodernen Gesellschaften im Gegensatz zu einem szientistischen Umgang mit Krisen in modernen Gesellschaften ist zu simpel. Kosmologische Weltdeutung, rituelle Krisenbewälti-

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Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit Jasper Schenk

gung und diskursive Moderne schließen sich nach Hornbacher keineswegs aus. Das ethnotheoretische Narrativ von einer vormodernen rituellen Krisenbewältigung erweist sich so als eurozentrische Blickverengung. Ansgar Nünning unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, dem ubiquitären Reden über ‚Krisen‘ eine wissenschaftliche Analyse dieses Redens im Sinne einer Selbstaufklärung entgegen zu setzen. Er entwickelt aus literaturwissenschaftlicher Sicht Bausteine einer Metaphorologie und Narratologie von ‚Krise‘, die zugleich Kriterien für eine klarere Unterscheidung von Krisen- versus Katastrophendiskurs zu liefern vermögen. Aus dieser Perspektive kann schließlich auch zwischen der Repräsentation realer Krisen und deren Fiktion durch mediale Inszenierung unterschieden werden. Den Abschluss bilden die Überlegungen des Historikers Jan Marco Sawilla, welche Funktionen den Krisenbegriff trotz seiner in den wissenschaftsgeschichtlichen Debatten eher noch steigenden Indifferenz für die pragmatische Arbeit so attraktiv machen. So eignet dem Krisenbegriff erstens das Potential, Prozesse sozialer Evolution chronologisch zu gliedern, zweitens eine normierende Wirkung, indem Krisenerscheinungen explizit oder intuitiv als ‚Abweichung‘ vom ‚Normalzustand‘ qualiÀziert werden, und drittens eine Bindekraft zur Erklärung einer Vielzahl heterogener, auf verschiedenen Ebenen angesiedelter Prozesse. Wenn hier sowohl fachintern als auch transdisziplinär Kosellecks Aufforderung, den „Begriff auszumessen“, gefolgt werden soll, so kann es selbstverständlich nicht darum gehen, Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zu überdecken. Stattdessen sollen Unterschiede und abweichende Gewichtungen deutlich markiert und damit ein geschärftes Bewusstsein für divergierende Vorannahmen und DeÀnitionen geschaffen werden. Bewusst stehen in diesem Panorama zum Einsatz des Krisenbegriffs nicht historische, sondern an der Gegenwart orientierte Fächer im Zentrum: Diese Auswahl ist bestimmt durch die Erwartung, dass sich gerade aus den für die Moderne entwickelten Theorien Impulse für den Blick auf die Vergangenheit gewinnen lassen.

DER BEGRIFF DER KRISE IN DER PSYCHOLOGIE1 Jürgen Straub Begriffsgeschichtliche Annotationen Die etymologische Verwandtschaft des erstmals bei Thukydides nachgewiesenen Wortes „Krise“ (griech.: krísis) mit der „Kritik“ ist bekannt. Sie verweist unter anderem darauf, dass in kritischen Lagen ein besonderes Urteil (griech.: krínesthai, urteilen) gefordert ist, sodann ein darin begründetes und daraus erwachsendes Handeln, das den misslichen Zustand möglichst ändert, Bedrohungen abwendet und neue Aussichten eröffnet, bereits eingetretene Schäden behebt oder lindert. Krisen verlangen, wie wir heute sagen, Krisenmanagement oder Krisenbewältigung, jedenfalls eine auf die Behebung von äußeren und/oder inneren Missständen zielende Bearbeitung der diagnostizierten (oder noch zu diagnostizierenden) Krise. Dabei ist der Blick oft auf die Poiesis (griech.: handeln, machen, herstellen) und die Logik der Zweckrationalität eingeengt.2 Gemeinhin gilt: Krisen sollen zielstrebig angegangen und mit angemessenen Mitteln effektiv bewältigt, in komplizierteren Fällen zuvor genau analysiert und triftig diagnostiziert werden. Die Psychologie gehört zu jenen spezialisierten Disziplinen, die zu diesem Zweck geeignetes Wissen bereitstellen. Sie richtet ihren Blick dabei, ihrem Namen gemäß, auf bestimmte, nämlich psychische oder, da seelische stets mit sozialen Phänomenen verwoben sind, auf psychosoziale Krisen.

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Der Aufsatz wurde im Wintersemester 2010/11 fertiggestellt, einer Zeit, in der mir eine von der Mercator-Stiftung gewährte Befreiung von der universitären Lehre im Rahmen eines MERCUR-Fellowship die dafür erforderliche Muße bescherte. Ich widme ihn jenen Freundinnen und Freunden, die in diesen Tagen nicht über Krisen schreiben durften, sondern sich darin bewegen mussten. Zur aristotelischen Unterscheidung zwischen Poiesis und Praxis vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Die wichtige handlungstheoretische Unterscheidung wurde im 20. Jahrhundert vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt. In der Philosophie, Soziologie und Psychologie lebt die begrifÁiche Differenzierung nicht zuletzt dort fort, wo es die Vielfalt und vor allem die Kontingenz der Praxis (bis hin zu den kontingenten, spontanen und kreativen Momenten im Handeln selbst) gegen überzogene Absolutheitsansprüche zweckrationalen Denkens und zielgerichteten Handelns im Zeichen instrumenteller Vernunft zu bedenken gilt; vgl. Straub: Handlung, Interpretation, Kritik, insb. S. 141–162. Dieser Gesichtspunkt ist für die hier lediglich beiläuÀg erwähnte Analyse des Handelns in der und gegen die Krise ebenso wichtig wie die Einsicht, dass in manchen Krisen alles Handeln an seine Grenzen gelangt und den Betroffenen nur noch bleibt, die ‚Dinge‘ sein zu lassen, wie sie nun einmal (geworden) sind, und allem, was geschehen ist und noch geschieht, mit Gelassenheit zu begegnen, so gut das im Erleiden des Unverfügbaren eben gelingen mag.

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Jürgen Straub

Der etymologische, pragmatische und semantische Zusammenhang zwischen Krise und Kritik ist im deutschen Adjektiv „kritisch“ noch präsent. Es kann auf eine prekäre Lage sowie auf ein Urteil oder eine Einstellung verweisen, in der Skepsis oder Ablehnung dominieren und in der der (kognitiv begründete und emotional gefärbte) Wunsch vorhanden ist, eine Veränderung herbeizuführen (nachdem krisenhafte Veränderungen bereits eingetreten sind). Die psychologische Erforschung „kritischer Lebensereignisse“, auf die ich noch eingehen werde, bewahrt nicht zuletzt diesen Zusammenhang. Was die Begriffsgeschichte des polyvalenten Ausdrucks „Krise“ angeht, sind für die im Folgenden interessierenden Entwicklungen und aktuellen theoretischen Positionen in der Psychologie noch einige weitere Bedeutungsaspekte wichtig: Die im griechischen Verb krínein versammelten Akte des Scheidens, Reinigens, Auswählens, Beurteilens und Entscheidens – die im Laufe der Zeit von „Kritik“ aufgesogen wurden – sowie die im medialen krínesthai enthaltenen Bedeutungen des Sich-Messens, Streitens und Kämpfens3 leben bis heute auch in der hier fokussierten Disziplin fort, werden aber speziÀziert. Die Veränderungen einschließende, kontinuierliche Verbindung mit der betagten Wort- und Begriffsgeschichte macht im Übrigen unmissverständlich klar, dass von Krisen vor allem dort die Rede ist, wo es um die Conditio humana und um die historisch und kulturell situierte Bilanzierung anthropologischen Wissens geht. Mit „Krisen“ waren und sind vornehmlich menschliche Angelegenheiten und das gesammelte Wissen darüber gemeint. Der Begriff bezieht sich auf Vorgänge im Leben sei es einer Person (die etwa eine Entwicklungs-, Beziehungs- oder Lebenskrise durchmachen kann; s. u.), sei es einer Gruppe bzw. eines Kollektivs variabler Größenordnung.4 In der Psychologie fungiert die „Krise“ primär als subjekttheoretischer Terminus und zugleich als relationaler Begriff, der eine in bestimmter Hinsicht qualiÀzierte Beziehung des Subjekts zu ‚etwas‘, einem ‚Objekt‘ – das natürlich ein Mensch sein kann –, logisch impliziert. 3

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Koselleck, Krise I., Sp. 1235. Kosellecks Bemühungen verdanken sich bekanntlich wegweisende, bis heute anregende Beiträge zur Begriffsgeschichte der „Krise“, wobei der Geschichtstheoretiker psychologische Arbeiten kaum einbezieht, weil ihn das Leben, das Selbst- und Weltverhältnis von Einzelnen nicht sonderlich interessiert. Demgemäß geht es in seinen Beiträgen vornehmlich um politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorgänge, die im Lichte eines dynamisierten, prozessualen Krisen-Modells betrachtet werden, eines Modells mithin, das erst in der Neuzeit scharfe Konturen annahm. Auch geschichtsphilosophische und theologische Deutungsmuster werden von Koselleck beachtet. Interessant bleibt unter anderem, dass sich die Verwendung des Begriffs im Feld von Gesellschaft und Politik einer metaphorischen Übertragung von krisis aus der Medizin verdankt (s. u.). Dafür waren ebenso berühmte wie berüchtigte Analogien zwischen dem Organismus, Körper oder Leib der Person und dem Gesellschaftskörper (Sozialkörper, gesellschaftlichen Organismus, etc.) wichtig. Solche „Kollektive“ reichen von Dyaden freundschaftlich oder partnerschaftlich liierter Menschen über Familien und andere Verbände einander nahestehender oder, z. B. durch gemeinsame Interessen, miteinander verbundener Leute bis hin zu unterschiedlichsten Organisationen, größeren Gemeinschaften und schließlich anonymen Großgruppen, die etwa als Generation, Geschlecht, Schicht oder Klasse, Milieu, Nation, Gesellschaft oder Kultur gefasst werden mögen. Entsprechend sind Ausdrücke wie etwa „Ehekrise“, „Börsenkrise“ oder sogar „Menschheitskrise“ geläuÀg.

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Die Pragmatik und Semantik eines genuin psychologischen Krisenbegriffs lässt sich in handlungstheoretischer Perspektive genauer klären.5 In dieser Sicht geht es nicht allein um das bewusst und intentional, zielgerichtet und zweckrational handelnde Subjekt, sondern um eine zu symbolischer (und in der Regel ab einem bestimmten Alter speziell zu sprachlicher) Kommunikation befähigte, kurz: um eine handlungsfähige Person, deren Leben von Widerfahrnissen ebenso sehr geprägt ist wie vom partiell selbstbestimmten Tun und Lassen, vom Erleiden und Leiden ebenso wie vom aktiven Zugang zur materiellen und ideellen, sozialen und psychischen Welt, von Gefühlen genauso wie von Gedanken, vom Einbruch des Kontingenten ebenso wie von Absichten und Zielen, Vorhaben und Plänen. Eingespannt zwischen Autonomie und Heteronomie, Aktivität und Passivität, erleben Personen ihre materielle und ideelle, soziokulturelle und psychosoziale Welt, nicht zuletzt ihr eigenes Leben und Selbst, mitunter als krisenanfällig oder krisenhaft. Und sie bedenken und gestalten es im Sinne dieser (nach der hier vertretenen Auffassung) für die moderne Psychologie geradezu konstitutiven Prämisse. Für eine psychologische Anthropologie, die sich als empirische Wissenschaft begreift, welche nicht bloß Möglichkeiten und Potentiale auÁistet, bedeutet das: Jeder Mensch lernt im Laufe seines Lebens zwangsläuÀg irgendwelche Krisen kennen. Zahlreiche Lernvorgänge und viele wichtige Schritte in der Entwicklung eines Individuums sind ohne Krisen unmöglich, und selbst seine je aktuelle seelische Verfassung gilt längst als konÁikthafte dynamische Struktur, die stets auch Krisenpotentiale enthält. In der modernen Psychologie gehören das „Subjekt“ oder die „Person“ einerseits, die „Krise“ andererseits, pragma-semantisch zusammen. Sie betrachtet diese Begriffe als interdependente und interdeÀnierbare Konzepte. Man kann sogar so weit gehen zu sagen: Ohne Bezugnahme auf die als „Krise“ auf den Begriff gebrachten Erlebnisse und Erfahrungen wäre gar nicht recht einsichtig zu machen, was die moderne Psychologie unter einer Person oder einem Subjekt, dem Menschen in seiner Modernität zumal, versteht. Diese Sicht des (modernen) Menschen wurde in der wissenschaftlichen Psychologie übrigens zügig universalisiert. Die psychologische Anthropologie unserer Tage ist also durchaus auch in dieser Hinsicht ein Ergebnis nostrozentrischer Operationen. Als solches steht sie freilich seit geraumer Zeit auf dem Prüfstand historischer und kulturvergleichender Studien. Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg, auf dem sich die Pragma-Semantik des hier fokussierten Begriffs vielfach wandelte und weitete. Ich blicke noch einmal kurz zurück. Bereits in der griechischen Antike – wahrscheinlich seit Hippokrates – fungierte die krísis nicht zuletzt als Terminus der Medizin und bedeutete in diesem Bereich ganz elementar „jene knapp bemessene Wende, in der die Entscheidung fällt über Leben und Tod“.6 Die Krise war nach dieser ärztlichen Auffassung „der entscheidende Moment im Krankheitsverlauf“,7 in dem sich der Zustand des Pati5 6 7

Eine derartige Perspektive, die praktische und pathische Aspekte der menschlichen Existenz umfasst, wird skizziert von Straub: Handlung, Interpretation, Kritik, S. 10–56. Koselleck: Krise I., Sp. 1235; vgl. sodann Tsouyopoulos: Krise II., Sp. 1240 ff. Tsouyopoulos: Krise II., Sp. 1241.

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enten zum Besseren oder vollends zum Schlechten wenden konnte.8 Auch hier wird der temporale Sinn des Ausdrucks deutlich, bezeichnet er doch eine (strukturierte) Situation, die eine zeitliche Differenz markiert, mithin ein Vorher von einem Nachher scheidet und die Aufmerksamkeit auf die entscheidende Funktion der intermediären kritischen Lage richtet. Auf die darin verorteten Ereignisse, ihre Folgen und Voraussetzungen, speziell auch auf die aufeinander bezogenen Widerfahrnisse und Handlungen der involvierten Menschen kommt es an. Dies alles bestimmt den Charakter der Krise und ihren mehr oder weniger offenen Ausgang mit. Die Krise erscheint mithin selbst als Prozess, in dem das Werden des oder der von der Krise betroffenen Menschen auf dem Spiel steht. Stets bringt er Veränderungen mit sich und besteht in solchen, und zwar vornehmlich in Veränderungen, die (mehr oder weniger) als schmerzhaft oder leidvoll, anstrengend und kräftezehrend erlebt werden. Die bereits in der antiken griechischen Medizin bemühte, im Lateinischen sogar vorherrschende Dramaturgie eines Kampfes um Leben oder Tod leiblicher Wesen in entscheidender Lage bleibt in der modernen Psychologie durchaus erhalten. Seine etymologische Herkunft macht das plausibel. Der Begriff der Krise gelangt von der Allgemeinmedizin her in die moderne Psychologie (und die Psychiatrie als Teilgebiet der Medizin). Wie SchönpÁug festhält, war es „wohl der Schelling nahe stehende Mediziner und Psychologe Carl Gustav Carus (1789–1869)“, der den Begriff erstmals „auf den Entwicklungsverlauf einer seelischen Krise“ übertrug.9 Auch hier gilt Otto Friedrich Bollnows später formuliertes Diktum: „Jede Krise steht in der Gefahr einer Katastrophe“.10 Am entscheidenden Wendepunkt der Krise kann eine Person entweder genesen oder aber vollends Schaden nehmen, z. B. in eine Neurose oder Psychose geraten (oder an sonstigen „Störungen“ zu leiden beginnen, wie heute, vorschnelle Pathologisierungen vermeidend, gesagt wird). All das geht in der Krise – nach ‚klassischem‘ Verständnis – ziemlich abrupt, jedenfalls relativ zügig vor sich und reißt den emotional ohnehin labilen, an und in der Krise leidenden Menschen mit sich. Am Leitfaden der bislang skizzierten Linien der Begriffsgeschichte hat der in der modernen Psychologie gängige Begriff der „Krise“ vielfältige Bedeutungen entwickelt, die die Komplexität der „Krise“ bis zur Unübersichtlichkeit steigern. Wie immer in solchen Lagen gilt es, Unterschiede auszumachen und das Verschiedene fortan einigermaßen sorgfältig auseinanderzuhalten.

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Galen baute diesen Gedanken zu einer prognostisch ambitionierten Lehre von der Krise und den kritischen Tagen im Krankheitsverlauf aus. Er prägte vor diesem Hintergrund auch bleibende Unterscheidungen wie die zwischen akuten und chronischen Krankheiten (ibid.). Das Interesse an einer Medizin der Krise und der kritischen Tage war im 16. Jahrhundert auf dem Höhepunkt angelangt, Áaute nach dem 17. rapide ab und wurde fortan durch andere theoretische Perspektiven der modernen Medizin bald vollends verdrängt. SchönpÁug: Krise III., Sp 1242. Bollnow: Krise und neuer Anfang, S. 9. Bollnows Studie ist einer an pädagogischen Belangen orientierten philosophischen Anthropologie verpÁichtet. Sie führt Grundgedanken aus zahlreichen anderen Schriften des Autors fort und ergänzt sie, etwa Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik, darin insbesondere das mit „Die Krise“ betitelte Kapitel.

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Existenziell bedeutsame und andere Krisen: erste systematische Unterscheidungen Ich werde mich im Folgenden an jene Bedeutung halten, welche die „Krise“ als ein existenziell wichtiges Geschehen ausweist, als einen Vorgang jedenfalls, der die betroffene Person, vielleicht eine Mehrzahl von Menschen, in ihrer Handlungs- und Lebenspraxis emotional und kognitiv in Anspruch nimmt, oft sogar im Übermaß an ihren Ressourcen zehrt und sie deswegen an die Grenzen ihrer Kraft bringt – bis hin zu nachhaltig verstörenden Belastungen und längerfristig demotivierenden Verunsicherungen, die die Orientierungsfähigkeit, das Erlebnis- und Handlungspotential des oder der Betroffenen massiv untergraben und sogar zerstören können. Damit sehe ich von Verwendungsweisen ab, die den Krisenbegriff in zwar keineswegs völlig harmlosen, aber dennoch sehr viel ‚leichteren‘, ‚oberÁächlicheren‘ Bedeutungen gebrauchen. In diesen Fällen geht es lediglich um vergleichsweise kurzfristige und relativ schnell behebbare Unterbrechungen im Denken und Handeln einer Person, um rasch vorübergehende Irritationen in ihrem Gefühlsleben oder um andere ‚überschaubare‘ Probleme in ihrer Praxis (auch der Praxis einer Gruppe). In der Regel sind solche Krisen durch ‚einfachere‘ Anpassungsleistungen zu beheben. Übergänge zwischen daily hassels oder anderen Störungen alltagsweltlicher Routinen einerseits, ontologischen Verunsicherungen und existenziell bedeutsamen Krisen andererseits sind natürlich möglich und kommen tatsächlich vor. Umso wichtiger ist die akzentuierende Unterscheidung zwischen folgenden, hier nur kurz genannten Grundtypen möglicher Krisen, denen sich die Psychologie gleichermaßen widmen kann (unter verschiedenen Namen): • •



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Handlungskrisen stellen Störungen gewohnter Handlungsabläufe dar, weil der Akteur auf Widerstand in der materiellen, sozialen oder ideellen Welt stößt; Interaktionskrisen sind Handlungskrisen besonderer Art. Als soziale Phänomene werden sie z. B. durch Erwartungsenttäuschungen oder Regelverstöße ausgelöst (vgl. etwa Harold GarÀnkels ethnomethodologische Krisenexperimente11); kognitive Krisen können wiederum als besonderer Fall von Handlungskrisen aufgefasst werden – insofern man zumindest einen guten Teil dessen, was man in der Psychologie „Kognitionen“ nennt, als mentale Handlungen auffassen kann (vgl. hierzu etwa das entwicklungspsychologische Werk Jean Piagets, speziell sein theoretisches Konzept der Äquilibration, aber auch Leon Festingers sozialpsychologische Theorie der kognitiven Dissonanz, das auf einen durch Inkonsistenz erzeugten KonÁikt bzw. wiederum auf eine darin begründete und zu überwindende kognitive Krise gemünzt ist12). GarÀnkel: Studies in Ethnomethodology. Literatur zu Piaget und Festinger Àndet sich in jedem einschlägigen Lehrbuch. Einen ebenfalls primär sozialpsychologischen Ansatz im Rahmen der kognitiven Lebensereignisforschung, der sich auf Arbeiten Festingers, Werner Heiders, Herold Kelleys und Bernard Weiners stützt, präsentiert Rosch Inglehart: Kritische Lebensereignisse.

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Im Übergangsfeld zwischen alltäglichen Krisen der besagten Art und existenziellen (Lebens-)Krisen bewegen sich die folgenden Typen: •





Lernkrisen, mit denen sich allerdings nur wenige psychologische Lerntheorien wirklich befassen (vgl. hierzu die kaum beachtete Theorie „expansiven Lernens“ von Klaus Holzkamp13). Die solche Krisen forcierenden „Diskrepanzen“ tangieren elementare Bedürfnisse und Begehren, Wünsche und Sehnsüchte, Interessen, Orientierungen und Ziele des Subjekts – und können gerade deswegen als krisenhaft verstanden werden und in existenziell bedeutsame Krisen übergehen; Entwicklungskrisen, zu denen neben den oben angesprochenen, relativ überschaubaren und ‚harmlosen‘ Krisen im Rahmen der kognitiven Entwicklung alle möglichen Krisen zählen, die teilweise auch existenzielles Gewicht erhalten können oder ohnehin besitzen (wie etwa im Modell Erik Homburger Eriksons, auf das ich noch eingehen werde, oder auch in der Entwicklungstheorie Sigmund Freuds oder Klaus Riegels14); Beziehungskrisen, insbesondere dann, wenn sie nicht nur irgendwelche „signiÀkante Andere“, sondern enge Freundschaften und intime Partnerschaften betreffen. Beziehungskrisen können als temporär ausgedehnte und in diesem Sinn verstetigte Interaktionskrisen aufgefasst werden, wobei jener Fall, welcher existenziell bedeutsamen Krisen nahekommt oder diesen Typus bereits verkörpert, just dort anzutreffen ist, wo in zerbrechlichen Anerkennungsverhältnissen viel auf dem Spiel steht.15

Die dritte Klasse bilden nun just solche hier vor allem interessierenden existenziellen Krisen oder Lebenskrisen.

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Holzkamp: Lernen; vgl. Faulstich und Ludwig: Expansives Lernen; Straub: Lerntheoretische Grundlagen. Riegel: Adult Life Crisis; vgl. dazu die kritische Besprechung von Ulich: Krise und Entwicklung, S. 67–70. Aus der unübersehbaren Fülle der Literatur, die vom populärwissenschaftlichen Psychologieund Psychotherapie-Schrifttum – vor allem im Genre von Ratgebern – bis hin zu ausgefeilten theoretischen Konzepten der für alle Beziehungen und ihre Krisen konstitutiven Kommunikation und Interaktion reicht, seien hier lediglich ein paar seit langem bekannte Namen angeführt: Jürg Willi als seriöser Repräsentant der ersten Kategorie, Gregory Bateson, Ronald Laing, Paul Watzlawick oder Helm Stierlin als Vertreter der zweiten. Erwähnt sei schließlich, dass gerade die Fahndung nach der „Beziehungskrise“ mit Suchmaschinen im Internet besonders viele Treffer bringt. So wird man etwa unter http://www.partnerschaft-beziehung.de/Beziehungskrisen.html Áugs über die ersten Anzeichen einer Beziehungskrise informiert, als da wären: nachlassende Unterstützung, schwindender Respekt, emotionale Erpressung, fehlende oder negative Kommunikation, negative Gefühle und fehlende Achtung, fehlende Rituale und gemeinsame Aktivitäten, nachlassendes sexuelles Interesse.

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Bestimmungselemente eines zeitgemäßen psychologischen Begriffs der (existenziell bedeutsamen) „Krise“ Die folgende Darstellung stützt sich weitgehend auf aktuelle Ansätze und Positionen, ohne einem bestimmten theoretischen Standpunkt verpÁichtet zu sein. Eine allgemein anerkannte DeÀnition gibt es bis heute nicht. Wenngleich die Begriffsverwendung uneinheitlich ist, bedarf es einer Art propädeutischen Bestimmung, die wesentliche, zumindest weitgehend anerkannte Aspekte bündelt und heuristische Perspektiven für einen genuin psychologischen Begriff der Krise eröffnet. Als ArbeitsdeÀnition eignet sich ein Vorschlag von Dieter Ulich, der eine Krise zunächst sehr vage als „psychischen Prozess, nämlich als eine besondere Art von Veränderungsgeschehen“16 bestimmt und ihn folgendermaßen näher qualiÀziert (ohne dadurch allzu enge theoretische Festlegungen zu treffen): Eine Krise ist „ein belastender, temporärer, in seinem Verlauf und seinen Folgen offener Veränderungsprozeß der Person, der gekennzeichnet ist durch eine Unterbrechung der Kontinuität des Erlebens und Handelns, durch eine partielle Desintegration der Handlungsorganisation und eine Destabilisierung im emotionalen Bereich.“17 Diese DeÀnition setzt voraus, dass Krisen nur unter bestimmten (speziÀzierbaren) Bedingungen entstehen und ganz verschiedene Folgen zeitigen können. Ulich schließt – wie die ordinary language philosophy oder die psychologische PragmaSemantik18 – ganz ausdrücklich an unser alltagsweltliches Verständnis des dort schon psychologisch konturierten Ausdrucks an. Im Alltag (und auch in Teilen der wissenschaftlichen Psychologie, wo das Wort gar nicht als ausgefeilter theoretischer Terminus fungiert) sprechen wir nach Ulich von einer Krise 1. „wenn sich negative Veränderungen für die Person bedrohlich zuspitzen, ‚dramatisieren‘, verschärfen; 2. wenn die Person als Ganzes in ihrem Selbst bzw. in ihrer Identität betroffen ist; 3. wenn die Person die Veränderung als Unterbrechung, Destabilisierung erlebt; 4. wenn dem Geschehen zugleich eine bestimmte Verlaufsstruktur und Dynamik (zum Schlechten oder zum Guten) inne zu wohnen scheint, die von der Person als Beschleunigung ihrer Zustandsänderung, manchmal auch als Handlungsund Entscheidungsdruck erlebt wird; 5. wenn die erlebten Belastungen trotz ihres akuten Verlaufs als zeitlich begrenzt erlebt werden; 6. wenn Stimmungsschwankungen, Ambivalenzen, Unsicherheiten im Hinblick auf ‚Lösungen‘, Auswege und Selbsteinschätzung zentral sind.“19 16 17 18 19

Ulich: Krise und Entwicklung, S. 49. Ibid., S. 51–52 (kursiv im Original). Z. B. in Gestalt der von Uwe Laucken vertretenen „Logographie“ oder von Jan Smedslunds „Psycho-Logik“: Laucken: Denkformen der Psychologie; Smedslund: Psycho-Logic. Ulich: Krise und Entwicklung, S. 51.

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Es gibt eine ganze Reihe an weiteren DeÀnitionsvorschlägen, die Ulichs Begriffsbestimmung mehr oder weniger ähneln.20 Lässt man solche Vorschläge Revue passieren, zeigt sich schnell, dass es gar nicht nötig ist, eine allgemein verbindliche, unabhängig vom jeweiligen Verwendungskontext gültige DeÀnition zu suchen. Eine solche zwangsläuÀg äußerst abstrakte Begriffsbestimmung liefe Gefahr, nichtssagend zu sein und keinerlei präzise Unterscheidungen von (in dieser oder jener Hinsicht) verwandten Konzepten mehr zu gestatten (man denke an Veränderung, Wandel, Übergang oder Transition, Transformation, etc.). Stattdessen soll hier eine Begriffsanalyse vorgeschlagen werden, die die komplexe und – je nach dem Kontext und den Zwecken konkreter Begriffsverwendungen – variable Bedeutung des Begriffs erlaubt. Wer sie explizieren will, muss eine Analyse versuchen, die wichtige mögliche (und faktisch mehr oder weniger gebräuchliche) Bestimmungselemente identiÀziert. Solche Elemente bilden ein Begriffsfeld oder -netz, das die einzelnen Begriffsverwendungen keineswegs insgesamt voraussetzen müssen. Solche konkreten Gebrauchsweisen können vielmehr einzelne Elemente herausgreifen und akzentuieren sowie in verschiedenen Varianten kombinieren, so dass der Begriff der Krise spezielle Nuancen annehmen kann.21 Folgende (teils nach wie vor innovative) Aspekte, die für die zeitgenössische Psychologie des 21. Jahrhunderts unverändert wichtig sind, seien angeführt: 1. In psychologischer Perspektive sind Krisen an das subjektive Erleben und die Deutungsleistungen einer Person gebunden (oder einer Mehrzahl von Menschen, die in manchen Fällen als Kollektiv bestimmt werden können). Es gibt in dieser Perspektive also keine objektiven, subjektunabhängigen Kriterien für die Feststellung einer Krise. Ob Áüchtige Ereignisse oder bleibende Zustände zu einer Krise führen oder als (Bestandteil einer) Krise erlebt werden, hängt von personalen Voraussetzungen, materiellen und sozialen Ressourcen möglicher Betroffener ab, nicht zuletzt von deren stets an subjektive Deutungsleistungen gekoppelten Gefühlen und Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen. Im Fall betroffener Kollek20

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So gut wie alle dürfen eine gewisse Plausibilität in Anspruch nehmen, ohne als völlig unumstritten gelten zu können. Das zeigt etwa auch der Vorschlag von Reiter und Strotzka: Der Begriff der Krise, S. 16. Als psychosoziale Krisen werden dort bezeichnet: „vorwiegend akute Ereignisse und/oder Erlebnisse, die überraschend eintreten, in der Regel einen Verlust mit sich bringen, den Charakter des Bedrohlichen haben, da sie Ziele und Werte in Frage stellen; [Ereignisse, die] von Angst, InsufÀzienzgefühlen und HilÁosigkeit begleitet sind, vor Angst Entscheidungen und Anpassungsleistungen in relativ kurzer Zeit erzwingen, dabei die Problembewältigungskapazität aufs Äußerste beanspruchen bzw. überfordern; deren Ausgang ungewiss ist und die die Chance zur Neuorientierung bieten.“ Die durch speziÀsche Selektionen und Kombinationen konstituierten Bedeutungen passen zu jeweils speziellen Zielen und Zwecken. Die Begriffsvarianten sind durch eine Art „Familienähnlichkeit“ im Sinne Ludwig Wittgensteins (Philosophische Untersuchungen, S. 66 ff.) miteinander verbunden, ähneln einander also mehr oder weniger, und zwar unter durchaus wechselnden Gesichtspunkten. Manche Krisenbegriffe (bzw. Begriffsverwendungen) haben dieses, andere jenes miteinander gemeinsam. Irgendetwas Wichtiges teilen alle psychologischen Krisenbegriffe. Ansonsten variieren sie, und zwar entlang einiger pragma-semantischer Merkmale, die konkrete Begriffe eben besitzen können oder nicht, die sie besonders betonen oder eher beiläuÀg mitführen mögen.

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tive sind solche Deutungen Ergebnisse sozialer Aushandlungsprozesse oder stillschweigender Übereinkünfte. Eine bloße Konstruktion im Sinne einer völlig willkürlichen Invention einer oder mehrerer Personen ist eine Krise dennoch nicht. Der psychologische Begriff der Krise ist relational strukturiert, mit anderen Worten: Er ist ein mindestens dreistelliger Prädikator. Seine pragma-semantisch korrekte Verwendung setzt demnach unabdingbar voraus, dass jeweils angegeben werden kann, wer das Subjekt ist, welches etwas, mithin (auch logisch oder grammatikalisch betrachtet) ein Objekt (eine Lage, einen Zustand nach einem Ereignis oder einer kumulativ wirksamen Serie von Ereignissen, ein bestimmtes Geschehen selbst), als Krise erlebt, und zwar in bestimmter Hinsicht. Allerdings ist es oft gar nicht so einfach, klar und deutlich von einer manchmal lediglich in Anzeichen, Indizien oder (vielschichtigen) Symptomen manifest werdenden Krise zu reden, weil sich der betroffenen Person deren Ursachen oder Gründe und sogar ihre Qualität als Krise (noch) entziehen können. Letzteres ist verständlich, da – psychoanalytisch gesprochen – die Abwehr der Krise zumindest vorübergehend dem Selbstschutz und der Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls dienen kann. Die (psychoanalytische) Tiefenpsychologie hebt dabei hervor, dass Deutungen keineswegs bewusst vorgenommen werden müssen, sondern unbewusst oder vorbewusst ablaufen können (und dann von latenten Wünschen und Motiven leiblicher Subjekte bestimmt sind). Festzuhalten bleibt: Ohne das Subjekt und dessen Dazutun würde der relational strukturierte, psychologische Begriff der Krise pragmatisch und semantisch leer. So gibt es selbst im Fall einer Katastrophe wie einer zerstörerischen Überschwemmung von Wohngebieten oder eines verheerenden Brandes Spielräume des (leiblichen) Verhaltens, die Personen so oder so nutzen können, nicht zuletzt in Abhängigkeit von persönlichen Dispositionen, materiellen und sozialen Ressourcen. Dasselbe gilt für andere, generell belastende Situationen wie den Tod oder die schwere Krankheit eines nahestehenden Menschen. Immer hängt es auch von den jeweils betroffenen Subjekten selbst und deren Situationsdeutungen ab, ob und in welcher Weise sie tatsächlich in eine Krise geraten und wie diese ausfällt, ob und wie sie wieder aus ihr herauskommen, usw. Bekanntlich sind nicht alle – aufgrund genetisch oder lebensgeschichtlich vermittelter Dispositionen – gleichermaßen verletzlich (vulnerabel) oder widerstandsfähig (resistent). 2. Ein elementares Bestimmungsmerkmal jedes psychologischen Krisenbegriffs ist das subjektive Erleben einer leiblichen Person, und diesbezüglich lassen sich nun ganz traditionell verschiedene Dimensionen unterscheiden. Selbstverständlich ergänzen sich diese Dimensionen. Sie überlappen sich sogar, so dass das zu analytischen Zwecken Unterschiedene im wirklichen Erleben und noch in der (in alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Kontexten) artikulierten Erfahrung einer Krise einen zusammenhängenden, multidimensionalen Komplex bildet. In psychologischer Sicht manifestieren sich Krisen a. affektiv bzw. emotional: Diese Dimension rangiert in einschlägigen DeÀnitionen oder ausführlicheren, extensionalen Begriffsbestimmungen oft an erster Stelle. Egal, ob das ausdrücklich gesagt oder stillschweigend vorausgesetzt wird: Gefühle gelten in der Psychologie prinzipiell und generell als konstitutive Bestandteile, mithin als conditio sine qua non einer jeden Krise. Dabei werden selbstver-

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ständlich jene Gefühle besonders in Betracht bezogen, welchen aus der Sicht des erlebenden Subjekts eine negative Qualität zugeschrieben werden kann. Das soll heißen: Solche Gefühle sind unerwünscht, besitzen Widerfahrnischarakter, drängen sich einer Person also unausweichlich auf und werden von ihr (über kurz oder lang) als Beeinträchtigungen und Gefährdungen ihres subjektiven WohlbeÀndens, ihres Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungspotentials erlebt. Solche Gefühle mindern die Lebensqualität und untergraben womöglich nachhaltig die Chancen auf erlebbares Glück in einem einigermaßen gelingenden Leben. Solche Gefühle stören, zumindest im Moment des Erlebens (selbst wenn sie bereits in dieser Phase vom fühlenden Subjekt in einer vorausentworfenen Retrospektive als notwendig oder wichtig evaluiert werden mögen, etwa durch eine beruhigende und tröstende Rationalisierung, die bereichernde, entwicklungsfördernde Funktionen auch negativer Gefühle vergegenwärtigen und so Akzeptanz schaffen und Hoffnung machen soll). Negative Gefühle bringen das erlebende Subjekt in einen aversiven Zustand, der sich leiblich, seelisch und geistig manifestiert und auch sozial bedeutsam ist, weil er unmittelbar (und/oder kurz-, mittel- und langfristig) die Kommunikation und Interaktion, Kooperation und Koexistenz mit signiÀkanten Anderen beeinÁussen und beschädigen kann. Besonders berüchtigte Gefühle sind vor allem die folgenden: •





zahllose Varianten von Angst und Furcht; man denke an diffuse Ängste oder konkrete Befürchtungen, jemanden oder etwas zu verlieren, verlassen zu werden und allein zu sein, das bloße Überleben nicht mehr sichern zu können, usw. Gerade die auf eingetretene oder drohende Verluste bezogenen Ängste und Befürchtungen können in Krisen wiederum höchst variantenreich auftreten, etwa als Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen; kaum weniger besorgniserregend ist der erlebte oder imaginierte Verlust eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bislang die eigene elementare Vitalität oder genossene Lebensqualität verbürgten: Man denke etwa an die (vermeintlich) abblätternde Schönheit des alternden Körpers, an mannigfache Beeinträchtigungen der Sinne oder das Schwinden von sexueller Potenz und Lust, oder an das Schwinden des Gedächtnisses und Erinnerungsvermögens; Trauer, wobei diesbezüglich noch immer Freuds Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie wichtig ist, auch in verwandelten und doch verwandten Differenzierungen verschiedener Formen der (‚normalen‘ und unumgänglichen sowie der pathologischen oder pathogenen, ‚komplizierten‘) Trauer; auch unterbleibende Trauer (etwa durch unbewusste Verdrängung eines Verlusterlebnisses und seiner Bedeutung für das Subjekt) kann zu einer Krise gehören oder sie vielleicht erst auf den Weg bringen; Niedergeschlagenheit und depressive Verstimmungen; Resignation, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit; Ekel (vor sich, den anderen, dem Leben); Gefühle der Isolation und Einsamkeit; Gefühle der Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit; Gefühle der InsufÀzienz und DeÀzienz aller Art.

b. motivational und volitional: Es versteht sich von selbst, dass die oben angeführten Gefühle, die zu Krisen gehören können, auch die Antriebs- und Willenskraft

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eines Menschen beeinträchtigen oder lahmlegen können. Obwohl es in Krisen auch zu symptomatischen Aktivitätssteigerungen bis hin zu ausgeprägter und zeitweise anhaltender Hyperaktivität kommen kann – zu fast manischen Zuständen, in denen Personen auch im psychoanalytischen Sinn unbewusst agieren mögen (bzw. etwas ausagieren, ohne dass ihnen das treibende Motiv ihres Tuns klar wäre) –, sind gegenteilige Verfassungen, die durch Antriebs- und Willensschwäche gekennzeichnet sind und das Handeln blockieren, besonders typisch. Zu vielen der oben genannten emotionalen Anzeichen passt es, dass von Krisen betroffene Personen die Kontrolle über ihre Motivations- und Willenskraft mehr oder minder einbüßen, Lustlosigkeit empÀnden und in apathische Reglosigkeit fallen. c. kognitiv: Eine Krise kann auch die kognitive Funktionstüchtigkeit des Menschen beeinträchtigen. Wer nicht mehr weiß, „wo ihm (oder ihr) der Kopf steht“, kann keine klaren Gedanken fassen und büßt (vorübergehend) die Fähigkeit ein, sich in gewohnter Weise wie selbstverständlich zu orientieren und zu entscheiden – im materiellen und im sozialen Raum, wobei letzterer nicht zuletzt aus Werten und Normen besteht, die sinnhaftes Handeln ermöglichen und strukturieren. Wer eine akute Krise durchlebt, verliert womöglich den Sinn für jene Koordinaten, welche es gemeinhin erlauben, ganz selbstverständlich zwischen links und rechts, gut und böse zu unterscheiden. Krisen beeinträchtigen so nicht zuletzt die praktische Vernunft und speziell die kognitive Kompetenz, moralische Aspekte von Entscheidungen und Handlungen bedenken und argumentativ begründete Urteile fällen zu können (im Sinne der Theorie von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg etwa). Auch andere kognitive Kompetenzen mögen in einer Krise in Mitleidenschaft gezogen werden, von der Fähigkeit, logische Widersprüche und kognitive Dissonanzen als solche zu erkennen, über den zeitlichen Orientierungssinn bis hin zu der (viele Aspekte unserer kognitiven Ausstattung umfassenden) narrativen Kompetenz, die die Grundlage dafür ist, Erfahrungen und Erwartungen in Form von Geschichten zu artikulieren.22 Erzählungen bilden häuÀg den Rahmen dafür, Urteile fällen, Entscheidungen treffen, Ziele setzen und Handlungen entwerfen zu können, die zu dem passen, was eine Person – alle Gründe des Herzens und Vernunftgründe mitunter sorgfältig abwägend23 – eigentlich wünscht und wirklich will. d. performativ/praxisch/aktional/behavioral/konnativ: Das in den obigen Punkten Ausgeführte plausibilisiert zur Genüge, dass sich eine Krise notwendigerweise im Verhalten ankündigt und in aller Regel performativ manifestiert. e. leiblich/psychosomatisch: Auch diesen Aspekt kann man hier der Einfachheit halber als eine Implikation des bereits Dargelegten verstehen, da etwa Gefühle bekanntlich per se leibliche Phänomene sind und sich bisweilen nachhaltig in körper22

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Geschichten verstehen und selbst erzählen zu können ist nicht nur eine Bedingung dafür, der Welt und dem in ihr situierten Selbst Bedeutung verleihen zu können, sondern dies in einer Weise zu tun, dass Erzählungen in der Tat als Ausdruck der narrativen Intelligenz oder phronetischen Vernunft aufgefasst werden können. Vgl. dazu Bruner: Actual minds, possible worlds; ders.: Acts of Meaning; Ricœur: Zufall und Vernunft; ders.: Das Selbst als ein Anderer; Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden; Echterhoff und Straub: Narrative Psychologie. Frankfurt: Gründe der Liebe.

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lichen Veränderungen – psychosomatischen Beschwerden etwa – niederschlagen, nicht zuletzt in Beeinträchtigungen des leiblichen Orientierungssinns. f. sozial: Nur der Vollständigkeit halber sei noch einmal erwähnt, dass es keine psychische Krise gibt, die nicht als soziales Phänomen zu begreifen wäre. 3. Der psychologische Begriff der Krise erscheint heute gleichsam zeitlich ‚gedehnt‘ oder ‚gestreckt‘. Dies betrifft viererlei Aspekte: a. Die Genese bzw. Entstehungsgeschichte einer psychosozialen Krise: Der Begriff bezieht sich längst nicht mehr (nur) auf ziemlich abrupt einsetzende, plötzlich hereinbrechende, klar abgrenzbare (Einzel-)Ereignisse sowie ziemlich zügige Verläufe des krisenhaften seelischen Geschehens, sondern auch auf das mitunter sehr allmähliche Entstehen von Krisen, ihre sukzessive Genese sowie zögerliche und diffuse Ausbreitung. Hinsichtlich ihrer Entstehung und Genese lassen sich also von spontanen, punktuellen und direkten auch indirekte, kumulative oder summative Krisen abgrenzen. Letztere ähneln unter dem hervorgehobenen Aspekt dem von Fritz Schütze in die soziologische Biographieforschung eingeführten Konzept der „negativen Verlaufskurve“.24 b. Eine Krise kann sich, unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte, in ihrer eigenen Dauer mitunter lange hinziehen. Mitunter nimmt die Bearbeitung und Überwindung Jahre in Anspruch (falls das überhaupt möglich sein sollte) und wird so zu einem mehr oder minder dauerhaften oder permanenten Bestandteil des Seelenlebens einer Person. Gelassenes Abwarten und Geduld mögen dann ebenso notwendig sein wie beharrliche aktive Bemühungen um die Änderung der Situation oder jeweils relevanter Aspekte des eigenen Selbst. Während die kurzzeitige Krise als vorübergehender Bruch in Erscheinung tritt und Diskontinuität markiert, verleiht die länger währende, in diesem Sinne permanente Krise dem Leben eine eigene Form der Dauer oder Kontinuität, sobald der Einschnitt erfolgt ist und sich seine ersten Folgen manifestiert haben. Im zweiten Fall, so könnte man sagen, wird die jeder Krise inhärente Zäsur tendenziell verstetigt (und dadurch als Zäsur verwischt, allmählich unkenntlich, vergessen gemacht). Das markante Ereignis oder Geschehen und seine psychischen Folgen dauern an und setzen sich fort (iterieren, variieren sich, etc.). c. Außerdem können die Folgen einer ‚an sich‘ bereits bewältigten Krise von unterschiedlicher Dauer sein. Von momentanen Verunsicherungen des Subjekts bis hin zu unabänderlichen (Nach-)Wirkungen, die das Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungspotential der betroffenen Person nachhaltig untergraben und womöglich zerstören, reicht hier die Palette. Diese Unterscheidung ist mit der Differenzierung zwischen überwindbaren und zumindest in manchen ihrer Folgen unheilbaren Krisen verwandt (wobei letztere eigentlich keine Krisen im ursprünglichen, auf eine zeitliche Begrenzung abhebenden Sinne des Wortes mehr sind). d. Schließlich lässt sich feststellen, dass der Zeitpunkt des Einsetzens von Folgen einer Krise sehr stark variieren kann. Mitunter liegt dieser Zeitpunkt Jahre nach einem kritischen Ereignis oder der ersten Manifestation einer Krise. Manchmal 24

Schütze: Prozessstrukturen des Lebenslaufs.

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sind Krisen sogar nachträgliche Phänomene ganz im Sinne von Sigmund Freuds Konzept der Nachträglichkeit.25 Viele Folgen deuten sich lange Zeit gar nicht oder allenfalls undeutlich an, bleiben mehr oder weniger latent, bis sie dann doch noch, oft unerwartet, allmählich oder abrupt manifest werden. Die skizzierte, vierfache Ausweitung der zeitlichen Dimension im Begriff der Krise spiegelt eine semantische Entwicklung wider, die man auch dem „Trauma“ nachsagen kann.26 Auch dieser Begriff wurde bekanntlich von der Medizin (und speziell der Chirurgie) in die Psychologie exportiert. Während er dort stets eine plötzliche, schlagartige Verletzung von Gewebe bezeichnete (abgeleitet von titroskein, griech.: durchbohren), bezeichnete er hier zunächst eine psychische Verletzung, die sich der Heftigkeit eines singulären Ereignisses verdankt, das die Verarbeitungskapazitäten des Subjekts hoffnungslos überfordert und die gesamte psychische Organisation in Mitleidenschaft zieht. Die Verwendung des medizinischen Begriffs als psychologische Metapher war auch in diesem Fall wichtig und nachhaltig: Dem durch äußere Kräfte und physische Läsionen hervorgerufenen Trauma wurde und wird bis heute ein Trauma zur Seite gestellt, das aus nicht mit bloßem Auge sichtbaren, abrupten und massiven Beschädigungen der Seele im Verlauf der Geschichte des Subjekts hervorgeht. Die Bedeutung des „Traumas“ weitete sich in der Psychologie und Psychoanalyse sodann schon bald auf ein seelisches Geschehen aus, das nicht mehr unbedingt als abruptes, exzessives Ereignis mit großer Erlebnisintensität und ebenso unmittelbaren wie dauerhaften traumatischen Folgen aufgefasst werden musste. Es gibt eben auch das sukzessive und kumulativ sich bildende Trauma, das lange unterschwellig ist und nur allmählich erschütternd wirkt. Bereits Sigmund Freud hatte beide Varianten im Blick.27 4. Die Bemerkungen zur Variabilität und Ausdifferenzierung der zeitlichen Struktur von Krisen legen es nahe, jenen lange Zeit beliebten (und auch heute noch verbreiteten) allgemeinen Verlaufs- oder Phasenmodellen eine Absage zu erteilen.28 25 26 27 28

Vgl dazu Kettner: Nachträglichkeit; Laplanche und Pontalis: Nachträglichkeit. Laplanche und Pontalis: Trauma. Ibid. Solche Modelle diskutiert etwa Ulich: Die Krise und Entwicklung, S. 42 ff.; die von ihm zusammengestellten Einwände sind berechtigt und auch aus anderen Kontexten bekannt. In jüngerer Zeit waren sie etwa in der empirischen Untersuchung kulturellen Austauschs und interkultureller Begegnungen (z. B. im Rahmen längerer Auslandsaufenthalte aus Berufsgründen) sehr beliebt – und vereinfachten auch dort, was in der Wirklichkeit nicht nur komplexer, sondern auch vielfältiger ist als es U-Kurven-Modelle generalisierend unterstellen. Diese (in dieser Simplizität und Allgemeinheit empirisch nicht haltbaren) Modelle lassen ohne Ansehen interindividueller (und bei wiederholten Auslandsaufenthalten womöglich auch intraindividueller) Unterschiede auf eine von Neugierde und Begeisterung über das Andere und Fremde gekennzeichnete Honeymoon-Phase eine Krise folgen, in der das gerade noch erlebte Glück und WohlbeÀnden drastische Einbrüche erlebt und negative Emotionen dominieren. Schließlich geht es den Leuten wieder besser, wenn sie erfolgreiche Umstellungen vorgenommen, gelernt und Anpassungsleistungen erbracht haben (auf kognitiver Ebene ebenso wie im praktischen Verhalten).

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5. Eine weitere pragma-semantische Innovation im Rahmen einer allgemeinen Psychologie der Krise kann in der Entpathologisierung der Krise gesehen werden. Krisen sind keineswegs immer Anzeichen einer bestehenden oder sich ankündigenden Krankheit. Es setzt sich stattdessen mehr und mehr die Auffassung der Normalität, ja sogar der Unentbehrlichkeit oder Notwendigkeit, Produktivität oder Kreativität vieler psychosozialer Krisen durch. Krisen sind für das (im Sinne Helmut Plessners) exzentrische Leben nichts Extravagantes, sondern so unvermeidlich und gewöhnlich wie das lediglich vorübergehend von Krisen verschonte VerÁießen von Lebenszeit. Krisen verlangen zwar gesteigerte Aufmerksamkeit sowie erhöhte Anstrengungen und erhalten in der Regel beides wegen einer ihnen eigenen Aufdringlichkeit. Diese Eigenart macht sie zwar zu etwas Besonderem, das aus dem durch Gewohnheit und Routinen charakterisierten Alltag herausragt, aber keineswegs zu etwas Abnormalem oder Anomalem.29 Auch als etwas stets bloß Zufälliges oder lediglich Störendes wären sie missverstanden.30 Krisenanfälligkeit und Krisenhaftigkeit sind Merkmale der Normalität des ‚gesunden‘ menschlichen Lebens. Demgemäß werden sie im Prinzip als etwas stets Mögliches erwartet. 6. Auch wenn Krisen als kontingent erlebt werden und ins Leben als unerwünschte Ereignisse hereinbrechen, hat man sie, wie man ex post facto manchmal sagt, kommen sehen. Die moderne Psychologie weist dem Menschen ein Bewusstsein zu, welches das Überraschende auch in Gestalt der Krise einbezieht, mit ihm sogar dann rechnet, wenn es als unvorhersehbar und unverfügbar gelten sollte. Krisenbewusstsein ist gerade in psychologischer Sicht nicht zuletzt Kontingenzbewusstsein. Ob eine Krise zu erwarten ist oder nicht, hängt im Übrigen nicht zuletzt von der Perspektive ab: für die Betroffenen kommt sie wohl meistens eher überraschend und wird jedenfalls als Zäsur, als etwas Neues erlebt. Das gilt nicht nur für eine akzidentelle Krise, die eine bestimmte Person erlebt, wogegen viele andere ebenso zufälligerweise davon verschont bleiben (z. B. von einer durch einen Unfall oder eine Krankheit ausgelöste Krise). Auch die so genannten normativen Krisen – wie die für bestimmte Entwicklungsphasen typischen Krisen (z. B. die Adoles29

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SchönpÁug schreibt der Daseinsanalyse – einer sich auf Martin Heideggers existentialistische Hermeneutik des Daseins sich berufenden Strömung in der modernen psychologischen Anthropologie und Psychotherapie – ein entscheidendes Verdienst bei der Durchsetzung dieser Sichtweise zu. Erst das als „Dauer-Krise“ oder „Ur-Krise“ ausgelegte Dasein ist ein auf Reifung, Wachstum und Entwicklung hin angelegtes Leben, wie etwa V. E. von Gebsattel unermüdlich betonte. Er war es auch, der ganz dezidiert von einer „Werdens-Krise“ sprach, um deren kreative, produktive Funktion hervorzuheben. Krisen sind zunächst Hemmungen des Lebens, die sodann jedoch zu neuen Antrieben werden können und Neues hervorbringen mögen (wenn die Krisenbearbeitung gelingt). Freilich könnten diesem Autor zahlreiche andere hinzugesellt werden, und zwar aus ganz verschiedenen Strömungen und Schulen der modernen Psychologie. Es ist evident, dass auch Freuds Psychoanalyse maßgeblich zur Auffassung eines in KonÁikten und Krisen konstituierten, dynamischen Seelenlebens beigetragen hat. Das lässt sich nicht zuletzt an Freuds beiden berühmten Topiken ablesen, in denen das eine Mal der Widerstreit zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem den Ton angibt, das andere Mal zusätzlich der unentwegte Widerstreit und Kampf zwischen Es, Ich und Über-Ich dem Seelenleben seine Dynamik verleiht. Bollnow: Krise und neuer Anfang, S. 11.

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zenzkrise) – treffen die Betroffenen im Grunde genommen oft unvorbereitet. Lebenserfahrene Beobachter dagegen können sie mit einem variablen Grad an Gewissheit erwarten, und zwar als etwas, das sich im menschlichen Leben (so gut wie) immer so oder so ähnlich abspielt. 7. Eng verwandt mit der psychologischen Entpathologisierung und Normalisierung ist eine weitere normative Korrektur der psychischen Krise. Diese Akzentsetzung geht mit einer radikalen Neubewertung bzw. Aufwertung ihrer im Grunde genommen notwendigen, womöglich produktiven Funktion für die Entwicklung eines jeden Menschen einher. Krisen sind in dieser Perspektive zwar noch immer schmerzlich, leidvoll und ‚schwer verdaulich‘. Doch Friedrich Hölderlins dichterisches Wort „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, ließe sich unschwer auch auf die Krise ummünzen: Eine psychosoziale Krise fordert die betroffene Person in einer Weise heraus, dass kreative und produktive Ressourcen mobilisiert werden müssen. Krisen, Werden und Wachstum gehören in der modernen Psychologie pragma-semantisch eng zusammen, wenngleich sich natürlich nicht jedes wirkliche Wachstum einer Krise und ihrer Bewältigung verdankt – und man obendrein gegenüber allzu rationalistischen und ‚aktivistischen‘ Konzeptionen der Entwicklung skeptisch bleiben sollte.31 Die moderne Psychologie kann Krisen und ihren vielfältigen, gerade auch den positiven Funktionen einiges abgewinnen. In und durch Krisen – ihren Umgang damit! – vermögen Menschen zu lernen, ihr Wissen zu verbreitern und zu vertiefen, ihre kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubauen, ihre emotionalen Register zu verfeinern und sich in Empathie zu üben, ein reicheres Leben zu führen, auch wenn dies bedeutet, seine Schattenseiten, den Schmerz, das Leid und die Endlichkeit des Daseins zu erkennen und anzuerkennen. Autoren wie etwa Dieter Ulich, dem sich eines der noch immer besonders lesenswerten psychologischen Fachbücher verdankt, warnen allerdings gewiss zu Recht vor einer romantisierenden Verklärung von Krisen.32 Wer vom mit Krisen gemeinhin verwobenen Schmerz und Leid absieht, spricht aus lebensferner Distanz oder mit unterkühltem Zynismus. Eine zeitgemäße psychologische Anthropologie der Krise denkt den Menschen von seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit her. Sie betrachtet diese Tatsachen allerdings nicht einfach als einen bedauernswerten Mangel, sondern als einen das menschliche Leben, gerade in seinen geglückten Momenten und gelungenen Phasen, erst ermöglichenden Grund, Krisen erhalten damit eine positive Konnotation.33 31 32 33

Lerner und Busch-Rossnagel: Individuals as producers of their development. Ulich: Krise und Entwicklung S. 50. Wichtig ist bei all dem, einen einigermaßen klaren, empirisch, theoretisch und normativ begründeten Begriff der Entwicklung verfügbar zu haben (oder des nicht organizistisch verstandenen „Wachstums“, etc.), so dass die Rede von der potentiell entwicklungsfördernden Funktion von Krisen nicht in nebulösen Verklärungen von Schmerz und Leid endet und die Unterscheidung zwischen einer tatsächlichen „Entwicklung“ und solchen Veränderungen verwischt wird, welche zu DeÀziten, zu Einschränkungen und womöglich zum Verlust des Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungspotentials einer Person führen: Ulich: Krise und Entwicklung, S. 51 f.

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8. In welchem Ausmaß und welcher Weise das menschliche Leben von (destruktiven und produktiven) Krisen geprägt ist, hängt nicht zuletzt von kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Die psychologische Anthropologie der Krise taucht zwar häuÀg im naturalistischen Gewand eines voreingenommenen „absoluten Universalismus“ auf,34 ebenso oft jedoch in Gestalt einer historischen, sozial- und kulturtheoretisch reÁektierten Anthropologie. So sind Adoleszenzkrisen ebenso wie die midlife crises oder Krisen im höheren Lebensalter in vielerlei Hinsichten kulturelle und soziale, mithin geschichtliche Phänomene – also keineswegs einfach Naturtatsachen, die sich immer und überall in exakt derselben Form vorÀnden ließen. Das gilt für zahllose weitere Krisen, in die Frauen und Männer, Kinder oder Alte, Angehörige dieser oder jener Gruppe (bzw. sozialen Kategorie) geraten können.35 Zu beachten ist, dass trotzdem die interindividuelle Variation erheblich sein kann. 9. Krisen können durch heteronome Ereignisse hervorgerufen werden und ins Leben eines Menschen hereinbrechen, ohne dass dieser etwas dazu getan hat oder im Sinne der Prophylaxe oder Prävention irgendetwas hätte vermeiden können. Die Opfer unvorhergesehener Naturkatastrophen oder Unfälle bilden Beispiele für diese Kategorie. Im Unterschied dazu gibt es auch Krisen, die selbst (mit-)verschuldet sind, also durch eigenes Handeln oder Mittun, Unaufmerksamkeiten oder Unterlassungen, Nachlässigkeiten bis hin zur Vernachlässigung von anderen oder sich selbst, bewirkt werden. Demgemäß trägt die betroffene Person hier (Mit-)Verantwortung, auch wenn dies nicht heißt, dass sie nicht ebenso um ihre Orientierungsfähigkeit, ihr Erlebnis- und Handlungspotential fürchten muss. 10. In vielen theoretischen Ansätzen, die psychosoziale Krisen konzeptualisieren oder modellieren, spielt der Begriff des (psychischen) Gleichgewichts eine Rolle, vor allem, wenn Krisen mit Anpassungsschwierigkeiten einer Person bzw. mit gescheiterten Anpassungsbemühungen oder Bewältigungsversuchen in Zusammenhang gebracht werden. Dieses Scheitern führt nach gängiger Auffassung zu Störungen eines strukturellen seelischen Gleichgewichts, die alle psychischen Funktionsbereiche empÀndlich und nachhaltig beeinträchtigen können. Selbst dann, wenn der Begriff gar nicht benutzt wird, kann sich das theoretische Denken stillschweigend an der traditionell einÁussreichen, strukturtheoretischen Idee eines seelischen Gleichgewichts orientieren. In ihm sind also psychische „Elemente“ – wie etwa Intentionen, Motive und Handlungen, Gedanken und Gefühle, Wünsche, Wille und Handlungen, Erwartungen und Erfahrungen – einigermaßen in der Balance, in irgendeiner Art von ausgeglichenem, ausgewogenem oder stimmigem Zustand. In einem derartigen Zustand gleichen sich seelisch wirksame ‚Kräfte‘ oder Tendenzen, die einander widersprechen oder überlagern, dominieren und stören können, aus und beeinÁussen einander ‚positiv‘, etwa im Sinne einer wechselseitigen Ermöglichung und synergetischen Förderung. Man kann dieses Gleichge34 35

Berry u. a.: Cross-cultural psychology; Boesch und Straub: Kulturpsychologie. Man vergleiche dazu etwa die Beiträge zu einem 1962 erschienenen, auch unter dem Gesichtspunkt der Historizität und KulturspeziÀtät noch immer interessanten Sammelband: Zwingmann: Zur Psychologie der Lebenskrisen.

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wichtsverhältnis auch als eine gelungene Synthesis des Heterogenen bezeichnen, mit dem gebräuchlicheren lateinischen Begriff als Integration des Verschiedenen. Ein zeitgemäßer psychologischer Begriff der Krise setzt nun allerdings ein gegenüber traditionellen, ja anachronistischen Vorstellungen eines als prästabilierte Harmonie gedachten Gleichgewichts erheblich gewandeltes Konzept voraus. Krisen im hier interessierenden Sinne setzen nämlich allenfalls ein überaus dynamisches und höchst labiles Fließgleichgewicht außer Kraft, eine dynamische Balance, die stets eine überaus zerbrechliche Struktur bildet. Deren Komplexität – mithin die ‚innere‘ Komplexität des Seelenlebens – korrespondiert einer ‚äußeren‘ Komplexität funktional differenzierter und in vielerlei anderen Hinsichten stark pluralisierter und dynamisierter Gesellschaften, in denen Einzelne einen ausgeprägten Sinn für Möglichkeiten ausbilden und noch das eigene Handeln und Leben als kontingente Angelegenheit auffassen. Wenn zwar nicht alles, aber doch vieles von dem, was ist, auch anders hätte kommen können, anders sein und anders werden könnte, sind äußere und innere Gleichgewichte prekär und fragil. Sie sind für die eigene Orientierungs-, Erlebnis- und Handlungsfähigkeit funktionale Idealisierungen mit einem Zug ins Illusionäre. Solche Fließgleichgewichte sind keine an sich stabilen Strukturen, die den sicheren Fortbestand psychischer und sozialer Systeme gewährleisten. Der hier skizzierte psychologische Begriff der Krise ist allenfalls noch einem theoretischen Konzept des seelischen Gleichgewichts verpÁichtet, das für KonÁikte und Krisen höchst anfällig ist und unentwegt in der Gefahr manifest werdender KonÁikte und Krisen ausbalanciert werden muss. In einem derartigen Gleichgewicht bleibt sich kaum etwas gleich im Lauf der Zeit. Es ist keine bleibende oder sich aus sich selbst heraus reproduzierende Tatsache, sondern eine permanente Aufgabe, die Subjekte übernehmen und erfüllen müssen. 11. Krisen können das Seelenleben eines Menschen, seine kognitive, emotionale, motivationale Verfassung, sein Erleben und Verhalten bereits dann bestimmen, wenn sie noch gar nicht als solche manifest werden (und vielleicht nie vollends zum Vorschein kommen und akut werden). Manifeste Krisen zeigen sich nicht allein in deutlichen Symptomen in den oben angeführten Dimensionen, sondern werden vom Subjekt auch bewusst erlebt. Sie beschäftigen die betroffene Person, die sich vielleicht auch anderen gegenüber öffnet und ihnen von ihrer Krise erzählt. Latente Krisen dagegen sind nicht einfach nur Vorstufen manifester Krisen, sondern tatsächlich ebenso prekär wie manifeste, dem Bewusstsein der betroffenen Person jedoch nicht als solche zugänglich. Vielleicht merkt diese zwar, dass (schon länger) „irgendetwas nicht stimmt“ mit ihr, manches bereits aus den Fugen geraten ist. Zumindest solange eine gewisse Funktionstüchtigkeit im sozialen Alltag aufrechterhalten werden kann, bleibt der betroffenen Person der tatsächliche Ernst der Lage in solchen Fällen jedoch verborgen. Sie verdrängt eine eigentlich schon wirkliche und wirksame Krise aus ihrem Bewusstsein oder wehrt sie durch andere Automatismen und Maßnahmen ab – bis auch diese psychischen Schutzmechanismen versagen und sich das längst im Gang beÀndliche psychische Geschehen nicht mehr verleugnen oder verharmlosen lässt. Es versteht sich von selbst, dass in der Wahrnehmung solcher latenter Krisen erhebliche Asymmetrien zwischen der leiblich und seelisch betroffenen Person und irgendwelchen Beobachtern bestehen kön-

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nen. Aus den angedeuteten Gründen mögen letztere trotz des privilegierten Zugangs, den Individuen zu ihren je eigenen Gefühlen und Gedanken, Wünschen und Absichten haben, bisweilen mehr und genauer sehen. Die moderne Psychologie bedient sich auch im hier interessierenden Zusammenhang der Idee, dass psychisch Reales und Wirksames in der Latenz ‚existieren‘ kann (wie unbewusste Motive, die das Handeln bestimmen, ohne dass sich der Akteur darüber im Klaren wäre). Selbst die Möglichkeit, dass er oder sie sich dessen bewusst werden könnte, ist zumal in psychoanalytischer Sicht keineswegs einfach gegeben. Sie muss häuÀg regelrecht erarbeitet werden, und zwar in von Widerstand begleiteten Psycho-Analysen, im Prozess einer psychisch anstrengenden Bewusstwerdung mithin, die in wesentlichen Aspekten als Artikulation eines temporal strukturierten, nur in seiner lebensgeschichtlichen Gewordenheit verstehbaren Seelenlebens aufgefasst und betrieben werden kann. Die vorgenommenen Bestimmungen zeigen unmissverständlich, dass sich die Pragma-Semantik des komplexen Begriffs erheblich ausgeweitet und ausdifferenziert hat. Trotz der damit einhergehenden Mehrdeutigkeit und Unhandlichkeit, die eine Reduktion auf eine knappe und enge DeÀnition verbietet, lässt sich die „Krise“ klar von Ausdrücken abgrenzen, die ihr entweder verwandt sind oder aber ihren Gegenhorizont bilden. Die Krise steht ganz allgemein im Kontrast zu einem Zustand, in dem sich die Dinge gleich bleiben, Veränderungen allenfalls unmerklich vor sich gehen und die vorübergehende Stabilität der Verhältnisse vorerst nicht (spürbar) antasten. Diese Kontinuität geht auf der Ebene der menschlichen Praxis einher mit Gewohnheiten, Routinen und Institutionen, in denen und durch die eingespielte Erwartungen Bestätigung Ànden und die als Wirklichkeit erfahrene Welt – einschließlich des eigenen Selbst – reproduziert und befestigt wird. Krisen hingegen bilden einen scharfen Kontrast zum Bild einer endlos erscheinenden Iteration des immer Gleichen, eines Kreislaufes seiner ewigen Wiederkehr, eines Seins, in dem kein Bruch möglich erscheint – weder Einbruch und Abbruch noch Ausbruch. Krisen sind das Gegenteil des Bleibenden und Beharrlichen; sie bringen die Manifestation von Kontingenz auf den Begriff und markieren Einschnitte in den kontinuierlichen Strom der Erfahrung und des Bewusstseins. Sie stellen eine Zäsur dar, die die Erzähltheorie (auch in der narrativen Psychologie) als Komplikation (Planbruch, etc.) konzeptualisiert.36 Krisen enttäuschen Erwartungen. Sie machen alltagsweltliche Idealisierungen erst als solche bewusst und steigern ein Kontingenzbewusstsein, das Menschen auf nicht vorhersehbare Veränderungen einstellen kann. Freilich können Personen und Gruppen (beliebiger Größenordnung) dieses Bewusstsein ablehnen und abwehren, um weiterhin am vermeintlich Bewährten und Vertrauten festhalten zu können. Krisen sind gleichwohl Antipoden eines allzu menschlichen Beharrungsvermögens, das dem Wandel auch angesichts seiner Unvermeidlichkeit trotzt und eng mit dem Loblied auf die Gewohnheit und Routine verschwistert ist. Für den Wunsch nach Bleibendem gibt es evidente Gründe und Motive, allen voran eine gewisse Bequemlichkeit sowie jene menschliche Neigung, 36

Straub: Geschichte erzählen, Geschichte bilden.

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das Vertraute als sicheren Hafen oder als feste Burg (und wie die Metaphern für heimatliche GeÀlde sonst noch heißen mögen) herbeizusehnen und aufzusuchen. So sehr das von Krisen verschonte Leben von Eintönigkeit geprägt, von Langeweile geplagt und von einer von der bloßen Wiederholung des Bekannten herrührenden Leere heimgesucht werden mag, die ihrerseits geradewegs in Sinnkrisen führen kann, so verbürgt es doch just jene Sicherheit in einer sinnvoll erscheinenden Welt, welche die Krise zu zerstören droht. Krisen enttäuschen nicht nur Erwartungen und führen so zu kognitiven Irritationen. Sie zersetzen womöglich auch jenes Gefühl der Geborgenheit, welches nur das Gewohnte, Vertraute und Verlässliche zu stiften vermögen. Sie sind Vorboten des Unbehagens und der Unwirtlichkeit, Statthalter eines aufdringlichen und unwillkommenen Anderen und Fremden. Viele von Ernst Boeschs Studien etwa, in denen das Erlebnis- und Handlungspotential von Menschen fokussiert wird, die notwendigerweise in instabilen, dynamischen äußeren und inneren Ordnungen leben, lassen sich als ‚phänomenologische‘ Vergegenwärtigung dieser basalen Einsicht einer Psychologie der Krise lesen.37 Die Untersuchung von Krisen in psychologischen Subdisziplinen und Forschungsprogrammen Von all dem, wovon oben die Rede war, kann man erzählen, so dass der Begriff der Krise nicht zuletzt in der narrativen Psychologie eine wichtige, wenngleich nur selten genau deÀnierte Stellung innehat.38 Die narrative Psychologie erstreckt sich über verschiedene Subdisziplinen der Psychologie. Traditionell befassen sich – meistens ganz ohne Bezugnahme auf erzähltheoretische Überlegungen – insbesondere folgende Teildisziplinen und Forschungsprogramme besonders gründlich mit Krisen:39 1. die Entwicklungspsychologie, die vor allem allgemeine – jedenfalls für eine bestimmte Gruppe (Männer oder Frauen, eine Altersklasse oder Kohorte, etc.) typische – ‚Stationen‘ und Phasen im menschlichen Leben thematisiert, Zeiten mithin, in denen Krisen erwartet werden und eine zielbezogene und demgemäß gerichtete Transition markieren (z. B. Adoleszenzkrise).40 In der neueren Forschung werden dabei historische und kulturelle Besonderheiten berücksichtigt (auch valorativer bzw. normativer Art).41 37 38

Boesch: Sehnsucht; ders.: Das lauernde Chaos; ders.: Von Kunst bis Terror. Boesch: Homo narrator; Brockmeier und Carbaugh: Narrative and identity; Echterhoff und Straub: Narrative Psychologie; Sarbin: Narrative Psychology; Straub: Erzähltheorie. 39 Vgl. Ulich: Krise und Entwicklung, S. 1–3, dessen Angaben hier ergänzt werden; von den neueren Überblickswerken vgl. die besonders gründliche Darstellung von Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Die umfassende Bibliographie in diesem Werk macht allzu ausführliche Nachweise und Hinweise im vorliegenden Beitrag überÁüssig. Auch meine Hinweise auf die subdisziplinären Forschungszweige fallen hier sehr knapp aus. 40 Beispiele für die entwicklungspsychologische Krisenforschung Ànden sich in Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse, S. 99–122; Ulich: Krise und Entwicklung, S. 63–116. 41 Ulich: Krise und Entwicklung, S. 114; vgl. auch S. 89, 106.

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Insgesamt lässt sich festhalten, dass Krisen nur dann entwicklungsbedeutsam sind, „wenn sie mit Veränderungen verbunden sind, welche die Merkmale Dynamik, Gerichtetheit, Lebensalterbezug, Ordnung, Zentralität, Einheit der Person haben. Nicht entwicklungsbezogen sind also Krisen dann, wenn sie zu negativen Veränderungen führen, wenn die Veränderungen beziehungslos, nur oberÁächlich oder nur vorübergehend sind, wenn keine Kontinuität im Wandel mehr erkennbar ist, wenn die Veränderungen nur periphere Merkmale betreffen“;42 2. die (vor allem mit quantitativen Methoden operierende) Lebenslauf- sowie die (interpretative, qualitative Verfahren einsetzende) Biographieforschung,43 die als eine Variante der (retrospektiven, interpretativen) Entwicklungspsychologie angesehen werden kann (ohne darauf reduziert werden zu müssen, weil die z. B. narrative Biographieforschung nicht allein entwicklungspsychologische Fragestellungen zu bearbeiten erlaubt, sondern in vielen psychologischen Teildisziplinen ihren Dienst erweist); 3. die Klinische Psychologie, die eine Krise als eminentes Gesundheitsrisiko auffasst und ihre möglichen pathogenen Wirkungen (primär) auf psychosozialer Ebene untersucht, bis hin zu den daraus erwachsenden temporären Störungen oder resistenten Pathologien. Die in Beratung, Psychotherapie und verwandten Feldern angesiedelte Krisenintervention gehört in den Bereich dieser angewandten psychologischen Subdisziplin, obwohl sie häuÀg auch im Rahmen anderer Teildisziplinen oder verwandter (anwendungsorientierter) Wissenschaften wie der gemeindenahen Psychiatrie angesiedelt wird (s. u.); 4. die psychologische Stressforschung als ein spezielleres Feld, in dem die Entstehung subjektiver Belastungen und Überforderungen, ihre Implikationen sowie Konsequenzen studiert und dabei häuÀger auch interdisziplinäre Perspektiven eingenommen werden, gehört ebenfalls zu den hier interessierenden Forschungsfeldern.44 Überschneidungen z. B. mit der Medizin, speziell der Physiologie oder Immunologie, sind üblich. Die für die stresstheoretische Perspektive zentrale Frage, ob Krisen bzw. kritische Lebensereignisse (direkt oder aber indirekt, also etwa auf dem Umweg erhöhten Konsums von Medikamenten oder Alkohol) das Erkrankungsrisiko erhöhen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Auch wenn nach wie vor empirische Untersuchungen in vielen Bereichen fehlen, lassen sich allerdings – mit der gebotenen Vorsicht und Differenziertheit – einige häuÀg schädigende und pathogene Auswirkungen von (bestimmten) Lebenskrisen und (relativ gut erforschten) kritischen Lebensereignissen ausmachen (wie z. B. dem Tod des Ehe- oder Lebenspartners, dem Verlust des Arbeitsplatzes und anhaltender Arbeitslosigkeit, 42 43

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Ulich: Entwicklung und Krise, S. 114. Vgl. Jüttemann und Thomae: Biographie und Psychologie; Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignissen und Lebenskrisen, S. 353–372; zur Methodik biographischer Forschung s. auch die einschlägigen Beiträge in Mey und Mruck: Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Historisch-systematische Überblicke über die Stressforschung bieten zahlreiche Publikationen, darunter Filipp und Aymann: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, oder Ulich: Krise und Entwicklung.

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oder chronischen Stressoren, wie sie Personen ausgesetzt sind, die langfristig Angehörige pÁegen);45 5. die Life event- bzw. Lebensereignisforschung ist einem sich über fast alle psychologischen Subdisziplinen erstreckenden Forschungsprogramm verpÁichtet. Voraussetzungen, Entstehung, Verlauf und Folgen von Krisen werden bis heute vor allem in diesem heterogenen Feld untersucht, auf das ich noch ausführlicher eingehen werde (s. u.); 6. die Persönlichkeitspsychologie, die nach personalen Voraussetzungen für Krisenerfahrungen fragt (unbändige Neugierde und konsistentes Risikoverhalten etwa), persönliche Anfälligkeiten für psychosoziale Belastungen erforscht (und dabei so genannte Vulnerabilitätsfaktoren ebenso untersucht wie die gegenläuÀg wirksamen Schutzfaktoren, die häuÀger unter das Konzept der „Resilienz“ subsumiert werden); außerdem fragt sie nach den individuellen Ressourcen für die Bearbeitung und Bewältigung von Krisen sowie den persönlichkeitsspeziÀschen Modi oder Stilen des Umgangs mit ihnen.46 Besonders gut untersuchte Persönlichkeitsfaktoren sind im interessierenden Zusammenhang die folgenden: Religiosität und Spiritualität; Optimismus und Pessimismus; Hoffnung und Hoffnungslosigkeit; Widerstandskraft und Kontrollüberzeugungen; positive und negative Affektivität; Humor; körperliche Fitness und Funktionsstatus; Selbstaufmerksamkeit; Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und Struktur des Selbstkonzepts; schließlich frühere Erfahrungen, die sich zu persönlichen Dispositionen verfestigt haben;47 7. die Sozialpsychologie, die die Bedeutung real anwesender oder vorgestellter Anderer für die Entstehung, den Verlauf, die Folgen sowie die Bewältigung von Krisen (und kritischen Lebensereignissen) untersucht, dabei ein besonderes Augenmerk auf das (auch in anderen Teildisziplinen sehr wichtige) Konzept der sozialen Unterstützung richtet, aber auch eine ganze Reihe weiterer theoretischer Überlegungen und methodischer Zugänge einbringt (z. B. Konsistenz- oder Attributionstheorien);48 45

Die Befundlage ist freilich oft alles andere als klar, und wenn etwas eindeutig zu sein scheint, haben wir es auch in diesem Feld häuÀg nicht gerade mit überraschenden Erkenntnissen, sondern bereits alltagsweltlich verfügbaren Erfahrungen und Einsichten zu tun. Als Überblick empÀehlt sich wieder das betreffende Kapitel in Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 66–97. 46 Für neuere persönlichkeitspsychologische Perspektiven sind theoretische Orientierungen am Konzept der Salutogenese ebenso wichtig wie die „ressourcenorientierte“ Ausrichtung, wobei biologische und psychische Aspekte einbezogen werden (und als personale Ressourcen zusammengefasst sowie von sozialen und bisweilen auch von kulturellen unterschieden werden); vgl. den konzisen Überblick von Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen (insb. Kap. 9, aber auch schon 6–8, wo das „Bewältigungsparadigma“ und einschlägige Ansätze, die auch personalen Faktoren Rechnung tragen, erörtert werden). 47 Diese Liste entstammt der Darstellung bei Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 266–270, wo nicht zuletzt auf bis heute virulente begrifÁiche Probleme (z. B. bezüglich der Grundbegriffe „Ressource“ oder „Resilienz“, aber auch speziÀscher Persönlichkeitsmerkmale) aufmerksam gemacht wird. 48 Ibid., S. 214–264.

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8. die sehr heterogene, meistens eher praktisch orientierte Psychologie der Krisenintervention, die eigentlich keiner Teildisziplin allein zuzuordnen ist und theoretisch sowie methodisch meistens eklektisch verfährt. Ihr unmittelbar praktischer Zweck ist evident.49 Offenkundig ist die Krisenintervention eine Form der Kurzzeitberatung und -behandlung (um das Schlimmste zu verhindern, „negative Verlaufskurven“, „Abwärtsspiralen“, „Verlustzirkel“ und dergleichen zu stoppen). Sie ist aus der präventiven gemeindenahen Psychiatrie und Psychologie hervorgegangen. Bemerkenswert ist, dass die Krisenintervention ihr Augenmerk nicht nur auf individuelle (normative und akzidentelle) Krisen richtet, sondern immer mehr auch auf kollektive Krisen nach gemeinsamen traumatischen Erlebnissen.50 Exzessive Gewalt in (Bürger-)Kriegen oder im Zuge von global verbreiteten Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitiken gehören gleichermaßen hierher wie Naturkatastrophen oder Unfälle, die durch menschliches oder technisches Versagen verursacht wurden.51 Einen starken Aufschwung erlebt heute die von Filipp und Aymanns eigens berücksichtigte Entwicklungsberatung als eine Art Krisenintervention,52 die als präventive Maßnahme zu jenen immer machtvoller werdenden Versuchen gezählt werden darf, einer wissenschaftlich angeleiteten Normierung und Optimierung von Menschen sukzessive zum Durchbruch zu verhelfen.53 Bevor ich nun wegen ihrer besonderen Bedeutung noch kurz auf die Lebensereignis- und Bewältigungsforschung eingehe, soll mit wenigen Stichworten an ein berühmtes Entwicklungsmodell erinnert werden, in dem Krisen die alles entscheidende Rolle spielen. Beide folgenden Abschnitte haben exemplarischen Charakter. Sie sollen die in interdisziplinären Diskursen wichtige Aufgabe erfüllen, zumindest ausgewählte Beiträge zur fachwissenschaftlichen ProÀlierung des hier interessierenden Begriffs etwas genauer vorzustellen. An Eriksons Theorie wird nicht zuletzt deswegen erinnert, weil sie dem Begriff der psychosozialen Krise eine höchst prominente Stellung verschafft hat, lange Zeit überaus einÁussreich war und bleibende Einsichten formuliert hat. Sie wird hier aber auch deswegen beachtet, weil einige überzeugende Einwände gegen sie plausibilisieren, welche theoretischen Annahmen im Rahmen einer (Entwicklungs-)Psychologie der Krise seit geraumer Zeit nicht mehr haltbar sind.

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Sonnek: Krisenintervention und Suizidverhütung, S. 96–101, wo gleich auch die wichtigsten Faustregeln und Empfehlungen bis hin zu konkreten Handlungsanweisungen für den Praktiker formuliert werden. Ähnliches Àndet sich bei Müller und Scheuermann: Praxis Krisenintervention, oder bei Riecher-Rössler, Berger, Yilmaz und Stieglitz: Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention; vgl. auch von Zwingmann: Zur Psychologie der Lebenskrisen. Eine informative zusammenfassende Darstellung des gleichen Feldes bieten: Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 313–332. Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 327–332. Vgl. hierzu etwa die auf der Website des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen präsentierten Aktivitäten im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „KlimaKultur“. Filipp und Aymanns, S. 325–327. Vgl. hierzu Sieben, Sabisch und Straub: Menschen machen.

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Psychosoziale Entwicklungskrisen im Modell Erik Homburger Eriksons Das wohl bekannteste Modell, in dem Krisen eine prominente Rolle für das „Wachstum“ der Person spielen, stammt von Erik Homburger Erikson.54 Der Psychoanalytiker ging davon aus, dass Krisen eine notwendige Bedingung des Wachstums der ‚gesunden‘ Person seien, also als ganz normale Durchgangsstadien im menschlichen Lebenslauf zu betrachten seien. Als einer der ersten Vertreter einer Psychologie der Lebensspanne, die die Entwicklung der Person als ein lebenslanges Projekt auffasste, in dessen Verlauf es alters- bzw. phasenspeziÀsche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen gäbe (wie es Robert Havighurst formulierte, der Eriksons Ansatz weiterführte55), unterschied er acht Phasen von der frühesten Kindheit bis hin zum Dasein als Greis(in). Er interpretierte und ergänzte damit Sigmund Freuds Modell der psychosexuellen Entwicklung (wobei er als Vertreter der Ich-Psychologie weitere erhebliche ModiÀkationen an der Theorie vornahm, die viele Kritiker sagen ließen, auch Erikson habe der um eine stets nur ‚unvollkommen‘ kultivierbare Triebhaftigkeit, um Eros und Thanatos, Sexualität und Aggression zentrierten Psychoanalyse die provokative Spitze genommen). Erikson gesellte der oralen, narzisstischen und analen Phase, der phallischen (ödipalen) Phase und der Latenzperiode, schließlich der genitalen Phase seine Stufen der psychosozialen Entwicklung zur Seite und differenzierte sie anhand von jeweils dominanten KonÁikten und Krisen, mit denen Menschen in diesen Zeiträumen zu ringen haben. Dieses Ringen spielt sich stets in der Spannung zwischen zwei Polen ab, die den gelingenden Umgang mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben oder aber das Scheitern der Person markieren. Im zweiten Fall werden dystone Potentiale gestärkt und pathogene Entwicklungen befördert. In jedem Fall prägt der Ausgang aus den lebensphasenspeziÀschen Krisen, so Erikson, den Charakter einer Persönlichkeit nachhaltig. Frühe Kindheitserlebnisse bleiben also, wie im psychoanalytischen Denken generell angenommen wird, relevant, entscheiden in Eriksons Theorie aber keineswegs allein über den weiteren Entwicklungsverlauf.

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Erikson behandelt in zahlreichen Schriften diesen Zusammenhang. Zu den berühmt gewordenen gehört das Buch „Identität und Lebenszyklus“ (Original: „Identity and Life Cycle“, publiziert 1959), das drei besonders wichtige Aufsätze versammelt, nämlich „Ich-Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel“ aus dem Jahr 1946, „Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“ von 1950 sowie die 1956 verfasste Abhandlung „Das Problem der Ich-Identität“. Wenn Erikson von „Wachstum“ spricht, sollte man die sich einstellenden biologischen und insbesondere organologischen Konnotationen und Denotationen zurückweisen. Es geht hier nicht um Wachstum oder Reifung im Sinne eines selbstläuÀgen natürlichen Prozesses, sondern um ein (freilich an biologische Voraussetzungen und Entwicklungen gebundenes) Lernen aus Erfahrung. Auf rein organismischer Ebene ist gar nicht artikulierbar, was eine Krise ist, wie man in sie hineingeraten, worin sie bestehen und wie man sie überwinden kann. Auch Eriksons Begriff der Krise setzt ein animal symbolicum voraus, das über das Vermögen der Selbstdistanz, SelbstreÁexion und Selbstkritik verfügt (und nicht nur über die auch Organismen und sogar technischen Systemen offen stehende Möglichkeit der Selbstkorrektur). Havighurst: Developmental tasks.

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Das Werden der Person ist ein lebenslanger Prozess, in dessen Verlauf immer wieder andere Herausforderungen warten, an denen man wachsen und über sich hinauswachsen oder aber scheitern kann. Im Übrigen sind Personen bei all dem in kollektive Lebensformen eingebunden, die historisch und kulturell variieren. Kultur, Gesellschaft und Individuum sind, wie der sozial- und kulturpsychologisch denkende Entwicklungspsychologe wusste, interdependent. Gleichwohl ging Erikson davon aus, dass es bestimmte GrundkonÁikte und elementare Krisen im Leben aller Menschen gebe. Das liege schlicht und einfach daran, dass Menschen bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen teilen – zum Beispiel die Tatsache, eine Mutter und einen Vater zu haben. Deswegen hätten die von ihm entfalteten Begriffe universale Bedeutung, meinte Erikson – und überzog seine wichtigen Einsichten dabei zweifellos häuÀg maßlos. Im Einzelnen zählte Erikson bereits vor gut einem halben Jahrhundert (in einer nach und nach modiÀzierten Form) folgende Stufen oder Stadien auf: 1. im Säuglingsalter werden die neugeborenen Kinder mit der ersten psychosozialen Krise konfrontiert, die sich im Spannungsfeld zwischen „(Grund- oder Ur-)Vertrauen und Misstrauen“ bewegt; 2. bei der zweiten Krise geht es im Kleinkindalter dann um die Alternative zwischen „Autonomie gegen Scham und Zweifel“, 3. bei der dritten, die im Spielalter virulent wird, um jene zwischen „Initiative und Schuldgefühl“, 4. die vierte Krise zwingt das heranwachsende Individuum im Schulalter zur Auseinandersetzung mit den Polen „Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl“, 5. in der im Jugendalter angesiedelten fünften Phase geht es um die wohl berühmteste Opposition, nämlich um „Identität und Ablehnung gegenüber Identitätsdiffusion“, 6. in der sechsten Phase im frühen Erwachsenenalter wird die Alternative „Intimität und Solidarität gegenüber Isolierung“ maßgeblich, 7. in der siebten plagt sich der Erwachsene mit der Opposition „Generativität gegenüber Selbstabsorption (Stagnation)“ ab, und 8. schließlich müssen alte Menschen im höheren Erwachsenenalter im Blick auf die gesamte Menschheit ihren Weg zwischen „Integrität und VerzweiÁung (Lebensekel)“ Ànden. Diese psychosozialen Krisen sind jeweils typisch für bestimmte Phasen (alters- und erfahrungsbezogene Entwicklungsstufen). Sie dominieren dann das Seelenleben einer Person, können aber auch in anderen Phasen auftauchen oder virulent bleiben. Frühere Ausgänge aus diesen Krisen bleiben in der einen oder anderen Weise bedeutsam. Sie bestimmen, mit einem etwas aus der Mode gekommenen Begriff gesagt, den Charakter einer Person.56 Die psychosozialen Krisen lassen sich in ihrer jeweiligen Eigenart näher beschreiben, indem der jeweils typische Umkreis der Beziehungspersonen (von der Mutter bis hin zur Menschheit), die jeweils relevanten 56

Vgl. dazu Ricœur: Das Selbst als ein Anderer.

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Elemente der Sozialordnung sowie die typischen psychosozialen Modalitäten angegeben werden. All das tat Erikson und fasste den Stand seiner Überlegungen frühzeitig in einem berühmt gewordenen Diagramm zusammen.57 Es ist offenkundig, dass Erikson mit seinem Modell nicht zuletzt die in diesem Beitrag bereits bemühte Unterscheidung zwischen normativen Entwicklungskrisen – die eine Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft ihren Angehörigen auch als altersgebundene Entwicklungsaufgaben zumutet – und akzidentiellen Krisen trifft, die sich eher zufälligen Ereignissen verdanken und nur einzelne treffen. Entwicklungskrisen sind für Erikson notwendige Wendepunkte und Phasen des Übergangs, in denen ‚Entscheidungen‘ getroffen und Wege nach hier oder dort eingeschlagen werden müssen. Erikson hat dabei – ohne genau angeben zu können, woher er die dafür maßgeblichen Kriterien bezieht und wie sie genau lauten – dezidierte Vorstellungen von fruchtbaren Wegen, auf denen ein (zumindest einigermaßen) gelingendes, erfülltes und andere beglückendes Leben möglich ist, und ebenso von Abwegen, die das Individuum in riskante GeÀlde oder Sackgassen führen, seelische Störungen hervorrufen oder in Krankheiten münden können (und dann auch die nahestehenden Bezugspersonen in Mitleidenschaft ziehen). Krisen können mithin entwicklungsfördernd oder entwicklungshemmend sein, das syntone oder dystone Potential stärken, Entwicklungen im eigentlichen Sinne befördern oder aber Fehlentwicklungen hervorrufen – woran sich diese Alternative entscheidet, welche personalen Voraussetzungen, sozialen Ressourcen oder Kontextbedingungen diesbezüglich wichtig sind, klärte Erikson allerdings niemals hinreichend auf (jedenfalls nicht auf der Grundlage methodisch überzeugender empirischer Studien).58 Bisweilen konnte und kann sich Eriksons Leserschaft des Eindrucks nicht erwehren, dass die psychoanalytische Ich-Psychologie einen Anpassungsdruck an die Individuen weiterleitet(e), der kulturellen und gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen entstammt, diese reproduziert, also auf eine Art Bewahrung der bestehenden Ordnung abzielt. Eriksons Theorie ist zwar keineswegs ein bloßes Repressions- und Anpassungsinstrument im Gewand liberal scheinender Toleranz gegenüber der Vielfalt menschlicher Lebensformen, atmet aber auch nicht mehr den revolutionären Geist, den andere Nachfolger Freuds durchaus noch bewahrten.59 Eriksons um psychosoziale Krisen zentrierte Entwicklungspsychologie stärkt die Autonomie des Individuums gewiss auch gegen repressive Autoritäten und andere Zumutungen der (modernen) Gesellschaft. Erikson betätigte sich zweifellos auch als Kritiker bestehender Verhältnisse, und dabei helfen ihm nicht nur seine historischen Kenntnisse, sondern auch sein zeitweise in enger Zusammenarbeit mit Sozial- und Kulturanthropologen erworbenes Wissen über verschiedene, auch ‚nicht-westliche‘ Kulturen. Trotz dieses stets lebendigen Interesses an alternativen Gesellschafts- und Lebensformen unterstützte Eriksons Ansatz die von unausweichlichen und vermeidlichen Krisen bedrohten und bedrängten Individuen in 57 58 59

Erikson: Identität und Lebenszyklus. Vgl. dazu die konzise Skizze von Ulich: Krise und Entwicklung, S. 12–15, 65–67. Jacoby: Die Verdrängung der Psychoanalyse; Johach: Von Freud zur Humanistischen Psychologie.

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Nordamerika und Europa doch mit dem übergeordneten Ziel, deren Funktionstüchtigkeit in ihrer Gesellschaft zu gewährleisten und zu stärken. Und manchmal versiegte der kritisch-reformerische Geist fast gänzlich, wie etwa Eriksons beleidigte Reaktion auf die feministische Kritik an einer neuen Variante der Psychoanalyse zeigte.60 Es ist indes evident, dass auch Eriksons Psychologie patriarchale Geschlechterverhältnisse legitimierte, indem sie kulturell und gesellschaftlich produzierte Geschlechterdifferenzen biologisierte und naturalisierte, also unversehens als etwas Notwendiges, mithin Unveränderliches festschrieb. Das galt indes nicht nur für Geschlechterrollen, sondern überhaupt für so manchen Aspekt einer Theorie, die die vielfach propagierte Historisierung, Kulturalisierung und Sozialisierung des Psychischen fast ebenso häuÀg nicht recht ernst nahm und so manches als psychosoziale Universalien ausgab (bzw. in andere Zeiten und Regionen projizierte), was doch einfach nur das vertraute Eigene war. Für die Idee der von Krisen beseelten Identität des (modernen) Menschen gilt das ganz besonders (da weder der Augustinermönch Martin Luther noch die Siouxindianer an Identitätskrisen litten oder zeitlebens nach Identität strebten, wie der Ich-Psychologe annahm).61 Es sollte deutlich geworden sein, dass Eriksons Theorie ein eindrucksvolles Beispiel für die zentrale Stellung des Begriffs der Krise in der (Entwicklungs-) Psychologie darstellt – aber auch für Irrtümer sensibilisieren kann, die es zu vermeiden gilt. Im Folgenden widme ich mich noch einem theoretisch, methodisch und empirisch sehr viel breiter angelegten Ansatz, den man wegen seiner offenkundigen Heterogenität wohl eher ein vielgliederiges Forschungsprogramm nennen sollte. Wer die Lebensereignis- und Bewältigungsforschung betrachtet, sieht freilich schnell, dass sie nicht zuletzt von Eriksons Werk zehrt, speziell von seiner psychosoziale Krisen fokussierenden Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. In vielen Punkten – keineswegs in allen – vermeidet sie jedoch einstige Irrtümer des prominenten Ich-Psychologen. Vor allem aber ergänzt sie nach und nach zahlreiche Perspektiven und Erkenntnisse, über die man vor gut einem halben Säkulum noch nicht verfügte. Eine integrative Perspektive: Lebensereignis- und Bewältigungsforschung Der für die Erforschung von Krisen in den letzten vier Jahrzehnten wohl wichtigste Ansatz in der Psychologie rückt das Konzept des kritischen Lebensereignisses ins Zentrum. Die Lebensereignisforschung ist nach verbreiteter Auffassung insbesondere aus zwei Traditionen hervorgegangen: aus der (laborexperimentellen) Stressforschung einerseits, die sich mit eher lapidaren Stressoren wie Lärm oder Hitze, aber auch mit psychosozialen Stressoren wie etwa der Selbstwertbedrohung befasste, und der „Epidemiologie als einer Teildisziplin der Gesundheits- und/oder Sozialwissenschaften“ andererseits.62 Zu den Faktoren, die die „Prävalenz- und In60 61 62

Erikson: Die Weiblichkeit und der innere Raum; ders.: Noch einmal: der innere Raum. Vgl. dazu auch Straub und Chakkarath: Identität und andere Formen des kulturellen Selbst. Ulich: Krise und Entwicklung, S. 16.

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zidenzraten einzelner (psychischer und körperlicher) Krankheiten erzeugen resp. die auf das Erkrankungsrisiko“ in bestimmten Populationen einwirken, zählen neben physikalischen Gegebenheiten längst auch kulturelle, soziale und psychische EinÁüsse – nicht zuletzt eben kritische Lebensereignisse, wie es summarisch heißt. Es sei angemerkt, dass diese beiden wichtigen Wurzeln gewiss nicht die einzigen Quellen sind, aus denen die neuere Lebensereignisforschung geschöpft hat und sich noch heute nährt. Dieser in der Allgemeinen Psychologie und Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie, Differentiellen und Persönlichkeitspsychologie, der Klinischen Psychologie und Psychopathologie sowie anderen Teildisziplinen angesiedelte Forschungszweig zehrt – ebenso wie das eng damit verwobene Bewältigungsparadigma – offenkundig von Traditionen, die dereinst Innovationen darstellten. Dazu gehört zum Beispiel die etwas in Vergessenheit geratene Psychoanalyse, die von Ulich in seinem Rückblick auf die psychologische Erforschung von (entwicklungsrelevanten) Krisen zu Recht noch gewürdigt wird (obwohl sie selbstverständlich als eine Kriseninterventionstheorie und -praxis, die in Not- und anderen Bedarfsfällen das Schlimmste schnell zu verhindern und zu lindern gestattet, nicht taugt).63 Im Mittelpunkt der Life event-Forschung stehen bedrohliche und belastende kritische Lebensereignisse und Krisen. Diese eindeutig negative Konnotation kritischer Lebensereignisse war keineswegs von Anfang an ein allgemein anerkanntes DeÀnitionsmerkmal. Als kritisches Lebensereignis konnte auch ein Lottogewinn oder ein sonstiges willkommenes Ereignis gelten, das unerwartet ins Leben einbricht und eine zeitliche sowie qualitative Zäsur bewirkt. Im Folgenden gelten individuierte, raumzeitlich eindeutig bestimmbare kritische Lebensereignisse als unerwartete und unerwünschte Störungen der „ontischen Sicherheit“ einer Person (oder Gruppe).64 Derartige kritische Lebensereignisse bringen – wie eine Art ‚Vorgeschmack‘ auf eine Krise – das Leben einer Person aus dem Takt und diese aus dem Gleichgewicht; sie destabilisieren das „Person-Umwelt-Passungsgefüge“ oder erzeugen „Ist-Soll-Diskrepanzen“ (wie die gängigen Metaphern lauten). Sie schaffen für das betroffene Subjekt eine diffuse Lage (ohne klar identiÀzierbare Anforderungen und Aufgaben), in der Verunsicherungen gedeihen. Traumatische Erlebnisse sind mit ihren (kurz-, mittel- oder langfristigen) Folgen exzessive kritische Lebensereignisse. Es ist leicht zu erkennen, dass viele DeÀnitionsmerkmale der „Krise“ bei der Bestimmung kritischer Lebensereignisse wieder auftauchen. Es zeigt sich zudem, dass kritische Lebensereignisse in der Psychologie als explanative Konstrukte bei der theoretischen Erklärung von Krisen fungieren. Dabei ist offenkundig, dass die beiden Konzepte keineswegs logisch unabhängig voneinander sind (was für eine strikt empirische Erklärung im Sinne des deduktiv-nomologischen oder induktivstatistischen Modells eine notwendige Voraussetzung wäre). Ihre Bedeutungen überlappen sich vielmehr, lassen sich aber dennoch auseinanderhalten. Ein kritisches Lebensereignis und eine Krise sind differenzierbare Momente oder Phasen in 63 64

Ulich: Krise und Entwicklung, S. 8–12. Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 12.

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einem Geschehen bzw. Erleben, das alternative Ausgänge kennt. Kritische Lebensereignisse können, müssen sich aber nicht zu Krisen auswachsen: „Die Auseinandersetzung mit einem kritischen Lebensereignis droht dann in einen krisenhaften Verlauf einzumünden, wenn alle Versuche der Reorganisation der Person-UmweltPassung zu misslingen scheinen und auch der damit einhergehende negative Affekt nicht reguliert werden kann. Die Person gerät dann in einen Teufelskreis einer wachsenden Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten und Problemlösefähigkeiten, begleitet von einer zunehmenden emotionalen Destabilisierung.“65 Kritische Lebensereignisse sind das explanative theoretische Konstrukt der zeitgenössischen Psychologie der Krise (und ihrer möglichen Folgen). Die Lebensereignisforschung kann als besonders intensive Anstrengung aufgefasst werden, um die Entstehung und den Verlauf, den Ausgang und die Folgen von psychosozialen Krisen differenziert zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Die Reihe kritischer Lebensereignisse ist bekanntlich lang. Zu Beginn gingen viele Vertreter dieser breiten Strömung einfach davon aus, dass allein das gehäufte Auftreten (gravierender) kritischer Lebensereignisse zu starken Belastungen der Person führen müsse.66 Diese grobe mechanistische Unterstellung wurde jedoch verworfen, nachdem reihenweise uneinheitliche und teilweise kaum interpretierbare ‚Befunde‘ publiziert worden waren (die häuÀger der Kritik bereits durch den ‚gesunden Menschenverstand‘ nicht standhielten). Die mit diesem Verfahren einer bloßen „AuÁistung“ kritischer Lebensereignisse verwobene Idee, die erfassten Ereignisse ließen sich als solche metrisieren und als gewichtete Faktoren additiv zu einer Art objektivem Belastungswert verrechnen, erscheint nicht nur im Rückblick als völlig unangemessen, ja vermessen. Die vehementen Einwände gegen diese Annahme führte zu einem die Lebensereignisforschung zweifellos bereichernden Bewältigungsparadigma, in dessen Rahmen ein subjekttheoretischer und zugleich relationaler Begriff der Krise (bzw. des kritischen Ereignisses) zum Zuge kam, wie er auch im vorliegenden Beitrag erläutert wurde. Auch die Coping- oder Bewältigungsforschung steht – ungeachtet der eindrucksvollen Fortschritte während der letzten drei Jahrzehnte – allerdings noch immer vor der Aufgabe einer präzisen Klärung ihres theoretischen Grundbegriffs (Bewältigung, coping). Gängig sind heute multiple Kriterienansätze, die im Übrigen alle auch normativ gehaltvoll sind (also ‚gute‘ von ‚schlechten‘, produktive‘ von ‚kontraproduktiven‘ Bewältigungsstilen oder -formen unterscheiden). Die im Grunde genommen rationalistische Idee, produktiv und zielführend seien mitteloder langfristig ausschließlich jene Stile oder Formen, die das Subjekt schonungslos mit den ‚Tatsachen‘ konfrontieren und ihnen standzuhalten lehren, wird heute 65 66

Ibid., S. 14. Zur klassischen Literatur dieser „Listenansätze“ zählt noch: Dohrenwend und Dohrenwend: Stressfull life events; aus aktueller Sicht: Dohrenwend: Inventorying stressful life invents; als kritische Bilanzen, die paradigmatische Umorientierungen, weiterführende theoretische und methodische Perspektiven bereits Anfang der 1980er Jahre resümieren und ausbauen konnten, können z. B. gelesen werden: Brüderl: Belastende Lebenssituationen; Brüderl: Bewältigungsforschung; Faltermaier: „Lebensereignisse“.

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allerdings kritischer gesehen als dereinst. Zumindest kurzfristig können auch ausweichende Modi der Verarbeitung von kritischen Lebensereignissen – die Leugnung von Tatsachen (nach dem Motto: ‚was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!‘), die verklärende Rationalisierung oder der ‚Griff zur Flasche‘ – hilfreich oder efÀzient sein (im Sinne von Etappenzielen wie etwa einer ersten ‚emotionalen Beruhigung‘). Zu den zahlreichen Kriterien zählen etwa: Rückkehr zur Normalität, Schnelligkeit und Grad der Erholung, Rückgewinn der Kontrolle über das eigene Leben (Handlungsfähigkeit, Autonomie), Wiederbelebung/Schaffung sozialer Kontakte und Beziehungen, Rückkehr positiver Emotionen (Lebensmut, Lebensfreude u. a.), Orientierung an alten und neuen Zielen und Projekten, (An-)Dauer und Intensität der erlebten Beeinträchtigungen (physisch, psychisch, sozial), allgemeine Beschwerdefreiheit, Gesundheitszustand.67 In neuerer Zeit wird soziokulturellen Institutionen und insbesondere Ritualen, die Transitionen regeln – wie etwa Übergängen von einer altersbezogenen Lebensphase in die nächste, aber auch Wandlungsprozessen bei anders bedingten Formen des Wechsels von sozialen Positionen und Rollen –, in der psychologischen Bewältigungsforschung Beachtung geschenkt.68 Allerdings hilft dies nicht über die grundsätzliche Schwierigkeit hinweg, dass der Bewältigung dienliche Verhaltensweisen nicht generell als solche und von vorneherein bestimmbar sind. So erklärt es sich, dass viele gängige DeÀnitionen zirkulär erscheinen, etwa dann, wenn sie Bewältigung dort verorten, wo Verhaltensweisen – was im Einzelfall nur im Nachhinein feststellbar ist – tatsächlich „eine adaptive Funktion erfüllen und die Betroffenen vor gravierenden Folgen des Ereignisses schützen“, also dazu beitragen, dass die leidenden Akteure mit dem kritischen Lebensereignis „fertig werden.“69 Filipp und Aymanns sehen dieses Problem und schlussfolgern (in Übereinstimmung mit einem Großteil der Fachliteratur), dass „ein bestimmtes [so genannte] Bewältigungsverhalten per se weder adaptiv noch maladaptiv ist“, und weiter: „Da all das, was der Einzelne in seinem Leben zu bewältigen hat, so unterschiedlich und vielgestaltig ist, wie es individuelle Lebensverläufe eben sind, wird sich ein bestimmtes Bewältigungsverhalten im Visavis dieser unterschiedlichen Ereignisse als unterschiedlich hilfreich erweisen. Umgekehrt erzeugen scheinbar identische Ereignisse, die zu bewältigen fast allen von uns auferlegt ist (z. B. der Tod der Mutter70), keinesfalls überindividuelle Ähnlichkeiten im Bewältigungsverhalten und seiner Güte. Auch solche (normativen) Ereignisse sind auf je speziÀsche Weise mit unterschiedlichen Bewältigungsaufgaben verknüpft.“71 67 68 69 70 71

Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 19. Ibid., S. 124, wo allerdings die Präsenz ritualisierter Praktiken in modernen Gesellschaften pauschal unterschätzt wird. Ibid., S. 128–129, wo diese Bedeutung des Ausdrucks auch begriffsgeschichtlich hergeleitet wird. Auch das ist freilich eine voreilige Generalisierung, stellt für wohl nicht wenige Menschen der Tod der Mutter keineswegs ein (besonders) kritisches Lebensereignis dar. Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 129.

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Die Konsequenz liegt auf der Hand: Eine wirklich allgemeine DeÀnition erfolgreichen Bewältigungsverhaltens kann es nicht geben. Filipp und Aymanns behelfen sich deswegen mit dem vagen Hinweis, dass alle möglichen bewussten und unbewussten, reÁektierten und intentionalen oder habitualisierten und automatisierten Verhaltensweisen der Bewältigung kritischer Lebensereignisse dienen können. Bewältigung muss als ein temporal strukturierter, dynamischer Prozess konzeptualisiert werden, in dem sich erst nach und nach zeigt, was im Hinblick auf die angestrebte Bewältigung jeweils funktional und dysfunktional war und was – aller Voraussicht nach – im konkreten Fall fortan getan oder gelassen werden sollte (von der in einer je besonderen Situation sich beÀndenden Person und den unterstützenden Mitmenschen), um dem ersehnten Ziel näherzukommen. Genau in dieser theoretischen Sicht der Dinge sehen die Autorin und der Autor ein eklatantes Desiderat der zeitgenössischen Bewältigungsforschung, in der die „temporalen Dynamiken“ wie generell der „Faktor ‚Zeit‘ […] (noch) absolut unterbelichtet“ seien.72 Nun, diese Diagnose ist keineswegs Allgemeingut. Vor der daran gekoppelten Unhandlichkeit eines psychologischen Konstrukts, das der zeitlichen Dynamik und der untilgbaren Ambivalenz bzw. Polyvalenz von Handlungen (und anderen Verhaltensweisen), der stets überdeterminierten Motiv- und Intentionalitätsstruktur menschlichen Verhaltens sowie seinen so gut wie immer vielfältigen Folgen und Nebenfolgen gerecht zu werden versucht, scheuen noch immer viele Fachleute zurück. Es ist evident, dass ein derartiger Ansatz das nomologische Paradigma an seine Grenzen bringt und auch das methodische Primat der Operationalisierbarkeit und Metrisierbarkeit logisch voneinander unabhängiger Variablen ad absurdum führt. Die notwendige Konsequenz aus der vorgetragenen Einsicht, nämlich hermeneutische Perspektiven zu entwickeln und qualitative bzw. interpretative Forschungsmethoden einzusetzen – in Einzelfallstudien und komparativen Analysen73 – wird selbst im Buch von Filipp und Aymanns nur angedeutet. Die verbreiteten Theorien und Modelle der Bewältigung lassen sich, wie Filipp und Aymanns ausführen, im Übrigen fast ausnahmslos als dichotomisierend bezeichnen: Sie alle unterscheiden zweierlei Typen der Bewältigung, die im Prinzip der alltagsweltlich verfügbaren Unterscheidung zwischen (bewusster, willentlicher) Annäherung/Konfrontation und (willentlichem oder unwillkürlichem) Ausweichen entsprechen. Im Einzelnen werden zum Beispiel – in einer meistens bewertenden Weise – kontrastiert: Bewältigung versus Abwehr (coping versus defense), Vigilanz versus Unterdrückung (sensitizing vs. repressing), Zuwendung (z. B. in Form von Akzeptanz, Aufmerksamkeitssteigerung, Kontrollversuchen, NeudeÀnition der Situation und des Selbst, Repriorisierung von Zielen, Hilfesuche) versus Abwendung (auf mentaler oder praxisch-aktionaler Ebene, also etwa in Form von Leugnung, Vermeidung, Wunschdenken bzw. Flucht, Ablenkung). Die einÁussreichste (und zugleich höchst umstrittene) Unterscheidung stammt von Lazarus und Folkmann und kontrastiert problem- und emotionszentrierte Bewälti72 73

Ibid., S. 133. Die Methodologie und Methodik dieses Forschungstyps ist heute auch in psychologischen Handbüchern ausführlich dargestellt: Mey und Mruck: Handbuch Qualitative Forschung.

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gungsformen.74 Filipp und Aymanns verwerfen diese Differenzierung nicht nur wegen ihrer evidenten Schwammigkeit, sondern auch wegen ihrer impliziten Kopplung an die (teils höchst voreingenommene) Dichotomisierung gut = problemzentriert = praxisch-aktional versus schlecht = emotionsorientiert = intrapsychisch, kurzerhand als „so irreführend wie unbrauchbar“.75 Über die faktische Funktionalität verschiedener Formen der Bewältigung lasse sich mit derartig groben und unklaren Unterscheidungen leider so gut wie gar nichts ausÀndig machen. Hilfreicher – jedenfalls im Hinblick auf eine klarere gedankliche Ordnung menschlichen Tuns und Lassens – sei dagegen die ebenfalls beliebte (und in verschiedene Theorien eingegangene) Unterscheidung zwischen Modi der Welt- oder Selbständerung (changing the world versus changing the self).76 Insbesondere Selbstveränderungen werden zum Beispiel von den so genannten Transformationstheorien thematisiert. Vorwiegend handelt es sich bei der Bewältigung also um ein „mentales Geschehen“.77 Lässt man das eindrucksvoll breite Spektrum psychologischer Forschungen zum Bewältigungsverhalten bzw. -handeln Revue passieren, wird deutlich, dass Krisen bzw. kritische Lebensereignisse erÀnderisch machen und Menschen häuÀg in erstaunlichem Maß mobilisieren. Der Antrieb für die eigentümliche kreative Kraft, die sie freisetzen können, entstammt dem Leid, das sie für die betroffenen Personen mit sich bringen. Die durch Krisen und kritische Lebensereignisse freigesetzte Energie zu ihrer Bewältigung ist mithin ein Zeichen ihrer absoluten Unerwünschtheit. Zum Schluss: Eine Krisenwissenschaft für den Homo psychologicus Die Lebensereignis- und Bewältigungsforschung hat in zahllosen Studien gezeigt: Krisen gehören als ungebetene Gäste zum Leben wie die besseren Stunden im Dasein von Menschen. Die Psychologie ist darum bemüht, diese ungebetenen Gäste nicht ins eigene Haus zu lassen oder dort, wo sie eingedrungen sind, möglichst

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Das geschieht im Rahmen des bis heute dominierenden Ansatzes, nämlich des vielfach rezipierten und revidierten transaktionalen Modells von Lazarus: Psychological stress and the coping process; ders.: Stress, appraisal and coping. Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 140. Rothbaum, Weisz und Snyder: Changing the world; Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 141. Einzelheiten zur Bewältigung – z. B. durch Aufmerksamkeitssteuerung, repetitives Denken, komparatives Denken (z. B. in der Sozial- oder Zeitdimension), durch das Verstehen und Erklären von Vorkommnissen oder verschiedene Modi der (auch narrativen) Bedeutungskonstruktion und Sinnstiftung, durch die Suche nach Konsistenz und Kohärenz (auch des Selbst) oder die Verabschiedung von Illusionen, maßlosen Wünschen und unerfüllbaren Hoffnungen, durch die Unterdrückung negativer Gefühle und Gedanken und durch autosuggestives positive thinking, schließlich sogar durch „expressives Schreiben“ – Ànden sich bei Filipp und Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, S. 149–212.

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schnell wieder hinauszubefördern. Insgesamt ist überdeutlich: Die moderne Psychologie ist ganz in diesem Sinne eine Krisenwissenschaft par excellence.78 Selten ist das so deutlich wie im Fall einer Disziplin, die angetreten war, sich um akute, rapide sich ausbreitende seelische Leiden und damit verwobene soziale Probleme einer wachsenden Anzahl von Menschen zu kümmern. Es waren psychosoziale Krisen – Schwierigkeiten jedenfalls, in die Menschen in einem rapide sich wandelnden Leben gerieten und die sich auch als psychosoziale Probleme begreifen und konzeptualisieren ließen –, die eine wachsame und unterstützende Psychologie attraktiv machten. Es waren die in beschleunigten Umbrüchen und einem verstetigten Wandel entstandenen Lebensprobleme und vielfältigen Anforderungen in modernen (überwiegend, aber nicht nur kapitalistischen) Industriegesellschaften, die einen psychologischen Blick und professionalisierte, eigens institutionalisierte Bemühungen zu verlangen schienen. Das war die Geburtsstunde für eine wissenschaftlich fundierte Praxis, die die wachsenden Nöte von Menschen lindern wollte und die verunsicherten Subjekte ‚Àt‘ machen sollte für eine zügig sich wandelnde und dabei unübersichtlich werdende Welt. Die innovative Psychologie erklärte sich fortan für die Erhaltung zumindest der ,Funktionstüchtigkeit‘ von Individuen, zunehmend auch für deren gesamtes seelisches WohlbeÀnden und Glück zuständig. Sie nahm sich der in wachsendem Ausmaß auf sich selbst gestellten Einzelnen (und vielleicht vereinzelten, aus ihren bisherigen Bindungen, aus Traditionen und Institutionen herauskatapultierten Individuen) an. Sie sorgte sich um die zunehmend aus ihren angestammten Gemeinschaften in anonyme Gesellschaften freigesetzten Menschen, die den Umstürzen und Umwälzungen einer in ihrer Dynamik kontinuierlich beschleunigten Moderne aus eigener Kraft oft nicht mehr gewachsen waren (und noch heute just damit zu kämpfen haben). Die sich herausbildende psychologische Profession sorgte in einer immer mehr Personen einschließenden Krisensituation – die nie mehr ganz verschwinden, sondern allenfalls vielfältige Gestaltenwandel durchmachen sollte – für das zur Krisenbewältigung erforderliche Wissen. Eine ‚reine‘ Wissenschaft, die nichts anderem verpÁichtet gewesen wäre als einer sich selbst genügsamen Grundlagenforschung war diese Psychologie niemals. Sie war von Anfang dem Projekt einer kreativen Invention und permanenten Innovation verschrieben, das auf praktische Intervention hin angelegt war. Selbst so ‚unverdächtige‘ Bereiche der Grundlagenforschung wie die Gedächtnispsychologie – die stark an den methodischen Idealen der damaligen Leitwissenschaft, der experimentellen Physiologie, orientiert war und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erfahren hatte – stand im Zeichen der Optimierung des Menschen (durch Steige78

Dass die Psychologie sogar selbst in manche Krisen strudelte und bis heute nicht so ganz aus ihnen herausfand, sei hier lediglich am Rande erwähnt. Dieser theoretische und methodologische Topos, der die Psychologie gemeinhin zwischen Naturwissenschaften einerseits, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften andererseits ansiedelt und die Aufmerksamkeit auf gegenstandsangemessene Prinzipien und Verfahren psychologischer Forschung lenkt, ist seit Karl Bühlers berühmter Bilanz aus dem Jahre 1928 nicht mehr verschwunden: Bühler: Die Krise der Psychologie.

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rung seiner Gedächtnisfunktionen und Erinnerungsleistungen). Dieses eminent praktische Anliegen stand in anderen Bereichen der Psychologie (einschließlich der Psychoanalyse) noch sehr viel mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit und Anstrengung. Es ist im Übrigen evident, dass die Psychologie die für Krisen anfällige und vielleicht sogar selbst schon krisenartige Verfassung des modernen Subjekts nicht einfach bloß feststellte (als eine unübersehbare empirische Tatsache), sondern selbst diskursiv mit erzeugte und formte. Dieses Subjekt entstand in einer diskursiven Praxis, im unaufhörlichen Reden und Schreiben über ‚etwas‘, das erst im Zuge seiner Um- und Beschreibung eine prägnante Gestalt annahm. Dieses Subjekt war stets auch Objekt eines sich erweiternden Willens zum Wissen, das längst Macht über die Menschen gewonnen hatte. Die Psychologie war von Anfang an eine mit Machtprozessen (und Herrschaftsverhältnissen) verÁochtene Kraft im Rahmen einer epistemischen Formation, in der Subjekte formiert und transformiert wurden. Jenes Subjekt, welches erst durch die stetige Verfeinerung des theoretischen Vokabulars der wissenschaftlichen Psychologie und entsprechende ‚Anrufungen‘ und ‚Behandlungen‘ in Form kam, wurde zum Spiegel für immer mehr Menschen. Sie erkannten sich in ihm wieder, modellierten und beschrieben, verstanden und erklärten sich selbst mit seiner Hilfe. Weit davon entfernt, ein ganz und gar einheitliches Bild vom Menschen zu schaffen, bekam das moderne Subjekt von der Psychologie des späten 19. und des gesamten 20. Jahrhunderts doch einige typische Züge verpasst, die zu vielsagenden Erkennungszeichen einer wachsenden Schar von Zeitgenossen wurden. Dazu gehören etwa sein im Unbewussten lokalisierter, konstitutiver Selbstentzug, seine oft widersprüchlichen und sich widerstreitenden, ‚tiefen‘ und zugleich radikal kommerzialisierten Gefühle,79 sein Hang zur dauerhaften Selbstthematisierung und SelbstreÁexion (vor allem unter dem Banner einer umfassenden Psychologisierung und Therapeutisierung des Lebens, auch eines Imperativs zur ständigen Selbstinszenierung),80 seine innere Differenziertheit und Flexibilität oder seine strukturelle Komplexität und Dynamik, die unweigerlich mit gesteigerter Labilität und Fragilität, einer Art konstitutiven KonÁikthaftigkeit und Krisenanfälligkeit verschwistert sind.81 79 80

Illouz: Gefühle. Hahn und Kapp: Bekenntnis und Geständnis; Hahn, Leitner und Willems: Bekenntnisformen und Identitätsentwicklung. 81 Das zeigen par excellence alle anspruchsvollen Theorien personaler Identität; zum Überblick: Straub: Identität; Einblicke bieten etwa: Keupp, Ahbe und Gmür: Identitätskonstruktionen; Keupp und Hohl: Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel; Straub und Renn: Transitorische Identität; Willem und Hahn: Moderne und Identität; besonders vielschichtig auch: Taylor: Quellen des Selbst; mit sozialwissenschaftlichem Akzent: Giddens: Modernity and self-identity; ebenfalls charakteristisch (sowie kultur- und gesellschaftskritisch): Sennett: Der Áexible Mensch; afÀrmativer im Duktus: Gergen: The saturated self. Selbstverständlich ist die hier gewählte Perspektive nicht die einzige Möglichkeit, die Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie zu kontextualisieren, zu beschreiben und zu erklären. Vielfach fokussierte man seinerzeit einfach die ‚Natur des Menschen‘, also im hier interessierenden Fall (vermeintlich) univer-

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Die zügig institutionalisierte Psychologie sollte durch gezielte und systematische Anstrengungen einige der virulenten Probleme einer strapaziös gewordenen (Spät-)Moderne lösen helfen (selbstverständlich im Verbund mit anderen Wissenschaften, insbesondere der Medizin, vor allem der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychopathologie, der ebenfalls eigenständig werdenden und sich speziell von der Psychologie absetzenden Soziologie oder auch der Erziehungswissenschaft und Pädagogik, nicht zuletzt der Völkerkunde oder Ethnologie in einer ihrer Spielarten). Psychologische Grundlagenforschung und die Anwendung des neuen Wissens sollten es gewährleisten, die neuen Herausforderungen klar erkennen und die daraus sich ergebenden Aufgaben meistern zu können, und zwar speziell jene, welche immer mehr Menschen in ihrem „individualisierten“ tagtäglichen Leben und Erleben unablässig bewegten.82 Der spät- oder postmoderne Mensch, der im Zuge einer innovativen Produktion anthropologischen Wissens und seines Transfers in andere Disziplinen, gesellschaftliche Subsysteme und in die Lebenswelt immer deutlichere Züge annahm, war ein Geschöpf eines nervösen Zeitalters,83 in dem althergebrachte Traditionen und Institutionen brüchig wurden und oftmals tatsächlich zerbrachen. Die neu sich formierende Psychologie ist Bestandteil einer Geschichte, in der die AuÁösung des Alten in zahllosen Hinsichten unabwendbar schien und sich das moderne Subjekt in einer Halt- und Heimatlosigkeit wiederfand, die immer mehr Individuen deutliches Unbehagen bereiteten. Noch heute skandieren zahllose Zeitdiagnosen (wie die oben zitierten) diesen Grundtenor. Historisch-soziologische Studien und Theorien arbeiten sich noch immer an diesem einer unentwegten Beschleunigung ausgesetzten Vorgang ab, in dessen Verlauf Individuen nicht allein neue Freiheiten erringen oder erlangen können. Sie werden ihnen bekanntlich auch zugemutet und regelrecht oktroyiert. Freiheit als ein ersehntes Gut verwandelt sich bis heute unversehens in eine mühsame Aufgabe. Der brachiale oder subtile Zwang zur Freiheit ist alternativlos im Prozess der Individualisierung. Die politische und private ‚Liberalisierung‘ erwies sich sukzessive als eine nicht mehr revidierbare Errungenschaft (trotz aller Widerstände, Retardationen und Regressionen). Mobilität und intensivierter kultureller Austausch in einer sich globalisierenden Welt weiteten den Horizont erheblich. Offenheit wurde zum

82 83

sale psychische Strukturen und Funktionen, die zu erforschen als eigentliche Aufgabe einer Psychologie galt, die methodologisch und methodisch an den nomologisch-experimentellen Naturwissenschaften ausgerichtet werden und sich vor allem der Grundlagenforschung zuwenden sollte. Über den praktischen Kontext, in dem dieses wissenschaftliche Interesse auf neuartige Weise gebildet und verfolgt wurde, zerbrach man sich dabei in der Regel nicht allzu sehr den Kopf. Das bezeugen bis heute zahlreiche historische Darstellungen, die die Geschichte der Psychologie als eine vornehmlich wissenschaftsinterne Angelegenheit im Zeichen der fortschreitenden Ausdifferenzierung methodischer Erkenntnisbildung theoretischer und empirischer (Sub-)Disziplinen präsentieren. Das schillernde Konzept der „Individualisierung“ ist eine der verbreitetsten Chiffren für einen diffusen Problemkomplex geworden, über den u. a. die Schriften Ulrich Becks und Elisabeth Beck-Gernsheim Auskunft geben; vgl. etwa Beck: Riskante Freiheiten. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität.

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Kennzeichen eines Lebens, in dem die Einzelnen vielfältigen EinÁüssen ausgesetzt waren, gleichzeitig mit ihrem Kontingenzbewusstsein auch ihren Möglichkeitssinn entwickelten und immer mehr Entscheidungen zwischen Alternativen auch dort zu treffen hatten, wo früher alles festgelegt war (oder schien, z. B. bezüglich der Berufs- oder Ehepartnerwahl). Nicht alle kamen gleichzeitig in den Genuss dieser neuen Lage. Neben klassen-, schicht- oder milieuspeziÀschen Unterschieden waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem Geschlechterdifferenzen auffällig, die eine wirkliche Gleichstellung von Frauen behinderten. Bis heute sind soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten offenkundig. Dennoch blieb kaum etwas ganz beim Alten, und zwar in wachsendem Ausmaß für niemanden mehr. Die Psychologie wurde auch deswegen eine außerordentlich populäre und einÁussreiche Wissenschaft. Die Radikalität der Entstehung des Neuen war wahrlich umwälzend, seine Dynamik mitreißend und oft schwindelerregend. Die Mehrheit der Betroffenen erlebte dies nolens volens und mit durchaus gemischten Gefühlen. Mobilität und Flexibilität, Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft wurden zu eigentümlichen ‚Garanten‘ des Überlebens. Sie verhießen allerdings keineswegs automatisch ein gelingendes, beglückendes und befriedigendes Dasein. Vielfach geriet den Menschen ihre auf immer mehr Aspekte ihres Lebens sich erstreckende Veränderungsbereitschaft und virtuose Anpassungsfähigkeit zu einer an den physischen und psychischen Ressourcen zerrenden Daueranstrengung, die nicht zuletzt deswegen KonÁikte und Krisen ohne Unterlass erzeugen musste, weil die Betroffenen oft kein klares Ziel mehr ansteuern, geschweige denn erreichen konnten. Unbegrenzte Beweglichkeit und unermüdliche Tätigkeit brachten die Subjekte bald schon massenweise an den Rand von Ermüdungserscheinungen und sogar von Nervenzusammenbrüchen, vor denen sie nur noch eine wissenschaftliche Psychologie zu bewahren schien und von denen sie sich im Bedarfsfall nur noch mit Hilfe dieser Disziplin und ihrer praktischen Ausläufer wie der Psychotherapie kurieren konnten. Die Psychologie und Psychotechnik unserer Gegenwart begreifen den auf trainability geeichten Menschen mehr denn je als „hochtourigen Lerner“.84 Die Psychologie stand von Anfang an im Dienst der Prophylaxe und Reparatur bedrückter und gefährdeter, vielleicht schon beschädigter Seelen, vereinzelter oder doch von Vereinzelung bedrohter Individuen, deren gestärkte Vernunft und erweiterte Autonomie nicht mehr recht weiterhalf gegen die Strudel einer permanent umstürzenden Welt. Orientierungslosigkeit und tiefe Selbstzweifel wurden und sind noch heute Massenphänomene. Verunsicherungen bei gleichzeitigen Überanstrengungen und Ermüdungserscheinungen sind notwendige Ingredienzen spät- oder postmoderner Existenzen geblieben, notdürftig kaschiert durch exaltiert inszenierte Selbstdarstellungen selbstbewusst erscheinender ‚Erfolgsmenschen‘. Die Psychologie hat solche Einsichten vielfach auf den Begriff gebracht. Die psychopathologischen oder klinisch-psychologischen Etiketten für massenhafte Leiden wechselten dabei, von der (vermeintlich) „weiblichen Hysterie“ im späten 19. und frühen 20. 84

Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens.

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Jahrhundert über exzessiv „narzisstische Charaktere“ bis hin zur „multiplen Persönlichkeit“ oder „Volkskrankheit Depression“ unserer Tage. Dabei erhielt nicht zuletzt der Begriff der Krise eine zentrale Bedeutung. Die Krisenanfälligkeit ist zum Signum eines (spät-/post-) modernen Subjekts geworden, das in der beschleunigten Geschichte und Lebensgeschichte dauerhaft in Anforderungen und Schwierigkeiten verwickelt ist, die als einzelne zwar gelöst werden können oder abklingen mögen, im Prinzip aber zum Leben gehören wie sonst nur natürliche Tatsachen. Diese Einsicht kann so stehen bleiben, sollte aber um den Hinweis ergänzt werden, dass die Psychologie ihren oft pessimistischen zeitdiagnostischen Furor im Zaum halten und Abstand bewahren sollte gegenüber einem Medienbetrieb, der auf die laufende Produktion und den beständigen Transfer massenhaft konsumierbarer Sensationen angewiesen ist. Auch die globalisierte postmoderne Welt wird nicht ausschließlich von Personen bewohnt, die dieser oder jener Sucht frönen und sich dabei selbst zerstören, unter mehr oder weniger schweren Depressionen leiden oder anderen seelischen Störungen ausgeliefert sind, zu Amok bereit sind oder sonstigen Formen exzessiver Gewalt gegen andere zum Durchbruch verhelfen. Es ist heute ein Allgemeinplatz, dass viele der einander bedingenden und sich überlappenden globalen oder regionalen, kulturellen, gesellschaftlichen und psychosozialen Krisen Ergebnisse und Folgen menschlichen Handelns sind. Man braucht das intentionalistische Handlungsmodell nicht überstrapazieren, um konstatieren zu können, dass kollektive und individuelle Krisen in ihrer Genese und Qualität oft nicht einmal im Ansatz verstanden werden können, wenn sie nicht mit dem Handeln von Einzelnen und (beliebig großen) Gruppen in Zusammenhang gebracht werden. Psychosoziale Krisen verdanken sich manchmal unglücklichen Zufällen oder Unfällen, die niemand wollte, verschuldete und zu verantworten hat, bisweilen aber auch vermeidbarem menschlichem Handeln. Wir denken zuerst an die exzessive kollektive Gewalt, von der das 20. Jahrhundert übersät war und das 21., trotz der andauernden Abwesenheit von Weltkriegen, alles andere als frei ist. Kriege, Genozide, Verfolgung, Folter und Vernichtung sind die narrativen Abbreviaturen einer Geschichte, in der auch psychosoziale Krisen zu Massenphänomenen avancierten und die wissenschaftliche, die angewandte und praktische Psychologie immer dringender erscheinen ließen. Unter „posttraumatischen Belastungsstörungen“ konnten sich noch vor wenigen Jahrzehnten allenfalls Expertinnen und Experten etwas vorstellen.85 Heute sind der Fachausdruck und sogar seine dem Englischen entnommene Abkürzung PTSD (Posttraumatic Stress Disorder) bereits Allerweltswörter geworden. Es ist zu erwarten, dass diese Geschichte nicht ans Ende gekommen ist. Andere Katastrophen, die psychosoziale Krisen vielfältiger Art mit sich bringen, gesellen sich hinzu. Insbesondere die Implikationen, Folgen und Nebenfolgen der nunmehr rasant ins allgemeine Bewusstsein einer erschütterten (Welt-)Öffentlichkeit drängenden ökologischen Krise bilden ein immer breiter werdendes Terrain für eine 85

Das heute verfügbare Wissen zu diesem Themenkomplex fasst z. B. zusammen: Maercker: Posttraumatische Belastungsstörungen.

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mobilisierende, präventive und therapeutische Psychologie der Krise. Die psychosozialen Flurschäden dieser Krise werden seit Jahrzehnten an die Wand gemalt, mit gröberen und feineren Strichen, und mittlerweile wenden nur noch wenige den Blick von diesen realistischen Szenarien einer Zukunft ab, in der auch der Begriff der psychosozialen Krise seine überlieferten Bedeutungen behalten und neue annehmen wird. Literatur Asendorpf, Jens: Psychologie der Persönlichkeit, Berlin 2007. Baumgartner, Peter: Der Hintergrund des Wissens. Vorarbeiten zu einer Kritik der programmierbaren Vernunft, Klagenfurt 1993. Beck, Ulrich: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 2008. Berry, John W. u. a.: Cross-cultural Psychology: Research and Applications, Cambridge, NY 1992. Boesch, Ernst E.: Symbolic Action Theory and Cultural Psychology, Berlin 1991. Boesch, Ernst E.: Sehnsucht. Von der Suche nach Glück und Sinn, Bern 1998. Boesch, Ernst E.: Das lauernde Chaos. Mythen und Fiktionen im Alltag, Bern 2000. Boesch, Ernst E.: Homo narrator – der erzählende Mensch, in: Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften 9 (2000), S. 205–230. Boesch, Ernst E.: Von Kunst bis Terror. Über den Zwiespalt in der Kultur, Göttingen 2005. Boesch, Ernst E. und Jürgen Straub: Kulturpsychologie. Prinzipien, Orientierungen, Konzeptionen, in: Kulturvergleichende Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie. Serie VII. Themenbereich C „Theorie und Forschung“, hg. von Hans-Joachim Kornadt und Gisela Trommsdorff, Göttingen 2006, S. 25–95. Bollnow, Otto Friedrich: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung, Stuttgart ³1965. Bollnow, Otto Friedrich: Krise und neuer Anfang. Beiträge zur pädagogischen Anthropologie, Heidelberg 1966. Borkenau, Peter und Fritz Ostendorf: NEO-Fünf-Faktoren Inventar nach Costa und McCrae. Manual, Göttingen 22008. Brockmeier, Jens und Donald Carbaugh (Hg.): Narrative and Identity: Studies in Autobiography, Self and Culture, Amsterdam, Philadelphia 2001. Brüderl, Leokadia (Hg.): Belastende Lebenssituationen. Untersuchungen zur Bewältigungs- und Entwicklungsforschung, Weinheim, München 1988. Brüderl, Leokadia (Hg.): Theorien und Methoden der Bewältigungsforschung, Weinheim 1988. Brüderl, Leokadia, Norbert Halsig und Annette Schröder: Historischer Hintergrund, Theorien und Entwicklungstendenzen der Bewältigungsforschung, in: Theorien und Methoden der Bewältigungsforschung, hg. von Leokadia Brüderl, Weinheim 1988, S. 25–45. Bruner, Jerome S.: Actual Minds, Possible Worlds, Cambridge, Mass. 1986. Bruner, Jerome S.: Acts of Meaning, Harvard, MA 1990. Bühler, Karl: Die Krise der Psychologie, Leipzig 1928. Costa, Paul T., Jr. und Robert R. McCrae: NEO Personality Inventory, Odessa, FL 1985 (Psychological Assessment Resources). Dohrenwend, Bruce P.: Inventorying Stressful Life Invents as Risk Factors for Psychopathology: Toward Resolution of the Problem of Intracategory Variability, in: Psychological Bulletin 132 (2006), S. 477–495. Dohrenwend, Barbara S. und Bruce P. Dohrenwend: Stressfull Life Events and their Contexts, New York 1981.

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KRISE AUS EINER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLICHEN PERSPEKTIVE. EINIGE ÜBERLEGUNGEN ZUR ENTWICKLUNG EINES TERMINOLOGIESYSTEMS UND ZUR EIGNUNG ORGANISATIONSTHEORETISCHER ERKLÄRUNGSANSÄTZE Michael Hülsmann, Philip Cordes 1. Einleitende Betrachtungen Der Begriff der Krise wird in vielfältiger, beinahe universeller Form verwendet und gedeutet.1 Im alltäglichen Sprachgebrauch wird beispielsweise von Persönlichkeitskrisen gesprochen, wenn es um Individuen geht; von Organisations- oder Institutionskrisen, wenn es sich um Unternehmen oder Wirtschaftssysteme handelt. Der Ausdruck ‚Krise‘ ist im alltäglichen Gebrauch verankert, wie an zahlreichen Beispielen festgemacht werden kann (bspw. krisenhafte Versorgungsabläufe in Gesellschaften oder Beziehungen zwischen Staaten oder Personen).2 Dennoch gibt es Hinweise auf Schwierigkeiten, den Begriff der Krise als „zeitgenössisches Phänomen“ eindeutig zu bestimmen,3 was als Indiz für die Notwendigkeit einer expliziten und kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden DeÀnitionskonzepten und theoriebasierten Erklärungsansätzen gilt.4 Dabei zeigen krisenhafte Verläufe in der internationalen Staatengemeinschaft, in der Weltwirtschaft sowie bei Unternehmen nicht nur die aktuelle Relevanz des Themas, sondern vor allem auch die daraus resultierende Notwendigkeit eines umfassenden – wirtschaftswissenschaftlichen – Beschreibungs- und Erklärungszugangs. Die Parallelität von Entwicklungen wie etwa der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, die damit verbundenen tatsächlichen oder befürchteten Kurseffekte des globalen Konjunkturverlaufes sowie eine zunehmende Anzahl von Unternehmensinsolvenzen verdeutlicht,5 dass Krisen auf Staats-, Wirtschafts- und Unternehmensebenen nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind und jeweils eine wirtschaftswissenschaftliche Perspektive ansprechen. Zudem wird die Vielzahl von Wechselwirkungen nicht nur zwischen unterschiedlichen Krisen auf der gleichen Ebene, sondern auch zwischen den verschiedenen Ebenen erkennbar. So können 1 2 3 4 5

Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 9. Vgl. Pohl: Krisen in Organisationen, S. 2. Vgl. Schulten: Krisenmanagement, S. 9. Vgl. Hülsmann: Intensitätsmessung, S. 11. Zu Kurseffekten vgl. Tatje: Problemfall Griechenland. Informationen über den globalen Konjunkturverlauf können nachgelesen werden in Fischermann et al.: Einschläge. Über zunehmende Unternehmensinsolvenzen siehe Berg: Pleiten.

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Michael Hülsmann, Philip Cordes

Staatskrisen Unternehmenskrisen auslösen, wie etwa im Falle Griechenlands oder bei Unternehmen, die importabhängig und somit auf einen relativ starken Euro angewiesen sind. Umgekehrt können aber auch Unternehmenskrisen Auslöser für Weltwirtschaftskrisen sein, wie es bspw. im Fall der Lehman Brothers Bank zu beobachten war, deren Zusammenfall einen Dominoeffekt aufgrund der weltweit vernetzten Finanzmärkte verursachte.6 Je stärker derartige Wechselwirkungen sind, desto notwendiger ist es für die Erklärung der Entstehung von Krisen, zum einen ein einheitliches Begriffsverständnis des Krisenkonstruktes zu schaffen und zum anderen eine theoretische Grundlage zur Analyse von Krisen zu identiÀzieren, die ein ausreichendes Erklärungspotential mit möglichst wenigen Einschränkungen bietet. Eine gemeinsame Begriffs-, Beschreibungs- und Analysebasis vermindert mögliche Inkommensurabilitätsprobleme7 beim integrativen Blick auf Wechselwirkungen zwischen den Ebenen.8 Erst auf einer gemeinsamen wirtschaftswissenschaftlich fundierten Basis ist es letztendlich möglich, theoriegestützte Handlungsempfehlungen für die Vermeidung von und für den Umgang mit derartigen Krisen abzuleiten. Für das Management von Unternehmen ist es heutzutage selbstverständlich, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass Unternehmen in Krisen stürzen können.9 Dennoch ist in der Betriebswirtschaftslehre eine intensive und damit auch erschöpfende Abhandlung des Phänomens der Krise bisher nicht erkennbar.10 Es existieren zwar vielfältige Einzeluntersuchungen zum Thema Krise,11 ein übergeordnetes, als paradigmatisch einzustufendes Beschreibungs- und Erklärungskonzept steht jedoch noch aus. In der Forschungsrichtung zum Strategischen Management lassen sich ähnliche Forschungsprobleme verzeichnen. Dies lässt sich auf eine differenzierte, fragmentarische und wenig vernetzte Theoriefundierung zurückführen, die bisher nicht übergreifend in die einzelnen Konzepte integriert wurde.12 Ebendiese Problematik kann zur Erklärung von DeÀziten in der Krisenforschung herangezogen werden. Hier kann ein DeÀzit an terminologischen Bestimmungen des Krisenkonstruktes verortet werden. Folglich steht eine Operationalisierung für die betriebswirtschaftliche Krisenforschung bislang aus, die es intersub6 7 8

9 10 11 12

Vgl. Buchter et. al.: Hurrikan Lehman. Zum Thema der Inkommensurabilität siehe bspw. Hoyningen-Huene: Feyerabend und Kuhn, S. 64–67. Würden die Krisen auf den verschiedenen Ebenen auf Basis jeweils anderer Terminologie- und Erklärungssysteme untersucht werden, könnte aufgrund unterschiedlicher Annahmen und Erkenntnisziele kein in sich kohärentes und konsistentes Aussagegerüst etabliert werden – weder hinsichtlich der Wechselwirkungen noch im Vergleich zwischen den Ebenen von Unternehmen, Wirtschaftssystemen oder Staaten. Um solche Aussagen über Krisen zu ermöglichen, ist es folglich erforderlich, die Krisenproblematik mit den gleichen Methoden und Theorien auf unterschiedlichen Ebenen analysieren zu können. Vgl. Schreyögg: Krisenmanagement, S. 13. Vgl. Hülsmann: Ad-hoc-Krise, S. 35. Vgl. bspw. Albach: Operations Research, Becker: Krisenmanagement, Bergmann: Personalaufwendungen, Berndt: Management-Qualität. Vgl. Schendel und Cool: Development, S. 17.

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jektiv nachvollziehbar ermöglichen würde, eine bestimmte Situation als Krise zu benennen.13 Auch wurden aus vielfältigen, voneinander abzugrenzenden Krisenphänomenen bei weitem noch nicht alle in ihrer Art und Form beschrieben, geschweige denn in den dahinter liegenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen untersucht. Eine Folge dessen ist, dass eine Erklärung der Entstehung von Krisen auf Basis mehrerer unterschiedlicher Organisations- und Managementtheorien, die nicht notwendigerweise integriert, aber zumindest sinnvoll kombiniert wurden, bislang fehlt. Damit einhergehend ist auch eine empirische Forschung zur Überprüfung dahinter liegender multitheoretisch-basierter Hypothesensysteme bislang nicht hinreichend möglich gewesen.14 Im Unterschied hierzu kann die Volkswirtschaftslehre gemäß dem Entscheidungs- und Organisationsforscher Rainer Marr sowie der Organisationspsychologin Heidrun Friedel-Howe zur DeÀnition, Abgrenzung und Analyse des Begriffs Krise auf eine Vielzahl von Theoriekonzepten zurückgreifen.15 Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften ist eine Forschungslücke beim Thema Krise also vornehmlich in der Betriebswirtschaftslehre zu verorten. Die Gründe hierfür liegen vor allem in der Schwierigkeit, Theorien der Krise aus betriebswirtschaftlicher Perspektive empirisch zu veriÀzieren. Dies liegt zum einen an der Multikausalität der Entstehung von Unternehmenskrisen.16 Zum anderen besteht eine besondere Schwierigkeit darin, entsprechende Daten zu erhalten, die diese Multikausalitäten empirisch überprüfen könnten. Denn in der Krise scheiternde Unternehmen sind danach nicht mehr existent. In der Krise erfolgreiche Unternehmen dagegen erleben i. d. R. einen elementaren Wandel (bspw. Personalaustausch). Deshalb soll in der Analyse auf den Krisenbegriff aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ein besonderer Fokus gelegt werden. Hieraus ergeben sich folgende Forschungsfragen: 1. Welches Begriffsverständnis spiegelt alle konstitutiven Merkmale einer Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive wider und ist ebenenübergreifend anwendbar? 2. Welche wirtschaftswissenschaftlich basierten Theorien können Krisen im Sinne eines einheitlichen und übergreifenden Verständnisses erklären? Diesen Fragen soll im Laufe der folgenden Analyse nachgegangen werden, indem zunächst der hierfür notwendigen Terminologie und dem Verständnis des Krisenkonstruktes nachgegangen wird (Abschnitt 2), um im Anschluss daran theoriebasierte Erklärungsansätze zur Beschreibung und Entstehung von Krisen vorstellen und kritisch beurteilen zu können (Abschnitt 3). Letztlich wird auf Basis der identiÀzierten ErklärungsdeÀzite weiterer Forschungsbedarf für die Erklärung von Krisen aufgezeigt (Abschnitt 4).

13 14 15 16

Vgl. Schreyögg: Krisenmanagement, S. 13. Vgl. Hülsmann: Ad-hoc-Krise, S. 35. Vgl. Marr und Friedel-Howe: Krisenursachen. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 299.

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2. Terminologie und Verständnis des Krisenkonstruktes 2.1 Interdisziplinäre Verwendung des Krisenbegriffes Der Begriff der Krise wird seit Jahrhunderten in den Wissenschaften verwendet, obwohl es keinen interdisziplinären Konsens darüber gibt, was genau mit ihm gemeint ist. Im deutschen Sprachraum ist der Begriff der Krise als bedeutsame, schwierige Situation seit dem 18. Jh. zu verzeichnen. EinÁussreich war hierbei der französische Begriff „crise“, der sich wiederum bis zum griechischen „krísis“ zurückverfolgen lässt, welcher für Entscheidung oder entscheidende Wendung steht. Unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie die Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaften, Theologie, Geschichte, Philosophie oder Politik haben jeweils ihr eigenes Verständnis einer Krise entwickelt,17 was eine übergreifende begrifÁiche und inhaltliche Klärung zusätzlich erschwert.18 Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Verwendungen: Alle Disziplinen erfassen mit dem Begriff erstens Situationen, in denen die Existenz des jeweiligen Objektes oder Subjektes, welches sich in der Krise beÀndet, gefährdet ist. Zweitens ist die weitere Entwicklung des Krisenverlaufes jeweils ungewiss19 und drittens wird die Krise als EinÁussgröße auf eine Situation des Umbruches wie auch gleichzeitig als Indikator hierfür betrachtet und damit als Evidenz und Ausdruck eines neuen Bewusstseins.20 In der Medizin beispielsweise, in der der Begriff der Krise erstmalig Verwendung fand21, sowie in der Psychologie bezeichnet sie den Höhepunkt einer Erkrankung und damit den Punkt, an dem sich entscheidet, ob der Patient genesen oder sterben wird.22 In der Rechtswissenschaft bezeichnet eine Krise eine Situation, in der zwischen Recht und Unrecht entschieden wird. In der Theologie entsteht eine Krise in der Entscheidungssituation zwischen Himmel oder Hölle bzw. Heil oder Verdammnis.23 Neben derartigen Gemeinsamkeiten gibt es auch grundlegende Unterschiede, die sich in Konkretisierungen der einzelnen Sichtweisen ausdrücken. In der politisch-wissenschaftlichen Betrachtung von Krisen geht es explizit um wirtschaftliche oder politische Systeme, die in ihrer Existenz gefährdet sind, ausgelöst durch systeminterne Faktoren oder durch die Systemumwelt, die zu nicht kurzfristigen Störungen führen.24 Dieser Perspektive soll im Folgenden nähere Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie ebenenübergreifend sowohl wirtschaftliche Institutionen wie Unternehmen als auch ganze Wirtschaftssysteme in die Betrachtungen einzuschließen vermag. 17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Gabele: Management of change, S. 151. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 3. Vgl. ibid. Vgl. Koselleck: Kritik und Krise, S. 132. Vgl. Drosdowski und Klosa: Duden, S. 388. Vgl. Pohl: Krisen in Organisationen, S. 28. Vgl. Koselleck: Kritik und Krise, S. 617. Vgl. Schmidt: Wörterbuch zur Politik, S. 530.

Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive

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Zur Unterscheidung unterschiedlicher Typen von Krisen soll hier dem Philosophen, Soziologen und bekannten Vertreter der sog. Kritischen Theorie Jürgen Habermas gefolgt werden, der zwischen ökonomischer Krise, Rationalitätenkrise, Legitimationskrise und Motivationskrise differenziert.25 Gemeinsam ist allen vier Typen, dass die jeweilige Krisensituation dadurch geprägt ist, dass das betrachtete System nicht mehr in der Lage ist, sich mit überlebenswichtigen Ressourcen durch Stakeholder zu versorgen, was durch die Annahmen der Ressourcenabhängigkeitstheorie, die von den Organisationsforschern Jeffrey Pfeffer und Gerald R. Salancik begründet wurde und bis heute in der Organisationslehre weitreichenden EinÁuss ausübt,26 untermauert wird (siehe Abbildung 1).

Typen von Krisen im politischen Verständnis: Ökonomische Krise

• wirtschaftliche

Rationalitätenkrise

• Differenz zwischen

Schwierigkeiten sozialer Systeme

• Bsp.: Insolvenz einer Unternehmung, Zahlungsunfähigkeit eines Staates

Systemrationalität und Rationalität umgebender Systeme

• Bsp.: Effizienzversus Nachhaltigkeitsrationalität

Legitimationskrise

• Legitimitätsverlust durch Nichterfüllung der Systemzwecke

• Bsp.: Vertrauensfrage eines Volksvertreters

Motivationskrise

• Verlust von Motivation zur Systemunterstützung durch Systemmitglieder oder Stakeholder

• Bsp.: Rückgang des Spendenaufkommens für (nicht) staatliche Organisationen

Unfähigkeit zur Versorgung mit lebensnotwendigen Ressourcen durch Stakeholder des Systems (bspw. Kapital oder Wählerstimmen)

Abb. 1: Typen von Krisen im politischen Verständnis Quelle: Eigene Abbildung auf Basis von Habermas (1973) und Pfeffer und Salancik (1978).

Eine erste grobe Unterscheidung kann dahingehend getroffen werden, dass es sich bei der ökonomischen und bei der Rationalitätenkrise um Krisen auf Systemebene handelt. Legitimations- und Motivationskrise hingegen sind als Identitätskrisen auf der Ebene von Individuen eines Systems einzuordnen. Weil die Individuen aber Teil eines übergeordneten Systems sind, wäre es unzureichend, diese Krisentypen unabhängig voneinander zu betrachten. Vielmehr muss die VerÁechtung zwischen ihnen berücksichtigt werden, wie im Folgenden erläutert wird.

25 26

Vgl. Habermas: Legitimationsprobleme, S. 67. Vgl. Pfeffer und Salancik: External control of organizations.

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Die ökonomische Krise bezeichnet Situationen, in denen soziale Systeme wie Unternehmen, Institutionen oder Staaten sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten beÀnden. Generell meinen wirtschaftliche Schwierigkeiten hierbei Situationen, in denen die jeweiligen Systeme nicht mehr in der Lage sind, sich mit Ressourcen zu versorgen, die sie benötigen, um ihre Zwecke zu erfüllen. Im unternehmerischen Kontext kann hier zur Erklärung auf den Ressourcen-Abhängigkeits-Ansatz nach Pfeffer und Salancik zurückgegriffen werden. Demnach kann organisationale EfÀzienz durch die Fähigkeit beschrieben werden, die Bedürfnisse derjenigen Stakeholder zu befriedigen, von denen die betreffende Organisation überlebenswichtige Ressourcen benötigt.27 In diesem Sinne stürzen Unternehmen dann in eine ökonomische Krise, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die Bedürfnisse ihrer wichtigsten Stakeholder (bspw. Kapitalgeber, Kunden) zu erfüllen und diese dem Unternehmen dementsprechend Ressourcen verweigern (bspw. Kapital, Nachfrage). Ein Beispiel hierfür Àndet sich in den Problemen von Opel, den Bedürfnissen der Kunden zu entsprechen, die daraufhin die Nachfrage verweigerten.28 Analog verhält es sich in politischen Kontexten,29 in denen beispielsweise DeÀzite des Staatshaushaltes, DauerinÁationen oder ein zunehmendes Auseinanderdriften von öffentlicher Armut und privatem Reichtum Resultate der Unfähigkeit sind, Bedürfnisse der wichtigsten staatlichen Stakeholder zu befriedigen und diese dem Staat somit die überlebensnotwendigen Ressourcen entziehen. Auch hier dreht es sich vor allem um die Verfügbarkeit von Kapital, um die Finanzierung des Staatshaushaltes zu gewährleisten. Jüngst stürzte Griechenland, neben anderen Ursachen, durch die Herabsetzung der Kreditwürdigkeit in eine solche Krise.30 Die Rationalitätenkrise beschreibt eine Situation, in der die Rationalität, der die Steuerung eines Systems unterliegt, einer anderen Logik folgt, als die Steuerungsrationalität der umgebenden Systeme.31 Ein Beispiel hierfür ist ein zu beobachtendes Unvermögen von Politik und Verwaltung, den ökonomischen Rationalitäten, die durch das Dilemma zwischen EfÀzienz und Nachhaltigkeit geprägt sind, zu folgen. Administrative Vernunft, geprägt durch die Notwendigkeit zur Rechtsfestigkeit oder durch Grundsätze zur Gleichbehandlung, die wiederum gesellschaftlich-demokratisch und damit willentlich eingeführt wurden, steht hierzu in einem Widerspruch, der in unterschiedlichem Entscheidungsverhalten resultiert.32 In Anknüpfung an die oben aufgegriffene Notwendigkeit zur Bereitschaft von Stakeholdern, Ressourcen bereit zu stellen, um ökonomische Krisen zu vermeiden, führt eine Rationalitätenkrise dazu, dass Stakeholder (bspw. bestimmte Gruppen von Steuerzahlern), die anderen Rationalitäten folgen, ihre Bedürfnisse (bspw. zu einem efÀzienten bzw. nachhaltigen Haushalten mit öffentlichen Mitteln) nicht mehr befriedigt sehen und somit ihre Ressourcen verweigern (bspw. Wählerstimmen). Glei27 28 29 30 31 32

Ibid. Vgl. Bluethmann: Opels Fall. Vgl. Habermas: Legitimationsprobleme, S. 66. Vgl. Faigle: Griechenland. Vgl. Hülsmann: Management im Orientierungsdilemma, S. 317–319. Vgl. Hülsmann: Verwaltungsmodernisierung, S. 11.

Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive

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ches gilt für Unternehmen, in denen Kapitalgeber möglicherweise eher eine EfÀzienzrationalität in der Unternehmensführung verlangen als die Einhaltung von Gleichbehandlungsgrundsätzen, die umgekehrt von anderen Stakeholdern (bspw. Betriebsräten) abverlangt wird. Die Legitimationskrise knüpft ebenfalls an die Betrachtung der Bereitstellung von überlebensnotwendigen Ressourcen eines Systems an. Die Zwecke eines Systems werden nicht allein von den Systemmitgliedern bestimmt, sondern zusätzlich von denen, die bestimmte Erwartungen an dieses System stellen und es mit überlebensnotwendigen Ressourcen ausstatten. Wird der erwartete Zweck des Systems nicht erfüllt, verliert das System in den Augen der Stakeholder an Legitimität. Diese wiederum können die Fähigkeit zur Funktionserfüllung des Systems durch Ressourcenverweigerung beeinÁussen.33 Ein hierdurch entstehendes RessourcendeÀzit vermindert die Fähigkeit zur Zweckerfüllung. Im politischen Kontext kann hier erneut das demokratische Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten beispielhaft genannt werden: Erfüllen die gewählten Staatsvertreter nicht die von den Wählern gesetzten Zwecke, so verlieren sie ihre Legitimation und somit Wählerstimmen. Analog verhält es sich im unternehmerischen Kontext, in dem ein Unternehmen die Legitimation durch den Kapitalgeber verliert, wenn es den von ihm gesetzten Zweck (bspw. der verzinsten KapitalrückÁüsse) nicht erfüllt. Die Motivationskrise kann schließlich als Resultat einer Legitimationskrise verstanden werden, die in einer Veränderung des soziokulturellen Systems ihren Ursprung Àndet. Im politischen Kontext handelt es sich hierbei um einen Mangel an Motivation zur politischen Unterstützung sowie zur Ausbildung und Beschäftigung. In der Konsequenz entsteht eine Störung der sozialen Integration durch das soziokulturelle System.34 Auch hier greift die Ressourcenverfügbarkeitsbetrachtung, denn die Motivation der Systemmitglieder stellt für bestimmte Systeme eine überlebensnotwendige Ressource dar. Dies gilt ebenso in den Systemen Staat und Unternehmen. In beiden kann die Zweckerfüllung durch fehlende Motivation der Bürger respektive der Mitarbeiter beeinträchtigt werden. Während Identitätskrisen – Legitimations- und Motivationskrisen – auf individueller Ebene ausgelöst werden oder Auswirkungen zeigen, sind ökonomische Krisen und Rationalitätskrisen als Systemkrisen zu verstehen. Je nach Betrachtungsperspektive sind andere Arten von Stakeholdern zu berücksichtigen, von denen überlebenswichtige Ressourcen benötigt werden, um das betrachtete System am Leben zu erhalten. Betrachtungen aus einer Systemperspektive ermöglichen es, unter Berücksichtigung der SystemspeziÀtäten, Inhalte, Methoden und Problemstellungen zwischen unterschiedlichen Systemtypen zu übertragen.35 Daher ist auch eine Übertragbarkeit der politisch-wissenschaftlichen Betrachtung von Krisen auf ein betriebswirtschaftlich orientiertes Krisenverständnis möglich und erklärt den erheblichen EinÁuss auf die betriebswirtschaftliche Krisenforschung und deren 33 34 35

Vgl. Habermas: Legitimationsprobleme, S. 66. Vgl. ibid. Vgl. Remer: Unternehmenspolitische Steuerung, S. 21.

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Weiterentwicklung.36 Diese besteht unter anderem darin, dass, neben dem Systemcharakter des Krisenobjektes und dem Prozesscharakter der Krise selbst, in der betriebswirtschaftlichen Krisenforschung auch der jeweilige Systemzweck und die Krisenwirkungen auf die Möglichkeiten zur Zweckerfüllung betrachtet werden.37 Ein institutionalisiertes und ausgestaltetes Management von Krisen wird hierdurch erst ermöglicht. Das Problem der Unfähigkeit zur Versorgung mit lebensnotwendigen Ressourcen durch Stakeholder des betrachteten Systems wird in der Politikwissenschaft anhand entscheidungsorientierter und systemorientierter Ansätze untersucht und zur Krisendarstellung verwendet (Abbildung 2).38 Diese in der Betriebswirtschaftslehre fest verankerten Ansätze beschreiben ein jeweils unterschiedliches Verständnis der Krisensituation. Der entscheidungsorientierte Ansatz geht von einer außergewöhnlichen, akuten, bedrohlichen, überraschenden und zeitkritischen Entscheidungssituation aus,39 während der systemorientierte Ansatz eine Krise als eine situative Systemstörung versteht, in der zentrale Variablen nicht innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen gehalten werden können.40 Im entscheidungsorientierten Ansatz steht somit die Dynamik und die Bedeutung der Prozesse im Vordergrund, während im systemorientierten Ansatz eine statisch-strukturelle Perspektive vorherrscht und die Situativität betont wird.41 Diese Ansätze bilden den Ausgangspunkt für die betriebswirtschaftliche Krisendiskussion. 2.2 Annäherung an ein betriebswirtschaftliches Verständnis In der deutschsprachigen Krisenforschung Àndet das Thema der Krise seit den 1920er Jahren Beachtung. Volkswirtschaftlich geleitet waren Vertreter wie der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Hasenack42 oder auch der Bilanztheoretiker Walter Le Coutre, der konjunkturelle Schwankungen als Krisenursache untersuchte.43 In den 1970er Jahren lebte der wissenschaftliche Diskurs um die Krise in Unternehmen wieder auf44 und erlebte dann in den 1990er Jahren durch Arbeiten des Marketingforschers Ralph Berndt, der Expertin für Controlling und Consulting Birgit Feldbauer-Durstmüller oder den auf Unternehmensführung spezialisierten Betriebswirt Helmut Koch einen neuen Höhepunkt.45 Zu beobachten ist 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 5. Vgl. Hülsmann: Kommunale Krisen, S. 25. Vgl. Jänicke: Herrschaft und Krise, S. 16. Vgl. Hermann: International crises, S. 51, Löhneysen: Unternehmenskrisen, S. 13. Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 11. Vgl. Eberwein: International crises, S. 3. Vgl. Hasenack: Überwindung der Wirtschaftskrise, siehe bspw. auch Isaak: Wirtschaftskrise. Vgl. Le Coutre: Krisenlehren. Bspw. Becker: Unternehmenskrise, Becker: Krisenmanagement, Rüschenpöhler: Krisenmanagement. Vgl. Feldbauer-Durstmüller: Krisenmanagement, Berndt: Management-Qualität, Koch: Theorie des Gewinnvorbehalts.

Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive

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Unfähigkeit zur Versorgung mit lebensnotwendigen Ressourcen durch Stakeholder des Systems (bspw. Kapital oder Wählerstimmen)

Entscheidungsorientierter Ansatz

• Verständnis: Außergewöhnliche, akute, bedrohliche, überraschende und zeitkritische Entscheidungssituation

• Dynamische Perspektive,

Systemorientierter Ansatz

• Verständnis: Situative Systemstörung; zentrale Variablen können nicht konstant innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen gehalten werden

Betonung der Prozesse

• Statisch-strukturelle Perspektive, Betonung der Situativität

Abb. 2: Entscheidungsorientierter und Systemorientierter Ansatz Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an Hermann (1972), Deutsch (1973), Weber (1980) und Eberwein (1975).

hierbei, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Krisen in allen drei Phasen jeweils auf Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs folgte.46 Setzt sich dieser Trend fort, so ist zu vermuten, dass die derzeitige Weltwirtschaftskrise Impulse für wissenschaftliche Abhandlungen von Ursachen, Eigenschaften und Wirkungen von Unternehmenskrisen geben wird. Der Fokus betriebswirtschaftlicher Forschung im Bereich der Krisen ist nicht allein auf das System Unternehmen zu richten, sondern auf eine allgemeinere Betrachtungsebene sozio-technischer Systeme jedweder Art. Hierdurch können wirtschaftliche und managementbezogene Krisenphänomene nicht nur aus unternehmensspeziÀscher, sondern auch aus einer generellen Organisationsperspektive adressiert werden. Dies erlaubt es zum einen Analyseergebnisse von Krisenphänomenen auf unterschiedlichen Ebenen, bspw. der Staatsebene und der Unternehmensebene, zu vergleichen. Zum anderen können durch eine gemeinsame Analysegrundlage Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen untersucht werden. 46

Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, Bickhoff, Blatz, Eilenberger u. a.: Unternehmenskrise als Chance.

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In den bisherigen Ausführungen zum Thema Krise sind zwei gewissermaßen konträre Auffassungen grundlegend zu unterscheiden. Sie werden in der folgenden Abbildung veranschaulicht: Einerseits kann die Krise als bedrohliche Situation verstanden werden, andererseits als bedrohlicher Störungsprozess.

Kombination von Entscheidungs- und Systemperspektive für die Verständnisentwicklung in der Betriebswirtschaftslehre

Bedrohliche Störungssituation (für ein System)

• Zustand nach einem abrupten Wechsel von Basisvariablen

• Gefährung essentieller Normen und Ziele und damit der Existenz des Systems

• Krise als unbeabsichtigte, unerwartete Störung des Systems

Bedrohlicher Störungsprozess (in einem System)

• dynamischer Entwicklungsprozess, in seinem Verlauf geprägt durch die Kombination von Einflussvariablen

• Teile der Einflussvariablen gestaltbar durch das Management | Teile der Einflussvariablen fremdbestimmt

Abb. 3: Kombination von Entscheidungs- und Systemperspektive Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an Krummenacher (1981), Albach (1979), Albach, Bock und Warnke (1984) und Krystek (1987).

Die Krise als bedrohliche Situation beschreibt den Zustand eines Systems (etwa eines Unternehmens), der die Erreichung essentieller Systemziele (bspw. Mindestkapitalrendite, bei deren Unterschreitung die Kapitalgeber ihr Kapital abziehen) gefährdet und damit die Existenz des Systems in Frage stellt.47 Für das Verständnis von Krise als bedrohliche Situation sei hier beispielhaft die Auffassung des Schweizer Experten für Wirtschaftsrecht Alfred Krummenacher dargelegt, demnach Krise als ein Zustand verstanden werden könne, der „(…) nach einem abrupten Wechsel einer oder mehrerer Basisvariablen eines Systems entsteht, so dass die Erreichung bisher essenzieller Normen und Ziele gefährdet und damit die Existenz dieses Systems in Frage gestellt wird“.48 In einem ähnlichen Ansatz sieht der verhaltenswis47 48

Vgl. Krummenacher: Krisenmanagement, S. 8. Ibid.

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senschaftlich orientierte Managementforscher Wolfgang H. Staehle die Krise als „(…) die unbeabsichtigte und unerwartete nachhaltige Störung eines Systems (Person oder Institution) oder wesentlicher, für dessen Überleben zentraler Teile. Ein erhebliches Abweichen von der geplanten Entwicklung führt zu einer für das System existenzbedrohende Situation“.49 Mit der Krise als bedrohlicher Störungsprozess beschreiben etwa Autoren wie der Betriebswirt und Experte für Internationales Management Horst Albach50 oder Ulrich Krystek51 demgegenüber ein Verständnis, das auf einen dynamischen Entwicklungsprozess in einem System abstellt, der durch eine Kombination von Faktoren, die EinÁuss auf diesen Prozess ausüben, gestört wird. Diese Faktoren sind teilweise gestaltbar, so dass etwa Management oder Staatsführung sie als veränderbare Variablen betrachten können, die eine BeeinÁussung des Krisenverlaufs ermöglichen. Teilweise sind die Faktoren aber auch extern gegeben, so dass sich der Krisenverlauf zumindest teilweise jeder Kontrolle durch das Management oder die Staatsführung entzieht und es sich somit nur um eine begrenzt kontrollierbare bzw. beeinÁussbare Entwicklung eines sozio-technischen Systems handelt.52 2.3 Merkmale des prozessualen Krisenverständnisses Der Begriff der Krise kann in einem solchen prozessualen Verständnis durch folgende konstitutive Merkmale beschrieben werden: – – – – – –

Existenzgefährdung Ambivalenz des Ausgangs Gefährdung dominanter Ziele Prozesscharakter Steuerungsproblematik Zeit- und Entscheidungsdruck53

Ein System ist in seiner Existenz gefährdet, wenn sein Überleben unsicher ist. Die Überlebensfähigkeit eines offenen sozio-technischen Systems (bspw. einer Unternehmung), das von den Ressourcen (Kundenaufträge, Rohstoffe, Kapital) seiner Umwelten oder Umsysteme (Kunden, Lieferanten, Kapitalgeber) abhängig ist, ist immer dann in Frage gestellt, wenn diese Umwelten die Verfügbarkeit einschränken oder einstellen. Durch diese Abhängigkeiten werden auch die symbiotischen Interaktionsbeziehungen in Geschäftswelten deutlich. Diese bestimmen, in Anlehnung an die Anreiz-Beitrags-Theorie,54 die Überlebensfähigkeit von Organisatio49 50 51 52 53 54

Staehle: Management, S. 831. Vgl. bspw. Albach: Kampf ums Überleben, S. 5 und Albach et al.: Wachstumskrisen, S. 779. Vgl. bspw. Krystek: Unternehmenskrisen , S. 29–30. Vgl. Hülsmann: Ad-hoc-Krise. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 6, Weber: Krisenmanagement, S. 15, Krummenacher: Krisenmanagement, S. 7. Zurückgehend auf March und Simon: Organizations, Barnard: Functions of the executive.

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nen. Dies wird dadurch erklärt, dass Organisationen Akzeptanz aus Ihrer Umwelt erfahren, wenn sie in ihr wertvolle Beiträge generieren und damit ihren Systemzweck erreichen. Die Akzeptanz wiederum kann nur dadurch erreicht oder aufrechterhalten werden, dass die von der Umwelt bestimmten Zwecke erfüllt, die Ansprüche der Stakeholder also befriedigt werden. Letzteres wiederum ist nur möglich, wenn die Stakeholder überlebenswichtige Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Systemumwelt setzt also die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Systeme durch ihre eigene Gestaltung durch das Management Chancen wahrnehmen und Risiken eindämmen können, um die eigene Existenz zu sichern.55 Mögliche künftige Systementwicklungen sind dann ambivalent, wenn sowohl die Möglichkeit zur Bewältigung einer Krise besteht als auch die Möglichkeit des Untergangs des gesamten Systems.56 Eine Krise kann insofern als eine instabile Zeit verstanden werden, in der eine grundlegende Änderung bevorsteht, unabhängig davon, ob diese Änderung höchst unerwünschte oder höchst erwünschte Effekte verursachen wird.57 Damit entsteht die Möglichkeit, Krisen sowohl optimistisch als auch pessimistisch einschätzen zu können,58 wobei im deutschsprachigen Raum die pessimistische Deutung weitestgehend überwiegt, indem vor allem das vitale Risiko des Systembestandes betont wird.59 In optimistischen Betrachtungen hingegen wird in den Vordergrund gestellt, dass eine erfolgreiche Krisenbewältigung die Anpassung von organisationalen Strukturen, auch hinsichtlich Leistung und Potential der Organisation, voraussetzt. So werden hier die Chancen in den Vordergrund gerückt, durch daraus resultierende organisationale RekonÀgurationen höhere Systementwicklungsniveaus erzielen zu können.60 In der Folge ist eine pauschale Krisenbeurteilung ex-ante per DeÀnition im Grunde nicht möglich. Allein ob die Anstrengungen zur Bewältigung der Krise adäquat im Sinne der jeweiligen Systemumweltsituation sind und damit zu Erfolg bzw. Misserfolg führen, determiniert damit den Krisenausgang. Eine Gefährdung dominanter Ziele eines Systems liegt dann vor, wenn ihre Erreichung nicht gesichert ist oder gar nicht mehr im Bereich des Möglichen liegt. Dominante Ziele beschreiben hierbei diejenigen Zielvariablen, die als Limitierung bei systemrelevanten Entscheidungen gelten und zu Sanktionen gegen das System führen, würden sie nicht erreicht werden.61 Zielorientierten Konzepten zur organisationalen EfÀzienz folgend kann der Grad der Zielerreichung in einem System als Indikator für seine EfÀzienz betrachtet werden.62 Mit Rückgriff auf die betriebswirtschaftliche Grundannahme, dass EfÀzienz eine Voraussetzung für unternehme55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Staehle: Management (8. Edition), S. 904, Hill et al.: Organisationslehre, S. 154. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 6. Vgl. Fink: Crisis Management, S. 15. Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 9. Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 9, Schulten: Krisenmanagement, S. 11. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 31. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 5, Röthig: Krisenmanagement, S. 13. Vgl. Budäus und Dobler: Effektivität von Organisationen, Grabatin: EfÀzienz, Price: Organizational effectivness.

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rischen Erfolg und damit auch der organisationalen Existenzsicherung ist,63 kann somit gefolgert werden, dass eine dauerhafte Nicht-Erreichung von Zielen die Existenz des betreffenden Systems bedroht. Eine negative Differenz zwischen gesetzten und realisierten organisationalen Zielen dient insofern als Indikator für die Existenz einer Krise. Während derartige Differenzen bei peripheren Zielen auf latente Krisen deuten, weisen Differenzen bei dominanten Zielen auf evidente Krisen hin. Latente Krisen sind auf der einen Seite dadurch geprägt, dass das betreffende System sich zwar nicht mehr im Gleichgewicht beÀndet, aber dennoch durch Korrekturmaßnahmen stabilisiert werden kann.64 Auf der anderen Seite bergen sie die Gefahr, dass sie aufgrund ihrer Latenz von den Systemmitgliedern gar nicht oder erst zu spät wahrgenommen werden und sich somit zu einer akuten Krise entwickeln können, da keine Korrektur- und Stabilisierungsmaßnahmen durchgeführt werden.65 Dies impliziert, dass ein genereller kausaler Zusammenhang zwischen der Nicht-Erreichung von Zielen und der Entstehung von Krisen nicht hergestellt werden kann, da eine Krise durch eine Vielzahl anderer Variablen ausgelöst werden kann als durch Verfehlungen nicht zentraler Ziele. Hiermit wird dem Prinzip der Multidimensionalität von Relationen in einem offenen sozio-technischen System Rechnung getragen. Dennoch kann eine Nicht-Erreichung auch von peripheren Zielen als eine strategische Frühwarnung für sich möglicherweise anbahnende Krisen begriffen werden.66 Derartige „Weak-Signals“ sind allerdings dadurch geprägt, dass sie erstens dem Begriff nach schwach sind, also entweder selten auftreten oder trotz häuÀgen Auftretens keine essentiell bedrohlichen Effekte für das betreffende System auslösen. Zweitens lösen diese schwachen Signale nicht zwingend eine Nicht-Erreichung dominanter Ziele aus. Infolge dessen sind weder die Nicht-Erreichung dezentraler Ziele noch andere schwache Signale konstitutiv für Krisen, sondern lediglich Indikatoren. Eine Nicht-Erreichung von Zielen kann insofern nur dann als konstitutives Merkmal von Krisen gelten, wenn es sich um dominante Ziele handelt, deren NichtErreichung eine zwingende Existenzgefährdung nach sich zieht. Dies ist dann der Fall, wenn diejenigen Stakeholder, deren Ressourcen essentiell für die Überlebensfähigkeit des betrachteten Systems sind, die Verfügbarkeit dieser Ressourcen einschränken oder verhindern. Pfeffer und Salancik folgend können also dominante Ziele als diejenigen beschrieben werden, die eine dauerhafte EfÀzienz ermöglichen. Dafür muss für diejenigen Stakeholder des betrachteten Systems, von denen es überlebensnotwendige Ressourcen benötigt, ein Anreiz geschaffen werden, diese Resourcen auch bereitzustellen.67 Der Grad der Nicht-Erreichung von Zielen macht damit das Ausmaß einer Existenzbedrohung erst mess- und identiÀzierbar. Der Prozesscharakter einer Krise spiegelt ihre zeitliche Dimension und die damit verbundenen Phasen wider, in denen das betreffende System unterschiedlich 63 64 65 66 67

Vgl. Wöhe und Döring: Betriebswirtschaftslehre. Vgl. Staehle: Management, S. 903. Vgl. Berg und Treffert: Unternehmenskrise, S. 461. Siehe hierzu das Weak Signals Konzept von Ansoff: Surprise. Vgl. Pfeffer und Salancik: External control of organizations.

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stark in seiner Existenz bedroht ist. In der Literatur werden Phasen von Krisen in verschiedener Form voneinander unterschieden. Röthig bspw. unterscheidet zwei Phasen68; Löhneysen69 und Müller70 vier und Albach71 sechs. Exemplarisch soll den Ausführungen des Krisenforschers Nils Schulenburg folgend und in Anlehnung an den Experten für Strategisches Controlling und Krisenursachen Ulrich Krystek ein vier Phasen Modell vorgestellt werden. Wie in Abbildung 1 dargestellt, wird hierbei die potenzielle Krisenphase, die latente Krisenphase, die akute Krisenphase und die post-kritische Krisenphase unterschieden.72 2. Phase Latente Krisenphase

3. Phase Akute Krisenphase

3. Phase Post-kritische Krisenphase

QuasiNormalzustand

Krisenentstehung

Kriseneskalation

Kriseneresultat

Gefährdung möglich, aber noch nicht konkret

Störung peripherer Unternehmensziele

Störung dominanter Unternehmensziele

Systemuntergang oder -fortführung

Krisenbewältigungsmanagement

Krisenmanagement abhängig vom Krisenresultat

Krisenvermeidungsmanagement

Nur bei Systemfortführung Nur bei Systemfortführung

Existenzgefährdung

Entwicklungsrichtung

Phasencharakteristika

1. Phase Potenzielle Krisenphase

Abb. 4: Phasen einer Krise Quelle: Schulenburg (2008), S. 47.

Die potenzielle Krisenphase spiegelt den Quasi-Normalzustand eines Systems wider.73 Eine Systemgefährdung ist möglich, jedoch nicht konkret. Weder periphere noch dominante Ziele werden bisher verfehlt.74 Dennoch können durch Veränderungen der Anforderungen der Stakeholder des Systems erste Signale ausgelöst

68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Röthig: Krisenmanagement, S. 13. Vgl. Löhneysen: Unternehmenskrisen. Vgl. Müller: Krisenmanagement, S. 25–26. Vgl. Albach: Kampf ums Überleben, S. 18. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 47, in Anlehnung an Krystek: Unternehmenskrisen, S. 27. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 27, Löhneysen: Unternehmenskrisen, S. 103. Vgl. Hülsmann: Ad-hoc-Krise, S. 42.

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werden, die darauf hindeuten, dass die Ausrichtung des Systems den veränderten Anforderungen der Systemumwelt nicht langfristig entsprechen wird und ein sogenannter strategischer Fit75 somit nicht aufrechterhalten werden kann. Laut Schulenburg müsste ein Krisenmanagement hier im Sinne eines Krisenvermeidungsmanagements begriffen werden.76 Somit kann sich eine potenzielle Krise durchaus zu einer latenten Krise entwickeln, eine Rückwärtsentwicklung ist allerdings ebenfalls möglich, wenn die Maßnahmen des Krisenmanagements greifen und das System aus einer latenten oder einer post-kritischen Krise in den Quasi-Normalzustand zurückgeführt werden kann.77 Die latente Krisenphase ist durch die Krisenentstehung gekennzeichnet. Es gibt Verfehlungen bei der Erfüllung der peripheren Systemziele, wodurch die Anbahnung einer Krise und damit die Existenzbedrohung erstmalig wahrnehmbar werden.78 Dominante Ziele, deren Gefährdung wie beschrieben als konstitutives Merkmal einer Krise zu betrachten ist, werden in der latenten Krise allerdings noch erreicht, was einer DeÀnition nach Schulenburg zur Folge darin zum Ausdruck kommt, dass das ökonomische Gesamtergebnis des Systems noch nicht unmittelbar beeinträchtigt ist.79 Auch in dieser Phase wird ein Krisenmanagement aufgrund der noch nicht akuten Krise als Krisenvermeidungsmanagement begriffen. Daher kann die Entwicklungsrichtung in Abhängigkeit vom Erfolg bzw. Misserfolg dieses Krisenvermeidungsmanagements sowohl einen Rückschritt zur potenziellen Krisenphase als auch den Fortgang zu einer akuten Krisenphase induzieren. Gleichwohl können eine akute sowie eine post-kritische Krisenphase sich zu einer latenten Krisenphase zurückentwickeln, wenn es nicht gelingt, die konkrete Existenzgefährdung zu überwinden. In der akuten Krisenphase eskaliert die Krise. Dies wird dadurch evident, dass dominante Unternehmensziele nicht erreicht werden und somit das ökonomische Gesamtergebnis unmittelbar beeinträchtigt ist.80 Die Existenzgefährdung wächst in dieser Phase auf ihr Maximum an, bevor die post-kritische Krisenphase beginnt.81 Aufgabe des Managements ist in dieser Phase die Bewältigung der Krise und somit die Rückführung des Systems in eine nur latente Krise oder optimalerweise in einen Quasi-Normalzustand, der letztendlich als Krisenresultat wieder eine potenzielle Krisenphase einläutet. Greifen die Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht, so versagen die Stakeholder dem System den Zugang zu Ressourcen, die es benötigt, um seine vitalen Funktionen zu erfüllen. Gemäß Pfeffer und Salancik ist das betreffende System somit nicht mehr efÀzient82 und geht unter.83 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Zum strategischen Fit vgl. Ansoff: Strategic Surprise. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 49. Ibid., S. 47. Vgl. Raubach: Früherkennung von Unternehmenskrisen, S. 36. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 48. Vgl. Löhneysen: Unternehmenskrisen. S. 104. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 50. Vgl. Pfeffer und Salancik: External control of organizations. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 50.

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Die post-kritische Krisenphase spiegelt das Krisenresultat wider und veranschaulicht die Ambivalenz des Krisenausgangs durch den möglichen Systemuntergang oder die Systemfortführung. Dementsprechend ist auch das Management in dieser Phase entweder nicht mehr vorhanden, denn das System selbst ist nicht mehr existent, oder es wird wieder als Krisenvermeidungsmanagement in einem neu entstandenen Status Quo oder einer wieder latenten Krisenphase begriffen.84 Letzteres ist dadurch charakterisiert, dass das System sich aus einer systemtheoretischen Perspektive im Anschluss an die post-kritische Krisenphase in einem höheren Entwicklungsstadium beÀnden muss als vorher.85 Dies liegt daran, dass das System andernfalls wieder zurückfallen müsste in eine akute Krise, was gemäß Schulenburg (2008) deshalb unwahrscheinlich erscheint, weil die post-kritische Phase in diesem Falle gar nicht erst erreicht worden wäre.86 Das Vorhandensein von Phasen bspw. in der gewählten Veranschaulichung der beschriebenen vier Phasen spiegelt den Prozesscharakter einer Krise wider und kann in der Folge als konstitutives Krisenmerkmal einer Krise begriffen werden. Ein weiteres konstitutives Merkmal einer Krise ist das Vorhandensein einer Steuerungsproblematik des Managements. Gäbe es diese nicht, so wäre die Überführung einer latenten, akuten oder post-kritischen Krise in den Quasi-Normalzustand nicht problematisch und sowohl periphere als auch dominante Ziele des Systems könnten erfüllt werden. Damit könnte das System die Erwartungen derjenigen Anspruchsgruppen erfüllen, von denen es Ressourcen benötigt, die für die Funktionsfähigkeit des Systems notwendig sind, und es gäbe keine Probleme der EfÀzienz. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass Möglichkeiten zur EinÁussnahme und Gestaltung des Systems und der Systementwicklung nur bedingt gegeben sind und sich im Laufe des Krisenverlaufes weiter verringern. Somit sinkt die Anzahl möglicher Handlungsalternativen87 während gleichzeitig der Handlungsbedarf steigt.88 Diese Steuerungsproblematik ist daher Voraussetzung und konstitutives Merkmal für die Entstehung und den Verlauf einer jeden Krise. Schließlich sind Krisensituationen durch Zeit- und Entscheidungsdruck geprägt. Macharzina bemerkt, dass zunehmende Zielstörungen ceteris paribus dazu führen, dass Manager einen steigenden Zeitdruck empÀnden,89 da der zeitliche Verlauf der Krise bei unwirksamen Krisenbewältigungsmaßnahmen zum Untergang des Systems führt und dieser zunehmend nah rückt.90 Die noch verfügbare Zeit bis zum Systemuntergang bestimmt daher die Intensität des Zeitdrucks,91 während diese wiederum davon abhängt, welche Art von Zielen (periphere oder dominante) 84 85 86 87 88 89 90 91

Ibid., S. 51. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 31. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 52. Vgl. Habermas: Legitimationsprobleme, S. 11. Vgl. Krystek: Unternehmenskrisen, S. 29. Vgl. Macharzina: Unternehmensführung, S. 617. Vgl. Röthig: Krisenmanagement, S. 13, Macharzina: Unternehmensführung, S. 616, Hauschildt: Krisenforschung, S. 21. Vgl. Zahn: Krisenerkennung und -vermeidung, S. 193.

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gestört sind.92 Ein subjektiv empfundener Zeitdruck begründet schließlich einen subjektiv empfundenen Druck zu handeln und die Krise dadurch zu vermeiden bzw. zu bewältigen. Die dafür verfügbaren Handlungsalternativen müssen desto zügiger eingeleitet werden, je weniger empfundene Restzeit noch vorhanden ist.93 In der Folge kann eine Krise als ein Entscheidungsprozess unter besonderem Zeitdruck verstanden werden. Dieser Prozess ist durch drei Zeitpunkte charakterisiert, deren zeitliche Abfolge maßgeblich den Krisenausgang bestimmen kann: der Beginn der Systemgefährdung, der Überraschungsmoment und die Situation der Ausweglosigkeit.94 Tritt der Überraschungsmoment beispielsweise erst nach der Situation der Ausweglosigkeit ein, so ist die Wirksamkeit von Krisenbewältigungsmaßnahmen schon ‚verpufft‘, bevor sie überhaupt in Betracht gezogen werden konnten. Tritt der Überraschungsmoment hingegen auf, bevor eine Systemgefährdung eintritt, so bestehen Chancen, dass geeignete Krisenvermeidungsmaßnahmen getroffen werden können, die letztendlich die Krise verhindern. Die beschriebenen konstitutiven Merkmale stehen keineswegs unverknüpft nebeneinander. Vielmehr muss in Betracht gezogen werden, dass vielfältige Interdependenzen zwischen ihnen auftreten. So geht die Existenzgefährdung direkt mit der Ambivalenz des Ausgangs in dem Sinne einher, dass die Existenz eines Systems in einer Krise eben nur gefährdet ist, nicht aber sicher den Untergang des Systems zur Folge hat. Wäre eine Krise nicht durch einen prozessualen Charakter geprägt, so gäbe es auch keinen Zeitdruck. Hingegen reicht die Existenz einer ambivalenten Systemsituation oder das Vorhandensein von Zeit- und Entscheidungsdruck ohne Verknüpfung mit den anderen konstitutiven Merkmalen nicht aus, um eine Krise identiÀzieren zu können. 3. Auswahl theoriebasierter Erklärungsansätze zur Entstehung von Krisen 3.1 Exemplarisches Sample möglicher theoretischer Ansätze Da Krisen die Gefährdung eines Systems als Gesamtkonstrukt und nicht nur einzelner Ebenen wie bspw. der Management- oder Unternehmensführungsebene darstellen, macht es Schulenburg zur Folge Sinn, zu ihrer Erklärung Theorien heranzuziehen, die sich auf Systeme in ihrer organisatorischen Gesamtgestaltung stützen.95 Zwar kann eine mangelhafte Führung und das Management einer Unternehmung eine Krise auslösen,96 doch muss die Aufdeckung von generellen Prinzipien der Krisenentstehung im Gesamtkontext eines Systems der Anwendung von Manage-

92 93 94 95 96

Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 36. Vgl. Weber: Krisenmanagement, S. 36. Vgl. Deutsch: Krisen und politische Revolutionen, S. 90. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 125. Vgl. Hahn: Unternehmermisserfolge, S. 117, Rinklin: Notleidende Unternehmen, S. 50, Reske et al.: Insolvenzursachen, S. 177.

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ment- und Unternehmensführungstheorien im Forschungsprozess97 vorgelagert sein. Auf Basis dieser Prinzipien können dann Implikationen für das Management abgeleitet werden. Insofern erscheint ein Fokus auf Organisationstheorien für die Erklärung von Krisenentstehungen zielführend.98 Um Organisationstheorien hinsichtlich ihrer Beiträge und Grenzen zur Erklärung von Krisenentstehungen diskutieren zu können, bedarf es einer zielführenden Vorauswahl der großen Anzahl vorhandener Theorien oder theoretischer Ansätze.99 Der Annahme folgend, dass Theorien, die den gegenwärtigen Stand der Organisationsforschung widerspiegeln, in den gängigen Lehrbüchern und Sammelbänden überblicksartig zu Ànden seien, und mit Rückgriff auf eine Reihe von Standardwerken, verwendet Schulenburg – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende theoretische Ansätze:100 Administrationstheorie101, Betriebswirtschaftliche Organisationslehre102, Bürokratieansatz103, Entscheidungstheoretischer Ansatz104, Evolutionstheoretischer Ansatz105, Institutionalistischer Ansatz106, Interpretationsansatz107, Machttheoretischer Ansatz108, Organisationskulturansatz109, PrincipalAgent-Ansatz110, Property-Rights-Ansatz111, Ressourcenabhängigkeitstheorie112, ScientiÀc Management113, Selbstorganisationstheorie114, Situativer Ansatz115,

97 Zum Forschungsprozess in den Sozialwissenschaften siehe bspw. Hill et al.: Organisationslehre, S. 39, Kromrey und Strübing: Empirische Sozialforschung, S. 71–72. 98 Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 125. 99 Zum Unterschied zwischen Theorien und theoretischen Ansätzen erklärt Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 126, dass die Aussagensysteme theoretischer Ansätze im Unterschied zu denen von Theorien noch nicht alle Stufen der Theoriebildung durchlaufen haben, dennoch aber bereits substanzielle Erklärungsbeiträge liefern . 100 Vgl. ibid., S. 131. 101 Vgl. bspw. Fayol und Storrs: Industrial management. 102 Vgl. bspw. Kosiol: Organisation, Grochla: Unternehmensorganisation. 103 Vgl. bspw. Weber und Winckelmann: Wirtschaft und Gesellschaft. 104 Vgl. bspw. Barnard: Functions of the executive. 105 Vgl. bspw. Hannan und Freeman: Organizational ecology, dies.: Structural inertia, dies.: Population ecology, McKelvey und Aldrich: Populations, Aldrich: Organizations and environments, McKelvey: Organizational systematics. 106 Vgl. bspw. Walgenbach: Institutionalistische Ansätze, S. 319–321, Reihlen und Veit: Unternehmensberatungen. 107 Vgl. bspw. Berger und Luckmann: Social construction of reality. 108 Vgl. Salancik und Pfeffer: Organizational decision making, Pfeffer: Power in Organizations. 109 Vgl. bspw. Schein: Organizational culture, S. 9. 110 Vgl. bspw. Jensen und Meckling: Theory of the Àrm, Fama: Agency problems, Eisenhardt: Agency theory. 111 Vgl. bspw. Demsetz: Enforcement of Property Rights,ders.: Aspects of Property Rights, ders.: Theory of Property Rights. 112 Vgl. bspw. Pfeffer und Salancik: External control. 113 Vgl. bspw. Taylor: Betriebsführung. 114 Vgl. bspw. Maturana und Beer: Autopoiesis, Haken: Synergetics, Mandelbrot: Geometry of nature, Lorenz: Nonperiodic Áow. 115 Vgl. bspw. Woodward: Technology, Udy: Bureaucratic, Stinchcombe: Bureaucratic.

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Strukturationstheorie,116 Systemtheorie,117 Transaktionskostenansatz118 und Verhaltenswissenschaftlicher Ansatz.119 3.2 Prüfkriterien für die Verwendbarkeit von Theorien zur Erklärung von Krisenentstehungen Die Auswahl von geeigneten Ansätzen innerhalb der Organisationstheorien kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. Hülsmann und Schulenburg greifen in Anlehnung an den Organisationswissenschaftler Joachim Wolf auf generelle Kriterien zur Eignungsprüfung von Theorien zurück.120 Beispielhaft sei hier das Ausmaß, in dem Rationalität bzw. Irrationalität der handelnden Akteure in der jeweiligen Theorie Berücksichtigung Àndet, genannt. Für den Untersuchungsgegenstand Krise werden dann jeweilige Ausprägungen ermittelt, anhand derer die Theorien dahingehend überprüft werden, ob und in welchem Maße sie diese Kriterien erfüllen. Kritisiert wird dieser Ansatz, weil die Kriterienauswahl keine explizite und ausführliche Begründung erfährt.121 Aus diesem Grund leitet Schulenburg direkt aus den konstitutiven Merkmalen der Krise speziÀsche Kriterien für die Theorieauswahl her.122 Aus dem Merkmal der Existenzgefährdung eines gesamten Systems lässt sich ableiten, dass eine Theorie zur Erklärung der Entstehung von Krisen das betrachtete System als Ganzes widerspiegeln muss, es also nicht ausreicht, dass die Theorie sich auf die Verhaltensweisen einzelner Individuen oder Gruppen innerhalb des betrachteten Systems stützt. Weiterhin muss eine geeignete Theorie die Möglichkeit eines ambivalenten Ausgangs berücksichtigen, dass einerseits das betrachtete System untergehen, dass es andererseits aber auch überleben und womöglich sogar gestärkt aus einer Krise hervorgehen kann. Aus dem Merkmal der Gefährdung dominanter Systemziele kann abgeleitet werden, dass eine geeignete Theorie in der Lage sein muss, Systemziele überhaupt zu berücksichtigen. Der Prozesscharakter einer Krise impliziert, dass eine krisenerklärende Theorie eine zeitraumbezogene Betrachtung ermöglichen muss. Die Steuerungsproblematik als konstitutives Merkmal einer Krise ist letztendlich eng verbunden mit einem Zeit- und Entscheidungsdruck. Gemäß Schulenburg resultiert der Zeit- und Entscheidungsdruck allerdings aus der Existenzgefährdung des Systems und wird daher implizit von jeder Theorie berücksichtigt, die die Möglichkeit eines Systemuntergangs in ihre Aussagensysteme einschließt.123 Diesem Argument folgend wird auch die Steuerungsproblematik, die als direktes Resultat aus dem Zeit- und Entscheidungsdruck in Verbindung 116 117 118 119 120 121 122 123

Vgl. bspw. Giddens: Theory of structuration. Vgl. bspw. Bertalanffy: System theory. Vgl. bspw. Coase: Nature of the Àrm, Williamson: Capitalism, ders.: Markets. Vgl. bspw. Roethlisberger, Dickson und Wright: Management. Vgl. Hülsmann und Schulenburg: Evolutionstheorie, S. 87. Vgl. Wolf: Organisation (3. AuÁage), S. 442. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 131. Vgl. ibid.

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mit der Existenzgefährdung eines Systems zu betrachten ist, von jeglichen Theorien abgebildet, die einen Systemuntergang in ihren Betrachtungen ermöglichen. Zusätzlich zu diesen merkmalsgeleiteten Kriterien muss eine geeignete Theorie zur Krisenerklärung gemäß Schulenburg sowohl die Systeminnen- als auch die Systemumwelt berücksichtigen. Dies ist dadurch zu erklären, dass Krisen sowohl aufgrund von systeminternen, als auch -externen Ursachen entstehen können.124 Letztlich muss eine Theorie zur Erklärung von Unternehmenskrisen der ontologischen Grundposition entsprechen, mit der die Betrachtung des Phänomens Krise vorgenommen wird. Im weiteren Verlauf wird dem Kritischen Rationalismus, zurückgehend auf den österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper, gefolgt. Dieser postuliert, dass Aussagen nur dann wissenschaftlich verwertbar sind, wenn sie falsiÀzierbar sind. Dies ist durch die Annahme begründet, dass Wissen sich generell nicht der Möglichkeit entzieht, sich als falsch zu erweisen und somit immer nur vorübergehender Natur sein kann. Es ist daher nicht möglich, Hypothesen zu veriÀzieren. Vielmehr soll sich durch fortlaufende FalsiÀzierung von Hypothesen der Wahrheit angenähert werden.125 Somit ergeben sich folgende Prüfkriterien, denen eine Theorie zur Erklärung von Krisen standhalten muss: – – – – – –

Aggregationsebene der Betrachtung: Unternehmen als Ganzes Berücksichtigung der Möglichkeit eines Systemuntergangs Berücksichtigung von Unternehmenszielen zeitraumbezogene Betrachtung Berücksichtigung von Unternehmensinnen- und Unternehmensumwelt ontologische Grundposition: Kritischer Rationalismus 3.3 Kritische Diskussion zum Erklärungsbeitrag der ausgewählten Ansätze

Zunächst sollen diejenigen Theorien, welche die oben genannten Kriterien nicht erfüllen und somit keinen beziehungsweise nur einen eingeschränkten Erklärungsbeitrag für Krisen leisten können, aussortiert werden. Auf diese Weise ist es möglich, eine Residualmenge an Organisationstheorien zu erhalten, die dann hinsichtlich ihrer möglichen Erklärungsbeiträge untersucht werden soll. Der Entscheidungsorientierte Ansatz, der Property-Rights-Ansatz, der Ansatz des ScientiÀc Managements wie auch der Verhaltenswissenschaftliche Ansatz weichen in ihren Aggregationsebenen der Betrachtung von der notwendigen ganzheitlichen Systemperspektive für eine Krisenerklärung ab. So fokussiert der Entscheidungstheoretische Ansatz gemäß dem Organisationswissenschaftler Georg Schreyögg auf die Entscheidung von Individuen, erst dann auf die Individuen selbst oder auf das System, dessen Mitglieder die Individuen sind.126 Der Property-Rights124 Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 133. 125 Vgl. Popper: Logik der Forschung. 126 Vgl. Schreyoegg: Organisation, S. 66.

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Ansatz stellt die dahinter liegenden individuellen Nutzenkalküle der Entscheidungsträger in den Mittelpunkt der Betrachtung.127 Der Ansatz des ScientiÀc Managements dagegen betrachtet im Kern die systeminternen Prozesse oder Arbeitsabläufe.128 Der Verhaltenswissenschaftliche Ansatz rückt die Beziehungen zwischen Individuen bzw. ihre Bedürfnisse in den Fokus.129 Auf die Gesamtheit eines Systems gehen alle vier Ansätze nicht ein, weshalb ihr Erklärungsgehalt für das Phänomen Krise als eher beschränkt einzuordnen ist. Der Institutionalistische Ansatz berücksichtigt keine Unternehmensziele als handlungsleitende Größe für Unternehmen. Vielmehr entstehen Ziele höchstens als Resultat aus einem bestimmten Verhalten, können dieses aber nicht direkt beeinÁussen.130 Insofern ist auch der Erklärungsgehalt institutionalistischer Ansätze für Krisen eingeschränkt, nicht nur weil es keine Störung dominanter Systemziele geben kann, sondern auch, weil infolge dessen ein Untergang des betrachteten Systems, der aus der Nicht-Erreichung dominanter Ziele resultiert, nicht denkbar ist. Der Principal-Agent-Ansatz sowie der Situative Ansatz berücksichtigen keine Zeiträume. Vielmehr treffen sie vornehmlich zeitpunktbezogene Aussagen, weshalb sie für das Phänomen Krise, das durch den Prozesscharakter eine zeitraumbezogene Betrachtung erfordert, nur in eingeschränktem, weil zeitpunktbezogenem Maße Erklärungsbeiträge liefern können. Die Ressourcenabhängigkeitstheorie vernachlässigt zu großen Teilen die Systeminnenwelt, indem sie lediglich auf die Ressourcen fokussiert, die das System in der Umwelt von anderen Akteuren benötigt, um den Systemzweck erfüllen zu können. Insofern kann auch hier nur von einem beschränkten Erklärungsbeitrag für Krisen ausgegangen werden. Die größte Anzahl der genannten Theorien kann aussortiert werden, weil sie die Systemaußenwelt nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Hierzu gehören die Administrationstheorie, die Betriebswirtschaftliche Organisationslehre, der Bürokratieansatz,131 der Machttheoretische Ansatz, die Selbstorganisationstheorie, die Strukturationstheorie und der Transaktionskostenansatz.132 Alle diese Ansätze fokussieren entweder komplett oder zumindest hauptsächlich auf interne Faktoren eines Systems. Insofern können weder Zielerreichungen oder Zielstörungen abgebildet werden, die in einem Zusammenhang mit externen systembeeinÁussenden Variablen stehen, noch ist es möglich Probleme beim Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen zu berücksichtigen. Aus diesem Grund ist der Erklärungsgehalt dieser Theorien für das Phänomen Krise ebenfalls als eher gering einzustufen. Der Interpretationsansatz und der Organisationskulturansatz widersprechen der ontologischen Grundposition des Kritischen Rationalismus. Der Interpretationsansatz unterstellt die Existenz mehrerer Realitäten in Abhängigkeit von den beteilig127 128 129 130 131 132

Vgl. ibid., S. 81. Vgl. ibid., S. 39. Vgl. ibid., S. 47. Vgl. Wolf: Organisation. Vgl. Schulte-Zurhausen: Organisation, S. 13. Vgl. Schulenburg: Unternehmenskrisen, S. 142–144.

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ten Akteuren und deren Wahrnehmung.133 Der Organisationskulturansatz wird von einer Reihe von Autoren dem Interpretationsansatz zugeordnet.134 Insofern stehen beide Ansätze nicht im Einklang mit der Auffassung des kritischen Rationalismus, dass es nur eine Wahrheit gibt, der sich durch Forschung angenähert werden kann.135 Die Ergebnisse der obigen Diskussion Ànden sich zusammengefasst in Tabelle1. Tab. 1: Prüfung von Organisationstheorien auf Berücksichtigung krisenspeziÀscher Merkmale

• Administrationstheorie



• Betriebswirtschaftliche Organisationslehre



• Bürokratieansatz



• Entscheidungstheoretischer Ansatz

kritisch rationalistischen Grundposition

Unternehmensaußenwelt

Unternehmensinnenwelt

Zeitraumes

Unternehmensziele

Möglichkeit des Systemuntergangs

Gesamtsystems

Ausschluss wegen fehlender Berücksichtigung des/der



• Evolutionstheorie • Institutionalistischer Ansatz





• Interpretativer Ansatz



• Machttheoretischer Ansatz



• Organisationskulturansatz



• Principal-Agent-Ansatz • Property-Rights-Ansatz

 

• Ressourcenabhängigkeitstheorie • ScientiÀc Management

 

• Selbstorganisationstheorie



• Situativer Ansatz



• Strukturationstheorie



• Systemtheorie • Transaktionskostentheorie • Verhaltenswissenschaftlicher Ansatz

 

133 Vgl. Berger und Luckmann: Social construction, S. 149 ff. 134 Vgl. Hill et al.: Organisationslehre, S. 449, Schreyoegg: Organisation, S. 435, Bea und Göbel: Organisation, S. 198, Wolf: Organisation (3. AuÁage), S. 384. 135 Vgl. Popper: Logik der Forschung.

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Die Residualmenge an Organisationstheorien, die Erklärungsbeiträge zum Phänomen Krise insofern leisten könnten, als sie in der Lage sind, alle konstitutiven Merkmale einer Krise in ihren Annahmen und Aussagen zu berücksichtigen, besteht aus der Systemtheorie und der Evolutionstheorie. Hülsmann zufolge liefert die Systemtheorie zwar wichtige Einsichten in das Phänomen Krise.136 Dies ist unter anderem dadurch begründet, dass sie im Vergleich zu anderen Theorien durch eine universelle Betrachtung und eine Berücksichtigung des Komplexitätsproblems von sozialen Systemen und deren Umwelten geprägt ist.137 Auch hebt sie die Multikausalität und Vernetzung von Ereignisfolgen hervor.138 Allerdings ist der Erklärungsbeitrag der Systemtheorie für das Phänomen Krise insofern beschränkt, dass ihr eine generelle Abstraktheit innewohnt. Kritik wird dahingehend geäußert, dass die Aussagen, die aus der Systemtheorie ableitbar sind, sehr unspeziÀsch seien und somit keine generellen Handlungsempfehlungen für die Organisation und das Management von Systemen ableitbar wären.139 Zudem steht trotz der Möglichkeit der Berücksichtigung prozessualer Aspekte eine statisch-strukturelle Perspektive im Vordergrund, in der Systemzustände zu gewissen Zeitpunkten betrachtet werden. Für die Erklärung von Krisen und für Handlungsempfehlungen zu deren Vermeidung entsteht hieraus eine nicht unerhebliche Einschränkung. Dieses DeÀzit greift die Evolutionstheorie, die an den Grundannahmen der Systemtheorie ansetzt, auf, indem sie den evolutorischen Entwicklungsprozess eines Krisenverlaufes in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.140 Trotz methodologischer und konzeptioneller Probleme sowohl bei der Auswahl der Evolutionstheorie als theoretischer Basis als auch bei der Übertragung ihrer Annahmen auf das Phänomen Krise bildet sie einen tragfähigen Ausgangspunkt für weiterführende Forschung, vor allem weil der Prozesscharakter des Krisenverlaufes explizit Teil der Analyse ist.141 Damit ist die Evolutionstheorie grundsätzlich im Stande, fundamentale Einblicke in das Phänomen Krise zu bieten. Dies begründet sich auch durch generelle Stärken, die der Evolutionstheorie zugeschrieben werden, wie bspw. die Berücksichtigung der Beschränktheit von Möglichkeiten zur Gestaltung und Lenkung von Systemen.142 Dennoch bleiben eine Reihe von Vorbehalten, die sich gegen die Evolutionstheorie in der Wirtschaftswissenschaft generell richten, aber auch gegen ihre konkrete Anwendung auf das Phänomen Krise. Generelle Kritik an der Evolutionstheorie wird dahingehend geäußert, dass dem Faktor Zufall eine zu hohe Bedeutung zugeschrieben und die Möglichkeit zu einem geplanten organisatorischen Wandel zu stark abgelehnt würde. Auch sei sie 136 137 138 139 140 141 142

Vgl. Hülsmann: Kommunale Krisen, S. 24. Vgl. Willke: Systemtheorie. Vgl. Kahle: Multikausalität. Vgl. Wolf: Organisation, S. 188. Vgl. Hülsmann und Schulenburg: Evolutionstheorie, S. 98. Vgl. ibid., S. 104. Vgl. Wolf: Organisation, S. 410, siehe auch bspw. Westerlund und Sjöstrand: Organisationsmythen.

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lediglich deskriptiver Natur, da sie aufgrund der Annahme, dass eine geplante Lenkung einer Organisation nicht möglich sei, keine Handlungsempfehlungen für Manager liefern könne, weil deren Konsequenzen der Theorie nach nicht abschätzbar wären. Ähnlich wie bei der Systemtheorie wird ihr zudem ein zu hohes Maß an Abstraktion zugeschrieben.143 Im speziellen Fall der Krisenerklärung durch evolutionstheoretische Ansätze ist hervorzuheben, dass trotz der Berücksichtigung des prozessualen Charakters der Krise und der systeminhärenten vielfältigen Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren, die Komplexität und die damit verbundene Multikausalität innerhalb der Systeme ein bislang nicht zu überwindendes Hindernis für eine erschöpfende Beschreibung und Erklärung des Phänomens Krise darstellen. 4. Abschließende Betrachtungen Aufgrund von Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Ebenen des Krisenvorkommens ergibt sich zum einen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Begriffsverständnisses einer Krise aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive. Zum anderen steht die Frage im Raum, welche betriebswirtschaftlich basierten Theorien eine Grundlage zur Erklärung von Krisen auf unterschiedlichen Ebenen bieten, um hieraus letztendlich Zweck-Mittel-Kombinationen, das heißt Handlungsempfehlungen zum Umgang mit und zur Vermeidung von Krisen ableiten zu können. Merkmale einer Krise in einem solchen Begriffsverständnis sind die Gefährdung der Existenz des betrachteten Systems, eine Ambivalenz des Krisenausgangs, eine Gefährdung dominanter Ziele, ein prozessualer Charakter, das Vorhandensein einer Steuerungsproblematik und ein Zeit- sowie ein Entscheidungsdruck. Diese Merkmale dürfen als konstitutiv für Krisen jedweder Art wirtschaftlicher Systeme bezeichnet werden, seien es Unternehmen, Finanzmärkte, die Weltwirtschaft, Staaten oder Staatengemeinschaften. Sowohl das Unternehmenssystem Lehman Brothers als auch das Staatssystem Griechenland war bzw. ist in seiner Existenz gefährdet. Während dies auf Unternehmensebene durch den Untergang des Systems, also die Insolvenz von Lehman Brothers, deutlich wird, muss bei Griechenland die Frage gestellt werden, welche Art von System hier gemeint ist. Griechenland selbst ist nicht in Gefahr seine Existenz zu verlieren, wohl aber das wirtschaftlich-politische System Griechenlands, auf dessen Krise aus einer wirtschaftlichen Perspektive hier Bezug genommen wird. Somit ist bzw. war in beiden Fällen die Ambivalenz des Ausgangs gegeben, die sich bei Lehman Brothers bereits in ein Ergebnis, die Unternehmensinsolvenz, manifestiert hat. Dominante Ziele wurden in beiden Fällen nicht erreicht: sei es im Falle Lehman Brothers das Ziel, dass die Risiken von Finanztransaktionen nicht die Nutzen aus den daraus resultierenden Renditen übersteigen sollten, oder im Falle Griechenlands das Ziel, einen handlungsfähigen 143 Vgl. Wolf: Organisation, S. 411.

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Staat zu wahren. Gleichwohl handelte es sich in beiden Fällen nicht um plötzlich auftretende Ereignisse, sondern um Prozesse, die zuvor eine potenzielle und eine latente Krisenphase durchlaufen haben. Auch Steuerungsproblematiken sind insofern zu erkennen, als dass die Krisen nicht mehr problemlos durch steuernde Eingriffe vermieden oder bewältigt werden konnten. Letztlich übte die Krisensituation sowohl bei Lehman Brothers als auch in Griechenland einen Druck auf die jeweiligen Entscheidungsträger aus, Maßnahmen zu ergreifen. Je weiter die Krisen fortschritten bzw. fortschreiten, umso größer wurde und wird der damit verbundene Zeitdruck. Eine Betrachtung auf Basis dieser konstituierenden Merkmale ermöglicht es daher, Krisen auf unterschiedlichen Systemebenen vergleichend zu analysieren und somit auch Wechselwirkungen zwischen den beiden Systemen zu untersuchen. Demzufolge dürfen auch zur Analyse die gleichen theoretischen Ansätze und die gleichen methodischen Instrumente angewendet werden. In der Konsequenz steht daher aber die Frage im Raum, welche theoretischen Ansätze in der Lage sind, Krisen aus der beschriebenen wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive heraus beschreiben und erklären zu können. Aus der großen Menge von möglichen Theorien können anhand von Prüfkriterien, basierend auf den konstitutiven Merkmalen von Krisen, eine ganze Reihe theoretischer Ansätze aussortiert werden, weil sie nicht in der Lage sind, gewisse Krisenmerkmale zu berücksichtigen. Zwei Theorien, die alle beschriebenen konstitutiven Merkmale berücksichtigen, sind die Systemtheorie und die Evolutionstheorie. Beide leisten wichtige Beiträge für die Beschreibung und die Erklärung von Krisen bspw. dadurch, dass die Evolutionstheorie die generelle Lenkungsfähigkeit von Systemen in Frage stellt. Allerdings weisen beide auch signiÀkante Mängel, wie einen hohen Abstraktionsgrad, auf, die sie in ihrer Anwendbarkeit einschränken. Die vorgestellte Analyse ist neben anderen von zwei bedeutenden Limitationen geprägt: Erstens wurde nur eine kleine Auswahl an Theorien dahingehend untersucht, ob sie im Stande sind, die konstitutiven Merkmale von Krisen aus einem wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis heraus widerzuspiegeln. Dies bedeutet nicht, dass es nicht andere Organisationstheorien wie auch theoretische Ansätze aus anderen Disziplinen geben könnte, die das Phänomen Krise mit samt ihren konstitutiven Merkmalen abbilden können. Zweitens bedeutet ein hier vorgenommener Ausschluss einiger Theorien aufgrund der Tatsache, dass sie das ein oder andere konstitutive Merkmal von Krisen nicht berücksichtigen, nicht, dass sie keine Erklärungsbeiträge für das Phänomen Krise leisten können. Vielmehr deutet es lediglich auf deren eingeschränkt zu betrachtende Aussagensysteme hin. Insofern ergibt sich weiterer Forschungsbedarf vornehmlich aus drei elementaren Aspekten: Erstens gilt es zu prüfen, welche weiteren Theorien, nicht nur aus der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin, in der Lage sind, die konstitutiven Merkmale von Krisen zu berücksichtigen und somit einen Beschreibungs- und Erklärungsbeitrag leisten könnten. Zweitens sind die einzelnen, hier ausgeschlossenen Theorien dahingehend zu prüfen, welche Einzelbeiträge sie leisten könnten – trotz Vernachlässigung des ein oder anderen konstitutiven Merkmals. Nach deren IdentiÀzierung wäre weiterhin eine Prüfung notwendig, wie diese Theorien in andere

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Theoriekonzepte eingebettet werden und somit deren Aussagengehalte erhöhen könnten (bspw. Einbettung der Ressourcenabhängigkeitstheorie in den evolutionstheoretischen Kontext). Drittens sind die Theorien, die alle konstitutiven Merkmale abzubilden im Stande sind, auf den Prüfstand zu stellen, um die mit ihnen verbundenen Limitationen zur Beschreibung und Erklärung von Krisen abzubauen. Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Prüfung von Organisationstheorien auf Berücksichtigung krisenspeziÀscher Merkmale

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Typen von Krisen im politischen Verständnis Abbildung 2: Entscheidungsorientierter und Systemorientierter Ansatz Abbildung 3: Kombination von Entscheidungs- und Systemperspektive

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VON DER NATURKATASTROPHE ZUR MODERNISIERUNGSKRISE? EIN ETHNOLOGISCHER BLICK AUF KULTURSPEZIFISCHE VARIANTEN IM UMGANG MIT ERDBEBEN UND TSUNAMIS Annette Hornbacher I. Ethnologische Katastrophenforschung Naturkatastrophen wie der verheerende Tsunami des Jahres 2004 bringen nicht nur objektive Fakten in Bewegung, sondern auch deren lokale Deutung. Sie sind nicht zuletzt kulturspeziÀsche Diskursphänomene und als solche sind sie Thema ethnologischer Forschung. Dies betrifft nicht nur so einschneidende Ereignisse wie den erwähnten Tsunami, sondern auch die regelmäßigen Vulkanausbrüche – z. B. in Gegenden wie in Indonesien. Die kulturspeziÀschen Auslegungsdifferenzen im Umgang mit diesen prekären Naturphänomenen sind dabei nicht nur von theoretischem oder hermeneutischem Interesse, ihre eigentliche Tragweite besteht darin, dass sie unterschiedliche praktische Bewältigungsstrategien eröffnen und dabei den Universalanspruch des modernen wissenschaftlichen Weltbildes und seines technischen Weltbezuges in Frage stellen. Neuere Studien zur kulturellen Deutung und Verarbeitung von Erdbeben und Vulkanismus bestätigen dabei, dass bis heute gilt, was bereits prinzipiell seit EvansPritchards Magieforschungen bekannt ist: Was die moderne Wissenschaft als neutrales Naturphänomen deutet: Krankheit, Erdrutsch oder Vulkanausbruch, wird im Rahmen anderer Weltentwürfe nicht als Folge objektiver Gesetzmäßigkeiten interpretiert, sondern als Ausdruck einer individuellen Interaktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Im Rahmen dieser Voraussetzung stehen Naturphänomene dem Menschen nicht als materielle Objekte gegenüber, sie werden vielmehr als intentionales Gegenüber gedeutet und damit als eigenwillige Akteure eines homogenen moralischen Universums anerkannt und behandelt. Unter dieser Voraussetzung erscheinen Naturereignisse und besonders Katastrophen nicht nur als technische Störungen einer – an sich – berechenbaren Natur, sondern als Zeichen misslungener Interaktion und zugleich als Kommunikationsangebote: Sie fordern keine rein technische Beherrschung, sondern den symbolischen Austausch, und d. h.: sie eröffnen rituelle Handlungsoptionen. Neuere ethnologische Studien zeigen zudem, dass die rituelle Verehrung heiliger Vulkane, wie sie v. a. in Ostindonesien üblich ist, keine bloß symbolische Bedeutung hat, sondern zugleich als praktische Schutzmaßnahme vor den häuÀgen Vulkanausbrüchen der Region zu verstehen ist: Da Bergregionen hier nicht von Menschen bewohnt werden dürfen, sind sie dicht bewaldet und bieten zahlreichen Wildtieren Lebensraum. Deren Verhalten im Falle drohender Vulkanausbrüche wird von den Bewohnern der Region als Indikator vulkanischer Aktivität und

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damit als mythisch-rituell verankerte Katastrophenprävention gedeutet und genutzt.1 II. Von der Naturkatastrophe zur Kulturkrise? Im Rahmen solcher Studien zur Schnittstelle zwischen symbolischer Weltdeutung und ritueller wie praktischer Katastrophenprävention bleibt allerdings eine interessante Frage ausgespart, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen soll: Während die Frage nach der lokalen rituellen Katastrophenprävention die Stabilität der lokalen Weltdeutung voraussetzt, gehen die folgenden Überlegungen der Frage nach, unter welchen Bedingungen Naturkatastrophen nicht mehr in den Horizont eines jeweils bestehenden Weltbildes eingeordnet werden, sondern ihrerseits zur AuÁösung – oder Krise – lokaler Ontologien und Deutungshorizonte beitragen. Besonders aufschlussreich ist dabei die Verbindung von Naturkatastrophe, Kulturkrise und Modernisierung, da letztere – zumindest in der europäischen Geschichte – zu einer Krise mythisch-kosmologischer Katastrophendeutung geführt hat. Es liegt daher nahe, eine analoge Entwicklung auch im globalen Kontext anzunehmen. Diese Frage nach der dynamischen Wechselbeziehung von Naturkatastrophe und Kulturkrise soll hier im Vergleich zweier prima facie ganz ähnlicher Naturkatastrophen erörtert werden: Es handelt sich einerseits um das Erdbeben und den Tsunami von Lissabon aus dem Jahr 1755 und andererseits um den erwähnten Tsunami im indischen Ozean im Jahr 2004. Beide Naturkatastrophen hatten verheerende direkte Auswirkungen auf die betroffenen Gesellschaften, beide führten vor Ort zu einem schweren Schock und international zu spontanen Solidaritätsbekundungen, sowie allgemein zur ReÁexion über die Grundlagen der eigenen Weltsicht. Dennoch mündet die interpretative Verarbeitung beider Katastrophen lokal in ganz unterschiedlichen Konsequenzen: So impliziert der Tsunami von Lissabon im europäischen Katastrophendiskurs einen radikalen Bruch sowohl mit dem modernen Aufklärungsoptimismus als auch mit der christlichen Heilsgewissheit. Der Tsunami von 2004 hingegen bestärkt im balinesischen Diskurs, auf den ich im Folgenden näher eingehen möchte, ganz im Gegenteil eine Hinwendung zur lokalen Kosmologie und ihren mythischen Deutungsangeboten.2 Das faktische Ausmaß der Zerstörung allein erklärt also nicht, ob die Naturkatastrophe auch zur Kulturkrise wird. Vorab jedoch scheint eine Klärung der BegrifÁichkeit sinnvoll: Von Katastrophen wird im Folgenden die Rede sein, sofern damit einschneidende destruktive Ereignisse gemeint sind, die eine Gesellschaft nachhaltig beinträchtigen. Katastrophen können dabei Krisensituationen innerhalb einer Gesellschaft nach sich ziehen, sie stellen aber nicht notwendig deren kulturspeziÀschen Deutungsrahmen selbst in Frage, und d. h.: sie führen nicht zwangsläuÀg zur Kulturkrise. Obwohl der Begriff der Krise im Alltag mitunter fast gleichbedeutend mit dem der Katastrophe einge1 2

Frömming: Naturkatastrophen, S. 24 f. LöfÁer: Lissabons Fall, S. 19.

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setzt wird – z. B. in der Rede von ‚Krisenmanagement‘ oder der ‚Krisenprävention‘ – werden beide Begriffe hier hinsichtlich des Moments der ReÁexivität, Selbstbezüglichkeit oder Entscheidung unterschieden. Dieses kommt zwar Krisen zu, nicht aber Katastrophen. In diesem Sinn geraten Organismen – z. B. bei Krankheiten – in Krisen, deren Ausgang von internen Faktoren abhängt, und ganze Gesellschaften können durch innere Widersprüche in Identitätskrisen oder in kulturelle Krisen geraten. Demgegenüber brechen Katastrophen eher als äußere Ereignisse über eine Gesellschaft herein, sie bewirken aber nicht zwingend eine Krise von deren Identität. Diese vorläuÀge Unterscheidung beider Aspekte scheint insofern wichtig, als ethnologische Theorien sich zwar mit der kulturspeziÀschen Deutung von Krisen befasst haben, dabei aber Kultur oft als statischen Interpretationsrahmen voraussetzen, was nicht notwendig der Fall ist. III. Krisen aus ethnologischer Sicht Umgekehrt Ànden wir heute ethnologische Forschungen zu Katastrophen, aber keine elaborierte ethnologische Theorie der Kulturkrise, was umso bemerkenswerter scheint, da Ethnologie lange Zeit von der faktischen AuÁösung – d. h. von der Krise – ihres Gegenstandes ausging. Ethnologen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts forschten auf Trobriand, in Amazonien oder Afrika in der sicheren Gewissheit, dass ihre ‚Gegenstände‘ zwangsläuÀg einem krisenhaften Verfallsprozess unterlägen, je mehr sie dem EinÁuss der modernen westlichen Gesellschaft ausgesetzt wären. Dass kulturelle Krisen recht spät zum Gegenstand ethnologischer Forschung wurden, mag vor allem am Selbstverständnis des Faches liegen: Ihre Aufgabe sieht die frühe ‚Rettungsethnologie‘ darin ‚ursprüngliche‘ oder vormoderne Gesellschaften zu erforschen, um wenigstens im Text zu ‚retten‘, was in Wirklichkeit längst verloren schien: die fremde, vormoderne Kultur. Heute ist diese Vorstellung von der vorgeschichtlichen oder gar zeitlosen Kultur zwar längst dem postmodernen Lob kultureller „Kreolisierung“3 oder einem prozeduralen Kulturkonzept gewichen4, dennoch bleibt die Suche nach einer ethnologischen Krisentheorie schwierig: An die Stelle des pessimistischen Untergangsnarrativs ist das optimistische Paradigma kreativer Hybridkulturen getreten, doch die kulturelle Krisenerfahrung, die die Kehrseite der Globalisierung bildet, hat dabei aus ethnologischer Sicht keine ausreichende Beachtung gefunden. So sieht sich die Frage nach einer ethnologischen Krisentheorie auch heute auf Victor Turners klassische Theorie von der kulturspeziÀschen Krisenbewältigung durch Übergangsrituale verwiesen.

3 4

Hannerz: Transnational connections, S. 152. Wimmer: Kultur.

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IV. Krisentheorie als Ritualtheorie Der britische Anthropologe Victor Turner hatte gegen die Vorstellung von der statischen traditionellen Gesellschaft sein Modell des „sozialen Dramas“ entwickelt, das Gesellschaft als dynamischen Prozess struktureller KonÁikte und interner Krisen versteht.5 Angesichts konÁiktträchtiger Modernisierungsprozesse in postkolonialen afrikanischen Gesellschaften hatte bereits Turners Lehrer Max Gluckman das Bild von der unveränderlichen Primitivkultur revidiert.6 Turner selbst analysiert im Rahmen seiner Ritualtheorie, wie Gesellschaften durch strukturelle Widersprüche in Krisen geraten, die sie durch Rituale in einer Dialektik von „Struktur und Anti-Struktur“ bewältigen (s. o.). Die Vermittlung sozialer Krisen erfolgt aus seiner Sicht vorzugsweise performativ und mit Hilfe von Symbolen, die soziale Widersprüche gleichsam auf höherer Ebene in kulturell akzeptierte Sinnzusammenhänge transformieren. Entscheidend für Turner ist dabei, dass Krisen keine Anomalien im Gefüge einer Gesellschaft darstellen, sondern dieser inhärent sind und ihre Dynamik als lebendigen Zusammenhang prägen. Grundlage dafür sind beispielsweise ambivalente Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie Turner bei den von ihm untersuchten Ndembu in Afrika antrifft: Hier wird die matrilineare Abstammung eines Individuums mit einer patrilokalen Lebensform kombiniert, wodurch die Solidarität und Bindung der Kernfamilie in strukturellen Widerspruch zu den VerpÁichtungen gegenüber dem Onkel mütterlicherseits gerät, zu dessen Clan das Kind eigentlich gehört: Die Kinder eines Ehepaars wohnen zwar primär bei ihren leiblichen Eltern, sie wandern aber tendenziell zu den Brüdern der Mutter, da sie zu deren Abstammungslinie gehören. Dadurch entsteht nach Turner ein latenter Streit zwischen dem Vater der Kinder und den Brüdern der Mutter – d. h. zwischen Abstammungsregel und Residenzregel –, der zu permanenten Krisen führt. Gesellschaftliche Kohärenz ist in solchen Fällen nichts anderes als das Ergebnis einer kontinuierlichen Integration von prototypischen Krisen, die in Ritualen inszeniert und mit Hilfe kulturspeziÀscher Symbole interpretiert, strukturiert und so in einen gemeinsamen Sinnhorizont integriert werden. Turner zeigt dabei auf, wie die rituelle Deutung und Verarbeitung bestimmter Krankheiten auf eben diesen KonÁikt eingeht: Namentlich Unfruchtbarkeit und andere gynäkologische Beschwerden werden als Ausdruck einer Vernachlässigung der mütterlichen Ahnen gedeutet und entsprechend symbolisch strukturiert und dargestellt. Das bedeutet: zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit ist es notwendig, die konÁiktträchtigen Ambivalenzen oder Krisen der eigenen Gesellschaft anzuerkennen und zu integrieren. In einer detaillierten Beschreibung des entsprechenden Heilungsrituals weist Turner nach, dass der komplexe rituelle Prozess aus einer Serie von symbolischen Handlungen und Zeichen besteht, die den Betroffenen – in diesem Fall das kinderlose Ehepaar – ihre komplexen und widersprüchlichen 5 6

Turner: Ritual Process. Gluckman: Order.

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PÁichten vergegenwärtigen und dabei Kinderlosigkeit als Übergewicht der Ehebeziehung gegenüber der VerpÁichtung dem matrilinearen Clan gegenüber deuten. Turners Ritual- und Krisentheorie ist damit zweigliedrig: Sie betont zum einen die sinnhafte Integration von strukturimmanenten Widersprüchen durch die symbolische Form des Rituals, und sie deutet zum andern deren performativen Vollzug als ein Gemeinschaft stiftendes Ereignis – über alle sozialen KonÁikte hinweg: Rituale sind für diese Doppelrolle prädestiniert, da sie aus semantisch vielschichtigen aber stets kulturspeziÀschen Symbolen zusammengesetzt sind und kulturspeziÀsche Sinnhorizonte bestätigen, indem sie zugleich im gemeinsamen Handlungsvollzug eine von Spaltungstendenzen bedrohte Gemeinschaft rekonstituieren. Die Dramaturgie des rituellen Ablaufs übernimmt Turner dabei weitgehend von dem belgischen Ethnologen van Gennep, der Krisen vermittelnde Übergangsrituale in groben Umrissen auf ein dreistuÀges Schema zurückführt, das Turner übernimmt: 1. In der Ablösungs- oder Trennungsphase wird das Individuum von seinem bisherigen Status symbolisch getrennt, z. B. indem es seine bisherige Kleidung ablegt oder eine spezielle Diät beachtet. 2. In der Schwellenphase beÀndet sich der Initiand in einem Ausnahmezustand, der durchweg von Ambiguität und symbolischer Überdeterminierung gekennzeichnet ist. In diesem liminalen Zustand, werden instrumentelle Handlungen des Alltags weitestgehend durch symbolische Handlungen ersetzt und die liminal gewordenen Initianden erleben sich als statuslose – und damit eigentlich a-soziale – Wesen. Genau hier konstituiert sich jene egalitäre und undifferenzierte Ritualgemeinschaft, die Turner als „communitas“ bezeichnet und als dialektisches Gegenstück gesellschaftlicher Hierarchien beschreibt. Der liminale Zustand inszeniert daher im sozialen Tod des Einzelnen ein Gemeinschaftserlebnis jenseits geltender Hierarchien. 3. Demgegenüber beschreibt die letzte Phase den eigentlichen Statuswechsel durch eine Wiederangliederung an die Gesellschaft, deren Strukturen dabei bestätigt werden. Ambivalenzen treten nun zurück – die Krise des Individuums wird durch seine Eingliederung in einen festen sozialen Rahmen bewältigt. So verschieden die Ausgestaltung dieser rituellen Übergänge auch sein mag, stets brechen sie mit eingespielten Gewohnheiten und Identitäten, und dieser Ausnahmezustand wird vom Individuum als krisenhafte – und oftmals traumatische – AuÁösung seiner Identität erlebt. Obwohl Turner sich nicht ausdrücklich mit der rituellen Bewältigung von Naturkatastrophen befasst, könnte man Rituale, die den Umgang mit einer potentiell bedrohlichen Umwelt regulieren, durchaus auch als kulturspeziÀsche Moderationsformen kosmischer Krisen deuten. Hierher gehören etwa die zahlreichen Rituale zur Besänftigung aktiver Vulkane, die sich im indonesischen Archipel bis heute Ànden und deren Ziel es ist, die personal gedachten Gottheiten der Vulkane mit den Zielen der Menschen zu versöhnen. Dennoch lässt sich diese rituelle Krisentheorie nur sehr bedingt auf kulturelle Krisen anwenden: Im Rahmen von Turners Theorie erneuert und legitimiert nämlich gerade die Krisenerfahrung soziale und kulturelle Kohärenz durch die temporäre Rückkehr in den Zustand einer egalitären communitas und ihrer kollektiven Symbole. Das bedeutet: das rituelle Krisenmanagement setzt die unhinterfragte Geltung kultureller Symbole und Handlungsschemata voraus, da eine kollektive Krisenbewältigung nur gelingt, solange der symbolische Sinnstiftungshorizont einer Kultur

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fraglos gilt und die Teilnahme am Ritual obligatorisch ist. Turners Krisentheorie beschränkt sich darum im Wesentlichen auf individuelle oder situative Lebenskrisen in traditionellen, oder wie er auch sagt: „vorindustriellen“ Gesellschaften, die er kulturell als weitgehend homogen betrachtet, um sie darin mit den sozial und kulturell heterogenen modernen Industriegesellschaften zu kontrastieren.7 Entsprechend gelangt Turner zu der Gegenüberstellung von liminalem Ritual und liminoidem Theater, welch letzteres er allein modernen Gesellschaften zuordnet, die die Teilnahme an theatralen Performanzen auf der Basis von individueller Freiheit und Bezahlung regeln. Dabei gelangt er zu folgender Gegenüberstellung: Traditionelle Übergangsrituale zwingen den Einzelnen zur Teilnahme an kollektiv standardisierten symbolischen Handlungen, das moderne Theater hingegen hat zahlwillige Zuschauer und kann seine Symbolsprache entsprechend individueller Interessen variieren.8 V. Kulturkrise und Kritik – Zeichen und Privileg westlicher Moderne? Mit dieser Gegenüberstellung von traditionellem Ritual und modernem Theater bestätigt Turner einmal mehr das Selbstverständnis westlicher Aufklärung: Nach deren Auffassung ist die Krise tradierter Normen und kultureller Überlieferungen ein SpeziÀkum moderner Gesellschaften, die sich kategorial und epochal von ‚traditionalen‘ Gesellschaften unterscheiden. Immanuel Kant beschreibt dieses epochale Distinktionsmerkmal der Aufklärung mit den Worten: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“.9 Dabei versteht Kant „Kritik“ im Wortsinn als Unterscheidung oder Trennung zwischen dem, was als überkommene kulturelle Tradition bloß geglaubt wird und dem, was einer skeptischen Überprüfung standhält, weil es durch Vernunftgründe reÁexiv begründet wird. Das „Zeitalter der Kritik“ erfüllt sich daher als grundlegende – und potentiell unabschließbare – Krise sozialer, religiöser und kultureller Normen: Mag die Monarchie sich „in ihrer Majestät“ – und die Religion sich „in ihrer Heiligkeit“ dieser Kritik zu entziehen suchen, so geraten doch beide in der Moderne eben darum von Grund auf ‚in die Krise‘. Im Kontext der Globalisierung ist dieser klare Gegensatz zwischen kritisch aufgeklärter Moderne und traditionellem Glauben sowie die ihm entsprechende Gegenüberstellung von den vorkritischen mythischen Gesellschaften und kritischer Moderne jedoch fraglich geworden. Zum einen hat Michel Foucault darauf hingewiesen, dass die normative Instanz aller Aufklärung: die Vernunft, selbst ein Produkt kulturspeziÀscher Disziplinierungstechniken sei und damit eine Form des ‚lokalen Wissens‘, zum andern zeigen ethnographische Studien, dass globale Modernisierungsprozesse eben nicht umstandslos die europäische Entwicklung vom religiösen Weltbild zur kritischen säkularen Ontologie nachahmen, sondern als in sich 7 8 9

Turner: Vom Ritual, S. 176. Ibid., S. 182. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI.

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widersprüchliche Prozesse zu beurteilen sind, die vielfältige Rekombinationen von ganz unterschiedlichen Wissenstraditionen einschließen. Dies legt die Vermutung nahe, dass nicht nur Modernisierung ein kulturspeziÀsch vielfältiger Prozess ist, sondern dass womöglich sogar die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins nicht länger am Leitfaden eurozentrischer Vorgaben zu beurteilen ist.10 VI. Naturkatastrophen als Katalysatoren kultureller Krisen und Umbrüche: Tsunami I Kommen wir an diesem Punkt zu unserer Ausgangsfrage nach der kulturspeziÀschen Verarbeitung von Katastrophen und ihrem Verhältnis zu Kulturkrisen zurück: Turners Krisentheorie legte die These nahe, dass Naturkatastrophen nur so lange sinnhaft in den Rahmen einer kohärenten Kosmologie integriert werden können, wie die moderne Lebensform und ihre kritischen ReÁexionsmöglichkeiten die kollektive Verbindlichkeit mythischer Symbolsysteme und ritueller Praktiken nicht in Frage stellt. Die kollektive rituelle Bewältigung von Katastrophen und Krisen wäre daher an vormoderne Gesellschaften gebunden. Bei der Frage, wann in Europa selbst eine speziÀsch moderne Katastrophenverarbeitung einsetzt, die frühere rituelle Verarbeitungsweisen und kosmologische Deutungshorizonte delegitimiert, stoßen wir rasch auf einen Präzedenzfall: Es handelt sich um das Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag im Jahr 1755, das vielfach als epochaler Einschnitt der europäischen Geschichte beschrieben wurde und das sich zudem als interkulturelle Vergleichsgröße für den indonesischen Umgang mit dem Tsunami aus dem Jahr 2004 anbietet:11 Vergleichbar sind beide Katastrophen zunächst durch das schiere Ausmaß ihrer Zerstörung, sodann aber auch durch deren traumatisierende Wirkung auf die eigene Zeit. Darüber hinaus ereignen sich beide Tsunamis im Rahmen einer gesellschaftlichen Dynamik, die im weitesten Sinn als Modernisierung beschrieben werden kann. Das 18. Jahrhundert wird im europäischen Diskurs als das eigentliche Zeitalter der Aufklärung und damit in der europäischen Selbstwahrnehmung als epochaler Einschnitt erfahren. Seine Revolutionen und Unabhängigkeitsbewegungen entzünden sich an Ideen wie der ‚Freiheit‘ oder den ‚Menschrechten‘, und sie artikulieren dabei den bis heute gültigen normativen Gehalt der modernen bürgerlichen Gesellschaft und Weltpolitik. Als Krise oder Revolution präsentiert sich auch das intellektuelle Leben der Zeit: Kant begreift seine Kritik der Vernunft als revolutionäres Ereignis, das einer „kopernikanischen Wende“ gleichkommt, d. h. einer ‚Revolution‘ der Weltbetrachtung. Und der Dichter und Philosoph Friedrich Hölderlin erhofft – die französische Revolution vor Augen – eine gesellschaftlich-intellektuelle „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“.12 Im selben Kontext werden die Grundlagen der industriellen Revolution gelegt und die theoretische Basis der modernen Marktwirt10 11 12

Eisenstadt: Vielfalt. LöfÁer: Fall; Lauer und Unger: Erdbeben; Schneider: Lissabon. Hölderlin: Brief an Johann Gottfried Ebel, 10.1.1797, S. 716.

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schaft formuliert. So präÀguriert sich gerade in diesem Jahrhundert das Selbstverständnis der Modernität zusammen mit praktischen und normativen Konstellationen, die bis heute den Maßstab globaler Modernisierung und Entwicklung bilden. Inmitten dieser gesellschaftlichen Transformation ereignet sich das verheerende Beben von Lissabon, dessen praktische und theoretische Bewältigung zum Paradigma für den modernen Umgang mit Katastrophen überhaupt wird, und das andererseits – z. B. bei Friedrich Schlegel – als Metapher zur Beschreibung der späteren französischen Revolution eingesetzt wird.13 Die Katastrophe von Lissabon präÀguriert demnach im europäischen Aufklärungsdiskurs jene radikale gesellschaftliche und intellektuelle Krise, in die das 18. Jahrhundert schließlich politisch mündet. Erinnern wir kurz die Fakten: Eine Serie von schweren Beben am Allerheiligentag 1755 löst zahlreiche Brände in der ganzen Stadt Lissabon aus und der folgende gewaltige Tsunami begräbt ganze Stadtviertel unter Wassermassen. Dieses Naturgeschehen wird bis an die Küsten der Niederlande und Afrikas registriert, noch weiter reicht allerdings seine diskursive Verarbeitung. Das Ereignis hinterlässt wegen seiner apokalyptischen Ausmaße ein anhaltendes Trauma in ganz Europa und wurde im Nachhinein vielfach als Epochenschwelle gedeutet. Zahlreiche literarische, theologische und philosophische Quellen zeigen seine nachhaltige Wirkung als europäischen Diskursgegenstand. Zu den bekanntesten Äußerungen im deutschsprachigen Raum zählen Goethes Erinnerungen. Er wurde als Sechsjähriger zum Zeitzeugen und erinnert sich noch als Erwachsener, dass das Erdbeben in aller Munde war und ihn zum ersten Mal aus seiner kindlichen Gemütsruhe gerissen habe, da es Fragen und Aporien aufwarf, die zu lösen selbst „die Weisen und Schriftgelehrten“ nicht in der Lage waren.14 Tatsächlich führt die Katastrophe in Europa zu einem Krisendiskurs, der sich – paradigmatisch bei Voltaire – als das in aller Schärfe aufgeworfene Theodizeeproblem äußert.15 Obwohl neuere Studien betonen, dass das Erdbeben von Lissabon durchaus auch theologische Deutungen fand, zeichnet sich im diskursiven Umgang mit ihm dennoch ein wachsender Skeptizismus gegenüber metaphysischen oder kosmologischen Deutungen ab, die dem kruden Naturgeschehen einen göttlichen Heilsplan unterlegen.16 Solcher Heilsgewissheit stellt Kleist den ernüchternden Ausgang seiner Novelle Das Erdbeben von Chili gegenüber, und Voltaire’s Poème sur le désastre de Lisbonne konfrontiert das physikotheologische Ideal von der sinnhaften Präsenz Gottes in der Natur mit der kruden Realität des Naturgeschehens. Bekanntlich karikiert sein Roman Candide ou l’optimisme darüber hinaus auch den Optimismus der Frühaufklärung und die Leibniz’sche Theodizee. Die Katastrophe von Lissabon fördert demnach in Europa nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit strafthelogischen und teleologischen Erklärungen, sie 13 14 15 16

Dieser beschreibt in seinem Athenäumsfragment 424 die französische Revolution „… als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt, oder als ein Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin.“ Schlegel: Werk, S. 252. Goethe: Dichtung und Wahrheit, 9. Bd., S.30 f. Breidert: Erschütterung; Schneider: Lissabon. Lauer und Unger: Erdbeben.

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führt auch zur Skepsis gegenüber dem modernen szientistischen Optimismus. Als Exponent dieser rationalistischen Variante der Heilsgewissheit hatte Francis Bacon ein Jahrhundert zuvor seine Utopie eines Neuen Atlantis entworfen, aus dem Kummer und Leiden allein dadurch verbannt sind, dass der Mensch Naturgesetze vollständig berechnen und die Welt durch technischen Fortschritt zum eigenen Wohl beherrschen kann.17 Odo Marquard deutet das Erdbeben von Lissabon vor diesem Hintergrund als umfassende Kulturkrise und namentlich als eine „Krise“ des modernen Optimismus, die erst Jahrzehnte später durch das utopische Fortschrittsversprechen der Geschichtsphilosophie kompensiert wird, in der Marquard denn auch eine „post-theistische Theodizee“ erkennt.18 Tatsächlich jedoch konfrontiert bereits Immanuel Kant der Utopie von einer lückenlos erkennbaren Natur seine kritische Mahnung, ein in sich sinnhaft zusammenhängendes Natursystem – und damit eine Metaphysik der Natur – nicht als erkannte Tatsache vorauszusetzen, sondern nur als kritisches Forschungsprinzip rationaler Erkenntnis zu betrachten. Aus seiner Sicht kann der endliche Verstand nur einzelne kausale Naturzusammenhänge berechnen, die Erkenntnis der Natur im Ganzen – und damit eine teleologische Erklärung ihrer Katastrophen – muss demgegenüber Gegenstand subjektiven Glaubens oder metaphysischer Spekulation bleiben. Diese kritische Trennung von kleinteiliger objektiver Naturerkenntnis und spekulativem oder metaphysischem Entwurf eines Natursystems entlastet bereits bei Kant Gott von der Bürde der Theodizee – allerdings um den Preis seiner Verbannung aus der Welt. Folgerichtig betrachtet Kant das Erdbeben von Lissabon, über das er unermüdlich Informationen sammelt, nicht als metaphysisches oder göttliches Zeichen, sondern als rein materielles Naturereignis, dem keine tiefere Bedeutung zugeschrieben werden darf. Kants Verarbeitung der Katastrophe entspricht dem rationalen Verfahren naturkundlicher Seismologie, die tatsächlich verstärkt im Anschluss an das Erdbeben einsetzt und in Europa zum dominierenden bürgerlichen Diskurs über Naturkatastrophen wird. Das Erdbeben von Lissabon führt damit – unerachtet persistierender theologischer Paralleldeutungen und trotz kritischer Abwendung vom Optimismus der Frühaufklärung – zur Verdrängung metaphysischer Interpretationen und ritueller Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Natur. Diese – wenigen – Zeugnisse legen die Vermutung nahe, dass die Katastrophe von Lissabon durch ihre Marginalisierung theologischer oder metaphysischer Deutungen und einen Umschlag von der Naturkatastrophe zur Krise kulturspeziÀscher Normen und Werte katalysiert. Diese Wende zeigt sich keineswegs nur in theoretischen Äußerungen von Dichtern und Philosophen, sie prägt auch den politischen Umgang mit dem Geschehen und wird darin geschichtsprägend: Auch und gerade in der politischen Bewältigung vor Ort Àndet eine Hierarchisierung von Deutungsund Handlungsoptionen statt, die säkular-rationalistische Modelle privilegiert. 17 18

Bacon: Atlantis. Marquard: Krise.

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Eine berühmte SchlüsselÀgur für die paradigmatisch moderne Katastrophenbewältigung ist der portugiesische Premierminister Sebastiao Jose de Carvalho e Mello, der vom König mit dem Krisenmanagement beauftragt wird. Er erlangt durch seinen betont rationalen und pragmatischen Umgang mit der Katastrophe große Erfolge, weithin Berühmtheit und den Titel eines Marques Pombal: Ausgebildet im Geist der europäischen Aufklärung bringt er eine ausgesprochen antiklerikale Einstellung mit und setzt sich rigoros gegen die Autorität der katholischen Kirche und für einen strikt pragmatischen Umgang mit der Katastrophe ein: Um Seuchen zu verhindern ordnet er die sofortige Seebestattung der vielen Toten von Lissabon an – getreu seiner Devise, die Toten zu bestatten und die Lebenden zu ernähren.19 Die Katastrophe ist auch ihm ein rein empirischer Sachverhalt – kein Wink göttlicher Vorsehung. Dank seines tatkräftigen Pragmatismus gelingt es de Carvalho e Mello die enormen Schuttmassen binnen eines Jahres zu beseitigen, und mehr als das: er versucht nicht, den staus quo ante wiederherzustellen, sondern nimmt die Zerstörungen zum Anlass einer städtebaulichen Innovation: Der bis heute das Stadtbild prägende Wiederaufbau des Beixa Viertels erfolgt nach seinen geometrischen Plänen und gemäß seiner Überzeugung, dass die schwersten Schäden durch eine bessere architektonische Stadtplanung zu vermeiden gewesen wären. Diese architektonische Modernisierung bildet gewissermaßen die sichtbare Darstellung einer politischen Erneuerung, die de Carvalho e Mello im Sinn des aufgeklärten Absolutismus und notfalls auch mit Gewalt gegen die Autorität der Kirche durchsetzt. Wie ernst es ihm damit zu tun ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass jeder, der sich dem aufgeklärten Umgang mit der Katastrophe widersetzt, schwer bestraft wird: Der Jesuit Gabriel Maladrige etwa wird grausam dafür hingerichtet, dass er das Erdbeben als Strafe Gottes deutet.20 Umgekehrt macht de Carvalho e Mello die Priester seines Landes zu Naturchronisten der Katastrophe, indem er sie anhält deren empirischen Ablauf genau zu dokumentieren. Dieser Anordnung ist nicht nur eine bis heute im Nationalarchiv einsehbare empirische Darstellung des Naturgeschehens zu verdanken, sie zeigt auch beziehungsreich den politisch erzwungenen Funktionswandel des Priesteramtes, das hier zum Ausgangspunkt der modernen Seismologie wird.21 Das Erdbeben von Lissabon katalysiert demnach auf vielfältige Weise und nicht zuletzt mit machtvollen politischen Mitteln die Durchsetzung einer modernen Hierarchie zwischen religiösen und säkularen Katastrophendeutungen, die zwar durchaus nebeneinander existieren, von Anfang an aber gegeneinander ausgespielt werden. Darin wird nicht zuletzt jene säkulare Weltdeutung etabliert, die für die europäische Moderne insgesamt charakteristisch ist, und die uns heute als einzig adäquate Handlungsoption im Umgang mit Katastrophen den rationalen und pragmatischen Umgang mit den materiellen Kräften der Natur nahe legt.22 19 20 21 22

Details s. bei Dietzsch: Denken, S. 259 f. Gisler: Optimismus, S. 230. Hellwig: Bedeutung, S. 228. Dietzsch: Denken.

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VII. Katastrophen als Bestätigung lokaler Kosmologie: Tsunami II Die europäische Vorstellung von Modernität und Aufklärung kristallisiert sich demnach im Katastrophendiskurs um Lissabon als radikaler Bruch sowohl mit der metaphysischen Weltdeutung der Kirche als auch mit den rationalistischen Heilserwartungen des frühaufklärerischen Weltbildes. In beiderlei Hinsicht führt die Naturkatastrophe dabei in eine Krise kulturspeziÀscher Weltentwürfe und Sinnhorizonte, die Turner als charakteristisch für moderne pluralistische Gesellschaften betrachtet. Da dieser Umschlag von der Naturkatastrophe zur Kulturkrise im europäischen Kontext selbstverständlich scheint, wird – etwas vorschnell – unterstellt, dass analoge Entwicklungen im Prozess der Modernisierung überall stattÀnden. Ethnologische Globalisierungsforschungen zeigen demgegenüber, dass in vielen Gesellschaften tradierte mythische Kosmologien und rituelle Handlungsmuster bis heute nicht durch naturwissenschaftliche Erklärungen und moderne Technologien abgelöst, sondern allenfalls ergänzt werden. Aus kulturvergleichender Sicht ist der Umschlag von der Naturkatastrophe zur Säkularisierung – und damit zur Krise kulturspeziÀscher Kosmologien – darum keinesfalls selbstverständlich. Obwohl globale Modernisierungsprozesse in technologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht zu massiven Veränderungen in allen außereuropäischen Gesellschaften geführt haben, wird zugleich deutlich, dass daraus weder eine umfassende Säkularisierung nach europäischem Vorbild folgt, noch die Verdrängung lokaler kosmologischer Deutungshorizonte – im Gegenteil. Die pragmatische Nutzung moderner Technologien und wissenschaftlicher Erklärungen führt nicht zwangsläuÀg zur Übernahme des historisch damit verbundenen säkularen Erkenntnis- und Naturmodells, sie kann durchaus mit einer Rückbesinnung auf spirituelle und kosmologische Deutungsrahmen einhergehen. Diese These möchte ich an einem weiteren kulturspeziÀschen Diskurs um jenen verheerenden Tsunami erläutern, der an Weihnachten 2004 verschiedene Regionen rund um den indischen Ozean traf und allein auf Sumatra rund 170 000 Todesopfer forderte. Ihm folgte in der Nähe des Epizentrums vor der indonesischen Insel Sumatra eine anhaltende Serie weiterer Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche entlang der Südküste Indonesiens, die nach Auffassung von Seismologen noch Jahrzehnte anhalten wird. Der jüngste Tsunami in dieser Serie vergleichbarer Katastrophen ereignete sich im Oktober 2010 auf einer Inselgruppe vor Sumatra und parallel dazu folgte ein schwerer Ausbruch des javanischen Vulkans Merapi, der ebenfalls mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten verbunden war. Vor allem jedoch der große Tsunami von 2004 war für die unmittelbar betroffenen Regionen – von Sumatra über Thailand bis nach Südindien und Sri Lanka – ebenso einschneidend wie das Erdbeben von Lissabon, und diese Katastrophe löste, durch moderne Massenmedien beschleunigt, aber prinzipiell ähnlich wie im Fall von Lissabon, eine internationale Solidaritätswelle, v. a. aber auch weitreichende Grundsatzdebatten und kulturspeziÀsche Diskurse aus. Verlauf und Schwerpunkte dieser Diskussionen sind regional höchst verschieden: sie schließen Debatten über bessere technologische Vorbeugungsmaßnahmen und wissenschaftlich gestützte

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Vorhersagen ebenso ein wie spirituelle Interpretationen und rituelle Kompensationen. Mein Interesse gilt hier keiner umfassenden Darstellung dieses vielschichtigen Diskurses, sondern einzig der interpretativen Verarbeitung dieses – letztlich globalen – Ereignisses innerhalb der balinesischen Gesellschaft, die mir aus eigenen Feldforschungen am besten vertraut ist. Die Bewohner der Insel Bali leben in einiger Entfernung zum Zentrum des Tsunami, von dem sie nicht unmittelbar betroffen waren. Dennoch begegneten mir diese Katastrophe sowie eine damit assoziierte Serie weiterer Katastrophen gerade auf Bali als zentraler Referenzpunkt vieler öffentlicher Debatten, als deren gemeinsames Thema sich eine als kosmische Krisensituation interpretierte Gegenwart abzeichnete. Im Rahmen dieses Diskurses, auf den ich an verschiedenen Orten Südbalis stieß,23 wurde die Naturkatastrophe zur Folie einer kulturkritischen ReÁexion, die schon bald die bedrohte kosmische Ordnung mit der problematischen innenpolitischen Führung des Landes in Verbindung brachte. Auffällig war dabei, dass dieser balinesische Krisendiskurs keine Säkularisierungs- oder Rationalisierungswelle zur Folge hatte und auch nicht dazu führte, dass der lokale kosmologische Deutungsrahmen in Frage gestellt wurde. Weit eher ist hier eine reÁexive Bestärkung des lokalen kosmologischen Deutungsrahmens zu beobachten, der in mancher Hinsicht dem säkularen Erklärungsmodell der westlichen Moderne als überlegener Deutungshorizont kontrastiert wird. Diese These stützt sich auf Feldforschungen, die ich in den Jahren vor und nach dem Tsunami v. a. auf Bali und in geringerem Umfang auf Java durchführen konnte. Auffällig war zunächst, dass sich meine balinesischen Gesprächspartner sehr direkt von dieser Naturkatastrophe betroffen sahen, obwohl sie selbst gar nicht deren Opfer waren. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen ist Balinesen wohl bewusst, dass sie – auf dem weltweit aktivsten Erdbebengürtel lebend – jederzeit von ähnlichen Katastrophen heimgesucht werden können wie ihre Nachbarn auf Sumatra und Java. Zum andern aber wurde der gewaltige Tsunami im Jahr 2004 auf Bali nicht als isoliertes Ereignis gedeutet, sondern als Höhepunkt einer Serie weiterer Katastrophen, zu der Vulkanausbrüche auf Nachbarinseln ebenso gezählt wurden wie soziale und politische Katastrophen – und namentlich zwei Terroranschläge islamistischer Gruppen auf Bali. Darüber hinaus ist die Erinnerung an Erdbeben und Vulkanausbrüche, die die Insel in vergangenen Jahrzehnten verwüstet haben noch sehr lebendig, zumal der letzte schwere Ausbruch des heiligen Inselvulkans Gunung Agung zu Beginn der 1960er Jahre ebenfalls mit einer innenpolitischen Krise und einem Machtwechsel verbunden war. Die eigentliche Bedrohung des Tsunami wurde daher von vielen Balinesen nicht in den unmittelbaren Folgen für Sumatra gesehen, sondern v. a. darin, dass er als Zeichen für weitere und womöglich noch schlimmere Katastrophen interpretiert wurde. 23

Ähnliche Diskussionen begegneten mir allerdings auch bei einer kleinen Vergleichsforschung in Zentral- und Ostjava, wo ich 2009 eine Kurzzeitforschung durchführte. Da mir hier ausreichendes Material fehlt, verzichte ich allerdings weitgehend darauf, diese in meine Überlegungen einzubinden.

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Diese kosmologische und damit metaphysische Deutung fand ihre Bestätigung, als zwei Jahre später ein schweres Erdbeben auf Balis Nachbarinsel Java über 6000 Menschenleben forderte und 39 000 Verletzte sowie 600 000 Obdachlose hinterließ. Gefolgt wurde dieses Beben von einem Tsunami kleineren Ausmaßes, der Javas Südküste heimsuchte, und schließlich wurde Bali selbst von einer Reihe – allerdings minder schwerer – Beben betroffen. Die damit näher rückende Bedrohung durch ähnliche Naturkatastrophen assoziierten viele Balinesen ganz explizit mit den schweren Ausbrüchen ihrer heiligen Vulkanberge Gunung Agung und Batur, die die Insel und ihre Bewohner vor Jahrzehnten in einen Ausnahmezustand versetzt und schwere Ernteausfälle und Hungersnöte zur Folge hatten. Interessanterweise werden nun all diese Naturkatastrophen trotz umfassender Modernisierungsprozesse auf Bali und Java auch weiterhin primär im Rahmen der lokalen Kosmologie und das heißt: als intentional gesteuertes Geschehen von Gottheiten in der Natur interpretiert und entsprechend rituell beantwortet.24 Um dieses komplexe Ineinander von Modernisierung und Tradition zu verstehen, lohnt ein Blick auf die vielfältigen kulturellen EinÁüsse, denen Balis Bevölkerung ausgesetzt ist: Bali war seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten buddhistischen und hinduistischen EinÁüssen ausgesetzt, die miteinander aber ebenso mit lokalen Varianten der Ahnen- und Naturverehrung vielfältige Konstellationen bilden. Seit den 1920er Jahren und verstärkt seit der Einbindung in den indonesischen Staat ist die Insel dank umfassender SchulpÁicht und stetig wachsendem internationalem Massentourismus sehr vertraut mit szientistischen Erklärungsmodellen, modernen Technologien und einem westlichem Lebensstil.25 Die damit verbundene ökonomische, intellektuelle und soziale Modernisierung ändert allerdings nichts daran, dass spirituelle Interpretationen und kosmologische Weltentwürfe von der modernen episteme keineswegs verdrängt, sondern allenfalls situationsbezogen ergänzt werden. Das bedeutet praktisch: Naturwissenschaftliche Theorien werden von der Mehrheit der Bevölkerung als eher vordergründige Erklärungen anerkannt und genutzt, sie erfahren jedoch – wenn es um Orientierungsfragen geht – eine Einbettung in lokale Kosmologien und damit eine andere Bewertung als dies üblicher Weise in westlichen Gesellschaften der Fall ist. Anders gesagt: das materialistische moderne Weltbild gilt nicht als der letzte universelle Deutungsrahmen der Realität schlechthin. Keiner meiner balinesischen Gesprächspartner zweifelte an der Nützlichkeit moderner Technologien und Erklärungsmodelle, alle kritisieren diese aber als unergiebig und trivial, wenn es galt, den Sinn eines Naturphänomens für die individuelle oder gesellschaftliche Praxis zu verstehen.26 In dieser Einschätzung waren für 24 25 26

Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Java, wo der jüngste schwere Ausbruch des Merapi derzeit für große Aufregung sorgt, da der ofÀzielle Wächter des Merapi beim Versuch eines Versöhnungsrituals ums Leben kam. Picard: Bali. Diese Einschätzung betrifft nicht nur die Dorfbevölkerung, sie wird auch von Intellektuellen und Dozenten balinesischer Universitäten geteilt.

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mich kaum klassenspeziÀsche Differenzen erkennbar, das Festhalten an kosmologischen Erklärungen lässt sich also nicht ohne weiteres als persistierender ‚Volksglauben‘ abtun, vielmehr lassen Personen mit sehr unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen – von der illiteraten Hausfrau bis hin zum Bürokraten im Gesundheitsamt –, keinen Zweifel daran, dass moderne Wissenschaft oder Medizin zwar in Grenzen dienlich sind, aber durchaus keine universellen Erklärungsmodelle. Die pragmatische und die epistemologische, ontologische oder lebensorientierende Funktion wissenschaftlicher Erklärungen werden hier also sorgfältig unterschieden. Viele meiner Gesprächspartner sind daher auch fest überzeugt, dass es gerade dann naiv und gefährlich wäre, sich mit den vordergründigen Erklärungen der Wissenschaft zu begnügen, wenn schwerwiegende Katastrophen oder Krankheiten durch ihre faktisch umfassende Reichweite auf tiefer liegende Bedeutungsebenen hinwiesen. Diese Bereitschaft zur komplexen Deutung von Phänomenen, die aus westlicher Sicht der objektiven Natur zugeordnet werden, ist charakteristisch. So fand es einer meiner Gesprächspartner, ein einÁussreicher Repräsentant des balinesischen Gesundheitsamtes, der Programme zur Malariaprävention entwarf und nach allen Regeln moderner Medizin und Hygiene durchführte, in keiner Weise widersprüchlich, dass er gleichzeitig in seinem Dorf für die Organisation exorzistischer Rituale verantwortlich war, die auf ganz anderer Ebene Seuchen als Folge von Hexerei in Grenzen halten sollten. Ähnlich komplex war die Reaktion auch auf den Tsunami und weitere Katastrophen, die vor Ort damit assoziiert wurden. Auch hier wurden technisch-rationale Maßnahmen der Schadensbegrenzung mit rituellen Handlungen scheinbar spielend verbunden. Ein entscheidender Faktor für diesen integrativen Umgang mit konkurrierenden Deutungsangeboten ist die hermeneutische Kontextualisierung von Ereignissen in Balis interpretationsoffener Kosmologie. In deren Kontext war es möglich, den Tsunami nicht als zufällige Naturkatastrophe zu deuten, sondern als Hinweis auf eine gestörte kosmische Ordnung. Deren Ursachen wurden auf derselben ontologischen Ebene angesiedelt wie anthropogene soziale, politische und religiöse KonÁikte, die sich zeitnah dazu ereigneten: besonders die islamistischen Attentate. All diese – aus westlicher Sicht höchst verschiedenen – Ereignisse wurden als eine zusammenhängende Serie von bedrohlichen Zeichen interpretiert, deren adäquate Deutung komplexe ReÁexionen erforderte: Vergleichbar wurden dabei plötzlich so unterschiedliche Phänomene wie: Tsunamis oder Erdbeben, ein Tourismus bedingter Wassermangel und wachsende interreligiöse KonÁikte in Indonesien. All diese unterschiedlichen Bedrohungen deuteten meine Gesprächspartner als Aspekte eines letztlich umfassenden kosmischen Krisenzustandes, der auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck brachte, dass die kosmische Ordnung im Ganzen aus den Fugen geraten war und umfassende Maßnahmen erforderte. Diese prinzipiell kosmologische Deutung war mit höchst unterschiedlichen praktischen Konsequenzen verbunden: Während viele Balinesen heute die Notwendigkeit betonen, immer mehr und immer umfangreichere Rituale durchzuführen, um das offenkundig gestörte kosmische Gleichgewicht rituell ins Lot zu bringen, sehen andere ge-

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rade das Übermaß an Ritualen als Ausdruck eines spirituellen Substanzverlustes an und fordern die Rückbesinnung auf die spirituellen Wurzeln der balinesischen Tradition. Zusätzlich werden – sowohl auf Bali als auch auf Java – Naturkatastrophen als Folge einer verfehlten Politik gedeutet. Nach dieser Auffassung zeigt sich darin v. a. die Unfähigkeit nationaler Politiker, die Weltordnung aufrecht zu erhalten, und diese Einschätzung wird heute mit der Kritik am amtierenden Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono verbunden, dem als nationalem Führer die notwendige spirituelle Macht (sakti) für das nationale Wohlergehen abgesprochen wird.27 In all diesen Fällen wird die Naturkatastrophe mit einem selbstreÁexiven lokalen Krisendiskurs verknüpft, der aber – anders als im Fall von Lissabon – keinen Bruch mit der tradierten Kosmologie und ihrem Konzept spiritueller Macht impliziert, sondern dieses vielmehr voraussetzt, da nur im Licht der lokalen Weltdeutung internationale Politik, soziale Modernisierung und lokale Naturkatastrophen als Zeichen einer kosmischen Krise interpretierbar werden. Der Tsunami fungiert dabei als interpretativer Schlüssel, der es erlaubte, Naturereignisse allein durch ihre zeitliche und räumliche Koinzidenz in sinnvolle Beziehung zu jener innenpolitischen und sozialen Krise zu setzen, die in Indonesien 1998 mit der Finanzkrise und dem erzwungenen Rücktritt des langjährigen Diktators Suharto eingesetzt hatte. Aus der zufälligen Koinzidenz von Naturereignis, politisch-ökonomischer Krise und krisenhafter Modernisierung wird somit ein Prozess, der sich sinnvoll in den lokalen Deutungsrahmen fügt. VIII. Aspekte kosmologischer Weltdeutung und ritueller Katastrophenbewältigung Von zentraler Bedeutung ist hier ein Begriffspaar, das ursprünglich aus Indien stammt und eine wichtige Rolle im balinesischen Weltverständnis spielt: Sekala und Niskala. Dieses Begriffspaar bezeichnet ein harmonisches Balanceverhältnis zwischen der materiellen Dimension der Realität (sekala) und der schwer fassbaren unsichtbaren Dimension (niskala). Zu ersterer gehören alle materiellen Objekte und die ganze manifeste Wirklichkeit, zu letzterer so unterschiedliche Entitäten wie: Ahnen, Dämonen, Gottheiten, die magischen Kräfte der Hexerei, aber auch der menschliche Intellekt und die Psyche. Es handelt sich also nicht um den eurozentrischen Gegensatz zwischen Materie und Geist, denn Niskala umfasst zwar den Geist im weitesten Sinne des Wortes, sie ist aber nicht das Gegenteil der Sekala, sondern deren ergänzendes Pendant, da sich Akteure und Interessen der Niskala stets in der Sekala manifestieren. In diesem Interpretationsrahmen werden manifeste Naturphänomene situationsbezogen als Zeichen unsichtbarer Akteure und Interessen gedeutet und behandelt. 27

Darin zeigt sich umgekehrt das Festhalten am Konzept charismatischer Herrschaft, dessen Bedeutung seit den frühen indisierten Königreichen in Indonesien belegt ist und verschiedentlich analysiert wurde. Vgl. Anderson: Idea.

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Beide Pole der Wirklichkeit bilden also eine dynamische Einheit, die sich idealiter in einem Áexiblen Balanceverhältnis beÀndet. Welcher Aspekt dabei situativ im Vordergrund steht, ist variabel: So kann ein Naturereignis ganz schlicht als normales (biasa) Naturereignis betrachtet und wissenschaftlich erklärt werden, es kann aber auch – je nach Umständen – als außergewöhnliches (luar biasa) Zeichen spiritueller Wesen verstanden werden und erfordert dann rituelle Behandlung und intensivierte Deutungen im Kontext der Situation. Die relative Dominanz materieller oder spiritueller Erklärungen lässt sich dabei nie vorhersagen. Balis lokale Kosmologie wird durch dieses dynamische Bezugsgefüge nicht zum starren Rahmen, sondern zum höchst Áexiblen Spielraum von Deutungsoptionen, die szientistische Erklärungen nicht aus-, sondern einschließen. Sie stellt dabei allerdings auch hohe Ansprüche an die permanente ReÁexionsbereitschaft aller Beteiligten: Welche Deutung die situativ jeweils angemessene ist, lässt sich nur an deren praktischen Konsequenzen ermessen, nicht daran, dass gemäß eines einzigen dominanten Theoriemodells argumentiert oder gehandelt wird. Dieser Offenheit für alternative Deutungen und komplexe Kombinationen lokaler und universeller Erklärungsmuster entspricht ein differenzierter Umgang mit Katastrophen: So wie wissenschaftliche und kosmologische Erklärungen einander ergänzen können, werden pragmatische und instrumentelle Bewältigungsformen nicht alternativ, sondern komplementär zu rituellen Handlungen eingesetzt. Paradigmatisch dafür ist der politische Umgang mit jenen islamistischen Bombenanschlägen, die auf Bali als lokaler Ausdruck der kosmischen Katastrophensituation betrachtet wurden. Die Anschläge gingen von javanischen Tätern aus, und sie richteten sich nicht nur gegen die westlich geprägte Vergnügungsmeile balinesischer Touristenorte, sondern ebenso gegen die hinduistischen Balinesen, die als religiöse Minderheit im programmatisch multireligiösen Inselstaat leben. Der hindubalinesischen Bevölkerung wurde auf diese Weise schmerzlich ihr prekärer Status innerhalb des weltweit bevölkerungsreichsten islamischen Landes bewusst, zumal gleichzeitig der Vordenker des indonesischen Islamismus Abu Bakar Ba’ashir, ungestört und unkommentiert im indonesischen Fernsehen dafür warb, dass künftig ganz Indonesien und besser noch: die ganze Welt zum Islam konvertieren solle. Die eigentlich balinesische Pointe dieser politischen Katastrophe wird vor dem Hintergrund der balinesischen Ritualpraxis verständlich: Zu deren Selbstverständnis gehört es, durch die lückenlose rituelle Rahmung des gesamten Alltags die kosmische Harmonie als Gleichgewicht von Sekala und Niskala gegenüber störenden äußeren EinÁüssen aufrecht erhalten zu können. Dieses Ziel verfolgen die täglichen kleinen Rituale in jedem Haushalt ebenso wie regelmäßige Rituale für Autos, Computer, Bäume oder Tempel, und dem gleichen Ziel dienen Opfergaben, die genauso im Dorftempel zu Ànden sind wie in Supermarktregalen oder vor Shoppingzentren. Dieses rituelle Selbst- und Weltverständnis ist keineswegs Ausdruck privater Glaubenseinstellungen, es prägt auch den ofÀziellen politischen Umgang mit Katastrophen. So erfolgte das balinesische Krisenmanagement im Anschluss an die islamistischen Bombenanschläge auf Kuta und Jimbaran nicht nur am Leitfaden eines säkularen Pragmatismus, es war zugleich durchweg mit rituellen Handlungen verwoben: Zwar wurden selbstverständlich auch hier ‚die Toten‘ des Anschlags bestat-

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tet und ‚die Überlebenden‘ versorgt, die eigentlich zukunftsrelevante praktische Auseinandersetzung mit dem Geschehen erfolgte aus balinesischer Sicht jedoch durch eine Serie umfassender Rituale, die vom Gouverneur angeordnet worden waren, um die beschädigte Harmonie wiederherzustellen. Als erfolgreicher Mediator der balinesischen Bombenanschläge proÀlierte sich dabei bezeichnender Weise kein säkularer aufgeklärter Pragmatiker vom Typ eines de Carvalho e Mello, sondern eine Persönlichkeit, die instrumentelles und rituelles Handeln ebenso bruchlos zu verbinden verstand wie kosmologische Deutungen und szientistische Erklärungen: der heutige balinesische Gouverneur und damalige Polizeipräsident General Mangku Pastika. Pastika fahndete im Anschluss an die Bombenanschläge in einem internationalen Team mit australischen Kollegen nach den islamistischen Terroristen, von denen jede Spur fehlte. Trotz seiner Zusammenarbeit mit australischen Kollegen zögerte er nicht, sich lokaler Maßnahmen zu bedienen: Als die Ermittlungen ins Stocken gerieten, hinterließ Pastika seine Kollegen in der Hauptstadt Denpasar, um als Leiter der Ermittlungen auf dem heiligen Vulkanberg, dem Gunung Agung, Kontakt zu den Ahnen und Göttern zu suchen. Trotz internationaler Vernetzung und modernster Mittel erfolgte dabei die balinesische Katastrophenbewältigung ganz ofÀziell im Orientierungsrahmen der lokalen Kosmologie und mit Hilfe ritueller Praktiken: Der Polizeipräsident meditierte persönlich so lange in Balis Bergheiligtum Besakih, bis ihn seine Kollegen aus der Zentrale in Denpasar per Handy mit der unverhofften Nachricht überraschten, dass man – wider Erwarten – die Fahrzeugnummer des Tatautos in den verschmorten Trümmern des Explosionsareals gefunden habe. Der Rest war reine Routine, die javanischen Täter konnten zu ihrer eigenen Überraschung wenig später gefasst werden.28 Die Selbstverständlichkeit, mit der hier – auf höchster lokalpolitischer Ebene – die Logik international anerkannter Fahndungstechniken mit jener der lokalen Kosmologie, Ahnenverehrung und Ritualpraxis verwoben und dieser zugleich untergeordnet wurde, zeigt eindrucksvoll, dass der kosmologische Deutungsrahmen auf Bali trotz umfassender politischer Modernisierung und einschneidender Katastrophenerfahrung auch weiterhin anerkannt wird, und mehr als das: Pastikas Handlungsweise führt nicht nur eine Lokaltradition fort, sie bekräftigte durch ihren faktischen Erfolg aus balinesischer Sicht die objektive Überlegenheit des lokalen kosmologischen Deutungs- und Handlungsrahmens gegenüber einer rein säkularen und damit westlich-modernen Sicht der Dinge. Pastika selbst konnte dabei seine charismatische Autorität unter Beweis stellen, und so war seine Beförderung zum balinesischen Gouverneur nur eine Frage der Zeit.

28

Barton: Struggle, S. 9 f.

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IX. Katastrophendiskurs und Balinesische Modernisierungskrise: Abschließende Überlegungen Die Gegenüberstellung des europäischem und balinesischem Katastrophendiskurses fördert somit interessante Gemeinsamkeiten – vor allem aber auch Differenzen – zu Tage: Beide kristallisieren sich um vergleichbare Naturkatastrophen, doch obwohl die Zerstörungswirkung der beiden Tsunamis vergleichbar ist, und obwohl diese hier wie dort mit gesellschaftlichen Modernisierungskrisen zusammenfallen und eine umfassende Krisendiskussion auslösen, unterscheidet sich ihre diskursive Verarbeitung in wichtigen Punkten: Der europäische Katastrophendiskurs um das Erdbeben von Lissabon wird zum Präzedenzfall für die theoretische und pragmatische Privilegierung des modernen szientistisch-technologischen Naturkonzepts, und impliziert dabei die klare Trennung zwischen Naturkatastrophen und politischen Krisen, d. h. zwischen Natur und Geschichte: Nur noch metaphorisch assoziiert Friedrich Schlegel die Französische Revolution mit jenem ‚Erdbeben‘, das sich in Lissabon zugetragen hat.29 Die Naturkatastrophe verweist hier also auf keinen tieferen oder metaphysischen Zusammenhang zwischen Naturgeschehen und menschlicher Geschichte, sie mündet aber eben darin in einer Krise metaphysischer Weltdeutung. Ganz im Gegensatz dazu etabliert und bestätigt der öffentliche balinesische Krisen- und Katastrophendiskurs genau den kosmologischen Sinnzusammenhang zwischen Tsunami, Erdbeben, Vulkanausbrüchen und politisch-sozialer Krise. Er mündet darum – zumindest bisher – zwar durchaus im Bewusstsein einer bedrohlichen Krise, aber nicht in der Krise des kosmischen Weltentwurfs selbst. Ganz im Gegenteil zum Erdbeben von Lissabon wird die Bedrohung der eigenen Gegenwart auf Bali also gerade dadurch fassbar, dass sie im Rahmen lokaler Kategorien quasi ‚mythisch‘ oder kosmologisch als Übergewicht der materiellen Weltdimension (sekala) gegenüber den Wesen der unsichtbaren Welt (niskala) interpretiert und reÁektiert wird. Die tradierten kosmologischen Prinzipien erweisen sich dabei als integraleres Deutungsangebot gegenüber dem reduktionistischen Erklärungsmodell der Naturwissenschaft und werden deshalb von der Katastrophenerfahrung trotz und wegen des umfassenden Modernisierungsprozesses bestätigt. Daraus lässt sich schließen, dass die in Lissabon erkennbare Entwicklung zum säkularen modernen Weltbezug kein universelles Paradigma bildet. Der balinesische Katastrophen- und Krisendiskurs eröffnet ganz andere Bahnen der Modernisierung, aber auch ein anderes Modell der Katastrophen- und Krisenbewältigung: 29

Als einsames Gegenbeispiel mag Friedrich Hölderlins poetische Deutung der französischen Revolution als eines Naturereignisses gelten: „die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht“ (Wie wenn am Feiertage …, . – Siehe Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 254). Diese – in seinen eigenen Kategorien – „mythische“ Deutung der Geschichte als eines Geschehens, das dem autonomen Subjekt wesenhaft entzogen ist und darin naturhaft ebenso wie politisch, macht gerade die unzeitgemäße Position des Hölderlin’schen Denkens im Kontext der Aufklärung aus – und dies erklärt zugleich, weshalb der Dichter und sein Denken konsequent marginalisiert wurden.

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Statt der Alternative von straftheologischen und szientistischen Erklärungen erlaubt das Balancemodell zwischen Sekala und Niskala eine Áexible Integration – keine Exklusion – kosmologischer und szientistischer Deutungsansätze, deren logische Entgegensetzung systematisch vermieden wird. Dabei setzt die Deutung von Katastrophen als Zeichen eines verlorenen kosmischen Gleichgewichts allerdings die Privilegierung lokaler Kosmologien voraus, da nur diese in der Lage sind, politische, soziale und religiöse Krisen mit Naturkatastrophen sinnhaft zu vermitteln, indem beide als Folge eines übermächtigen modernen Materialismus gedeutet und kritisiert werden. Auf dieser Basis erscheint abschließend eine partielle Revision von Turners Ritual- und Krisentheorie erforderlich. Problematisch ist daran v. a. die Gegenüberstellung von starrer Tradition und kritisch-moderner Gesellschaft: Ritual und Theater, die von der Vorstellung ausgeht, dass eine kollektive rituelle Krisenbewältigung nur in homogenen vorindustriellen Gesellschaften zu Ànden sei, im Verlauf der Modernisierung jedoch durch pluralistische und reÁexive Deutungen ersetzt werde. Der balinesische Krisendiskurs verweist jedoch durch seine Áexible und integrale Komplexität in eine andere Richtung: Er liefert den Rahmen für eine Krisenbewältigung, die zugleich kosmologisch verankert und rituell gestaltet ist, aber dabei Modernisierung keineswegs aus- sondern einschließt. Die rituelle Krisenbewältigung erfolgt hier nicht auf der Basis eines geschlossenen starr konservierten Traditionsrahmens, sie schließt ihrerseits eine reÁexive Kritik am Geltungsanspruch des eurozentrischen Materialismus ein, die hier in den Kategorien der lokalen Kosmologie erfolgt. Der balinesische Katastrophendiskurs verteidigt darum nicht nur die metaphysischen Deutungsangebote der lokalen Kosmologie, er entwickelt darüber hinaus eine speziÀsch balinesische Gegenwartskritik, die das einseitig materialistische Weltbild der Moderne als eurozentrisch verengte Weltsicht in die eigene Kosmologie und Praxeologie integriert. Auch wenn der Katastrophendiskurs auf Bali mit einer diskursiven Modernisierungskrise einhergeht, kulminiert diese also nicht im eurozentrischen Bruch zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘, sondern in der kosmologischen Kritik am intellektuellen Hegemonialanspruch westlicher Modernisierung. Literatur Anderson, Benedict: The Idea of Power in Javanese Culture, in: Culture and Politics in Indonesia, hg. von Claire Holt, London 1972, S. 1–69. Bacon, Francis: Nova Atlantis, o. O. 1627. Barton, Greg: Indonesia’s struggle. Jemaah Islamiyah and the soul of Islam, Sydney 2004. Breidert, Wolfgang (Hg.): Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994. Dietzsch, Steffen: Denken und Handeln nach der Katastrophe. Pombal und Kant als Meister der Krise, in: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. von Gerhard Lauer und Thorsten Unger, Göttingen 2008, S. 258–274. Eisenstadt, Shmuel Noah: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. Evans-Pritchard, Edward E.: Witchcraft, Oracles, and Magic among the Azande, Oxford 1937.

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Frömming, Urte Undine: Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung, Frankfurt a. M. 2006. Gisler, Monika: Optimismus und Theodizee. Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne und seine frühe Rezeption, in: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. von Lauer, Gerhard und Thorsten Unger, Göttingen 2008, S. 230–243. Gluckman, Max: Order and Rebellion in Africa, London 1963. Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit, Bd. 9, München 1978. Hannerz, Ulf: Transnational connections. Culture, people, places, London 1996. Hellwig, Marion: „Alles ist gut.“ Zur Bedeutung einer Theodizee-Formel bei Pope, Voltaire und Hölderlin, in: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. von Lauer, Gerhard und Thorsten Unger, Göttingen 2008, S. 216–229. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1978. journal-ethnologie, Frankfurt a. M. 2007, URL: http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Aktuelle_Themen/Aktuelle_Themen_2007/Wayang_Wong:_Zu_Aesthetik_und_Politik_des_javanischen_Tanzdramas/index.phtml (09.05.2012). Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1978. Lauer, Gerhard und Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008. LöfÁer, Ulrich: Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin 1999. Marquard, Odo: Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie, in: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. von Lauer, Gerhard und Thorsten Unger, Göttingen 2008, S. 205–215. Picard, Michel: Bali. Cultural tourism and touristic culture, Singapore 1996. Schlegel, Friedrich: Werke in Zwei Bänden, Bd. 1, Berlin 1980. Schneider, Florian: „Lissabon, hattest du denn an Lastern so viel?“. Voltaires poetische Erdbebendarstellungen, Norderstedt 2004. Turner, Victor W.: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969. Turner, Victor W.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1989. Wimmer, Andreas: Kultur als Prozess. Zur Dynamik des Aushandelns von Bedeutungen, Wiesbaden 2005.

KRISE ALS ERZÄHLUNG UND METAPHER: LITERATURWISSENSCHAFTLICHE BAUSTEINE FÜR EINE METAPHOROLOGIE UND NARRATOLOGIE VON KRISEN1 Ansgar Nünning 1. Krise als Metapher und Erzählung – ein verbreitetes, aber unerforschtes Phänomen: Zum deÀzitären Forschungsstand und zur Zielsetzung Krisen spielen bekanntlich nicht nur in der Literatur als Thema, Erzählmuster und Höhepunkt der Handlung eine wichtige Rolle, sondern sie sind inzwischen – wie der vorliegende Band beispielhaft dokumentiert – auch in unterschiedlichen Disziplinen zu einem Leitbegriff avanciert. Während es sich allerdings bei Krisen in den letzten Jahren um ein so verbreitetes Phänomen handelt, das man inzwischen in unserer Medienkulturgesellschaft getrost von einer regelrechten KriseninÁation sprechen kann, ist der Begriff ‚Krise‘ bislang ein noch nicht hinreichend deÀniertes oder erforschtes Konzept. Abgesehen von zwei bis heute unübertroffenen begriffsgeschichtlichen Lexikonartikeln von Reinhart Koselleck2 und einem grundlegenden interdisziplinären Pionierband zum Thema „Krisis“3 mangelt es bislang vor allem an Forschungsbeiträgen, die Krisen aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive – insbesondere als Metapher und als eine bestimmte Art von Erzählung – untersuchen. Wenn einem im Rahmen eines interdisziplinären Bandes zum Thema „Krisengeschichte(n): ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ die Aufgabe zufällt, Grundzüge einer Metaphorologie und Narratologie der Krise zu skizzieren, dann wird man bei seinen Recherchen zunächst einmal mit einem scheinbar paradoxen Befund konfrontiert: Auf der einen Seite liegt es auf der Hand, dass Krisen jedweder Provenienz nicht nur in den gro1

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Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung eines Aufsatzes (Nünning: Narratologie, S. 48–71), der zuerst in dem Band Grunwald und PÀster (Hg.): Krisis erschienen ist. Außerdem habe ich auf einige Überlegungen zurückgegriffen, die ich in zwei englischsprachigen Aufsätzen ausgeführt habe (vgl. Nünning: Steps, S. 229–262; Nünning: Making Crisis). Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des interdisziplinären Symposiums, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist, sowie einigen internationalen Kollegen, die mir im Rahmen der European Summer School in Cultural Studies 2009 in Kopenhagen zum Thema „The Cultural Life of Catastrophes und Crises“ Feedback gegeben haben, danke ich herzlich für wertvolle Anregungen, die mein metaphorologisches und narratologisches Modell von ‚Krise‘ und von ‚Krisengeschichten‘ differenziert und vor allem meine Einschätzung der Ereignishaftigkeit von Krisen deutlich verändert haben. Vgl. vor allem Koselleck: Krise, S. 617–650. Vgl. Grunwald und PÀster: Krisis.

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ßen Werken der Weltliteratur und den Erzählungen der Massenmedien, sondern auch in einer Vielzahl historiographischer Werke sowie in den Diskursen und Forschungsbeiträgen weiterer Disziplinen – etwa vor allem der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft – eine zentrale Rolle spielen. Auf der anderen Seite gibt es zu den Themen „Metaphorologie der Krise“ und „Narratologie der Krise“ noch kaum wissenschaftlichen Vorarbeiten, auf die man im Sinne von Anschlussforschung aufbauen könnte. Eine weltweite mediale KriseninÁation kontrastiert somit zumindest in den Literatur- und Kulturwissenschaften mit einer erstaunlichen Zurückhaltung, dieses offenbar ubiquitäre Phänomen wissenschaftlich genauer zu erforschen. Blickt man z. B. auf das Verhältnis von literarischer Praxis und derzeitigem Forschungsstand der Erzähltheorie, so bestätigt sich der Eindruck, dass Krisenerzählungen zwar ein weit verbreitetes, aber weitgehend unerforschtes Phänomen sind. Während die Weltliteratur „immer schon einen Großteil ihrer Stoffe aus Krisen genommen“4 hat und literarisches Krisenbewusstsein insbesondere im 20. Jahrhundert geradezu zu einem grundlegenden „Perzeptions- und Produktionsmuster“5 avanciert ist, kann man den deÀzitären Forschungsstand der Narratologie in dieser Hinsicht mit einem Satz zusammenfassen: Eine ausgearbeitete Narratologie der Krise gibt es bislang trotz einiger Vorarbeiten nicht. Selbst in neuesten Forschungsbeiträgen6 und Enzyklopädien der Erzähltheorie, die sich – wie etwa die Routledge Encyclopedia of Narrative Theory7 – um eine umfassende Bestandsaufnahme aller erzähltheoretisch relevanten Konzepte bemühen, sucht man bezeichnenderweise vergeblich nach Einträgen zum Thema ‚Krise‘ bzw. ‚crisis‘. Nicht viel besser ist es um eine „Metaphorologie“ der Krise bestellt. Wer etwa im ansonsten vorzüglichen Wörterbuch der philosophischen Metaphern nachsehen möchte,8 was es mit der Metapher ‚Krise‘ auf sich hat, wird das Nachsehen haben. Selbst der Begründer der Metaphorologie, Hans Blumenberg, und jüngere Repräsentanten der BlumenbergSchule (z. B. Rüdiger Zill) haben sich meines Wissens in ihren ansonsten wegweisenden Arbeiten nicht mit der Metapher der Krise beschäftigt. Nicht viel anders sieht der Forschungsstand in anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen aus, die sich selbst bei der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise mit wissenschaftlichen Analysen oder Studien erstaunlich zurückgehalten haben. Der vorliegende Band setzt sich somit mit einem Kulturthema ersten Ranges auseinander, von dem für eine breitere Öffentlichkeit eine große Faszination auszugehen scheint, während die Wissenschaften selbst, insbesondere die Kulturwissenschaften, ihm bislang nicht die Aufmerksamkeit geschenkt haben, die das Thema allein schon aufgrund seiner gesellschaftlichen bzw. medialen Relevanz eigentlich verdient. 4 5 6 7 8

Bullivant und Spies: Vorwort, S. 7. Vgl. den Untertitel des von Bullivant und Spies herausgegebenen Bandes. Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl anderer Studien z. B. die ansonsten wegweisende Monographie von Herman: Story. Herman, Jahn und Ryan (Hg.): Encyclopedia. Vgl. Konersmann (Hg.): Wörterbuch.

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Aus diesem bemerkenswerten Missverhältnis zwischen der großen Bedeutung und Verbreitung von Krisengeschichten und dem deÀzitären Forschungsstand leitet sich das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes ab, der vor allem vier Ziele verfolgt: Ausgehend von der Leitfrage, wie Situationen, Begebenheiten oder Vorfälle eigentlich zu Krisen (gemacht) werden, soll zunächst geklärt werden, was unter einer ‚Krise‘ eigentlich genau zu verstehen ist. Zu diesem Zweck werden in den ersten beiden Abschnitten dieses Beitrags einige Vorschläge zur begrifÁichen Differenzierung unterbreitet, die m. E. notwendig sind, um überhaupt mit der nötigen terminologischen Präzision über das Phänomen ‚Krise‘ wissenschaftlich sprechen zu können und es von ähnlichen Phänomenen, etwa dem der ‚Katastrophe‘, abgrenzen zu können. Das zweite Ziel besteht darin, einige Bausteine zu einer Narratologie der Krise zu skizzieren und die – in der Erzählforschung bislang nicht einmal gestellten – Fragen zu klären, wie aus einem Geschehen eine Krise gemacht wird und wodurch sich Krisenplots im Einzelnen auszeichnen. Damit verlagert sich das Interesse von dem fertigen Produkt, also der Krise selbst bzw. der oftmals unbefragt akzeptierten Krisendiagnose, auf den Konstruktionsprozess, auf die narrativen Diskursstrategien, mithilfe derer Krisen und Krisenszenarien überhaupt erst konstituiert werden. Diesen Konstruktionsprozess mithilfe terminologischer Differenzierungen, narratologischer Konzepte und einer Analyse des Bildfeldes der Krisenmetapher zu erhellen, ist das Hauptziel dieses Beitrags. Wie der Titel dieses Beitrags bereits signalisiert, geht es drittens darum, die metaphorischen Implikationen von ‚Krise‘ und die Komponenten des damit aufgerufenen Bildfelds herauszuarbeiten. Viertens soll schließlich die Frage erörtert werden, welche Funktionen die verbreiteten metaphorischen Redeweisen von ‚Krisen‘ und die in den Medien ubiquitären Krisengeschichten vor allem erfüllen. Im Zentrum des Aufsatzes steht also die Frage, welchen Beitrag die Narratologie, also die Theorie des Erzählens, und die Metapherntheorie leisten können, um jenen Prozess zu erhellen, an dessen Anfang irgendein Geschehen und an dessen Ende das steht, was man gemeinhin eine ‚Krise‘ nennt. Zu diesem Zweck sollen mithilfe einiger Schlüsselbegriffe der Erzähltheorie und der Metapherntheorie Bausteine einer Narratologie und Metaphorologie der Krise entwickelt werden (Abschnitte 3 bzw. 4). Ein kurzer Ausblick auf die Funktionen, die die Thematisierung und Inszenierung von Krisen und Krisenplots in den Medien erfüllen können, bildet den Abschluss dieses Aufsatzes (Abschnitt 5), bei dem es sich eigentlich um einen ‚Essay‘ (im ursprünglichen Sinne des Wortes, also um einen Versuch) handelt. 2. Vorüberlegungen zum Begriff der Krise als „travelling concept“, oder: Wie aus einem „Schlagwortpopanz“ ein Erzählmuster, eine heuristische Metapher oder ein deÀniertes Konzept werden kann Bereits die mediale Proliferation von immer neuen Krisen lässt kaum einen Zweifel daran, dass es sich dabei nicht um neutrale oder gar objektive Situationsbeschreibungen handelt, sondern um perspektiven- und medienabhängige Zuschreibungen bzw. Diagnosen. Diese beruhen wiederum auf einem zeitspeziÀschen Wahrneh-

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mungsmodus bzw. einer Diskursstrategie, für die ‚Krise‘ das mediale Gegenstück zur uninteressanten Normalität alltäglicher Situationen geworden ist. Man braucht kein radikaler Konstruktivist zu sein, um der Auffassung zuzustimmen, dass die mediale Redeweise von ‚Krisen‘ bestimmte Situationen und Geschichten überhaupt erst zu Medienereignissen macht. Die KriseninÁation in unserer Medienkulturgesellschaft, die ich an anderer Stelle schlaglichtartig zu skizzieren versucht habe,9 bestätigt in jedem Fall die Ansicht von Renate Bebermeyer, dass dieser Begriff von den Medien „zum Schlagwortpopanz aufgebaut und aufgebauscht“10 worden ist: „die Gewöhnung an die Allgegenwart der verbalen Krise schafft einen gewissen ‚Konsens-Hintergrund‘, vor dem der Krisengemeinplatz kritiklos hingenommen wird […]. [J]eder kann sich sein Krisenteil dabei denken und im ihm verfügbaren Krisensortiment nach Passendem suchen: die Krise zum Aussuchen“.11 Die KriseninÁation hat inzwischen sogar eigene Genres hervorgebracht: zum einen das Genre der „Worte zur Krise“12, zum anderen die „Immer mehr …“-Texte: „Immer mehr Menschen leiden unter Allergien; immer mehr Jugendliche nehmen Drogen; etc.“ Kurzum: Wenn man die bei diesem Thema ja naheliegende Krankheitsmetaphorik bemühen möchte, scheinen unsere Medien, unsere Gesellschaft und auch der Durchschnittsbürger alle vom „unbekannten Krisenvirus befallen“13; die Krisenkrankheit hat inzwischen epidemische Ausmaße erreicht. Einer der Hauptgründe dafür ist die in „seiner DeÀnitions-Mangelsituation begründete Immunschwäche“14 dieses „anfälligen, inhaltslabilen“15 Begriffs selbst. Eine wirkungsvolle Therapie für die Krisenepidemie ist nicht in Sicht: „Weiterhin wird also mit ungeeichtem Krisenthermometer gemessen werden, wird die Mediensprache jeden leichten Schnupfen als Krankheit mit Krisenhöhe- und -entscheidungspunkt diagnostizieren“16. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, wie aus einem solchen „Schlagwortpopanz“ eine heuristische Metapher oder gar ein deÀniertes Konzept werden kann. Vergleicht man die verschiedenen disziplinären Krisenkonzepte, so wird deutlich, dass der Begriff der Krise eines jener „travelling concepts“17 ist, die in mehrfacher Hinsicht Grenzen überschreiten: erstens die Grenzen zwischen Disziplinen, zweitens die Grenzen zwischen historischen Epochen, in denen jeweils unterschiedliche Verwendungsweisen des Wortes ‚Krise‘ zu beobachten sind,18 drittens die Grenzen zwischen nationalspeziÀschen Forschungskulturen sowie vier9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Zu dieser InÁation und Proliferation medial thematisierter, inszenierter oder konstruierter Krisen und zum Umgang mit Krisen in der Medienkulturgesellschaft vgl. Nünning: Narratologie, S. 48–71, hier vor allem S. 52 f. Bebermeyer: Krise, S. 347. Ibid., S. 348. Ibid., S. 351. Ibid., S. 349. Ibid., S. 355. Ibid. Ibid., S. 356. Vgl. Bal: Concepts. Vgl. dazu die Beiträge in dem Band von Grunwald und PÀster (Hg.): Krisis.

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tens die Grenzen zwischen den in der Gesellschaft und den Medien vorherrschenden Diskursen und den Fachsprachen der Wissenschaft. Bei jeder dieser Grenzüberschreitungen verändert sich die Semantik des Begriffes, wobei es sowohl zu einer Metaphorisierung als auch zur terminologischen Präzisierung kommen kann: Ein in einer bestimmten Disziplin klar deÀniertes Konzept von Krise – etwa der Krisenbegriff der Ökonomie – kann somit in einer anderen Disziplin (z. B. der Literaturwissenschaft) bloß metaphorisch verwendet werden, während das Wort ‚Krise‘ in den Medien längst zum „Schlagwortpopanz“19 verkommen ist. Die täglich in den Medien zu beobachtende KriseninÁation verdeutlicht bereits, dass der Zustand der Krise heutzutage offenbar allem und jedem attestiert werden kann und dass die Verwendung desselben Begriffs nicht darüber hinwegtäuschen darf und sollte, dass wir es in den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen jeweils mit ganz unterschiedlichen Situationen zu tun haben. Anstatt eine Anatomie oder Phänomenologie einer dieser unzähligen Krisen zu versuchen, stellt sich aus narratologischer Sicht vor allem die Frage, was für ein Erzählmuster sich eigentlich hinter all diesen teils realen, teils medial inszenierten Krisen verbirgt. 3. Bausteine für eine Narratologie der Krise (und der Katastrophe), oder: Wie aus einer Situation ein Ereignis und eine Geschichte des Typs ‚Krise‘ oder des Typs ‚Katastrophe‘ konstruiert werden Bei dem Versuch, eine Narratologie der Krise zu entwickeln, ist man mit dem Problem konfrontiert, dass es dazu so gut wie keine Vorarbeiten gibt, an die sich anschließen ließe. Die Probleme beginnen bereits mit den Schlüsselbegriffen der Krise und des Ereignisses, deren Bedeutung auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein scheint: Intuitiv weiß wohl jede und jeder, was ein Ereignis und was eine Krise ist. Warum also sollte man sich der Mühe unterziehen, diese Begriffe wissenschaftlich zu deÀnieren? Ganz einfach: weil nichts weniger selbstverständlich und so voraussetzungsreich ist wie die Konzepte des Ereignisses und der Krise. Unter Rückgriff auf den in der Narratologie explizierten Ereignisbegriff, der für die Frage nach der Konstruktion von Krisen (und Katastrophen) von Interesse ist, soll im Folgenden gezeigt werden, wie man dieses Konzept genauer fassen kann und durch welche Merkmale sich Krisen und Katastrophen unterscheiden lassen. Ebenso wie andere Ereignisse sind nämlich auch Krisen (und Katastrophen) stets Ergebnisse von Selektion, Abstraktion und Auszeichnung. In Anknüpfung an die alltagssprachliche Bedeutung von ‚bedeutsame Begebenheit‘ oder ‚bedeutsames Geschehen‘ und die wegweisenden Arbeiten von Karlheinz Stierle20 unterscheidet die Narratologie zunächst einmal zwischen dem chaotischen und kontingenten Geschehen als der Totalität aller Begebenheiten und dem Ereignis als einem als besonders relevant und bedeutsam angesehenen Teil davon. Ebenso wie bei dem 19 20

Bebermeyer: Krise, S. 348. Vgl. Stierle: Geschehen, S. 49–55.

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emphatischen Ereignisbegriff der Narratologie21 geht es auch bei Krisen und Katastrophen nicht um alltägliche Vorfälle, sondern um Begebenheiten, denen kollektiv ein hohes Maß an Relevanz sowie große Tragweite zugeschrieben wird. Die Konstitution eines solchen Ereignisses und einer Krisensituation beruht somit darauf, dass beide aus dem kontinuierlichen Fluss des Geschehens herausgegriffen und als etwas Besonderes oder Überraschendes qualiÀziert werden; sie beruht also auf der Selektion und Auszeichnung durch Beobachter. Dass dabei immer ein hohes Maß an Abstraktion im Spiel ist, hat Claude Lévi-Strauss in dem sehr lesenswerten letzten Kapitel seines Buches Das wilde Denken sehr anschaulich umschrieben, anhand des Begriffes der historischen Tatsache, auf den man z. B. in dem Nachschlagewerk Handbuch der Geschichtsdidaktik verwiesen wird, wenn man sich über den Ereignisbegriff informieren möchte: Denn der Hypothese zufolge ist die historische Tatsache das, was wirklich geschehen ist; aber wo ist etwas geschehen? Jede Episode einer Revolution oder eines Krieges löst sich in eine Vielzahl psychischer und individueller Bewegungen auf […]. Infolgedessen ist die historische Tatsache nicht mehr ‚gegeben‘ als die anderen; der Historiker oder der Agent des historischen Werdens konstituiert sie durch Abstraktion und gleichsam unter der Drohung eines unendlichen Regresses.22

Ereignisse und Krisen beruhen somit nicht nur stets auf Selektion, sondern auch auf einem hohen Maß an Abstraktion. Jedes transnationale Medienereignis und jede als ‚Krise‘ etikettierte zugespitzte Situation besteht selbst aus einer Vielzahl von (vorausgegangenen) Handlungen, Zustandsveränderungen und Ereignissen, die dann unter einem verallgemeinernden Oberbegriff wie ‚Krise‘ zusammengefasst werden. Die Konstitution eines Ereignisses vom Typ ‚Krise‘ ist somit eine Art Auszeichnung, die impliziert, dass das Wesentliche herausgehoben und das Unwesentliche vernachlässigt wird. Allein schon deshalb sind Kriterien erforderlich, mit deren Hilfe man sich darüber verständigen kann, wann ein historisches Geschehen als Ereignis oder gar als so ‚großes‘ Ereignis oder entscheidende Situation wahrgenommen wird, dass wir von einer Krise – oder einer Katastrophe – sprechen können. Bei Krisen handelt es sich insofern um eine ganz besondere Art des Ereignisses bzw. eigentlich des Nicht-Ereignisses, als diese – schon von ihrer Etymologie her – genau den kritischen Punkt bezeichnen, an dem sich entscheidet, welcher von mehreren möglichen Verläufen des Geschehens eintreten wird.23 Krisen stellen somit zwar nicht selbst ein besonders ereignishaftes Geschehen dar, aber in der Regel ist ihnen ein solches vorausgegangen. Wenn von Krisen die Rede ist, so handelt es sich um eine bestimmte Form von Situationsbeschreibung bzw. Diagnose, die in der Regel besonders ereignishaftes und als bedeutsam eingestuftes Geschehen voraussetzt. Da die Narratologie Kriterien bietet, um den Begriff des ‚Ereignisses‘ von dem des ‚Geschehens‘ abzugrenzen und um verschiedene Grade von ‚Ereignishaftigkeit‘ zu unterscheiden, liefert sie zugleich Anhaltspunkte, um den Begriff der Krise 21 22 23

Vgl. Schmid: Elemente, S. 19–26. Lévi-Strauss: Denken, S. 296. Für diesen wichtigen Hinweis möchte ich Manfred PÀster und Sabine Schülting (FU Berlin) herzlich danken.

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zu präzisieren und ihn von anderen Begriffen, an die man im Kontext von „cultures of disaster“ denkt, abzugrenzen. Das Ereignis wird in der Narratologie deÀniert als „eine Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt“.24 Der Sprecher der Hamburger Forschergruppe Narratologie, Wolf Schmid, hat meines Wissens in seinem zuerst auf Russisch erschienenen Buch Narratologija erstmals einen Katalog von Kriterien bzw. Grundbedingungen erstellt, die eine Zustandsveränderung erfüllen muss, um als ‚Ereignis‘ wahrgenommen und ausgezeichnet zu werden. Schmid zufolge sind Ereignisse zu deÀnieren als Zustandsveränderungen, die zunächst zwei notwendige Bedingungen erfüllen müssen, nämlich Faktizität bzw. Realität und Resultativität.25 Mit dem Kriterium der Realität werden Ereignisse von bloß subjektiven Wünschen, Träumen oder Imaginationen abgegrenzt, eine Unterscheidung, die insbesondere im Rahmen der Theorie möglicher Welten bzw. possible-worlds theory weiter differenziert worden ist. Das Kriterium der Resultativität impliziert die Forderung, dass Ereignisse in der narrativen Welt nicht nur begonnen, sondern auch zum Abschluss gebracht werden. Den Grad an Ereignishaftigkeit versucht Schmid sodann an folgenden fünf Merkmalen zu bemessen, die zugleich das Phänomen der Krise sowie die Unterschiede zwischen Krisen und Katastrophen erhellen können: 1. Relevanz der Veränderung (bzw. Bedeutsamkeit): „Die Ereignishaftigkeit steigt in dem Maße, wie die Zustandsveränderung in der jeweiligen narrativen Welt als wesentlich empfunden wird.“26 2. Imprädikabilität (bzw. Nicht-Erwartbarkeit, Unvorhersagbarkeit): „Die Ereignishaftigkeit steigt mit dem Maß der Abweichung von der narrativen ‚Doxa‘, dem in der jeweiligen Welt allgemein Erwarteten. Ein Ereignis […] besteht im Bruch einer Erwartung.“27 Es geht dabei nicht um kulturelle Handlungserwartungen oder kognitive Schemata des Lesers, sondern der Bezugspunkt ist im Falle Àktionaler Erzählungen die Welt der Figuren. 3. Konsekutivität (bzw. ‚Folgelastigkeit‘) der Veränderung: „Die Ereignishaftigkeit einer Zustandveränderung steigt in dem Maße, wie die Veränderung im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat.“28 4. Irreversibilität (bzw. Unumkehrbarkeit): „Die Ereignishaftigkeit nimmt zu […] mit der Unwahrscheinlichkeit, daß der erreichte Zustand rückgängig gemacht wird.“29 5. Non-Iterativität (bzw. Nicht-Wiederholbarkeit): „Veränderungen, die sich wiederholen, konstituieren, selbst wenn sie relevant und imprädiktabel sind, bestenfalls nur geringe Ereignishaftigkeit.“30 24 25 26 27 28 29 30

Schmid: Elemente, S. 21. Vgl. zum folgenden Schmid: Elemente, S. 21–26. Ibid., S. 22. Ibid. Ibid., S. 24. Ibid., S. 25. Ibid., S. 26.

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Diese narratologischen Merkmale von Ereignishaftigkeit stimmen weitgehend mit denen überein, die in der Geschichtstheorie angeführt werden. Damit eine bestimmte Situation oder Handlungssequenz von bloßem Geschehen abgegrenzt und als besonderes Ereignis wahrgenommen und ausgezeichnet wird, muss sie die folgenden drei Kriterien erfüllen: erstens das Überraschungsmoment bzw. das Außergewöhnliche: „die vorsprachliche Erfahrung der Zeitgenossen, dass das, was vorgefallen ist, die Vorstellung erschüttert“31. Zweitens müssten „die Maßstäbe, an denen normale von ‚erschütternden‘ oder ‚überraschenden‘ Erfahrungen zu unterscheiden sind, kollektiver Natur“32 sein. Im Unterschied zu bloßem Geschehen müssen Krisen – ähnlich wie Ereignisse – drittens „strukturverändernde Folgen“ haben, „die von den Akteuren wahrgenommen werden“33. Während das erste Kriterium in etwa dem der Relevanz bzw. Bedeutsamkeit der Veränderung in Schmids Katalog entspricht, korrespondiert das dritte dem der Konsekutivität bzw. Folgelastigkeit. Auf der Grundlage dieser Kriterien für Ereignishaftigkeit, die in der Narratologie und der Geschichtstheorie expliziert worden sind, wird jedoch relativ schnell deutlich, dass es sich bei dem Phänomen der Krise keineswegs um ein sonderlich ereignishaftes Geschehen handelt: So erfüllen Krisen weder das Kriterium der NonIterativität noch das der Imprädikabilität, denn bekanntlich wiederholen sich Krisen und sind allein schon deshalb sehr wohl erwartbar und bis zu einem gewissen Grad auch vorhersagbar. Daher trifft auch das Kriterium der Irreversibilität auf Krisen nicht wirklich zu. Auch hinsichtlich der Relevanz der Zustandsveränderung und ihrer Folgelastigkeit handelt es sich bei Krisen keineswegs um eine Art von Geschehen, das man typischerweise als besonders ereignishaft bezeichnen würde. Krisen sind vielmehr insofern eine sehr spezielle Form von Ereignis bzw. eigentlich von Nicht-Ereignis, als sie genau jenen Wendepunkt markieren, an dem eine Entscheidung über den Fortgang der Entwicklung oder Handlung ansteht. Es handelt sich bei Krisen somit eher um eine Latenzperiode bzw. um eine Phase der Suspendierung von Ereignishaftigkeit, bei der ein Wandel bevorsteht, sich aber noch nicht vollzogen hat: „At the turning point an old order is lost and a new one has yet to arrive“34. Obgleich sich Krisen somit nicht selbst durch einen besonders hohen Grad an Ereignishaftigkeit auszeichnen, geht ihnen in der Regel eine Phase sehr ereignishaften Geschehens voraus. Sie markieren eine besondere Art von Wendepunkt, „a suspension, a hiatus, the summer or winter solstice of the intellect“35. Da diese narratologischen Merkmale präzise Kriterien für die Auswahl von QualiÀzierung und besonders ‚ereignishaften‘ Begebenheiten nennen, geben sie zugleich Anhaltspunkte dafür, wann ein Geschehen als Krise wahrgenommen wird und wann nicht. Zugleich bieten diese Kriterien zur Bestimmung von Ereignishaftigkeit 31 32 33 34 35

Suter und Hettling (Hg.): Struktur, S. 24; zu den ähnlichen Kriterien für Ereignishaftigkeit, die in der jüngsten Debatte um den Ereignisbegriff in der Sozialgeschichte formuliert worden sind, vgl. ibid., S. 24–25. Ibid., S. 24. Ibid., S. 25. Brown: Points, S. 8. Ibid.

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damit vielfältige Ansatzpunkte, um die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede, die zwischen Krisen und Katastrophen bestehen, genauer herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund der bislang eingeführten DeÀnitionen des Ereignisbegriffes und der Kriterien für die Bestimmung von Ereignishaftigkeit lassen sich zunächst einmal vier grundlegende Gemeinsamkeiten von Krisen und Katastrophen festhalten: Erstens wird deutlich, dass weder Krisen noch Katastrophen etwas objektiv Gegebenes oder Naturwüchsiges sind. Vielmehr sind sie einerseits als das Ergebnis von Selektion, Abstraktion und Auszeichnung, mithin als diskursiv erzeugte Konstrukte, zu begreifen. Andererseits handelt es sich offensichtlich nicht um völlig willkürliche Zuschreibungen, da eine relativ ereignisarme Situation, die als ‚Krise‘ diagnostiziert wird, ebenso bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss wie ein ereignishaftes Geschehen, das als Katastrophe wahrgenommen wird. Zweitens braucht man kein Konstruktivist oder Diskurstheoretiker zu sein, um die bislang formulierten Bedingungen und Kriterien durch das Merkmal der Konstruktivität um ein weiteres ergänzen zu wollen: die Diskursivität von Krisen (bzw. Krisendiagnosen) und Katastrophen. Ein Geschehen wird erst dadurch zu einer Krise oder einer Katastrophe, dass es sich in Diskursen und Geschichten niederschlägt.36 Die Konstruktivität von Krisen und Katastrophen gründet darin, dass sie nicht einfach vorgegeben oder ‚da‘ sind, sondern von den Menschen und Medien, die darüber berichten, gemacht werden. Eine Krise ist aufgrund dieser Konstruktivität und Diskursivität stets abhängig von dem Begriffssystem, den Konventionen und den Diskursen der jeweiligen Epoche und der Medien, in denen die Krisendiagnosen formuliert werden. Drittens handelt es sich sowohl bei Krisen als auch bei Katastrophen um Metaphern und Narrative, wie in den weiteren Ausführungen noch genauer zu zeigen sein wird. Da Krisen und Katastrophen Teil von Geschichten sind, implizieren beide Konzepte immer auch bestimmte Verlaufsstrukturen und sagen somit zugleich implizit etwas darüber aus, was dem gegenwärtigen Zustand vorausgegangen sein muss. Somit beziehen sich beide Konzepte auf signiÀkante und entscheidende Wendepunkte, die eine Zäsur markieren. Aus der Diskursivität und der Konstruktivität von Krisen und Katastrophen leitet sich viertens eine weitere Gemeinsamkeit ab, deren kulturelle und historische Variabilität. Nicht nur, was jeweils als besonders ereignishaft, sondern auch was als krisenhaft oder als charakteristisch für eine Katastrophe gilt, ist nicht ein für alle Mal deÀnierbar, sondern abhängig von den jeweiligen Relevanzkriterien, und diese unterliegen historischem Wandel und sind kulturell unterschiedlich. Das heißt auch, dass das, was aus heutiger Sicht als ‚großes‘ Ereignis der Geschichte, als ‚Krise‘ oder als ‚Katastrophe‘ gilt, keineswegs auch aus der Perspektive der Akteure bereits so wahrgenommen worden sein muss. Umgekehrt sind nicht wenige frühere Medienereignisse und Krisen heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Bereits Lotman formulierte die wegweisende Einsicht, dass „die QualiÀzierung eines Faktums als Ereignis abhängig ist von dem System […] der Begriffe“ der jeweiligen 36

Vgl. Schmidt: Geschichten.

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Epoche und dass sie stets „nach Maßgabe des allgemeinen Weltbildes“37 erfolgt. Wenn Ereignishaftigkeit somit als „ein kulturell speziÀsches und historisch veränderliches Phänomen narrativer Repräsentationen“38 aufzufassen ist, dann gilt das gleiche auch für Krisen und Katastrophen. Die einer Epoche oder Kultur zur Verfügung stehenden Krisen-Plots sind ihrerseits Teil der jeweiligen Wirklichkeitsmodelle bzw. Kulturprogramme: Krisenerzählungen lassen sich somit konzeptualisieren als eine bestimmte Form von narrativen Ordnungs- und Sinnstiftungsmustern bzw. als „Kulturbeschreibungen“, die ihrerseits „immer auf Beschreibungskulturen“39 verweisen. Der rapide Anstieg von medial thematisierten und inszenierten Krisen, der oben als ‚KriseninÁation‘ bezeichnet worden ist, ist ein deutlicher Indikator dafür, dass sich die Beschreibungskulturen der Gegenwart signiÀkant von denen früherer Jahrhunderte unterscheiden. Im Übrigen bietet allein schon die Abfolge der Beiträge in dem von Grunwald und PÀster herausgegebenen Band einen anschaulichen Beleg für die These, dass nicht nur unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch jede Epoche und jede Kultur ihre jeweils eigenen Beschreibungskulturen und Krisenmodelle (entwickelt) haben. Wie durch einen Vergleich entsprechender Forschungsbeiträge leicht ersichtlich wird, unterscheidet sich das Verständnis von Krisis in der griechischen Antike mehr oder weniger deutlich von den ‚Renaissance-Krisen‘ und vom Krisenbewusstsein im 17. Jahrhundert.40 Neben diesen Gemeinsamkeiten von Krisen und Katastrophen gibt es jedoch zwischen den beiden Konzepten auch einige unverkennbare Unterschiede, von denen zumindest drei hervorgehoben seien, die sich zum Teil aus den oben erörterten narratologischen Merkmalen ableiten lassen. Erstens bezieht sich das Konzept der Krise, wie oben bereits erläutert, auf einen ereignisarmen Schwebezustand bzw. eine Latenzperiode, in dem eine wichtige Entscheidung bevorsteht und dem stets ein „Element der Unentschiedenheit“41 innewohnt, während sich Katastrophen gerade dadurch auszeichnen, dass sie sämtliche der oben genannten Kriterien größtmöglicher Ereignishaftigkeit erfüllen. Während die Worte ‚Krise‘ bzw. ‚Krisis‘ im gegenwärtigen Wortgebrauch verwendet werden als „Synonym für eine schwierige Situation, für die bedrohliche Zuspitzung von Schwierigkeiten“,42 bezeichnet der Terminus ‚Katastrophe‘ ein bereits eingetretenes extrem ereignishaftes, irreversibles und folgenreiches Desaster. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Krisenbegriff einen „Zustand der Latenz“ bzw. „Zustand unaufgelöster Spannung, die auf eine Lösung drängt“; kennzeichnend für eine Krise ist somit „eine Latenz: jene zugespitzte Phase, in der bald die Entscheidung über Leben und Tod fallen wird, aber noch nicht gefallen ist“.43 Eckard Lobsien hat diesen ambivalenten und spannungs37 38 39 40 41 42 43

Lotman: Problem, S. 334. Schmid: Elemente, S. 25. Schmidt: Geschichten, S. 42; zum Konzept der Kulturprogramme vgl. idem, S. 38–45. Vgl. dazu die sehr aufschlussreichen Beiträge von Renate Schlesier und Eckhard Lobsien in dem Band von Grunwald und PÀster (Hg.): Krisis. Grunwald und PÀster (Hg.): Krisis, S. 8. Schlesier: Entscheidungsrisiken, S. 22. Vgl. Lobsien: Renaissance-Krisen, S. 96.

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vollen Charakter, durch den sich Krisen auszeichnen und grundlegend von Katastrophen unterscheiden, sehr prägnant umschrieben: Krise also bezeichnet eine spannungsvolle Konstellation, die auf ein Ereignis hindrängt […]; die Krise ist eine Latenz mit einem begrenzten Zeithorizont. Sie tendiert zur Selbstaufhebung; mit der einer Krisensituation eingeschriebenen Entscheidung löst sich die gesamte Konstellation. […] Krise ist das, was gleichzeitig ansteht und aussteht; sie ist Dynamik und Warten, Zustand und Gerichtetheit, Spannung mit aufgegebener Lösung. Eine solche Lage kann nur divergent beschrieben und empfunden werden; sie ist in sich vollkommen uneindeutig.44

Zweitens unterscheiden sich Krisen und Katastrophen durch ihre unterschiedlichen temporalen Verlaufsstrukturen: Während sich das Konzept der Krise in der Regel auf längerfristige Veränderungen und Verlaufsstrukturen bezieht, die sich allmählich zu einem entscheidenden Wendepunkt zuspitzen, sind für Ereignisse des Typs ‚Katastrophe‘ gerade umgekehrt Merkmale wie Kurzfristigkeit, Abruptheit und Plötzlichkeit kennzeichnend, die mit mangelnder Erwartbarkeit und außergewöhnlichen, gewaltsamen Einbrüchen in die alltägliche Normalität korrelieren. Die kontinuierliche Dynamik und Prozesshaftigkeit, die für Krisen kennzeichnend sind, kontrastieren daher mit der abrupten Sprunghaftigkeit und plötzlich auftretenden Situationsveränderung, die durch eine Katastrophe verursacht wird. Ein dritter Unterschied zwischen Krisen und Katastrophen betrifft deren jeweilige Semantik: Die Semantik von Krisen zeichnet sich durch eine große Bandbreite und Ambivalenz aus, wobei im Gegensatz zu Katastrophen neben den weiter unten erörterten metaphorischen Implikationen von Bedrohung und Gefahr auch stets die Bedeutung mitschwingt, dass jede Krise zugleich auch eine Chance ist und „die Möglichkeit einer Wendung zum Positiven einschließt“.45 Im Falle von Katastrophen ist das semantische Spektrum hingegen beschränkt auf extrem negativ besetzte Bedeutungen, wobei vor allem deren schreckliche, tragische und zerstörerische Dimension mitschwingt. Außerdem impliziert die Semantik der Krise, dass ein Entscheidungsspielraum besteht, dass Entscheidungen getroffen werden können und müssen und dass ‚Krisenmanager‘ gefragt sind, während sich plötzliche Naturkatastrophen in der Regel gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich menschlicher Intervention zunächst völlig entziehen und den Handlungsspielraum auf ein Minimum reduzieren. Weiteren Aufschluss für eine Narratologie der Krise eröffnet die Unterscheidung zwischen Geschehen und Ereignis. Auf dieser Grundlage lassen sich Krisen – und auch Katastrophen – als Resultate narrativer Transformationen konzeptualisieren, durch die aus einem Geschehen zunächst ein Ereignis, dann eine Geschichte und schließlich eine bestimmte Geschichte bzw. ein speziÀsches Erzählmuster, nämlich eine Krisengeschichte bzw. eine Katastrophenerzählung, wird. Um narratologische Kategorien und Modelle zur Beschreibung der Genese bzw. narrativen Konstitution von Krisen und ähnlichen Medienereignissen fruchtbar zu machen, bietet sich daher der Rückgriff auf die – auf Aufsätze von Karlheinz Stierle zurückgehende – Begriffstrias ‚Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte‘ an, 44 45

Ibid., S. 97. Grunwald und PÀster: Krisis, S. 8.

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die Wolf Schmid zu einem vierstuÀgen Modell weiterentwickelt hat.46 Dabei geht es zwar eigentlich um die Ebenen Àktionaler Erzählungen, aber die Modelle lassen sich mit Gewinn adaptieren, um die oben aufgeworfene Frage zu beantworten, wie eigentlich aus einer Situation oder einem historischen Geschehen ein Medienereignis vom Typ ‚Krise‘ oder ‚Katastrophe‘ wird. Unter ‚Geschehen‘ verstehen Stierle und Schmid die Gesamtheit bzw. Totalität aller Situationen, Begebenheiten und Handlungen. Geschehen ist zeitlich und räumlich unbegrenzt, ein Kontinuum ohne Anfang und Ende und ohne Sinn. Zu einer Geschichte wird Geschehen erst, wenn aus ihm ein ganz bestimmter zeitlicher Ausschnitt herausgegriffen und wenn dieser dann – nicht zuletzt durch Selektion und Akzentuierung – mit einem Sinn unterlegt und damit bereits in einer bestimmten Weise gedeutet bzw. interpretiert wird. Die Geschichte ist demnach das Resultat einer Auswahl von bestimmten Momenten und Qualitäten aus dem Geschehen, dessen amorphe Unendlichkeit dadurch „in eine begrenzte, sinnhafte Gestalt“47 überführt wird. Die Geschichte enthält die ausgewählten Geschehensmomente in deren natürlicher Zeitfolge, ohne sie aber schon in einen Plot zu überführen. Letzteres geschieht erst in der Erzählung, die das Resultat von kompositorischer Formgebung bzw. Gestaltung ist. Geschehen wird somit durch Geschichten und Erzählungen überhaupt erst strukturiert. Während diese Ebenen gleichsam nur durch Abstraktion zu ermittelnde Tiefenstrukturen sind, ist die Ebene des Textes der Geschichte bzw. der Präsentation der Geschichte die einzige, die direkt beobachtbar ist: Text bzw. Präsentation der Geschichte meint somit deren sprachliche bzw. mediale Fixierung. Im Falle von narrativen Texten ist das konstituierende Verfahren dieser Ebene das der Verbalisierung, im Falle von Bildern das der Malerei. Wenn wir also Medienereignisse vom Typ ‚Krise‘ literaturwissenschaftlich untersuchen, so geht es stets um mediale Transformationen und (Re-)Präsentationen von Geschehen in bestimmte Geschichten und Erzählungen. Literatur- und kulturwissenschaftlich beobachtbar sind Krisen somit erst in ihren textuellen bzw. medialen Manifestationen, d. h. in der diskursiven Präsentation dieser bestimmten Geschichte als Krisenerzählung in einem konkreten Text oder einem anderen Medienprodukt. Durch diese terminologischen Unterscheidungen wird zudem deutlich, dass die mediale Redeweise von Krisen – und das gleiche gilt für Katastrophen – eine besondere, inhaltlich bestimmte Form der Erzählung und ein Resultat des Rückgriffs auf bestimmte Erzählschemata ist. Wenn es von jedem historischen Geschehen demzufolge eine Vielzahl von Geschichten, Erzählungen und konkreten Texten gibt, in denen sich die jeweiligen Geschichten und Erzählungen manifestieren, dann wird damit zugleich deutlich, dass sowohl Krisengeschichten als auch Katastrophenerzählungen lediglich eine von mehreren Möglichkeiten darstellen, ein Geschehen zu deuten und einer Situation einen Sinn zu unterlegen. Krisenerzählungen beruhen auf einer besonderen Art der KonÀguration und des emplotment der jeweiligen Ereignisse und greifen auf kulturell verfügbare (Krisen-)Plots zurück. Wichtig für die Analyse jeglicher Repräsentationen von Medienereignissen des Typs 46 47

Vgl. zum Folgenden Stierle: Geschehen; Schmid: Elemente. Schmid: Elemente, S. 165.

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‚Krise‘ ist daher nicht nur die Auswahl der Geschehensmomente, sondern vor allem auch die narrative Anordnung des Materials zu bestimmten Erzählungen. Die Bedeutung der Strukturierungs- und Erzählverfahren besteht darin, dass erst durch die Techniken der KonÀguration Beziehungen zwischen den ausgewählten Elementen hergestellt und diese zu einem geordneten, sinnvollen Ganzen verknüpft werden: „First, the conÀgurational arrangement transforms the succession of events into one meaningful whole […]. Second, the conÀguration of the plot imposes the ‚sense of an ending‘ […] on the indeÀnite succession of incidents“.48 Die KonÀguration der ausgewählten Geschehensmomente, Personen und Situationen besteht in deren Relationierung und Verknüpfung zu einer bestimmten Geschichte. Zusätzliches Licht auf die narrative Konstruktion von Krisen können daher die Arbeiten von Hayden White werfen, denen wir vielfältige Einsichten in die konstitutive Bedeutung von Narrativität für die Repräsentation von Ereignissen verdanken. Mit dem von ihm geprägten Begriff des emplotment hat White darauf aufmerksam gemacht, dass historische Fakten und Ereignisse stets in einen übergeordneten Handlungs- und Sinnzusammenhang eingebettet sind. Strategien des emplotment dienen dazu, die Kontingenz des historischen Geschehens zu überwinden und die ausgewählten Ereignisse erzählerisch zu strukturieren, zu einer bestimmten Geschichte zu formen und damit zugleich auch zu deuten: „Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind.“49 Für ein Verständnis der Konstitution von Krisen – und das gleiche gilt wiederum für Katastrophen – ist dies insofern sehr wichtig, als es sich bei Krisen um „stories of a particular kind“ handelt: Der Sinnzusammenhang, auf dem jede Krisendiagnose beruht, ist dem jeweiligen historischen Geschehen oder den Ereignissen nicht inhärent, sondern wird durch die Wahl eines bestimmten Erzähl- und Gattungsmusters zuallererst erzeugt. Es würde an dieser Stelle viel zu weit führen, die von White in Anlehnung an Northrop Frye entwickelte Typologie narrativer Formen und Tropen zusammenzufassen, aber es verdient hervorgehoben zu werden, dass Whites Thesen zur Bedeutung des emplotment für die Frage, wie aus einem historischen Geschehen überhaupt ein Ereignis und wie aus einer Situation eine Krise gemacht bzw. konstruiert wird, von zentraler Bedeutung sind. Nützlich für die Analyse der diskursiven Genese und textuellen Repräsentation von Krisen und Katastrophen ist des weiteren Paul Ricoeurs dreistuÀges Modell einer prozesshaften Mimesis. Erstens sind sämtliche solcher Repräsentationen bezogen auf und präformiert durch eine vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit, was Ricoeur als ‚PräÀguration‘ bezeichnet (Mimesis I): Literarische Werke und mediale Repräsentationen entstehen im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Geschichten bzw. kulturell verbreitete Plots (objektiviert z. B. in Texten der literarischen Tradition und Medien anderer Symbolsysteme) verfügbar sind. Solche kulturell verbreiteten Schemata und Plots (z. B. auch Krisenplots) werden zweitens durch Verfahren der narrativen KonÀguration in 48 49

Ricoeur: Time, S. 67. White: Metahistory, S. 7.

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einem Text zu bestimmten Geschichten verknüpft, was Ricoeur unter Mimesis II subsumiert. Krisenerzählungen Ànden sich demzufolge nicht nur auf der Ebene der PräÀguration, sondern es entstehen auch neue durch die innertextuelle KonÀguration. Drittens können textuelle Repräsentationen wiederum auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückwirken, was Ricoeur als ReÀguration bzw. Mimesis III bezeichnet. Je häuÀger und intensiver Literatur und andere Medien durch ihre KonÀgurationen Krisenerzählungen inszenieren, desto ausgeprägter dürfte auch das kulturelle Krisenbewusstsein der jeweiligen Gesellschaft sein oder werden. Als Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass die Krisenhaftigkeit Situationen also nicht grundsätzlich inhärent ist. Vielmehr resultiert sie aus einer Diagnose bzw. Zuschreibung von Beobachtern, aus dem Rückgriff auf bestimmte Erzählschemata bzw. kulturell verbreitete Plots (PräÀguration) und aus einer analogen KonÀguration bzw. eines emplotment von Ereignissen zu Krisenerzählungen. Durch die große Resonanz, die Hayden Whites metahistorische Arbeiten und die anderer Narrativisten in den Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften ausgelöst haben, ist allerdings ein zentraler Aspekt zu Unrecht in den Hintergrund gerückt: die weitreichende Bedeutung der Perspektivität, die mindestens ebenso wichtig ist wie das emplotment. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Ebenen der narrativen Textkonstitution sowie den Prozess, wie Begebenheiten oder Vorfälle durch die jeweiligen Transformationen zu Ereignissen und dann zu Ereignissen des Typs ‚Krise‘ oder ‚Katastrophe‘ werden, so wird deutlich, dass bei allen Transformationen verschiedene Dimensionen von Perspektivität beteiligt sind. Bereits bei der Auswahl bestimmter Geschehensmomente und deren Etikettierung als ‚Krise‘ spielen nicht nur die räumliche und zeitliche Wahrnehmungsperspektive des Beobachters eine große Rolle, sondern auch dessen ideologische Perspektive, also dessen Werte und Normen. Das gleiche gilt auch für die Prozesse der Komposition, durch die aus einer Geschichte eine Erzählung wird, sowie der Verbalisierung, die den Text bzw. die Präsentation der Erzählung erzeugt. Da es entscheidend von der Perspektive des Beobachters abhängt, was jeweils als ‚Krise‘ oder als ‚Katastrophe‘ bezeichnet wird, lassen sich sowohl Krisen als auch Katastrophen als beobachter- und perspektivenabhängige Sinn- und Bedeutungszuschreibungen bezeichnen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit dieser Betonung der Diskursivität, Konstruktivität, Narrativität und Perspektivengebundenheit von Krisen die Möglichkeit einer realen Existenz von Krisen – sowohl im ursprünglichen, nicht-metaphorischen Sinne des Wortes als auch im übertragenen – natürlich keineswegs bestritten werden soll oder kann. Dennoch verdient es hervorgehoben zu werden, dass die große Mehrzahl der Krisen in der heutigen Gesellschaft auf den oben beschriebenen diskursiven und narrativen Auszeichnungs-, KonÀgurations- und Inszenierungspraktiken beruht. Besonders schön, weil selbstentlarvend, ist in dem Zusammenhang die verbreitete Rede von der ‚echten Krise‘, beinhaltet sie doch ein geradezu „signalhaftes Eingeständnis des Scheincharakters vieler Krisen“50. Noch deutlicher werden 50

Bebermeyer: Krise, S. 353.

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viele der bislang erörterten Merkmale von Krisen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es sich bei dem Begriff um eine Metapher handelt, und wenn man die Implikationen dieser Metapher und die Logik des Bildfeldes, das sie mit aufruft, herausarbeitet, was im nächsten Abschnitt geschehen soll. 4. Krise als Metapher und Erzählung, oder: Von der Metaphorologie zur Narratologie der Krise (und zurück) Für die Entwicklung einer Narratologie der Krise sind jedoch nicht nur erzähltheoretische Kategorien sehr nützlich, sondern auch die Metaphorologie bzw. die Metapherntheorie werfen Licht auf die diskursive Konstruktion, die Struktur und die Erzählmuster von Krisen. Überträgt man den Begriff der Krisis auf die Untersuchung von Plots, so ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht vor allem daran zu erinnern, dass es sich bekanntlich um eine Metapher handelt: Wie ein Blick in die Begriffsgeschichte zeigt, stammt der Begriff Krise ursprünglich aus dem Vokabular der antiken Medizin,51 wie Alexander Demandt in seinem Buch Metaphern für Geschichte betont: „Ursprünglich bedeutet er ‚Entscheidung‘, und in diesem durchaus unmetaphorischen Sinne wurde er schon im Altertum auf Geschichte angewandt.“52 Für den modernen Krisenbegriff ist allerdings nicht diese ursprüngliche, sondern die abgeleitete medizinische Verwendung bestimmend geworden: „In den hippokratischen Schriften und bei Galen bezeichnet krisis [im Original griechische Buchstaben!] innerhalb eines Krankheitsverlaufes denjenigen Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob der Patient wieder gesund wird oder stirbt.“53 Dieser organologische Hintergrund bleibt in der neuzeitlichen Rede von Geschichtskrisen lebendig: „Wo immer von Krise die Rede ist, läßt sich auch ein Patient entdecken; wenn nicht in der Wirklichkeit, so doch im Kopfe dessen, der von ‚Krise‘ redet.“54 Die Rede von einer Krise kommt somit der Diagnose einer Krankheit gleich: Sie evoziert jedoch nicht nur Bilder von Krankheit und Heilung, sondern die Metaphorik projiziert auf den jeweiligen Bildempfänger auch eine bestimmte Geschichte. Wie Konersmann in dem von ihm herausgegebenen Wörterbuch der philosophischen Metaphern treffend bemerkt, sind Metaphern „Erzählungen, die sich als Einzelwort maskieren“.55 Dass dies gerade im Fall der metaphorischen Redeweise von ‚Krise‘ der Fall ist, dürfte auf der Hand liegen: Wenn eine bestimmte Situation einmal als Krise bezeichnet wird, so impliziert eine solche SituationsdeÀnition bzw. Diagnose zugleich bestimmte narrative Schemata, die gleichsam unwillkürlich aufgerufen werden. ‚Krise‘ meint zunächst einmal große Schwierigkeit und Gefahr, Bedrohung und Unsicherheit. Im Falle einer Krise ist ein Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung erreicht oder steht unmittelbar bevor. Eine Krise ist 51 52 53 54 55

Zur Entwicklung des medizinischen Krisenbegriffs vgl. Winau: Krise. Demandt: Metaphern, S. 27. Ibid. Ibid. Konersmann: Wörterbuch, S. 17.

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immer auch eine Entscheidungssituation, wie die englische Redewendung „We must bring things to a crisis“ sehr schön verdeutlicht. Die Etikettierung eines Geschehens als ‚Krise‘ liefert somit nicht nur eine speziÀsche DeÀnition und Diagnose der jeweiligen Situation, sondern sie ruft auch bestimmte Erzählschemata und Verlaufsmuster auf. Diese Schemata deuten zum einen das vorausliegende Geschehen in einer bestimmten Weise. Zum anderen handelt es sich bei der Beschreibung einer Situation als ‚Krise‘ immer auch um eine Diagnose, aus der bestimmte Therapieperspektiven – mithin Ratschläge und Handlungsszenarien für den zukünftigen Verlauf – abgeleitet werden können. Die enge Verknüpfung von Metaphorologie und Narratologie zeigt sich auch daran, dass bereits die Bildlogik der Metapher ‚Krise‘ vorgibt, welche Aktanten und Handlungsrollen typischerweise in Krisengeschichten vorgesehen sind: Wer und was in einer solchen Situation gefragt ist, liegt gemäß der Bildlogik und der jeweils kulturell verfügbaren Krisenplots auf der Hand, denn wenn von ‚Krise‘ die Rede ist, werden sogleich bestimmte Handlungsrollen und Verlaufsmuster aufgerufen. Je nach gesellschaftlichem Handlungsbereich gibt es zwar unterschiedliche Krisen, aber aus narratologischer Sicht bleibt das zugrundeliegende Schema doch das gleiche: Was in einer Krise gefragt ist, sind tatkräftige Krisenmanager (Ärzte, Politiker, Vorstände, ‚Experten‘, etc.) und entschlossenes Handeln, kurzum: erfolgreiches Krisenmanagement. Nehmen wir als Beispiel den Fußball: Sobald die Medien beÀnden, dass ein Verein in einer Krise steckt, gibt es auch schon einen Plot für den weiteren Handlungsverlauf, der da lautet: Krisensitzung, Medienspekulationen über eine möglicherweise bevorstehende Trainerentlassung, Dementi der Berichte, Dementi der Dementi, Trainerentlassung, neuer Trainer, neue Besen kehren gut – zumindest bis zur nächsten Trainerentlassung. Obgleich nicht jeder Abstieg so verhindert werden konnte, lehrt das Beispiel, dass die Redeweise von der Krise immer konventionalisierte Schemata abruft, die den weiteren Handlungsverlauf vorzeichnen. Allein schon deshalb ist eine Krisendiagnose stets mehr als eine bestimmte SituationsdeÀnition und erscheint aus der Rückschau oftmals als eine sich selbsterfüllende Prophezeiung. Für die Entwicklung einer Narratologie der Krise erweist es sich daher als heuristisch sehr fruchtbar, systematisch zu berücksichtigen, dass die verbreitete Rede von der Krise eigentlich eine Metapher ist und dass diese Metapher – ebenso wie solche Sprachbilder generell – den jeweiligen Wirklichkeitsbereich nicht einfach abbilden oder ausschmücken, sondern weitreichende strukturierende, narrativierende und konstruktive Funktionen erfüllen.56 Durch den medizinischen Bildspender ‚Krankheit‘ werden im Falle der Krisenmetapher bestimmte Elemente bzw. ‚slots‘ vorgegeben, die den jeweiligen Bereich, der als Bildempfänger fungiert, gemäß ihrer Bildlogik vorstrukturieren und auf die sich daher Besonderheiten von Krisenplots zurückführen lassen. Zu den durch den Bildspender vorgegebenen Elementen gehören zunächst einmal zwei wichtige Handlungsrollen, die in Krisengeschichten typischerweise auftauchen: ein Patient bzw. krisenbetroffener Organismus sowie ein Arzt oder ein Beobachter, der von einer „privilegierten Deutungswarte“57 die Krankheit feststellt. 56 57

Zu den Funktionen kultureller Metaphern vgl. Nünning: Emergence, S. 59–97. Hielscher: Kritik, S. 319.

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Darüber hinaus impliziert die Krisen-Metaphorik kraft ihrer durch den medizinischen Bildspender vorgegebenen Bildlogik eine Reihe weiterer Aspekte. Diese sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Krankheitssymptome bzw. Aspekte des Krisenzustands, eine Anamnese, also die Ermittlung der Vorgeschichte der Krankheit (nach Angaben des Kranken), sowie die Diagnose, also die aufgrund genauer Beobachtungen und Untersuchungen abgegebene Feststellung bzw. Beurteilung über die Art und die Beschaffenheit der Krankheit sowie den Zustand des Kranken. Zu den weiteren durch die Bildlogik präÀgurierten Elementen gehören die Therapie, d. h. die Festlegung der Gesamtheit aller Maßnahmen zur Kranken- bzw. Heilbehandlung, und der Therapeut, also jemand, der die Therapie vornimmt; dieser kann mit dem Arzt oder privilegierten Beobachter identisch sein, muss es aber nicht. Zudem evoziert die Metapher ‚Krise‘ stets ein Bündel kulturell bedingter Konnotationen und Assoziationen; dazu zählen vor allem Bedrohung, Unruhe und Gefahr sowie Angst, Beängstigung, Furcht und Sorge. Für eine Narratologie der Krise ist es außerdem entscheidend, dass die Metapher den jeweiligen Zielbereich nicht nur weitgehend vorstrukturiert, sondern dass sie zudem im Hinblick auf das Struktur- bzw. Erzählmuster ein allgemeines Verlaufsschema impliziert, das potentiell allen Krisenszenarien zugrunde liegt. Wie die neueren kognitiven Ansätze der Metapherntheorie gezeigt haben, strukturieren Metaphern nicht nur die Art und Weise, wie wir kulturelle Phänomene und Prozesse verstehen, sie projizieren auch „mininarrations“58 auf den jeweiligen Bildempfänger. Sobald von ‚Krise‘ die Rede ist, wird das Schema eines Krankheitsverlaufs aufgerufen: „Es gibt einen identiÀzierbaren Anfang, der wie eine Ur-Sache zu verstehen ist und eine Entwicklung in Gang setzt, die zu einem sinnvollen Ende führt; es sind Störungen dieser Sinnstruktur, die ein weitreichendes Bewußtsein der Gefährdung provozieren.“59 Mit der metaphorischen Rede von bzw. der Diagnose einer Krise sind somit nicht nur bestimmte Handlungsrollen von Krisengeschichten vorgegeben, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden auch mit einem übergreifenden Krisenplot verknüpft. Im Einzelnen impliziert die Feststellung einer Krise in Bezug auf die Vergangenheit eine negative, mehr oder weniger teleologische Entwicklung hin zur Krise. Hingegen wird die Gegenwart durch eine Krisendiagnose als eine Entscheidungssituation bzw. als ein Feld von Möglichkeiten wahrgenommen und gedeutet. Im Hinblick auf die Zukunft ergibt sich daraus ein Spektrum verschiedener Möglichkeiten bzw. Verlaufsstrukturen, das zwischen den Polen von Tod und Untergang auf der einen Seite und Genesung bzw. Überwindung der Krise auf der anderen reicht. Typische Beispiele dafür sind etwa die bekannten Lebensaltergleichnisse für einzelne Völker und Staaten. Roms Ende wurde oft in organischer Krisenmetaphorik beschrieben: das kranke Rom, das auf dem Siechbett liegt.60 Rousseau wendete den Begriff der Krise mit deutlichem Anklang an den medizinischen Sprachgebrauch auf den Staatskörper an. Und auch bei Goethes organischer 58 59 60

Eubanks: Story, S. 437. Bullivant und Spies: Vorwort, S. 17. Vgl. Demandt: Metaphern, S. 80.

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Deutung des Begriffs ‚Übergangszeit‘ wird der Zusammenhang zwischen Krise und Krankheit ins Bewusstsein gehoben: „Alle Übergänge sind Krisen, und ist die Krise nicht eine Krankheit?“61 Krisen müssen aber keinesfalls zum Tod führen oder in einer Katastrophe münden, sondern sie können ebenso gut als Chance genutzt werden, um zu einer gesunden und krisenfreien Lage zu gelangen. Neben den genannten Handlungsrollen und Bildelementen lenkt der metaphorische Ursprung der Krisenrhetorik die Aufmerksamkeit noch auf einige weitere Aspekte, die für eine Narratologie der Krise von Interesse sind. Dazu zählen die Frage nach den Ursachen oder Verursachern der Krise, die Frage nach Konzepten und Lösungen, die Auswahl der Krisenmanager bzw. Agenten, von denen man sich eine Lösung einer Krise verspricht, sowie die Frage nach der Krisenerfahrung der jeweiligen Akteure und dem kulturellen Krisenbewusstsein einer Zeit. Die jeweilige Haltung oder Grundeinstellung zu einer Krise kann zwischen den Polen von Resignation und Melancholie auf der einen Seite und Euphorie auf der anderen liegen: Die Erfahrung der Krise kann in die entschlossene Weigerung führen, den drohenden Verlust hinzunehmen, und den Impuls provozieren, das gefährdete Gut ernsthaft zu verteidigen; die nämliche Erfahrung einer faktischen Erschütterung von bisher Gültigem kann aber auch zum Argument für die Notwendigkeit seines Untergangs erhoben werden.62

Aufgrund der Bandbreite der metaphorischen Implikationen liegt es auf der Hand, dass die unterschiedlichen Haltungen zur Krise ganz verschiedene Plots zeitigen können, so dass es allein schon deshalb fragwürdig wäre, von ‚dem‘ Krisenplot zu sprechen. Vielmehr wird durch die metaphorische Redeweise von einer Krise ein Spektrum möglicher Verlaufsstrukturen evoziert; dabei hängt es entscheidend von den Fähigkeiten der Akteure bzw. Krisenmanager ab, welche der möglichen Optionen tatsächlich eintritt. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht vom Pol der Genesung bzw. des Aufschwungs über Varianten des Weiterwurstelns und Aussitzens, die in der Regel zur Verschärfung und Verfestigung der Krise führen, bis zum entgegengesetzten Pol von Tod oder Untergang, der Individuen als Folge einer Krise ebenso ereilen kann wie die Römische Republik.63 Weitere Anhaltspunkte für die Entwicklung einer Metaphorologie und Narratologie der Krise gibt neben dem metaphorischen Ursprung des Begriffs ‚Krise‘ vor allem dessen sprachliche Verwendung, insbesondere die Morphologie und emergente Krisen-Idiomatik, die sowohl die Vielfalt der Handlungsrollen als auch die mit Krise verbundenen Erzähl- und Plotmuster zu erhellen vermögen. Renate Bebermeyer hat in zwei ebenso material- wie aufschlussreichen Aufsätzen „Wesen, Charakter und Erscheinungsformen der sich zwanghaft wie explosiv mehrenden schlagworthaften, schein-deÀnierten ‚Krise‘-Komposita“64 aus sprachwissen61 62 63 64

Zit. nach Demandt: Metaphern, S. 219. Bullivant und Spies: Vorwort, S. 15 f. Vgl. Christ: Krise. Bebermeyer: Krise, S. 345; vgl. Bebermeyer: ‚Krise‘-Komposita, S. 189–210. Im Folgenden stütze ich mich auf diese beiden Aufsätze, der auch die genannten ‚Krise‘-Komposita entnommen sind.

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schaftlicher Sicht untersucht. Sie führt die semantische und morphologische KriseninÁation sowie die „schon zwanghaft-manische Züge zeigend[e] GepÁogenheit, alles unter dem Aspekt einer als dominant geltenden Krise zu sehen“65, auf zwei Trends zurück: zum einen auf den „Zwang, stets Neuestes und Sensationellstes zu ‚Ànden‘, und es – auf pseudowissenschaftliche Manier – mit einem grifÀgen ‚adäquaten‘ Leitwort zu präsentieren“66, und zum anderen auf die (schon 1980!) weit verbreitete Krisenmentalität: „Wo Krise ist, da ‚rauscht der Mantel der Geschichte‘ (und umgekehrt).“67 Aus diesen linguistischen Befunden ergeben sich für eine Narratologie der Krise folgende Konsequenzen: Geht man von den schon 1980 tatsächlich in Umlauf beÀndlichen Krisen-Komposita aus, so ist allein das Spektrum der Handlungsrollen und Handlungen, die in Krisenplots vorgesehen oder möglich sind, somit noch deutlich breiter, als die Hervorhebung der oben genannten konstitutiven Aktanten von Krisengeschichten zunächst suggeriert. Es reicht von Krisenverursachern und Krisenverschärfern über Krisenbeobachter bis zum Krisenmanager bzw. -management, zur Krisenverwaltung und zum Krisenstab, Krisenstabschef und Krisenstabsleiter. Deren Aufgabe ist es, die Ursache(n) der Krise festzustellen und auf der Grundlage von Krisenberatung, Krisenkonferenz, Krisengipfel oder Krisenstabssitzung ein geeignetes Krisenkonzept, eine Krisenstrategie, einen Krisenfahrplan oder einen Krisenbeherrschungs-Mechanismus zu erarbeiten, um so durch Krisenintervention zur Krisenlösung oder zumindest zur Krisenbegrenzung bzw. Kriseneindämmung beizutragen. Gelingt ihnen dies, so können sie sich aufgrund ihrer erfolgreichen Krisenpolitik als Krisenlöser oder Krisenbezwinger feiern lassen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen weitere Aktanten von Krisengeschichten, die sich ebenfalls aus Bebermeyers linguistischen Untersuchungen ableiten lassen, nämlich der Krisentourist, die Krisenbeobachter und die Krisengewinner sowie diejenigen, die die Krise zum Anlass nehmen, eine Krisenphilosophie zu entwickeln. Als weiteren Baustein bzw. als Zwischenergebnis für die Entwicklung einer Narratologie der Krise lässt sich somit festhalten, dass es nicht einen bestimmten Krisenplot, sondern stets eine Bandbreite möglicher Handlungsverläufe gibt, weil sowohl die Krisendauer als auch der jeweilige Krisenverlauf in der Regel von einer Vielzahl von Faktoren, Maßnahmen und Ereignissen abhängen. Wie hoffentlich deutlich geworden ist, lassen sich dennoch zum einen die wichtigsten Handlungsrollen angeben, die für eine Krisenerzählung konstitutiv sind. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass Krisen nichts Naturwüchsiges sind, sondern auf einem bestimmten mode of emplotment im Sinne Hayden Whites beruhen, durch den aus einer Situation überhaupt erst ein Plot und eine Krise (konstruiert) werden.

65 66 67

Bebermeyer: Krise, S. 346. Ibid., S. 345. Ibid.

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5. Funktionen von Krisenmetaphern und Krisenplots Abschließend stellt sich die Frage, welche Funktionen die in den Medien und der Politik inzwischen ubiquitäre und entsprechend inÁationäre Krisenrhetorik, aber auch die Thematisierung und Inszenierung von Krisen in der Historiographie, in anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie der Literatur erfüllen können. Zunächst einmal zielt die verbreitete Redeweise, irgendjemand oder irgendetwas stecke „tief in der Krise“, ganz offensichtlich vor allem in den Medien darauf ab, Interesse sowie „lesemotivierende Spannung“68 zu erzeugen. Eine weitere allgemeine Funktion ist darin zu sehen, dass der Rückgriff auf Krisenplots der Kohärenzstiftung und der Sinnbildung dient: Situationen, die als ‚Krise‘ wahrgenommen werden, sind solche, die „geradezu zum Erzählen dränge[n], zum ErÀnden von kohärenten, sinn- und identitätsstiftenden Geschichten, Modellen und Versuchsanordnungen“69. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht hat Renate Bebermeyer weitere grundlegende Funktionen, die die Metaphorik und Rhetorik der Krise erfüllen, prägnant umrissen: Summierend bleibt festzuhalten: Der ursprünglich wissenschaftliche Terminus Krise hat gegenwärtig zwei Funktionen zu erfüllen, eine strukturelle, die in seiner Verfügbarkeit als Fertigbauteil zur schnellen Produzierung immer neuer Komposita besteht […]. Außerhalb seines Bausteindaseins erwächst dem ‚Krise‘-Begriff ein zweiter, doppelsträngig gegliederter Aufgabenbereich: Zum einen wird er als demonstratives wie ausdrucksvariierendes Ersatzwort für seine kompositionalen Derivate herangezogen, zum anderen dient er, losgelöst von der kompositionalen Umklammerung, als allgemeine und verallgemeinernde, negativ befrachtete schlagworthafte Summierung aller Unruhe und Beängstigung hervorrufenden Entwicklungen und Wandlungen.70

Insbesondere in der Politik gehört die Krisenmetaphorik daher längst zum rhetorischen Grundinventar der Polemik gegen Andersdenkende bzw. andere Parteien. Für Politiker ist „die Krise […] – je nach Bedarf – Bestätigung und Alibi, man bedient sich ihrer aus den unterschiedlichsten Motivationen, man wuchert mit dem Krisenpfund“71. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: „So mancher Politiker braucht die Schwarzmalerei, ‚die Welt der wachsenden Krisen und Gefahren‘ und somit das Katastrophenvokabular, um sich und seine Strategien wirksam ins Licht zu setzen; der gängige journalistische Überzeichnungszwang und Sensationierungsdrang – eine Meldung braucht, um gehört zu werden, ein mediengerechtes (Groß) Format – tut ein übriges.“72 Die von gestählten Krisenmanagern und MedienproÀs implizit lancierte Botschaft lautet dabei: „Gefahr benannt – Gefahr gebannt.“73 Da es einer kulturwissenschaftlich orientierten Metaphernanalyse nicht nur um die deskriptive Systematisierung und Analyse der dominanten Bildfelder geht, son68 69 70 71 72 73

Bebermeyer: Krise, S. 352. Hielscher: Kritik, S. 314. Bebermeyer: Krise, S. 354. Ibid., S. 349. Ibid., S. 355. Ibid., S. 356.

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dern auch um die Funktionen der Metaphern, stellt sich die Frage, was die metaphorischen Umschreibungen von komplexen Prozessen als ‚Krise‘ über diese allgemeinen Funktionen hinaus leisten. Die offensichtlichste Funktion der Krisenmetaphern besteht darin, historische und politische Zusammenhänge zu vereinfachen, veranschaulichen und verlebendigen,74 indem sie einem chaotischen, diffusen und heterogenen Geschehen eine Struktur, inhaltliche Bestimmtheit und ein Erzählmuster verleihen.75 In dieser Hinsicht ähnelt die Krisen-Metaphorik insofern Modellen, als sie gleichfalls einen sehr vielschichtigen Objektbereich in vereinfachter Form darstellt.76 Indem Krisenmetaphern das niemals unmittelbar beobachtbare oder übersehbare Geschehen, auf das sie sich beziehen, bildlich veranschaulichen, machen sie einen komplexen historischen oder politischen Zusammenhang überhaupt erst vorstellbar. Obgleich die Leistungen von Metaphern im Allgemeinen und Krisenmetaphern im Besonderen damit Parallelen zu den Funktionen von Modellen aufweisen, greift es aus mindestens zwei Gründen zu kurz, sie lediglich als Denkmodelle zu charakterisieren. Zum einen verkürzt der Modellbegriff insofern das Leistungsvermögen von Metaphern, als er nicht den für solche Sprachbilder charakteristischen Bedeutungsüberschuss zu erfassen vermag.77 Im Gegensatz zu Modellen bilden Metaphern strukturelle Relationen nicht einfach ab, sondern sie bringen sie überhaupt erst hervor und wirken strukturbildend. Nicht zuletzt darin gründet ihre kreative und schöpferische Funktion. Zum anderen grenzt der Begriff des Denkmodells das Funktionspotential von Metaphern auf kognitive Aspekte ein. Vor allem Ricoeur hat jedoch überzeugend dargelegt, dass die Aktivierung von Gefühlen ein wichtiger Bestandteil des metaphorischen Prozesses sei.78 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen daher einige der Leistungen von Krisenmetaphern abschließend exemplarisch verdeutlicht werden. Ebenso wie viele andere Metaphern fungieren auch Krisenmetaphern erstens nicht nur als Denkmodelle, sondern auch als kognitive bzw. schöpferische Mittel der historischen und politischen Deutung und Sinnstiftung. Krisengeschichten sind nicht bloß bestimmte Erzählmuster, sondern sie stellen auch Deutungsmuster be74

75 76 77 78

Zur Funktion der Veranschaulichung und Verlebendigung vgl. Wessel: Probleme, S. 69; Birus und Fuchs: Grundinventar, S. 162. Vgl. zum Folgenden auch Blumenberg: Paradigmen, S. 20: „Sie [absolute Metaphern] geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie Erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.“ Vgl. Wessel: Probleme, S. 80: „Demgegenüber besteht die Leistung eines bildspendenden Feldes darin, den empfangenden Bereich allererst zu strukturieren, wobei freilich ihre Stärke nicht darin liegt, Präzision zu stiften, sondern Atmosphäre.“ Zur Analogie von Metaphern und Modellen vgl. die einschlägige Studie von Black: Models. Vgl. auch Demandt: Metaphern, S. 4 f.; Peil: Überlegungen, S. 230, der von „ihrer Leistung als Denkmodell“ spricht. Zu dieser Kritik an der Beschreibung von Metaphern als Denkmodellen vgl. Wessel: Probleme, S. 80, 98, die diesen Begriff jedoch im weiteren Verlauf ihrer Arbeit selbst verwendet (vgl. idem, S. 118, 125, 132). Vgl. Ricoeur: Process, S. 143–159, bes. S. 143. Vgl. auch Köller: Semiotik, S. 202, der auf die Bedeutung der „konnotativen Komponenten und emotionalen Wertakzentuierungen“ hingewiesen hat.

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reit. Ihre erkenntnisprägende Leistung gründet darin, dass sie aufgrund der oben skizzierten Denotationen und Konnotationen des bildspendenden Bereichs eine Fülle von neuen Informationen über den jeweiligen Bildempfänger liefern, den sie damit nicht bloß strukturieren, sondern auch in einer speziÀschen Weise deuten. Krisengeschichten und Krisenmetaphern bilden somit keine in der Wirklichkeit bereits vorhandenen Ähnlichkeiten zwischen dem medizinischen Bildspender und dem jeweiligen Bildempfänger ab. Ihre wirklichkeitskonstituierende Funktion gründet vielmehr darin, dass Metaphern, wie Harald Weinrich zu Recht betont hat, „ihre Analogien erst stiften, ihre Korrespondenzen erst schaffen“.79 Damit legen sie zugleich bestimmte Weisen der Sinnstiftung nahe, weil sie den Bildempfänger in einer neuartigen Weise strukturieren, deuten und bewerten. Wie im vorigen Abschnitt bereits deutlich geworden sein dürfte, betreffen die schöpferischen Leistungen von Krisenmetaphern zum einen strukturelle Aspekte, weil die Krisenmetaphorik aufgrund ihrer Bildlogik und Denotationen bestimmte Zusammenhänge zwischen den Bildelementen vorgibt bzw. herstellt. Zum anderen liefern die Hintergrundmetaphorik der Krise für Krisengeschichten aufgrund ihrer Konnotationen inhaltlich bestimmte Konzepte für die Wahrnehmung und Deutung komplexer historischer und politischer Zusammenhänge. Solche Deutungsschemata erfüllen nicht bloß kognitive Funktionen, sondern haben auch normative, emotionale und ideologische Implikationen, wie noch zu zeigen sein wird. Neben ihren bereits genannten Funktionen tragen Krisenmetaphern zweitens dazu bei, bestimmte emotionale Reaktionen hervorzurufen. So beschwören Krisenmetaphern vor allem ein Gefühl der kollektiven Bedrohung und Gefahr herauf, das sicherlich die dominante affektive Komponente dieser Metaphorik ist. Gerade diese emotionale Dimension der Metapher beeinÁusst insofern auch Krisengeschichten, als sie nicht bloß „eine in ihrem zwingenden Charakter unabweisbare Entscheidungsnotwenigkeit“80 anzeigt, sondern auch implizit die Notwendigkeit unterstreicht, ggf. sogar sehr drastische und kostspielige Maßnahmen zu ergreifen, wenn davon auszugehen ist, dass diese zur Rettung des bedrohten Organismus beitragen. Der Grund dafür, warum dies so oft funktioniert und selbst milliardenschwere Rettungspakete in der weltweiten Finanzkrise 2008 klag- und widerspruchslos hingenommen wurden, liegt auf der Hand, „denn der medizinische Ursprung der modernen Krisenmetaphorik impliziert ja, dass es um Leben und Tod und somit gerade nicht um das Alltägliche geht“.81 Drittens fungiert die Krisenmetaphorik stets als ein Medium der historischen und politischen Sinnbildung, was immer auch mit einem unterschiedlich hohen Grad an Komplexitätsreduktion einhergeht. Diese Funktion ist zwar eng verknüpft mit den oben erörterten strukturellen Aspekten, aber durch das Bildfeld der Krise 79 80 81

Weinrich: Sprache, S. 309. In enger Anlehnung an Weinrich bestimmen Köller: Semiotik, S. 198 f. und Wessel: Probleme, S. 62 f., S. 80 die schöpferische bzw. poietische Leistung von Metaphern ähnlich. Lobsien: Renaissance-Krisen, S. 96, der ebenfalls betont, dass der Begriff ‚Krise‘ „auf eine starke Emotionalisierung“ (S. 97) abzielt. Grunwald und PÀster: Krisis, S. 7.

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werden zwischen den einzelnen Bildelementen nicht nur bestimmte Beziehungen hergestellt, sondern Krisenmetaphern haben immer auch den Charakter einer Diagnose, die Aussagen über die Ursachen der Krise trifft und die besten Therapievorschläge unterbreitet. Ebenso wie andere organische Metaphern unterstützt die Krisenmetaphorik eine bestimmte Erklärung und Interpretation historischer oder ökonomischer Zusammenhänge, indem sie diese als Krankengeschichte umdeutet. Das Bild der Krise impliziert ein entwicklungsgeschichtliches Erklärungsschema, das das jeweilige Geschehen als einen organischen Prozess darstellt und das dazu tendiert, „das Gemachte als gewachsen hinzustellen“.82 Krisenmetaphern implizieren und konstruieren nicht bloß relativ kohärente Krisengeschichten, sondern unweigerlich auch mehr oder weniger stark simpliÀzierende Deutungen und Erklärungen komplexer Prozesse und Zusammenhänge, die sich direkter Beobachtung und einfachen Erklärungen eigentlich entziehen: „Das Krisenszenario vermag komplexe Entwicklungen zu verkürzen und Dinge auf den Punkt zu bringen, die (jedenfalls vor der so gestellten Krisendiagnose) gar nicht miteinander in Beziehung standen.“83 Es ist kennzeichnend für die Komplexitätsreduktion, die Krisenmetaphern mit ihrer Umdeutung des jeweiligen Geschehens zu einer Krankengeschichte auszeichnet, dass politische und ökonomische Aspekte einer Krise durch die Bildlogik systematisch ausgeblendet werden. Viertens erfüllt die Krisenmetaphorik weitreichende, aber recht subtile normative Funktionen, weil sie nicht bloß bestimmte Vorschriften bzw. Wertvorstellungen hinsichtlich der Beziehung zwischen den an einer Krisengeschichte Beteiligten evoziert, sondern auch ihre jeweilige Rolle und Autorität präjudiziert. Da das Bildfeld der Krise politisches oder ökonomisches Handeln zu einem hierarchisch strukturierten Arzt-Patienten-Verhältnis umdeutet, stiftet es einen Bezugsrahmen für die Beschreibung der Rollen, die den Beteiligten durch die Bildlogik in Krisengeschichten zugedacht werden. Die normative Funktion von Krisenmetaphern besteht daher vor allem darin, dass diese den an Krisengeschichten beteiligten Aktanten bestimmte Rollen zuweisen und verbindliche Normen für deren jeweiliges Verhalten setzen. Ebenso wie die strukturellen Implikationen lassen sich diese Gebote und Verbote bereits aus der Bildlogik und den semantischen Merkmalen bzw. der Etymologie des Wortes ‚Krise‘ ableiten. Die Bildlogik und Semantik der Metapher überträgt den Experten die Autorität und Deutungshoheit über das vergangene Geschehen, den gegenwärtigen Zustand und den zukünftigen Handlungsverlauf, was vor allem auf das hierarchisch strukturierte Arzt-Patienten-Verhältnis zurückzuführen ist. Damit ist fünftens die nicht minder wichtige Legitimationsfunktion angesprochen, die Krisenmetaphern oftmals erfüllen und die sich sowohl aus der scheinbar rationalen Deutung komplexer Zusammenhänge als auch aus den emotionalen und normativen Implikationen der Metaphorik ableitet. Diese trägt maßgeblich dazu bei, die Autorität, die Rechte und die PÁichten der Krisenmanager gegenüber den jeweiligen Patienten und den übrigen Beteiligten einer Krisengeschichte hervorzu82 83

Demandt: Metaphern, S. 28. Grunwald und PÀster: Krisis, S. 8.

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heben. Damit legitimiert das Bildfeld der Krise implizit sämtliche Entscheidungen, die Experten bzw. die jeweiligen Krisenmanager in einer Krisengeschichte treffen. Die jüngste Finanzkrise bot gerade für diese Legitimationsfunktion reichhaltiges Anschauungsmaterial. Krisenmetaphern liefern somit nicht nur simpliÀzierende Darstellungen und Deutungen komplexer kultureller Prozesse, sondern sie projizieren auf das jeweilige Geschehen auch jene Art von Geschichten, die Eubanks treffend als „licensing stories“84 bezeichnet hat. Damit eine Metapher als kulturell angemessen erscheint, müsse sie, so Eubanks, dem im jeweiligen Wirklichkeitsmodell einer Epoche verankerten Repertoire solcher kulturell vorherrschenden legitimierenden bzw. ‚lizensierenden Geschichten‘ entsprechen: „[F]or us to regard any mapping as apt, it must comport with our licensing stories – our repertoire of ideologically inÁected narratives, short and long, individual and cultural, that organize our sense of how the world works and how the world should work. That is to say, our world-making stories give us the license – provide the requisite justiÀcation – needed to regard possible metaphoric mappings as sound.“85 Im Lichte von Eubanks’ Hypothesen über die Gründe, warum bestimmte Leitmetaphern in einer Epoche besonders verbreitet sind, erscheint es nicht eben ein Zufall zu sein, dass sich gerade Krisenmetaphern in der heutigen Zeit besonders großer Verbreitung und Beliebtheit erfreuen. Vielmehr korrespondieren diese Metaphern mit jenen kulturell verfügbaren und verbreiteten Plots, die Eubanks mit seinem Konzept der ‚lizensierenden Geschichten‘ bezeichnet und für die Krisengeschichten ein besonders eindrückliches Beispiel sind. 6. Ausblick und Hinweise auf Forschungsdesiderate In ihrer Gesamtheit liefern diese bloß knapp skizzierten Funktionen der Krisenmetaphorik auch eine Antwort auf die Frage, warum gerade Krisenmetaphern im Diskurs der heutigen Medien eine so herausragende Rolle spielen. Die metaphorische Leitvorstellung der Krise ist wohl nicht zuletzt deshalb zu einem privilegierten Erzählmuster und Deutungsschema avanciert, weil sie es ermöglicht, sehr komplizierte historische, politische und ökonomische Entwicklungen, Prozesse und Zusammenhänge in einer relativ einfachen und eingängigen Sprache darzustellen und in ein Bildfeld zu übersetzen, das jedem vertraut ist. Das besondere Leistungsvermögen der Krisenmetaphern besteht nicht zuletzt darin, dass sie komplexe Prozesse in die Sprache, Denkweise und Normen einer allen vertrauten häuslichen Situation einer Krankengeschichte übersetzen und dadurch das Fremde mit dem Vertrauten in Beziehung setzen. Die weite Verbreitung der Krisenmetaphorik und deren Beliebtheit insbesondere unter Politikern lassen sich wohl auch darauf zurückführen, dass dieses Deutungsschema es denjenigen, die es verwenden, erlaubt, sich als Ärzte, 84 85

Eubanks: Story, S. 424. Eubanks deÀniert den Begriff so: „Licensing stories are narratively structured representations of an individual’s ideologically inÁected construal of the world.“ (S. 437). Ibid., S. 426–427.

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Experten und Krisenmanager zu stilisieren, die über die nötige Autorität, Erfahrung und Kompetenz verfügen, um die richtige Diagnose zu stellen, die notwendigen Therapiemaßnahmen einzuleiten und diese Schritte auch mit der notwendigen Konsequenz durchzusetzen, kurzum: um letztlich auch diese schwierige Situation zu meistern. Obgleich sie keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, bestätigt diese funktionsgeschichtliche Analyse des Gebrauchs von Krisenmetaphern insgesamt somit zum einen die These von Jürgen Link und Wulf WülÀng, dass die in einer Epoche verbreiteten Sprachbilder „in hohem Maße ‚Mentalitäten‘ vor- und mitstrukturieren. Nicht nur Dichter […] ‚denken in Bildern‘, auch ‚Kulturen‘ insgesamt.“86 Zum anderen gibt die inzwischen ubiquitäre Verwendung von Krisenmetaphern im Diskurs der Medien der Einschätzung des spätviktorianischen englischen Historikers John Robert Seeley recht, dass Metaphern einen unwiderstehlichen Denkzwang ausüben und sogar die Rolle eines politischen Arguments übernehmen können. Auf die in seinem Buch The Expansion of England aufgeworfene Frage, warum die obsolete Metapher von Kolonien als erwachsenen Söhnen nicht fallengelassen werde, gibt Seeley selbst die beste Antwort: „When a metaphor comes to be regarded as an argument, what an irresistible argument it always seems!“87 Auch wenn mit diesen Funktionshypothesen die Frage nach den Funktionen, die mediale Kriseninszenierungen und Krisenverarbeitungen erfüllen können, allenfalls angerissen, keineswegs aber abschließend geklärt ist, mögen diese wenigen Hinweise genügen, um zumindest anzudeuten, dass bei der Entwicklung einer Metaphorologie und Narratologie von Krisen die Frage nach deren Funktionen nicht vernachlässigt werden sollte. Auch wenn die Frage, inwiefern es heutzutage vor allem oder gar „nur herbeigeredete, herbeiformulierte – nur Phantomkrisen“88 bzw. medial inszenierte Krisen gibt, notgedrungen offen bleiben muss, spricht aus narratologischer Sicht vieles für die These, dass in Krisenwahrnehmungen und medialen sowie literarischen Repräsentationen von Krisen ein bestimmtes „Interpretationsmuster der Wirklichkeitserfahrung“89 zum Ausdruck kommt, das in der gegenwärtigen Medienkulturgesellschaft offenbar Hochkonjunktur hat. Damit legt unsere eigene Zeit ein besonders beredtes Zeugnis davon ab, „daß Krisenerfahrung nicht einfach unverstellte Wahrnehmung ist, sondern eine Methode des interpretierenden Hinsehens, die einen eigenen Inhalt hat und über das Wahrgenommene soweit auch entscheidet“90. Damit bestätigt die KriseninÁation in unserer Medienkulturgesellschaft nochmals die These, „daß kulturelle und gesellschaftliche Krisen weniger von externen Faktoren verursacht werden als von der individuellen oder generationsspeziÀschen Einstellung auf die Dynamik der kulturellen und gesellschaftlichen Bewegungen“91. 86 87 88 89 90 91

Link und WülÀng: Einleitung, S. 14. Seeley: Expansion, S. 344. Bebermeyer: Krise, S. 355. Bullivant und Spies: Vorwort, S. 15. Ibid., S. 17. Ibid., S. 11.

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Abschließend seien noch kurz drei der Desiderate für die zukünftigen Forschungen zum Thema „Krise als Metapher und Erzählung“ genannt. Zunächst einmal liegt es auf der Hand, dass dieses Thema mit den skizzierten Bausteinen noch nicht erschöpfend behandelt ist. Vielmehr ist eine systematisch ausgearbeitete Narratologie der Krise ebenso ein Desiderat wie eine umfassende Metaphorologie der Krise. Zweitens stellt sich aus interdisziplinärer Perspektive die eingangs nur beiläuÀg angesprochene Frage, inwiefern verschiedene Disziplinen nicht bloß mit unterschiedlichen Krisenbegriffen operieren, sondern auch mit unterschiedlichen Metaphern und Krisengeschichten. Obgleich der vorliegende Band sicherlich zur Klärung dieser Frage beiträgt, dürfte sie damit gleichwohl noch nicht umfassend beantwortet sein. Nach meiner Einschätzung wäre es gerade für die historische Forschung, aber auch für die Beschäftigung mit Krisen in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wichtig, sowohl den metaphorischen, narrativen und diskursiven Strategien der Krisenrhetorik als auch der Frage, welche Funktionen der Krisendiskurs jeweils erfüllt, mehr Beachtung zu schenken, als es bislang meist der Fall ist. Gerade weil es meines Wissens dazu noch kaum Vorarbeiten gibt, sind drittens Studien zur kulturellen und historischen Variabilität von ‚Krisenmodellen‘, zum epochenspeziÀschen Krisenbewusstsein sowie zu den jeweiligen gesellschaftlich dominanten bzw. kulturspeziÀschen Plots, Schemata und Rahmen, die für Krisenund Katastrophengeschichten in unterschiedlichen Epochen und Kulturen jeweils kennzeichnend sind, aus kulturwissenschaftlicher Sicht ein besonderes Desiderat. Auch wenn diese Bausteine zu einer Metaphorologie und Narratologie der Krise keinen Anspruch darauf erheben, alle metaphorischen Implikationen und narrativen Merkmale von Krisengeschichten umfassend dargestellt zu haben, mögen sie vielleicht einen kleinen Beitrag dazu leisten, um den komplexen Prozess zu erhellen, durch den aus einer Situation bestimmte Plots und Krisen (konstruiert) werden. Die skizzierte Metaphorologie und Narratologie der Krise kann zwar keine Lösung der medial inszenierten Krisen bieten, aber sie verspricht dennoch ein wenig Heilung oder Linderung, denn sie kann als Nebelspalter wirken, der es einem erlaubt, den von den Medien versprühten Krisennebel besser zu durchschauen. Eine Narratologie der Krise lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Unterschiede zwischen Krisen und Katastrophen, sondern auch auf die narrativen Transformationen, durch die ein Geschehen zu einem Ereignis und einer Geschichte mit einem bestimmten Erzählmuster vom Typ ‚Krise‘ wird. Ausgehend von dem metaphorischen Ursprung des Begriffs rücken auch die Mini-Erzählungen in den Blick, die in jeder Krisendiagnose impliziert sind. Darüber hinaus bieten die skizzierte Metaphorologie und Narratologie der Krise die Voraussetzung, um die Handlungsrollen sowie das Struktur- und Erzählmuster zu beschreiben, das die unüberblickbare Vielzahl der Krisenszenarien verbindet. Aus narratologischer Sicht spricht in jedem Fall vieles dafür, der medialen KriseninÁation skeptisch gegenüberzustehen, nicht jede Krisenstory und jedes Krisenszenario für bare Münze zu nehmen, zwischen der Repräsentation realer Krisen und der medialen Inszenierung Àktiver Krisenszenarien zu unterscheiden und generell den diskursiven Strategien und medialen Inszenierungspraktiken der Krisendiagnostiker mehr Beachtung zu schenken, als dies bislang meist der Fall ist. Gerade weil es bis-

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lang an kulturwissenschaftlichen Studien zu den unterschiedlichen Krisenbegriffen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, zur kulturellen Vielfalt von Krisengeschichten und zur historischen Variabilität von epochenspeziÀschen Krisenmodellen mangelt und weil Geschichten der literarischen Krisenwahrnehmung und Krisenverarbeitung noch zu schreiben sind (dies gilt – so weit ich den Forschungsstand überblicke – für alle Nationalliteraturen gleichermaßen), bleibt zu hoffen, dass dieser Band der interdisziplinären Beschäftigung mit diesem zentralen Kulturthema unserer Zeit neue Impulse geben möge. Wenn die skizzierten Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie der Krise ein wenig dazu beigetragen haben sollten, sowohl die wesentlichen narrativen Merkmale von Krisengeschichten als auch deren metaphorische Implikationen herauszuarbeiten und der interdisziplinären Erforschung von Krisengeschichten ein terminologisches Beschreibungsmodell sowie einige Impulse zu liefern, dann hätten sie ihre Hauptzwecke erfüllt. Literaturverzeichnis Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002. Bebermeyer, Renate: ‚Krise‘-Komposita – verbale Leitfossilien unserer Tage, in: Muttersprache. Zeitschrift zur PÁege und Erforschung der deutschen Sprache 90 (1980), S. 189–210. Bebermeyer, Renate: ‚Krise‘ in der Krise. Eine Vokabel im Sog ihrer Komposita und auf dem Weg zum leeren Schlagwort, in: Muttersprache. Zeitschrift zur PÁege und Erforschung der deutschen Sprache 91 (1981), S. 345–359. Birus, Hendrik und Anna Fuchs: Ein terminologisches Grundinventar für die Analyse von Metaphern, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, hg. von Christian Wagenknecht, Stuttgart 1989, S. 157–174. Black, Max: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca 1962. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142. Brown, Marshall: Turning Points. Essays in the History of Cultural Expressions, Stanford 1997. Bullivant, Keith und Bernhard Spies: Vorwort, in: Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptionsund Produktionsmuster im 20. Jahrhundert, hg. von Bullivant, Keith und Bernhard Spies, München 2001, S. 7–18. Christ, Karl: Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 1979. Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978. Eubanks, Philip: The Story of Conceptual Metaphor. What Motivates Metaphoric Mappings?, in: Poetics Today 20.3 (1999), S. 419–442. Grunwald, Henning und Manfred PÀster (Hg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München 2007. Grunwald, Henning und Manfred PÀster: Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, in: Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, hg. von dens., München 2007, S. 7–20. Herman, David: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, London 2002. Herman, David, Manfred Jahn und Marie-Laure Ryan (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London, New York 2005. Hielscher, Martin: Kritik der Krise. Erzählerische Strategien der jüngsten Gegenwartsliteratur und ihre Vorläufer, in: Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert, hg. von Bullivant, Keith und Bernhard Spies, München 2001, S. 314–334.

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ZWISCHEN NORMABWEICHUNG UND REVOLUTION – ‚KRISE‘ IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT Jan Marco Sawilla La crise est permanente.1

Krisen, Dissonanzen, Ungefüges: Historische Selbst- und Fremdbeobachtungen ‚Krise‘ ist in der Geschichtswissenschaft kein unumstrittenes Konzept. Die von der seinerzeit jungen englischsprachigen Forschung in den 1950er Jahren initiierte Debatte um die ‚General Crisis of the Seventeenth Century‘ kommentierte Randolph Starn im Jahr 1971 mit den Worten: „One historian’s crisis lasts moments, another’s decades, even eras; political, social, economic, mental, or moral crises are blurred by one historian’s insistence on treating them discretely while another lumps them together under the confusing rubric ‚general crisis‘.“2

Starn beschrieb damit eine Bewegung, die für die meisten geschichtswissenschaftlichen ‚Krisen‘-Debatten charakteristisch ist. Je länger sie geführt werden, desto schwieriger scheint es zu werden, sich über das primäre Referenzobjekt der ‚Krise‘ zu verständigen. Die Frage nach den Ursachen der ‚Krise‘ des einen sozialen Systems führt zu möglichen Erklärungen durch die – sich dadurch allererst zum Erkenntnisgegenstand formierende – ‚Krise‘ eines anderen Systems, während kleinere soziale oder institutionelle ‚Krisen‘ wiederum auf den sich dadurch verdichtenden Rahmen einer übergeordneten Krisenzeit bezogen werden.3 Was genau und über welche Zeiträume hinweg in der ‚Krise‘ gewesen sei, beginnt sich durch diesen Prozess der progredierenden Vervielfältigung potentieller ‚Krisen‘ nach und nach zu verunklaren. Neben der ‚General Crisis of the Seventeenth Century‘ scheint diese Bewegung für nahezu alle ‚Krisen‘ charakteristisch zu sein, denen makrogesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wurde, beispielsweise für die Debatten um die ‚Krise‘ der späten Römischen Republik,4 die ‚Krise‘ des Spätmittelalters,5 der Weimarer Republik6 oder die – für verschiedene Zeiträume konstatierte – ‚Krise der

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Mousnier: Siècles, S. 161. Starn: Historians, S. 3. Föllmer, Graf und Leo: Einleitung, S. 16 f. Hölkeskamp: Kultur. Klaar: „Krise“; Schuster: Krise. Föllmer, Graf und Leo: Einleitung.

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Männlichkeit‘.7 In der Forschung selbst blieb diese Problematik natürlich nicht unbemerkt, so dass sich simultan zu den inhaltlichen auch konzeptionelle Diskussionen zu entwickeln begannen, die sich mit der Reichweite und Erklärungsqualität des Konzepts ‚Krise‘ beschäftigten und seine auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand bezogenen Grenzen eruierten.8 Es scheint also schwierig zu sein, mit Hilfe des Konzepts ‚Krise‘ einen nachhaltig tragfähigen und konzeptionell konsistenten Untersuchungszusammenhang herzustellen. Seiner Bedeutung für den wissenschaftlichen Alltag hat dieser Sachverhalt allerdings keinen Abbruch getan. Mit der Online-Version der ‚Historischen Bibliographie‘ erschließen sich für den Zeitraum zwischen 1990 und Juni 2011 mehr als 2.900 selbständige und unselbständige Publikationen, die im Titel auf das deutsche Wort ‚Krise(n)‘ Bezug nehmen. Darin sind Komposita wie ‚Krisenwahrnehmung‘ und ‚Krisenbewusstsein‘, wie ‚Agrar-‘, ‚Stahl-‘ ‚Wirtschafts-‘ oder ‚Kubakrise‘ eingeschlossen. Das englische ‚Crisis‘ und das französische ‚Crise‘ sowie deren plurale Formen führen zu weiteren gut 650 Treffern.9 In Handbüchern werden teilweise ganze Epochen10 oder die zwischen ihnen angesiedelten Übergangsphasen wie etwa das späte Mittelalter im Vorfeld der Reformation11 oder das Ende des Alten Reiches12 als Zeiten der ‚Krise‘ apostrophiert. Und auch auf der Ebene der Binnengliederung organisieren Monographien und Überblickswerke ihr Material und die von ihnen gedeutete Zeit häuÀg mit Hilfe dieses Lexems.13 7 8 9

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Zuletzt diskutiert in einem Themenheft von L’Homme 19 (2008). Lehmann: Christentum; Orth: Zeit; Friedrichs: Krisen; Scholten: Einführung; Dinges: Veränderungen. Historische Bibliographie Online. Historische Bibliographie und Jahrbuch der historischen Forschung. URL: http://www.oldenbourg.de/verlag/ahf/(01.06.2011). Die Zahl ist als Tendenz zu verstehen. Zum einen verzeichnet die ‚Historische Bibliographie‘ nicht die Gesamtheit der französischen und englischsprachigen geschichtswissenschaftlichen Literatur. Zum anderen werden von der Bibliographie auch solche unselbständigen Titel als Treffer gezählt, die das Lexem ‚Krise‘ zwar nicht selbst beinhalten, allerdings in einschlägigen Sammelbänden erschienen sind. Auf der Ebene der Titel kommt es damit zu einigen Mehrfachzählungen. Da diese Beiträge allerdings thematisch dem Feld der historischen Krisenforschung zugehörig sind und im Text in aller Regel auch lexikalisch von ‚Krise(n)‘ gesprochen wird, ist die Gefahr gering, dass dadurch die Bedeutung des Konzepts überzeichnet wird. Press: Kriege; Schilling: Aufbruch. Zusammenfassend Ehrenpreis und Lotz-Heumann: Reformation, S. 26 f. Vgl. neuerdings dazu Müller: Krise. Holtz: Forschung. Zur Illustration sei nur verwiesen auf das Werk von Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. Dieser widmete ein Kapitel den „Anfänge[n] des modernen deutschen Nationalismus als Reaktion auf Modernisierungskrisen, Revolution und Fremdherrschaft“ (S. 506–530). In späteren Bänden griff Wehler häuÀger auf Komposita mit ‚Krise‘ als Gliederungselement zurück. Ders.: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, sprach mit Blick auf die „Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Wirtschaft“ von der „Krise“ des „‚alte[n]‘ Handwerk[s]“ (S. 54–64), untersuchte die „Agrar- und Gewerbekrisen von 1845 bis 1848“ – untergliedert in die „letzte Agrarkrise ‚alten Typs‘ in den deutschen Staaten“, die „Verschärfung der Notlage: die Gewerbekrisen von Handwerk und Protoindustrie – Die Industrie- und Bankenkrisen“ und die „[s]oziale[n] Krisenfolgen“ – (S. 641–659) sowie die „Gesellschaftskrise und Legitimationskrise“ im Vor-

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Die bisweilen konstatierte Unschärfe des Konzepts und seine Nähe zu einem intuitiven Wortgebrauch scheinen seiner geschichtswissenschaftlichen Bedeutung also keineswegs zu schaden.14 Dies gilt auch für den der modernen Wissenschaft eingeschriebenen Zug zur Selbstbeobachtung, der gerade dort an Relevanz gewinnt, wo Präzisions- und Steuerungsbedarf nahezu unvermeidlich aus der Verwendung eines nur mit Einschränkungen theoretisierbaren Konzepts resultiert. Der vorliegende Beitrag wird sich mit den dadurch bezeichneten Spannungsfeldern auseinandersetzen. Es wird darum gehen, sich aus wissenschaftsgeschichtlicher und wissenschaftspragmatischer Perspektive mit der Attraktivität zu befassen, die es bedeutet, historische ‚Krisen‘ zu diagnostizieren. Welche Funktionen erfüllen derlei Diagnosen für die Konstruktion geschichtswissenschaftlicher Epochenbilder? Welche temporalen Gliederungsleistungen ist das Konzept ‚Krise‘ in der Lage zu erbringen, auf welchen Ebenen des historischen Prozesses wird es lokalisiert und welche – vielfach impliziten – Vorstellungen von sozialer Evolution gehen mit ihm einher? Diese Fragen werden im ersten Abschnitt zu thematisieren sein. Auf ‚Krise‘ wird in der Regel nicht Bezug genommen, um einen sozialen Normalzustand zu bezeichnen.15 Daher gilt die Aufmerksamkeit im zweiten Abschnitt der Problematik, wie die Geschichtswissenschaft verfährt, um bestimmte Phänomene als Anomalie oder als strukturelle Abweichung von einem gegebenen Normalzustand – und folglich als Krisenerscheinungen – auszuweisen. Dabei wird zu zeigen sein, dass diese Fragen nicht nur mit der Relativität des Standpunkts zusammenhängen, von dem aus ‚Krisen‘ konstatiert werden, sondern auch mit der die ‚Krisen‘-Debatten der letzten Jahrzehnte kontinuierlich begleitenden Schwierig-

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feld der Revolution (S. 660–701). Ders.: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, widmete mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung seit 1849 verschiedene Kapitel dem „Vordringen des Agrarkapitalismus vom Aufschwung seit 1848 bis zur Krise seit 1875/76“ (S. 40–56), der „landwirtschaftlichen Strukturkrise“ (S. 56–59), den „Konjunkturen und Krisen 1850 bis 1873“ (S. 91–99), der „Zweite[n] Weltwirtschaftskrise von 1873“ (S. 100–106), der „Hochindustrialisierung im Wechsel von Konjunktur und Krise“ (S. 552–610), hinsichtlich der Bismarckära den „[i]nnenpolitische[n] Krisenherde[n]“ (S. 889–934), der „‚Krieg-in-Sicht‘-Krise von 1875“ (S. 968–970), im Hinblick auf die Wilhelminische Ära dem „Schaukelsystem Bülows: Scheinerfolge und Krisen, 1900–1909“ (S. 1008–1011), dem „Sozialimperialismus als Strategie der innenpolitischen Krisenbewältigung“ (S. 1138–1141) und der „Julikrise 1914: Die Flucht nach vorn“ (S.1152–1168). Ders.: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, letztlich sprach hinsichtlich des Ersten Weltkriegs kapitelweise von der „Krisenideologie“ (S. 14–26), mit Blick auf Weimar von der „Weltwirtschaftskrise“ (S. 257–262), der „Strukturkrise“ der Landwirtschaft (S. 274–283), der „innenpolitische[n] Existenzkrise bis 1923“ (S. 397–408) und vom „Ausbau und d[er] Krise des Sozialstaats“ (S. 428–434). Der fünfte und letzte Band (2008) zur „Bundesrepublik und DDR“ enthält keine Kapitel zu Krisenphänomenen. Über die Verwendung des Lexems auf der Ebene der Darstellung ist damit natürlich nichts ausgesagt. Welche Strukturen erkennbar würden, wenn eine größere Zahl internationaler Überblickswerke oder auch einzelne Monographien systematisch ausgewertet würden, ist kaum zu sagen. Vgl. etwa Lanzinner: Zeitalter, S. 126–171; Reinhard: Reichsreform, S. 193–199. Schlaeger: Krise, S. 239. Schon Koselleck: Art. „Krise“, S. 624 f., hatte konstatiert, dass sich das Lexem ‚Krise‘ trotz oder gerade aufgrund seiner intensiven Nutzung in der Publizistik der Moderne nie zu einem „klaren Begriff“ der politischen und sozialen Sprache entwickelt habe. Schlögl: Abschlussbericht, S. 67.

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keit, das Verhältnis zwischen den objektiven und subjektiven Seiten historischer ‚Krisen‘ präzise zu bestimmen. Ausgehend von einigen Überlegungen zur DeÀnition des Begriffs der ‚Krise‘ und in Konzentration auf die aktuelle Tendenz, ‚Krise‘ vor allem als Phänomen der zeitgenössischen Selbstbeschreibung zu begreifen und in dieser Eigenschaft zu untersuchen,16 wird dieser Aspekt im dritten und letzten Abschnitt weiter zu vertiefen sein. Im Mittelpunkt wird eine weitere Relation stehen, die mit dem Anspruch, historische ‚Krisen‘ zu ermitteln, zur Disposition steht, nämlich die Notwendigkeit, eine Beziehung zwischen Ganzheiten und den sie konstituierenden Teilen zu etablieren. Dabei soll verdeutlicht werden, dass auf der Ebene auch der wissenschaftlichen Selbstbeschreibung ‚Krisen‘ häuÀg dort konstatiert werden, wo die Trennung zwischen Ursachen und Wirkungen aufgrund einer Fülle potentieller Erklärungsmöglichkeiten instabil geworden ist und es sich folglich nur bedingt ermitteln lässt, wie sich Teile und Ganzheiten zueinander verhalten. ‚Krise‘ stellt eine Möglichkeit dar, soviel kann bereits gesagt werden, einen Untersuchungszusammenhang zu organisieren, der jenseits monokausaler Erklärungen soziale Komplexität zu denken und einen bestimmten Modus historischen Wandels zu erfassen sucht. Damit mag sich bereits einerseits einer der Gründe dafür abzeichnen, weshalb sich das Konzept ‚Krise‘ in der Geschichtswissenschaft als nahezu unersetzbar erwiesen hat. Andererseits dürfte gerade diese nur relative Bindekraft des Konzepts ‚Krise‘ dafür verantwortlich sein, dass sich kaum eine der einschlägigen Diagnosen konsensuell durchzusetzen vermochte. Insgesamt erheben die folgenden Überlegungen nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Es wird alleine darum gehen, ausgehend von einigen prominenten geschichtswissenschaftlichen ‚Krisen‘-Debatten exemplarisch auf deren strukturelle Gemeinsamkeiten zu verweisen. Dabei konnten natürlich nicht alle systematischen Aspekte gebührend gewürdigt werden. Auf die von Ansgar Nünning untersuchten narratologischen Implikationen kulturwissenschaftlicher Krisendiagnosen beispielsweise wird nur am Rande einzugehen sein. Dies mag insofern als echtes DeÀzit betrachtet werden, als die limitierte Bindekraft des Konzepts ‚Krise‘ in der Geschichtswissenschaft mit der Neigung einherzugehen scheint, analytische mit poetologischen Verfahren der Evidenzerzeugung zu verknüpfen.

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Dieser Ansatz wurde zwischen 2006 und 2009 systematisch im Rahmen des Teilprojekts A6 „Zeitdiagnosen im 17. Jahrhundert. Die Medien gesellschaftlicher Selbstbeobachtung im Zeichen der Krise“ innerhalb des SFB 485 „Norm und Symbol“ an der Universität Konstanz verfolgt. Die über die Resultate der Einzelprojekte (Eva Schnadenberg, Eva Wiebel) hinausgehenden Ergebnisse der Projektarbeit Ànden sich zusammengefasst bei Schlögl: Abschlussbericht, S. 64–70. Eine online-Publikation der öffentlichkeitsrelevanten Teile der Abschlussberichte des SFB ist geplant. Ein aus dem Teilprojekt hervorgegangener Sammelband beÀndet sich im Druck. Vgl. dazu auch unten Anm. 68.

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1. Dissoziationen, Assoziationen und soziale Evolution: Zur Zeitlichkeit der ‚Krise‘ Rudolf Vierhaus vertrat vor wenigen Jahren die Ansicht, dass dann von Krisen gesprochen werden könne, „wenn zuvor bestehende stabile und funktionierende Zustände sich aufzulösen beginnen, erodieren, dysfunktional werden und die eingetretenen Störungen nicht mit hergebrachten Mitteln überwunden werden können, sondern eine ‚renovatio‘, eine Reform, eine Revolution erforderlich wird.“ Grundsätzlich gesehen, so Vierhaus, seien ‚Krisen‘ als „Prozesse“ zu deÀnieren, deren Verläufe sich zwar durch strukturelle Offenheit auszeichneten, „deren Anfänge, Höhepunkte, End[punkte]“ allerdings „prinzipiell datierbar“ seien. „Niedergangs-, Auflösungs-, Verfallsprozesse sind keine K[risen], wohl aber können ihnen K[risen] vorangegangen sein.“ 17 In dieser Lesart überlagern sich verschiedene, als ‚Krise‘ qualiÀzierbare Sachverhalte. Auf der einen Seite wird ‚Krise‘ auf einer systematischen Ebene mit anderen historischen Bewegungsbegriffen angesiedelt. Sie markiert eine bestimmte Phase innerhalb eines zwar dynamischen, im Großen und Ganzen allerdings in Begriffen der chronologischen Aufeinanderfolge beschreibbaren Prozesses. Demnach würden auf Arten eines Spannungsaufbaus, der aus der fortschreitenden Erfolglosigkeit zweckrationaler Operationen resultiert, solche Phasen – ‚Krisen‘ – folgen, in denen diese Spannungen virulent und sichtbar werden. Diese wiederum würden in Phasen der substantiellen und mithin gewaltsamen Readjustierung sozialer Gegebenheiten und schließlich in die Konsolidierung und Restabilisierung des Veränderten münden. Auf der anderen Seite tritt ‚Krise‘ bei Vierhaus als analytische Kategorie in Erscheinung, die historische Bewegungen nicht nur beschreiben, sondern auch deren Ursachen erklären soll. Dadurch verschiebt sich die chronologische KonÀguration in dem Sinne, dass die – mit Innovation notwendig einhergehende – Dissoziation des Alten durch ‚Krisen‘ eben auch ausgelöst werden könne. Das Konzept ‚Krise‘ besitzt demnach das Potential, auf vergleichsweise unkomplizierte Weise bestimmte Schlüsselmomente sozialer Evolution sowohl chronologisch zu gliedern als auch in ihren Ursachen zu erklären. Am Beispiel der Debatte um „Krise und Untergang der Römischen Republik“18 lässt sich verdeutlichen, dass sich diese durch das Konzept ‚Krise‘ erbrachte Ordnungsleistung mit einer weiteren trifft, nämlich mit der Differenzierung zwischen Strukturen und Ereignissen und ihrer Positionierung im GeÁecht geschichtswissenschaftlicher Erklärungshierarchien. Karl-Joachim Hölkeskamp hat unlängst darauf hingewiesen, dass sich anhand der Verwendung des Lexems ‚Krise‘ die beiden dominierenden Interpretationen der Spätzeit der Römischen Republik unterscheiden lassen.19 Auf der einen Seite wird auf dieses Lexem zurückgegriffen, wenn die strukturellen Faktoren, die den „Untergang“ verursacht hätten, in den Vordergrund gerückt werden sollen; Christian Meiers bekanntes Konzept der „Krise ohne Alternative“ gliederte sich in diesem Sinne in eine sich strukturgeschichtlich readjustie17 18 19

Vierhaus: Krisen, S. 193. Christ: Krise. Zusammenfassend zum Folgenden Hölkeskamp: Kultur, S. 1 f.

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rende Geschichtswissenschaft der 1970er Jahre ein. Nach Meiers Ansicht war die ‚Krise‘ jenseits des situativen Handelns der politischen Eliten und ihrer Steuerungspotentiale aus der progredierenden ModiÀkation umweltlicher Gegebenheiten und den daraus resultierenden Verwerfungen mit den (zu Reformen nicht fähigen) soziopolitischen und verfassungsstaatlichen Strukturen hervorgegangen.20 Karl Christ betonte ebenfalls die „längerfristige[n] Entwicklungen“. Damit wandte er sich gegen die Vorstellung von der „Einheit“ des einen wie des anderen politischen Systems und suchte das Verhältnis von Brüchen und Kontinuitäten neu zu ordnen, Fragen der epochalen Binnengliederung der Republik eingeschlossen.21 Im Zentrum seiner konzeptionellen Erwägungen stand dabei nicht der Begriff der ‚Krise‘, sondern in Auseinandersetzung mit den geschichtswissenschaftlichen Interpretationen, die an Ronald Symes (1903–1989) ‚Roman Revolution‘ von 1939 anschlossen, der der ‚Revolution‘.22 Dem stehen auf der anderen Seite solche Lesarten entgegen, die der Dynamik der Ereignisse in der späten Zeit der Republik ein deutlich größeres Gewicht einräumen und nicht davon ausgehen, dass der die Republik letztlich beseitigende Bürgerkrieg Ausdruck substantieller systemischer Spannungen gewesen sei. Aus dieser Perspektive ist die Republik nicht in einen Zustand der ‚Krise‘ geraten, sondern schlicht ‚gefallen‘.23 Im Spannungsfeld der Erklärungshierarchien zwischen Ereignis und Struktur scheint sich ‚Krise‘ also auf Seiten der Strukturen zu verankern.24 Damit wird sie Teil der von Vierhaus skizzierten Suche nach den Ursachen historischer Ereignisfolgen. Die bei Vierhaus gleichfalls erkennbare Überlagerung verschiedener systematischer Aspekte kennzeichnet allerdings auch die Verwendung des Wortes ‚Krise‘ in diesem Zusammenhang. So wandte sich Harriet I. Flower vor kurzem erneut gegen Meiers „Krise ohne Alternative“, indem sie darauf verwies, dass ‚Krise‘ eigentlich keine langfristigen Prozesse, sondern „an acute event“25 bezeichne. Auf diese Weise hob sie das der ‚Krise‘ ebenfalls inhärente Bedeutungspotential hervor, das – in der Tat auf der Ebene der Ereignisse lokalisiert – eine bestimmte Phase sich abzeichnender Eskalationen im unmittelbaren Vorfeld substantieller sozialer Umwälzungen bezeichnen kann. Insofern ist das Konzept ‚Krise‘ mit seinen diversen Bedeutungspotentialen in der Lage, die Gemengelage der auf verschiedenen sozialen Ebenen anzusiedelnden, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ausgestatteten und mithin einander gegenläuÀgen – in jedem Fall aber auf einen markanten End- oder Wendepunkt zutreibenden – historischen Prozesse zu beschreiben. 20 21 22 23

24 25

Meier: Res publica, S. XLIII–LIII, 201–205. Christ: Krise, S. 1 f., 6. Ibid., S. 11 f. Hölkeskamp: Kultur, S. 1 f. Ähnlich verhält es sich mit den Debatten um die Reformation. Diese drehen sich darum, ob die Reformation aus einer im Grundsatz außerordentlich vitalen Frömmigkeit des späten Mittelalters erwachsen oder – mit dem traditionellen Eigenbild des Protestantismus – aus einer degenerierten Lage der Alten Kirche hervorgegangen sei. Vgl. den Nachweis oben Anm. 11. Sandl: Revolution, S. 68 f., 83. Flower: Republics, S. IX, 117 f., mit einem programmatischen Kapitel: „An Alternative to a Crisis: Sulla’s New Republic“ (S. 117–134).

Zwischen Normabweichung und Revolution – ‚Krise‘ in der Geschichtswissenschaft

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Diese Möglichkeit, heterogene Elemente miteinander zu verbinden, ohne zwangsläuÀg den Eindruck des Unsystematischen zu erwecken, besteht auch für die Trennung zwischen Ursachen und Symptomen, die das Konzept der ‚Krise‘ partiell überbrückt. Im Deutschen stehen dafür näherhin verschiedene Komposita zur Verfügung wie etwa der Terminus des „Krisenherdes“. Mit diesem können sowohl die „strukturellen“ als auch die „akuten Kollisionen“ beschrieben werden, welche in von wachsender Spannung gekennzeichneten KonÀgurationen und in rekursiven Bewegungen Strukturen und Ereignisse aneinander binden, gleichermaßen Prozesse der „quantitative[n]“ wie „qualitative[n] Eskalation“, der „schleichende[n]“ Verschiebung sozialer Gewichte wie der offenen Konfrontation gesellschaftlicher Gruppen.26 Bezogen auf das Beispiel der Römischen Republik hatte Meier zudem verschiedene Krisenstadien identiÀziert und voneinander unterschieden, etwa den „Ausbruch der akuten Krise in den Jahren 91 v. Chr.“ und die „Zuspitzung der Krise in den Jahren um 60 v. Chr.“27 Damit ist festzuhalten, dass dort, wo von der Geschichtswissenschaft eine historische Umbruchsituation diagnostiziert wird, ‚Krise‘ auf nahezu allen temporalen und systematischen Ebenen zur Anwendung kommen kann. Das Konzept steht in diesem Rahmen einerseits für eine – häuÀg diskrete und bisweilen intuitive – Epistemologie sozialen Wandels, die auf einem mittleren Niveau theoretischer Abstraktion soziale Komplexität in ihrer evolutionären Dimension auf einen Begriff zu bringen sucht. Andererseits kann das Konzept ‚Krise‘ dazu verwendet werden, verschiedene Zentren oder Brennpunkte im Rahmen der sich damit assoziierenden Prozesse zu benennen. In dieser Eigenschaft hat ‚Krise‘ dazu beigetragen, Erklärungshierarchien zu überdenken und die Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen oder systemischen Faktoren neu zu ordnen, ihre jeweilige temporale Beschaffenheit eingeschlossen. ‚Krise‘ steht dabei zumeist für KonÀgurationen des Endes, der sichtbar werdenden Deszendenz und Dissoziation des Alten, seltener für KonÀgurationen des Anfangs.28

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Hölkeskamp: Kultur, S. 4–7. Meier: Res publica, S. 207, 267. Es wäre lohnenswert, die Beschreibung der ‚Krise‘ der Römischen Republik mit der Interpretation des „Krisenknäuels“ zu vergleichen, das sich zur „Staatskrise“ verdichtet und aufgrund des revolutionären Antriebs eines Teils der politischen Eliten den „Untergang“ der Weimarer Republik nach sich gezogen habe. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 229 f., 592 f. Vgl. dazu Föllmer, Graf und Leo: Einleitung, S. 16. Grundlegend ist die Arbeit von Peukert: Weimarer Republik, die mit Kapiteln zur „totale[n] Krise 1930–1933“ (S. 243–252) und zum „Verschleiß der Alternativen“ (S. 252–265) schließt. Ein Beispiel dafür ist Lobsien: Renaissance-Krisen. Hier wird der Aufbau und Einbau neuer systemischer Elemente als krisenhaft beschrieben.

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2. Kontinuitäten und Normalitäten – Sollwerte sozialer Stabilität und ihre Überschreitung In der Literatur wird natürlich nicht nur dann von historischen ‚Krisen‘ gesprochen, wenn die substantielle ModiÀkation sozialer Systeme insgesamt zur Debatte steht, sondern auch dann, wenn die partielle oder temporäre Irritation einzelner Systemzusammenhänge beschrieben werden soll. Im Hinblick auf die Vormoderne gelten etwa dynastische Wechsel in aller Regel als Zeiten der ‚Krise‘, unabhängig davon, dass diese zumeist nicht das System der Monarchie an sich gefährdeten.29 Auf ähnliche Weise werden solche Situationen interpretiert, in denen institutionelle Kontinuität bedroht oder zwischenzeitlich fraglich geworden zu sein scheint.30 Historische Selbst- und wissenschaftliche Fremdbeobachtung können dabei zwar zur Deckung kommen.31 Allerdings wurde zumal in der älteren Literatur kaum je systema29

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Hier sei nur auf den Übergang vom Haus Valois auf das der Bourbonen, der sich bekanntlich mit gravierenden konfessionspolitischen Problemen überlagerte, und dessen geschichtswissenschaftliche Interpretation verwiesen. Wolfe: Conversion, S. 188 f., sprach von einer „twin“ oder „traumatic crisis“. Sie sei aus dem Versuch Heinrichs von Navarra (reg. 1589–1610) erwachsen, nach dem Tod des letzten Valois, Franz von Alençon-Anjou (1566–1584), als Protestant seine Ansprüche auf den französischen Thron zur Geltung zu bringen. Nach Hinrichs: Frankreich, S. 31, war die „Krise“ zwischen 1584 und dem Frieden von Vervines 1598 „alltäglicher Dauerzustand“ der französischen Monarchie. Für Crouzet: Guerriers, Bd. 2, S. 49, 121–129, handelt es sich bei den KonÁikten um die angestrebte Thronfolge Heinrichs von Navarra um die „grande crise“ der Monarchie. Die Bartholomäusnacht von 1572 könne folglich keineswegs als der „paroxysme de crise pour la monarchie“ gedeutet werden, sondern nur als der erste Höhepunkt einer Konfrontation, „qui ne pouvait que faire glisser le royaume dans une crise accentuée“. Davon abgesehen ging Crouzet von einer kulturellen Krise aus („une crise dans la civilisation“), die aus einer sich seit dem späten Mittelalter verfestigenden Kultur der Angst („civilisation de l’angoisse“) hervorgegangen sei. Mit den konfessionellen Verwerfungen des 16. Jahrhunderts sei diese Krise letztlich nur derart verschoben worden, dass sie im gesellschaftlichen Raum neue Bruchlinien hervorgebracht habe. Ders.: Guerriers, Bd. 1, S. 150–152. Eine sich mit unterschiedlichen konfessionellen Konzepten von Männlichkeit überlagernde Krise sowohl des Geschlechter- als auch des Herrscherbilds wiederum, die sich bis zur Mündigkeit Ludwigs XIII. von Frankreich (reg. 1610–1643) im Jahr 1617 und der Restabilisierung der salischen Erbfolge erstreckt habe, konstatierte vor einigen Jahren Randall: Masculinity, S. 214–216. Die Außenbetrachtung der vom Verfasser als „Krise Heinrichs IV.“ gedeuteten Auseinandersetzungen um den Wechsel der Dynastien untersucht Beiderbeck: Religionskrieg, S. 104–126. Vgl. grundsätzlich auch Salmon: Society. Ein bekanntes Beispiel aus der Reichsgeschichte, das auf ähnliche Weise beschrieben wurde, ist der jülich-klevische Erbfolgestreit; vgl. zuletzt Schulze: „Blöcke“. Ullmann: Kampf; Hahn: Aufbruch; John: „Not“. Das plötzliche Ableben eines Herrschers ohne mündigen Erben und die daraus nicht selten resultierende Regentschaft einer Frau zogen nach Ansicht nicht nur der älteren Literatur politische ‚Krisen‘ nach sich. Puppel: Kampf, S. 248. Dieses Urteil konvergiert insofern mit der zeitgenössischen Selbstbeobachtung, als weibliche Regentschaft in der Frühen Neuzeit zumindest als Ausnahmefall empfunden wurde. Allerdings existierten für solche Fälle zahlreiche Regelungen und Handlungsoptionen, so dass diese Fälle prinzipiell erwartbar waren und die Absorptionsfähigkeit des politischen Systems keineswegs an ihre Grenzen führten. Dies.: Regentin. Die auch in dem oben Anm. 29 erwähnten Fall virulente Problematik weiblicher Regent-

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tisch zwischen diesen beiden Feldern unterschieden. Normative Bewertungshorizonte der modernen ForscherInnen überschnitten und überschneiden sich daher mit Verweisen auf das, was als subjektives historisches KrisenempÀnden evident zu sein schien und scheint. Gemessen an der vorausgesetzten Exzeptionalität von Phänomenen von Krieg, Hunger oder Seuchen begab sich die Krisenforschung auf dieser Basis zwischenzeitlich auf die Suche nach Szenen des Katastrophalen, der „apokalyptische[n] Leidenszeit“,32 die als Erfahrung von Ohnmacht und Kontingenz mit der Virulenz eines subjektiven Krisenbewusstseins identiÀziert wurden. Aus diesem letzteren Zugriff entwickelte sich die problematische Tendenz, den historischen AkteurInnen einen traditionalistischen und mithin psychologisch limitierten Blick auf ihre Umwelt dergestalt zu unterstellen, dass diese nicht nur auf existentiell bedrohliche, sondern auch auf jede Art von Normabweichung bevorzugt mit Überforderung, Eskapismus und Kompensation – mit der Flucht ins Religiöse oder in künstlerische Ausdrucksformen – reagiert hätten.33 Wichtiger für die hier interessierende Frage nach der Pragmatik der ‚Krise‘ ist jedoch zu verdeutlichen, dass zwischen den unterschiedlichen normativen Horizonten der Forschenden selbst und deren jeweiliger Bereitschaft, bestimmte Phänomene als anomal oder krisenhaft zu qualiÀzieren, eine Verbindung besteht. Diese Problematik soll im Folgenden anhand der Debatten um die ‚General Crisis of the Seventeenth Century‘ vertieft werden. Diese vermittelt zugleich einen Eindruck davon, auf welche Weise sich das Konzept der ‚Krise‘ gerade aufgrund seiner limitierten analytischen Durchdringungskraft zu einem Motor der Erzeugung wissenschaftlicher Relevanz entwickelt hat. Die Debatte um die ‚General Crisis of the Seventeenth Century‘ ging in den 1950er Jahren aus der seinerzeit jungen englischsprachigen und französischen Forschung hervor.34 Ähnlich wie im Fall der Römischen Republik organisierten die Konzepte ‚Krise‘ und ‚Revolution‘ ein Untersuchungsfeld, das eine Gesamtheit historischer Prozesse, ihrer Verläufe und Interdependenzen, bezogen auf einen bestimmten epochalen Abschnitt, zu erfassen beanspruchte. Mit ‚Krise‘ und ‚Revolution‘ standen sich hier allerdings weniger zwei Geschehenstypen in ihrer unter-

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schaft und deren Interpretation zeigt überdies, wie sich die moderne Bewertung der ‚normalen‘ Funktionsweise frühneuzeitlicher Staatlichkeit mit Vorstellungen von ‚starker‘ oder ‚schwacher‘ Herrschaft, mit solchen von verbindlichen oder an Verbindlichkeit verlierenden Zentralgewalten – und damit von in ‚Krisen‘ beÀndlichen Staatswesen – überlagern kann. So folgte nach Deyon: France, S. 415–417, auf die Ermordung Heinrichs IV. am 14. Mai 1610 durch François Ravaillac und die Regentschaft Marias von Medici (reg. 1610–1617) eine „crise de l’autorité monarchique“. Beendet wurde sie aufgrund der damit verbundenen Stärkung der Zentralgewalt durch den Eintritt Richelieus (1585–1642) in den Staatsrat im April 1624. Vgl. dazu grundsätzlich Sawilla: Entscheiden. Jakubowski-Tiessen: Einleitung, S. 7. Ibid., S. 7 f.; Lehmann: Christentum, S. 11; vgl. auch Braungart: Selbstbehauptung; Körber: Krisenbewußtsein; Roeck: Krieg. Zu den Problemen, die mit dem kompensationstheoretischen Paradigma einhergehen, vgl. Bähr: Furcht, S. 292, 296 f., 304 f. Zusammenfassend Vogler: Aufbruch, S. 413–416; Meumann: Endzeit, S. 107–109; Benedict: Introduction; Elliott: Crisis; zuletzt Parker: Crisis.

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schiedlichen evolutionären und epistemologischen Qualität gegenüber. Vielmehr ging die Debatte von den – phänomenologisch prinzipiell unstrittigen – Revolten und aufrührerischen Handlungen aus, die sich im europäischen Maßstab um die ‚Fronde‘ und die ‚Puritanische Revolution‘/‚Great Rebellion‘ gruppierten. Es galt, diese Ereignisse mit einer allgemeinen Theorie des revolutionären Umbruchs zu verbinden.35 Im Mittelpunkt stand die Frage, welche systematische Position den Unruhen zuzuweisen sei, die in ihrer Häufung – in aller Regel – als Abweichung von einem als normal empfundenen Prozess sozialer Evolution betrachtet wurden. Verhandelt wurde die Hypothese, dass diese mit einer „allgemeinen Krise“ zusammenhingen, die der Umbruch vom feudalistischen zum kapitalistischen oder bürgerlichen Wirtschaften mit sich gebracht habe.36 Wichtige Impulse verdankte diese Debatte Boris Poršnevs (1905–1972) erstmals 1948 publizierter Interpretation der Vorgeschichte der ‚Fronde‘. Poršnev hatte sich gegen die traditionelle Vorstellung gewandt, dass die ‚Fronde‘ als der letzte Versuch des Adels bewertet werden könne, die Etablierung des Absolutismus in Frankreich aufzuhalten.37 Ohne das Interpretament der ‚Krise‘ zu benutzen, bettete er die ‚Fronde‘ in eine Geschichte des Klassenkampfes ein. Wie die Französische Revolution sei sie „als gewisse Kraft im Schoß der französischen Gesellschaft von dem Augenblick an verborgen“ gewesen, als sich seit dem 16. Jahrhundert kapitalistische Wirtschaftsformen zu entwickeln begonnen hätten. Poršnev widmete sich deswegen der Vorgeschichte der ‚Fronde‘, weil er, wie er sagte, in den „Aufstände[n] der Bauernschaft und der Stadtarmut“ die „einzige Bedingung“ erblickte, „die alle übrigen Formen der Opposition gegen das absolutistische Regime“, wie sie sich in der Adelsrevolte der ‚Fronde‘ verkörperten, ermöglicht habe. Entscheidend für seinen Zugriff war es daher, kleineren Revolten, Erhebungen oder Unruhen nicht lokalen oder symptomatischen Charakter zuzusprechen. Als Artikulationsformen des Willens der „Volksmasse“ seien sie vielmehr als genuin historische Kraft zu bewerten und folglich in ihrer Summe – und nicht in ihrer jeweiligen Individualität – zu interpretieren. Damit hatte Poršnev mit Hilfe der marxistischen Geschichtsphilosophie eine Möglichkeit entwickelt, verschiedene und scheinbar zusammenhangslose Aufstände mit einer Untersuchung des politischen und ökonomischen Systems und dessen Wandlungen zu verschalten. Ähnliches gilt für die nahezu zeitgleich erschienenen Studien Roland Mousniers und Eric J. Hobsbawms. Mit seinem auf langfristigen sozialen Wandel ausgerichteten Modell reagierte Hobsbawm einerseits auf die – am marxistischen Begriff der ‚Krise‘ orientierten38 – Versuche der englischen Forschung, den Übergang

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Koenigsberger: Krise, S. 163 f.; Benedict: Introduction, S. 13. Wallerstein: Crise; den zeitlichen Rahmen markierten die portugiesische Erhebung gegen die spanische Krone im Jahr 1637 und das Ende einer Revolte in Moskau 1662. Vgl. Pillorget: Crise, S. 5–11, und die – für das späte 17. Jahrhundert allerdings unvollständige – Liste bei Parker: Crisis, S. 1055; vgl. dazu auch unten Anm. 60. Porschnew: Volksaufstände, S. 7 f. Dazu Koselleck: Art. „Krise“, S. 645–647.

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zwischen vormodernen und modernen Formen des Wirtschaftens zu analysieren.39 Andererseits operierte er mit den damals ausnehmend innovativen Überlegungen Fernand Braudels zur dreigliedrigen temporalen Beschaffenheit historischer Prozesse – ‚structure‘, ‚conjoncture‘, ‚événement‘.40 Es blieb dennoch vage, was genau Hobsbawm auf dieser Grundlage als ‚Krise‘ des beginnenden und fortschreitenden 17. Jahrhunderts beschrieben wissen wollte. ‚Krise‘ Àrmierte als ein Leitbegriff für eine Zeit beschleunigten wirtschaftlichen Umbaus und der daraus resultierenden Verwerfungen.41 Den entscheidenden Strukturbruch im Übergang in die Moderne verband er ohnehin nicht mit dieser Zeit, dies stellte er kurz darauf noch einmal klar, sondern mit den ökonomischen Impulsen der Industriellen Revolution, welche die politischen und sozialen Strukturen des ‚Ancien régime‘ endgültig beseitigt habe. Daher war es für ihn auch nicht von Interesse, ob die alle sozialen Bereiche durchdringenden ökonomischen Prozesse sich trotz oder aufgrund der Revolten, Aufstände und Erhebungen des 17. Jahrhunderts ihren Weg gebahnt hätten. Das Entscheidende sei nicht, wie, sondern dass sich „bürgerliches“ Wirtschaften in dieser Zeit – auf verschiedene Weisen – durchzusetzen begonnen habe.42 Die europäischen Unruhen der 1620er bis 1660er Jahre waren aus dieser Perspektive ebenso wie die ‚Fronde‘ oder die ‚Puritanische Revolution‘ sowohl Symptome als auch Katalysatoren eines diskursiven, im Ökonomischen verankerten Prozesses, ohne gegenüber anderen Faktoren besondere Priorität zu besitzen. Anders als in Poršnevs zwar doktrinärem, in der Staffelung der Erklärungshierarchien allerdings sehr standfestem Gebäude, in dem Erhebungen als Ermöglichungsbedingung sozialer Progression gedeutet worden waren, versammelte Hobsbawm unter dem Dach der ‚Krise‘ die bekannten Heterogenitäten. Diese sollten sich im Fortgang der Debatte vermehren. Poršnev sollte auch lange Zeit der einzige Historiker bleiben, der Erhebungen nicht als Normabweichung, sondern ausdrücklich als Vollzug eines erwarteten historischen Verlaufs betrachtete. Mousnier hatte bereits 1953 im Rahmen der ‚Histoire générale des civilisations‘ das 17. Jahrhundert als Zeit der „Crise“ qualiÀziert. Auch diesem Urteil lagen die dieses Jahrhundert kennzeichnenden sozialen Unruhen zugrunde.43 Mousnier interpretierte diese allerdings im Unterschied zu Poršnev als die Resultate eines sich innerhalb der politischen Eliten Frankreichs abspielenden Kampfs um materielle und ideelle Ressourcen.44 Damit situierte er sie klar auf der Ebene des Symptomatischen. Eine Art strukturaler Wasserscheide wollte er damit ausdrücklich nicht verbunden sehen. ‚Krise‘ bedeutete für ihn in diesem Rahmen daher einerseits kaum mehr als eine Phase politischer Instabilität. Andererseits vertrat er die Auffassung, dass das 17. Jahrhundert sehr wohl tiefgreifende Umwälzungen gesehen 39 40 41 42 43 44

Elliot: Crisis, S. 32–34. Königsberger: Krise, S. 145–147. Hobsbawm: Crisis. Ders.: Discussion (II), S. 13. Mousnier: Siècles, S. 176–182; vgl. Anm. 46. Mousnier und seine Schüler sollten sich bis in die 1970er Jahre an den marxistischen Lesarten des 17. Jahrhunderts abarbeiten.

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habe, die insbesondere aufgrund der inneren Verwerfungen, welche die Funktionsweise sämtlicher sozialer Systeme gekennzeichnet hätten, das Leben, Denken und Fühlen nahezu jedes Menschen („tout l’homme“) afÀziert hätten.45 Ohne dies selbst zu leisten oder leisten zu wollen, ging Mousnier davon aus, dass es sinnvoll sei, diese verschiedenen ‚Krisen‘ mit der ‚Krise‘ des Politischen in Beziehung zu setzen. Entsprechendes sei beispielsweise zu Seuchen, Subsistenzkrisen und Hungersnöten zu sagen.46 Damit wurde Mousnier zu einem frühen Vertreter für jene impressionistische Phänomenologie der Normabweichung,47 die die deutsche Forschung deutlich später zu einem kurzzeitigen Eintritt in die Debatte um die ‚General Crisis‘ bewegen sollte.48 Der Anspruch, die Entwicklungen in ihrer sozialen Ganzheit zu erfassen, verband sich damit allerdings nicht.49 In den verschiedenen Deutungen der ‚General Crisis‘ erzeugte das Interpretament der ‚Krise‘ wissenschaftliche Relevanz aufgrund seiner paradoxalen Möglichkeit, totalisierend auf Geschichte zurückzugreifen und zugleich nicht das Potential zu besitzen, konsistente Schließungen herbeizuführen. Es stellte Anschlüsse her, indem es sich auf Seiten der historischen Diagnostik in hohem Maße variabel und auf Seiten seiner fortlaufenden Problematisierung als außerordentlich redundant erwiesen hat. Im Zuge der Reaktivierung des bereits Gewussten zielten die Argumente weniger darauf ab, „Fehlermöglichkeiten und Korrekturnotwendigkeiten“ zu „präzisier[en]“, sondern unterliefen in der letztlich nicht still zu stellenden Suche nach immer „besseren kombinatorischen Lösungen“ die Stabilisierung eines konsistenten Erkenntniszusammenhangs.50 Auf diese Weise kam der Debatte ihr primäres Referenzobjekt – worauf genau bezog sich die ‚Krise‘? – abhanden. Es konnte gleichermaßen plausibilisiert werden, sie für beendet zu erklären, oder – wie noch 2005 John H. Elliott – ihre Vitalität in den Vordergrund zu rücken und 45

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In seinem Gesamtüberblick hatte Mousnier: Siècles, S. 159–216 (Zitat S. 159), verschiedene ‚Krisen‘ nebeneinander gestellt: „La crise économique“, „La crise sociale“, „La crise de l’État“, „La crise politique internationale“, „La crise de la sensibilité“, „La crise morale et religieuse“, „La crise de la science“. Ders.: Discussion (IV), S. 23 f. Benedict: Introduction, S. 34, 41. Vgl. oben S. 153. In der deutschsprachigen Unruheforschung hingegen spielte die Debatte um die ‚General Crisis‘ keine nennenswerte Rolle. Dies mag damit zu tun haben, dass diese im Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts ihren paradigmatischen Untersuchungsgegenstand besaß. Im Überblick Blickle: Unruhen. Der Bauernkrieg selbst wird heute als Versuch gelesen, die aus dem Spätmittelalter überkommene „Krise des Feudalismus durch eine revolutionäre Umgestaltung der gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse auf der Grundlage des ‚Evangeliums‘ zu überwinden.“ Ders.: Revolution, S. 289. Der ‚General Crisis‘ vergleichbar wurde das Feld damit nach Maßgabe wirtschaftsgeschichtlicher Prioritäten geordnet, in diesem Fall allerdings am typischen chronologischen Zweischritt von ‚Krise‘ und ‚Revolution‘ orientiert. Keinen Bezug auf die ‚General Crisis‘ nehmen auch die politikgeschichtlichen Beiträge, die im Themenheft ‚Europäisches Krisenjahr 1609/10‘ des Jahrbuchs für Europäische Geschichte 10 (2009) versammelt sind. Lehmann: Krisen, S. 14–16, und ders.: Christentum, S. 10 f., schlug in diesem additiven Sinn vor, statt von einer Krise des 17. Jahrhunderts von „‚Krisen‘ (im Plural!)“ zu sprechen. Luhmann: Wissenschaft, S. 439–441.

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ihr nur einige „fresh approaches“ zu verordnen.51 Konsens war darüber nicht zu erzeugen. Mit dem Referenzobjekt der Krise verschob sich zugleich die Phänomenologie der Normabweichung. Dies soll abschließend anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden, Hugh R. Trevor-Ropers Versuch von 1959, Hobsbawms Impulse aufzugreifen, und Geoffrey Parkers globalgeschichtlicher Ausweitung der Debatte um die ‚General Crisis‘ von 2008. Trevor-Roper brachte ein Vergleich mit den Entwicklungen des 16. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass das 17. Jahrhundert keineswegs von einer konstitutionellen oder ökonomischen Krise geprägt gewesen sei. Vielmehr hätten sich nur ganz bestimmte Beziehungen in einer ‚Krise‘ befunden, nämlich „the relations between society and the state.“52 Die Ursachen für diese relationale ‚Krise‘ erblickte Trevor-Roper in dem sich entwickelnden Fürstenstaat. Dieser habe sich in seinen Zentralisierungsbestrebungen auf eine zusehends wachsende, allerdings schnell an Funktionalität verlierende Bürokratie gestützt. Durch ihren verschwenderischen Lebensstil hätten deren Protagonisten die ökonomischen Kapazitäten der westeuropäischen Länder über alle Grenzen der Belastbarkeit hinaus in Anspruch genommen. Die Entwicklung der höÀschen Gesellschaft und der trotz aller Bemühungen kaum zu Reformen fähigen fürstlichen Bürokratie beschrieb Trevor-Roper in Begriffen des Anomalen und Defekten, des Missbräuchlichen, Monströsen und Parasitären.53 Ausgehend von diesem Komplex der faktischen oder vermeintlichen, in jedem Fall aber progredierenden Abweichung des einstmals Zweckrationalen vom Weg sozialer Funktionalität veränderte sich Trevor-Ropers Phänomenologie der ‚Krise‘. Krieg beispielsweise galt ihm nicht notwendig als Teil, Ausdruck oder Ursache einer ‚Krise‘. Denn zum einen könne dieser in ökonomischer Hinsicht Konsum befördern, ohne die Grundlagen wohlfahrtsstaatlichen Wirtschaftens zwangsläuÀg zu zerstören. Zum anderen verband TrevorRoper mit den vergleichsweise ruhigen Phasen nach 1600 die Möglichkeit, noch vorhandene Ressourcen auszureizen. Daraus seien qualitativ neuartige Spannungen zwischen den politischen Eliten und den von ihnen regierten Schichten entstanden.54 Diese Spannungen seien dafür verantwortlich, dass man mit Fug und Recht von einer ‚General Crisis‘ des 17. Jahrhunderts sprechen könne. Bereits die Paraphrase der verschiedenen Argumente zeigt, dass es auf analytischer Ebene nur schwer möglich war, die Beziehung zwischen der jede Gesellschaft kennzeichnenden sozialen Evolution und des für ‚Krisen‘ als konstitutiv erachteten Eindrucks der Beschleunigung – und Theatralisierung55 – historischer Ereignisfolgen zu stabilisieren. Trevor-Roper, als Vertreter des Paradigmas der „allgemeinen Krise“, verband seine analytischen Erwägungen daher mit einer Rhetorik der Rup51 52 53 54 55

Elliott: Crisis, S. 48. Trevor-Roper: Crisis, S. 38, 61. Ibid., S. 34, 44–56, 61. Gegenüber dieser Art, bürgerliche Vorstellungen von Zweckrationalität an den Hof heranzutragen, setzte Elias: Gesellschaft, seine 1933 vollendete und 1969 publizierte Studie zur Eigenlogik der höÀschen Gesellschaft. Trevor-Roper: Crisis, S. 47. Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 8 f.

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tur. Es habe, so Trevor-Roper, ein „entscheidender Bruch der historischen Kontinuität“ („decisive breach in historical continuity“) stattgefunden. Selbst die „dramatischen Veränderungen“ („dramatic changes“) der Reformation seien von den Strukturen des konfessionellen Zeitalters weithin absorbiert worden. Das 17. Jahrhundert hingegen „[…] did not absorb its revolutions. It is not continuous. It is broken in the middle, irreparably broken, and at the end of it, after the revolutions, men can hardly recognise the beginning. Intellectually, politically, morally, we are in a new age, a new climate. It is as if a series of rainstorms has ended in one Ànal thunderstorm which has cleared the air and changed, permanently, the temperature of Europe.“56

Trevor-Ropers Interpretation wurde natürlich in ihrer Gesamtheit kritisiert.57 Dabei wurde im Zuge der Auseinandersetzungen das Verhältnis zwischen Norm und Normabweichung kontinuierlich neu Àguriert. Es blieb jedoch ungeklärt, ob Erhebungen in der Tat als Symptome oder Elemente ökonomischer Anomalien zu deuten oder unter einer gerade noch nicht gefestigten Zentralgewalt sogar als politischer Regelfall zu interpretieren seien.58 Es konnte, trotz erheblicher empirischer Anstrengungen, kein Konsens darüber hergestellt werden, ob überhaupt von einer ‚Krise‘ des ökonomischen Systems gesprochen werden könne59 und ob die Zeit nach 1660, die nach damaliger Kenntnis keine nennenswerten Erhebungen aufzuweisen schien, sich im Umkehrschluss durch die Abwesenheit wie auch immer deÀnierter ‚Krisen‘ auszeichne.60 Die Abstraktionsfähigkeit eines geschichtswissenschaftlichen Teilbereichs wie der Wirtschaftsgeschichte, dessen quantiÀzierende Methoden lange Zeit ein Mehr an Deutungssicherheit zu gewährleisten schienen, wurde mit der Debatte um die ‚General Crisis‘ an ihre Grenzen geführt. Das, was Philip Benedict nach einem halben Jahrhundert Forschung als Minimalkonsens formulierte, liest sich ernüchternd.61 Einen neuen Anlauf, das normative Zentrum frühneuzeitlicher Vergesellschaftung verlässlich zu bestimmen, unternahm unlängst Geoffrey Parker mit Hilfe globalgeschichtlicher und statistischer Methoden. Parker bestimmte zunächst vier „major anomal[ies]“, die die mittleren Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts von China über Europa bis nach Nord- und Südamerika charakterisiert hätten. So habe es „more cases of simultaneous state breakdown around the globe“ gegeben als in jeder anderen historischen Epoche, eine singuläre Dichte von Revolten und Kriegen 56 57 58 59 60 61

Trevor-Roper: Crisis, S. 33 f. Insgesamt sechs Forscher diskutierten in Past & Present 18 (1960), S. 8–33, Trevor-Ropers Thesen. Koenigsberger: Krise, S. 161. Wallerstein: Crise, S. 140 f. Dazu tendierte Koenigsberger: Krise, S. 161; Rabb: Struggle, S. 5, sprach von einer „‚postcrisis‘ era“. Erst die Unruheforschung der letzten Jahre hat sich allerdings mit Unruhen des späten 17. und 18. Jahrhunderts systematisch befasst, vgl. grundlegend Würgler: Unruhen. Benedict: Introduction, S. 19: „If any minimal consensus emerged from the discussion about why so many revolts happened at once in the middle of the seventeenth century, it is […] that the Ànancial strain imposed by the Thirty Years’ War bred political discontent in the many lands involved in the war, […].“

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sowie in der nördlichen Hemisphäre eine bis dahin nicht gekannte Sterblichkeitsrate.62 Daraus seien zum einen zahlreiche Zeitdiagnosen hervorgegangen, die nicht nur auf eine enttäuschte Normerwartung schließen ließen, sondern auch den Zusammenbruch der Norm vor Augen zu haben schienen: „Disaster, disorder, and death on this scale demoralized even the most resilient survivors.“63 Zum anderen verschränkte Parker seine – mit zahlreichen Tabellen, Schaubildern und Diagrammen illustrierte – Darstellung mit den Resultaten der historischen Klimaforschung. Dies führte zu der Beobachtung, dass, zumal in den kritischen Jahren der ‚Fronde‘ und der ‚Puritanischen Revolution‘, die ‚General Crisis‘ mit einer der größten klimatischen ‚Anomalien‘ der Menschheitsgeschichte koinzidierte.64 Die KonÀguration der ursprünglichen Debatte blieb damit weithin intakt, auch wenn Parker entscheidende Stellen neu besetzte. Dort, wo Trevor-Roper auf zeitgenössische Kritik am Ämterwesen und höÀschen Wirtschaften verwiesen hatte, standen bei Parker solche Stimmen, die ihre Umwelt in Begriffen des Katastrophalen und Endzeitlichen beschrieben hatten. Und dort, wo ökonomische Modelle sowie ein marxistisch inspirierter Wissenschaftsbegriff objektivierend auf die Analyse hatten einwirken sollen, befand sich nun ein statistisches Mittel, das in gewisser Weise Trevor-Ropers Metapher von den klimatischen Veränderungen des 17. Jahrhunderts in die analytische Realität überführte. Dies allerdings zeitigte auch weitreichende Konsequenzen für die Semantik der ‚Krise‘ im Rahmen dieser Debatte. Denn es stand nicht länger der Umbau sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen im Zentrum der Aufmerksamkeit oder eine Entscheidungssituation im klassischen Sinn des Worts, sondern der Umgang mit reiner Kontingenz, mit einer durch dezisionistische Prozesse nicht beeinÁussbaren (meteorologischen) Umwelt. 3. Selbstdramatisierung und Selbstrelativierung – Krisen im Fluss der Zeit Die Konstruktion des Normativen in der wissenschaftlichen Rede über ‚Krisen‘ artikuliert sich in der Setzung binärer und symmetrischer Begriffspaare wie Funktionalität und Dysfunktionalität, Absorptionsfähigkeit und Überlastung. Dabei hat es sich zwar als variabel herausgestellt, welche Phänomene in der Literatur jeweils der Seite des historisch Normativen zugewiesen wurden. Immer allerdings war – und ist – die Möglichkeit vorausgesetzt, das Normative so zu beschreiben, dass der Punkt bestimmt oder eingegrenzt werden könne, an dem die Elastizität vorhandener Funktionen versagt habe. Diese Annahme liegt nicht nur der Analyse sozialer Systeme und einzelner Systemzusammenhänge zugrunde, sondern prägt auch die in der neueren Forschung intensivierte Beschäftigung mit kollektiven Identitäten und gesellschaftlichen Selbstentwürfen.65 Dabei scheint der genuin medizinische Be62 63 64 65

Parker: Crisis, S. 1056 f. Ibid., S. 1057. Ibid., S. 1070; vgl. auch ibid., S. 1068 Anm. 48, 1072 Anm. 60, 1073, 1078. Dies könnte am Beispiel der Studien zu den ‚Krise(n) der Männlichkeit‘ genauer untersucht werden. Aus analytischer Perspektive beschrieb etwa Harrison: Krise, am Beispiel französi-

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deutungskern von ‚Krise‘66 den Diagnosen insofern noch inhärent zu sein, als sich Normabweichung nach wie vor dem Assoziationsfeld des Pathologischen nähert. In der Regel wird nicht davon ausgegangen, dass „Desorientierungskrise[n]“ oder die strukturelle Irritation sozialer Systeme einem positiven Ziel, nämlich der politisch angestrebten Revision normativer Gegebenheiten, hätten dienen können.67 Mit diesen Fragen nähert man sich einem Feld, dem in der neuen Literatur große Relevanz eingeräumt wird, nämlich der Frage, auf welche Arten ‚Krisen‘ auf der Ebene der zeitgenössischen Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung hervorgebracht werden.68 Mit dieser Akzentverlagerung soll mehr erreicht werden als die Konzentration auf einen bestimmten Aspekt der Analyse von ‚Krisen‘, der auch der älteren Literatur nicht unbekannt war; bereits Vierhaus hatte den subjektiven „Eindruck des Steuerungsverlusts“, das heißt die Existenz eines zeitgenössischen „Krisengefühl[s]“ oder „Krisenbewußtsein[s]“, zu den Elementen gezählt, die notwendig seien, um sinnvoll von historischen ‚Krisen‘ sprechen zu können. Aller-

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scher Ethnographen, wie ausgangs des 18. Jahrhunderts die Erklärung der ‚Natur‘ des Mannes und seiner Sexualität im zeitgenössischen System der Wissenschaften unter Druck geriet. Als Ergebnis einer Konfrontation mit dem ‚Anderen‘ auf der einen Seite und der sich innereuropäisch ebenfalls verschiebenden, geschlechterspeziÀschen Normvorstellungen auf der anderen war für Harrison ‚Krise‘ eine Zeit der Aporien; eine Zeit, in der der beschleunigte Umbau des Systems tradierten Wissens zwischenzeitlich nicht mit der Sammlung neuer Daten Schritt halten konnte. Was die zeitgenössische Selbstbeschreibung anbelangt, konnte Brandt: Männlichkeit, S. 14 f., 333–339 zeigen, wie in den USA der spätviktorianischen Zeit die der Männlichkeit zugeschriebene ‚Krise‘ als konservative „Abwehrrhetorik“ Kontur gewann. Sie war gegen eine vermeintliche Zersetzung der amerikanischen Gesellschaft gerichtet, die aus der ‚Verweiblichung‘ sowohl des sozialen Lebens als auch der die Nation stabilisierenden Werte hervorgehen würde. In diesem Fall also ging die Debatte von jenen Kreisen aus, die das Wissen über Normalität für sich beanspruchten und die Auseinandersetzung über die Besetzung gesellschaftlicher Positionen mit einer Debatte über soziale ‚Degeneration‘ bestritten. Problematisch an vielen Arbeiten zu ‚Krise(n) der Männlichkeit‘ ist allerdings, dass die Analyse nicht immer von der Heterogenität der Geschlechterkonstruktionen ausgeht, die eine historische Epoche immer auch aufzuweisen hat. Vielmehr werden einzelne Entwürfe rekonstruiert und als dominant vorausgesetzt, die zu einem gegebenen Zeitpunkt brüchig geworden seien und sich nach einer Phase des Übergangs in mehr oder minder deutlich modiÀzierter Form wieder stabilisiert hätten. Vgl. Hohendahl: Krise. Kritisch dazu Dinges: Veränderungen, S. 107 f. Koselleck: Art. „Krise“, S. 619. Depkat: Entwürfe, S. 116; Oschema: Identität. In anderen Worten: Dort, wo nach wie vor mit einer teleologischen Zuschreibung von ‚Krisen‘ operiert wird, besteht die Gefahr, eine Perspektive einzunehmen, die den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen unterstellt, dass sie die ModiÀkation des Status quo an sich bereits als Gefährdung und Verlust – und in diesem Sinn als ‚Krise‘ – empfunden hätten. Diesem Zugriff entspricht der in der Literatur gängige Zweischritt von ‚Krise‘ und ‚Bewältigung‘; vgl. dazu etwa die interdisziplinären Beiträge bei Ettrich und Wagner (Hg.): Krise. Ein Beispiel dafür, dass schnelle und grundlegende Veränderungen keineswegs notwendig zu Verlusterfahrungen oder Überforderung führen mussten, ist die Rezeption der Französischen Revolution in den reformfreudigen Kreisen des Alten Reichs. Becker: Zeit. Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 8 f. Inzwischen existieren zahlreiche Fallstudien, in Auswahl Graf: „Krise“; Geiger: „Krise“, und die bei Grunewald und Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmung, versammelten Beiträge.

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dings hatte es sich für ihn nur um einen von verschiedenen Faktoren gehandelt, die dazu beitragen sollten, den „objektiven Charakter“ einer ‚Krise‘ festzustellen, was ihm – und den meisten der in dem vorliegenden Beitrag bislang diskutierten Studien – als das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Analyse galt.69 Sich demgegenüber der ‚Krise‘ als Kategorie zeitgenössischer Selbstbeobachtung zu widmen, soll gerade nicht bedeuten, sich auf die Untersuchung der Redeweisen über eine dem sprachlichen Ausdruck vermeintlich vorausgehende und unabhängig von ihm existierende ‚Krise‘ zu beschränken. Vielmehr ist es das Ziel, mediale KonÀgurationen und narrative Konstruktionen des jeweiligen Krisendiskurses zu studieren, um Aspekte kommunikativer Strukturbildung in den Blick zu nehmen.70 Vor diesem Hintergrund können zwei Blickrichtungen unterschieden werden, die es gestatten, von der jeweiligen Position abhängige Tendenzen zu erfassen, wie ‚Krisen‘ beobachtet und beschrieben werden. Versteht man unter ‚Krisen‘ erstens „heikle Situationen in System/Umwelt-Beziehungen, die den Fortbestand des Systems oder wichtiger Systemstrukturen unter Zeitdruck in Frage stellen“,71 dann ist es möglich, den alten dezisionistischen Bedeutungskern des Konzepts in den Mittelpunkt zu rücken.72 Als ‚Krisen‘ wären demnach solche Situationen zu qualiÀzieren, in denen eine auf wenige Alternativen zugespitzte Entscheidung von faktisch oder vermeintlich existentieller Tragweite zur Disposition steht.73 Diese Situationen wiederum weisen nach Ansicht derer, von denen sie konstatiert werden, insofern eine große Dynamik auf, als sich die Diagnose der ‚Krise‘ mit der Produktion einer zeitlichen Sequenz verbindet, die einer prognostizierten oder insinuierten Finalität vorangeschaltet wird.74 Anders gesagt stellt sich die ‚Krise‘ als eine Entscheidungssituation dar, in der sich die Möglichkeit, zu handeln und zu entscheiden, in naher Zukunft zu verschließen droht. Daraus resultiert der Zeitdruck für jene, die zu bestimmten Handlungen und Entscheidungen bewegt werden sollen oder – im Sinne einer diskursiven Strategie – sie als alternativlos durchzusetzen suchen. Diese Fassung des Krisenbegriffs ist geeignet, Äußerungen solcher sozialer Gruppen zu analysieren, die Steuerungskompetenz für sich beanspruchen oder politische Entscheidungsprozesse publizistisch zu beeinÁussen suchen. Einschließlich der Emergenz des Lexems ‚Krise‘ lassen sich diese Strukturen bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der tagesaktuellen Publizistik der ‚Fronde‘ nachweisen.75 69 70 71 72 73 74 75

Vierhaus: Problem, S. 321 f.; ders.: Krisen, S. 194; vgl. auch Föllmer, Graf und Leo: Einleitung, S. 13; Krämer und Mackert: Subjekte, S. 266 f. Schlögl: Abschlussbericht, S. 67. Luhmann: Zweckbegriff, S. 327; vgl. zum Folgenden auch Sawilla: Entscheiden. Koselleck: Art. „Krise“, S. 627. Föllmer, Graf und Leo: Einleitung, S.13 f.; Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 10 f.; Scholten: Einführung, S. 8; Hölkeskamp: Kultur, S. 8; Opitz-Belakhal: „Krise“, S. 37 f.; Geiger: „Krise“, S. 369 f.; Schlögl: Abschlussbericht, S. 66 f. Lobsien: Renaissance-Krisen, S. 97, bezeichnet „Krise“ als eine „Latenz mit einem begrenzten Zeithorizont.“ Ein Beispiel ist die Flugschrift von [Loppin]: Advis, aus dem Jahr 1652. In den nicht tagesaktuellen politischen Schriften beginnt sich das Lexem seit den 1630er Jahren zu verfestigen. Der Hugenotte Henri duc de Rohan (1579–1638) etwa sprach in seinen erstmals posthum 1644

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In den Reden und der Publizistik der Französischen Revolution sollte dann ein inÁationärer Gebrauch des Wortes ‚Krise‘ für die Debatten um politische Entscheidungen prägend werden. Die theatralische Zuspitzung auf Alternativen, die in Begriffen von Sein oder Nichtsein einander gegenübergestellt wurden, trug in diesem Kontext dazu bei, Loyalitäten zu bündeln und die vermeintliche Unausweichlichkeit bestimmter Entscheidungen zu plausibilisieren. Im Rahmen einer sich pluralisierenden politischen Kultur wurde die Rede von der ‚Krise‘ damit dort als Steuerungsinstrumentarium entdeckt, wo der Ausgang komplexer Ereignisfolgen kaum zu kalkulieren war und mit Nachdruck um Stimmen für an Heterogenität gewinnende politische Positionen geworben werden musste.76 Eine zweite Perspektive betrifft die Selbstbeschreibung solcher Gruppen, die nicht direkt an Entscheidungsprozessen partizipierten, sondern sich mit einem von ihnen kaum beeinÁussbaren Szenario der ‚Krise‘ konfrontiert sahen. Diese Problematik soll im Folgenden anhand eines historiographiegeschichtlich prominenten Beispiels, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Autoren wie Ernst Troeltsch (1865–1923), Karl Mannheim (1893–1947) und Karl Heussi (1877–1961) proklamierten ‚Krisis des Historismus‘, vertieft werden.77 Ähnlich wie im Falle Trevor-Ropers lässt sich anhand dieses Beispiels auch ein Eindruck von den poetologischen Implikationen wissenschaftlicher Krisendiskurse vermitteln. Zeitlich gesehen ist die ‚Krisis des Historismus‘ als Teil der entscheidenden Popularisierung des Konzepts ‚Krise‘ in den Geisteswissenschaften seit den Jahrzehnten um 1900 zu betrachten.78 Systematisch reiht sie sich in eine Vielzahl ideen- und geistesgeschichtlicher ‚Krisen‘ ein, die seither konstatiert wurden. Zu denken ist an Paul Hazards (1878–1944) im Jahr 1935 für das Ende des 17. Jahrhunderts diagnostizierte ‚Crise de la conscience européenne‘ oder an die durch den philosophischen Skeptizismus im selben Zeitraum ausgelöste ‚Krise‘ der Erkennt-

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publizierten ‚Mémoires‘ wiederholt von einer „letzten Krise“ („dernière crise“), zu der sich im europäischen Mächtespiel bestimmte, die französische Interessensphäre tangierende KonÁikte verdichtet hätten. Dies betraf beispielsweise die Züricher Interventionen in der Ostschweiz im Kontext des Restitutionsedikts von 1629 und der Rekatholisierungspolitik des Fürstabts von St. Gallen. Rohan: Mémoires, S. 34: „Cette affaire eut plusieurs suites et plusieurs reprises, depuis l’année 1629 jusqu’à la présente 1632, où elle fut portée comme à sa dernière crise […].“ Eine weitere Passage gilt dem Kampf der Drei Bünde um politische Unabhängigkeit. Rohan selbst hatte im Auftrag Richelieus 1635 eine Expedition ins Veltlin geleitet, um es der Kontrolle Frankreichs zu unterwerfen. Die Erhebung Graubündens gegen die französischen Truppen 1636 stellte für Rohan die „letzte Krise“ eines Ereigniszusammenhangs dar, in dem die „seit so langer Zeit in diesem Körper“ zusammenströmenden „Säfte“ („humeurs“) schließlich ihre bösartige Wirkung entfaltet hätten. Die medizinische Metaphorik dominiert bei ihm noch die Verwendungsweise. Ibid., S. 148: „L’année 1636, ce mal tantôt avancé, tantôt reculé par divers symptômes, est Ànalement arrivé à sa dernière crise; et les humeurs ramassées depuis si long-temps dans ce corps-là, s’étant peu à peu corrompues, et Ànalement rendues malignes, ont porté le patient au dernier période, qui est le soulèvement des Grisons contre les armes françaises, […].“ Vgl. Sawilla: Entscheiden. Ibid. Grundlegend Heinßen: Historismus; Laube: Karl Mannheim; zusammenfassend Oexle: Krise. Schuster: Krise, S. 20; Oexle: Krise, S. 73–76.

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nistheorie.79 Von diesen unterscheidet sich die ‚Krisis des Historismus‘ allerdings dadurch, dass sie auf die damalige Gegenwart bezogen war. In diesem Sinn kann sie als frühe Spielart der – insgesamt wenig untersuchten – Neigung der Geisteswissenschaften betrachtet werden, sich selbst als in einem Zustand der ‚Krise‘ beÀndlich zu beschreiben.80 Diese ‚Krisis‘ zeichnete sich folglich nicht dadurch aus, dass von ihren Protagonisten Entscheidungen eingefordert wurden. Vielmehr lag ihr ein Verständnis der ‚Krise‘ zugrunde, das gerade die Unmöglichkeit bedeutete, strategisch zu entscheiden; bereits José Ortega y Gasset (1883–1955) hatte in seinen Überlegungen zum ‚Wesen geschichtlicher Krisen‘ diesen Akzent hervorgehoben. Er hatte die ‚Krise‘ als eine Zeit gestörter Bindekräfte und kollabierender Verbindlichkeiten beschrieben, die zwar zu Entscheidungen zu drängen schien, diesen allerdings aufgrund eines Mangels an Positivität das Fundament entzog: „In den Epochen der Krisen weiß man nicht, was jeder Mensch ist, weil er in der Tat nichts Entschiedenes ist: er ist heute dies und morgen das.“81 Die Denker der ‚Krisis des Historismus‘ scheinen ihre Position auf ähnliche Weise wahrgenommen zu haben. Sie war zum einen durch die Schwierigkeit gekennzeichnet, mit Hilfe der eigenen wissenschaftlichen Techniken die Destabilisierung der erkenntnistheoretischen und -praktischen Grundlagen des Faches zu erklären, die ihren Vertretern offenkundig zu sein schien. Zum anderen gelang es diesen nur bedingt, die eigene Stellung innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen mit Hilfe ihrer Techniken adäquat zu fassen und die Beziehung zwischen Teilen und Ganzheiten, Ursachen und Wirkungen präzise zu bestimmen. Damit waren in der Tat genuine Aufgabenfelder historistischen Denkens in der Substanz problematisiert. Außer Frage stand allein, dass diese Beziehungen existierten. Die ‚Krisis des Historismus‘ stand für Karl Heussi, als einem ihrer späten Vertreter, natürlich nicht isoliert im sozialen Raum. Sie sei zunächst als eine „Teilerscheinung der ungeheueren politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geistigen Umwälzung“ zu begreifen, „die […] ganz deutlich und entscheidend […] seit dem Weltkriege sich“ vollzogen habe. Nicht auf der Ebene des Ursächlichen angesiedelt, sondern als „Ausdruck und Wirkung größerer Zusammenhänge“ repräsentiere sie einen Bestandteil jener „große[n] geistige[n] Krisis, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben“, respektive einer „allgemeinen Krisis“,82 welche die Gesellschaft insgesamt durchlaufe. Heussi diskutierte auf dieser Basis einige „Symptom[e]“ der ‚Krise‘ des Historismus im besonderen und suchte diese – nicht jedoch die ‚Krise‘ selbst! – in ihren Ursachen zu erläutern. Er führte beispielsweise 79

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Kritisch dazu Perler: Crisis. Aus der Überlagerung des philosophischen mit dem historischen Skeptizismus und im Anschluss an die einschlägigen Lesarten von Hazard: Crise, S. 37–56, leitete die Historiographiegeschichte weitere ‚Krisen‘ der Historie ab. Vgl. dazu Sawilla: Antiquarianismus, S. 64 f., 661, 669–673, 756 f. Im Zuge der Debatten um die Postmoderne konnte dabei auf die faktischen oder vermeintlichen Ähnlichkeiten mit älteren ‚Krisen‘ der historischen Erkenntnis verwiesen werden. Burke: Crisis. Ortega y Gasset: Wesen, S. 37–59 (Zitat S. 40); vgl. dazu Grunwald und PÀster: Krisis!, S. 13; Lobsien: Renaissance-Krisen, S. 98–100. Heussi: Krisis, S. III, 25, 38.

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die „Ermüdung der politischen und Kriegsgeschichte“ in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg an. Sie sei das Resultat eines durch die intensive zeitgenössische Kriegsberichterstattung hervorgerufenen Überdrusses an der Thematik sowie des Eindrucks, dass die Fülle einzelner Ereignisse und die Masse publizistischen und amtlichen Schriftguts mit den etablierten historiographischen Methoden nicht mehr zu einem sinnhaften Ganzen hatten zusammengefügt werden können.83 Auf die ‚Krise‘ selbst bezogen deutete er nur an, dass diese eben „im ganzen ein sehr differenziertes Gefüge von Gründen“ besitze. So stehe es außer Frage, dass sie, wie er es beschrieb, „irgendwie“ und „durch sehr differenzierte Vermittlungen“ mit den Ereignissen des „Weltkrieg[s] und der Weltrevolution“ in Verbindung zu bringen sei. Und sei es nur, dass man im Sinne einer Übertragung den „unmittelbaren Einbruch der aufgeregten Revolutionsstimmung in das Gebiet der historischen Disziplinen“ nach 1918 zu konstatieren habe.84 Vor diesem Hintergrund zählte es Heussi zwar nach wie vor zu den primären Erkenntnisinteressen der Geschichtswissenschaft, historische Relationen zu benennen und kausale Zusammenhänge aufzuzeigen; diese Operationen seien, so Heussi, für das „geschichtliche Denken“ überhaupt „unentbehrlich.“ Zugleich allerdings dramatisierte er die Größe dieser Aufgabe bis zu einem Punkt, an dem die wissenschaftliche Analyse einem ästhetischen EmpÀnden wich, nämlich dem erhabenen Erschauern vor dem Feld potentieller historischer Erkenntnisse und der unendlichen Individualisierbarkeit geschichtlicher Phänomene: „Wenn man den so verstandenen historischen Relativismus konsequent durchdenkt, so kann er einen erschauern machen. Ein ungeheuer großes, unüberblickbares Netz mit millionenfachen Maschen, die wieder untereinander in kaum zu entwirrender Weise verstrickt sind und die sich beständig verändern, taucht vor uns auf. Daß eine geschichtliche Größe ins Leben tritt, ist bedingt durch das nur einmal möglich gewesene Zusammentreffen bestimmter anderer geschichtlicher Größen, die am Zeitpunkt des Zusammentreffens sämtlich wiederum eine nur einmal anzutreffende Artung aufwiesen; denn jede einzelne dieser bedingenden Größen ist ihrerseits wieder hundertfach und tausendfach bedingt, ist tief verÁochten in die geschichtlichen Zusammenhänge, die sie mit ihrer Umwelt und ihrer Mitwelt verbinden.“85

Das historische Denken befand sich damit in einer Situation, in der die „Isolierung der wissensfähigen Sachverhalte“86 nur noch bedingt gelang. Heussi beschränkte sich in seiner Abhandlung folglich darauf, zumindest Klarheit für das zentrale Objekt der ‚Krise‘ herzustellen, für den Begriff des Historismus selbst, der „durch seine Ungeklärtheit und Nebelhaftigkeit die Verworrenheit der geistigen Lage um 1920–30 so scharf und eindrucksvoll wie irgend denkbar in Erscheinung“ habe treten lassen.87 83

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Ibid., S. 27 f. Es ist bemerkenswert, dass Heussi mit den Ursachen der Symptome der ‚Krise‘ nicht auch die ‚Krise‘ selbst zu erklären beanspruchte. Logisch ist dies nicht. Wenn Erklärungen für die Herkunft der Symptome einer Krankheit gefunden sind, ist die Krankheit natürlich selbst dingfest gemacht. Ibid., S. 25. Ibid., S. 69 f. Luhmann: Wissenschaft, S. 153. Heussi: Krisis, S. 21.

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Während Heussi die ‚Krisis des Historismus‘ damit im Bereich des Partikularen und Vermittelten zu lokalisieren bestrebt war, hatten einige Autoren vor ihm dazu tendiert, auch und gerade diese Trennung zwischen Teil und Ganzem zu nivellieren und der ‚Krisis‘ aufgrund der allumfassenden und alldurchdringenden Wirkungskraft des Historismus mehr als nur symptomatischen Charakter zuzuschreiben. Für einen Autor wie Karl Mannheim war der Historismus „eine geistige Macht von unübersehbarer Tragweite“, mit „der man sich auseinandersetzen muß, ob man will oder nicht.“ Er sei „der wirkliche Träger unserer Weltanschauung, ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt.“88 Mit einer Diagnose wie dieser waren der Historismus und seine faktische oder vermeintliche ‚Krise‘ zu einem Bestandteil der weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik geworden. Aus dieser Perspektive besaßen diejenigen, die über seine epistemologischen Grundlagen wachten, eine Art der Deutungshoheit, die deutlich über das rein Wissenschaftliche hinausgriff. Man wird von einer Rhetorik der Selbstermächtigung sprechen können, die sich mit einer theatralischen Selbstverankerung nicht im Teil, sondern im Ganzen des sozialen Lebens assoziierte. Nahezu zeitgleich hatte Ernst Troeltsch, um hier nur noch ihn zu nennen, auf ähnliche Weise zwar vom Historismus als „erstliche[r] Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken“ gesprochen.89 Troeltsch war allerdings bestrebt, das relativistische Prinzip für eine Verortung der eigenen Position fruchtbar zu machen.90 Denn die theoretischen und praktischen Probleme, so hielt er fest, die sich mit der wissenschaftlichen Arbeit notwendig verbanden, mochten zwar einerseits „ein unendliches Rätseln und Deuten an der Geschichte“ mit sich bringen und diese bisweilen „wie eine Qual oder […] Sinnlosigkeit“ erscheinen lassen. Andererseits war es gerade der historisch geschulte Blick auf den „Lebensstrom“, der ihn in seinem Vertrauen in die sich selbst stabilisierenden Kräfte sozialer Evolution bestärkte. Was sich nämlich als „allgemeine […] Rebellion gegen die Wissenschaft überhaupt“ darstellte und in diese selbst – in Gestalt des radikalen Rationalismus – als „Rausch und Wahn der Revolution“ eingedrungen sei, müsse als bloßes OberÁächenphänomen bewertet werden. Manches Prinzip mochte „in den Wirbel der Aufregungen hineingerissen und für eine Zeitlang als Schaum in die Höhe gespritzt werden.“ Letztlich aber würden der vorübergehende Eindruck der Akzeleration und die nur scheinbare Dynamik des Revolutionären von der „unendlich breit und tief strömenden Masse bewegten Lebens“ absorbiert werden.91 Die Bildlichkeit des Flusses entschärfte die Virulenz der ‚Krise‘. An die Stelle der Dramatisierung der eigenen Position und gesellschaftlichen Lage rückte bei Troeltsch ein Bild der Kontinuität und relativen Trägheit, das soziale Veränderungen zu bewältigen und aus sich selbst

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Mannheim: Historismus, S. 1. Troeltsch: Krisis, S. 573. Ibid., S. 577–579. Ibid., S. 572, 576 f., 586.

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heraus zu relativieren versprach. Dies galt auch für die sich über kurz oder lang relativierende ‚Krisis des Historismus‘. Resümee – ‚Krise‘, ein Konzept jenseits historischer Tiefenschärfe? Das Konzept der ‚Krise‘ verdankt seine Popularität in der Geschichtswissenschaft seiner semantischen Flexibilität. Es begann sich zu einer Zeit zu verfestigen, als sich das Fach durch marxistische Soziologie, durch rationalistische und naturalistische Ansätze gefährdet sah und der in der Weimarer Republik allgegenwärtige Diskurs der ‚Krise‘ auch die Geschichtswissenschaft erfasste. Dieser bestimmte ihre Selbstbeobachtung und Áoss zusehends häuÀger in ihre historische Diagnostik ein. Dabei situierte sich ‚Krise‘ in einem epistemologischen Feld, das gerade nicht durch den Anspruch gekennzeichnet war, klare Erklärungshierarchien zu etablieren und Ursachen und Wirkungen deutlich voneinander abzugrenzen. In der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit sollte mit wachsender Nähe zur Soziologie und der mithin provokativen Adaptation marxistischer Theoreme das Konzept der ‚Krise‘ dazu beitragen, traditionelle Erklärungshierarchien umzuschichten und in diachronischer wie synchronischer Hinsicht Geschichte systematischer zu denken. Im Versuch, Ereignisse von Strukturen zu unterscheiden und verschiedene historische Temporalitäten zu bestimmen, nahm das Konzept der ‚Krise‘ eine Schlüsselposition ein. Es stand und steht seither für eine – zumeist diskrete – Epistemologie sozialen Wandels, die auf einem mittleren Niveau theoretischer Abstraktion soziale Komplexität in ihrer evolutionären Dimension zu begreifen sucht. In diesem Rahmen war und ist es in der Lage, Anschlüsse auf und zwischen allen diagnostischen Ebenen herzustellen. Drei Charakteristika seien hervorgehoben. a.) Wenn von historischen ‚Krisen‘ gesprochen wird, stehen immer Relationen zur Debatte. Diese können zeitliche oder systematische Relationen sein. In Phasen der ‚Krise‘ geraten diese Relationen, die nicht unbedingt homogene oder gleichförmige Phänomene miteinander in Beziehungen setzen müssen, in Bewegung. Die Attraktivität des Konzepts ‚Krise‘ beruht zu einem Gutteil darauf, dass es eine gewisse Bindewirkung zwischen einer potentiellen Vielzahl heterogener Prozesse entfalten kann. Im Fortgang der Forschungsdiskussionen führt dies in der Regel dazu, dass mit der kontinuierlichen Rekombination historischer Faktoren und ihrer Strukturbedingungen zwar wissenschaftliche Relevanz, jedoch kein verbindliches Wissen über makrogesellschaftliche Prozesse zu erzeugen ist. Klarheit besteht in der Regel über das „Dass“ der Relationalität verschiedener Bezugsfaktoren, nicht unbedingt über das „Wie“ und über die Anordnung der Relationen. Wenn mit Hans Blumenberg unter ‚Epoche‘ die „Prävalenz eines bestimmten Zustands der Dinge“92 verstanden werden soll, dann handelt es sich bei ‚Krisen‘ also um solche Phasen, in denen sich historische ‚Prävalenzen‘ auf sichtbare Weise 92

Blumenberg: Epochen, S. 11.

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verschieben oder derlei proklamiert wird. ‚Krise‘ kann daher als eine wissenschaftspragmatische – und nicht bis ins Letzte theoretisierte – Variante eines Denkens in Begriffen der Emergenz beschrieben werden. Diese Hypothese müsste allerdings vertieft werden. Sie hätte bei der prozessualen Semantik der ‚Krise‘ anzusetzen, die sowohl Bewegungen der Deszendenz als auch solche der Aszendenz umfasst, der Dissoziation des Alten ebenso wie der Assoziation des Neuen. In jedem Fall sind Phasen der ‚Krise‘ solche, in denen sich etwas ‚entscheidet‘ oder ‚entschieden‘ wird, sei es auf der Ebene historischer Selbstbeobachtung, sei es auf der – zusehends problematisierten – Ebene teleologischer Krisendiagnostik. b.) ‚Krise‘ steht als Prozesskategorie selten isoliert. Meistens Àndet sie sich mit anderen temporalen Größen verbunden, insbesondere mit ‚Revolution‘. ‚Krisen‘ können dabei teilweise in einfache chronologische Phasenmodelle integriert werden im Sinne von ‚Krise‘ – ‚Revolution‘/‚Umwälzung‘ – ‚Konsolidierung‘/‚Restitution‘; dies schließt Möglichkeiten ein, verschiedene Krisenphasen, die auf einen als markant betrachteten End- oder Wendepunkt zusteuern, aufeinander folgen zu lassen. Teilweise zählen Revolutionen oder soziale Unruhen allerdings auch zu einer nicht selten impressionistischen Phänomenologie der Normabweichung, die zu Studien über darin faktisch oder vermeintlich zum Ausdruck kommende soziale ‚Krisen‘ motiviert hat. Sofern nicht die Rekonstruktion eines zeitgenössischen Horizonts der Normerwartung mit zur Debatte stand, haben die Bandbreite moderner Normerwartungen und deren Veränderung ebenfalls zur Instabilität verschiedener Untersuchungszusammenhänge beigetragen. c.) Aufgrund seiner limitierten analytischen Reichweite sind sich mit ‚Krisen‘ befassende Darstellungen vielfach auf poetologische Verfahren angewiesen, welche die Dramatik und Reichweite des mit ‚Krisen‘ bezeichneten Geschehens mit Evidenz versehen sollen. Dabei kann es sich um einfache, Plötzlichkeit und abrupten Wandel indizierende Partikel handeln. Paul Hazard beispielsweise eröffnete seine Erörterung der ‚Crise de la conscience européenne‘ mit der Bemerkung, dass im 17. Jahrhundert die Mehrheit der Franzosen wie Jean-Bénigne Bossuet (1627– 1704) gedacht habe, „und auf einmal“ – „tout d’un coup“ – „denken die Franzosen wie Voltaire: es ist eine Revolution.“93 Üblicher sind allerdings solche Metaphern, die, wie bei Trevor-Roper, dem Bereich der Klimatologie entstammen oder an Ausdrücke anschließen, die aus der Psychologie importiert worden sind wie ‚Desorientierung‘ und ‚Identitätsstörung‘. Letztlich könnte man auch die Operationen des ‚pars pro toto‘, mit denen die Protagonisten der ‚Krise des Historismus‘ die Relevanz ihres Gegenstands ins Universale auszuweiten suchten, in Begriffen des Poetologischen beschreiben. Insofern scheint die Geschichte der ‚Krisen‘ in der Geschichtswissenschaft verschiedene Anknüpfungspunkte zu bieten, um sie für eine ‚Poetologie des Wissens‘94 nutzbar zu machen.

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Hazard: Krise, S. 22; ders.: Crise, S. 7. In Anlehnung an die bei Vogl (Hg.): Poetologien, versammelten Beiträge; vgl. grundsätzlich auch Nünning: Grundzüge, und den Beitrag von dems. im vorliegenden Band.

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II. DIE „KRISE“ ALS MODELL ZUR DEUTUNG VON GESCHICHTE UND DIE HERMENEUTISCHEN KONSEQUENZEN SOLCHER „KRISENGESCHICHTEN“

A. WIE LÄSST SICH DIE KRISE BEGREIFEN? BEGRIFFE, KONZEPTE UND ERZÄHLMUSTER Gerrit Jasper Schenk Weltverständnis ist meistens in Sprache gefasst. Das sprachliche Begreifen von Krisen und Katastrophen als distinktes Phänomen der Lebenswelt ist eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Verständigung über die bezeichneten Phänomene. Sie beruht darauf, komplexe Vorgänge auf einen Begriff zu bringen, der gleichsam eine Mikroerzählung des Geschehens darstellt. Die Bildung eines Begriffs durch die semantische AuÁadung eines Wortes stellt aber die kulturelle Dynamik einer Auseinandersetzung mit dem bezeichneten Phänomen nicht still. Neue Konzepte, konkurrierende Deutungsmuster und soziokultureller Wandel führen auch zu begrifÁichem Wandel. Eine wesentliche Rolle in diesem Prozess spielen auch die oft über lange Zeit hinweg geformten, nacherzählten, adaptierten und aktualisierten Erzählmuster für Krisen und Katastrophen. Im Zentrum dieses Kapitels steht daher die wechselwirkende Dynamik zwischen dem Arsenal, das die begrifÁiche, konzeptionelle und erzählende Fassung von Krisen und Katastrophen seit der Spätantike bis zum Ausgang der Hochmoderne charakterisiert, und den zugrundeliegenden Phänomenen der Lebenswelt. So verfolgt Gerrit Jasper Schenk in seinem Beitrag die Begriffsbildung für Katastrophen und Desaster vornehmlich am Beispiel natürlich induzierter Katastrophen (Erdbeben, Überschwemmungen) seit der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit in mehreren europäischen Sprachen. Dabei fällt auf, dass schon lange vor der begriffsgeschichtlichen Sattelzeit der Moderne eine bezeichnende Begriffsbildung auf dem Feld der Katastrophensemantik erfolgte. Einerseits zeichnen sich transkulturelle EinÁüsse auf die zugrundeliegenden Konzepte ab, die über die Grenzen sprachlicher Räume hinausreichen. Andererseits wird eine mit dezidierten Erzählund Deutungsmustern von Katastrophen verbundene Dynamik der Begriffsbildung erkennbar. In der Konsequenz dieser Beobachtung wäre über eine ModiÀkation oder Verabschiedung des Konzepts einer (zumal auf Europa begrenzten) begriffsgeschichtlichen Sattelzeit der Moderne nachzudenken. Carla Meyer thematisiert am Beispiel der spätmittelalterlichen Chronisten Sigmund Meisterlin und Thüring Fricker, inwieweit und inwiefern deren Krisenwahrnehmung und -erzählung durch vorgängige Erzählmuster geprägt wurde. Sie macht wahrscheinlich, dass Sallusts Erzählung von der Krise der Römischen Republik den beiden Geschichtsschreibern als ‚Masternarrativ‘ ein verführerisch überzeugendes Erzähl- und Deutungsmuster auch für soziopolitische Krisen in den Städten Nürnberg und Bern zur Verfügung stellte. Dazu entwickelt sie sieben Thesen, die den Rezeptionserfolg dieser von Sallust direkt oder indirekt geprägten soziopolitischen Krisenerzählung spätmittelalterlicher Stadtchronisten jenseits einer

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vielleicht anthropologischen Erzähllogik von Krisen erklären könnte. Zugleich wird jedoch auch deutlich, dass mit etablierten Narrativen immer auch bestimmte Deutungs- und Wertungsmuster verbunden sind, selbst wenn diese stets adaptiert und aktualisiert werden müssen. Die Bandbreite von Phänomenen, die als Krisen und Katastrophen beschrieben werden, ergänzt Katja Patzel-Mattern um Industriekatastrophen. Am Beispiel zweier Explosionsunglücke bei der BASF nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg analysiert sie die kommunikativen Muster, mit denen diesen Unglücken in der vor allem durch Zeitungen geprägten Öffentlichkeit begegnet wird. Sie kann zeigen, wie neben einem Rückgriff auf religiöse Bezugsmuster vor allem die jeweilige soziokulturelle Rahmung des Geschehens auf die Kommunikation einwirkt. Während diese 1921 bezeichnend national gefärbt war, trug sie 1948 vor dem Hintergrund einer durch die Besatzungsmächte eingeläuteten Pluralisierung der massenmedialen Kommunikation und den solidarischen Wiederaufbauanstrengungen vor allem zu einer Integration des katastrophalen Geschehens in das Fortschrittsnarrativ der Moderne bei. Das Erzählmuster trägt auf diese Weise zur Deutung und Sinnkonstituierung bei und wirkt damit seinerseits an der soziokulturellen Rahmung von Industrieunglücken mit. Einem anderen Ansatz folgt Thilo Jungkind, der industrielle ‚Störfälle‘ und dadurch ausgelöste Krisen aus dezidiert unternehmensgeschichtlicher Perspektive thematisiert. Er stellt zunächst methodologische Überlegungen an, wie die Wechselwirkungen zwischen dem Umgang mit Umweltrisiken innerhalb und außerhalb großindustrieller Unternehmen analysiert werden können. Seine Überlegungen zielen darauf, über eine Untersuchung im Sinne des Neoinstitutionalismus hinaus die Spannungen analytisch fruchtbar zu machen, die sich aus den Differenzen einer nur unternehmerischen und einer allgemein soziokulturellen Rahmung der industriellen Risikowahrnehmung ergeben. An Fallbeispielen (Bayer AG, Henkel) zeigt er signiÀkante Veränderungen unternehmerischer Verhaltensmuster und Managementpraktiken im Umgang mit ‚Störfällen‘: Während diese noch in den 1960er Jahren als legitimer Kollateralschaden bei der Wohlstandgenerierung aufgefasst wurden, wirkte der sich ändernde gesamtgesellschaftliche Diskurs vor allem nach der Seveso-Katastrophe 1976 einschneidend. Dem Fortschritts- wurde ein Krisennarrativ entgegen gestellt, das die Unternehmen zwang, eine neue Sicherheitskultur zu entwickeln.

VORMODERNE SATTELZEIT? DISASTRO, KATASTROPHE, STRAFGERICHT – WORTE, BEGRIFFE UND KONZEPTE FÜR RAPIDEN WANDEL IM LANGEN MITTELALTER* Gerrit Jasper Schenk Im europäischen Mittelalter waren Krisen und Katastrophen – auch wenn Statistiken fehlen – offenbar erheblich häuÀger als heute, gehörten mit Blick auf Epidemien, Teuerungen, Hungersnöte und Kriege fast schon zur Normalität dieser Epoche. Zumindest gilt dies aus der beschreibungssprachlichen Perspektive des analysierenden Historikers. Die Zeitgenossen sahen ihre Lebenswelt nicht notwendig so, wie wir sie heute beschreiben. Für die heute in der Forschung vielfach diagnostizierte (und umstrittene) „Krise des 14. Jahrhunderts“ lässt sich bei dem Franziskaner Alvarus Pelagius, Zeitgenosse der Pest in der Jahrhundertmitte, der Begriff des tempus fermentatum, der „in Gärung geratenen Zeit“, als zeitdiagnostische Wendung feststellen.1 Mit Blick auf die todbringende Seuche, die nach einigen Theorien verdorbener Luft zugeschrieben wurde, aber vor allem angesichts des als bedrohlich empfundenen Wandels der gesellschaftlichen und kirchlichen Ordnung lag diese BegrifÁichkeit geistlichen Autoren nahe. Ein volkssprachlicher weltlicher Autor wie der Florentiner Giovanni Villani hält zwar eine große Zahl von (nicht selten geistlich konnotierten) Begriffen bereit, wenn er die Unglücksfälle, die seine Stadt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts trafen, abstrakt zu charakterisieren versucht, etwa rimutamento, aversità, afÁizione, danno, (di)cadimento, tribulazione, fragello, zieht es aber meistens vor, von der Überschwemmung bis zum Bankrott von KauÁeuten das jeweilige Unglück ganz konkret zu benennen.2 Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Worte, Begriffe und Konzepte untersucht werden, die im Mittelalter in Verbindung mit katastrophalen ‚Natur‘-Ereignissen gebräuch* 1 2

Zu einigen der hier vorgestellten Überlegungen vgl. ähnlich bereits Schenk: Dis-Astri. Für die Unterstützung meiner Forschung danke ich der Gerda Henkel-Stiftung (Düsseldorf) und dem Cluster of Excellence „Asia and Europe in a Global Context“ (Universität Heidelberg). Pelagius: De planctu Ecclesiae, fol. 93 recto; vgl. bereits Krüger: Krise, S. 844, 858; zur Krise den Forschungsüberblick bei North: Europa, S. 361–371, zum (problematischen) historiographischen Deutungsmuster des 14. Jahrhunderts als Krise Schuster: Krise. Villani: Cronica, Buch 11 Kap. 227, ed. Porta Bd. 2, S. 798; Buch 12 Kap. 3, ed. Porta Bd. 3, S. 26–40, Buch 13 Kap. 3, ed. Porta Bd. 3, S. 299, wo er im Zusammenhang mit der Signorie von Walter von Brienne 1342 schreibt: „E noti chi questo leggerà come Iddio per le nostre peccata in poco di tempo diede e promise alla nostra città tanti fragelli, come fu diluvio, carestie, fame, e mortalità, e sconÀtte, vergogne d’imprese, perdimenti di sustanza di moneta, e fallimenti di mercatanti, e danni di credenza, e ultimamente di libertà recati a tirannica signoria e servaggio.“ Vgl. auch Salvestrini: Città, S. 71; Steinhardt-Hirsch: Notte, S. 256 m. Anm. 50.

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Gerrit Jasper Schenk

lich sind. Ich biete hier also nicht eine allgemeine Untersuchung der Krisen- und KatastrophenbegrifÁichkeit im Mittelalter, sondern nur einen Ausschnitt daraus – einen allerdings zentralen Ausschnitt, zumal in der einschlägigen Forschung zum Begriff der Katastrophe (und semantisch verwandter Begriffe) das mittelalterliche Jahrtausend bisher kaum Beachtung fand.3 Doch warum ist ein begriffsgeschichtlicher Zugriff besonders geeignet, um der Wahrnehmung und Deutung rapider Wandlungsphänomene wie ‚Natur‘-Katastrophen durch die jeweiligen Zeitgenossen näher zu kommen? Ich sehe in der Hauptsache drei Vorteile dieser Herangehensweise. Erstens ist damit eine heuristische Strategie verbunden, die im Wissen um den zugleich konstruierten wie konstruierenden Charakter der sprachlichen Welterfassung und -beschreibung eben diese Ambivalenz nutzt, um den Umgang der entsprechenden Kulturen mit dem bezeichneten Phänomen besser analysieren zu können. Sprache ist eine der vielen menschlichen „Weisen der Welterzeugung“.4 Bevor ein Phänomen auf seinen Begriff gebracht wird, müssen zu seiner Beschreibung viele Worte gemacht werden.5 Begriffe können folglich als vergangene Kommunikation über das Phänomen verstanden werden.6 Ist die Welt erst be-zeichnet, kann sie auch als Zeichen verstanden werden, wird sogar selbst zum Medium – das bereits antike Konzept vom ‚Buch der Natur‘ legt davon Zeugnis ab.7 Aus der Vergangenheit sind aber nicht nur Worte und Texte, sondern auch mit Diskursen und Praktiken verbundene Gegenstände, Bilder und ganze Kulturlandschaften als analysierbares Zeugnis erhalten geblieben, so dass – zweitens – ein allein auf die Metaphern, Allegorien und Diskurse gebildeter Eliten konzentrierter begriffsgeschichtlicher Ansatz zu kurz griffe.8 Die folglich ratsame Öffnung gegenüber der Sozial- und Kulturgeschichte wartet freilich mit zahlreichen Problemen auf, die von der Konstituierung geeigneter Quellenkorpora über die Lexikometrie als Methode bis hin zu Schwierigkeiten reichen, zum Beispiel Bilder und Landschaften adäquat in eine Begriffsgeschichte von soziokulturell differenzierbaren Diskursen einbeziehen zu können.9 Eine wissenssoziologisch orientierte Begriffsgeschichte erlaubt es immerhin, Begriffe, Konzepte und Mythen zu identiÀzieren, welche die 3

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9

Die gründlichen begriffsgeschichtlichen Studien von Briese und Günther: Katastrophe und Briese: Genommen, blenden das Mittelalter fast gänzlich aus. Tesi: Catastrofe und Tesi: Cataclisma rekonstruieren die entsprechenden Wortgeschichten fast vollständig; Walter: Katastrophen, S. 16 f. und Rosen: Dislocating, S. 6–11 erhellen die Begriffsgeschichte von ‚Katastrophe‘ vor allem in der Renaissance, O’Dea: Mot, im 18. Jahrhundert. Goodman: Welterzeugung. Busse: Architekturen, S. 47, 56. Knobloch: Überlegungen, S. 17; Schnepf: Handeln, S. 86 f. Vgl. dazu nur Curtius: Literatur, S. 323–329; Blumenberg: Lesbarkeit, S. 34–57. Reichardt: Wortfelder, bes. S. 115–126; Zill: Substrukturen. Zu Bildern zum Beispiel Ribon: Esthétique; Wimböck: Sternen; Zwierlein: Alltäglichkeit; zu Landschaften demnächst Falser: Landscapes. Für ein Beispiel siehe die Analyse des SintÁutmythos im Bild bei Barasch: Towards. Dazu vor allem die Beiträge von Ralf Konersmann und Martin Wengler sowie die Einleitung von Ernst Müller in ders.: Begriffsgeschichte; zu den speziÀschen Problemen in der Mediävistik Jussen: Ordo, bes. S. 239–243.

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Bezeichnung von und den Umgang mit ‚Natur‘-Katastrophen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus fundamental formten.10 Wer eine Überschwemmung als Strafgericht Gottes deutet, agiert potentiell anders als jemand, der dafür eine ungünstige Großwetterlage verantwortlich macht. Ein Konsens der jüngeren Katastrophenforschung, dass nämlich ‚Natur‘-Katastrophen gesellschaftsbezogene, soziale Konstrukte sind, also nicht allein eine Folge natürlicher Extremereignisse, sondern das Ergebnis komplexer, historisch induzierter und prozesshaft ablaufender Kausalzusammenhänge an den Schnittstellen von (idealtypisch gedachter) ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, könnte damit auch aus begriffsgeschichtlicher Perspektive erhärtet werden.11 Wenn dadurch genauer geklärt werden könnte, ob und welche Unterschiede zwischen einer ‚Krise‘ und einer ‚Katastrophe‘ bestehen, wäre dies auch ein Beitrag zur Differenzierung der Krisen- versus KatastrophenbegrifÁichkeit.12 Die aus dem Alltagsverständnis resultierende Unterscheidung der Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit einer Katastrophe im Gegensatz zur Langsamkeit einer sich entwickelnden Krise ist nämlich nicht so eindeutig, wie dies auf den ersten Blick zu sein scheint. Dagegen spricht zum einen aus der beschreibungssprachlichen Perspektive des analysierenden Wissenschaftlers der erwähnte, lange Zeiträume umfassende Prozesscharakter von Katastrophen, zu dem zum Beispiel vorgängige materielle wie soziokulturelle Strukturen als entscheidende Faktoren im komplexen katastrophalen Geschehen zählen. Zum anderen wird auch in der objektsprachlichen Perspektive nicht immer Wert auf die Unterscheidung langsamer Krisen von jähen Katastrophen gelegt: Zeitgenossen gießen Krisen nicht selten in ein Narrativ, das die Krise als Resultat zuvor nicht durchschauter komplexer Prozesse darstellt und das insofern auch den überraschenden (nicht notwendig aber plötzlichen) Charakter einer Krise thematisiert.13 In der Kommunikation über Krisen und Katastrophen – und dies betrifft nun sowohl den Zeitgenossen wie den Wissenschaftler post festum – Ànden sich also wertende Deutungsmuster und Narrative, die Krisen wie Katastrophen beispielsweise als Transformationsphasen darstellen, so dass die Unterschiede zwischen Krise und Katastrophe auch auf dieser Ebene zu verschwimmen beginnen.14 Als Arbeitshypothese sei formuliert, dass diese Entwicklung einer zunehmenden Austauschbarkeit der Krisen- und Katastrophennarrative zumindest im Deutschen zwar erst eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte darstellt, aber schon lange zuvor in der Geschichte der Begriffe angelegt worden ist. Die Karriere des Begriffs ‚Klimakatastrophe‘, die einen über längere Zeiträume ablaufenden, soziogenen Klimawandel bezeichnet, ist ein Indiz für diese Vermutung.15 10 11

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Zur Methode auch Knobloch: Überlegungen; Fleck: Entstehung; dazu ibid. die Einleitung von Schäfer und Schnelle. Hewitt: Regions, S. 141–168; Oliver-Smith: Theorizing, S. 43–45; García-Acosta: Disaster, S. 60–62. Zu dieser „multidimensionality of disaster“ Oliver-Smith: Theorizing, S. 25 f. Zu DeÀnitionsversuchen und der jüngeren Forschungsdiskussion Schenk: State of Research, S. 11–18; Felgentreff und Glade: Naturrisiken, S. 1–10. Erste Überlegungen dazu bei Schenk: Florenz, S. 1 f., 15 f. Vgl. die Einleitung zu diesem Band. Schenk: Florenz, S. 2. Mauelshagen: Klimakatastrophe, S. 216–222; Weingart, Engels und Pansegrau: Hypothese.

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Drittens lohnt der begriffsgeschichtliche Zugriff gerade für eine Analyse von katastrophalen Phänomenen, die auf der Schnittstelle von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ zu liegen scheinen, weil Naturbeherrschung beginnt, indem Natur als solche wahrgenommen, zeichenhaft verstanden und entsprechend benannt wird.16 Robert Delort hat spekuliert, ob nicht die indoeuropäischen Sprachen eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen sind, dass die westlichen Kulturen im Lauf der Geschichte eine besondere und, so darf man ergänzen, erst in jüngster Zeit in ihrer Ambivalenz erkannte Fähigkeit der Naturbeherrschung entwickelten.17 Mit Blick auf die vermutlich viel entscheidendere Mathematisierung der Natur in den Naturwissenschaften der Neuzeit ist diese These sicher problematisch. Doch zweifellos hat das speziÀsch mittelalterliche Naturverständnis eine wichtige, noch zu wenig untersuchte Rolle im Prozess der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften gespielt. Johannes Fried formuliert sogar die These, dass sich die Entstehung der modernen Naturwissenschaft der mittelalterlichen Apokalypsenfurcht verdanke. Im Mittelalter habe man versucht, die Natur als Buch Gottes zu lesen, um das Weltende zu berechnen, und so zum Beispiel über die Astrologie zur Astronomie gefunden.18 So lieferte eine imaginierte Ànale Katastrophe ein wesentliches Deutungsmuster für die ‚Natur‘-Wahrnehmung und dies verdient Beachtung auch jenseits der Frage nach dem Aufstieg Europas, dem vieldiskutierten „Wunder Europa“.19 Ich analysiere daher im Folgenden am Beispiel von Erdbeben und Überschwemmungen bzw. SturmÁuten ausführlich einige der Worte und Begriffe, die im Mittelalter in einigen europäischen Sprachen für bestimmte Phänomene verwendet wurden, die heute beschreibungssprachlich als ‚Natur‘-Katastrophen kategorisiert werden, in ihren jeweiligen diskursiven Kontexten (I).20 Lassen sie sich einem semantischen Feld zuordnen?21 In welcher Beziehung stehen die Worte und Begriffe zueinander, bilden sich abstrakte Oberbegriffe? Gibt es im Lauf der Zeit Begriffsveren16 17 18 19 20

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Vgl. zum „stark konstruktiven Zug“ besonders des mittelalterlichen Naturbildes Böhme und Böhme: Feuer, S. 168. Delort: Racines, S. 137–140. Auch wenn es eine Wahrnehmung von Katastrophen ohne Worte für die Sache gegeben haben mag, soll hier in erster Linie die zu Worten geronnene Wahrnehmung interessieren. Fried: Aufstieg, S. 106–111, 183–195. Jones: Miracle, S. 22–41, erklärt den Aufstieg Europas als weltweit kolonialisierende Macht unter anderem mit einer besonderen (vor allem wirtschaftlichen) Fähigkeit der europäischen Kultur(en) bereits im Mittelalter, mit Katastrophen umgehen zu können. Da die spätmittelalterlichen lateinischen wie volkssprachlichen Quellen noch nicht in ausreichendem Maße in elektronisch auswertbaren Korpora vorliegen, konnte nicht mit der Methode der Lexikometrie gearbeitet, sondern die Quellenbefunde nur qualitativ herangezogen werden; archivalische Belege wurden nur stichprobenartig (für die Toskana und das Elsass) hinzugezogen. Neben den einschlägigen Lexika wurden folgende digitalisierte Quellensammlungen verwendet: Acta Sanctorum; Brepols Cetedoc Library of Christian Latin Texts; Brepols Library of Latin Texts (Series A und B); digitale Monumenta Germaniae Historica; Hödl und Knoch: Repertorium. Zwierlein: Prometheus, S. 17 f., 235 f. mahnt zu Recht an, dass oft nur das Wort Katastrophe, aber nicht das entsprechende semantische Feld untersucht wurde. Da dieses Feld sehr groß ist, musste auch hier ein Ausschnitt gewählt werden.

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gungen oder -erweiterungen? Weiter verfolge ich skizzenhaft die heute verwendeten abstrakten Begriffe ‚Katastrophe‘ und ‚Desaster‘ in ihrem jeweiligen Verwendungskontext in Mittelalter und Renaissance. Auch hier muss nach Begriffshierarchien, Begriffskonkurrenzen und Begriffswandel gefragt werden (II). Abschließend sollen kurz einige Folgerungen aus den Beobachtungen gezogen werden, die für eine vormoderne Sattelzeit von ca. 1250/1300 bis 1600/1650 sprechen könnten (III). (I) Im lateinischen Mittelalter wurde eine Vielzahl von spezialisierten Worten, Wendungen und Begriffen für die einzelnen ‚Natur‘-Katastrophentypen verwendet. Die Gelehrten adaptierten zunächst die spätantike BegrifÁichkeit.22 Für Erdbeben übernahmen sie die Wendung terrae motus, die auch in die romanischen Sprachen gelangte.23 Diese Wendung24 nutzt ein wesentliches Merkmal, die sich bewegende Erde, zur sprachlichen Charakterisierung des bezeichneten Phänomens, ähnlich wie das seit dem Hochmittelalter nachweisbare deutsche erdbidem.25 Sie war jedoch nicht mit einer speziÀschen Deutung verbunden. Dennoch lässt sich an Varianten der begrifÁichen Fassung des Phänomens Erdbeben eine Verschiebung von einer Beschreibung zu einer religiösen Deutung feststellen. So verwenden etwa Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert mit terrae commotio und Saba Malaspina im 13. Jahrhundert mit orbis concussa Wendungen, die ein allegorisches Verständnis des Bebens als Zeichen des Gotteszornes, als iudicium Dei signalisieren.26 Man berief sich dafür auf Bibelstellen, nach denen Erdbeben als visitatio Dei verstanden wurden.27 Jedem Gläubigen waren außerdem die Erdbeben beim Kreuzestod Christi (Mt 27,51 f. et par.) und das in der Apokalypse (Apc 22 23 24

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Meier: Terminologie, S. 54 f. Conti: Termini, S. 61 f.; Draelants: Phénomènes, S. 187–222, 214 f. Vgl. zum Beispiel die Quadragesimalpredigt des Minoriten Jakobus de Lenda mit Rekurs auf Aristoteles: „Aristoteles in 5. Phys. dicit, quod terreni motus sunt incomparabiles. Hoc est verum in motu locali“, gedruckt in Paris zwischen 1499 und 1501, vgl. dazu Hödl und Knoch: Repertorium; Heinrich Taube von Selbach: Chronik, ed. Bresslau, S. 109 f. über das Erdbeben in Basel 1356. Zu den naturkundlichen Abhandlungen ausführlich unten Anm. 48. Zu terrae motus: Quellenauszüge bei Guidoboni und Comastri: Catalogue; ferner Lexer: Handwörterbuch Bd. 1, S. 681–683; Benecke, Müller und Zarncke: Wörterbuch Bd. 1, S. 115; Grimm und Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 3, S. 746–749. Zu Isidor bereits Marmo: Teoria, S. 324 f.; Isidorus: Traité, Kapitel 46, 3, ed. Fontaine, S. 321 nutzt die aristotelische Pneuma-Lehre (s. u. Anm. 41) allegorisch, um das Erdbeben (terrae commotio), verursacht durch den spiritus oris Dei als iudicium für peccatores zu deuten. In der Chronik von Saba Malaspina: Chronik, ed. Koller und Nitschke, S. 275 (mit Lesart nach Handschrift C in eckigen Klammern) zum Jahr 1280: „… totiusque sunt orbis extrema conquassa [concussa] et pariter elementa turbata …“ könnte auf Ps (G) 28,8 angespielt worden sein. Der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach bringt in seinem Dialogus miraculorum, ed. Strange, S. 251, das Erdbeben bei Brescia 1222 in einer bezeichnenden Wendung mit dem Tod von Häretikern in Zusammenhang: „In Adventu Domini haeretici Mediolanenses haereticis qui erant in Brixa, multa plaustra cum victualibus transmiserunt. In ipsa vero die Nativitatis Domini dum convivarent, Dominus terram concussit, et cadentibus aediÀciis plus quam duodecim millia hominum extinxit.“ Zum Erdbeben vgl. Guidoboni und Comastri: Catalogue, S. 239–259. Vgl. Guidoboni: Tremblement, S. 115, 119, 136 m. Anm. 36; Draelants: Phénomènes, S. 209; ferner Marmo: Teoria; in den Murbacher Annalen, ed. Liebenau, S. 173, wird über das Basler

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16,18) angekündigte Erdbeben am Weltende als exegetische Bezugspunkte bekannt. Die Interpretation von Erdbeben als Zeichen des Gotteszornes über die Sünden der Welt wurde auch verbildlicht und in Erdbebentraktaten kritisch diskutiert.28 In der Forschung wird diese Interpretation als „straftheologisches“ Deutungsmuster bezeichnet.29 Es warf freilich schwierige Fragen auf: Weshalb traf die als Áagellum Dei bezeichnete Strafe Gerechte und Ungerechte gleichermaßen?30 Eine indirekte Antwort auf diese Theodizee liefert das Narrativ vom wundersamen Überleben eines Säuglings in den Trümmern, also der Rettung wenigstens eines Unschuldigen.31 Schwer zu entscheiden war auch, ob eine Katastrophe als Hinweis Gottes auf ein von der örtlichen Regierung begangenes, zugelassenes oder ungesühntes Unrecht zu verstehen sei. Schließlich stellte sich die Frage: Wie soll auf den Zorn Gottes reagiert werden? Üblich war die Flucht aus der einsturzgefährdeten Stadt hinaus aufs freie Feld und das Kampieren in Zelten, solange Nachbeben drohten.32 Im Sinne christlicher caritas wurde Hilfe organisiert.33 Meist entschied man sich für einen Wiederaufbau der Stadt,34 seltener schon für präventive Maßnahmen wie etwa Bauverbote für einsturzgefährdete Bauelemente.35 Nördlich der Alpen verbot man wegen der dort überwiegenden Bauweise in Holz auch Dachbedeckungen aus Materialien, die

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Erdbeben 1356 berichtet: „ut civitas Basiliensis, que decenti fuit structura formata, fere totaliter rueret, et putabatur quod mundus haberet Ànem.“ Dessì: Prédication, S. 457–479; Kursawa: Antichristsage; Sebald: Kunstdenkmäler, S. 292– 297; demnächst Nevola: Picturing; zu Erdbebentraktaten unten Anm. 48. Groh, Kempe und Mauelshagen: Einleitung, S. 11–33, 20 („Straftheologie“); Hanska: Strategies, S. 116–126. Der zeitnah schreibende franziskanische Augenzeuge Alessandro de Ritiis vermerkt in seiner Chronik der Stadt Aquila (Alessandro de Ritiis: Chronica, ed. Cassese, S. 208) über die dortigen Erdbeben 1461 und 1462: „Vere tunc temporis omnes timebant ut dicebatur ne terra deglutiret eos propter peccata quibus imputabant hoc fore Áagellum dei.“ Zum Erdbeben Guidoboni und Comastri: Catalogue, S. 733–742. So etwa beim Erdbeben in Basel 1356 nach der Basler Handschrift der Repgauischen Chronik, ed. Bernoulli, S. 50 (eigentlich: Sächische Weltchronik); ferner Meyer: Basel, S. 103 f., 198 f.; zur parallelen Erzählung der wundersamen Rettung von Säuglingen bei Überschwemmungen in Wiegen siehe unten Anm. 67. Zum Problem der Theodizee bei ‚Natur‘-Katastrophen Chester: Theodicy, S. 485–505. So etwa in Straßburg 1357, vgl. CDS 8: S. 137 (Chronist Fritsche Closener) und CDS 9: S. 863 (Chronist Jakob Twinger von Königshofen); in Aquila 1462, vgl. Alessandro de Ritiis: Chronica, ed. Cassese, S. 207. Zum Beispiel in Basel 1356, siehe Fouquet: Kulturgeschichte, S. 101–131, 119; für Akte der Solidarität und Geld- oder Lebensmittelspenden auch Bartlomé und Flückiger: Stadtzerstörungen, S. 133–136. Zum Wiederaufbau siehe die Beiträge in Ranft und Selzer: Städte; Körner: Stadtzerstörung; Crédit Communal: Destruction; Guidoboni und Ferrari: Effects, S. 680–682. So in Straßburg 1357, vgl. den Bericht des Stadtschreibers Sebastian Brant im Jahr 1513, ediert bei Schenk: Lektüren, S. 515: „Man gebot ouch abze brechen alle hohe gezierd der gebuw und kaemmeten uff den husern.“ Ferner Guidoboni und Ferrari: Effects, S. 699 f.

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durch Einsturz auf eine Herdstelle verheerende Brände verursachen konnten.36 Diese Aufbau- und Präventivmaßnahmen sprechen implizit gegen eine fatalistische Auffassung von Erdbeben als Zeichen des nahen Weltendes. Sie lassen auf ein pragmatisches Deutungsmuster der ‚Natur‘-Katastrophe als Unglücksfall schließen, den man mehr oder weniger gemeinschaftlich zu bewältigen hatte.37 Auf eine Akzeptanz der Auffassung von Sünden als causa moralis der ‚Natur‘Katastrophe deuten dagegen Reaktionen wie Mahnpredigten, Bittmessen, gemeinsame Gebete und Prozessionen mit einem wundertätigen Bild städtischer Schutzheiliger hin wie beispielsweise in Florenz nach einem Erdbeben 1414 mit dem Bild der Madonna.38 Ferner wurden auch sogenannte Sittenmandate verabschiedet, weil sich die Regierungen in der Regel als buon governo verpÁichtet fühlten, moralisches Fehlverhalten als vermutete Ursache des Erdbebens unter Strafe zu stellen und zu verfolgen. Die Straßburger Stadtregierung zum Beispiel verbot ihren Bürgern das nicht standesgemäße Tragen von Goldschmuck, in Florenz stellte der Senat nach einem Erdbeben im Mugellotal 1542 bestemmia und sogdomia, Blasphemie und Sodomie, als sündhafte Laster unter Strafe.39 Implizit kann dies als gesellschaftspolitische und rechtliche Prävention von ‚Natur‘-Katastrophen gedeutet werden. Offenbar galt die Sorge der Regierenden aber nicht nur dem Seelenheil und der Gesundheit der Gemeindeglieder, sondern auch der Sorge um die Legitimität ihrer Herrschaft.40 Verbreitet war aber auch die Auffassung, dass es eine causa naturalis für Erdbeben gebe. Diese naturkundlichen Deutungsmuster beruhten auf einer Rezeption antiken Wissens. Isidor von Sevilla vermittelte dem Frühmittelalter einen reduzierten Extrakt antiker Erklärungsmodelle für Erdbeben:41 Erstens, die Bewegung von Wasser im Inneren der Erde verursache die Erderschütterungen (u. a. nach Lukrez). 36 37

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Zum Beispiel beim Erdbeben in Basel 1356, Fouquet: Kulturgeschichte, S. 114 mit Anm. 18; Rohr: Naturereignisse, S. 159 f. Vgl. auch Guidoboni und Ferrari: Effects, S. 698 f. Gesellschaftliche Unterschiede wurden allem Anschein nach jedoch nicht aufgehoben, vgl. die Reaktion auf das Straßburger Erdbeben 1357 nach CDS 8: S. 137 (Fritsche Closener): „Man verbot ouch mannen und frowen, silber und golt und ander gezierde zu tragende, wande allein rittern wart golt nüt verboten“; zum Hintergrund Schenk: Lektüren, S. 516 f. Vgl. bereits Hanska: Strategies, S. 34 f., 44, 49–63; Wegmann: Naturwahrnehmung, S. 132– 137. Zum Erdbeben in Florenz 1414 Casotti: Memorie 1, S. 106 f.; Trexler: Experience. Weitere Belege bei Schenk: Dis-Astri, S. 32 f. Anm. 31 f. Straßburg: siehe Anm. 37; zu Florenz 1542 vgl. die Beschlüsse in Firenze, Archivio di Stato: Senato dei Quarantotto, 5, fol. 7 verso – 8 verso (7. Juli 1542), kopiale Überlieferung ibid., Senato dei Quarantotto, 13, Heft 1542/43, Nr. 81 (7. Juli 1542); ibid., Senato dei Quarantotto, 5, fol. 8 verso – 9 verso (7. Juli 1542), kopiale Überlieferung in ibid., Senato dei Quarantotto, 13, Heft 1542/43, Nr. 82, (7. Juli 1542), teilweise ediert bei Cantini, S. 210–213; vgl. dazu auch Bellandi und Rhodes: Terremoto, S. 27 f. Zur (im Einzelnen zu differenzierenden) Sorge der Regierenden um das moralische wie materielle Heil der Regierten in diesem Zusammenhang und den damit verbundenen Konzepten (securitas, buon governo), Bildern und Diskursen, vgl. Schenk: Human Security. Isidorus: Etymologiarum, Buch 14, Kapitel 1, 2 f., ed. Lindsay, ohne Seitenzahl; Isidorus: Traité, Kapitel 46, 1 f., ed. Fontaine, S. 319–321; dazu umfassend Marmo: Teoria; Guidoboni: Earthquakes, S. 197–201; Hanska: Strategies, S. 105–112; zu den antiken Theorien Forbes: Studies, S. 38–47; Waldherr: Erdbeben, S. 47–102; zu Aristoteles Gruet: Céleste; unzureichend Wegmann: Naturwahrnehmung, S. 121–123.

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Zweitens, Erdbeben würden durch Winde im Erdinneren verursacht, die einen Druck aufbauten und Ausgänge suchten (u. a. nach Demokrit, Aristoteles, Sallust). Drittens, Hohlräume im Erdinneren stürzten ein und erschütterten so die Erde (u. a. nach Theophrast, Seneca). Ein viertes, bei Isidor nicht explizit genanntes Erklärungsmodell stellte der weit verbreitete und uralte, auch biblisch begründbare Glaube an eine prodigiöse Beziehung zwischen Makrokosmos (Sterne, Himmel) und Mikrokosmos (Erde, menschlicher Körper) oder sogar an einen direkten EinÁuss der Himmelskörper auf das irdische Geschehen vom Wetter (sogenannte Astrometeorologie) bis zum Schicksal einzelner Menschen dar.42 Diese antiken Modelle wurden zunächst nur vage und in Verbindung mit einem religiösen Deutungsmuster rezipiert.43 Erst mit der arabisch vermittelten Aristoteles-Rezeption seit dem Hochmittelalter und ihrer scholastischen Aneignung trat neben die symbolische eine explizit physikalische Lektüre im Buch der Natur.44 Allerdings stand die Auffassung von einem ausschließlich natürlichen Ursprung irdischer Phänomene seit der Spätantike unter Häresieverdacht: Eine ausschließlich natürliche Erklärung irdischen Geschehens konnte zur Folgerung verführen, dass Gott nicht allmächtig sei.45 Die Annahme einer Determinierung menschlichen Handelns stellte außerdem den aus theologischen Gründen unverzichtbaren freien Willen der Menschen zur Debatte.46 In der akademischen Diskussion bot der Aristotelismus den Ausweg, Gott als prima causa von ‚Natur‘-Katastrophen anzuerkennen und zugleich eine natürliche causa secunda gelten zu lassen.47 Im Spätmittelalter wurden diese Deutungsmuster popularisiert und vor allem der astrometeorologische und iatroastrologische Glaube an den EinÁuss von Sternen auf das irdische Geschehen und den menschlichen Körper in den Volkssprachen weit 42

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Waldherr: Erdbeben, S. 157–165 zu antiken Grundlagen des Prodigienverständnisses; ferner Pedersen: Astronomy, S. 308–314; Harmening: Superstitio, S. 181–188; North: InÁuence, S. 45–100; Marmo: Teorie, S. 170; Traina: Tracce, S. 11 f.; Flint: Rise; Fried: Aufstieg, S. 186 f. Der biblische Bericht vom Stern von Bethlehem, der die Geburt Jesu ankündigte (Mt. 2, 1 f., 9), ließ schon seit Origenes die Interpretation von Sternen und Kometen als positive Vorzeichen nachvollziehbar werden, vgl. Massing: Stern, S. 167–171, doch wurden Kometen seit der Antike in einer durchaus ambivalenten Weise interpretiert, vgl. Becchi: Cometa, S. 203, 207 f. Draelants: Phénomènes, S. 220 f. betont, dass Erdbeben ebenfalls als Prodigium gewertet wurden. Marmo: Teoria; vgl. zum Beispiel den Bericht in den Annales Xantenses, ed. Simson, S. 10 über ein (in seiner Historizität fragliches) Erdbeben 838 im Gebiet um Fulda, der auf vage Kenntnisse von Beda Venerabilis und Senecas Erklärungsmodelle anspielen könnte, in dem aber vor allem der prodigial-allegorische Charakter des Ereignisses angedeutet wird: „Anno DCCCXXXVIII … mense Februarii XIIII. Kal. Martii tonitruum est auditum magnum, et nimis ardor solis terram urebat, et [in] quibusdam partibus terrae motus factus est, et ignis forma draconis in aere visus est. Eodem anno heretica pravitas orta est.“ Zum Beben vgl. Alexandre: Séismes, S. 130, Nr. 46. Vgl. Guidoboni: Earthquakes, S. 201–203; Fried: Aufstieg, S. 72. Ein Beispiel des 12. Jahrhunderts erörtert Weltecke: Konjunktion, S. 179–212. Vgl. Guidoboni: Filastrio, S. 178. Vgl. unten Anm. 69–75. Vgl. zur Suche nach dem primum mobile bereits North: InÁuence, S. 55 f., 74 f.; im Zusammenhang mit Katastrophenprognostik Weltecke: Konjunktion, S. 188 f.

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verbreitet.48 Dies hatte offenbar entscheidende Folgen für die Formierung eines abstrakten Verständnisses für Katastrophen, Krisen und Unglücksfälle, denn es erlaubte auf die lange Sicht eine kategoriale Unterordnung dieser Phänomene unter einen einzigen, die vermeintliche Ursache bezeichnenden Begriff. Deutliche Indizien für diesen Prozess sind an der Wende zum 14. Jahrhundert im Italienischen und verwandten Sprachen die Entstehung des Wortes disastro und im Deutschen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert die Verwendung des ursprünglich aus anderen Kontexten bekannten Wortes ‚Katastrophe‘ für Unglücksfälle aller Art (siehe unten II). Ähnliche Beobachtungen wie bei den Begriffen, Konzepten und Diskursen im Zusammenhang mit Erdbeben kann man auch bei den Deutungsmustern und Narrativen von Überschwemmungen und SturmÁuten machen. Diese wurden im Lateinischen zunächst mit beschreibenden Formeln charakterisiert. Seit dem frühen Mittelalter begegnet die lateinische Wendung inundatio aquae/aquarum/maris/Áuminum.49 In den Berichten gibt es eine Vielzahl von gleichsam neutral beschreibenden Wendungen (magna inundatio, habundancia aquarum, superabundantia aquarum), mit denen die gewaltigen Wassermassen einer Überschwemmungskatastrophe charakterisiert werden.50 Im Frühneuhochdeutschen steht für die Wassermenge und Höhe der Flut entsprechend die Formulierung groß wasser.51 48

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Vgl. zu den gelehrten Traktaten, etwa zum Halleyschen Kometen 1456 das Iudicium des Astronomen Peuerbach: Gutachten, ed. Lhotsky und d’Occhieppo, S. 271–276; zum selben Kometen und dem Erdbeben von Neapel 1456 auch Matteo dell’Aquila: Tractatus de cometa atque terraemotu, ed. Figliuolo, und der ausführliche Erdbebentraktat von Manetti: De terraemotu, übersetzt von Scopelliti und Molin, dazu Heitzmann: Giannozzo Manetti, S. 735–748 und Pagliara: Annotazioni; eine Zusammenstellung entsprechender Schriften bei Paulus: Textsorten. Zur Rezeption astronomischen Wissens in der lateinischen Schulliteratur vgl. Bodemann und Dabrowski: Handschriften, S. 36 f., zur Iatroastrologie Eckart: Geschichte, S. 77. Zu Indizien einer breiten Rezeption seit dem 14. Jahrhundert siehe oben Anm. 24, zur Popularisierung in Predigten, zur volkssprachlichen Rezeption unten Anm. 77 f. (Flugblätter, Kalender). Mentgen: Astrologie, S. 283, geht dagegen von einem arkanwissenschaftlichen Zug der Sternenkunde aus. Anstelle vieler Belege vgl. die Quellensammlung von Weikinn: Quellentexte, die im Einzelnen nicht immer akkurat ist, vgl. Börngen: Curt Weikinns Quellentexte, S. 51–58: Weikinn mischt zum Beispiel zeitnahe mit späten Quellen und nutzt veraltete Editionen, bietet aber bei Berücksichtigung dieser Probleme einen guten Zugang für eine Untersuchung des Begriffswandels für Fluten, Überschwemmungen und Unwetter. Ferner für inundatio Howlett: Dictionary, S. 1460; TLL Bd. 7/2, S. 246 f.; DuCange: Glossarium Bd. 4/5, S. 419 mit der Spezialbedeutung „Taufe“ (Eintauchen); Blaise: Lexicon, S. 505; Fuchs, Weijers und Gumbert-Hepp: Lexicon Latinitatis Bd. 4, S. 727 f. Zum lat. Begriff inundatio magna vgl. Annales Blandinienses, ed. Bethmann, S. 27 zum Jahr 1094; Fortsetzung der Annales Sancti Disibodi, ed. Waitz, S. 28 zum Jahr 1152; ferner der Bericht (datiert etwa 1458) des Mönchs Albert: Weltchronik, ed. Sprandel, S. 192 über eine Überschwemmung bei Trier 1296 („habundancia“); zur „superabundantia aquarum super Renum“ (Überschwemmung am Oberrhein 1480; Berner Handschrift): Jahrgeschichten, ed. Mone, S. 589. Dem selben semantischen Feld zugehörig illuvio: TLL Bd. 7/1, S. 401; Hofman: Wörterbuch, S. 774; Alexandre: Climat, S. 642. Vgl. zum Beispiel Eberhard Windecke: Denkwürdigkeiten, ed. Altmann, S. 346 (Rheinüberschwemmung 1433); Strasbourg, Archives de la Ville: série VII 1573, fol. 1 verso (Zitat; Rheinüberschwemmung 1529).

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Doch in erzählenden Quellen mit literarischem Anspruch Àndet sich auch eine Reihe von Formulierungen, die eine semantische Verschiebung von einer Beschreibung hin zu einer Wertung signalisieren. Hier stehen die schrecklichen Folgen von Überschwemmungen für die Menschen und ihre Welt im Mittelpunkt, die mit einer Vielzahl von Worten charakterisiert wird wie etwa lateinisch damnum, calamitas (1030), submersio hominum (1248)52, mit religiöser Konnotation tribulatio, spät und selten auch infortunitas, volkssprachlich etwa mit italienisch calamità, deutsch mit schaden, not und brest.53 Diese Worte werden jedoch ebenso auch zur Charakterisierung von Kriegen, Seuchen, Missernten, Hunger und Teuerung verwendet.54 Erst im ausgehenden 15. Jahrhundert Ànden sich als gesellschaftsbezogene Spezialisierungen die frühneuhochdeutschen Wortfügungen wassersnot und analog sturmsnoete für Bedrängnisse durch Starkwindereignisse.55

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Annales Quedlinburgenses, ed. Giese, S. 545 (mit Zitatnachweis); zu Autorin und Quelle vgl. die Einleitung der Edition; vgl. für calamitas: TLL Bd. 7/1, S. 118–121; MLWb Bd. 2: Sp. 50 f. Ferner: Annales Stadenses, ed. Lappenberg, S. 372; zu Autor und Quelle vgl. Maeck: Weltchronik, S. 7–81. 53 Zu tribulatio vgl. Mt 24, 29 (Jesus über die Vorzeichen seiner Wiederkunft) und den Bericht der Niederaltaicher Annalen: Annales Altahenses maiores, ed. Oefele, S. 68 zum Jahr 1065; ferner bereits Hanska: Strategies, S. 10, 121. Überschwemmungen richten im Jahr 580 nach Gregor von Tours: Gregorii episcopi, Buch 5, Kapitel 33, ed. Krusch und Levison, S. 225 im Frankenreich damna an (näher speziÀziert als excidium, detrimentum, naufragium) und richten 1296 nach dem Bericht (von ca. 1458) des Mönchs Albert: Weltchronik, ed. Sprandel, S. 192 inenarrabilia dampna an. Im Jahre 1538 wird in Florenz sogar schlechtes Wetter als infortunitas charakterisiert, vgl. Firenze, Archivio di Stato, Senato dei Quarantotto 4, fol. 12 recto. Charakterisierung des Jahres 1550 mit Krankheit, Hunger, Kälte, Teuerung etc. als pieno di calamità zum Beispiel in der Cronaca Àorentina, ed. Coppi, S. 123; zum volkssprachlichen calamità Cortelazzo und Zolli: Dizionario Etimologico, S. 272. Zu schaden vgl. Sächsische Weltchronik, ed. Weiland, S. 258 zum Jahr 1248 (SturmÁut an Nordseeküste); Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit, CDS 1, S. 412 zum Jahr 1445 (Hochwasser in Nürnberg). Zu not neben Anm. 55 zum Beispiel auch die Fortsetzung der Detmar-Chronik, CDS 31, S. 169 f. zum Jahr 1476 (SturmÁut an der Nordseeküste); Grimm: Weisthümer, S. 493 § 6: „durch Rinbruchs not“ (in Uffried 1528). Zu brest zum Beispiel den Bericht über die Verlegung des elsässischen Stiftes Rheinau nach Straßburg 1398/99 wegen Rheinhochwasser, CDS 9, 1049 Nr. 17; ferner Benecke, Müller und Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, S. 256 und Lexer: Handwörterbuch 1, S. 350 unter brëste; Grimm und Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 2, S. 372 f. unter brest, breste. 54 Ebenso kann eine Überschwemmung auch einmal poetisch als (italienisch) pestilenzia charakterisiert werden, normalerweise ein Fachbegriff für Seuchen, so über die ArnoÁut 1333 in Florenz im Centiloquio (Mitte des 14. Jahrhunderts) von Antonio Pucci: Inondation, ed. Morpurgo und Luchaire, S. 42: „Capitolo che parla solamente della gran pestilenzia del diluvio …“, ibid. S. 56: „… detta pistolenzia“. 55 Belege bei Grimm: Weisthümer: S. 220 § 18 (in Küssenberg 1497). Eine noch präzisere Zuordnung zum auslösenden Faktor erfolgt durch Formulierungen wie in einer Urkunde von 1521 über den Verlust eines Hauses „durch des Ryns Áus und Rhins nöte“, vgl. Strasbourg, Archives départmentales Bas-Rhin, série H 1500 (4). Dagegen hat mittelhochdeutsch wassersnôt andere Bedeutungen, vgl. Benecke, Müller und Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch 2, S. 414; Lexer: Handwörterbuch 3, S. 712.

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Eine klar religiöse Deutung des Geschehens transportierte der seit dem Frühmittelalter nachweisbare lateinische Begriff diluvium.56 In der Vulgata steht er im Alten Testament für die reinigende SintÁut, im Neuen Testament für das Geschehen am Jüngsten Tag.57 Für den Tag des Jüngsten Gerichts verweist Jesus zugleich auf die SintÁut und auf das Gottesgericht über Sodom und Gomorrha mit Feuer und Schwefel.58 Diese Ankündigung konnte man als ein bevorstehendes diluvium aus Wasser und Feuer und damit als Erfüllung der Heilsgeschichte interpretieren.59 Folgerichtig vermittelte die populäre Erzählung von den 15 Vorzeichen des Weltendes seit dem 10. Jahrhundert die Vorstellung, dass das Jüngste Gericht unter anderem mit einer WasserÁut und vom Himmel fallendem Feuer eingeleitet werde.60 Die Verwendung des Begriffs diluvium (bzw. ital. diluvio, frz. déluge, engl. deluge) konnte also mit diesen Vorstellungen spielen.61 Die Übersetzung von diluvium seit dem 10. Jahrhundert in mittelhochdeutsch sin(t)vluot (aus althochdeutsch sin: immer/überall/andauernd) deutete ebenfalls einen Bezug zur biblischen Flut an.62 Doch erst seit dem 13. Jahrhundert wurde dieses Wort im Sinne einer heilsgeschichtlichen Interpretation als Strafgericht für Sünden in frühneuhochdeutsch sündÁut oder sündÁuß verändert, dadurch semantisch festgelegt und im Zusammen-

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Für Belege vgl. neben Anm. 49 Tesi: Cataclisma, S. 97–109; Mentgen: Astrologie, S. 147 f. und Rohr: Catastrophe, S. 88–102; die Belegstellen unter diluvium in folgenden Wörterbüchern: TLL Bd. 5, S. 1191 f.; MLWb Bd. 3, S. 660; DuCange: Glossarium Bd. 2, S. 119; Blaise: Lexicon, S. 307 (Spezialbedeutung „Reinigung“ im theologisch-religiösen Kontext); Fuchs, Weijers und Gumbert-Hepp: Lexicon Latinitatis Bd. 3, S. 486. Gn 6,17; 7,6 f.10.17; 9,11.15.28; 10,1.32; 11,10. Abgesehen wird hier von der Besprechung der für die Rezeption nicht so zentralen Bibelstellen Ps (G) 28,10; 31,6; Ps (H) 28,10; Sir 44,18 f.; IV Esr 3,9 f. Mt 24,38 f.; Lcc 17,27 (als Verweis auf Gen 19, 15.24 f.). Zur Verbindung der Vorstellung vom eschatologischen Kommen Jahwes mit dem Gerichtsgedanken durch Feuer s. Mayer: Vorstellung. Ähnlich etwa auch II Pt 2,5. Zur Rezeption der Weltendevorstellungen zum Beispiel Cohn: Flood; Anlezark: Water. Die Auffassung stützte sich auf IV Esr 13 f., wurde dem Kirchenvater Hieronymus zugeschrieben und von (Pseudo-)Beda Venerabilis, Augustinus, Petrus Comestor, Thomas von Aquin bis hin zur Popularisierung in der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine rezipiert, in Wandbildern und Triptycha verbildlicht, im 15. Jahrhundert schließlich mit dem Auftreten des Antichrist verknüpft und in einem Blockbuch in Schrift und Bild verbreitet; vgl. Schmale-Ott: Zeichen, S. 229–234; Nölle: Legende, S. 413–476; Antichrist, ed. Musper; Kursawa: Antichristsage; Homeyer: Funktion, S. 139 Anm. 7; Fried: Aufstieg, S. 69 f.; Andergassen: Zeichen, S. 56–68. Auf etwa eine pleonastische Verwendung von diluvium mit anderen Überschwemmungsbegriffen (inundatio etc.) macht Rohr: Catastrophe, S. 90 zu Recht aufmerksam. Vgl. Kluge: Wörterbuch, S. 850; Benecke, Müller und Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch 4, S. 356 und Lexer: Handwörterbuch 2, S. 395 unter sinvluot, sintÁuot; Grimm und Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 16, S. 1168–1174 unter SündÁut. Wie wenig festgelegt die BegrifÁichkeit um 1362 noch war, zeigt ein Eintrag im Glossar von Closener und Königshofen: Vokabulare, ed. Kirchert und Klein, S. 195, 250 n. 378, das unter cathaclismus auÁistet: SintÁuot, hinÁuß, infernum und diluuium.

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hang mit astrometeorologischen SintÁutprognosen gerade im reformatorischen Diskurs zu Beginn des 16. Jahrhunderts beliebt.63 Die Verwendung dieser biblischen BegrifÁichkeit war freilich nicht nur mit einer dezidiert religiösen Deutung, sondern auch mit logischen Problemen verbunden. Der Umfang der SintÁut, der nach dem Genesisbericht fast die gesamte Schöpfung vernichtete, und Jahwes Bund mit Noah, die Menschen nicht erneut durch eine Flut zu vernichten, sprach gegen eine Deutung zeitgenössischer Fluten als SintÁut. Dies nötigte theologisch reÁektiertere Autoren dazu, Überschwemmungen konzeptionell zum Beispiel nur als Vorzeichen zu deuten, sie als ein diluvium particulare zu kategorisieren oder die biblische SintÁut als Bezugspunkt zu nutzen, indem sie etwa eine aktuelle als schlimmste Flut seit Noahs Zeiten werteten.64 Diese Lesart von Überschwemmungen als von Gott in die Natur eingeschriebenes Zeichen, als Gerichtsurteil, Strafgericht oder Urteilsspruch (iudicium) und gotz verhengnus, liegt ganz offensichtlich auch vielen gesellschaftlichen Reaktionen auf Überschwemmungen zugrunde: Predigten, Messen, gemeinsamen Gebeten und Bittprozessionen mit Schutzpatronen.65 Hinzu trat zum Beispiel als kollektive Reaktion das apotropäische Wetterläuten, als individuelle Reaktion die eidliche SelbstverpÁichtung zu einer Votivgabe oder Pilgerreise für den Fall der Errettung

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Vgl. vorige Anm., ferner zum Beispiel in einer anonym überlieferten Chronik (mit einem Melanchthontext) vom Anfang des 16. Jahrhunderts, Sélestat, Bibliothèque historique: Ms. 133, fol. 51 recto zur Überschwemmung durch den Rhein 1480, die ibid., fol. 58 verso als „sündÁüß uff dem Rin“ charakterisiert wird; der eidgenössische reformierte Theologe Johann Kessler: Sabbata, ed. Egli und Schoch, S. 136 gebraucht den Begriff bezeichnenderweise im Zusammenhang mit den SintÁutprognosen 1524, vgl. dazu unten Anm. 77. Zur Kategorisierung vgl. Rohr: Catastrophe, S. 90 und unten Anm. 69–76. So etwa bei der Mailänder Überschwemmung 1177 im Libellus tristitiae et doloris, ed. Pertz, S. 378: „Mense vero Septembrio proximo fuit diluvium, quo maius non fuit a diebus Noe“; Schenk: Prima, S. 370 am Beispiel der Florentiner Flut 1333, die Giovanni Villani offenbar in Anspielung auf die vierzigtägige SintÁut nicht ganz zutreffend vier Tage währen lässt. Wer auf die biblische SintÁut anspielen wollte, konnte sich auch der zahlreichen bildhaften Wendungen vor allem aus der Genesis bedienen, und es wie aus den Schleusen des Himmels (Gn 7,11 „catharactae caeli“) regnen lassen. Diese Wendung wurde in das Kirchenrecht übernommen, vgl. Corpus Iuris Canonici, pars 2, causa 16, questio 1, c. 65, I, ed. Friedberg, S. 783 f., und von dort gelangte sie wiederum in eine Chronik zur Charakterisierung der Überschwemmung 1342 in Deutschland, vgl. aus der Feder des 1364 gestorbenen Klerikers und Juristen Heinrich Taube von Selbach: Chronik, ed. Bresslau, S. 53. Zu weiteren biblischen Mustern in Predigten und Chroniken vgl. Hanska: Strategies, S. 64–87, 119–126.; Schenk: Lektüren, S. 508; weitere Metaphern bei Rieken: Nordsee, S. 146 f. Zur Arno-Überschwemmung in Florenz 1333 vgl. Villani: Cronica 3, S. 12 („iudicio di Dio“) und Pucci: Inondation, ed. Morpurgo und Luchaire, S. 52 („divin giudizo“); Firenze, Archivio di Stato, Provv. Reg. 26, fol. 92 recto („divinum iuditium“). Straßburg erhält Mitte des 15. Jahrhunderts von Schweinfurt die Auskunft, dass bei Seuchen und anderen „gotz verhengnisse“ Prozessionen abgehalten werden, Strasbourg, Archives de la Ville, 1 MR 20, pag. 15. Zu den Reaktionen und Interpretationen ferner Ratté: City, S. 188 f. und Hanska: Strategies, S. 34 f., 44, 49–63 (Prozessionen), 64–87, 119–126 (Predigten); Salvestrini: Città, S. 60–68 (Erklärungsmodelle).

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aus der akuten Gefahr.66 Wie bei Erdbeben berichten auch hier die Chronisten geradezu topisch von einem Säugling, der in seiner Wiege die Fluten unbeschadet überlebt habe.67 Mit der Wahl des forensischen Begriffs des (strafenden Gottes-)Gerichts wird zugleich eine heilsgeschichtliche Dimension eröffnet – die Deutung erfolgt also mit einem Verlaufsbegriff, der den prozesshaften Charakter des katastrophalen Geschehnisses in einer Entscheidungssituation betont. Darin berührt sich die Deutung des Ereignisses mit der KrisenbegrifÁichkeit.68 Die am antiken Wissen geschulten Versuche eines theologisch reÁektierten Lesens im Buch der Natur lieferten aber auch Ansatzpunkte für naturkundliche Deutungsmuster. Die bereits erwähnte Differenzierung in ein diluvium universale und particulare konnte sich auf eine naturkundliche Unterscheidung berufen, die wohl schon bald nach 1200 einen systematischen Platz in einer gelehrten DiluviumTheorie fand. Vermittelt wurde sie über den bereits vor 1200 aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzten Kommentar De diluviis zu einer Platonstelle (Timaios 22c–23b) von Avicenna (980–1037).69 Dort wird ein diluvium u. a. als der aus natürlichen Gründen durch bestimmte Sternenkonstellationen bewirkte sublunare Sieg eines Elements diskutiert. Folgerichtig unterscheidet Avicenna vier Typen eines elementaren Zuviels – nämlich eine Flut von Wasser, Feuer, Luft und Erde.70 Durch die verkürzende Erörterung dieser Theorien über den natürlichen Ursprung eines diluvium universale aquae und ignis aufgrund einer Konjunktion im Sternbild Fische bzw. Löwe bei Albertus Magnus und anderen machte dieses astrometeorolo-

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Vgl. Harmening: Wörterbuch, S. 179 f., 452 f.; Hanska: Strategies, S. 89 f., 97–100; Delumeau: Rassurer, S. 33–219, 261–289; Franz: Benediktionen, S. 1–123. Beispielsweise während der Überschwemmung bei Heidelberg 1529 nach einem Bericht von Sebastian Franck: Chronica, fol. 242 verso: „Ein kind hat man zś Heydelberg in einer wiegen auffgefangen vj. meil unverletzt dargerunnen“ – möglicherweise eine Anspielung auf Moses, Exodus 2,3–10. Dazu Koselleck: Krise, S. 618 f. Vgl. Avicenna: Libellus, ed. Alonso Alonso, S. 306–308; zur Textgeschichte jetzt vor allem Mandosio und Di Martino: Météorologie, S. 420. Der zwischen 1162 und 1200 entstandene Kommentar der ersten vier Bücher von Aristoteles‘ Meteora durch Alfred von Sareshel kennt den Avicenna-Kommentar offenbar noch nicht, vgl. Alfred of Sareshel’s Commentary, ed. Otte. Sowohl Albertus Magnus: De natura 1,2,9, ed. Hossfeld, S. 76–79 als auch die berühmte Verurteilung der These „quod possibile est, quod Àat naturaliter universale diluvium ignis“ durch Bischof Tempier von Paris 1277, vgl. Flasch: Aufklärung, S. 232 (Zitat) und Hissette: Albert, S. 78–81, sprechen für eine Kenntnis des Avicenna-Kommentars im 13. Jahrhundert. Inwieweit der berühmte Toledobrief von einem Untergang der Welt durch eine SintÁut durch Wind (1186) die Kenntnis des bei Avicenna erkennbaren Gedankengebäudes bereits voraussetzt oder umgekehrt Anreiz für eine Rezeption des Avicenna-Kommentars war, wäre zu diskutieren, vgl. dazu Mentgen: Astrologie, S. 91 Anm. 353 und Weltecke: Konjunktion, S. 195 f., die ebenso wie Gottschall: Konrad, S. 307 und Gottschall: Wissenschaft, S. 121 f. die Edition des lateinischen Avicenna-Kommentars von Alonso Alonso übersehen haben. Avicenna: Libellus, ed. Alonso Alonso, S. 306: „Et est diluvium victoria unius elementorum super quartam habitabilem aut super unam partem. Et quandoque ex aqua, dicitur proprie diluvium in ydiomatibus; et dixerunt auidam quod causa diluvii est constellatio que facit unum elementum vincere cum causis accidentibus et proportionibus materialibus“.

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gische Erklärungsmodell im 13. Jahrhundert im gelehrten Diskurs Schule.71 Durch die universitäre Lehre und populäre Wind- und WasserÁut-Prognosen wie den sogenannten Toledobrief (1186) erfolgte eine allmähliche Verbreitung dieses Denkmodells.72 Im 13. Jahrhundert erörterte der toskanische Dominikaner Restoro d’Arezzo die Diluvium-Theorie bereits in der Volkssprache.73 Im 14. Jahrhundert lehnte der Geistliche Konrad von Megenberg die albertinische Auffasssung, dass ein diluvium universale auf natürliche Weise erfolgen könne, als gegen Gottes Allmacht gerichtet ab, akzeptierte aber die Auffassung, dass ein diluvium particulare auf natürliche Gründe zurückgeführt werden könne.74 Im 15. Jahrhundert griffen Prediger das astrometeorologische Modell auf und popularisierten es schließlich auch in volkssprachlich gehaltenen Predigten.75 Trotzdem blieb diese naturkundliche Disaster-Theorie nicht unwidersprochen und die These, ein natürliches universale diluvium ignis sei möglich, wurde schon 1277 durch den Pariser Bischof Étienne Tempier als Häresie verboten.76 Dem Glauben an die Macht der Sterne hat das im späten Mittelalter keinen Abbruch getan, wie am Beispiel der seit Aby Warburgs Zeiten vielbehandelten Prognose einer SintÁut als Folge einer Konjunktion im Sternbild der Fische im Jahr 1524 zu sehen ist, die eine beispiellose Flut von Flugblättern auslöste.77 Seit dem 71

Albertus Magnus: De natura 1,2,9+12, ed. Hossfeld, S. 76–79, 84; Albertus Magnus: Meteora 1,3,10 und 3,2,17, ed. Hossfeld, S. 32 f., 146 f.; Albertus lehnte freilich die Auffassung von einem prodigiösen Charakter von Kometen ab. Zur auf Platon zurückgehenden Vorstellung bei Wilhelm von Conches (ca. 1090–1154) und Petrus Comestor (1100–1178), dass die Elevation mehrerer Planeten zu Überschwemmungen bzw. einem Weltenbrand führen könne, vgl. Wegmann: Naturwahrnehmung, S. 100–104; vgl. allg. Rohr: Naturereignisse, S. 518–538. 72 Zur Rezeption des Avicennatraktats Libellus de diluviis etwa im Studium in Pisa 1470 im Rahmen der Platonrezeption, die auch auf den Medici-Hof ausstrahlte vgl.: Hennemann: Aspekte, S. 70 f., 226 Anm. 73. Zum Toledobrief vgl.: Weltecke: Konjunktion; Mentgen: Astrologie, S. 17–158; vgl. dazu oben Anm. 69. Eine Toledobriefvariante stellt etwa auch dar: Firenze, Biblioteca Nazionale Centrale: Ms. Magl. XXXV 173, fol. 1 recto und verso (Prognostik für 1365); dazu Mentgen: Astrologie, S. 77 f. 73 Restoro D’Arezzo: Composizione, ed. Morino, S. 138–141. Zum Autor vgl. Librandi: Ristoro; auch Dante Alighieri könnte ein Kritiker von Ristoro d’Arezzos Theorien gewesen sein, vgl. seine Quaestio de aqua et terra, ed. Perler, S. 57, 62, 65, 85, 100, 106, 117, 121, 128. 74 Gottschall: Wissenschaft, S. 219 f. 75 Predigten: Explizite Erörterung durch Magister Petrus Meffordis, Leipzig (ca. 1443–1476) in einer Predigt über Lc 18,13: „Publicans stans a longe. Avicenna in libro suo de quattuor diluviis dicit: In vallibus et solitudinibus profundis diluvium aquae accidit ut frequenter … ut mereamur in caelestibus exaltari“; vgl. dazu Schneyer: Repertorium, S. 547. Zur Florentiner Predigt von Michele Carcano da Milano 1466: Firenze, Biblioteca Riccardiana: Ms. 2894, fol. 171 recto (15. Juni 1466), vgl. Dessì: Écritures, S. 347 f. Vgl. allg. Zambelli: Introduction, S. 24. Zur Astrologiekritik Garin: Astrologie, S. 117–152; Fried: Aufstieg, S. 111; allg. Ludwig: Zukunftsvoraussagen, S. 9–64. Zur theologischen Dimension schon oben Anm. 31, 64. 76 Oben Anm. 69. 77 Warburg: Weissagung, S. 29–35; Zambelli: Introduction, S. 24; Niccoli: Profeti, S. 185–215; Wuttke: SintÁutprognose, S. 41–46; Fried: Aufstieg, S. 173–181; Mentgen: Astrologie, S. 135– 158. Flugschriften: Talkenberger: SintÁut, S. 154–326; Wimböck: Sternen, S. 212–239. Die prognostizierte Katastrophe blieb schließlich aus, wie nicht wenige Zeitgenossen ängstlich, kritisch

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15. Jahrhundert verbreitete sich eine vulgarisierte Form des astrometeorologischen Regelwissens, freilich ohne jeden praktischen Nutzen für die Prävention von Katastrophen, schließlich auch über gedruckte Almanache, Bauernpraktiken, Kalender und Wetterbüchlein in eine weitere Öffentlichkeit.78 (II) Wie zu sehen ist, kannte das Mittelalter wie schon die Antike zunächst keinen abstrakten Oberbegriff für die Phänomene, die heute auf dem semantischen Feld der Katastrophe (disaster/Krise) verortet werden.79 Ein kategorisierendes Verständnis von der besonderen, unterscheidbaren Qualität bestimmter Phänomene in der mittelalterlichen Lebenswelt ist dennoch nachweisbar. Spätestens im 14. Jahrhundert wurden nämlich in der Chronistik, bei der das Interesse an prodigiösem Geschehen ohnehin zur Textgattung gehört, einzelne Katastrophentypen als semantisch zusammengehörig betrachtet. So subsumiert der Straßburger Kleriker Fritsche Closener in der volkssprachlichen Chronik seiner Stadt unter zwei Rubriken systematisch erstens Brände, Kriegszüge, Judenpogrome und Geißlerzüge, zweitens Notizen von Unwettern, Missernten, Stürmen und Erdbeben.80 Der Chronist Jakob Twinger von Königshofen übernahm diese Kategorien Anfang des 15. Jahrhunderts81 und im 16. Jahrhundert listete eine anonym überlieferte städtische Chronik unter der Rubrik „Von ungewisser“ folgende Phänomene der Stadtgeschichte auf: Teuerungen, Extremwetterereignisse, Missernten und fruchtbare Jahre, SonnenÀnsternisse, Kometen, Erdbeben, Starkwindereignisse, Hunger, Überschwemmungen, Großbrände.82 In chronikartigen Florentiner Handschriften des Spätmittelalters lässt sich eine ähnliche Taxinomie beobachten,83 die sich auf die biblische PlagenListe stützen konnte, die Natur ganz traditionell als Buch Gottes las und Natur und

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oder spöttisch vermerkten, je nach Temperament, vgl. Rohr: Naturereignisse, S. 542–544, Hellmann: Denkmäler, S. 9–46 und Hellmann: Entwicklung, zur Kritik durch die Zeitgenossen. Vgl. zu Leonhard Reynmans Wetterbüchlein von 1510 und seinen spätmittelalterlichen Quellen (Guido Bonatti, Firmin de Bellaval) Reynmann, Wetterbüchlein, ed. Hellmann; ferner die Bauern-Praktik 1508, ed. Hellmann, und Körber: Wetteraberglauben, S. 74–79, 100–102. Vgl. Meier: Terminologie, S. 54; Conti: Termini; Briese und Günther: Katastrophe, S. 157– 163. CDS 8: S. 63 (Allgemeine Einleitung), 8 (Einleitung), 132–138 (Text der Chronik von Fritsche Closener); vgl. Warken: Geschichtsschreibung, S. 124, 128 f., 133 f. Der Autograph ist nicht erhalten, so dass die Textanordnung der etwas späteren Kopien als Beweis herangezogen werden muss. CDS 9: S. 751–870 (Jakob Twinger von Königshofen); vgl. Warken: Geschichtsschreibung, S. 156 (lat. Chronik); S. 209, 211 f. (dt. Chronik). Strasbourg, Bibliothèque Nationale et Universitaire: Ms. 821, pag. 146 (geht bis pag. 152, Anhang bis pag. 156): „Von ungewisser: Wolfeile, thewrung: Mißgewechsz: unfällen unglück=hafftiger zeÿth, auch großen wasszern und vilen andern dingen.“ Unglücksfälle wie Erdbeben, Starkwindereignisse, Überschwemmungen in der Handschrift: Firenze, Biblioteca Riccardiana: Ms. Ricc. 1030, folia 7 verso – 8 verso, 12 recto; zur Handschrift Morpurgo: Manoscritti Bd. 1, S. 22–26. Überschwemmungen in Listenform in der Handschrift: Firenze, Biblioteca Nazionale Centrale: Ms. Magl. VIII, 1488, folia 84 recto – 96 verso (Hungersnöte, ÜberÁuss, Sterblichkeit, Krankheit, Regen und Überschwemmungen, Zwistigkeiten und Kämpfe, Neuerungen, Erdbeben und Stürme), ibid.: folia 271 recto – 280 recto (Brände); zur Handschrift Carbone: Catalogo, S. 1, 4 f.

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Mensch nicht trennte, sondern aufeinander bezog.84 Himmels- und Erdenzeichen wurden jedoch nicht nur aus Gründen heilsgeschichtlicher Verortung, sondern offenbar auch aus Neugier und dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung verzeichnet. Der Übergang zu einer Geschichtsschreibung gemeinsam erfolgreich überstandener (natürlich wie menschlich induzierter) Katastrophen war Áießend und führte zur Etablierung eines Narrativs, das Katastrophen und Krisen als Bewährungsproben interpretierte.85 Insofern durchlief die Geschichtsschreibung als Bewältigungspraxis eine Entwicklung von einer tendenziell eher gott- zu einer zunehmend gemeinschaftsbezogenen Interpretation von Katastrophen. Die Vermutung liegt nahe, dass dies auch mit einem seit dem Hochmittelalter verstärkten Zugang von Laien zu Bildungsgütern und ihrem Beitrag zur schriftlichen Überlieferung zusammenhängt. Wie sich nun zur gedanklich systematisierenden Ordnung der Welt auch ein von der Vielfalt der Phänomene abstrahierender Begriff fand und pragmatisch verwendet wurde, ist kaum erforscht. Entschieden zu kurz greift jedenfalls die Annahme der bisherigen Forschung, dass der Begriff der Katastrophe erst im 17. Jahrhundert im Rückgriff auf spätantike Traditionen durch einen „Sprung zurück ins ‚Leben‘“ von der Sphäre gelehrter (poetologischer und theologischer) Diskurse in die Lebenswelt überführt, im Deutschen noch später auf Katastrophen in der Natur bezogen und erst während der begriffsgeschichtlichen Sattelzeit (ca. 1750–1850) entscheidend formiert worden sei.86 Genauer: Alle diese Beobachtungen sind zwar nicht falsch, übersehen aber, dass die Semantik von „Katastrophe/disastro/Krise“ in ihrer pluralen Anwendbarkeit auf Beziehungen zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch, zwischen Natur und Kultur in einer gleichsam vormodernen begriffsgeschichtlichen Sattelzeit angelegt wurde und so erst die späteren Differenzierungen und Spezialisierungen in unterschiedlichen Kontexten ermöglichte. Dem in der Renaissance begrifÁich gefassten semantischen Feld ging eine Wortbildung voraus, die ihrerseits auf soziokulturellen Austauschprozessen über gedankliche Konzepte vom voraussetzungsreichen und beziehungsvollen Verhältnis bestimmter Himmelserscheinungen zu katastrophalen Ereignissen in der spätmittelalterlichen Lebenswelt des Mittelmeerraumes beruht zu haben scheint. Wann, wo und wie genau dies erfolgte, ist einstweilen nur zu erahnen. Möglicherweise entstand schon im 13. Jahrhundert ein neues Wort aus griechischen und lateinischen Elementen und in einem Umfeld, das von astrologischen Vorstellungen durchtränkt war: italienisch disastro („Unstern“ aus dis- und astro, ein lateinisches

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Auch eine Überschwemmung wird expressis verbis als Plage (plaga maxima) klassiÀziert, vgl. Weikinn: Quellentexte 1, S. 65; Annales Egmundani, ed. Pertz, S. 468: „Repente … secuta est plaga maxima diluvii cum tanto impetu decurrens, qualem numquam Traiectensium aliquis viderit“; zu pestilenzia vgl. Anm. 46 (Antonio Pucci 1333); zu den Zeichen des Weltendes und den biblischen Plagen (Mt. 24,7; Es. 29,6; Apc. 8,5.16,8; Sirach 40,9–11) vgl. auch Anm. 54. Schenk: L’alluvione, S. 40–51. Zitat: Briese: Genommen, S. 29–45; Briese und Günther: Katastrophe, S. 163–188. Zur Sattelzeit programmatisch Koselleck: Einleitung und reÁektierend ders.: Hinweise; zu weiteren Ansätzen und Methoden vor allem Leonhard: Grundbegriffe und oben Anm. 5–10.

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Vorbild disastrum ist bislang nicht nachweisbar).87 Der bisher früheste Beleg scheint dafür zu sprechen, dass dieser Neologismus in einem Ambiente sprachlichen und kulturellen Austauschs entstand. Im 13. Jahrhundert übertrug ein nicht näher bekannter Toskaner eine vielleicht okzitanische Version der Erzählung von den ‚Sieben weisen Meistern‘ in seine Volkssprache. Dabei erläuterte er das seinen Lesern offenbar nicht bekannte Wort micieffo (von altfranzösisch meschief) – mit dem der Held einer der Novellen gegenüber einer Dame ein umstürzendes Unglück, das ihm durch einen Räuber widerfahren war, bezeichnet – in einem Einschub mit dem im Toskanischen offenbar gebräuchlichen Wort disastro: „… e inmantanente se ne ritornò alla dama, e contolle il micieffo, cioè il disastro, che gli era adivenuto di questo ladrone …“.88 Der von Indien bis Europa beliebte Erzählzyklus von den sieben weisen Meistern, spätestens Ende des 12. Jahrhunderts und vielleicht mit den Kreuzfahrern vom Orient nach Europa gelangt, geht auf weit vagierende Narrative (SindbădErzählung) zurück.89 Wie bereits am Beispiel der SintÁutprognostik mit astrometeorologischen Methoden gezeigt wurde, machte sich offenbar im Moment der Übersetzung der EinÁuss griechisch-arabischer, persischer oder sogar indischer Narrative und Auffassungen von schicksalhaften Fügungen, sicher auch das seit dem Hochmittelalter in Europa zunehmende Interesse an Horoskopen bemerkbar.90 Auch andere frühe Belege sprechen für eine Entstehung des neuen Wortes im Mittelmeerraum zwischen Sizilien, der Toskana, Südfrankreich und Katalonien, in dem der Austausch sich nicht nur auf Waren, sondern auch auf Sprachen, Geschichten, Deutungsmuster und Mentalitäten erstreckte. Das neue Wort verbreitete sich rasch in unterschiedlichsten Kontexten: in süditalienischen volkssprachlichen Übersetzungen populärer Nacherzählungen klassischer Texte (Zerstörung Troias, Aeneis) vom Beginn des 14. Jahrhunderts, im Pisaner „Breve dell’Ordine del Mare“ aus der Mitte des Jahrhunderts und der Florentiner Chronik von Baldassarre Bonaiuti aus der zweiten Jahrhunderthälfte, in der venezianischen Evangelienkonkordanz von Iacopo Gradenigo vom Ende des Jahrhunderts.91 Trotz daraus resultieren87

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Vgl. unter disastro: Battaglia: Grande Dizionario, Sp. 579 f.; Colussi: Glossario, S. 50 f.; Cortelazzo und Zolli: Il nuovo etimologico, S. 472; Opera del Vocabolario Italiano online. Das deutsche „Desaster“ stammt erst aus dem 19. Jahrhundert, vgl. Schulz, Basler und Strauß: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 356 f. Der Beleg ist nicht über jeden Zweifel erhaben, da die mir zugängliche Edition Libro dei Sette Savj, ed. D’Ancona, S. 70 m. Anm. 2, nicht erkennen lässt, ob die erklärende Interjektion auf die zugrundegelegten beiden Handschriften des 15. Jahrhunderts, auf deren Vorlage(n) des 13. Jahrhunderts oder etwa auf eine verlorene Vorlage dieses Textes, auf eine übernommene Marginalie oder Glosse zurückgeht. Zu micieffo: Opera del Vocabolario Italiano online, zu meschief: Godefroy: Dictionnaire online. Zum Text und seinen Wanderungen vgl. nur Gerdes: Sieben; Ott: Sieben und die Webseite der ‚Society of the Seven Sages‘. Zur (auch wissenschaftshistorischen) Bedeutung von Astrologie, Prognostik und Horoskopen Caroti: Astrologie; Mentgen: Astrologie; zur Bedeutung von Horoskopen in der Renaissance vgl. die entsprechenden Beiträge in Oestmann, Darrel Rutkin und Stuckrad: Horoscopes. Angelo di Capua: Istoria, ed. Folena, S. 222; Guido delle Colonne: Libro, ed. Blasi, S. 62, 81, 140, 142, 179; Statuti, ed. Bonaini, S. 535; Cronaca Àorentina, ed. Rodolico, S. 429; Gra-

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der beträchtlicher semantischer Unterschiede gibt der ins Wort eingeschriebene astronomisch-astrologische Bezug in allen Kontexten einen Deutungsrahmen für die so bezeichneten Widerfahrnisse vor – sie stehen unter keinem guten Stern und gehen daher übel aus. Damit war eine (vermutlich allmählich verblassende) Beziehung zwischen Makro- und Mikrokosmos konnotiert und die Begriffsverwendung zeigt, dass diese Beziehung vor allem eine zwischen Himmel und Mensch war – vom Schicksal des Einzelnen bis zum Ausgang von Schlachten. Natürlich induzierte Katastrophen wurden damit nicht bezeichnet, doch war eine grundsätzliche Beziehbarkeit von (göttlich-)natürlicher und (menschlich-)kultureller Sphäre im Begriff disastro angelegt. Es ist eine offene Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den allgemeinen Lebensumständen im Krisenjahrhundert der Pest und dem Erfolg des neuen Begriffs als Deutungsmuster besteht, sei es als Indiz für eine tendenziell fatalistische Auffassung von Unglück oder umgekehrt als ein Versuch der Kontingenzbewältigung angesichts der Ambivalenz der fortuna bzw. providentia Dei.92 Spätestens im 16. Jahrhundert trat dieser Desaster-Begriff jedenfalls auch im Französischen, Spanischen und Englischen einen Siegeszug an.93 Doch wie kam es dazu, dass als abstrakter Oberbegriff für eine Vielfalt von Unglückstypen und in zeitlich versetzter, sich vielleicht sogar gegenseitig verstärkender Begriffskonkurrenz zum Neologismus disastro im 16. Jahrhundert schließlich auch der Begriff „Katastrophe“ trat? Das griechische Wort ƩƠƲƠƱƲƯƮƴп, das in der Antike allgemein und mit einer gewissen Ambivalenz für Wendepunkte und Umschwünge in negativer und (seltener) positiver Hinsicht stand,94 besetzte am Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter – stark vereinfacht – fünf semantische Felder und wurde verwendet95 1. allgemein für Drehungen und Wendungen, etwa beim Ballspiel (zum Beispiel in Briefen des römischen Aristokraten und Bischofs von Clermont, Sidonius Apollinaris, † nach 479), 2. als Terminus technicus der antiken Bühnentechnik für Wendungen oder Drehungen (bei dem Ingenieur Heron im 1. Jahrhundert),

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denigo: Evangelii, ed. Gambino, S. 251, 269; ferner Anm. 87 mit weiteren Nachweisen der Wörterbücher. Dieser Gedanke, der die Verbindungen zum semantischen Feld von „Gefahr“, „Glück/Unglück“, „Risiko“, „Schicksal“, „Zufall“, „Vorsehung“ usw. zu untersuchen erfordern würde, kann hier nicht weiter verfolgt werden; vgl. dazu nur Haug: Kontingenz; Ceccarelli: Gioco, bes. S. 19–46; die Beiträge in Collas-Heddeland, Coudry und Kammerer: Histoire und unten Anm. 117. Zur im 16. Jahrhundert einsetzenden Rezeption im französischen und englischen Sprachraum: Dee: Lexicon, S. 30 Anm. 175. Französisch unter désastre: Le Trésor de la Langue Française Informatisé online; Imbs: Trésor 7, S. 1248; Huguet: Dictionnaire, S. 31; Rey: Dictionnaire historique 2, S. 586. Englisch unter disaster: Oxford English Dictionary Online. Dazu Meier: Terminologie; Briese und Günther: Katastrophe, S. 157–163, 167. Mit allen notwendigen Belegen: TLL 3: S. 598; umfassend aufgearbeitet bereits von Rosen: Dislocating, S. 6–11; Briese und Günther: Katastrophe, S. 161–163, die aber den medizinischen Terminus völlig übersehen haben; vgl. meine Argumentation im Folgenden.

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3. als Umschwung des Glücks, der in der Dramentheorie als Terminus technicus für die AuÁösung am Ende einer Komödie stand (zum Beispiel bei den spätantiken Grammatikern Euanthius und Aelius Donatus, ferner bei Titus Petronius und Lukian von Samosata), 4. als medizinischer Terminus technicus für gestörte, krankhafte ‚Wendungen‘ der Verdauungsorgane, 5. bei christlichen Schriftstellern schließlich für eine Umkehr, einen bekenntnishaften Sinneswandel (zum Beispiel bei Hieronymus).96 Im mittelalterlichen Jahrtausend kam das Wort zunächst fast völlig außer Gebrauch. Wegen der gerne gelesenen Schriften des Kirchenvaters Hieronymus (* 347/48 † 419/20) geriet aber eine wesentliche Grundbedeutung zumindest unter gebildeten Geistlichen nie ganz in Vergessenheit und fand spätestens im 8. Jahrhundert Aufnahme in den Glossaren Áeißiger Mönche in Sankt Gallen, Canterbury und andernorts: catastrophon, in seiner lateinischen Schreibweise variierend, etwa catastrofon, caotastrifon, wurde hier mit conversio (und conversatio) übersetzt.97 Der in der Spätantike noch vielfarbig schillernde Begriff erfuhr damit eine Verengung, blieb aber ein Veränderungsbegriff, der eine Wirkung beschrieb und eine Wendung ins Positive konnotierte. Das Wort blieb daneben aber auch, was bisher völlig übersehen wurde, in seiner spezialistischen Verengung als latinisierter griechischer medizinischer Fachbegriff für gestörte Verdauungsvorgänge in Erinnerung, wenn auch die Rezeptionswege nur noch schwer und lückenhaft zu verfolgen sind.98 Offenbar war zunächst nicht ganz klar, welche Verkehrung der normalen Funktion welchen inneren Organs genau mit dem Begriff (und seinem Gegenbegriff) in welcher Schreibweise bezeichnet werden sollte.99 Vielleicht bildeten die seit dem 6. Jahrhundert ins Latein übersetzten griechischen Schriften des spätantiken Arztes Alexandros von Tralleis (* um 525; † um 605), der den Gegenbegriff ana(s)trop(h)a als „Erbrechen“ er96 97

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Hieronymus: De viris illustribus 111, ed. Ceresa-Gastaldo, S. 214. Vgl. zum Beispiel Corpus Glossary, ed. Lindsay, S. 31 (Handschrift Canterbury, Ende 8. Jh.), Leidener Glossar, ed. Glogger, S. 62 und ed. Hessels, S. 76 (Handschrift St. Gallen, ca. 800), Goetz: Corpus Bd. 5, S. 352 (Glossa amploniana, Handschrift vielleicht Wertheim, 9. Jh.), die alle zur Worterläuterung der Hieronymusstelle (s. Anm. 96) dienten. Schenk: Dis-Astri, S. 68 f. Anm. 132. Die Zusammenstellung von Belegstellen zum Lemma „catatrope“ im Mittellateinischen Wörterbuch Bd. 2, Sp. 365 scheint mir problematisch, da übersehen wird, dass die Graphie gerade der frühen Glossen schon aufgrund mangelnder Griechischkenntnisse variiert und etwa mit einem ausgefallenem „s“ oder einem als „P“ transliterierten Phi gerechnet werden muss, vgl. dagegen Latham und Howlett: Dictionary Bd. 2, S. 299 unter catastropha und catatropa; die Schreibweise „catatropa“ könnte (zumal in Salerno) auch vom byzantinischen Griechisch beeinÁusst worden sein, vgl. unter ƩƠƲƠƲƯƮ›п Trapp: Lexikon Bd. 1, S. 800: „Wandel“. Möglicherweise trug neben mangelnden Griechischkenntnissen auch die Beschreibung von anatrope im 447 entstandenen lateinischen Medizinkompendium des afrikanischen Arztes Cassius Felix: De medicina, ed. Rose, S. 197, die sich bei der Behandlung von Uterusblutungen auf die Nieren bezog, zur Verwirrung bei. Der vom Herausgeber Vokabularien, ed. Balzli, S. 1 auf 1160/70 datierte Codex Salernitanus deÀniert entgegen dem Wortsinn anotropa als Durchfall (S. 13) und catatropa als Erbrechen (S. 47).

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klärte, ein Bindeglied.100 Spätestens um 1200 wurden in Glossaren, die im Umfeld der berühmten Medizinschule von Salerno entstanden,101 Erklärungen der Begriffe gegeben, die auf der Grundlage einer Magendysfunktion (conversio stomachum) die ana(s)trop(h)a als „Erbrechen“ (vomitus) und die cat(h)a(s)trop(h)a als „Durchfall“ (Áuxus ventris) deÀnierten. Diese DeÀnition verbreitete sich allmählich im lateinischen Europa und blieb bis in die Neuzeit hinein auch gültig, aber offenbar nur in der Schicht universitär ausgebildeter Ärzte.102 Aufgebrochen werden sollte diese doppelte begrifÁiche Engführung erst im Renaissancehumanismus und zwar vor allem im deutschsprachigen Gebiet. Im reformatorisch-humanistischen Milieu nördlich der Alpen wurde der alte und fast vergessene dramentheoretische Begriff seit dem 16. Jahrhundert nämlich zusehends für politisch-religiöse Umschwünge verwendet. Das verdankte sich offenbar einer begrifÁichen Wiederentdeckung der antiken poetologischen Facetten des Begriffs durch Desiderius Erasmus von Rotterdam, dem an Donatus geschulten Editor von Hieronymus und Lukian von Samosata.103 Dieser machte die spätantike dramentheoretische Bedeutung von ƩƠƲƠƱƲƯƮƴп als einen am Ende der Komödie stehenden, erklärenden und auÁösenden ‚Wendepunkt‘ (oder besser: Lösungspunkt) in seinen weit verbreiteten und immer wieder aufgelegten Adagia 1508 der gelehrten Öffentlichkeit zugänglich.104 Bereits 1528 begegnet der latinisierte Begriff in einem Schreiben eines mit Erasmus befreundeten Diplomaten Kaiser Karls V. an einen polnischen Diplomaten auch als Bezeichnung für einen politischen Umschwung.105 Etwa in dieser Zeit wurde Erasmus’ narratologisches Konzept von Katastrophe als einer sich (durchaus glücklich) auÁösenden Wendung mit der astrologischen Theorie vom EinÁuss einer besonderen Planetenwendung auf die irdischen Verhält100 Vgl. Langslow: Latin, S. 243 (Handschrift von ca. 1050). Es könnte sein, dass eine (vielleicht verlorene) frühere Version von Texten des Alexandros von Tralleis auch cata(s)trop(h)a erklärte, zur frühen handschriftlichen Überlieferung bereits Thorndike: History Bd. 1, S. 566– 568, 577 f. 101 Vgl. Riecke: Frühgeschichte Bd. 1, S. 32–35 zur Rolle der Schule von Salerno. 102 Beispiele: Das etwa 1290 entstandene Glossar von Simon Ianuensis: Clavis sanationis, fol. 10 verso (Anatropha), 24 verso (Catastropha), zum Werk Engesser: Liber servitoris, S. 19; das ca. 1200 im Umfeld der Salernitaner Schule entstandene Alphita, ed. Garcia Gonzalos, S. 47, 51 (Datierung), 164 (Belege), 387 (Kommentar); Gilbertus Anglicus: Compendium, fol. 214 recto, etwa 1230–1240 im Umkreis Salernos und Montpelliers entstanden, zum Werk vgl. Lauer: Gilbertus; ferner zwei Prager Handschriften des 15. Jahrhunderts mit medizinischen Texten (Liber medicinalis, Descriptio aegritudinem), Ryba: Lexicon Bd. 1, S. 585 unter catastropha. Für die französische (medizinische) Encyclopédie méthodique Bd. 4, S. 494 aus dem Jahr 1792 ist eine catastrophe hingegen eine Linsenluxation im Auge. 103 Dazu bereits Rosen: Dislocating, S. 6–11; Briese und Günther: Katastrophe, S. 164 f. 104 Adagia 136, Erasmus: Opera Omnia 2/1, ed. van Poll-van de Lisdonk, Phillips und Robinson, S. 250: „… catastrophe subita rerum commutatio [est]“ mit Bezug auf Donatus: Commentum, ed. Wessner: S. 27 f. (Excerpta de comoedia 7,1 und 7,4): „Commedia autem dividitur in quattuor partes: prologum, ›ƯфƲƠƱƨƬ, ї›рƲƠƱƨƬ, ƩƠƲƠƱƲƯƮƴпƬ.[…] ƩƠƲƠƱƲƯƮƴп explicatio fabulae, per quam eventus eius approbatur.“ 105 Cornelius Duplicius Scepperus an Johannes Dantiscus (5. Juni 1528): Acta Tomiciana Bd. 10, ed. Gorski, S. 233.

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nisse verknüpft. 1531 nämlich verwendete der mit Erasmus befreundete Philipp Melanchthon in einem lateinischen Brief an seinen naturkundlich hochgebildeten Freund Joachim Camerarius das griechisch geschriebene Wort für einen politischreligiösen Umschwung, den er im Zusammenhang mit dem von den Zeitgenossen als prodigiös diskutierten (Halleyschen) Kometen des Jahres 1531 erwartete.106 Es ist einerseits gut denkbar, dass der von der Astrologie begeisterte und mit der Medizin seiner Zeit gut vertraute Melanchthon im Wissen um den medizinischen Terminus technicus der Katastrophe iatroastrologische Bezüge zwischen den Gestirnen und dem menschlichen Körper und seinen Säften herstellen wollte und andererseits ist es nicht auszuschließen, dass er als Leser der Adagia und Gräzist dem ihm möglicherweise bekannten Neologismus disastro einen griechischen Begriff entgegenstellen wollte.107 In jedem Fall handelt es sich bei der Verwendung dieses astrologisch konnotierten Begriffs im humanistisch-reformatorischen Kontext um die begrifÁich und narrativ gefasste Erwartung, dass sich Probleme und Situationen der Gegenwart am Ende der Geschichte (auf-)lösen werden – unter dieser Perspektive konnte auch ein Unglück wie eine Schlacht oder der Untergang eines Herrschers positiv gedeutet werden, wenn es ein Unglück war, das die jeweils andere Partei traf. Eine apokalyptisch-endzeitliche Konnotation des Begriffs ist hier nicht zu übersehen. Diese mit mittelalterlichen astrologischen und heilsgeschichtlichen Traditionen aufgeladene Bedeutungserweiterung108 des Begriffs Àndet sich in der Folge auch in der gelehrten Korrespondenz der Humanisten bei Tobias Egli, Huldrych Zwingli, Paracelsus (Theophrast von Hohenheim), in der Amerbach-Korrespondenz und bei Tycho Brahe in entsprechenden Kontexten.109 Die Semantik von Katastrophe wandelte sich in diesem Umfeld, wie Olav Briese und Timo Günther zutreffend formulierten, ganz allmählich „[…] über ein Stadium ‚kategorialer Ambivalenz‘ […] hin zu dem, als was […] sie heute gilt: bad case bzw. worse case.“110 Allerdings gilt dies nicht im gleichen Maße auch für die romanischen

106 Vgl. Melanchthon: Opera omnia Bd. 2, ed. Bretschneider, S. 546 Nr. 1009; umfassend aufgearbeitet bei Kusukawa: Transformation, S. 124–173. Weitere Diskussion zum Beispiel im Austausch mit Jakob Milich, einem befreundeten Astronomen, vgl. Milichius: Gaius Plinius, fol. 94 verso. 107 Vgl. zur Astrologie die Beiträge von Wolf-Dieter Müller-Jahncke und Barbara Bauer, zur Medizin den Beitrag von Wolfgang U. Eckart in Frank und Rhein: Melanchthon; Lehrer Melanchthons in Tübingen war der Mathematiker und Astronom Johannes StoefÁer gewesen, der sich an der Prognose einer SintÁut 1524 beteiligt hatte, vgl. oben bei Anm. 77. 108 So wird im spätmittelalterlichen Glossar von Closener und Königshofen: Vokabulare, ed. Kirchert und Klein, S. 330 Nr. 114, unter Cometa erklärt: „… signat mortem uel mutacionem alicuius principis uel patrie destruccionem + aut lites aut gwerras …“. 109 Zwingli: Opera Bd. 5/3, ed. Schuler und Schultheiss, S. 746 und Bd. 6/2, S. 162 als Kommentar zu Jesaja (Js 48,1) und Korintherbrief (I Kor 10,6); Paracelsus: Komet, ed. Gantenbein und Holenstein Weidmann, S. 95; Amerbach: Hoven: Lexique, S. 54; Tycho Brahe: Opera omnia Bd. 3, ed. Dreyer, S. 301. Egli an Heinrich Bullinger (17. März 1572): Mauelshagen: Wunderkammer, S. 107 mit Anm. 20. 110 Briese und Günther: Katastrophe, S. 164.

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Länder, vermutlich, weil dort catastrophe mit desastre/disastro konkurrierte und daher ein poetologischer Begriff blieb.111 In der auf Deutsch und in einer weiteren ‚Öffentlichkeit‘ geführten Debatte von Johannes Kepler mit Helisäus Röslin in den Jahren von 1597 bis 1604 über die Bedeutung der am Himmel beobachtbaren Phänomene für das politische Geschehen auf der Erde verließ der nun eingedeutschte Begriff ‚Katastrophe‘ den lateinischen Spezialistendiskurs der Reformatoren, Humanisten und Astrologen und diffundierte in weitere Felder.112 Er bezeichnete einen von himmlischen Wendungen auf die Erde abstrahlenden Umschwung der Dinge. Diese BegrifÁichkeit griff auf astronomische Fachbegriffe (lateinisch revolutio, griechisch ƩƠƲƠƱƲƯƮƴп) zurück und stand für eine Reihe außerordentlicher – bei Röslin positiver, aber in aller Regel negativer – Phänomene, aber nicht für ‚Natur‘-Katastrophen, sondern für gesellschaftliche Vorgänge. Wegen seiner nach wie vor, nun aber entschieden kontrovers diskutierten astrologisch-heilsgeschichtlichen Konnotationen vermittelte der Begriff ‚Katastrophe‘ also auch um 1600 noch etwas sich Vollziehendes, durchaus (Er-)Lösendes, das Himmel und Erde, natürliche und gesellschaftliche Vorgänge zueinander in Beziehung setzte. Eine zweite Karriere machte der Begriff Katastrophe durch eine spezialistische Verengung in der Sattelzeit der Moderne, dort nun in Konkurrenz zum Begriff der ‚Revolution‘ und der ‚Krise‘.113 Während der ursprünglich astronomisch-geologische Begriff ‚Revolution‘ im Gefolge der Ereignisse von 1789 vor allem auf gesellschaftspolitische Umwälzungen bezogen wurde, fand der Begriff der Katastrophe seit etwa 1800 zunehmend für natürliche Extremereignisse Verwendung und wurde im Deutschen um 1900 mit dem Kompositum ‚Naturkatastrophe‘ darauf festgelegt. Zur gleichen Zeit konnte der Begriff der ‚Krise‘, wie Reinhart Koselleck es formuliert, zur selbstdiagnostischen „strukturellen Signatur der Neuzeit“ werden, allerdings, wie es scheint, um den Preis einer Allzuständigkeit für alle möglichen Phänomene beschleunigten Wandels in westlichen Gesellschaften.114 Dennoch scheint mir auch heute die Begriffsverwendung nicht beliebig geworden zu sein, da die in diesem Beitrag erörterten, geschichtlich geprägten konnotierten Bedeutungen fort111 Beispiel Frankreich: Imbs: Trésor Bd. 5, S. 299. Bei François Rabelais wird Mitte des 15. Jahrhunderts catastrophe zwar in einem astrologischen Kontext (Komet) negativ konnotiert, aber narrativ eingebunden und nicht auf die Gegenwart bezogen politisch-religiös verwendet, vgl. Walter: Katastrophen, S. 16 f.; Briese und Günther: Katastrophe, S. 163, 165; O’Dea: Mot, zur weiteren Entwicklung; Briese: Genommen, S. 30 f. zur Entwicklung im englischen Sprachraum. 112 Dokumentiert in Röslin: Tractatus, S. 14: „Welches [d. h. die Planetenkonjunktion] dann ein anzeigung gibt und anders nit bedeuten kann/dann daß obermelter Cometen bedeutung inn den Niderlaendi=schen/Frantzoesischen handlungen sich so lang erstrecken wird/biß sie ihr endschafft erzaichen/oder ein Catastrophen und außschlag der Sachen bekommen/erst umb ermelte Zeit.“ Zur Auseinandersetzung zwischen Röslin und Kepler, Kepler: Werke Bd. 1, ed. Caspar, S. 343–345 und 4, S. 101–147, 426–440, 488, 492–496; ferner Krafft: Tertius; Granada: Kepler, S. 299–319; Granada: Röslin, S. 75–96; Kühlmann: Naturphilosophie, S. 153–174; Briese und Günther: Katastrophe, S. 172 f.; Bauer: Tertius Interveniens. 113 Vgl. dazu zuletzt differenzierter Briese und Günther: Katastrophe, S. 172–195. 114 Koselleck: Formen, S. 627 f.

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wirken. Katastrophen werden im Alltagsverständnis vom Ende, dem negativen Ausgang, her erklärt, sie werden als plötzlich verstanden. Eine Krise aber ist das entscheidende Moment in einem längeren Verlauf, dessen Impuls nicht notwendig zu einem negativen Ergebnis führt. Wer wann welchen Begriff verwendet, kann für die Frage entscheidend sein, wer durch die Begriffsverwendung den Deutungsrahmen festsetzt und davon proÀtiert. (III) Ich möchte als zu prüfende Hypothese vorschlagen, für die frühe Phase der Begriffsbildung von einer ‚vormodernen Sattelzeit‘ in Analogie zum Konzept Reinhart Kosellecks zu sprechen.115 Sie zeichnet sich wie ihr konzeptionelles Vorbild dadurch aus, dauerhafte begrifÁiche Grundlagen durch eine speziÀsche semantische AuÁadung von bestimmten Worten zu legen. Sie ist eine begrifÁiche Formierungsphase, in der Worte und Wendungen konkurrieren, ideologische Festlegungen, Erweiterungen, Verengungen und Umdeutungen erfahren und in semantischen Kämpfen erprobt werden. Die Begriffe sind also nicht nur ein Indiz vorgängiger kognitiver Strukturen, sondern zugleich auch ein Mittel der Perspektivierung. Sie bilden innerhalb eines meist komplexen diskursiven Feldes oder Kommunikationszusammenhanges eine kategoriale Valenz aus. Daher spielen sie eine Rolle für die Deutungshoheit nicht nur in Diskursen, sondern auch in der Lebenspraxis, in Religion, Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Letztlich tragen sie damit auch zur Produktion handlungsleitender Konzepte in der jeweiligen Lebenswelt bei.116 Natürlich kann und muss diese vormoderne Sattelzeit weiter deÀniert und differenziert werden, in ihrer zeitlichen, räumlichen und thematischen Erstreckung, nach ihrer soziokulturellen Trägerschicht, mit ihren Konjunkturen und Depressionen. Thesenartig sei formuliert, dass die vormoderne Sattelzeit etwa um 1250–1300 im südwestlichen Mittelmeerraum begann, sich in einer von Südwesten nach Nordosten verlaufenden Dynamik über Europa ausbreitete und etwa um 1600–1650 ausklang.117 Als eines ihrer zentralen thematischen Felder kann die (religiöse, wirtschaftliche, soziale, politische) Kontingenzbewältigung bestimmt werden.118 Der Begriff der Katastrophe (disastro) und das gesamte Feld semantisch verwandter Begriffe, etwa auch der Begriff des Risikos (lat resicum, ital. rischio, arab. rzq) und 115 Zum nicht unproblematischen Konzept bereits oben Anm. 86. 116 Ich danke Friedemann Vogel für Diskussionen über die begriffsgeschichtliche Methode aus linguistischer Sicht. 117 Zu möglichen Einwänden: Die lange zeitliche Erstreckung, die auch für einen ganz normalen Sprachwandel sprechen könnte, erklärt sich durch die langsame räumliche Diffusion; der Begriffswandel selbst erfolgte in den einzelnen Regionen rascher. Zu erörtern wäre aber auch, ob nicht überhaupt von der DeÀnition von Sattelzeiten abgesehen werden muss, da Phasen beschleunigten begrifÁichen (und gesellschaftlichen) Wandels offensichtlich nicht an bestimmte Epochen, sondern an speziÀsche soziokulturelle Konstellationen gebunden sind. 118 Rohr: Naturereignisse, S. 553, fordert, die „‚Sattelzeit‘ des 15. und 16. Jahrhunderts“ hinsichtlich der „Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung von extremen Naturereignissen“ zu untersuchen. Die Kontingenzbewältigung berührt jedoch weitere gesellschaftliche Bereiche, gerade im Zeitalter der großen Kirchenkonzilien, der Reformation und der Bildung von Nationalstaaten.

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des Hazards (arab. az-zahr/yasara), bilden nur einen kleinen Teilbereich dieses thematischen Feldes.119 Dieser Teilbereich wird anfänglich gekennzeichnet durch eine große Pluralität von Begriffen, Deutungsmustern und Perspektivierungen und ist bemerkenswert transkulturell und translingual. Das Ende der vormodernen Sattelzeit ist durch eine Reduzierung und Konsolidierung der begrifÁichen Vielfalt gekennzeichnet, die mit dem Abschluss der semantischen Kämpfe im Zusammenhang mit der Reformation und der Gegenreformation und der Formierung der Nationen innerhalb des sich ausbildenden Systems von europäischen Staaten zusammenhängen könnte. Auch aus begriffsgeschichtlicher Perspektive liegen somit Argumente vor, um von einem langen Mittelalter zu sprechen. Quellen (mit Wörterbüchern) Acta Tomiciana: Tomus decimus epistolarum, legatiorum, responsorum, acctionum, et rerum gestarum Serenissimi principis Sigismundi primi regis Poloniae magni ducis Lithuaniae, hg. von Gorski, Stanislaus, Posen 1899. Albert: Die Weltchronik des Mönchs Albert 1273/77–1454/56, hg. von Sprandel, Rolf, München 1994 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum, Nova series, 17). Albertus Magnus: Alberti Magni Opera Omnia Bd. 5/2. Alberti Magni ordinis fratrum praedicatorum. De natura loci ad Àdem autographi. De causis proprietatum elementorum ad Àdem autographi. De generatione et corruptione, hg. von Hossfeld, Paul, Münster/Westf. 1980. Albertus Magnus: Alberti Magni Opera Omnia Bd. 6/1. Alberti Magnis ordinis fratrum praedicatorum. Meteora, hg. von Hossfeld, Paul, Münster/Westf. 2003. Alessandro de Ritiis: La „chronica civitatis Aquilae“ di Alessandro de Ritiis, hg. von Cassese, Leopoldo, in: Archivio storico per le province napoletane n. s. 27 (1941) S. 151–216. Alfred of Sareshel: Alfred of Sareshel’s Commentary of the Metheora of Aristotle, hg. von Otte, James K., Leiden 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 19). Alighieri, Dante: Quaestio de aqua et terra. Abhandlung über das Wasser und die Erde (Dante Alighieri, Philosophische Werke, 2), übers., eingeleitet und kommentiert von Perler, Dominik, Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek, 464). El „Alphita“. Estudio, edicion critica y comentario, hg. von García González, Alejandro, Valladolid 2005 (ProQuest Dissertation and Theses), URL: http://www.proquest.co.uk/en-UK/ (22.02.2012). Angelo di Capua: La istoria di Eneas vulgarizata per Angilu di Capua, hg. von Folena, Gianfranco, Palermo 1956 (Collezione di testi siciliani dei secoli XIV e XV, 7). Annales Altahenses maiores, hg. von von Oefele, Edmund L. B., Hannover 1891 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores in usum scholarum separatim editi, 4). Annales Blandinienses, hg. von Bethmann, Ludwig Conrad, Hannover 1844 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 5), S. 20–34. Annales Egmundani, hg. von Pertz, Georg Heinrich, Hannover 1859 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 16), S. 442–479. Die Annales Quedlinburgenses, hg. von Giese, Martina, Hannover 2004 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 72). Annales Sancti Disibodi, hg. von Waitz, Georg, Hannover 1861 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 17), S. 4–30.

119 Zum arabischen EinÁuss Piron: Apparition, S. 61–68, ferner oben Anm. 44, 69 f. und 72.

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ALTE BÜCHER FÜR NEUE KRISEN. DIE SALLUST-REZEPTION IN DER SPÄTMITTELALTERLICHEN CHRONISTIK Carla Meyer Und aus dem Sallust Áoß in jenen glücklichen, belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das StofÁiche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Hugo von Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos1

‚Meistererzählungen‘ oder neudeutsch ‚master narratives‘ – mit diesen begrifÁichen Passepartouts sucht die Geschichtswissenschaft die diffuse Melange an Vorannahmen und Denkstilen zu fassen, die ihre Blicke in die Vergangenheit lenkt. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich die banale, jedoch folgenschwere Erkenntnis, dass Menschen die Wirklichkeit nicht voraussetzungslos ‚beobachten‘, dass sie nicht erst das Resultat ihrer Beobachtungen ‚interpretieren‘ und ‚organisieren‘. Vielmehr wird ihre Wahrnehmung von vornherein durch Deutungsschemata gesteuert, die sie häuÀg unwillkürlich übernommen haben. Dies gilt sowohl für die Geschichtsschreibung, die wir heute produzieren, als auch für die Historiographie, die wir als Quellen der Vergangenheit heranziehen.2 Als eine Sonderform der „Meistererzählung“ wollen die hier folgenden Überlegungen die ‚Krisenerzählung‘ vorschlagen. Auf den ersten Blick mag das paradox klingen: Krisen bezeichnen ja gemeinhin das, was eigentlich undenkbar, unfassbar, unvorhersehbar scheint. Zugleich wird Krisen aber mit festen sprachlichen Mustern und Bildern begegnet, es werden ihnen ein logischer Ablauf und eine Zielgerichtetheit unterstellt. Spätestens in der Retrospektive dient die Krise als zentraler Kristallisationspunkt für Erklärungsansätze, um entweder Kontinuitäten über Brüche hinweg oder auch Wandel zu begründen und zu deuten.3 Im Folgenden soll daher die Existenz von ‚Krisenerzählungen‘ behauptet werden, die dem jeweiligen Krisenberichterstatter ein vergleichsweise festes Set an 1 2 3

Von Hofmannsthal: Ein Brief, S. 462 (Erstdruck 1902 in der Zeitung „Der Tag“). Vgl. dazu Rexroth (Hg.): Meistererzählungen vom Mittelalter. S. Einleitung dieses Bandes, S. 9 f.

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Vorannahmen, Verlaufsmustern und Werturteilen zur Verfügung stellt. Unter einem solchen Set kann man einerseits frei Áottierende Vorstellungen und Weltbilder verstehen, die nur schwer zu fassen sind. Konkreter lässt es sich auf die narrativen Grundstrukturen von Einzeltexten mit ihren Folgen für die Sinnkonstitution beziehen. Hier soll die ‚Krisenerzählung‘ vorrangig als Dramaturgie gedeutet werden, die von einem einzelnen Text vorgegeben bzw. zumindest nachhaltig geprägt wurde. Zugleich soll es um die Frage gehen, welche Folgen die Orientierung an diesem ‚Drehbuch‘ für die Sinnkonstitution besaß. Bei diesem ‚Subtext‘ handelt es sich um die „Coniuratio Catilinae“ über den misslungenen Putschversuch des Senators Lucius Sergius Catilina im ersten Jahrhundert vor Christus.4 Da er mit seiner Kandidatur als Konsul gescheitert war, hatte er die Macht in der römischen Republik gewaltsam an sich reißen wollen. Autor der Monographie ist der Historiker Sallust, der die Ereignisse als junger Politiker miterlebt hatte, ihre Geschichte allerdings erst als ‚elder statesman‘ 20 Jahre später niederschrieb. Im Proömium erklärte Sallust seine Tätigkeit als Historiker mit dem Rückzug aus der Politik. Den Hintergrund, vor dem er die dicht gedrängten Ereignisse rund um das Jahr 63 vor Christus erzählt, bildet ein Leben reich an politischen Hoffnungen und Enttäuschungen: Sallust erlebte sowohl die gewaltige Expansion des römischen Reiches als auch den inneren Zusammenbruch der Republik am Übergang zum Prinzipat. Er nahm das Reich wahr als Weltmacht, die sich – so Stephan Schmal – als Koloss auf tönernen Füßen entpuppt. Die Catilinarische Verschwörung, ein im Kern anarchischer und verbrecherischer Umsturzversuch, war für Sallust also das Symptom für eine schwere innenpolitische Krise. Sie bedrohte die ‚res publica Romana‘ existentiell, auch wenn sie am Ende durch die Senatoren Caesar und Cato als Parteigänger des rechtmäßig gewählten Konsuls Cicero noch einmal bewältigt werden konnte.5 Bereits in der Antike fand die kleine Monographie große Aufmerksamkeit.6 Im Folgenden soll uns freilich weniger Sallusts eigene Zeit interessieren als vielmehr seine Rezeption in späteren Jahrhunderten. Wie am Beispiel spätmittelalterli4

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Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, S. 6–97, mit Erläuterungen S. 397– 412. Vgl. Schmal: Sallust; als grundlegende Forschungsbeiträge außerdem die Aufsatzsammlung von La Penna, Sallustio e la „rivoluzione“ romana, und Syme: Sallust, bes. S. 60–137, mit der Wertung des Werks als „an epoch-making achievement in the literature of the Latins, creating a new style and manner“ (S. 136). Für eine Einführung zu Sallust Leben und Werk vgl. etwa Mehl: Römische Geschichtsschreibung, S. 78–85. Vgl. etwa Schmal: Sallust, S. 36, und Pöschl, Einleitung, S. VII. BolafÀ: Sallustio e la sua fortuna nei secoli, zählte 1949 über 60 pagane Autoren des 1. Jahrhunderts vor bis 5. Jahrhunderts nach Christus, für die die Forschung eine Benutzung Sallusts nachgewiesen hat, darunter der auch im Mittelalter viel rezipierte Rhetoriker Quintilian oder der Historiker Tacitus, der sich nicht nur an Sallusts Stil und seinem pessimistischen Geschichtsbild orientierte, sondern ihn in seinen Annales auch als „rerum Romanarum Áorentissimus auctor“ rühmt, vgl. Tacitus: Annalen, ed. Heller, Buch III, 30, S. 236 f. Auch christliche Autoren, allen voran die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus, schätzten Sallusts Werke, vgl. Opelt: Sallust in Augustins Confessiones. Zur Wirkung Sallusts in der Antike allgemein vgl. Stein, Sallust for his readers 410–1550, S. 11–69; Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, S. 34–42.

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cher Chronistik demonstriert werden soll, diente Sallusts „Coniuratio Catilinae“ seinen Lesern nicht nur sprachlich-stilistisch als Vorlage. Stattdessen lieferte er den Autoren ebenso überzeugende wie auf andere Stoffe übertragbare Erklärungsmuster: Seine durchkomponierte Ausgestaltung machte sie zum idealen Verlaufs- und Interpretationsschema, das als ‚Plotstruktur‘ auch für andere Krisenerzählungen adaptiert werden konnte. Zur ‚Plotstruktur‘ der folgenden Ausführungen sei vorausgeschickt: Zuerst soll ein knapper Überblick die Ubiquität der Sallust-Rezeption im Hoch- und Spätmittelalter vor Augen führen, war sie doch Voraussetzung dafür, dass die „Coniuratio Catilinae“ in die Stellung einer „Meistererzählung“ für Krisenzeiten rücken konnte. Zweitens wird thesenartig zugespitzt, worin die große Attraktivität der Sallustischen Werke für die mittelalterlichen Imitatoren zu suchen ist. In einem dritten Kapitel, dem ausführlichsten, sollen diese Thesen schließlich am Beispiel zweier spätmittelalterlicher Stadtchroniken überprüft werden. Konjunkturen der Sallust-Rezeption im Hoch- und Spätmittelalter „Ciascuno ha letto la congiura di Catilina scritta da Sallustio“ – jeder habe die Verschwörung des Catilina aus der Feder des Sallust gelesen, so statuierte Niccolò Machiavelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts in seinen „Discorsi“.7 In der Tat ist die Präsenz der Sallustischen Werke nicht erst in Machiavellis Lebenszeit, sondern schon zuvor im Hoch- und Spätmittelalter überwältigend:8 Von spätantiken Autoritäten wie dem Rhetoriklehrer Quintilian und dem Kirchenvater Augustinus hochgeschätzt, erhielt Sallust einen sicheren Platz innerhalb des historiographischen Kanons, als ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Geschichtsschreibung in Europa wieder auÁebte. Seit dem 11./12. Jahrhundert waren Sallusts Schriften in allen Klosterbibliotheken der lateinischen Welt bis hoch nach Skandinavien verfügbar.9 Parallel etablierten sie sich als Schullektüre, wie sich aus Günter Glauches 7 8

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Machiavelli: Discorsi, Libro III, Cap. VI, ed. Bausi, Bd. II, S. 591. Vgl. Osmond, Sallust and Machiavelli, S. 407. Zur Sallust-Rezeption in Spätantike und Mittelalter vgl. neben BolafÀ: Sallustio e la sua fortuna nei secoli, auch Stein: Sallust for his readers 410–1550. Bis zur Salierzeit s. Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, bes. S. 34–42. Zusammenfassend im Lexikon des Mittelalters Brunhölzl: Art. „Sallust. I. Im Mittelalter“, und La Penna: Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“ Nachdem Sallusts Spuren zuerst spärlicher wurden, verbreiteten sich seine Monographien erneut mit der ‚karolingischen Renaissance‘ des 9. Jahrhunderts, zunächst in Frankreich, vereinzelt auch in Süddeutschland. Im Werk von mehr als einem halben Dutzend Historiographen der Zeit ist Sallust erwähnt oder sind Zitate von ihm nachweisbar. Vgl. McKitterick: The audience for Latin historiography in the early middle ages, S. 96–114, zu Sallust S. 101 und S. 112, sowie dies.: History and Memory in the Carolingian World, S. 39–50, bes. S. 39– 41. Nicht alle von Sallusts erhaltenen Werken wurden im Mittelalter gleichermaßen rezipiert. Während die beiden Monographien verbreitet wurden, sind seine „Historien“ nur in Fragmenten bekannt. Zwei Reden, Briefe an Caesar und eine Invektive gegen Cicero wurden ihm im Mittelalter fälschlich zugeschrieben. Vgl. Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, S. 38.

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Studien zum Lektürekanon ersehen lässt: Seit dem 11. Jahrhundert zählte Sallust fest zu den römischen Klassikern, die als „auctores maiores“ für Fortgeschrittene gelesen wurden.10 Ausführlich wird seine Bedeutung und zeitgenössische Interpretation im „Dialogus super Auctores“ des Konrad von Hirsau – einer auf dem Lehrprogramm basierenden Literaturgeschichte – aus dem 12. Jahrhundert gewürdigt.11 Auch im Spätmittelalter ebbte die Sallust-Begeisterung nicht ab: Das anhaltende Interesse äußert sich ab dem 14. Jahrhundert in den ersten Übersetzungen in die Volkssprache.12 Im 15. Jahrhundert wurden von seinen Texten mehr Manuskripte angefertigt als von jedem anderen klassischen Autor – Reynolds zählte allein 330 neue Handschriften.13 Die erste gedruckte Ausgabe der „Coniuratio Catilinae“ erschien 1470 in Venedig. In den folgenden dreißig Jahren bis 1500 wurden mindestens 71 Druckausgaben publiziert.14 Es ist somit nicht verwunderlich, dass Sallusts Werk auch die produktive Aneignung für eigene historiographische Arbeiten anregte. Konjunkturen seiner Rezeption hat die Forschung vor allem für das Zeitalter von Ottonen, Saliern und frühen Staufern, geographisch für das römisch-deutsche Reich und für Frankreich konturiert.15 Als Ort der zweiten großen Sallust-Renaissance gelten die norditalienischen Kommunen des 14. Jahrhunderts. Die Phalanx der Humanisten, die Sallust benutzte und als Autorität zitierte, ist lang und spektakulär – BolafÀ und LaPenna stellen mehr als 20 Autoren zusammen, unter ihnen Dante, Petrarca, Boccaccio.16 Neu war in der italienischen Renaissance der prononciert politische Zugriff auf Sallust. Besonders scharf konturiert hat die Forschung die Sallust-Rezeption in Florenz, der Hochburg des Republikanismus.17 Bei Sallust fand man das historische Argument, dass Florenz nicht erst in der Kaiserzeit entstand, sondern eine Tochter der alten römischen Republik sei. Autoren wie der Áorentinische Kanzler Coluccio Salutati oder sein berühmterer Schüler Leonardo Bruni leiteten aus dieser Ursprungsgeschichte die Legitimität der zeitgenössischen politischen Standpunkte ab: 10 11

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Vgl. Glauche: Schullektüre im Mittelalter, S. 98 und 124. Vgl. Konrad von Hirsau: Dialogus super Auctores, ed. Huygens, S. 103–105, vgl. dazu Glauche: Schullektüre im Mittelalter, S. 107, 112 f., 124; s. darüber hinaus etwa auch das „Registrum Multorum Auctorum“ des Hugo von Trimberg, das Sallust in zwei Passagen erwähnt, vgl. Hugo von Trimberg, Das „Registrum Multorum Auctorum“, ed. Langosch, S. 163 und S. 171. Vgl. dazu Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, S. 57. Nach Osmond: Sallust and Machiavelli, S. 413 mit Anm. 16, und La Penna: Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“, Sp. 1308, entstand die erste italienische Übersetzung im Florenz des frühen 14. Jahrhunderts durch Bartholomaeus de San Concordio; 1364 folgte eine französische, 1493 eine spanische und 1513 eine deutsche Übersetzung, die gedruckt erschien, vgl. Schmal: Sallust, S. 161. Zit. nach Osmond: „Princeps Historiae Romanae“, S. 103, Anm. 8. Vgl. Schmal: Sallust, S. 161. La Penna, Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“, Sp. 1308, zählt lediglich 68 Druckausgaben. Ausführlich zur Drucküberlieferung von Sallusts Werken zwischen 1470 und 1650 s. Osmond: „Princeps Historiae Romanae“, S. 132–139. Vgl. Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust. Für konkrete Beispiele der Sallustrezeption und -benutzung in den Werken Dantes, Boccaccios und Petrarcas vgl. La Penna, Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“, Sp. 1308. Vgl. Schmal: Sallust, S. 164.

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Von der römischen Republik habe Florenz seine auf das Ideal der Freiheit gegründete Verfassung geerbt. Dieses Ideal verteidigten die Florentiner nun gegen den Mailänder Tyrannen Giangaleazzo Visconti, der ganz Italien zu unterwerfen drohte.18 Doch chamäleonartig ließ sich Sallust auch für entgegen gesetzte Positionen verwenden. Just ein anderer Florentiner, der bereits zitierte Niccolò Macchiavelli, sollte Sallust nicht für kommunalen Anti-Cäsarismus, sondern für einen aus fürstlicher Perspektive entworfenen Absolutismus vereinnahmen.19 Ein Seitenblick auf die moderne Forschung zeigt, dass Sallust auch in der Wissenschaftsgeschichte widersprüchliche Einordnungen erfahren hat, so als unpolitischer Vertreter eines romantischen ‚Römertums‘, als liberalkonservativer Revisionist oder als Frühmarxist.20 Doch kehren wir in die Vormoderne zurück: Die Schwerpunkte der Sallust‚Imitatio‘, wie sie hier skizziert sind, spiegeln nicht zwingend die tatsächliche Verbreitung als vielmehr das Interesse der Forschung. Man kann Sallust nur dort entdecken, wo man nach ihm sucht. Beide Texte, die im dritten Kapitel näher in den Blick genommen werden, sind der Spezialliteratur zur Sallust-‚Imitatio‘ nicht bekannt.21 Schon der in der Forschung beliebte Terminus ‚Imitatio‘ ist problematisch. Er ebnet ein, dass Sallusts Werke quantitativ wie qualitativ sehr unterschiedlich benutzt wurden.22 Sie konnte sich mit der bloßen Berufung auf Sallust als Autorität begnügen, sie konnte sich darauf beschränken, seine Werke in den Reigen anderer antiker Prosaschriftsteller einzuordnen wie in der ‚ars dictamini‘ Literatur.23 Sie konnte sie als Steinbruch für die Faktengeschichte verwenden, wenn etwa die Ereignisse um die Catilinarische Verschwörung in Annalen und Universalchroniken 18 19

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Vgl. La Penna: Die Bedeutung Sallusts, S. 255. Vgl. Osmond: Sallust and Machiavelli, bes. S. 421 f. Selbst einzelne Autoren zeigen wenig Skrupel, sein Werk immer neu zu deuten; als Beispiel aus der Frühen Neuzeit nennt Patricia J. Osmond: „Princeps Historiae Romanae“, S. 129 f., zwei Editionen von Werken des Sallust, die Cristoph Coler 1599 herausgab: Eine war dem jüngen Baron Zdenko von Waldstein gewidmet, dem er Sallust als nützliche Lektüre zur Unterdrückung unerwünschter Oppositionsbewegungen anempfahl. Die andere Edition widmete er dem Nürnberger Senat, indem er Sallusts Werk als Spiegel für die städtische „res publica aristocrata“ pries. Zur Wissenschaftsgeschichte vgl. pointiert Schmal: Sallust, S. 173–181, s. auch Büchner: Sallust, S. 365–382. Bislang nicht in den Blick geraten ist etwa der Kreis an Sallust-Imitatoren, die sich zu Nürnberg fassen lassen: Neben dem in dieser Studie analysierten Chroniktext von Sigmund Meisterlin ist die Benutzung von Sallust bisher auch noch für die „Norimberga“ des Conrad Celtis und das „Bellum Helveticum“ des Willibald Pirckheimer festgehalten worden, vgl. Orth: Rom an der Regnitz, und Wiegand: Willibald Pirckheimers „Bellum Helveticum“. Vielsagend ist auch die Ausgabe von Sallusts „Coniuratio Catilinae“, die Christof Coler dem Nürnberger Rat widmete: Ein Staat, möge er noch so verdorben sein, könne neue Stärke gewinnen, wenn er sich nach Sallusts Maximen richte, so postuliert Coler in seiner Vorrede, vgl. Büchner: Sallust, S. 365. Die Frage, wie ‚originell‘ die kompilatorische Arbeit der Autoren zu bewerten sei (so u. a. leitend bei Reisner: Form und Funktion der imitatio bei Rahewin, auch wenn sie moderne Urheberrechtsvorstellungen als Maßstab verwirft), ist ein Anachronismus und soll hier daher weder gestellt noch beantwortet werden. S. zum Beispiel den literarhistorischen Exkurs in der „Ars lectoria“ von Aimeric aus dem Jahr 1086, vgl. dazu Glauche: Schullektüre im Mittelalter, S. 73 f.

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einÁossen.24 Sie konnte ihn sprachlich-stilistisch nachahmen25 oder aber seine Sprache kritisieren. Teilweise wurden einzelne Gedanken in der von ihm geprägten Form um ihrer exemplarischen Geltung willen aufgegriffen. HäuÀg jedenfalls war die Rezeption Sallusts so selektiv, dass der Nachweis seiner Vorbildfunktion erheblichen philologischen Scharfsinn erfordert: Als Beispiel sei nur die germanistische Forschungsdiskussion um Sallust-Anspielungen auf Wortwahl oder Gedankenführung im Tristan-Prolog Gottfrieds von Straßburg angeführt.26 Sie zeigt, wie sehr die Grenzen zwischen bewusster Rezeption und intuitivem Gebrauch von über Umwege angelesenem Wissen verschwimmen.27 Der folgende kursorische Überblick versammelt Beispiele, die Sallusts literarische Mittel auf andere Stoffe entlehnen, ihn in Aufbau und Motivik imitieren. Die „Coniuratio Catilinae“ nimmt hier eine Sonderrolle ein: Keine von Sallusts Figuren hat die Phantasie der Leser weit über die Vormoderne hinaus bis in unsere Gegenwart so sehr beÁügelt wie die des Catilina.28 Im 10. Jahrhundert prägte er dem Werk Widukinds von Corvei seinen Stempel auf. Dessen Held Otto der Große spricht in einer Rede vor der Schlacht auf dem Lechfeld die kämpferischen Worte des Catilina vor dessen Entscheidungsschlacht in Pistoria.29 Dieselben Formulierungen legte etwa zeitgleich Richer von Reims in den Mund Kaiser Ottos II.;30 ein Jahrhundert später Áossen sie in die Feder Brunos von Magdeburg in seinem Buch vom Sachsenkrieg für die Rede Herzog Ottos vor den sächsischen Rebellen (die Rolle des catilinarischen Bösewichts übernimmt bei Bruno der Salier Heinrich 24

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Für italienische Chroniken des Spätmittelalters, die die Geschichte der Verschwörung und der Niederlage Catilinas aus Sallust übernahmen, hat La Penna: Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“, Sp. 1309, mehr als ein halbes Dutzend Werke zusammengetragen, darunter Giovanni Villani, Alberto Mussato und Dante Alighieri. Auch in der hochmittelalterlichen Historiographie nördlich der Alpen wurde Sallust als Steinbruch benutzt, so in der Chronik des Bamberger Benediktinermönchs Frutolf (gest. 1103), die die Gründungsgeschichte Roms aus Sallusts „Catilina“ (Kap. 6) entlehnt, vgl. Ekkehardi Uraugiensis Chronica, ed. Waitz, S. 50, zu Sallusts Biographie vgl. S. 88 und 93 f.; Stein: Sallust for his readers, S. 113–116. Als Beispiel für die durchgängige Nachahmung des Stils und der Stoffanordnung vgl. die Vita Heinrici IV., entstanden um 1100 in Regensburg (s. dazu Schneider, Die Vita Heinrici IV. und Sallust; Stein, Sallust for his readers, S. 137–159) und Rahewins Fortsetzung der „Gesta Friderici I. imperatoris“ (s. dazu Reisner, Form und Funktion der imitatio bei Rahewin). Vgl. Jaffe: „Da wil man, des man niene wil.“ Eine intensive Sallust-Rezeption zeichnet die Schriften des Sulpicius Severus aus, der im Mittelalter viel gelesen wurde und dadurch sallustisches Schriftgut indirekt vermittelte, vgl. Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, S. 35. Als Beispiel für die Herleitung indirekter Sallust-Rezeption im Frankreich des 11. Jahrhunderts u. a. über Sulpicius Severus vgl. Guyotjeannin: Un préambule de Marmoutier. Vgl. Schmal: Sallust, S. 164, und bes. BolafÀ: Sallustio e la sua fortuna nei secoli, S. 293 f. Widukind von Corvey, Res gestae Saxoniae, ed./übers. Rotter, Schneidmüller, Buch I, Kap. 38, S. 88–93. Vgl. Vester: Widukind von Korvei, S. 9, und Schmal: Sallust, S. 159. Smalley: Sallust in the Middle Ages, S. 170, kommt zu dem Schluss: „Any chronicler needing a literary model for a speech by a general encouraging his soldiers to face heavy odds had his Catilinarium to hand.“ Richer: Historiae, ed. Hoffmann, Buch 3, Kap. 73, S. 209. Vgl. Smalley: Sallust in the Middle Ages, S. 170 und 173 f.

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IV.).31 Im 12. Jahrhundert beschwor Rahewin, um Friedrich Barbarossas Entschluss zur Belagerung Mailands zu rechtfertigen, mit aus Sallust fast wörtlich entlehnten Wendungen den krisenhaften Zustand der Stadt.32 An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert verglich Dino Compagni seinen Feind Corso Donati mit dem „Catellina romano“ und ließ sich für seine Darstellung von Sallusts Charakterisierungen inspirieren.33 Im späten 14. Jahrhundert nutzte der bereits genannte Leonardo Bruni Catilina als Folie für Giangaleazzo Visconti und dessen unersättlichen Machthunger.34 Im 15. Jahrhundert nahm Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., aus Sallusts Charakterisierung der Sempronia, Catilinas weiblichem Pendant, die Züge für Kaiser Sigmunds Gemahlin Barbara von Cilli.35 Als zentraler Text der Sallust-Rezeption im späten 15. Jahrhundert gilt jedoch vor allem Angelo Polizianos „Bericht über die Pazzi-Verschwörung“ („Pactianae coniurationis commentarium“), der im Florenz des Medici-Prinzipats spielt.36 Als Pazzi-Verschwörung wurden schon von den Zeitgenossen die Attentate auf die Medici-Brüder Lorenzo il MagniÀco und Giuliano bezeichnet, mit denen eine Gruppe Florentiner Patrizier mit Kontakten weit über die Stadt hinaus bis in die Kurie nach Rom die Macht der Medici zu brechen suchte.37 Während der jüngere Bruder Giuli31 32

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Bruno von Magdeburg: Buch vom Sachsenkrieg, ed. Schmale, S. 223–225. Vgl. dazu Büchner: Sallust, S. 361. Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs, ed. Schmale, Buch 3, Kap. 33, S. 464–467, bes. S. 466 f., s. auch die Rede des Grafen Guido von Biandrate, mit der dieser zum Frieden mit Barbarossa rät, ibid., Buch 3, Kap. 48–50, S. 490–495. Zu Rahewins umfangreichen Entlehnungen aus antiken Autoren s. auch die Einleitung von Franz-Josef Schmale in ibid., S. 33 und 37. Dino Compagni, Cronica, ed. Luzzatto, 2,20, S. 62: „Uno cavaliere della somiglianza di Catellina romano, ma più crudele di lui, gentile di sangue, bello di corpo, piacevole parlatore, addorno di belli costumi, sottile d’ingegno, con l’animo sempre intento a malfare […]“; s. auch eine Schilderung von Donatis Charakter anlässlich seines Todes ibid., 3,21, S. 111. Für eine Übersetzung ins Deutsche vgl. Dino Compagni, Chronik, übers. Schwartz, S. 55 und S. 98. Vgl. knapp La Penna: Art. „Sallust. II. Nachleben im 14. und 15. Jh.“, Sp. 1308. Leonardo Bruni, Laudatio Florentinae urbis, Cod. Laur. 52, 11, Bl. 17r., zit. nach La Penna: Die Bedeutung Sallusts, S. 273, Anm. 71. Vgl. Wagendorfer: Studien zur „Historia Austrialis“, S. 143–201, für einen Parallelabdruck der entsprechenden Stellen bei Piccolomini und Sallust vgl. S. 149–152 (s. auch Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, S. 36–39, Kap. 25). Für Wagendorfer ist unzweifelhaft, dass – „zumindest das gebildete Publikum – in Barbara von Cilli eine zweite Sempronia […] sehen soll“ (S. 203). Angelo Poliziano, Della Congiura dei Pazzi, ed. Perosa. Für eine Übersetzung ins Englische vgl. Angelo Poliziano, The Pazzi Conspiracy, übers. Welles. Zum Autor vgl. Lenker: Angelo Poliziano. Zur Ereignisgeschichte vgl. Walther: Der Prächtige, S. 143–188, und Martines: Die Verschwörung. Als führende Köpfe gelten Giovanni Pazzi, Girolamo Riario – der Lieblingsneffe von Papst Sixtus IV. – sowie Francesco Salviati, Erzbischof von Pisa. Polizianos Darstellung verschweigt allerdings den Anteil des Papstes und Riarios, wohl um die nach dem Attentat äußerst angespannten Beziehungen zur Kurie nicht weiter zu belasten. Statt einer umfassenden Erläuterung der politischen Hintergründe macht Poliziano für das Attentat lediglich Hass und Eifersucht der Pazzi als Motive verantwortlich; vgl. dazu die Einleitung von Elisabeth Welles in Poliziano: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 294 und 296.

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ano dem Mordanschlag am 26. April 1478 im Florentiner Dom zum Opfer Àel, konnte Lorenzo verletzt entkommen und in der Folge mit breiter Unterstützung der Florentiner einen Rachefeldzug gegen die Verschwörer entfesseln. Poliziano war nicht nur Augenzeuge der Anschläge, er war als Vertrauter der Medici und Lehrer im Hause Lorenzos ebenso persönlich erschüttert wie in die Ereignisse der nächsten Monate involviert. Sein „Commentarium“ zu den Attentaten, unmittelbar nach den Ereignissen für den Druck geschrieben und noch 1478 veröffentlicht, wurde denn auch früh als Teil von Lorenzos Propaganda-Kampagne gewertet.38 Angesichts der äußerst knappen Entstehungszeit und der klaren politischen Intention mag umso mehr erstaunen, wie stark das Werk von Polizianos antiker Lektüre geprägt ist:39 Die Edition führt zwei Dutzend Autoren auf, die Poliziano sowohl stilistisch wie auch als inhaltliche Stichwortgeber nutzte. Unter ihnen sticht Sallusts „Coniuratio“ mit großem Abstand als Hauptquelle heraus. Sieben Thesen zum Rezeptionserfolg der „Coniuratio Catilinae“ im Mittelalter Mit Polizianos noch weit bis in die Neuzeit hinein wirksamer Sallust-‚Imitatio‘40 sei an dieser Stelle die tour de force durch die Rezeptionsgeschichte der „Coniuratio Catilinae“ im Mittelalter abgebrochen. Stattdessen schließen in einem zweiten Schritt einige systematisierende Überlegungen zu der Frage an, wieso Sallust im Hoch- und Spätmittelalter ein solcher Rezeptionserfolg beschieden war, bzw. konkreter: Weshalb vermochte gerade die „Coniuratio Catilinae“ die mittelalterlichen Leser so sehr zur produktiven Aneignung zu inspirieren?41 Auf diese Frage antworten im Folgenden sieben Thesen. Die ersten vier beziehen sich auf narrative Muster und Stilmittel, die offenbar zur Nachahmung anregten; die anderen drei Argumente benennen inhaltliche Übereinstimmungen der mittelalterlichen Autoren mit ihrem römisch-antiken Vorbild. 1) Planvoller Aufbau/Dramaturgie des Textes Erstens hat der Rezeptionserfolg der „Coniuratio Catilinae“ mit ihrem Aufbau zu tun: Sie erzählt nicht einfach chronologisch, sondern gruppiert die einzelnen Szenen 38

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Vgl. dazu Perosas Einleitung in Poliziano: Della Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. V und X. Neben dem Druck von 1478 erschienen zwei weitere AuÁagen in den Jahren 1480 bis 1482; die Ausgaben enthielten nicht nur Texte, sondern auch Porträts der Verschwörer (ibid., S. Xf. und in der Einleitung von Elisabeth Welles in Poliziano: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 297–299). Vgl. zu diesen Fragen Brezzi: La congiura dei Pazzi. Nach drei Drucken zwischen 1478 und 1482 brach die Überlieferung der „Commentarii“ zunächst ab; in der Gesamtausgabe von Polizianos Werken 1494 wurden sie offenbar wegen der dezidiert politischen Intentionen, die in Zeiten der neuen republikanischen Regierung nicht mehr opportun erschienen, ausgespart. Erst ab 1553 wurde der Text wieder verbreitet, vgl. Perosas Einleitung in Poliziano: Della Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. XVIIf. S. zu dieser Frage schon Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, S. 41, sowie Smalley: Sallust in the Middle Ages, S. 165.

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– notfalls auch in vertauschter Reihenfolge42 – nach einer ausgeklügelten Dramaturgie. In ihr wechseln Nahaufnahme und Überblick, Handlung und Erörterung, Ereignisgeschichte und Exkurs; virtuos spielt Sallust also mit unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten.43 Die Forschung hat früh auf die enge Verwandtschaft dieser monographischen Form von Geschichtsschreibung mit der aristotelischen Lehre von der Tragödie verwiesen.44 Die „Coniuratio Catilinae“ lässt sich zwar nicht in fünf Akte einteilen, die dichte Handlung ist jedoch klar um einen plötzlichen Wendepunkt, eine Peripetie, aufgebaut. Diese Erzählform aber hat mehr als nur einen ästhetischen Wert; sie vermag auch die Sinnkonstitution des Textes mitzubestimmen.45 2) Reduktion auf wenige Protagonisten Auch das zweite Argument für Sallusts Rezeptionserfolg hat eine Parallele zum Theater: Denn wie im Theater kommt auch in Sallusts „Coniuratio“ dem Helden eine zentrale Rolle zu. Allseitiger Drahtzieher und überragende BühnenÀgur ist Catilina, der durchaus mit Gestalten des Dramas wie dem von Furien gejagten Orest vergleichbar ist.46 Über die weiteren Verschwörer erfährt man dagegen nicht viel mehr als ihren Namen. 3) Steigerung der Figuren zu Typen Diese Reduktion auf wenige Protagonisten als Strategie, um die Handlung übersichtlich zu halten, gibt Raum für das Bild des Helden, das durchaus differenziert wirkt: Sallust verleiht Catilina auch gute Eigenschaften, auch wenn sie einseitig entwickelt erscheinen.47 Trotzdem darf man Sallusts Figuren nicht mit Individuen im modernen Sinn verwechseln. Als drittes Argument für Sallusts mittelalterlichen 42

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Zu den chronologischen wie sachlichen Unstimmigkeiten in Sallusts „Coniuratio Catilinae“ vgl. Ledwurowski: Historiographische Widersprüche, S. 303–323, zu ‚Fehlern‘ aus künstlerisch-kompositorischen bzw. erzähltechnischen Gründen bes. S. 314–317, zu politisch motivierten Manipulationen des Stoffs bes. S. 318. S. auch Flach, Römische Geschichtsschreibung, S. 111, und Schmal: Sallust, S. 44–46. Vgl. Schmal: Sallust, S. 33, und Schneider: Die Vita Heinrici IV. und Sallust, S. 41. Zu Sallusts Innovation der Erzählform Monographie, die das historische Geschehen in dramatisierender Funktion um einen Protagonisten gruppiere, vgl. Ledwurowski: Historiographische Widersprüche, S. 345–348. Wie wichtig Sallust die Gestaltung des Werks war, zeigt auch der Entstehungsprozess der Monographien: Nach Sueton half ihm ein angesehener Rhetor und Grammatiker, Lucius Ateius, der ihm nicht nur ein „breviarium rerum Romanarum“, einen Abriss der gesamten römischen Geschichte anfertigte. Zum anderen soll er nach dem Zeugnis des Asinius Pollio für ihn Archaismen gesammelt haben, da Sallust seine Rückwendung zum Alten und Guten in der Moral auch in seiner Sprache demonstrieren wollte. Vgl. Flach, Römische Geschichtsschreibung, S. 112, und Mehl, Römische Geschichtsschreibung, S. 79, vorsichtiger Christes: Sklaven und Freigelassene, S. 43–48, bes. S. 46 f. Vgl. dazu prononciert Vretska: Der Aufbau des Bellum Catilinae, S. 75, s. auch Aufbau in Übersicht S. 100. Vgl. Rexroth: Meistererzählungen, S. 10. So Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 356. S. dazu die Wertung von Schmal: Sallust, S. 38 f., und Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 355, der Sallusts Personenbeschreibungen als ‚paradoxe Porträts‘ charakterisiert, da sie Vorzüge und Schwächen unvermittelt nebeneinander stellen.

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Rezeptionserfolg sei somit festgehalten: Sallusts Protagonisten sind nicht nur Menschen aus Fleisch und Blut, sie sind Träger von Ideen und Kunstcharaktere.48 Sie sind zum Typus gesteigert. 4) Technik der direkten Rede Ein vierter Grund für Sallust Rezeptionserfolge ist das Gewicht der direkten Rede, die ebenfalls der Bühne entlehnt ist. Angesichts der zentralen kompositorischen wie auch moralischen Bedeutung der Reden in Sallusts Werken ist sich die Forschung einig, dass sie weitgehend als Konstrukte des Autors gelten müssen.49 Trotzdem darf – und das gilt für alle bislang angeführten Argumente – Sallusts Werk selbstverständlich nicht als Fiktion missverstanden werden. Er selbst nimmt mehrfach, auch in der „Coniuratio Catilinae“, für sich in Anspruch, Geschichte zu schreiben: Dies sei deshalb besonders schwierig, „quod facta dictis exaquanda sunt“ – weil die Taten den Worten gleichen müssen.50 Auch die Forschung betont, dass sich die literarischen Mittel bei Sallust nicht verselbständigen, sondern dass sie sich seinen historiographischen Absichten unterordnen.51 5) Moralische Motivierung der Handlung Aus ihrer Lektüre von Sallusts „Coniuratio“ konnten die mittelalterlichen Autoren jedoch nicht nur narrative Strategien entlehnen. Sie bot – und das mag seinen mittelalterlichen Lesern noch wichtiger gewesen sein als das literarische „Rüstzeug“ – auch ethisch-philosophische Ordnungsvorstellungen, die ihnen entgegen kamen. An vorderster Stelle ist hier zu nennen, dass er die Handlung seines Textes konsequent moralisch motiviert.52 Die entscheidende Kraft ist für ihn die „virtus“, die 48 49 50 51

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Vgl. Schmal: Sallust, S. 19. Vgl. ibid. Zu den Charakteristika der „sallustischen Rede“ vgl. ausführlich Büchner: Sallust, S. 238–243. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 3, S. 8 f. Im folgenden 4. Kapitel beteuert Sallust, er wolle die Verschwörung so wahrheitsgemäß wie möglich beschreiben. Speziell im Hinblick auf die Authentizität der Reden erklärt etwa Büchner: Sallust, S. 241: „Hinter allen Reden und Briefen stehen historische Reden und Briefe. […] Im übrigen aber sind es freie sallustische Schöpfungen.“ Zur kontrovers diskutierten Frage nach der Wahrheit bzw. der politischen Tendenz von Sallusts Geschichtsschreibung vgl. Ledworuski: Historiographische Widersprüche, S. 11–20: Der rigorosen Verurteilung Sallusts als Parteischriftsteller entgegen stehen der Verweis auf sein Selbstverständnis als Historiker (s. dazu etwa Eisenhuts Kommentar in Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, S. 393, oder Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 356) und – wie Ledworuski formuliert – „offensichtliche Entlastungs- und Verklärungstendenzen“. Ledworuski selbst kommt trotz der Würdigung seiner Werke zum Schluss, Sallust sei als Historiker zu bezeichnen, „allerdings mit all den für die römischen Historiographie typischen Schwächen“ (S. 352). Wie schwer sich die Forschung damit mit dem aus moderner (nicht postmoderner!) Perspektive offenbaren Widerspruch zwischen literarisch geformter Komposition und Wahrheitsanspruch der Autoren tut, zeigt auch ein Aufsatz aus dem Jahr 1993 von Petersmann: Die Fiktionalisierung von Fakten; Büchner: Sallust, S. 9–11. Ledwurowski: Historiographische Widersprüche, S. 334–341, bes. S. 335, hält diese Motivierung für psychologisierend und Sallusts Werke daher für mit der „Psychohistorie“ des 20. Jahrhunderts vergleichbar.

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Tugend. Mit ihr erklärt er in einem längeren Exkurs den Aufstieg Roms,53 mit ihrem Nachlassen begründet er den Niedergang: Eindringlich wird im Übergang vom 10. zum 11. Kapitel geschildert, wie die Laster der „pestilentia“ gleich um sich greifen und sich wechselseitig verstärken.54 Klar fokussiert auch die Personenschilderung auf dem Urteil über die „mores“, die sittlichen Grundsätze. Dies zeigt sich sowohl in den Wertungen der positiv besetzten Protagonisten Caesar und Cato55 wie auch in den Verurteilungen des Catilina56 und der Sempronia.57 Dieser prononciert moralische Standpunkt seiner Schriften brachte Sallust hämische Kritik angesichts seines eigenen, nicht gerade vorbildlichen Lebenswandels ein.58 Nicht zuletzt diese Reaktionen machen damit deutlich: Die moralische Be- und Verurteilung in Sallusts Werk war kein Selbstzweck; sie bot vielmehr ein suggestives Mittel für politische Meinungsmache. Und auch wenn Sallust im Prolog der „Coniuratio“ den Anlass für seine Tätigkeit als Geschichtsschreiber explizit mit seinem Rückzug aus der aktiven Politik begründet,59 so lassen sich um 43 vor Christus durchaus tagespolitische Motive greifen, weshalb der frisch gebackene Privatier für sein Erstlingswerk just den Catilinarischen Aufstand wählte.60 6) Propagierung eines blockartigen Gesellschaftsmodells Zugleich beeindruckte Sallusts mittelalterliche Leser das verführerisch klare Gesellschaftsmodell, das seine Schriften propagierten. In Sallusts Werken dominieren nicht nur klar konturierte Helden das Geschehen. Seine Akteure lassen sich zu blockartig abgegrenzten Gruppen etwa der „nobilitas“ oder der „plebs“ zuordnen.61 Ein solches Weltbild, das diesen sozialen Gruppen einen quasi naturgegebenen und überzeitlichen, damit unveränderlichen Platz in der Gesellschaft zuwies, kam seinen mittelalterlichen Rezipienten sehr zupass.62 7) Teleologische Strukturierung Kommen wir damit zum siebten Argument für Sallusts Rezeptionserfolg: Er liegt in der offenkundigen Teleologie seiner Werke. Sallust schreibt eine Verfallsgeschichte, in der er die entgleiste, dekadente Gegenwart mit der ruhm- und tugendreichen Ver53 54 55 56 57 58 59 60 61

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Vgl. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 5–16, S. 10–25. Vgl. ibid., Kap. 10, S. 19; s. auch Kap. 12, S. 20. Vgl. ibid., Kap. 53–54, S. 84–87. Vgl. ibid., Kap. 5 und 14–16, S. 10–13 und 22–25. Vgl. ibid., Kap. 25, S. 36–39. Zur zeitgenössischen Kritik an Sallusts Lebenswandel vgl. Büchner: Sallust, S. 356–358. Vgl. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 4, S. 10 f. Schmal: Sallust, S. 56, verweist auf KonÁikte zwischen Marcus Antonius und Cicero, in denen Catilina regelmäßig Thema war. Beide gesellschaftlichen Gruppen sind bei Sallust negativ konnotiert, für eine Schimpfrede auf den Pöbel vgl. Kap. 37, Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, S. 50–53; zum Adel, der für Sallust Träger der Verdorbenheit ist, s. unten sowie Eisenhuts Kommentar in ibid., S. 386 f. Vgl. Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1, S. 361. Noch stärker als in der „Coniuratio Catilinae“ ist die Verurteilung der Nobilität in Sallusts zweiter Monographie „Bellum Iughurtinum“ ausgeprägt.

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gangenheit des römischen Staates kontrastiert. Die Catilinarische Verschwörung ist in seinen Augen das Symptom für die Krise des Staates und einer kranken Gesellschaft – auch Sallust verwendet dafür schon medizinische Metaphern.63 Eine solche Teleologie aber musste für seine christlichen Rezipienten im Mittelalter nachvollziehbar sein, auch wenn ihr heilsgeschichtliches Denken nicht mit der Apokalypse endete, sondern die Hoffnung auf ein Jüngstes Gericht ließ. Auch die Erklärungsmuster, mit denen Sallust den sich verselbständigenden Niedergang beschrieb, waren den mittelalterlichen Autoren vertraut: Es ist die Abkehr vom Alten, Bewährten und das Streben nach der „novitas“, die Neuerungssucht. Bezeichnend ist die Rolle der adligen Jugend in der „Coniuratio“, die Sallust wegen ihrer Rücksichtslosigkeit als besonders instrumentalisierbar beschreibt.64 Dass die Verschwörung regelrecht als GenerationenkonÁikt verstanden worden sein könnte, legt auch das bei Sallust aufgegriffene, faktisch allerdings absurde Gerücht nahe, nach dem die jungen Verschwörer im rechten Moment ihre hochrangigen Väter hätten umbringen sollen.65 Sallust-‚Imitatio‘ in der deutschen Stadtchronistik des späten Mittelalters Im Folgenden sollen die sieben Thesen zu Sallusts Rezeptionserfolgen an zwei konkreten Beispielen überprüft werden: Beide Texte sind im späten 15. Jahrhundert in deutschen Städten und über diese Städte entstanden. Der eine wurde 1471 in und über Bern, der andere 1488 in und über Nürnberg geschrieben, das heißt also beide Male in und über ‚Stadtstaaten‘ mit einem mächtigen Landgebiet wie auch südlich der Alpen das Florenz der Renaissance. In der Wahrnehmung der Zeit – so lässt sich sicher mit Recht unterstellen – konnten solche Stadtstaaten als eigentliche Erben der antiken ‚res publica Romana‘ verstanden werden, die bei Sallust den Erzählrahmen bildet. Beide spätmittelalterliche Autoren machen in ihren Texten wie schon Sallust einen Aufruhr, eine Verschwörung innerhalb der Stadt zum Thema. Wie Sallust erzählen sie diese Krisen in außergewöhnlicher Breite, obwohl die geschilderten Ereignisse jeweils nur wenige Monate umfassen. Beide Autoren identiÀzieren sich mit den althergebrachten Regimenten und lehnen die Pläne der Aufrührer ab; auch dies teilen sie mit Sallust. Beide Autoren waren schließlich vielgereist und akademisch gebildet. Sie kannten Sallust natürlich und bei beiden lässt sich die produktive Aneignung seines „Catilina“ belegen: Im Berner Aufstandsbericht wird er explizit erwähnt;66 in der Nürnberger Chronik ist er durch wortwörtliche Übernahmen nachzuweisen.67 63 64 65 66

Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 10 und 36, S. 16–19 und 50 f. Schmal: Sallust, S. 37. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 43, S. 58 f. Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 20 f.: „Uff disen tag hat leider der zangk und die unzucht in dem Rat von Bern ein anfang genommen durch disen frefnen Catilinam [i. e. der Freiweibel Gfeller als Verursacher des ersten, in Frickers Werk geschilderten KonÁiktes, Anm. d. Verf.], als ich foercht zuo grossem nachteil diser erlichen statt Bern geboren sye; dann hieruß ein grosser span erwuochs“. Schon der Herausgeber des ersten Druckes, Johann Jakob Bodmer, verglich Frickers Werk in einem Brief von 1735 mit Sallusts „Coniuratio Catilinae“, vgl.

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Dass es sich trotz dieser Gemeinsamkeiten um ganz unterschiedliche Texte handelt, wird nicht erst mit einem näheren Blick auf ihre jeweilige Sallust-‚Imitatio‘ deutlich. Die Differenzen zeigen sich schon in ihren unterschiedlichen Entstehungsgeschichten: Bei dem Nürnberger Aufstandsbericht handelt es sich um eine Erzählung, die der Kleriker Sigmund Meisterlin in seine Geschichte der Stadt Nürnberg inserierte.68 Seine Chronik ist in drei Fassungen von der Hand des Autors zwischen 1485 und 1488 erhalten, zwei sind auf Latein, die letzte und ausgereifteste – auf die sich der folgende Vergleich bezieht – ist auf deutsch verfasst. Ihren Höhepunkt bildet wie bei Sallust ein innenpolitischer KonÁikt, die breit erzählte Schilderung eines Aufstandes innerhalb der Bürgergemeinde gegen den etablierten Rat in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Ereignisse, auf die Meisterlin rekurrierte, lagen zur Entstehungszeit seiner Chronik also rund 130 Jahre zurück. Mit der Beurteilung dieser Unruhen der Jahre 1347/48 tut sich die Forschung bis heute schwer: Sicher ist, dass sie sich an einem reichsweiten KonÁikt entzündeten, dem Thronstreit zwischen Ludwig dem Bayern und Karl IV., den auch Meisterlin als Anlass benennt.69 Dieser KonÁikt scheint als Riss quer durch die Nürnberger Führungsschichten gegangen zu sein und sich durch lokale Rivalitäten noch verschärft zu haben. In der Folgezeit wurde er jedoch offensichtlich totgeschwiegen. Erst in den beiden Jahrzehnten vor Meisterlin wurde er in der Historiographie aufgegriffen. Hier erfuhr er eine folgenschwere Umdeutung: Er avancierte in der Beurteilung immer mehr zum ständisch konnotierten Aufstand rebellischer Bürger gegen eine althergebrachte, legitime Ratsherrschaft der Patrizier.70 Bei Meisterlin wird die erfolgreiche Bewältigung des Aufstands denn auch als verfassungspolitische Restauration geschildert.

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Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 59, mit weiteren Beispielen. Für Verweise der aktuellen Forschung auf Frickers Sallust-‚Imitatio‘ vgl. Marchal, Art. „Fricker (Frickart), Thüring“, Sp. 917; Zahnd: „… zu ewigen zitten angedenck …“, S. 192. Für die deutschsprachige Fassung vgl. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler, Lexer, Nr. VI, S. 3–180, der lateinische Text wurde herausgegeben von Dietrich Kerler in: ibid., S. 181–256. Zu Meisterlins Sallust-Imitatio vgl. ibid., S. 131, Sachapparat mit weiteren Verweisen. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer. Vgl. Meyer: Die Stadt als Thema, S. 131–178 (mit Literatur) und speziell zur Aufstandserzählung S. 400–411. S. vor allem die Arbeiten Joachim Schneiders: Humanistischer Anspruch; ders.: Sigismund Meisterlin; ders.: Anfänge in der Stadtgeschichte, u. a. und noch immer die instruktiven Monographien Paul Joachimsohns: Humanistische Geschichtsschreibung; bes. S. 143–253, ders.: Geschichtsauffassung, S. 42–45. Zusammenfassend Colberg: Art. „Meisterlin“. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 4, S. 128 f., und Kap. 8, S. 134–136: Bei Meisterlin wird Kaiser Ludwig der Bayer im Unrecht geschildert; so wird auch sein Pakt mit den Burggrafen von Nürnberg betont, die Meisterlin in der gesamten Chronik als Erzfeinde Nürnbergs charakterisiert, vgl. Meyer: Die Stadt als Thema, S. 160–169. Zu den Ereignissen 1348/49 vgl. Schubert: Zwischen Zunftkampf und Thronstreit. Zwar sind nach Meisterlin nicht nur Handwerker am Aufruhr beteiligt gewesen, trotzdem zeichnet er das Regiment der Aufrührer als zunftbestimmt: vgl. etwa den Ruf der Handwerker nach eigenen Trinkstuben, Tänzen und einer Versammlungsfreiheit für Zünfte in Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 4, S. 129, und die Abschaffung dieser Zugeständnisse nach dem Ende des Aufruhrs in ibid., Kap. 18, S. 152 f.

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Beim Berner Aufstandsbericht handelt es sich um eine Schrift zum „Twingherrenstreit“, die der Jurist, Ratsgesandte und Stadtschreiber Thüring Fricker verfasste.71 Fricker war Augenzeuge der heftigen KonÁikte zwischen 1469 und 1471, die im Gegensatz zu den Nürnberger Ereignissen allerdings nicht in offenem Aufruhr eskalierten. Zwar berichtet Fricker auch von HandgreiÁichkeiten und Tumulten.72 Doch Hauptschauplatz der KonÁikte sind die Sitzungen des ‚Kleinen‘ und des ‚Großen Rates‘ in Bern, denen er als Schriftführer bzw. als Mitglied qua Amt beiwohnte, und Hauptwaffe der KonÁiktaustragung war das Wort.73 Die erste Streitpartei bildeten die Twingherren, die sowohl als adelige Führungsgruppe im ‚Kleinen Rat‘ die Berner Politik bestimmten als auch weitgehend autonome Herrschaften im Umland besaßen. Ihnen gegenüber standen die zu stärkerer politischer Beteiligung am Rat drängenden ‚gemeinen‘ Bürger, allen voran die Handwerker. Anlass waren die Herrschaftsrechte, die die Twingherren in ihren Grund- und Gerichtsherrschaften seit alters her autonom ausübten. Nach Auffassung der nicht-adligen Ratsmitglieder waren sie nicht mit der übergreifenden Berner Landeshoheit zu vereinbaren; man wollte sie daher an die Stadt ziehen.74 Wie Arnold Esch in seinen Überlegungen zum sozialen Wandel in den spätmittelalterlichen Städten formuliert, war diese Position die entschieden „modernere“ und musste sich über kurz oder lang 71

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Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer. Zum Werk vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, bes. S. 38–73; Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels in Bern. Zu Bedeutung und Verlauf des Twingherrenstreites vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 173–177, bes. S. 175–177, und Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 11–14, zu Quellenlage und Forschungsstand ibid., S. 14–22. Vgl. etwa Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 65 und 85 f. Vgl. Studers Vorwort in Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. IX., der von einem „Kampf in der Rathstube“ redet. Zu Berns politischer Struktur vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, hier S. 45 f.: Seit 1294 gab es neben dem vom Adel dominierten Stadtrat mit dem Schultheißen an der Spitze und zwischen 24 und 27 Mitgliedern auch einen ‚Rat der Zweihundert‘ (mit bis zu 300 Mitgliedern). Darin überwogen der Zahl nach Handwerker und Gewerbetreibende. Zwar wurden die täglichen Geschäfte allein vom ‚Kleinen Rat‘ geführt wurden, man ließ jedoch zentrale Entscheidungen durch Einberufung des ‚Großen Rates‘ absichern: Genau dieser Mechanismus ist auch in der Abfolge der Ratssitzungen in Frickers „Twingherrenstreit“ zu greifen. Während Fricker bedacht war, die übergroße Macht des ‚Großen Rates‘ über den ‚Kleinen Rat‘ anklagend herauszustreichen, sieht die Forschung für das 14. und 15. Jahrhundert einen Kompetenzzuwachs eher auf Seiten des ‚Kleinen Rates‘ (vgl. dazu ibid., S. 50 f.). Vgl. dazu Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 11 f., und Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 47 und 55: Vom 14. bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte Bern eine stetige Erweiterung weit über das Stadtgebiet hinaus, so dass die Stadt schließlich über 50 Ämter und Vogteien – aufgeteilt auf vier Landgerichte als wichtigste städtische Verwaltungseinheiten – im Umland verfügte. In den Twingherrschaften blieb die Nutzung der Abgaben und Dienste jedoch bis 1470/71 an die Zustimmung der jeweiligen Herrschaftsinhaber gebunden, vgl. ibid., S. 173– 177. Die Twingherren unterlagen also nicht nur dem Satzungsrecht des Rats, sondern waren Vasallen weltlicher wie geistlicher Herrn; im KonÁiktfall konnten sie sich gegen die Stadt stellen. Anfangs proÀtierte Bern jedoch von den Twingherren, die große Teile des militärischen Aufgebots stellten und die Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgten. Erst im 15. Jahrhundert wurden ihre Herrschaften als Hindernis für die Konsolidierung eines rechtlich vereinheitlichten Territoriums gesehen.

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durchsetzen.75 Fricker dagegen stand – wie sein Bericht unmissverständlich deutlich macht – bis zum Schluss auf der Seite der Adelspartei. Er schreckte für diese Parteinahme, wie Regula Schmid gezeigt hat, auch nicht vor Manipulationen der Fakten zurück.76 Mit guten Gründen lässt sich seine Darstellung als persönliche Rechtfertigung lesen – er wurde für seine Position im Rat durch die nicht-adlige Partei auch harsch angegriffen, wie er selbst beleidigt berichtet.77 Der Entstehungsprozess von Frickers Werk ist ungeklärt; einige Indizien im Text lassen auf eine zeitnahe, stückweise Niederschrift schließen. Zumindest das erste Drittel des Werks bis zur Wahl des Fleischhackers Peter Kistler zum Schultheißen und damit in das höchste Amt der Reichsstadt Bern muss Fricker jedoch rückblickend und ‚in einem Guss‘ konzipiert haben: Diese Wahl empörte den Autor nämlich so sehr, dass er sich veranlasst sah, „dise klegliche histori anzuofahen, wie sy von anfang iren ursprung ghan, ufzezeichnen.“78 Dass er die Ereignisse später aus dem Gedächtnis rekonstruierte, zeigt etwa auch sein Kommentar nach einem ausführlich und in der direkten Rede geschilderten Wortbeitrag im Großen Rat: „diß ist die summ siner red so vil ich han moegen behalten biß uff disen tag“.79 Dies führt bereits zur ersten These einer möglichen Sallust-‚Imitatio‘, der planvollen Komposition. 1) Planvoller Aufbau/Dramaturgie der Texte Der Editor Gottfried Studer hielt Frickers Darstellung 1877 noch für ein verlaufsgetreues Protokoll der Vorgänge; die jüngere Forschung dagegen wertet sie als eine nach allen Regeln der rhetorischen Kunst aufgebaute Parteischrift.80 Vordergründig schei75

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Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 91. Die Twingherren verzichteten zwar mit dem Twingherrenvertrag vom 7. Februar 1471 auf ihre Herrschaftsrechte (vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 55). Auf lange Frist sollte dieser Verzicht freilich, wie Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 265–270, herausgestrichen hat, die adlige Dominanz eher stärken denn schwächen. Vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 55–57, mit dem Urteil, dass es sich nicht nur um Irrtümer oder Resultate literarischer Gestaltung, sondern um „Geschichtsklitterung“ handele. Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 35–37: Fricker habe, so schreibt er, sogar seinen Rücktritt angedroht, weil man ihm unterstellt habe, er würde niederschreiben, „was mir gÀele, und nit das so gheissen wurde“. Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 81. Der Text ist – bis auf die Reden in der ersten Person – in Perfekt und Imperfekt gehalten, auch die Zeitangaben zeigen, dass Fricker stets Vergangenes erzählt (Gleich im ersten Satz der Chronik ist als Datierung „vergangens monats“ angegeben, ibid., S. 19). S. dazu ausführlich Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 52 f., mit der schlüssigen Folgerung, dass Fricker in allen Teilen des Werks unabhängig von einer eventuell stückweisen Aufzeichnung eine einheitliche Zielsetzung verfolgt habe. Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 55. Studer bewertete Fricker als den „gewissenhafte[n] Stadtschreiber, der in aller Treue protokollirt, was er gehört und gesehen hat“, vgl. Einleitung in Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. VIIf. Grammatikalisch ungewöhnliche Konstruktionen erklärt er daher damit, dass Fricker „mündlich gehaltene Vorträge möglichst treu nachschrieb“, vgl. ibid., S. X. Dass er mit dem Urteil, Fricker habe die Geschehnisse ‚mitstenographiert‘, nicht alleine stand, zeigt Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 51. Sie selbst kommt zum gegenteiligen Schluss, ibid.,

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nen die sechs Abschnitte, in die der Editor die Gesamtchronik einteilte,81 dem Anlageprinzip einer Sachakte zu entsprechen: Jedes Kapitel sammelt sozusagen das Material zu einem konkreten Vorfall, in dem sich die Amtleute der Berner und der Twingherren in ihren Kompetenzen in die Quere kamen. Ein näherer Blick in den Text macht allerdings deutlich, dass die von Fricker gesammelten Dispute nicht nur nach sachlichen oder chronologischen Erwägungen zusammengestellt sind. Fricker versteht es vielmehr, die einzelnen Vorfälle zu einer sich steigernden Geschichte zusammenzubinden. Er schafft so einen Spannungsbogen, der die Zumutungen an die adlige Partei beinah bis ins Unerträgliche steigert – bevor der Text mitten im Wort abbricht; ein Schluss der Chronik fehlt oder wurde zumindest nicht überliefert.82 Frickers geschicktes Changieren zwischen scheinbar neutraler Faktensammlung und gezielter Leserlenkung wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Die Chronik setzt ähnlich annalistisch strukturierten Texten ganz unvermittelt mit der Ereignisschilderung ein, wie der Freiweibel Gfeller als Vertreter des Berner Rates auf einer Hochzeit in Reichingen vor den Toren Berns mit dem Amtmann des Patriziers Niclaus von Diesbach aneinandergeriet.83 Dieser Ereignisschilderung folgt

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S. 68 f., dass Fricker durch Auswahl und Gewichtung, durch Wortwahl und mit stilistischen Mitteln die Geschichte bewusst forme und so die konkreten Ereignisse von 1469–1471 zu einer Parabel für das ‚Schlechte Regiment‘ schlechthin mache. Vgl. auch dies.: Der Twingherrenstreit, S. 335. S. dazu die Einleitung in Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. XIII. Auslöser der KonÁikte ist ein Streit zwischen einem städtischen Bediensteten und dem Amtmann einer der Twingherren um die Frage, wem der beiden auf einer Hochzeit im Berner Landgebiet das Recht zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zugestanden habe. Ähnliche Vorfälle in den Territorien anderer Twingherren nötigen die Ratsgremien zur Debatte – der Editor lässt hier den zweiten Abschnitt beginnen –, ob dieser für den Einzelfall getroffene Entschluss allgemein für das gesamte Berner Umland gelten solle. Im dritten und vierten Abschnitt eskaliert der KonÁikt noch weiter, da die „Zunftpartei“ mit (scheinbar) dem Wildbann zugeordneten Rechten nun sogar ständische konnotierte Privilegien des Adels für das – zu diesem Zeitpunkt längst von den ‚Aufsteigern‘ dominierte – städtische Regiment einfordert. Parallel zur Verhandlung der Vorfälle in der Berner Landschaft erzählt Fricker außerdem, wie der Zunftpartei in kürzester Zeit eine gewaltige personelle Umwälzung im großen und im kleinen Rat gelingt. Lässt sie zuerst den betroffenen Twingherren, dann auch die mit ihm sympathisierenden Standesgenossen wegen Befangenheit ausschließen, so ist der erste Höhepunkt der Handlung in der Wahl des ersten Handwerkers zum Schultheißen in Bern zu sehen: Dieses nach Fricker unerhörte Ereignis ließ ihn überhaupt erst zur Feder greifen. Im fünften Abschnitt lässt Fricker den Spannungsbogen noch weiter steigen: Die Twingherren müssen erleben, wie die ‚Aufsteiger‘ die Schlichtungsangebote aus befreundeten Städten der Eidgenossenschaft ausschlagen. Im sechsten Abschnitt schließlich zeichnet Fricker ihre Verblendung als so groß, dass sie zur Durchsetzung ihrer Ansprüche sogar eine Erhebung der Bauern im Berner Umland in Kauf nehmen – bevor der Text mitten im Wort abbricht. Erst in diesem letzten Abschnitt wird die Peripetie zumindest angedeutet: Jetzt immerhin, so Fricker, bröckelt im Rat die Zustimmung für ihre Positionen. Als Weibel wurden die Bediensteten der vier städtischen Venner (s. dazu auch unten Anm. 96) bezeichnet, die jeweils in einem der vier Stadtviertel für das militärische Aufgebot, das Steuerwesen, die Brandbekämpfung, die Einwohnerkontrolle und Oberaufsicht über die Bauverwaltung usw. verantwortlich waren. Seit dem 15. Jahrhundert wurde jedem Venner außerdem ein Landgerichtsbezirk zugeordnet, dessen Herrschaftsrechte er verwaltete. Konkret ausgeübt wur-

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aber als Ausgangspunkt für die gesamte weitere Chronik Frickers Urteil, dass sich die doch eigentlich geringfügigen Vorfälle in Reichenberg zu einem veritablen Prinzipienstreit auswuchsen. In diesem Kommentar auf den ersten Seiten der Chronik wird offen das erste Mal auf Frickers Vorbild Sallust verwiesen: „Uff disen tag hat leider der zangk und die unzucht in dem rat von Bern ein anfang genommen durch disen frefnen Catilinam, als ich foercht zuo grossem nachteil dieser erlichen statt Bern geboren sye; dan hieruß ein grosser span [Spannung, Zerwürfnis] erwuochs.“84 Gemeint ist mit diesem ‚frevelhaften Catilina‘ der bereits genannte Freiweibel Gfeller von Möschbach. Deutlicher als bei Fricker wird die literarische Formung der Handlung bzw. Überformung der Ereignisse im Text des Meisterlin; er erklärt die Notwendigkeit dazu sogar explizit mit den Worten: „Nun solich zwitrechtigkeit zu beschreiben, so ich nun allein etwo aufzeichnung Ànd, muß ich ein form für mich nehmen, darin die histori begriffen und doch ein ordnung gehalten werd.“85 Obwohl die Aufstandserzählung in eine prinzipiell chronologisch strukturierte Chronik inseriert war, folgte Meisterlin Sallust in der Dramaturgie so weit, dass er den Aufstandsbericht als in sich geschlossenes Lehrstück inszenierte. Es beginnt mit einem Kapitel, das Meisterlin wie einen Prolog vor den eigentlichen Ereignisbericht einschob und das nicht auf Erden, sondern in der Hölle stattÀndet. Der Teufel und die Furie Thisiphone – bezeichnet als „göttin des neids“ – rufen dort „ein synagogam satane“, eine satanische Versammlung, ein, weil ihnen Nürnbergs vorbildliches Stadtregiment missfällt.86 Sie entscheiden, drei Geister auszuschicken und durch sie einen Aufstand zu entfachen. Damit ist die höllische Dramaturgie im ‚Prolog‘ bereits vollständig entworfen: „also ward das teuÁisch spil angefangen“,87 so endet Meisterlin – der Vorhang hebt sich, so möchte man ergänzen. Auch Meisterlins Ereignisbericht ist damit nur vordergründig chronologisch strukturiert. Als eigentliches Gliederungsprinzip fällt einerseits die Dreizahl der teuflischen Anfechtungen ins Auge, ein schon in der Bibel etabliertes und im Mittelalter beliebtes Erzählmittel.88 Andererseits folgt Meisterlin jedoch auch der steigenden und fallenden Handlung einer Tragödie: In einem ersten Teil schildert Meisterlin, wie das Unheil seinen Lauf nimmt und es den alten, in Meisterlins Augen gerechten

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den sie durch Freiweibel, die in den jeweiligen Bezirken ansässig waren und aus der dörÁichen Oberschicht stammten, vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 52–55. Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 20 f. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 4, S. 130. Ibid., Buch 3, Kap. 5, S. 130. Ibid., Buch 3, Kap. 5, S. 131. Vgl. Lk 4, 1–13, und Mt 4, 1–11. Meisterlin konnte dafür auf die im 15. Jahrhundert handschriftlich wie im Druck außerordentlich weit verbreiteten Todsünden-Traktate zurückgreifen, in denen der Teufel sieben Sendboten, dargestellt als Frauenallegorien, auf den Weg schickt, die Menschen zu verführen. Auch Meisterlins Geistern sind drei dieser Todsünden – Hoffart, Neid und Habgier – zugeordnet. Mit sich führen die Allegorien Lastertiere, so reitet die Habsucht einen Bock und die Hoffart führt einen Pfau, die beide ebenfalls in Meisterlins Bericht wieder begegnen. Vgl. dazu Küster: Spectaculum Vitiorium, S. 48, und Schmidtke: Art. „Etymachietraktat“.

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Ratsherren nicht gelingt, den zunehmend „verstrickten knopf“ wieder aufzulösen, den die vom Teufel gesandten Geister „zusamen gemengelt“ hätten.89 Hier baute Meisterlin, sein Vorbild Sallust vor Augen, auch retardierende Momente ein und wechselt so die Erzählgeschwindigkeiten: Direkt vor der Rede eines Boten etwa, mit dem der alte Rat den Aufruhr ein letztes Mal aufzuhalten versucht, schob Meisterlin ein Kapitel ein, das die Nürnberger Geschlechter und ihre Leistungen und Wohltaten für die Stadt namentlich würdigt (– und zugleich eine Judenschelte enthält).90 In einem zweiten Teil lässt Meisterlin die Stadt in Anarchie versinken. Die Vertreibung der „Patricii und patres conscripti des rats“ nämlich ist Auftakt zu Plünderungszügen, die auch die aus Nürnberg verbannten Schwerverbrecher in Massen zurück in die Stadt spülen. Politisch veranlassen die Aufständischen nicht nur Zugeständnisse an die Handwerker und die Neuverteilung aller städtischen Ämter, sie dulden auch die Verschleuderung des städtischen Schatzes und sogar die Verbrüderung mit den Burggrafen. Im 14. Kapitel gipfelt das Chaos in der Zerstörung von Rathaus und Archiv sowie der Plünderung der Judenhäuser. Die Furcht vor der Wechselhaftigkeit des Volkes lähmt die neue Regierung.91 Die Peripetie kündigt sich nach Meisterlin auf der Reichsebene an, mit dem Sieg Kaiser Karls IV. und dem Tod seines Kontrahenten Ludwig des Bayern: Der Autor lässt Karl bekanntgeben, auch in Nürnberg Recht und Ordnung zu schaffen. Nach einer militärischen Niederlage der Nürnberger im Umland und dem Strafgericht, das der Sieger über das städtische Kontingent hält, wächst in der Nürnberger Bevölkerung der Wunsch nach den alten Herren.92 Das Ende markiert Meisterlin wie schon den Anfang der gesamten Aufstands-Geschichte mit einem Autor-Kommentar, diesmal in Form einer Leser-Ansprache: „Also hastu die histori des auflaufs. nun wöll wir fürbaß sagen, wie die stat wider in das recht regiment gesetzt ist, daß sie durch patricios wirt geregirt.“93 Die folgenden Kapitel, die diese Ankündigung umsetzen, sind schon wieder in den Fluss der Gesamtchronik eingebunden.94 2) und 3) Reduktion auf wenige Protagonisten und Steigerung der Figuren zu Typen Eng mit der dramaturgischen Formung der Handlung verknüpft ist – und dies führt zur zweiten These – die überragende Bedeutung der Helden. Wie Sallust reduzieren beide Chronisten die Masse der Beteiligten auf wenige Protagonisten. Bei Fricker kommen zwar viele Namen vor. Kennen muss man, um den Plot zu verstehen, je-

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Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 8, S. 136. Vgl. ibid., Buch 3, Kap. 9, S. 136–138. Vgl. ibid., Buch 3, Kap. 11–14, S. 140–147, Zitat auf S. 141. Vgl. ibid., Buch 3, Kap. 15–16, S. 147–150. Ibid., Buch 3, Kap. 17, S. 151. Vgl. ibid., Buch 3, Kap. 18–19, S. 152–155, mit Karls Triumphzug durch das Reich, seiner Wiedereinsetzung des Nürnberger Rates, der Annullierung aller durch den aufständischen Rat getroffenen Entscheidungen sowie der Verleihung eines neuen Siegels an die Stadt. Der Dank der Bürger manifestiert sich in kirchlichen Stiftungen, die Meisterlin – wie schon in Kap. 9 – breit referiert.

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doch nur fünf Figuren:95 In die Rolle des Catilina teilen sich der Freiweibel Gfeller, der der Mann fürs Grobe ist, und ein Mann aus dem Metzgerhandwerk, der hinter Gfeller die Strippen zieht. Sein Name lautet Peter Kistler, seine unerhörte Aufsteigergeschichte führt ihn als Handwerker zum Ratsmann und Venner bis hinauf ins höchste Amt des Berner Regiments, zum Schultheißen.96 Auf der positiv besetzten Gegenseite stehen vor allem drei Männer, darunter zwei Adlige, nämlich der im Verlauf des Dramas als Schultheiss abgewählte Adrian von Bubenberg und Niclaus von Diesbach, auf dessen Territorium der Streit seinen Ausgang nimmt. Anfangs können sie sich im Rat noch selbst verteidigen. Dann aber erwirkt ihr Intimfeind Kistler ihren Ausschluss aus den Verhandlungen wegen Befangenheit. Ab sofort muss ihre Position von einem anderen, letzten Protagonisten vertreten werden, der in den Rededuellen mit Kistler zu dessen großem Widersacher wird: Das ist der treue Fränkli, von Amts wegen städtischer Seckelmeister – ein zentrales Amt, das normalerweise in der Hand der adligen Führungselite war. Er war jedoch als Kürschner der erste Handwerksmeister auf diesem Posten.97 Zum Zeitpunkt des Twingherrenstreites war Fränkli bereits ein greiser Mann: Von Thüring Fricker wird er daher als Altersautorität eingeführt, der – sowohl adeliger Herkunft als auch zünftischer Umsturzversuche gleichermaßen unverdächtig – sich in 60-jähriger Regierungspraxis den Respekt beider Seiten erworben habe.98 Verbinden wir diese Überlegungen, noch bevor sich der Fokus auf Meisterlins Text richtet, gleich mit dem dritten Argument zur Sallust-‚Imitatio‘: mit der These, dass die Personen zu Typen gesteigert sind. Die fünf genannten Protagonisten repräsentieren drei Typen. Adrian von Bubenberg ist der Inbegriff des stolzen Adli95

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Wie Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 53 f., aufmerksam gemacht hat, ist die Zahl der Redner in den gegnerischen Gruppen äußerst ungleich verteilt. Sie zählt 20 redende Personen in der Partei der Twingherren, denen nur der Metzgermeister Kistler und sein Helfer Gfeller gegenüberstehen. Trotz nachdrücklicher Forderung der Handwerker nach politischer Teilhabe und entsprechender Unruhen im 14. Jahrhundert wurde in Bern nie ein Zunftregiment eingesetzt. Die fortschreitende Einbindung der Zünfte in die Politik des ‚Kleinen Rates‘ erfolgte über das Amt der Venner: Ursprünglich bezeichnete es die aus den vier Stadtvierteln gewählten Vertrauensmänner, die für ihr Viertel im ‚Kleinen Rat‘ saßen, vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 52–55. Offenbar seit 1384 hatten die Handwerker jedoch erzwungen, dass die Venner ausschließlich aus den vier Gesellschaften der Metzger, Gerber, PÀster und Schmiede zu wählen seien, d. h. aus vier Handwerken, die sich immer stärker im lukrativen Handelsgeschäft betätigt und dadurch ökonomisch und sozial aufgestiegen waren. Von Vertretern der Stadtviertel hatten sich die Venner damit zu Interessensvertretern der Zünfte gewandelt (wobei der politische Vorrang einzelner Gewerbe zu erheblichen wirtschaftlichen wie sozialen Unterschieden innerhalb der 14 in Bern ansässigen Gesellschaften führte), vgl. ibid., S. 346–352. Zum Amt des Säckelmeisters vgl. Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 52: Seit dem 14. Jahrhundert oblag dem Säckelmeister die Rechnungsführung, er teilte sich daher die Verantwortung für die städtischen Finanzen mit dem Schultheißen und den vier Vennern. Im Gegensatz zu diesen war sein Amt nicht zeitlich beschränkt; dies erklärt auch die langen Dienstjahre Fränklis auf diesem Posten. Der Seckelmeister war automatisch Mitglied im ‚Kleinen Rat‘, so dass er – wie Fränkli immer wieder deutlich werden lässt – in allen Geschäften der Stadt als umfassend informiert gelten durfte. S. dazu Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 95.

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gen, der aus einer der letzten drei überlebenden Familien aus der Gründerzeit der Stadt stammt. Trotz seiner Erbitterung über den vermeintlichen Undank seiner Mitbürger wird er von Fricker als sich selbst beherrschend gegenüber plebejischer Grobheit und in Verachtung der Verdächtigungen gezeichnet. Der Fleischhacker Kistler steht für den Typus des Aufsteigers, der mit seinem Ehrgeiz am politischen und gesellschaftlichen Gefüge der Stadt rüttelt. Für Fricker sind diese Eigenschaften negativ konnotiert. Er beschreibt Kistler als von klein auf „unruewige art und natur, so […] alwegen gesuocht sich zuo erheben mer dann einem gmeinen burger von noeten were gsin.“ Dieser eiserne Aufstiegswille gibt sich selbst mit dem Schultheissenamt nicht zufrieden, er wolle sich sogar „der hargebrachten verwaltung wie sine vorfaren nit begnügen, sondern uß sinem gfallen alles regieren“.99 Zumindest in der Rede des Seckelmeisters Fränkli vertritt Fricker die Meinung, dass Kistler sich auch noch zum Tyrannen über die Stadt aufschwingen wolle.100 Trotzdem ist diese Personalisierung der Aufstiegsproblematik nicht allein auf Kistler beschränkt.101 Sie gilt der ganzen Gruppe, für die Kistler steht. Ein dritter Typus wird nach Fricker schließlich durch den Seckelmeister Fränkli verkörpert. Prinzipientreu und gerechtigkeitsliebend wird er zum Gewissen des Berner Rates gesteigert. Kommen wir damit zum Nürnberger Text: Anders als bei Fricker und Sallust sind die Figuren bei Meisterlin kaum mehr als historische Personen gezeichnet; sie sind von vornherein als Träger von Ideen konzipiert. Als Anführer verkörpern sie die drei gesellschaftlichen Gruppen, die nach Meisterlin den Aufstand tragen. In jeden von ihnen schlüpft einer der teuÁischen Geister, von denen bereits im Prolog die Rede war. Sie repräsentieren jeweils den hervorstechendsten negativen Charakterzug, den der Chronist dieser Gruppe zuschreibt. Hier wird also bereits deutlich, dass Meisterlin wie Sallust die in seinen Augen falsch handelnden Parteien moralisch diffamiert. Da Typisierung und Moralisierung untrennbar verquickt sind, sei die Reihenfolge der sieben Thesen hier aufgebrochen: Die erste Gruppe, die sich gegen den alten Rat verschwört und seinen Sturz beschließt, ist die der „Müßiggeher“, modern gesprochen ‚Privatiers‘, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten.102 Erlauben konnte sich den Müßiggang nur die ökonomische Elite der spätmittelalterlichen Städte, im Bestreben, die Lebensformen des Adels zu imitieren. Bei Meisterlin ist der „Müßiggeher“ – wie auch bei seinem Vorbild Sallust103 – negativ konnotiert: Mit dieser Gruppe ist der Kreis 99 Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 170. 100 Ibid., S. 171. Nach Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 99, spricht daraus die Angst des oligarchischen Regiments vor der ‚Signorie‘ eines Aufsteigers, während südlich der Alpen die Signorie längst auf dem Weg zum Prinzipat war und damit ihre Illegitimität ablegte. 101 So schon Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 92 f. 102 Vgl. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 6, S. 131–133. 103 Vgl. etwa Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 4, S. 10 f., Kap. 17, S. 26 f. Diese Einschätzung war dem Autor sicher auch aus der didaktischen Dichtung seiner eigenen Zeit bekannt, etwa aus einem Spruch von Hans Rosenplüt, der Kritik an denen übt, die

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der Ànanziell potenten Oberschicht gemeint, die allerdings als nicht ratsfähig galt; bei Sallust fand Meisterlin für sie das Etikett „homines novi“.104 Bezeichnend für ihren Aufsteigerwillen wählt Meisterlin auch den Geist, den er in sie schlüpfen lässt: Es ist die „hoffart“, die Arroganz oder Anmaßung.105 Den zweiten Geist, den der Satan aussendet, lässt Meisterlin in eine Meute von Handwerkern schlüpfen. Es ist die Todsünde des Neides, der sich für seine Mission einen Mann mit einem „gaißbart“ aussucht.106 Hier greift Meisterlin einen historischen Namen auf, ein Mann namens Geißbart ist unter den verurteilten Aufständischen belegt,107 auch der späteren Historiographie sind die Aufrührer als Geißbärte bekannt.108 Für die Funktion des Textes offensichtlicher ist die metaphorische Bedeutung: Mit diesem Namen ließen sich die aufständischen Handwerker als stinkende Böcke diskreditieren. Außerdem war der Bock Meisterlins Lesern aus dem Lasterkatalog der sieben Todsünden als Symbol der ‚luxuria‘ vertraut.109 Der dritte höllische Geist schließlich, die Besitzgier, schlüpft in das schon bei Sallust viel geschmähte „pöfelvolk“, die gesellschaftliche Unterschicht.110 Für sie führt Meisterlin keinen eigenen Anführer ein, sie gelten im sallustischen Sinn als anonyme, sprachlose Masse, die von außen gelenkt wird. 4) Technik der direkten Rede Die Steigerung der Figuren zu Typen proÀtiert in den beiden spätmittelalterlichen Texten wie schon bei Sallust vor allem auch durch die Technik der direkten Rede. Beginnen wir wieder mit Thüring Fricker, dessen Text in weiten Teilen überhaupt nur aus Reden, gehalten vor dem kleinen und großen Rat, besteht.111 Für moderne Leser befremdlich ist die Wiedergabe dieser Reden: Meist fängt Fricker an, ihre Inhalte in indirekter Rede und damit in der dritten Person zu referieren. An zentralen oder brisanten Stellen dagegen wechselt er unvermittelt in die erste Person und in die direkte Rede. Diese Reden werden meist nur durch wenige Passagen mit Ereignisschilderungen durchbrochen bzw. verbunden, so dass Frickers Text sicher

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nicht wie „hantwerkman“ und „pawer“ ihr Brot sauer verdienen müssen, sondern Zeit und Geld nutzlos verprassen. Hans Rosenplüt, Reimpaarsprüche und Lieder, ed. Reichel, Nr. 12, S. 125– 131, hier V. 20–24, vgl. auch den Kommentar ibid., S. 292–294, mit Reichels Erklärung, dass unter den Müßiggängern die Mitglieder der städtischen Oberschicht verstanden werden müssen; s. auch ders, Handwerk und Arbeit im literarischen Werk des Nürnbergers Hans Rosenplüt, S. 255–260. Vgl. explizit den Begriff in Sallust: Bellum Iughurtinum, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 4, S. 102 f. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 6, S. 131. Ibid., Buch 3, Kap. 7, S. 133 f., hier S. 133. Die Acht-, Verbots- und Fehdebücher, ed. Schultheiß, S. 45 und S. 71–78. Deutsche Weltchronik, ed. Hegel und Lexer, S. 275. So etwa Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 7, S. 134, Kap. 10, S. 140, Kap. 11, S. 141, Kap. 12, S. 143. Vgl. Hünemörder, Art. „Bock“. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 12, S. 142 f. Vgl. etwa Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, S. 12 und S. 60–62. Zur Bedeutung der Reden s. bereits Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 95.

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kaum mit dem sallustischen Spiel mit wechselnden Erzählgeschwindigkeiten mitzuhalten vermag. Vor allem die Reden des Säckelmeisters Fränkli erscheinen aus moderner Perspektive weitschweifend, ja langatmig. Regula Schmid hat anhand der Edition grob ausgezählt, dass – während Kistlers und Gefellers Voten mit einer Ausnahme knapp und meist in indirekter Rede zusammengefasst sind – Fränklis Reden beinahe die Hälfte des Gesamtwerkes ausmachen.112 Für den Herausgeber Studer war dies 1877 ein Indiz, dass Fricker sie unverkürzt, „authentisch“ habe wieder geben wollen.113 Plausibler ist, dass die Redeanteile bewusst verteilt wurden: Der Seckelmeister Fränkli darf deshalb am längsten reden (und dies zugleich am häuÀgsten in der ersten Person), weil er in Frickers Augen Recht behält. Auch die rhetorisch geschulte Anordnung der Reden in den einzelnen Kapiteln ist verräterisch: Zuerst erläutert Kistler (selten sein Parteigänger Gfeller) die gegnerische Position; dann darf der besonnene Fränkli darauf antworten. Ganz am Schluss steht die ‚Umfrage‘ im Rat, das heißt die Abstimmung über die vorgetragenen Standpunkte. Hier muss sich der Leser nun gemeinsam mit Fricker wundern, weshalb der Rat über weite Strecken des Textes falsch zugunsten Kistlers entscheidet – erst ganz am Ende des Werks, nach der Peripetie, wird sich das Blatt zugunsten Fränklis wenden. Arnold Esch hat kommentiert, dass Fricker immerhin fair genug gewesen sei, auch Kistlers Reden die Suggestion zu geben, die sie im Großen Rat gehabt haben müssen.114 Statt mit seinem Gerechtigkeitssinn ließe sich das auch mit Frickers Sallust-Lektüre erklären: Auch Catilina ist schließlich kein tumber, sondern ein redegewandter und damit umso gefährlicherer Verschwörer. Auch bei Sallust schon waren die Redner nicht in ihrer individuellen Eigenart porträtiert, sondern ihre Ansprachen bewusst nach rhetorischen Gesichtspunkten gestaltet. Bei Fricker Àndet sich so etwa bei allen Rednern das Mittel der rhetorischen Frage eingestreut, die nicht nur die Zuhörer in der Ratssitzung auf der Textebene, sondern ebenso Frickers Leser anzusprechen vermag.115 Die mitgeteilten Reden der Wortführer beider Seiten sind demnach eben nicht protokolliert, sondern die Szenen – mit den Worten Arnold Eschs – gewissermaßen nachgestellt worden.116 Meisterlin dagegen wusste die Technik der direkten Rede sehr viel sparsamer, damit aber auch effektvoller als Fricker einzusetzen. Als Strukturelement seiner Schilderung fallen drei Reden ins Augen, eine aus den Reihen der Müßiggeher, die zweite wird durch den Anführer der Handwerker gehalten, die dritte hält – während die Plebs stumm bleibt – ein namenloser Ratsbote, der die in Meisterlins Augen 112 Vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 54 f.: 75 von 168 Seiten Textabdruck in der Edition. 113 Vgl. Studers Vorwort in Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. VII. S. dazu auch oben Anm. 80. 114 Vgl. Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 91. 115 Für weitere Indizien vgl. Schmid, Reden, Rufen, Zeichen setzen, auf S. 64–66 am Beispiel einer Rede des – kaufmännisch und nicht universitär gebildeten – Fränkli, die Fricker offensichtlich nach dem Modell der fünfteiligen Gerichtsrede strukturierte. 116 Vgl. Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 91.

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legitime Obrigkeit repräsentiert.117 Als Beispiel sei die Rede der Müßiggeher vorgestellt, die am engsten von allen Partien an Sallust angelehnt ist: Hier proÀtierte Meisterlin bis hin zu wortwörtlichen Übernahmen stark von der Brandrede, mit der Catilina seine Mitstreiter zur Tat motivieren wollte.118 Meisterlins Redner beginnt mit dem unverblümten Appell an seine Partei, sich nicht länger von einer korrupten Minderheit beherrschen zu lassen. In einer langen Anklage versucht er seine Àktive Zuhörer- wie reelle Leserschaft zu überzeugen, dass die Nürnberger Ratsoligarchie einer Willkürherrschaft gleiche. Alle Ehren, alle Privilegien und allen Reichtum besäßen allein die Ratsmitglieder und ihre Günstlinge. Statt dem „gemainen nutz“ zu dienen, beute dieses Regime die Gemeinde nur aus. Den Aufrührern werde die Beteiligung an der Politik verweigert, obwohl sie doch „in keiner sach minder geschickt“ dafür seien, sondern genauso „weise und wol gesittet“, also gleichermaßen intellektuell wie moralisch befähigt. Es sei „beßer […] schnell sterben, dann under so angenomen gewalt leben“, so statuiert der Aufrührer.119 Bei Meisterlin wird damit noch deutlicher als bei Fricker: Es ist die Technik der direkten Rede, die dem Autor erlaubt, auch die Argumente der Gegenpartei in ihrer schillernden Verführungskraft darzustellen, ohne selbst in den Ruch zu geraten, auf der falschen Seite zu stehen – so werden Fricker und Meisterlin zumindest gehofft haben. Es stellt sich freilich die Frage, wie der subversive Tenor dieser Reden bei ihrem Publikum, allen voran bei ihren Mäzenen ankam; sie soll im Schlusskapitel noch einmal aufgegriffen werden. 5) Moralische Motivierung der Handlung Kommen wir hier stattdessen auf die zentrale These für Sallusts Rezeptionserfolg zurück, dass sich die spätmittelalterlichen Autoren bei Sallust auch von der moralischen Motivierung der Handlung inspirieren ließen. Bei Meisterlin ist es ja schon die Erzählstruktur durch die drei teuÁischen Geister, die den Aufstandsbericht moralisch auÁädt. Indem sie in die menschlichen Protagonisten schlüpfen, werden diese sozusagen zu personiÀzierten Lastern: Zum Anführer der „Müßiggeher“ wird damit die „hoffart“, die Arroganz. Zum Anführer der Handwerker wird der Neid. Die „plebs“ schließlich wird – und hier ist nicht einmal mehr ein menschliches Gefäß nötig – direkt vom Geist der Besitzgier ergriffen. Diese Beobachtungen lassen sich mit einem weiteren Blick in Meisterlins Text problemlos vermehren. Auch bei der Beschreibung der alten und in Meisterlins Augen legitimen Ratsherren legt der Autor moralische Beurteilungen als Maßstab an: Breit schildert er zuerst, welche Untugenden ihnen durch die Aufrührer vorgeworfen werden, darunter Tyrannei, Hinterlist, Geiz, Verstocktheit und Hochmut. Meisterhaft kontrastiert er diese Diffamierungen dann mit einem Tugendkatalog, mit Gerechtigkeit, Fürsorge, Weis117 Vgl. Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 6, S. 132 f., Kap. 7, S. 133 f. und Kap. 10, S. 138–140. 118 Vgl. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 20, S. 30–33. In der Edition ist sie als „Catilinas Demagogie“ überschrieben; Schmal: Sallust, S. 31, charakterisiert sie als die „nicht unheroische[n] Rede eines Räuberhauptmannes“. 119 Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 6, S. 132.

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heit, Maße, Beständigkeit und Ernsthaftigkeit.120 Sie würden dem alten Rat von den Aufständischen zwar abgesprochen, in Meisterlins Text aber besitzt er sie in vorbildlicher Weise. Diese Abstrahierung vom historischen Geschehen – man kann beinahe von einer Enthistorisierung der Aufstandsgeschichte sprechen, deren Verlauf statt dessen auf sozusagen anthropologische moralische Kräfte zurückgeführt wird, – liegt natürlich auch darin begründet, dass der Aufstand schon eineinhalb Jahrhunderte zurücklag. In seinem konkreten Geschehen war er wohl schon damals nicht mehr exakt rekonstruierbar. Anders ist das bei Thüring Fricker, der als Augenzeuge und Akteur ganz nah am Geschehen war. Von Seitenhieben auf die Figur Kistlers abgesehen,121 kommt es bei ihm kaum zu einer moralischen Motivierung der Handlung. Tugenden und Untugenden werden also nicht – wie bei Sallust und noch plakativer bei Meisterlin – zu Triebfedern der Handelnden. Stattdessen tauchen die moralischen Be- und Verurteilungen vor allem als Argumente in den Reden der Protagonisten auf. Als Beispiel sei hier die Rede des Adrian von Bubenberg genannt. Darin legt er den Handwerksmeistern vor allem zwei charakterliche Fehler zur Last: Erstens zeiht er sie des maßlosen Ehrgeizes – eben noch arme Gesellen, wollten sie nun „groß junkherrn“122 sein. Sein zweiter Vorwurf an die Handwerker lautet, sich am Rat persönlich bereichern zu wollen – er wirft ihnen also Geldgier und Eigennutz vor. Selbst kleinste Spesenbeträge würden sie der Stadt in Rechnung stellen. Er dagegen habe seine großen diplomatischen Reisen zum Kaiser oder an andere Herrscherund Fürstenhöfe, die entsprechend großen Aufwand erforderten, stets aus eigener Tasche gezahlt.123 Auch hier sind es also moralische Vorstellungen, die die Argumentation dominieren. So wie sie hier eingesetzt werden, sind sie allerdings kaum auf eine bewusste Sallust-‚Imitatio‘ zurückzuführen, sondern müssen als zeitgenössischer Allgemeinplatz gelten. 6) Propagierung eines blockartigen Gesellschaftsmodells Dieselbe Vorsicht gilt zumindest für den Frickerschen Text auch für die nächste These zum Sallustischen Rezeptionserfolg, die Propagierung eines klaren, blockartigen Gesellschaftsmodells. Unzweifelhaft dachte sich auch Fricker die sozialen Gruppen als feste Blöcke. Seine polemische Gegenüberstellung von „Adel“ und „gemeinem Bürger“ lässt damit zu wenig erkennen, wie Áießend die Übergänge zwischen diesen sozialen Gruppen im Bild der aktuellen Forschung erscheinen und wie uneinheitlich ihre Zusammensetzung im 15. Jahrhundert noch war. Im Adel etwa standen neben Geschlechtern aus altem Ministerialadel wie den Bubenberg 120 Ibid., Buch 3, Kap. 7, S. 132. 121 Von Beginn an wertet Fricker die über Kistler rapportierten Voten etwa als „hitzige grobe red“, in der er die „geschlechter mechtig verunglimpfet“ (Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 59) oder als voller „hitziger, giftiger worten“ (ibid., S. 73), um den Kontrahenten gegen Ende hin als immer unÁätiger und boshafter zu zeichnen: In der letzten Ratssitzung „schmützt“ er schließlich „grüsenlich“ die Twingherren und ergieße „ein groß gespei“ über die berechtigten Darstellungen seiner Gegner (ibid., S. 175). 122 Ibid., S. 70. 123 Ibid., S. 68 f.

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auch Familien wie die Diesbach, die aus Handel und Gewerbe sozial aufgestiegen waren.124 Aber ein solches Denken in Blöcken allein lässt nicht zwangsläuÀg auf Frickers Sallust-Lektüre schließen; auch dieses Blockdenken war Allgemeingut der Zeit. Deutlich stärker ist Sallusts EinÁuss dagegen wieder bei Meisterlin: Als deutliche Parallele erscheint in beiden Texten die Rolle der „Plebs“, der unteren Volksschichten. Sie wird als unvernünftige Masse beschreiben, die durch Demagogen aufgewiegelt zum plündernden und brandschatzenden Mob avanciert. Doch Meisterlin übernahm nicht nur die „plebs“, sondern auch andere bei Sallust vorgeprägte gesellschaftliche Ordnungsbegriffe, so neben der „nobilitas“ auch die „homines novi“ – ohne sich darum zu kümmern, dass zwar die BegrifÁichkeiten fortdauerten, nicht aber die gesellschaftlichen Gruppierungen, die Sallust damit benannt hatte. Er besetzte sie so um, wie sie in seine Weltsicht passten: Als Beispiel seien Sallusts scharfe Ressentiments gegen die „nobilitas“ genannt, die er als degeneriert und dekadent beschreibt, da sie sich nur noch auf den Lorbeeren ihrer Herkunft ausruhe. Für Meisterlin dagegen war die Aristokratie der führenden Geschlechter Nürnbergs, die er immer wieder postuliert, der zentrale Ausweis für ihre Idoneität und Legitimität. Die dem Adel bei Sallust vorgeworfenen Untugenden übertrug Meisterlin stattdessen auf die Gruppe der „homines novi“, der Aufsteiger – also der „Müßiggeher“. 7) Teleologische Strukturierung Kommen wir damit zum letzten Vergleichspunkt, der teleologischen Strukturierung der Texte im Sinne einer Verfallsgeschichte und damit verbunden als Erklärungsmuster die Kontrastierung zwischen guter alter und entgleister neuer Zeit. Hier sind sich alle drei Autoren über die Zeit hinweg einig: Schon Sallust warnt heftig vor der „novarum rerum studio“, die weniger als Freude an der Neuerung, als vielmehr als Lust am Umsturz übersetzt werden muss.125 Dieselben Worthülsen tauchen auch bei Meisterlin und Fricker auf. Nach Meisterlin sind es die „müeßiggeer und gaßentretter“, die „auf dem markt steen und warten, wo einer kem mit einem sack newer mere, und begerten auch alle zeit, daß etwas newes wurd angefangen und altes hingelegt.“126 Und auch bei Fricker ist die Warnung vor der „nüwerung“ im pejorativen Sinn ein zentrales Thema,127 das in der Charakterisierung gleich beider Wortführer im Rat expliziert wird: Peter Kistler wird diffamiert als einer, der „von ju-

124 Vgl. dazu Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 90, und Gerber: Gott ist Burger zu Bern, S. 294 f. 125 Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 37, S. 50–52. 126 Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 6, S. 131. 127 S. Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 40: „nüwfundig oder ufruerisch“ (als Charakterisierung Gfellers), S. 57: „nüwerungen […], die sich noch nienen keinem rechten gemeß hettend funden“, S. 68 und 73: Tirade des Adrian von Bubenberg gegen die „nüwe[n] Berner“ bzw. „nüwlinge“ in Bern mit „ire nüwerungen“, S. 90: „seltzame nüwerung“, S. 146: Furcht Fränklis vor „disem unserem nüwen verkerten regiment“, usw.

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gendt uff nüwe ding gsuocht“ habe.128 Sein Gegenspieler Fränkli dagegen wird als integre Person gewürdigt, die wiederum „von jugendt uff … all nüwerungen und unghorsamme“ vermieden habe.129 Nach Fricker ist es Fränkli, der für Kistlers Partei den Begriff der „stattkelber“ prägt: Sie seien „nüt glert“, hätten „nüt gseen, nüt erfaren“ und nie die Mauern der Stadt verlassen, ihnen fehle also der Horizont, die WeltläuÀgkeit, die Erfahrung. Zugleich neigten sie zum „prassen“ und zum „muossiggang“, sie seien für jede Tätigkeit und Weiterbildung zu bequem und versuchten stattdessen „dem volk mit miet und gaben zuo geleben“.130 Ob Fricker mit seinem Twingherrenstreit eine Verfallsgeschichte plante, darüber lässt sich angesichts des verstümmelten Schlusses nur noch spekulieren. Bei Meisterlin scheint auch hier das sallustische Vorbild stärker durch: Auch sein Text erzählt die Aufstandsgeschichte der Jahre 1347/48 als lange unaufhaltsame Geschichte des Niedergangs hin zu Chaos, Despotie und Dekadenz. Aber es gibt auch eine entscheidende Differenz zwischen Meisterlin und Sallust: Nach Sallusts Diagnose ist die Catilinarische Verschwörung Symptom für eine pathologische Krise der ‚res publica‘, pathologisch deshalb, weil sie im Niedergang endet. In Meisterlins Chronik dagegen erlebt das Gemeinwesen am Ende eine Peripetie: Wie ein ‚deus ex machina‘ erscheint Karl IV. auf der Bühne und veranlasst mit der Rückkehr des alten Rates die Rückkehr der guten, alten Ordnung. Meisterlin erzählte letztendlich keine Verfalls-, sondern eine Erfolgsgeschichte. Die Krisenbewältigung am Schluss wird damit zum Impuls für die kollektive Selbstvergewisserung und gesellschaftliche Integration. Conclusio Am Anfang dieser Überlegungen stand die Frage, was das Interesse an Sallusts Werken im Mittelalter bis ins 15./16. Jahrhundert lebendig hielt. An den Beispielen Thüring Fricker und Sigmund Meisterlin sollte überprüft werden, ob und inwiefern die „Coniuratio Catilinae“ eine kongeniale „Meistererzählung“ bot, die spätere Krisenberichterstatter in ihrer Erzählform und in ihren ethisch-politischen Argumenten 128 Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 170. Kistler selbst rechtfertigt sich freilich hitzig, er „schetze einen dreytaegigen Berner, wie sy’s [seine Gegner] namsind, mer, so der statt das iren gern erhielte und deren fryheiten beschirmte, dann dise alten“, vgl. ibid., S. 59. S. Schmid: Reden, Rufen, Zeichensetzen, S. 128–132. 129 Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 113. Zwar hat auch Fränkli seinen Erstlingsstolz, wie Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 96, bemerkte: So streicht nicht nur Kistler heraus, dass Fränkli „der erst sekelmeister in dieser statt von den handtwerken oder gmeinen burgeren“ (Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 106) gewesen sei. Auch Fränkli selbst betont dies in seiner Rechtfertigungsrede über sein Leben und sein Amt, ibid., S. 128, freilich verbunden mit dem Bescheidenheitstopos, dass ihn das Angebot anfangs schamrot gemacht habe. Zugleich legt er Wert auf die Feststellung, er habe dieses Amt nicht angestrebt, sondern es sei ihm wegen seiner Leistungen angetragen worden. 130 Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 118, 119 und 125. Vgl. dazu Esch: Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 97.

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nachhaltig beeinÁusste. Man muss freilich im Auge behalten – das hat die Analyse der beiden Texte klar ergeben –, dass der Grad und die konkrete Form der Sallust‚Imitatio‘ sich sehr unterschiedlich ausgestalten konnten. Sigmund Meisterlin, so sollte deutlich geworden sein, ist von seiner Vorlage stark geprägt, wiewohl er Sallust namentlich nicht erwähnt. Fricker dagegen, auch wenn er die antike VerschwörerÀgur Catilina explizit nennt, verdankt ihm deutlich weniger: Regula Schmid hat daher als Anregung für Fricker denn mehr als eine literarische Vorlage das formale Vorbild der Gerichtspraxis mit ihrer dialogischen Struktur Klage – Antwort, Rede – Widerrede stark gemacht.131 Frickers gelehrte Verweise auf Figuren der römischen Geschichte, neben Catilina auch Cato, Hannibal, Hanno, Julius Caesar132 – führt sie nicht auf sein Studium der antiken Originaltexte zurück, sondern nimmt als Quelle mittelalterliche Exempla- und Sentenzensammlungen wie die des Valerius Maximus an, deren „AssoziationsÁuss“ er auch mit seinen Lesern teilte.133 Es bleibt daher bei einer solchen ‚Versuchsanordnung‘ immer Vorsicht angebracht, wie viel die Autoren tatsächlich einer direkten Sallust-Rezeption verdanken, was ihnen dagegen als Amalgam verschiedener und ununterscheidbarer Provenienz und damit als geistiges Allgemeingut der Zeit präsent war. Schließlich darf der Fokus auf die Sallust-Imitatio auch nicht den Blick auf andere Prägungen verstellen, die den spätmittelalterlichen Chronisten den Stoff zu formen halfen: Die teleologische Strukturierung der Texte, die hier auf die gelehrte Antikenrezeption zurückgeführt wurde, ist mindestens ebenso plausibel, wenn nicht noch mehr auf das Denken in heilsgeschichtlichen Koordinaten zurückzuführen. Gerade in Meisterlins Text sind schließlich nicht etwa antike Heroen, sondern ‚überirdische‘ Akteure am Werk. Neben die die Handlung antreibenden höllischen Geister treten im entscheidenden Moment der Peripetie auch die wichtigsten Heiligen der Stadt: Sie – so erklärt Meisterlin – „patten got umb stant dieser stat“ und bewogen ihn trotz der „großen sünt, die in der stat beschahen“ dazu, letzlich „alle ursach zu dem besten“ zu wenden.134 Und auch bei Fricker taucht der Satan an prominenter Stelle im Text auf – bei der für den Autor provozierenden Wahl des 131 Vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 59. 132 Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. 20, 56, 76, 170 f. 133 Vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 60–62. In der Forschung wird diskutiert, wie stark Fricker durch sein antikes Vorbild geprägt wurde: Urs Zahnd: „… zu ewigen zitten angedenck …“, S. 192, erkennt in Frickers Text klar das Bemühen, den Twingherrenstreit in Aufbau, Stilmitteln und Syntax am Muster der Coniuratio Catilinae zu orientieren; Arnold Esch, Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels, S. 91, sieht dagegen wie Schmid die Vorbildwirkung auf gelegentliche Parallelisierung – wenn Kistler als Catilina oder Hannibal, Fränkli als Cato oder Hanno bezeichnet wird – beschränkt. 134 Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, Kap. 15, S. 148. Auch sonst sind Engel wie Teufel in der Aufstandsgeschichte omnipräsent, so schon am Anfang, ibid., S. 128, wenn Meisterlin den Frieden und das gute Regiment des Rates in der Stadt dem „angelus pacis“ zuschreibt. Der Aufruhr ist mehrfach als Initiative des „Belial“gebrandmarkt, so im selben Kapitel, S. 129. Auf welcher Seite Gott zu sehen ist, wird unzweifelhaft deutlich in der Rede des Ratsboten in ibid., Kap. 10, S. 140: „es zimbt einem rate, daß er got vor augen hab, euch in der gemain, daß ir einen rat vor augen habt, wann sie seint etwas gegen euch ein gestalt des götlichen gewalts“.

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Fleischhackers Kistler zum Schultheißen an Ostern, wobei der besondere Termin zugleich den Anlass liefert, dem Geschehen eine biblische Dimension zu verleihen: „ist der satan da gsin, der in Judam fuor uff dem hohen donnstag“.135 Diese Ereignisse sind in Frickers Gedächtnis zugleich fest mit unheilvollen Zeichen verbunden, die er am selben Tag am Himmel beobachtet haben will.136 Ganz am Ende seines Berichts legt Fricker dem Seckelmeister Fränkli schließlich in den Mund, dass all die verhängnisvollen Entscheidungen „uß Lucifers rathuß harkon“137 seien – es scheint beinah, als sei auch in Kistler und seine Parteigänger wie in Meisterlins Protagonisten ein böser Geist geschlüpft. Damit stellt sich also erneut die Frage nach der Reichweite von ‚Meistererzählungen‘ (wenn man denn die „Coniuratio Catilinae“ wie auch die biblischen ‚Heilsgeschichte‘ gleichermaßen als solche anerkennen möchte): Wie viel ist überhaupt im klassischen Sinn gelehrte Tradition, wie viel ist stattdessen Erzähllogik, die sich nicht aus Textvorlagen, sondern zwangsläuÀg aus der Analogie der Situation ergibt? Sind bei Krisenwahrnehmungen und Krisenerzählungen also unabhängig von literarischen Traditionen analoge Verläufe und damit einhergehend ähnliche ‚anthropologische‘ Denkstile dingfest zu machen?138 Es gibt sicher gute Gründe, den in diesem Beitrag betonten EinÁuss narrativer Muster zu relativieren. Dies tat demonstrativ bereits einer der besten Kenner der Sallust-Rezeption im Mittelalter, Antonio La Penna, in einem Aufsatz über die Sallust-‚Imitatio‘ bei Leonardo Bruni: Zwar stellt er den EinÁuss Sallusts auf Bruni als zentral für dessen politisches Programm – für den Kampf für die Freiheit und das Streben nach einer Staatsform, die der Willkür des Adels nicht ausgesetzt sein sollte – heraus. Trotzdem schließt La Penna mit der Erklärung, er wolle mit seiner Untersuchung keinesfalls den Ein-

135 Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 79. Ibid., S. 124, bezeichnet Fricker seinen Gegner Kistler als „hochpriester uff dem karfrytag, der da sagt, es were dennoch weger, das ein mensch umkaeme, denn das ganz volk, unangseen das der mensch unschuldig were“, auf S. 125 f. wiederum ironisch als „lütpriester uff dem rathaus“. S. dazu Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 62, mit dem Verweis auf biblische Vorlagen für diese Anspielungen. S. auch Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 119, mit der düsteren Prophezeiung in Fränklis Rede: „und so denn die maß voll wirt, so kumpt denn der schlegel, das ist die unhuld Gottes, so von noeten volgen muoß, der zerschlacht’s alles in boden.“ 136 Vgl. Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 80: „O des ungfelligen tags! und als wir den himmel erkundet, fundent wir boese, widerwertige zeichen umb das gestirn diser statt troeuwende unruow und uffruor.“ 137 Fricker: Twingherrnstreit, ed. Studer, S. 187. Schon in der Passage davor warnt Fränkli, Gott sei zornig, er habe die Weisheit Kistlers in Torheit verkehrt und damit ihn und sie alle gestraft. 138 Es tut nichts zur Sache, dass der Begriff der „Krise“ den spätmittelalterlichen Autoren noch fehlte – sie kannten jedoch andere Worte, um die Ernsthaftigkeit der Lage zu charakterisieren: Frickers Antrieb ist die Furcht vor „grosser ufruor diser statt und umb ligender landtschaft“ (Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer S. 92), er konstatiert „grosse spaen und zwytracht“ (S. 135), Meisterlin umschreibt den Gegenstand seiner „histori“ immer wieder mit „auÁauf“ (Meisterlin: Chronik der Reichsstadt Nürnberg, ed. Kerler und Lexer, Buch 3, S. 151) oder „aufruer“ (S. 142), „zwitrechtigkeit“ (S. 130), „conspiration“ (S. 130) und „verreterei“ (S. 149).

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druck erwecken, dass er den Büchern bei der Formung politischer Haltungen und Ideen zu hohe Bedeutung beimesse.139 Dieses Diktum gilt vielleicht in besonderem Maße für das Werk, das die Forschung – wie bereits oben erwähnt – zum Musterbeispiel für die Sallust-Imitatio im späten Mittelalter gekürt hat: Angelo Polizianos „Pazzi-Verschwörung“ im MediciFlorenz des Jahres 1478. Lässt man die hier aufgestellten Kriterien zu Sallusts Attraktivität noch einmal an Polizianos Werk Revue passieren, so fällt das Ergebnis gemischt aus. Einerseits konnte und sollte der gebildete Leser schon in den Anfangszeilen ein Sallust-Zitat erkennen.140 Wie Sallust gab Poliziano seinem Text außerdem eine klare Form, die nicht allein durch die dramatische Einheit von Zeit, Ort und Handlung an literarische Gattungstraditionen erinnert.141 Zugleich wählte Poliziano einen symmetrischen Aufbau, der am Ende in einem Porträt des dem Attentat zum Opfer gefallenen Helden Giuliano gipfelt, während ausführliche Charakterisierungen der Verschwörer am Anfang stehen. Auch in diesen Porträts scheint seine Vorlage deutlich durch: Zum Teil wortgleich mit Sallusts Beschreibung des Catilina wird schon in der Physiognomie des Anführers Jacopo Pazzi der verdorbene Charakter des Bösewichts gespiegelt.142 Massiv griff Poliziano schon auf den ersten Seiten also zur ebenfalls bei Sallust vorgeprägten ‚Moralkeule‘, um von Beginn an die Familie Pazzi insgesamt, ihren Charakter und ihre Motive klar zu verurteilen – nicht nur auf den Seiten der Bürger, sondern auch im gemeinen Volk, so erklärt er, seien sie wegen ihrer Gier, Arroganz und Skrupellosigkeit verhasst gewesen.143 Andererseits werden hier freilich auch die ersten Schwierigkeiten offenbar, die Poliziano mit der Formung seines noch ganz von der Aktualität und Komplexität der Ereignisse zerrütteten Stoffes hatte: Es Àel ihm augenfällig schwer, das durchaus große Feld der Verschwörer, ihrer Handlanger und Sympathisanten auf eine handhabbare Zahl an Protagonisten zu reduzieren.144 Mag ihm dies noch als ‚handwerkliches‘ DeÀzit ausgelegt werden, so steht hinter einem zweiten, damit ver139 Vgl. La Penna, Die Bedeutung Sallusts, S. 276. 140 Vgl. dazu Poliziano: Della Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. 3, und Welles’ Einleitung in Poliziano: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 298. 141 S. dazu Welles’ Einleitung in Poliziano: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 300. 142 So haben beide Anti-Helden eine blasse und blutleere Gesichtsfarbe, sie teilen das stete Zucken des Kopfes und den bald hastenden, bald schleppenden Gang, die von den Autoren übereinstimmend als Zeichen für ihre Nervösität und Verschlagenheit gedeutet werden. Sallust: Catilinae coniuratio, ed. Eisenhut und Lindauer, Kap. 15, S. 25. Poliziano: Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. 7, und ders.: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 306. 143 Vgl. Poliziano: Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S.5, und ders.: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 305. 144 Im Bemühen, seine Ausführungen stärker zu strukturieren, zieht er daher innerhalb der Personenporträts am Anfang das Zwischenfazit, dass nach sieben Florentiner Verschwören nun die mit ihnen paktierenden auswärtigen Verbrecher folgen, vgl. Poliziano: Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. 19, und ders.: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 309. Außerdem trifft er eine klare Gewichtung, indem er gleich zu Beginn Jacopo und Francisco Pazzi sowie Francesco Salviati explizit als Köpfe des Aufstands bezeichnet, vgl. Poliziano: Congiura

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knüpften Befund vermutlich volle Absicht: Denn auch bei Poliziano lässt sich eine Steigerung der Figuren zu Typen konstatieren. Allerdings viel platter als Sallust, Fricker und Meisterlin unterscheidet Poliziano die von ihm geschilderten Kontrahenten nach dem simplen Muster untadelig ‚gut‘ versus abgrundtief ‚böse‘. So fehlt Jacopo Pazzi all die Strahlkraft, die Sallust seinem Catilina trotz dessen verdorbenen Charakters etwa durch einen durchaus heroischen Tod auf dem Schlachtfeld verlieh.145 Vor allem aber fehlt ihm die rhetorische Suggestivität, die aus Catilinas Rede an seine Mitverschwörer spricht: Anders als bei Meisterlin und bei Fricker hat Poliziano auf das Stilmittel der Reden ganz verzichtet; seine Verschwörer bleiben also sprachlos. Es liegt nahe, diese Entscheidungen mit politischer Vorsicht zu begründen. Die Situation der Medici, als deren Sprachrohr Poliziano sich begriff, war nach dem Attentat offenbar zu fragil, um die Motive der Verschwörer in ihrer Verführungskraft offen zu thematisieren. Es lässt sich sogar fragen, ob Polizianos Werk wirklich angemessen als ‚Krisenerzählung‘ zu bezeichnen ist: Denn anders als Sallust, Meisterlin und Fricker suchte Poliziano offensichtlich kein gesellschaftliches Panorama darzustellen, in dem verschiedene soziale Gruppen um politische und ökonomische Teilhabe ringen. Bei Poliziano gibt es zwar Helfershelfer aus niedrigeren Schichten; der KonÁikt bleibt jedoch ganz auf der Ebene der adligen, politisch und ökonomisch auch zuvor bereits dominierenden Elite. Anders als bei Sallust, Meisterlin und Fricker wird das konkrete Ereignis demnach auch nicht als Symptom für eine weiterreichende, grundsätzliche Krise diagnostiziert. Und so war Poliziano unzweifelhaft der pedantischere Imitator Sallustischer Stilmittel und Wendungen; in der Geisteshaltung kommt dem antiken Autor jedoch wohl Thüring Fricker am nächsten. Und noch ein signiÀkanter Unterschied zwischen Angelo Polizianos einerseits und Thüring Fricker wie Sigmund Meisterlin andererseits sei angeführt: Während Polizianos Werk von vornherein für den Druck und damit eine weite Verbreitung geschrieben war, teilen die beiden deutschen Chroniken das Schicksal, in ihrer Entstehungszeit vergessen, ja tabuisiert worden zu sein; und das, obwohl sich beide Autoren als treue Lobbyisten der Nürnberger und Berner Ratspolitik verstanden und zumindest Meisterlin für sein Werk auch auf eine breitere Wahrnehmung hoffte.146 Stattdessen blieb seine Dramatisierung der Aufstandsereignisse von 1347/48 dei Pazzi, ed. Perosa, S. 13, und ders.: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 307. 145 Wie auch die übrigen Verschwörer wird Jacopo Pazzi nach seinem Geständnis aufgeknüpft; als seine letzten Worte rapportiert Poliziano, er habe seine Seele wütend dem Teufel überantwortet. Dass er trotzdem in geweihter Erde bestattet wurde, nimmt der Pöbel wenige Tage später zum Anlass, seinen Leichnam auszugraben und auf übelste Weise zu schänden, wie Poliziano im Detail berichtet; am Ende wird er in den Arno geworfen. Vgl. Poliziano: Congiura dei Pazzi, ed. Perosa, S. 52 f. und S. 58–60, und ders.: The Pazzi Conspiracy, eingel. und übers. von Welles, S. 319 und 320–322. 146 Vgl. dazu Meyer: Die Stadt als Thema, S. 175–178. Über das von Fricker intendierte Publikum ist sich die Forschung uneins, nach Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 69 f. und 265, ist sein Werk nicht für ein breites Publikum geschrieben, sondern als persönlicher Rechtfertigungsversuch zu verstehen.

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vier Jahrzehnte lang beinah ungelesen, bevor sie neu entdeckt werden sollte. Noch drastischer gilt dies für Fricker: Die früheste Handschrift, die seinen Text überliefert, stammt aus dem Jahr 1611.147 Selbst im 18. Jahrhundert fürchtete man noch die Wirkung des Textes, wie gleich mehrere Zeugnisse belegen: Der Pfarrherr Johann Rudolf Gruner etwa, Besitzer einer der sieben weiteren Handschriften von Frickers Werk und selbst Verfasser der „Deliciae Urbis Bernae“, statuierte zur Aktualität und zur Sprengkraft des alten Textes, dass „dise histori deshalb je mehr und mehr aufgewärmt wird, da die Jalousie zwischen dem Adel und der Burgerschafft noch allezeit ihre Hörner hervorschiessen lasset“. Klar streicht er zugleich auch Frickers Mut heraus, da sowohl seine Zeitgenossen wie der Chronist Diebold Schilling als auch spätere Kollegen wie Michael Stettler in seiner Schweizer Chronik von 1626 „dise so delicaten Seiten […] mit stillschweigen haben übergehen wollen, und der stadtschreiber einzig das Hertz gehabt, solche zu beschreiben“.148 Dass Meisterlins und Frickers Chroniken bewusst unterdrückt wurden, kann nur vermutet werden, und auch mögliche Gründe dafür müssen Spekulation bleiben. Doch vielleicht war es das catilinarische Faszinosum für die Verführungskräfte des Bösen, das potenzielle Förderer erschreckte und eine weitere Verbreitung ihrer Chroniken verhinderte.

147 Zur Manuskript- und Rezeptionsgeschichte vgl. zuletzt Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 39–49, die sieben weitere, teils fragmentarische Handschriften des 17. und 18. Jahrhunderts kennt. 148 Zit. nach Studers Einleitung in Fricker: Twingherrenstreit, ed. Studer, S. XVf. und XVI. Schmid zitiert mit ähnlichem Tenor den Herausgeber des ersten Druckes, Johann Jakob Bodmer, in einem Brief von 1735: Seine Klage, dass man „den wahren Zustand der alten Sachen nicht sagen darf“, nimmt sie als Indiz für Zensurüberlegungen im Vorfeld der Druckausgabe, vgl. Schmid: Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 44. S. auch den bei Schmid ibid., S. 48 f., zitierten Kommentar des Michael Stettler im frühen 17. Jahrhundert, der Frickers Werk als ein „sunderbare[s], jedoch mines Bedunkens zu sehr wider der Stadt Bern Freiheiten gestächlete[s] Traktat“ bewertet und daher nicht verwendet.

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Schmid, Regula: Reden, Rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits 1461–1471, Zürich 1995. Schmidtke, Dietrich: Art. „Etymachietraktat“, in: Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin, New York 21980, Sp. 636–639. Schneider, Joachim: Humanistischer Anspruch und städtische Realität. Die zweisprachige Nürnberger Chronik des Sigismund Meisterlin, in: Zweisprachige Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Deutschland, hg. von Rolf Sprandel, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 14), S. 271–316. Schneider, Joachim: Sigismund Meisterlin (ca. 1435–1497 oder später), Chronik der Reichsstadt Nürnberg, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hg. von Volker Reinhardt, Stuttgart 1997, S. 424–427. Schneider, Joachim: Anfänge in der Stadtgeschichte. Über Legenden in der mittelalterlichen Nürnberger Stadtchronistik und ihren historischen Auskunftswert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 87 (2000), S. 5–45. Schneider, Johannes: Die Vita Heinrici IV. und Sallust – Studien zu Stil und Imitatio in der mittellateinischen Prosa, Berlin 1965 (Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft 49). Schubert, Alexander: Zwischen Zunftkampf und Thronstreit. Nürnberg im Aufstand 1348/49, Bamberg 2008 (Bamberger Historische Studien 3). Smalley, Beryl: Sallust in the Middle Ages, in: Classical inÁuences on European culture A. D. 500– 1500. Proceedings of an international conference held at King’s College, Cambridge, april 1969, hg. von Robert R. Bolgar, Cambridge 1971, S. 165–175. Stein, Robert M.: Sallust for his readers 410–1550. A study in the formation of the classical tradition, masch. Diss. o. O. 1977. Syme, Ronald: Sallust, Berkeley und Los Angeles 1964 (Sather classical lectures 33). Vester, Helmut: Widukind von Korvei – ein Beispiel zur Wirkungsgeschichte Sallusts, in: Der altsprachliche Unterricht 21, 1 (1978), S. 5–22. Vretska, Karl: Der Aufbau des Bellum Catilinae, in: Sallust, hg. von Viktor Pöschl, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung 94), S. 73–101. Wagendorfer, Martin: Studien zur „Historia Austrialis“ des Aeneas Silvius de Piccolominibus, Wien, München 2003 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 43). Wiegand, Hermann: Willibald Pirckheimers „Bellum Helveticum“ und die antike historiographische Tradition, in: Die Pirckheimer. Humanismus in einer Nürnberger Patrizierfamilie, hg. von Franz Fuchs (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 21), Wiesbaden 2006, S. 63–71. Zahnd, Urs Martin: „… zu ewigen zitten angedenck …“ Einige Bemerkungen zu den bernischen Stadtchroniken aus dem 15. Jahrhundert, in: Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt, hg. von Ellen J. Beer, Norberto Gramaccini, Charlotte Gutscher-Schmid und Rainer C. Schwinges, Bern 1999, S. 187–195.

„UNSAGBARES GRAUEN“. ERZÄHLMUSTER DER MEDIENBERICHTERSTATTUNG ÜBER DIE EXPLOSIONSUNGLÜCKE BEI DER BASF 1921 UND 1948 Katja Patzel-Mattern „Am 21. September 1921, morgens 7.32 Uhr, unterbrach die Bahnhofsuhr Ludwigshafen ihren Kreislauf und legte auf die Sekunde den Moment fest, der ein großes Schicksal über Oppau auslöste und unendliches Leid in viele Familien brachte. Mit ihr standen die Turm- und Wanduhren in weitem Umkreis still. Was war geschehen?“1 Mit diesen Worten beginnt der Lehrer und Ortschronist KarlOtto Braun 1953 das Kapitel „Als Oppau in die Luft Áog. Der schwärzeste Tag in der neueren Geschichte des Unglücksortes“ seiner Heimatgeschichte über die Orte Oppau und Edigheim. Diese Zeilen, bereits in den vierziger Jahren als Manuskript niedergeschrieben, aber erst Anfang der fünfziger Jahre gedruckt, erfassen in der Retrospektive den Moment im September 1921, als sich im Oppauer Werk der BASF der „Größte anzunehmende Unfall“2 innerhalb der Chemieindustrie ereignete, zahlreiche Menschen tötete und den Ort weitgehend zerstörte. Der Autor Karl Otto Braun, dessen Haus durch die Explosion zerstört wurde,3 wählte, obwohl er persönlich in die Ereignisse involviert war, für den Einstieg in seine historische Erzählung eine distanzierte Perspektive. In der Tat trennen ihn und seinen Aufschrieb die Zeit und mit ihr die Erfahrungen eines weiteren Weltkriegs sowie zwei spätere, schwere Explosionen4 von dem berichteten Geschehen. Die zeitliche Ferne und der Erfahrungsabstand spiegeln sich sprachlich in Karl-Otto Brauns be1 2 3

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Braun: Geschichte, S. 625. Braun: Großstadt, S. 27. Der Aufsatz folgt dieser KlassiÀkation nur hinsichtlich des Schadensausmaßes. Braun, Geschichte, S. VI. Hier legt der Verfasser selbst seine Motivation, „Heimatfreude“, und sein Heimat- wie Geschichtsverständnis dar. Der folgende Abschnitt, der mit dem Kürzel H. L. gekennzeichnet ist und Karl Otto Braun vorstellt wie würdigt, spricht diesen Aspekt ebenso an, wie die Zerstörung seines Hauses 1922 und die Entstehungsgeschichte der Publikation. Ibid., S. X und XIIf. Die Rede ist von den Explosionen 1943 und 1948 bei der BASF in Ludwigshafen. Das Unglück vom 29. Juli 1943, das im Rahmen dieses Aufsatzes keine weitere Berücksichtigung Ànden wird, war Folge der Explosion eines mit Butadin beladenen Kesselwagens. Es forderte 64 Menschenleben, 526 Personen wurden verletzt. Zu den Hintergründen und der Zerstörungswirkung des Unglücks vgl. Perrey: BASF, S. 155–158. Am 28. Juli 1948 platzte ein Kesselwagen mit 20 Tonnen Aethylchlorid, „worauf das ausströmende Chlor anschließend über einer naheliegenden Schlosserei zur Explosion kam“. Becker: Konsolidierung, S. 505, wo sich auch Angaben zum Schadensausmaß Ànden, das, ebenso wie jenes des Unglücks von 1921, im Folgenden dargelegt wird.

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wusst distanzierter Erzählhaltung. Der parallele Blick auf die Uhren am Bahnhof in Ludwigshafen sowie die ‚Turm- und Wanduhren im weiten Umkreis‘, den der Text vorstellt, ist nur imaginär aus der Vogelperspektive möglich. Und die rhetorische Frage nach dem, was geschehen sein mag, zusammen mit dem Verzicht auf eine Benennung des eigentlichen Ereignisses markieren schließlich einerseits ein Wissensgefälle zwischen auktorialem Erzähler und Leser und erzeugen andererseits eine Spannung, die dem Text den Charakter eines Dramas zuweist. Das reale Geschehen des Explosionsunglücks wird so Àktionalisiert, ohne dass der Anspruch auf Tatsachenwahrheit aufgegeben würde.5 Schließlich wird durch die stehengebliebenen Uhren ein Bruch markiert: Sie versinnbildlichen die Trennlinie zwischen einem Vor und einem Nach der Katastrophe. Karl-Otto Braun reagiert mit den skizzierten Mitteln auf die Anforderung, eine Katastrophe sprachlich zu fassen, die, wie der Soziologe Martin Voss schreibt, ‚entsetzt‘, also der mittelhochdeutschen Wortbedeutung nach dafür sorgt, dass etwas aus der Fassung gerät oder dem Althochdeutschen folgend aus dem Sitz kommt.6 In einer solchen Situation gilt es, „für das Unbegreifbare, für das, was nicht hätte geschehen dürfen, was dennoch geschah“7, Worte zu Ànden, die helfen, angesichts von Kontingenzerfahrungen das Ereignis, seine Gründe und Wirkungen in der Kommunikation mit Anderen zu erschließen, und dem Geschehen auf diese Weise eine Ordnung zu geben. Vor diesem Hintergrund fragt der Aufsatz danach, wie das „unsagbare Grauen“8 industrieller Unfälle angesichts seiner normalitätsstörenden Wirkungen und gesellschaftliche Kompromisse infrage stellenden Kraft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermittelbar wurde. Er geht dieser Frage anhand der beiden bereits eingeführten Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948 nach. Diese beiden Unfälle eignen sich nicht allein aufgrund ihrer Zerstörungswirkungen für eine Analyse der Aneignung industrieller Katastrophen.9 Vielmehr macht auch ihre zeitliche Verortung jeweils drei Jahre nach dem Ende zweier Weltkriege, die Deutschland verloren hatte, und die daraus resultierende politische Situation eingeschränkter Souveränität die beiden Unglücke zu interessanten Untersuchungsgegenständen. Der Aufsatz wird in vergleichender Perspektive die Konstruktivität der veröffentlichten Rede von industriellen Katastrophen als Ereignisse, die unmittelbar vom Menschen induziert sind, analysieren. Zu diesem Zweck untersucht er ausge5 6 7 8

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Vgl. hierzu Münkler: Ambiguität, S. 39 f. Kluge: Wörterbuch, S. 71. Voss: Formen, S. 9. Den Ausdruck verwendet ein Journalist der Mittelbayerischen Zeitung als Abschlusssatz zu einem stark emotionalisierenden Text über Eindrücke am Unglücksort, der den Titel „Augenzeugenbericht“ trägt. Paeffgen: Augenzeugenbericht: „Als ich das Werk verlasse, nehme ich mit mir den Eindruck eines unsagbaren Grauens, das ich nicht vergessen werden.“ So qualiÀziert beispielsweise Johnson: Macht, S. 209, das Explosionsunglück des Jahres 1921 als „eine der schlimmsten Katstrophen der Industriegeschichte“. Die Explosion von 1948 ordnet Perrey: BASF, S. 279, in der Geschichte der Unternehmens als zweitgrößtes Explosionsunglück nach der 1921er Explosion ein. Damit ist sie – in Rückbezug auf Johnson – implizit auch innerhalb einer Geschichte industrieller Unfälle verortet.

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wählte Sprachbilder der Medienberichterstattung. Er folgt dabei der auf die Geschichtswissenschaft bezogenen Überlegung Hayden Whites, nach der Ereignisse als potentielle Elemente eines Darstellungszusammenhangs wertneutral seien.10 Erst im Akt des Erzählens, verstanden als Verkettung von Geschehensmomenten mit dem Ziel, diese im Kontext bedeutungstragender Konzepte zu perspektiveren,11 werden Zuweisungen vorgenommen. Infolge der notwendigen Perspektivierung des Textes bedeutet dies für die Erzählung und ihre Produzenten, „eine bestimmte Relation zur Welt einzunehmen“ und „retrospektiv eine gesetzliche Notwendigkeit, die jedwede Alternative ausschließt“, zu schaffen.12 Die Analyse der Medienberichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF wird einerseits zeigen, dass die Aneignung des Unsagbaren durch den Rekurs auf Sinnstrukturen religiöser und nationaler Referenztexte wie -bilder, die in einen industriellen Bezugsrahmen gesetzt werden, geschieht. Sie folgt damit der allgemein auf die Katastrophenkommunikation in der Moderne bezogenen These Kurt Imhofs, dass „die besondere Dynamik von Katastrophen […] zu einer speziÀschen AfÀnität zu religiösen Deutungsmustern oder ‚Frames‘ in der öffentlichen Kommunikation“ führt.13 Andererseits wird dargelegt, wie die Geschehnisse in einen politisch-ideologischen Diskurs eingeschrieben und inwiefern die Informationsverarbeitung durch die Struktur des Medienmarktes beeinÁusst werden. Diesen Aufgaben geht der Aufsatz in drei Schritten nach. Zunächst werden die beiden Unglücke der Jahre 1921 und 1948 historisch kontextualisiert und ihre Relevanz für eine Geschichte industrieller Katastrophen dargestellt. Anschließend gilt es die medialen und politischen Zusammenhänge der Berichterstattung zu betrachten. Hier sollen die Produktionsbedingungen von Nachrichten angesichts informationeller Unsicherheit und hohen Entscheidungsdrucks vergleichend für 1921 und 1948 dargelegt werden. Damit stehen zugleich Aspekte der Pluralität von Information und der Neutralität ihrer Vermittlung zur Diskussion. Schließlich werden narrative Aneignungen des Geschehens im Vergleich betrachtet. Hier stehen unterschiedliche rhetorische Formen wie die nationale Überhöhung, der apokalyptische Bruch und die fortschrittsoptimistische Gestaltbarkeit im Mittelpunkt der Ausführungen. Ziel ist es, anhand prägender Narrative und struktureller Rahmungen die Grundlegung von Ordnungskonzepten und Deutungsangeboten medialer Berichterstattung über industrielle Katastrophen zu diskutieren.

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White: Text, S. 129: „Als potentielle Elemente einer Geschichte betrachtet sind historische Ereignisse wertneutral.“ Vgl. zu einer Unterteilung von Erzählungen Brinker: Textanalyse, und als frühe Referenz gerade im Blick auf die Geschichtswissenschaft Stierle: Geschichte. Müller-Funk: Kultur, S. 49. Imhof: Katastrophenkommunikation, S. 155.

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„Brot und Not“. Die Bedeutung der Explosionsunglücke 1921 und 1948 für eine Geschichte industrieller Katastrophen Die Geschichte der Stadt Ludwigshafen und der umliegenden Gemeinden ist seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eng mit der Geschichte der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) verbunden.14 Das Unternehmen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bereich der organischen Produktion „unbestritten die größte chemische Fabrik der Welt“ war,15 wurde 1865 von Friedrich Engelhorn, Carl und August Clemm auf Mannheimer Stadtgebiet gegründet. Hier behielt die BASF bis 1919 ihren Hauptsitz, während der Firmensitz von Beginn an auf der anderen Rheinseite in Ludwigshafen lag. Ein Grund hierfür ist zum einen die Ablehnung der Stadt Mannheim gegenüber der geplanten Industrieansiedlung auf ihrem Gebiet.16 Zum anderen bot Ludwigshafen den Vorteil der geographischen Zugehörigkeit zur bayrischen Rheinpfalz. Damit war eine Ànanzielle Bezuschussung verbunden, mit der der bayerische König Maximilian II. seit Beginn der 1860er Jahre die Ansiedlung von Industrieunternehmen in seinem EinÁussbereich förderte.17 Für die junge und zunächst kleine Stadt Ludwigshafen wurden die BASF und weitere sich Industrieunternehmen schnell zu einem zentralen Faktor der wirtschaftlichen und damit der kommunalen Entwicklung.18 Anfang der 1920er Jahre überschritt die Stadt „die 100.000-Marke bei der Einwohnerzahl“.19 Die enge VerÁechtung von Stadt- und Unternehmensentwicklung prägte das regionale Bewusstsein. Im Gedenken an das Explosionsunglück von 1948 bringt der damalige Oberregierungspräsident Franz Bögler diese Gemengelage in einer gemeinsamen Ge14

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„Im Volksmund als ‚die Anilin‘ oder als ‚die Große‘ bezeichnet, hat die BASF […] sich […] als Städtegestalterin und als wichtigster städtischer Wachstumsmotor betätigt, hat […] nicht nur das Stadtbild entscheidend (mit-)geprägt, sondern auch die dort wohnenden Menschen und das Leben in der Stadt, die konjunkturelle Entwicklung, die Arbeitsbedingungen und die Einkommensverhältnisse.“ Hippel: Reichsgründung, S. 388, wo auch auf das Verhältnis zur Arbeiterbewegung vor Ort verwiesen wird. Weltausstellung zu Paris. Sammelausstellung der deutschen Chemischen Industrie. Berlin 1900 zitiert nach Hippel: Weltunternehmen, S. 17. Johnson: Macht, S. 118, verdeutlicht die Dimensionen im Rückgriff auf die Werbebroschüre der BASF zu der genannten Weltausstellung. Das Unternehmen beschäftigte damals nach eigenen Angaben „fast 6300 Arbeiter und Vorarbeiter, 146 Chemiker, 75 Ingenieure und Techniker sowie 433 kaufmännische Angestellte“. Vgl. Breunig: Handelsplatz, S. 314 f. So kam auch die neugegründete BASF in den Genuss von Fördergeldern im Umfang von 1,5 Millionen Gulden. Vgl. hierzu Hippel: Weltunternehmen, hier vor allem die Kapitel „Mannheim oder Ludwigshafen? Die dramatische Gründung einer Aktiengesellschaft, S. 27–31 und „Der groß geplante Neuanfang in Ludwigshafen“, S. 31–35. Die Verleihung der Stadtrechte war 1859 erfolgt. Neben der BASF, die 1865 mit 30 Arbeitern in Ludwigshafen begonnen und bis 1870 diese Zahl auf 500 erweitert hatte, beförderten weitere Chemieunternehmen die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Vgl. hierzu Hippel: Reichsgründung, S. 399–408. Die Zahlen zu den Arbeitern der BASF bis 1870 stammen aus Breunig: Handelsplatz, S. 316. Braun: Großstadt, S. 77, der den April 1922 als exakten Termin angibt.

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denkbroschüre von Land, Stadt und Werk 1949 zum Ausdruck: „Die Explosionskatastrophe zeigte erneut die schicksalhafte Verbundenheit der Anilinfabrik mit der Stadt Ludwigshafen. So wie beide miteinander wuchsen, so sind beide heute noch auf das engste miteinander verknüpft. Der Aufstieg der Fabrik bedeutete Aufstieg der Stadt. Sie gab das Brot, aber oft genug auch Not.“20 Die Worte des Politikers, die sich auf industrielles Wachstum ebenso wie dessen Restriktionen beziehen, verweisen implizit auf die erheblichen Risiken industrieller Produktion. Unfälle und Gesundheitsbelastungen waren gerade in den 1910er und 1920er Jahren ein zentrales Thema der Arbeitervertreter.21 Doch Chancen und Gefahren lassen sich auch auf die Stadtentwicklung bis Ende der 1940er Jahre übertragen. So verdankte die Stadt, in die Oppau und andere Randgemeinden 1938 gegen ihren Willen eingemeindet worden waren, in den dreißiger und frühen vierziger Jahren ihre Bedeutung weiterhin wesentlich der Chemieindustrie und allen voran der Oberrhein-Gruppe der I. G.-Farben22 mit den Werken wie Forschungseinrichtungen in Ludwigshafen und Oppau als Zentren. Mit Kriegsausbruch wuchs die Oberrhein-Gruppe „in ihrer Bedeutung für die Versorgung mit kriegswichtigen Produkten. […] Fertigprodukte, die speziÀsch militärischen Zwecken dienten oder als Ersatzstoffe verwendbar waren, trugen besonders stark zu diesem Anstieg [des Gesamterlöses der Stammwerke am Rhein, kpm] bei“23. Die wirtschaftliche Prosperität motivierte Infrastrukturund Wohnungsbaumaßnahmen, die ihrerseits wiederum von der I. G. Farben mitgetragen wurden, über den Kriegsbeginn hinaus24 und begründete schließlich auch die 20

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Bögler: Geleit, o. S. Vergleichbar für 1921 beispielsweise der Bericht eines namentlich nicht genannten Oppauers vom Unglückstag in der katholischen Kölnischen Volkszeitung: „Mit dem gewaltigen Stickstoffwerk schnell ungeahnt groß geworden, ist Oppau auch mit ihm zusammengestürzt und hat in weitem Bogen vieles mit ins Verderben gerissen. […] Mit dem Wachstum des Werkes sind dort [in der unteren Ringstraße in Oppau, kpm] neue schöne kleine Landhäuschen entstanden; sie sind nicht wiederzukennen, teilweise nicht einmal wiederzuÀnden.“ BASF-Archiv, Nr. 679: Oppau. Braun: Großstadt, S. 26 und 28 f., verweist auf die ‚Alltäglichkeit‘ von Gefährdungslagen, wenn er festhält: „Ein Großteil der Aktivitäten, die der Fabrikarbeiterverband für die Beschäftigten in der chemischen Industrie entfaltete, betraf die Sicherheitsprobleme und gesundheitlichen Risiken, die mit dieser Branche seit jeher verbunden waren.“ Die Ausführungen von Michel: Fabrikzeitung, S. 140, unterstützen dies durch den Hinweis auf zwei weitere Explosionen 1921 und 1922 mit Todesfolge ebenso wie die zeitgenössische Berichterstattung. So schreibt beispielsweise der Fränkische Kurier am 21.9.1921, dass das Unglück dieses Tages das zweite größere Unglück im entsprechenden Jahr sei. BASF-Archiv, Nr. 442: Explosionsunglück. Zu vorindustriellen Gefährdung durch Explosionen und ihrer Potenzierung durch die Anwendung großtechnischer Verfahren vgl. Ahland: Umgang, S. 7. Zu den in der I. G.-Farben zusammengeschlossenen Unternehmen und ihren eingebrachten Beteiligungen vgl. Stokes: I. G. Farbenindustrie AG, S. 228. Ibid., S. 310. Die Gesamterlöse stiegen, wie Stokes an gleicher Stelle ausführt, von 486,5 Mio. RM 1939 auf 666,4 Mio. RM 1942. Vgl. hierzu Mörz: Tod, S. 346. Bis 1939 „lag Ludwigshafen deutlich über dem Schnitt an Wohnungszugängen pro 10.000 Einwohner sowohl aller deutschen Städte als auch von Städten vergleichbarer Größe.“ Ders.: ‚Groß-Ludwigshafen‘, S. 259, der an dieser Stelle auch Differenzen innerhalb der städtischen Wohnsituation verdeutlicht. Ibid., S. 265–269 Ànden sich auch ausführliche Darlegungen zur Stadtplanung.

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intensive Bombardierung der Stadt ab 1943.25 Hatte die Einwohnerzahl der Stadt zu Beginn der 1940er Jahre noch bei mehr als 150.000 Einwohnern gelegen, so bezeichnete die Rheinisch-Pfälzische Rundschau die Stadt im Sommer 1948 als „Dorado der Trümmer“, das nur noch 109.000 Einwohner beherbergte.26 Auch die Werke in Ludwigshafen und Oppau waren beschädigt. „Nur 6 vH [von Hundert, kpm] aller Fabrikgebäude waren noch völlig intakt.“27 Doch die Aufräumarbeiten setzten hier unmittelbar nach dem Ende der kriegerischen Handlungen mit dem Einzug der Amerikaner ein. Das Interesse der auf die Amerikaner folgenden Franzosen an der Nutzung industrieller Kapazitäten ihrer Besatzungszone für den eigenen Wiederaufbau beförderte eine rasche Aufnahme der Produktion unter maximaler Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Dies hatte zur Folge, dass die chemische Produktion zwar bereits Mitte 1948 in der französischen Zone 91 % ihres Vorkriegsstandes erreichte und die BASF 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählte. Zugleich aber zog die forcierte Produktion auch erhebliche Risiken nach sich.28 Es zeigt sich somit zu den Zeiten beider Explosionen, die der Aufsatz betrachtet, ein widersprüchliches Bild. Einerseits bedeutete die enge VerÁechtung von Werk, Stadt und Region Wachstum und Prosperität. Sie basierte auf der Überzeugung einer technischen Beherrschbarkeit der Welt. Andererseits war die VerÁechtung Grundlage von Zerstörungswirkungen, die das soziale Gefüge der Stadtbevölkerung bedrohten und erhebliche materielle Schäden provozieren konnten. Diese JanusköpÀgkeit wurde im Industrieunglück unmittelbar erfahrbar. Sie konfrontierte eine Kultur, die auf großtechnische Lösungen vertraute, mit den Risiken ihrer Techniknutzung und der Frage nach den Verantwortlichkeiten für deren Folgen. Dabei traf sie auf Strukturen zweier Nachkriegsgesellschaften, denen die Zerstörungsgewalt technischer Systeme durch die vorgegangenen Kriege präsent war. Davon zeugen Analogiesetzung zwischen den Zerstörungen durch die Explosion und solchen, die auf kriegerische Auseinandersetzungen zurückzuführen waren.29 Diese Vergleiche dimensionierten nicht nur die zerstörerische Gewalt der Industrieunglücke im 25 26 27 28 29

Zwischen Herbst 1941 und Sommer 1943 hatte es nur acht Angriffe auf die Stadt gegeben, die keine größeren Schäden anrichteten. Zitiert nach: Gleber: Dorado, S. 420. Zum Bombenkrieg und seinen Auswirkungen auf die Stadtentwicklung vgl. Mörz: Tod, S. 383–388 und S. 398–400. Seinem Artikel sind auch die Zahlenangaben entnommen. Stokes: I. G. Farbenindustrie A. G., S. 335. Vgl. hierzu Gleber: Dorado, S. 472 f. So schreibt die sozialdemokratische Rheinische Zeitung in ihrer Überschrift vom „Schlachtfeld der Arbeit“; BASF-Archiv, Nr. 222: Schlachtfeld. Die liberale Kölnische Zeitung spricht davon, dass die „in Oppau und dem Stadtteil F r i e s e n h e i m angerichteten Z e r s t ö r u n g e n […] Kriegsverwüstungen“ gleichen. Ibid., Nr. 631a: Explosion. Und der lokale General-Anzeiger für Solingen und Umgegend stellt fest: „ L u d w i g s h a f e n g l e i c h t e i n e m K r i e g s s c h a u p l a t z . “ General-Anzeiger für Solingen: Unglück, Erstes Blatt (alle Hervorhebungen aus dem jeweiligen Original übernommen). 1948 schreibt die Rheinpfalz, dass die Stadt entgegen erster Gerüchte doch nicht aussehe wie nach einem Fliegerangriff; BASF-Archiv: Pfalz, in: Die Rheinpfalz, Neustadt. Die Abendpost, Weimar hingegen spricht von einem „Bild, wie man es sonst nur nach schweren Bombenangriffen gewohnt war.“ BASF-Archiv: Stätte des Grauens, in: Abendpost, Weimar.

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Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, der von George F. Kennan als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts klassiÀziert wurde.30 Vielmehr stellten sie mit dieser Dimensionierung implizit auch das Wohlfahrtsversprechen industrieller Produktion infrage. Angesichts einer solchen Wahrnehmung von Industrieunglücken galt es mit den materiellen wie ideellen Zumutungen sprachlich umzugehen. Dabei war nicht nur die betroffene Lokalbevölkerung sondern ebenso eine potentiell weltweite Medienöffentlichkeit einzubeziehen.31 Dies gilt insbesondere für das Unglück 1921 in Oppau als der „damals weltweit größte[n …] Chemie-Katastrophe“.32 Am Morgen des 21. September kam es im Lagergebäude O 110 zu einer Detonation. Grund hierfür war, so hält ein Gutachten der Untersuchungskommission der BASF fest, die Explosion von 4000 Tonnen Ammonsulfatsalpeter, eines bis dahin als ungefährlich eingestuften Düngemittelgemischs.33 Die Zerstörungswirkung war so groß, dass „ein Krater von 100 Metern Durchmesser und 20 Metern Tiefe“34 entstand und weite Teile der Fabrik nachhaltig beschädigte wurden. Doch nicht nur das Werksgelände war betroffen. In Oppau wurden rund 90 % der Wohnungen zerstört, ca. 7500 Menschen verloren ihr Obdach.35 Am Schwersten jedoch wog die Zahl der Verletzten und Toten. 561 Menschen verloren infolge des Explosionsunglücks ihr Leben. Die Zahl der Verletzten belief sich auf 1952.36 Eine ähnliche Gewalt hatte auch das zweite Explosionsunglück, das am Nachmittag des 28. Juli 1948 den oben kurz beschriebenen Wiederaufbau des Werkes in Ludwigshafen nach dem Zweiten Weltkrieg unterbrach. Es wurde durch eine falsche Kapazitätsberechnung hervorgerufen. Ein „zur Entladung bereitstehender Kesselwagen mit 20 Tonnen […] Aethylchlorid“ 37war geplatzt, nachdem er viele Stunden in der Sonne gestanden hatte. Da die Volumenreserve des Kesselwagens 30 31 32 33

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Zur Geschichte der Bezeichnung und ihren Problemen vgl. Reimann: Weltkrieg, hier vor allem S. 30 f. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Berichterstattung in beiden Untersuchungszeiträumen wesentlich auf die Nation gerichtet ist. Braun: Großstadt, S. 27. Schon Zeitgenossen schätzen die Bedeutung bereits am Tag der Explosion als so weitreichend ein. So spricht die Kölner Zeitung von einer „der größten Industriekatastrophen“; BASF-Archiv, Nr. 631: Unglück. Dieses Gemisch bestand aus Ammonsalpeter, der bereits im Ersten Weltkrieg zur Herstellung von Sprengstoff produziert worden war, und Ammonsulfat. Bei einer Beimischung von mehr als 45 Prozent Ammonsulfat verlor der Ammonsalpeter seine Explosivität und konnte in dieser Kombination als künstlicher Dünger eingesetzt werden. Im September 1921 wurde jedoch, so der eben bereits erwähnte Untersuchungsbericht der BASF, das benötigte Mischungsverhältnis nicht erreicht. Infolge einer Lockerungssprengung kam es deshalb zu dem Unglück. Johnson: Macht, S. 209. WDR: Stichtag. Die Zahlen sind der Denkschrift über die Tätigkeit des Hilfswerks Oppau entnommen; Denkschrift, S. V. Einen knappen Eindruck vom Ausmaß des Geschehens, das im Folgenden zusammen mit dem Unglück von 1948 genauer vorzustellen ist, sowie von den unmittelbaren Reaktionen der betroffenen Gemeinden und der Arbeiter vor Ort, gibt Braun: Großstadt, S. 27–29. Becker: Konsolidierung, S. 505. Das Aethylchlorid war, so Becker, zur Erzeugung von Zwischenstoffen und Farbprodukten vorgesehen.

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nicht ausreichte, löste sich eine Schweißnaht. Das ausströmende Chlor reagierte mit dem Sauerstoff der Luft und führte zu einer Explosion über der benachbarten Schlosserei. Weitere Explosionen und schwere Brände schlossen sich an.38 Infolge der Explosionen und Brände starben 207 Menschen,39 3818 wurden zum Teil schwer verletzt. Auch diesmal blieben die materiellen Wirkungen der Explosionen nicht auf das Werk, dessen Produktionsausfall auf nur 20 % geschätzt wurde, beschränkt. „Drei Jahre nach Kriegsende war die Stadt erneut von abgedeckten Häusern mit zerstörten Fensterscheiben gekennzeichnet; insgesamt waren 3122 Wohngebäude mehr oder minder stark beschädigt.“40 1921 wie 1948 störten die Explosionen die Konsolidierung zweier Städte, ihrer Region und mit ihnen eines Landes, das den jeweils vorhergehenden Weltkrieg verloren hatte und infolge dessen besetzt war sowie über eine geringe internationale Reputation und ökonomische Leistungsfähigkeit verfügte. Es stellt sich die Frage, wie angesichts dessen das Geschehen medial vermittelt und ihm narrativ eine Ordnung gegeben wurde, die zumindest sprachlich eine Zukunft möglich erscheinen ließ. „Keine genauen Einzelheiten“. Mediale und politische Kontexte der Berichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF Die Áächendeckende Einführung der Telegraphie und ihre zivile Nutzung seit Mitte, vor allem aber die Etablierung des Telefons gegen Ende des 19. Jahrhunderts, veränderten das Pressewesen nachhaltig. Sie verkürzten die Zeiten der Informationsübermittlung und verbilligten damit zugleich den NachrichtenÁuss. Dies war eine wesentliche Voraussetzung für die Herausbildung von Massenmedien, zunächst im Printbereich, und die wachsende Konkurrenz der einzelnen Produkte untereinander. Schnelligkeit und Unmittelbarkeit wurden zu wichtigen Kriterien der ProÀlierung.41 Davon zeugt auch die Berichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF. Bereits am 21. September 1921 erfolgte die mediale Aneignung des Unglücksgeschehens unmittelbar. Die Zeitungen druckten noch am selben Tag zahlreiche Sondermeldungen, in denen sie verfügbare Informationen von Augenzeugen, Korrespondenten, auch denen anderer Blätter, und Nachrichtenbüros42 nebenei38 39 40 41 42

Stuttgarter Nachrichten online: Vor 60 Jahren (dpa). Vgl. zum Hergang auch Perrey: BASF, S. 279. Becker: Konsolidierung, S. 505, schlüsselt die Opfergruppen auf: „176 Werksangehörige, 24 Mitarbeiter von FremdÀrmen, fünf Werksfremde und zwei Angehörige der französischen Administration.“ Ibid. Vgl. hierzu auch mit Blick auf die Konkurrenz mit dem sich in den 1920er Jahren etablierenden Rundfunk Heitger: Zeitzeichen, S. 28–33. Das Wolff’sche Telegraphische Büro (WTB), 1848 gegründet und 1934 mit anderen Agenturen zusammengeschlossen sowie durch die Nationalsozialisten verstaatlicht, war die erste Nach-

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nander stellten. Sie reagierten damit auf eine von ihnen selbst wahrgenommene und auch kommunizierte unsichere Nachrichtenlage. Dabei fällt die Struktur der Presseberichte auf. Darlegungen der Restriktionen des Wissenstransfers und vermeintlich konkrete Tatsachen werden parallel in einer Sonderausgabe oder innerhalb eines Artikels dargelegt. So beginnt beispielsweise die überregionale Kölnische Zeitung43 einen Artikel, der mit Mannheim lokalisiert ist, auf einem Telegramm basiert und der am Unglückstag selbst veröffentlicht wird, mit der Aussage, dass es „bis zur Stunde noch unmöglich [ist, kpm], die ganze Katastrophe auch nur annähernd zu übersehen.“44 Diesem Statement folgen weitere Ausführungen über Einschränkungen einerseits des Wissensstandes über Unglückshergang, Opferzahlen und Schadensausmaß, andererseits des NachrichtenÁusses durch die Absperrung des Unglücksgebietes und den Ausfall der Zeitungsberichterstattung vor Ort. Diese Beschränkungen sind noch durch die von anderen Zeitungen berichtete Unterbrechung der Telefonverbindungen in der Region seit den Vormittagsstunden zu ergänzen.45 Dieser formulierten Ungewissheit setzt die Kölnische Zeitung im gleichen Artikel Varianten einer Verortung der Explosion entgegen, deren Quellen nicht benannt werden. „Es steht bisher noch nicht einmal fest, in welchem Bau des Oppauer Werkes die erste Explosion stattfand […]. Nach der einen Lesart erfolgte die erste Detonation in dem Laboratorium 51, nach einer anderen im Laboratorium 53. Nach einer weiteren Meldung, die sich bis jetzt jedoch ebensowenig auf ihre Richtigkeit nachprüfen lässt, wie die anderen, soll zunächst im Bau 37 oder 38 ein Gaskompressor geplatzt sein.“46 Dieser Aufzählung schließt sich unmittelbar ein weiterer, diesmal kürzerer, telegrammbasierter Artikel an,47 der darlegt, dass es aufgrund der Zerstörung auch denkbar sei, dass sich die Explosion in Bau 110 ereignet habe. Eine Vermittlung der Widersprüchlichkeiten im Text oder zwischen den Texten Àndet nicht statt. Eine solche Berichterstattung, die die Ungewissheit thematisiert und inhaltlich durch eine Aufzählung unterschiedlicher Varianten dokumentiert, Àndet

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richtenagentur in Deutschland. Zur EinÁussnahme der Politik unter Otto von Bismarck auf die Arbeit der Agentur vgl. Wilke: Grundzüge, S. 246–252. 1913 erwuchs dem WTB innerdeutsche Konkurrenz durch den Zusammenschluss kleinerer Agenturen zur Telegraphenunion (TU). Hierzu wie zur Geschichte der Agenturen in Deutschland vgl. Stöber: Pressegeschichte, S. 131–136, zur TU bes. S. 133 f. Ausführlicher hierzu Neitemeier: Telegraphen-Union, S. 106–132. Zur Kölnischen Zeitung, deren Herausgeber sich in der jungen Weimarer Republik der politischen Mitte zuordneten und die Zeitung rechts der drei weiteren bedeutenden überregionalen Zeitungen – Berliner Tageblatt, Frankfurter Zeitung und Vossische Zeitung – platzierten, vgl. Potschka: Kölnische Zeitung. BASF-Archiv, Nr. 631a: Explosion. Exemplarisch ibid., Nr. 442: Explosionsunglück unter Berufung auf „Letzte Telegramme“ – „Von 1¼2 9 Uhr an war die t e l e p h o n i s c h e Ve r b i n d u n g mit Mannheim und Ludwigshafen wie überhaupt mit der Pfalz infolge der Explosion u n t e r b r o c h e n .“ (Hervorhebungen aus dem Original übernommen). Ibid., Nr. 631a: Explosion. Auch dieser Artikel, ibid., Nr. 631: Unglück, trägt die Kennzeichnung „Mannheim“ und „Telegramm“, stammt also möglicherweise vom gleichen Korrespondenten und könnte dann Einblick in den zeitlichen Ablauf der Vergewisserung über den genauen Ort der Explosion bieten.

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sich nicht nur in der überregionalen Presse. Auch Regionalzeitungen wie der liberale Fränkische Kurier, Parteizeitungen wie die sozialdemokratische Vorwärts48 oder die ebenfalls sozialdemokratische Rheinische Zeitung, die am 22. September beinahe wörtlich die Meldungen der Kölnischen Zeitung über eine mögliche Verortung der Explosion ohne Quellenangabe übernimmt,49 und lokale Generalanzeiger50 folgen diesem Aufbau. Doch nicht nur in der parallelen Präsentation einander wiedersprechender Angaben gleichen sich die betrachteten Zeitungen. Sie zeichnen sich auch durch einen intensiven Gebrauch von Adjektiven in ihren Texten aus. So schreibt beispielsweise die Kölnische Zeitung in dem eben bereits zitierten Artikel vom 21. September 1921, dass „die Bewohner des ganzen Rhein-Main-Gebietes […] durch eine ungeheuer heftige E x p l o s i o n erschreckt“ wurden, „die an zahlreichen Orten Fensterscheiben, sogar dicke Ladenscheiben zertrümmerte.“51 Auf diese Weise wird die unsichere Nachrichtenlage sprachlich kompensiert. Der Bericht schafft einen Orientierungsrahmen. Durch die Verwendung von Adjektiven wird das Schadensereignis sowohl räumlich als auch sozial und darüber hinaus mit Blick auf seine materiellen Folgen dimensioniert. Es gewinnt Anschaulichkeit. Es gibt jedoch auch andere Zugänge: Die Berichterstattung der überregionalen, die demokratische Staatsform der Weimarer Republik tragenden Vossischen Zeitung verzichtet auf vermehrte Adjektiv-Nutzungen wie auch auf die nachdrückliche Betonung von Hemmnissen der Information. Ihre Berichterstattung unmittelbar nach dem Unglück ist stark am Ideal der wertfreien Nachricht orientiert.52 Die Zeitung dokumentiert damit ihren für Weimarer Zeiten durchaus untypischen überparteilichen Anspruch.53 48

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Exemplarisch für die Frage der Opferzahlen BASF-Archiv, Nr. 442: Explosionsunglück: „Die Z a h l d e r O p f e r läßt sich noch nicht feststellen; sie wird z w i s c h e n 7 0 0 u n d 1 2 0 0 angegeben.“ Der Vorwärts nennt in seinen Zwischenüberschriften in der hierarchischen Reihenfolge zunächst „800 Tote, viele Tausend Verwundete“ dann „700 bis 800 Personen sollen getötet sein“, um dann im Text zu schreiben: „Die Zahl der Toten und Verwundeten geht in die Hunderte, konnte aber bisher a u c h n i c h t a n n ä h e r n d f e s t g e s t e l l t werden.“ Ibid., Nr. 446: Explosionsunglück (alle Hervorhebungen aus dem jeweiligen Original übernommen). Ibid., Nr. 222: Schlachtfeld. Hier sei beispielhaft auf zwei Anzeiger entfernter Orte hingewiesen: den General-Anzeiger für Elberfeld-Barmen und den Dresdner-Anzeiger. Ersterer vollzieht am 22.9. die widersprüchlichen Angaben der Badischen Landeszeitung und anderer nicht genannter Quellen nach und benennt, anders als seine Referenzen, weitere Optionen. General-Anzeiger für Elberfeld-Barmen: Explosionskatastrophe. Anders verfährt der Dresdner Anzeiger. Er bettet seine Angabe der Opferzahlen – erneut 700 bis 1200 – in den Hinweis auf die Unzugänglichkeit der Unglückstelle aufgrund hoher Rauchentwicklung und die Unterbrechung der Telefonverbindungen nach Ludwigshafen und Mannheim ein. BASF-Archiv, Nr. 445: Schwere Explosionskatastrophe. Zur Generalanzeiger-Presse allgemein vgl. die knappen Ausführungen von Pürer und Raabe: Presse, S. 67 f. BASF-Archiv, Nr. 631: Unglück (Hervorhebung aus dem Original übernommen). Ibid., Nr. 445: Oppauer Stickstoffwerk. Dies gilt zu Teilen auch für das ebenfalls überregionale, linksdemokratische Berliner Tageblatt, das in seine Berichterstattung Meldungen integriert, die mit dem Zusatz amtlich versehen und

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Auch zahlreiche Lokalzeitungen, die im Umkreis des Unglücksgeschehens erscheinen und von diesem afÀziert wurden, wählen in einzelnen Artikeln eine andere Präsentationsform. Hier liegt der Grund nicht in der Überparteilichkeit, sondern gerade in der lokalen Gebundenheit der Blätter. Wie sich exemplarisch anhand der Heidelberger Neuesten Nachrichten oder des Wiesbadener Tageblatts zeigen lässt, Àndet in diesen Lokalzeitungen, die in räumlicher Nähe zum Unglücksort erscheinen, eine Perspektivierung des Unglücks im Hinblick auf den städtischen Raum statt: „Die durch die Explosion verursachte Erschütterung wurde nicht nur in M a i n z und W i e s b a d e n wahrgenommen, sondern auch darüber hinaus […] in Bingen, Saarbrücken und Karlsruhe […]. Der gewaltige Luftdruck brachte in W i e s b a d e n kurz vor 8 Uhr die Fenster zum Klirren und bewegte unverschlossene Türen.“54 Die Schadensaufnahme gilt nicht dem Ort des Geschehens. Vielmehr wird hier die eigene Betroffenheit durch das Ereignis und seine Wirkungen auf umliegende Städte reÁektiert. Hemmnisse der Berichterstattung sind vor diesem Hintergrund irrelevant. Die Fernwirkung des Explosionsunglücks ist überschaubar, Schäden können unmittelbar festgestellt werden. Doch auch jenen Lokalzeitungen, die in größerer Distanz zum Ort des Geschehens erschienen, diente der Raum einer zumeist in der betroffenen Region liegenden Stadt als Bezug ihrer Berichterstattung. Dies begründet sich nicht allein mit dem schlechteren Zugang zu Informationen im Vergleich zu überregionalen oder nahräumlich erscheinenden Zeitungen. Vielmehr reÁektiert die Konzentration auch das eigene Umfeld und seine Erwartungen. Auf diese Weise erklärt sich, dass das Erleben städtischer Bevölkerung und damit vor allem die konkrete materielle Zerstörung des Lebensraums Stadt im Zentrum der Berichterstattung stehen.55 Es lässt sich feststellen, dass die Berichterstattung der ersten 24 Stunden 1921 weitgehend auf ungesicherten Annahmen oder gar Vermutungen beruhte und zum Teil parallel, zum Teil einander folgend widersprechende Informationen kommunizierte. Diese werden sprachlich nicht vermittelt. Der Kommentar als eigenständige journalistische Form fehlt und auch der Hintergrundbericht spielt nur eine geringe Rolle. Infolge dessen gehen Information, deren Einordnung und Bewertung unmittelbar ineinander über. Solche Verschränkungen in der Berichterstattung werden durch Adjektivnutzungen, die Wertungen vermitteln, verstärkt. Eine mögliche Er-

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in Nachrichtensprache verfasst sind. Vgl. BASF-Archiv, Nr. 445: Explosionskatastrophe in Anilinfabrik. Ibid., Nr. 428: Explosionskatastrophe (Hervorhebungen aus dem Original übernommen). Vergleichbar auch in den Heidelberger Neusten Nachrichten, ibid.: Nr. 220: Explosionskatastrophe: „Heute Morgen um 7.33 Uhr vernahm man in H e i d e l b e r g eine ungeheure Erd- und Lufterschütterung, […] Die Häuser wankten, die Scheiben zerbrachen zum Teil und der Verputz Àel von den Decken. […] In Heidelberg sind einige D u t z e n d g r o ß e r S c h a u f e n s t e r s c h e i b e n z e r s t ö r t worden, darunter große Scheiben der Hauptstraße. Es ist als ein Glück zu betrachten, daß dabei niemand ernsthaft verletzt worden ist.“ (Hervorhebungen aus dem Original übernommen). Exemplarisch sei auf drei Zeitungen, die in unterschiedlichen Regionen Deutschlands erscheinen, hingewiesen: die Hallesche Zeitung, ibid., Nr. 433: Explosion, die Tübinger Chronik, ibid., Nr. 220a: Explosionsunglück und die Krefelder Zeitung, ibid., Nr. 442a: Unglück.

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klärung für die argumentativ nicht vermittelte Präsentation divergierender Informationen in der Berichterstattung der ersten 24 Stunden könnte in der journalistischen Hoffnung auf einen Scoop liegen. Dessen imagefördernde Wirkung war spätestens seit dem Untergang der Titanic deutlich geworden.56 Die Erstveröffentlichung einer Meldung, die zum Bezugspunkt für die Berichterstattung anderer Medien wird, steigert branchenintern die Bedeutung und damit längerfristig den Bekanntheitsgrad eines Blattes in der Öffentlichkeit. Die unkommentierte Präsentation inhaltlich differierender Informationen zum Geschehen kann jedoch auch als Reaktion auf eine Demokratisierung des Pressewesens gedeutet werden. In Abgrenzung zur gelenkten Pressepolitik des Kaiserreichs und vor allem des Krieges werden nun konkurrierende Stimmen als Grundlage öffentlicher Meinungsbildung präsentiert. Doch diese Pluralität existiert nur scheinbar. Ihr steht die Tatsache entgegen, dass sich die Berichterstattung der frühen 1920er Jahre auf wenige Quellen stützt. Diese sind neben Korrespondentenberichten der großen Zeitungen wesentlich Meldungen von Mirbachs Telegraphischem Büro (MTB), das Teil der ‚Reichsstelle zur Versorgung der besetzten und abgetretenen deutschen Gebiete mit deutschen Nachrichten‘ war, sowie vom Wolff’schen Nachrichtenbüro (WTB) und, in diesem speziellen Fall von geringerer Bedeutung, auch von der Telegraphischen Union.57 Die begrenzten Nachrichtenquellen, die überdies entweder staatlichem EinÁuss unterlagen oder durch die Zugehörigkeit zu Medienkonzernen weltanschaulich gebunden waren,58 trugen wesentlich zu einem sich allmählich verfestigenden Bild des ‚tatsächlichen‘ Geschehens bei. Ihm stehen Berichte von Opfern und/oder Augenzeugen, durchaus auch Korrespondenten, die beschreiben, was sie am Unglücksort erlebten, zur Seite. Diese integrieren ‚human stories‘ in die Presseberichterstattung und sollen Authentizität wie Dramatik des Geschehens bezeugen. Auch illustrieren sie die 1921 noch weitgehend bildlosen Pressetexte.59 56 57

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Vgl. hierzu Bösch: Trauer, S. 81, der über die New York Times schreibt, dass diese durch ihre Berichterstattung beim Titanic-Untergang „erst ihre Schlüsselstellung im 20. Jahrhundert ausbaute“. Die Bedeutung von WTB und MTB für die Kommunikation des Oppauer Explosionsunglücks erklärt sich aus der Tatsache, dass beide Büros Filialen in Mannheim unterhielten. Diese waren im Falle von WTB direkt dem Nachrichtenbüro zugehörig, bei MTB waren sie als Filialen der Nachrichtenagentur Polwona Teil der Reichsstelle. Zum Filialnetz des WTB vgl. Heitger: Zeitzeichen, S. 33–35, hier mit Blick auf Mannheim vor allem die Karte auf S. 33. Zu Mirbachs Telegraphischem Büro vgl. Bundesarchiv: Mirbachs Telegraphisches Büro, wo sich auch Verweise auf Arbeiten von Jürgen Wilke zum Thema Ànden. Zum Spannungsverhältnis zwischen neuer Pressefreiheit einerseits und dem staatlichen Zugriff auf das WTB andererseits vgl. Dussel: Tagespresse, S. 121–126. Auch das MTB war durch eine erhebliche Nähe zu staatlichen Stellen geprägt. Vgl. hierzu Wilke: Grundzüge, S. 275, in ReÁexion auf die Vorgeschichte, der am gleichen Ort auch darauf verweist, dass die in Abgrenzung zu den geschilderten Vereinnahmungen gegründete Telegraphen-Union wesentlich von „wirtschaftlichen Interessengruppen insbesondere der Schwerindustrie getragen wurde“. Vgl. hierzu die Überlegungen von Wietschorke: Katastrophe, S. 32, zum Wittener RoburitUnglück von 1906. Auch beim Unglück 1921 lassen sich die von Wietschorke beschriebenen, sehr detaillierten Darstellungen von Verletzungen Ànden. Exemplarisch sei auf einen Bericht der Freien Presse hingewiesen, die der USPD nahestand: BASF-Archiv. Nr. 223: Katastrophe:

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Anders stellt sich die Berichterstattung des Jahres 1948 dar. Die Verbreitung des Telefons als Medium der schnellen Informationsübermittlung in der Fläche, vor allem aber die Etablierung eines Agenturjournalismus, 60 der in Abgrenzung zu den Nachrichtenbüros der Weimarer Zeit genossenschaftlich organisiert war, veränderten die Fundierung und Gestaltung der Presseberichterstattung. Wesentlich hierfür war überdies die Neugestaltung des Pressewesens in Deutschland durch die Besatzungsmächte, die die Herausbildung überregionaler und überparteilicher Mediensysteme beförderte. Diese Veränderungen ermöglichten nicht nur einen schnelleren und einheitlicheren InformationsÁuss. Sie sollten auch Neutralität und Objektivität der Informationsübermittlung garantieren. Dem waren allerdings, wie zu zeigen sein wird, durch politische beziehungsweise ideologische Rahmenbedingungen sowie den Handlungsdruck, den Katastrophen hervorrufen, in der Praxis Grenzen gesetzt. Auch in der Gestaltung der Presseerzeugnisse fanden signiÀkante Veränderungen statt. So trat gerade infolge des alliierten EinÁusses der Kommentar als eigenständige und abgegrenzte journalistische Form nun in der Berichterstattung der ersten 24 Stunden eines Industrieunglücks neben die Meldung. Diese wurde damit von der Aufgabe der Bewertung und Einschätzung befreit und verzichtete, als Nachweis ihrer Objektivität auf der sprachlichen Ebene, von nun an weitgehend auf Adjektive. Auch wird der Augenzeugenbericht 1948 zumeist räumlich von der Nachricht getrennt. Die einzelnen Textgattungen haben sich weitgehend so ausdifferenziert, wie sie heute noch vertraut sind. Dennoch leistete die Berichterstattung auch zum zweiten Untersuchungszeitpunkt keineswegs „informations pures“.61 Dem stand in der konkreten historischpolitischen Situation die Einbettung journalistischer Arbeit in den Kontext des Ost-West-KonÁiktes entgegen. Dessen Wirkung zeigt sich im Vergleich der Katastrophenberichterstattung von Zeitungen der westlichen Besatzungszonen mit jener der sowjetischen Besatzungszone. Hier lassen sich Strategien der Dramatisierung wie der Vertrauensbildung beobachten, die jedoch stets durch die Angabe von Referenzen objektiviert werden. So schreibt beispielsweise die Abendpost Weimar am 29.7. im Untertitel ihrer Headline unter Bezugnahme auf den sowjetisch lizensierten Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN):62 „Bisher 600 Tote und 1400 Schwerverletzte geborgen – Zahl der Opfer wahrscheinlich viel höher“.63 Da-

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„Von den Toten zeigen manche keine weiteren Verletzungen als etwas Blut an der Nase und an den Ohren, sowie ein nach oben geschobener, aufgedunsener Leib […]. Anderen ist die Haut derartig verkohlt, daß sie nicht erkennbar sind. […] Hier und da sind ganze Gliedmaße abgerissen oder schwere Quetschungen beim Einsturz der Gebäude entstanden, andere haben Brandwunden durch Säure oder dergleichen, oder es sind ihnen Glassplitter tief in den Körper eingedrungen.“ Zu den von den Alliierten lizensierten deutschen Agenturen vgl. Dussel: Tagespresse, S. 221. Ibid., S. 219, hier benutzt in Bezug auf die französische Einschätzung der Berichterstattung des Mittelrhein-Kuriers als einer der ersten lizensierten Zeitungen in ihrer Zone. Zur Rolle von ADN vgl. Holzweißig: Waffe, S. 32–35. BASF-Archiv: Explosionskatastrophe, in: Abendpost, Weimar.

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mit präsentiert sie, ebenso wie weitere Zeitungen der sowjetischen Besatzungszone,64 deutlich höhere Zahlen, als dies die meisten Medien der westlichen Besatzungszone zum gleichen Zeitpunkt tun. So nennt etwa die in der Region des Unglücks erscheinende Rheinpfalz65 42 Tote, die in der Nacht des 29.7. amtlich bestätigt worden seien.66 Der im westlichen Teil Berlins erscheinende Abend spricht von 200 Toten. Ihm dienen die amerikanische Militärbehörden und United Press als Referenzen.67 Doch es sind nicht nur die Zahlenangaben, die sich unterscheiden. Wesentlich größere Bedeutung kommt der Textgestaltung zu. So schildern beispielsweise die Texte der Abendpost aus Weimar, ohne der westdeutschen Seite direktes Versagen vorzuwerfen, in der Wortwahl und der textuellen Ordnung Überforderung. Es ist davon die Rede, dass es der Feuerwehr „erst gegen 18 Uhr“ gelungen sei, „die schlimmste Brandgefahr zu beseitigen“ und dass Schwerverletze bis zum Abend „in die Krankenhäuser der umliegenden Städte“ hätten eingeliefert werden müssen, „da die Krankenstationen in Ludwigshafen und Mannheim die riesige Zahl […] nicht hätten aufnehmen können.“68 Des Weiteren wird von einem Übergreifen der Brände in der Nacht nach dem Unglück, der Verzögerung von Löscharbeiten durch den Ausfall von Wasser und Strom sowie in Bezugnahme auf die Sonderausgabe des Mannheimer Morgens vom Nachmittag des 28.7. von „Strömen Áiehender Menschen“ gesprochen.69 Es fällt auf, dass die Abendpost ebenso wie alle deutschen Zeitungen, die über das 1948er Unglück berichten, bemüht ist, die Glaubwürdigkeit ihrer Berichterstattung durch den Verweis auf ihre Referenzen – ADN für den gesamten Text, Mannheimer Morgen für einzelne Aspekte – zu dokumentieren. Dennoch evoziert der Text durch die Verkettung von Informationen ein Gefühl der Hilfs- oder Orientierungslosigkeit. Durch die fortgesetzte Schilderung von Restriktionen oder Rückschlägen wird der Eindruck erweckt, dass die Verantwortungsträger nicht in der Lage seien, das Chaos des Explosionsgeschehens zu bewältigen. In den Medien der westlichen Besatzungszonen klingt dies zumeist anders. Zwar Ànden sich auch hier dem Sachgehalt nach die oben zitierten Angaben, doch werden sie anders kontexualisiert. So schreibt beispielsweise die Allgemeine Zeitung aus Mainz ebenfalls am 29.7. in Bezug auf den Umgang mit den zahlreichen Verletzten 64

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Auch die Neue Zeit spricht unter Berufung auf die Stadtverwaltung Ludwigshafen und ADN von 600 Toten und 1400 Schwerverletzten; BASF-Archiv: Katastrophe, in: Neue Zeit, Berlin. Die gleichen Zahlen Ànden sich in der Freien Presse, Zwickau, die darüber hinaus schreibt: „Nach vorsichtigen Schätzungen soll die Zahl der Toten mindestens tausend und der Verletzten mehrere tausend betragen. In den Anilin- und Sodawerken sind allein insgesamt 2000 Personen beschäftigt.“ Ibid.: Explosionskatastrophe, in: Freie Presse, Zwickau. Die Rheinpfalz, die Ende September 1945 erstmals erschien, gehörte zu den damals vier auÁagenstärksten Zeitungen der französischen Besatzungszone. Vgl. Pürer und Raabe: Presse, S. 114. BASF-Archiv: Pfalz, in: Die Rheinpfalz, Neustadt. Ibid.: 200 Tote, in: Der Abend, Berlin. Die Allgemeine Zeitung, Mainz gibt in einem ihrer Artikel an, dass bis „24 Uhr des gestrigen Tages 43 Tote geborgen werden“ konnten. „85 weitere Werksangehörige sind noch eingeschlossen. Die Angabe über die Verletztenziffern schwanken zwischen 400 und 700.“ Ibid.: Explosionskatastrophe, in: Allgemeine Zeitung, Mainz. Ibid.: Explosionskatastrophe, in: Abendpost, Weimar. Ibid.: Stätte des Grauens, in: Abendpost, Weimar.

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vom koordinierten Handeln der Landesregierung von Rheinland-Pfalz, die „sofort nach Bekanntwerden der Katastrophe alle Aerzte des Landes über den Rundfunk aufgefordert [hat, kpm], sich so schnell wie möglich an die Unglückstelle zu begeben.“ Sie weist überdies darauf hin, dass die Angaben zur Zahl der Verletzten „zahlreiche Leichtverletzte“ erfassen, „die nach Anlegung eines Notverbandes nach Hause entlassen werden konnten“.70 Der Information von Schwierigkeiten bei den Löscharbeiten folgt die Darlegung der zeitlich umgehenden Bergung von Verletzten.71 Auf diese Weise wird dem Entsetzen über das Geschehen Hoffnung entgegensetzt. Sie wird sprachlich durch die Schilderung von Übersicht, Tatkraft und Engagement vermittelt, die die Option einer Rückkehr zur Normalität eröffnet. Während die unterschiedlichen Verkettungen von Informationen auf konkurrierende Rahmungen verweisen, machen die divergierenden Angaben zu Opferzahlen72 noch etwas anderes deutlich. Sie zeigen, dass es angesichts des Ausmaßes des Explosionsunglücks auch 1948 nicht möglich war, innerhalb der ersten 24 Stunden eine einheitliche Nachrichtenlage herzustellen. Ein Grund hierfür liegt im Handlungs- und Zeitdruck, den Katastrophen durch ihre normalitätszerstörende Kraft, die gesellschaftliche Ordnungen zumindest zeitweilig infrage stellt, erzeugen. Innerhalb verdichteter Räume und vernetzter Gesellschaften erzwingt dies unmittelbares Orientierungshandeln administrativer Institutionen. Von ihnen werden eine Einordnung des Geschehens sowie koordiniertes Handelns zu seiner Bewältigung erwartet. Dadurch kann die Legitimität der jeweiligen Institutionen erhalten oder wiedererlangt werden. Zugleich motivieren Handlungs- und Zeitdruck aber auch Vielstimmigkeit. Dabei fällt auf, dass die Zeitungen, anders als 1921, weitgehend darauf verzichten, unterschiedliche Vermutungen ohne genaue Quellenangabe nebeneinander zustellen. 1948 kommunizieren sie zumeist die Angaben einer Referenz, oftmals explizit im Text. Dies verdeutlicht die Abhängigkeit der Lizenzpresse von ofÀziellen Informationsgebern – Agenturen und kommunalen Stellen –, die eng an die jeweiligen Besatzungsmächte gebunden waren.73 Davon ausgenommen sind 70 71

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Beide Zitate aus ibid.: Ursache, in: Allgemeine Zeitung, Mainz. Ibid. Auch andere westliche Medien – als weiteres Beispiel sei das Main-Echo, Aschaffenburg, genannt – verfahren vergleichbar. So unterbricht das Main-Echo seine Beschreibung von Verwüstungen durch den Hinweis, dass „Ludwigshafener und Mannheimer Polizeiverbände […] etwa ein bis zwei Stunden nach der Explosion den Verkehr um die IG-Gebäude soweit wieder herstellen“ konnten, „daß der Abtransport der Toten und Schwerverletzten geregelt durchgeführt werden konnte.“ Ibid.: 600 Tote, in: Main-Echo, Aschaffenburg. Das Hamburger Echo, das in seinem Aufmacher ebenso wie die zitierten Zeitungen der sowjetischen Besatzungszone hohe Opferzahlen nennt, setzt diesen aber das schnelle Eintreffen der Rettungskräfte entgegen; ibid.: Explosionskatastrophe, in: Hamburger Echo, Hamburg. Die Allgemeine Zeitung Mainz liefert weitere, abweichende Zahlen und stellt diese in ihrem Artikel vom 29.7. auch nebeneinander. Sie stützt sich auf Rundfunkmeldungen (Meldungen des Vorabends waren zu hoch), Polizeiberichte (500 bis 800 Tote) und das Kommando der amerikanischen Einsatztruppen (mindestens 300 Tote und etwa 6000 Verletzte). Ibid.: Ursache, in: Allgemeine Zeitung, Mainz. Vgl. hierzu Pürer und Raabe: Presse, S. 111: „Die Lizenzpresse war vor allem für die überregionale Berichterstattung geraume Zeit nahezu ausschließlich auf Nachrichtenmaterial der Alliierten angewiesen, das aus deren eigenen, halbmilitärischen Agenturen kam. Die Zeitungen

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Zeitungen, die in räumlicher Nähe zum Geschehen produziert wurden. Sie hatten Zugang zu regionalen Informationsquellen und ihre Journalisten konnten sich vor Ort einen eigenen Eindruck verschaffen. Diesen Vorteil thematisiert beispielsweise die Rheinpfalz als wichtige Referenz in ihrem Text, wenn sie darlegt, dass die Journalisten nach Bekanntwerden des Unglücks nach Ludwigshafen fuhren und mit „Augen und Nase“74 die Folgen der Explosionen wahrnahmen. Sie knüpft damit an die Authentizität des Augenzeugen oder Korrespondenten an, die auch 1921 eine wichtige Rolle gespielt hatte. Allerdings tritt diese Referenz in der journalistischen Präsentationsform hinsichtlich ihrer thematisierten Bedeutung deutlich hinter Institutionen der Nachrichtübermittlung, Agenturen und administrativen Autoritäten, zurück. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass das Bild den sprachlich vermittelten Eindruck nachhaltig verdrängt. Andererseits verloren infolge der Pressepolitik der Besatzungsmächte lokal- bzw. kleinräumliche oder stark weltanschaulich gebundene Zeitungen, deren Journalisten auf persönliche Vertrauensbeziehungen zu ihren Rezipienten aufbauen konnten und mussten, an Bedeutung. An ihre Stelle traten Zeitungen mit einer großräumigeren regionalen Verbreitung und damit verbunden größerer Anonymität.75 In der historischen Situation ist dennoch die Bedeutung des Augenzeugen respektive Korrespondenten nicht zu unterschätzen. So bietet der Journalismus vor Ort in der Phase der Lizenzpresse, die im Westen Deutschlands ofÀziell erst nach Gründung der Bundesrepublik endete –76 in der DDR wird auch nach der Staatsgründung keine freie Berichterstattung möglich sein –77 die Möglichkeit, die ansonsten bestehende Abhängigkeit vom Nachrichtenmaterial der Alliierten zu reduzieren. Die Medienberichterstattung über das Unglück von 1948 ist durch die politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit geprägt. Diese beförderten eine Durchsetzung des Agenturjournalismus mit seiner Orientierung auf Aktualität und Neutralität.78 In der Gestaltung der Zeitungsnachrichten folgt daraus eine weitgehend widerspruchsfreie Kommunikation während der ersten 24 Stunden innerhalb eines Mediums. Die weiterhin bestehende Unsicherheit der Nachrichtenlage in zeit-

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konnten folglich ihre Leser nur so informieren, wie es die Alliierten wünschten.“ Erst 1949 entstand die dpa, die Deutsche Presseagentur, ein Zusammenschluss der Deutschen Nachrichtenagentur (DENA) der amerikanischen Besatzungszone, des Deutschen Pressedienstes (DDP) der britischen Besatzungszone und der Süddeutschen Nachrichtenagentur (Südena) der französischen Besatzungszone. BASF-Archiv: Pfalz, in: Die Rheinpfalz, Neustadt. Vgl. hierzu Pürer und Raabe: Presse, S. 114 f. Mit dem Gesetz Nr. 5 der Alliierten Hohen Kommission erhielt die Presse der vier Monate zuvor gegründeten Bundesrepublik eine Generallizenz. Dem stand, neben Eingriffen, vor allem die konstitutive Bedeutung der Medien für die Durchsetzung und Sicherung von Herrschaft entgegen, wie jüngst Holzweißig: Waffe, S. 70–74 im ersten Kapitel „Die Medienanleitung und -kontrolle des SED-Agitationsbürokratie“ in Anlehnung an ältere Studien wie beispielsweise jene von Hickethier und Hoff über das deutsche Fernsehen deutlich macht. „Nachrichtenagenturen sind die führenden Lieferanten von Aktualität für die Informationsgesellschaft. Ihre journalistischen Arbeitsweisen haben medienübergreifend Standards für Nachrichten oder News-Features gesetzt.“ Klappentext zu Zschunke: Agenturjournalismus.

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licher Nähe zum Unglücksgeschehen offenbart sich zu diesem Zeitpunkt, anders als 1921, vor allem durch den Vergleich verschiedener Periodika, der den Rezipienten allerdings kaum möglich war. Ein weiterer Unterschied im Vergleich der Berichterstattung 1921 und 1948 zeigt sich in der sprachlichen Gestaltung der Meldungen. Diese nutzen 1948 wesentlich seltener Adjektive und vermitteln damit ebenfalls Neutralität und Objektivität. Auf diese Weise wird eine Abgrenzung von der ‚Gesinnungspresse‘ nicht nur des Nationalsozialismus sondern auch entsprechender EinÁüsse in der Weimarer Zeit vorgenommen. Doch die Positionierung der Presse in den späten 1940er Jahren wird, wie gezeigt, durch die Verkettung von Informationsbestandteilen konterkariert. Sie sind durch Grenzziehungen des beginnenden Kalten Krieges geprägt und transportieren implizite Wertungen.79 1921 wie 1948 kommt somit der Struktur des Medienmarktes ebenso wie der politisch-ideologischen Rahmung eine entscheidende Bedeutung für die Präsentation von Information, vor allem aber für ihre Verknüpfung zu einem oder mehreren aufeinander bezogenen Berichten zu. Die Medien tragen wesentlich dazu bei, dass industrielle Unglücke über ihre Schadenswirkung auf den einzelnen Betroffenen hinaus eine soziale Dimension erhalten, zugleich aber auch gesellschaftlich eingeordnet und damit als potentiell überwindbar klassiÀziert werden können. „Eine nationale Katastrophe“ mit „Schwefelgestank“. Nationale und religiöse Erzählstrukturen der Berichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF Es sind jedoch nicht allein Formen der Verkettung von Informationen in ihrer politischen und medialen Gebundenheit, die die Erfassung entgrenzender Schadensereignisse, ihre Einordnung und soziale Dimensionierung ermöglichen. Diese werden vor allem in der Berichterstattung der ersten 24 Stunden wirksam. Mit größerem zeitlichem Abstand zum Geschehen, in der gedenkenden Kommunikation sowie in Berichten von Augenzeugen, kommt vielmehr eingeführten Narrativen eine zentrale Bedeutung für die Aneignung katastrophalen Geschehens zu. Sie stellen ein Reservoir sprachlicher Formen und erzählerischer Logiken bereit, die es ermöglichen, das ‚unfassbare Grauen‘ des Industrieunfalls über die Ersterfassung hinaus zu vermitteln. Anhand der Narrative der Nation, des Fortschritts und der 79

Ganz explizit geschieht das überdies in beiden Zeiträumen im Hinblick auf die Verantwortung der Besatzungsmacht für das Unglück. Darauf kann an dieser Stelle nur kurz hingewiesen werden. 1921 wie 1948 kursieren Gerüchte, dass die Franzosen an den Unglücksorten eine Waffen- oder Sprengstoffproduktion betrieben hätten. Solche Überlegungen werden 1921 vermehrt von der nationalistischen Presse vorgetragen, die auch Diffamierung, vor allem der Kolonialtruppen, mit Blick auf behinderte Hilfeleistungen betreibt. Zur deutschen Wahrnehmung der Besetzung des Rheinlandes durch Kolonialtruppen vgl. Przyrembel: Rassenschande, S. 48– 56 sowie den kurzen Überblick von Wigger: Schmach, der auch auf die sog. Pfalzzentrale mit Sitz in Mannheim verweist, die eine wichtige Rolle in der Agitation gegen die Kolonialtruppen einnahm. 1948 folgen die Zuschreibungen französischer Waffenproduktion der Logik des Kalten Krieges und werden von der Presse der Sowjetischen Besetzungszone thematisiert.

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Apokalypse soll im Folgenden nach Adaptionen und Kontexualisierungen dieser Narrative im Hinblick auf das rationale und säkulare Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts gefragt werden. Zentrales Narrativ in der Aneignung des Industrieunglücks von 1921 ist das der Nation. Dabei greifen die Texte auf Analogien mit dem vergangenen Weltkrieg zurück. Diese werden in der Presseberichterstattung explizit thematisiert. So schreibt beispielsweise die Krefelder Zeitung am 22. September 1921: „Die ungeheuren Menschenverluste, die der vierjährige Weltkrieg tagtäglich verursachte, hatten unser MitempÀnden für die zahlreichen Opfer auf dem Schlachtfeld der Arbeit, die täglich zu beklagen sind, beinahe schon abgestumpft. Das furchtbare nationale Unglück von Oppau rüttelt unsere Teilnahme wieder heftig auf und läßt uns in aufrichtiger Ergriffenheit der Männer und Frauen gedenken, die im Dienste vaterländischen Wiederaufbaus ihr Leben, ihre gesunden Glieder ließen.“80 Die Darstellung verweist auf die Gewalterfahrung der deutschen Gesellschaft. Sie wird textuell zum Ausgangspunkt eines Konkurrenzverhältnisses im Gedenken von Kriegsopfern auf der einen und Opfern industrieller Produktion auf der anderen Seite gemacht. Vor diesem Hintergrund sollen die Opfer des Explosionsunglücks in ein nationales Heldengedenken eingeschrieben werden. Dies geschieht sprachlich sowohl durch die Übernahme von Kriegsvokabular als auch durch die Perspektivierung der Leistungen des einzelnen Arbeiters wie der Arbeiterin im Hinblick auf das Vaterland. Auf diese Weise wird der Tod im Kontext des Explosionsunglücks heroisiert.81 Solche Analogiesetzungen von Krieg und Arbeit sowie ihre Wertung im Hinblick auf Nation und Vaterland Ànden sich nicht nur in der journalistischen Berichterstattung. Sie sind auch Teil der populärkulturellen Aneignung des Geschehens. Davon zeugt ein Gedicht, das am 25. September unter der Überschrift „Zur morgigen Trauerfeier“ im Generalanzeiger Ludwigshafen erschien.82 In diesem Gedicht werden die Opfer des Explosionsunglücks unterschiedslos als Helden charakterisiert. Sie werden damit sprachlich aus einem Arbeitsalltag, der durch Hierarchien und Weisungsbefugnisse gekennzeichnet ist, gelöst und in den Dienst einer übergeordneten Sache gestellt. Diese ist nicht im üblichen Sinn national deÀniert. Denn auf dem Feld, auf dem die Arbeiter, der Verfasserin folgend, geblieben seien, weht keine NationalÁagge sondern „der Arbeit Flagge“. Vielleicht reagiert diese Formulierung auf die im Kommunistischen Manifest aufgeworfene Überlegung, dass Arbeiter kein Vaterland hätten, da die Bedingungen des Weltmarkts, der industriellen Produktion 80 81 82

BASF-Archiv, Nr. 444: Katastrophe. Wortgleich Àndet sich der Text auch in anderen Lokalzeitungen wie beispielsweise dem Wiesbadener Tagblatt – ibid., Nr. 430: Explosionskatastrophe – was auf eine Verbreitung durch ein Nachrichtenbüro schließen lässt. Zugleich wird dem Unglück implizit eine kathartische Wirkung zugeschrieben, insofern es Relationen klarstellt. „Ihr Helden, die ihr auf dem Feld geblieben/Auf dem der Arbeit Flagge weht/Euch sei Memento auf das Grab geschrieben/Den Wande’rer mahnend der vorüber geht! […]/Schlaft wohl und wißt: Auf ewig unvergessen/Bleibt Euer Sterben auf dem Feld der PÁicht.“ Generalanzeiger Ludwigshafen: Trauerfeier. Verfasserin des Gedichtes ist Maria Rachholz, deren Biographie unbekannt ist.

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und der Lebensverhältnisse nationale Differenzen eingeebneten.83 Möglicherweise reÁektiert der Passus aber auch die Verunsicherung infolge des Ersten Weltkriegs wie der Besatzungssituation und verhandelt damit indirekt einen anzustrebenden nationalen Wiederaufbau. Der Text selbst informiert nicht über den Bezugspunkt. Doch unabhängig davon kann eine Entlehnung nationaler Rhetorik zur sprachlichen Überhöhung des Todes und seiner sinnhaften Deutung innerhalb kollektiver Sinngebungen konstatiert werden. Sie funktioniert unabhängig davon, ob der Zielpunkt die kommunistische Internationale oder die deutsche Nation ist. Durch den Verweis auf das „Feld der PÁicht“ in Analogie zum ‚Feld der Ehre‘ erscheint der Tod der Arbeiter als beinahe freiwilliges Opfer für die größere Sache. Dabei blendet die MystiÀzierung des Todes das Grauen eines Sterbens infolge von Explosionen oder folgenden Bränden aus. Eine solche sprachliche Analogiesetzung der Opfer einer industriellen Katastrophe mit jenen kriegerischer Handlungen lässt sich nur für die Verarbeitung des Unglücks von 1921 nachweisen. 1948 ist diese Form des Heldengedenkens mit seinen nationalen Überhöhungen aufgrund des nationalsozialistischen Angriffskrieges und seiner Verbrechen delegitimiert.84 Die Rede vom „Schlachtfeld der Arbeit“85 Àndet sich jetzt nur noch vereinzelt in der retrospektiven und kritischen Betrachtung vergangener Unglücke, vor allem durch die Presse der sowjetischen Besatzungszone. Dennoch zeichnet sich die Berichterstattung, vor allem in der Kommunikation der Trauerfeier, stilistisch durch ein Pathos aus, das den Opfern des Explosionsunglücks einen Platz im nationalen Gedenken zuweisen soll. Zahlreiche westdeutsche Lokal- und Regionalzeitungen vermitteln ein beinahe identisches Bild des Marktplatzes von Ludwigshafen, auf dem die Trauerfeier stattÀndet. Am detailreichsten gestaltet die am Ort des Unglücks gelesene Rheinpfalz ihre Beschreibung aus: „Eine hohe Grünwand aus Tannen und ZweigengeÁecht schließt den Platz wohltuend gegen die Ruinen der Südseite ab. Das Halbrund des Mittelstücks, dessen Schmuck Blumenfenstern gleich die lachsfarbenen Gladiolenkränze bilden, wirkt wie eine Altarnische, in deren Brennpunkt der wuchtige Sarkophag mit dem weißen Blumenkreuz aus grünem Rasen aufsteigt. Acht Meter hoch zeichnet sich dahinter das aufgerichtete Holzkreuz gegen den sonnenüberhangenen Himmel ab. Die französischen und die Farben unseres Landes [gemeint ist hier 83 84

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Marx und Engels, Manifest, S. 479. Vgl. hierzu die Ausführungen Kosellecks in ReÁexion auf die Bedeutung der Weltkriege für das soziale Bewusstsein und das Totengedenken. Für die vorliegende Argumentation ist vor allem die bewusstseinsprägende Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Erinnerungskultur nach 1945 von Interesse. Sie erklärt veränderte Zuschreibungen zu Totenmalen. Diese werden nun nicht mehr primär als Orte des Gedächtnisses an die Gefallen mit dem Ziel einer Identitätsstiftung unter den Lebenden verstanden. Vielmehr erscheinen sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen nun als Mahnmale des technisierten Krieges und der Sinnlosigkeit des Todes in selbigem. Koselleck: EinÁuss, hier v. a. S. 342, in deutsch-französisch vergleichender Perspektive und ders.: Transformation, hier v. a. S. 214 f. und S. 218 f. Hier exemplarisch in BASF-Archiv: Katastrophe, in: Thüringer Volk, Gera. Die von der Roten Armee in Berlin herausgegebene Tägliche Rundschau wendet die Metapher ideologisch und spricht von „toten Helden der Arbeit“; ibid.: Beisetzung, in: Tägliche Rundschau, Berlin.

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Rheinland-Pfalz, kpm] sind an den Doppelmasten der beiden Nischenecken auf Halbmast gesetzt.“86 Durch die Referenz auf die Ruinen der Stadt einerseits und die Farben des Blumenschmucks andererseits wird der sichtbaren Zerstörung durch Krieg und Unglück die Gestaltbarkeit einer Gegenwart der Überlebenden sprachlich gegenüber gestellt. Damit wird zugleich Hoffnung auf einen Neuanfang transportiert. Überdies lässt die Darstellung des räumlichen Ambientes der Trauerfeier den Eindruck einer zwar vergänglichen aber wirkungsmächtigen nationalen Ruhmeshalle in Anlehnung an das französische Panthéon entstehen. Dies geschieht auch durch die diskursive Zurückdrängung sakraler zugunsten nationaler Elemente. Während das ‚Halbrund des Mittelstückes‘, im Text umschrieben und nicht als Apsis bezeichnet, nur ‚wie eine Altarnische wirkt‘, werden die Fahnen als Rahmung des Sarkophags entworfen und schließen überdies die Beschreibung der räumlichen Gestaltung ab. Sie erscheinen damit als Bezugspunkt der Inszenierung.87 Eine solche sprachliche Darstellung des Ortes der Trauerfeier erfüllt unterschiedliche Funktionen. Zunächst bezeugt sie die Extraordinarität des Explosionsunglücks. Die Schaffung eines vergänglichen Trauerraums drückt angesichts der Zerstörungen durch Krieg und Industrieunfall die Bedeutung aus, die Stadt und Region dem Ereignis zumessen. Zugleich symbolisiert dieser inszenierte Ort aber auch ein mögliche Überwindung der materiellen wie emotionalen Belastungen der Zeit. Er tut dies zum einen durch seine gestalterische Wirkung, die die Berichte betonen. Zum anderen suggeriert der Trauerraum durch seine Temporalität aber auch eine mögliche Bewältigung der Trauer, die Platz schafft für einen Neuanfang.88 Auf einen solchen Neuanfang zielt auch die zweite Funktion der sprachlichen Inszenierung des Ortes. Sie entwirft in der Analogiesetzung zum Panthéon und der Gewichtung der Flaggen die Nation als Option deutscher Zukunft sowohl im Gedenken als auch im praktischen Handeln. Dabei können Gedenken wie Handeln sowohl nach innen wie nach außen gerichtet sein, wie die in der Rheinpfalz wiedergegebene Rede des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz Peter Altmeier 86

Ibid.: Stunden, in: Die Rheinpfalz, Neustadt. Vergleichbare, allerdings wenige detaillierte Darstellungen Ànden sich in Regional- und Lokalzeitungen von Nord nach Süd innerhalb der westlichen Besatzungszonen beispielsweise im Weser Kurier, der Westfalen-Zeitung, der Wetzlarer Neuen Zeitung sowie dem Südkurier. Ibid.: Trauerfeier, in: Weser Kurier, Bremen; Trauerfeier, in: Westfalen-Zeitung, Bielefeld; Tausende trauerten, in: Wetzlarer Zeitung, Wetzlar; Trauerfeier, in: Südkurier, Konstanz. 87 Eine solche Lesart wird auch durch die Berichterstattung in den anderen Lokal- und Regionalzeitungen, die in der vorhergehenden Fußnote zitiert wurden, gestützt. Sie reÁektieren alle, trotz zum Teil wesentlich knapperer Schilderung der Rauminszenierung, zum Abschluss der jeweiligen Darstellung auf die BeÁaggung des Platzes, lokalisieren diese allerdings zum Teil abweichend in Bezug auf die Rednertribüne. Die Bilder der Trauerfeier, die in der gemeinsamen Gedenkbroschüre von Werk, Stadt und Land abgedruckt sind, zeigen die Fahnen rechts des ‚Halbrunds‘, am Ende der ‚Grünwand‘. Sie schließen die bauliche Gestaltung des Platzes, so der bildliche Eindruck, gegen den offenen Platz ab. Trauerfeier, o. S. 88 In dieser Logik würde der Friedhof, wo auch die Einsegnung stattgefunden hat, zum Ort des Gedenkens, während das Zentrum der Stadt für einen Wiederaufbau zur Verfügung steht. Zur Einsegnung und der Szenerie auf dem Friedhof vgl. Einsegnung, o. S. sowie die sprachliche Darstellung in BASF-Archiv: Stunden, in: Die Rheinpfalz, Neustadt.

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deutlich macht: „Sich an die Angehörigen der Toten wendend sagte der Ministerpräsident: ‚Wir alle, unser ganzes Volk, wollen mit Euch trauern. Aber auch für Euch sorgen und mit Euch verbunden sein.‘ Der Ministerpräsident dankte der französischen und amerikanischen Militärregierung. ‚Unser Volk hat diese ritterliche Hilfsbereitschaft nicht übersehen und wird sie nicht vergessen.‘“89 Im Rekurs auf das Volk entwirft der deutsche Politiker einen einheitlichen Akteur als Träger einer neuen Nation. Er fasst damit in Worte, was die alliierten Besatzungsmächte durch die Gestaltung der Trauerfeier als Staatsakt ebenfalls zum Ausdruck bringen. Diesen Akteur – das Volk als Träger einer neuen Nation – zeichnet, so der Tenor der Berichterstattung, nicht nur Identität und Solidarität mit Blick auf Deutschland, sondern auch eine VerpÁichtung gegenüber den Westalliierten aus.90 Ist damit in der sprachlichen Gestaltung von Trauer und Gedenken vor allem in Hinblick auf den soldatischen Tod einerseits eine Differenz zu Darstellungen der 1920er Jahre dokumentiert, so ist andererseits in der Fokussierung auf die Nation als Handlungseinheit zugleich eine Kontinuität benannt. Solche Kontinuitäten narrativer Bezüge prägen auch die Bildsprache. Dies zeigt sich beim Gedenken der Opfer des Industrieunglücks von 1948, bei dem Rückgriffe auf Formen des Heldengedenkens der Weimarer Zeit auffallen. Dabei ist es vor allem der sakrale Bezug, der als Mittel möglicher Sinnstiftung bemüht wird. Dies wird anhand eines Bildes in der gemeinsamen Gedenkbroschüre von Werk, Stadt und Region deutlich. Es knüpft in der Darstellung der Totensalbung eines sterbenden Opfers des Explosionsunglücks durch einen amerikanischen Feldgeistlichen91 an Präsentationsformen regionaler, kirchlicher Denkmalsetzungen für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges an. Parallelen lassen sich hier vor allem zu einem Denkmal vor der Apostelkirche in Mundenheim aus dem Jahr 1926 nachweisen, das Christus bei der Segnung eines gefallenen Soldaten zeigt.92 In beiden bildlichen Darstellungsformen repräsentieren die Opfer Typen. Dazu tragen die maskenhaften Gesichtszüge ebenso wie die fehlende Benennung der Opfer bei.93 Vor allem aber verweist die Segensgeste in beiden Bildern auf den Gedanken der Erlösung. Sie deutet ein Weiterleben der Opfer nach dem Tod an. Auf diese Weise wird das Opfer des Industrieunglücks in Analogie zum Gefallenen des Krieges in das christliche Heilsgeschehen integriert. Zugleich wird das Opfer aber auch im Sinne der Memoria hervorgehoben. Es erhält einen deÀnierten Platz im Gedenken der Gemeinschaft. Gleichzeitig ist zudem auch 89 90

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Ibid.: Stunden, in: Rheinpfalz, Neustadt. Diese VerpÁichtung und damit die im ersten Teil des Aufsatzes beschriebene Einbindung in den beginnenden Ost-West-KonÁikt, die unabhängig von der Ausrichtung der jeweiligen Zeitung bestand, werden vor allem an den Stellen deutlich, wo Ludwigshafen in ReÁexion auf die Berlin Blockade verhandelt wird. Mit Blick auf das politische Spektrum und die geographische Erstreckung sei hier exemplarisch auf die christlich fundierte Schwäbische Zeitung und den sozialdemokratisch geprägten Telegraf verwiesen. BASF-Archiv: Das Tagesereignis, in: Schwäbische Zeitung, Leutkirch, und Zweifaches Gedenken, in: Telegraf, Berlin. Nachmittag: Feldgeistlicher, o. S. Furtwängler: Erinnerung, S. 93. Während dies beim Denkmal eine Folge der künstlerischen Gestaltung im Produktionsprozess ist, ist für das Foto die Auswahl aus einem Bilderrepertoire relevant.

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eine säkulare Lesart des Bildes aus dem Jahr 1948 möglich, die politische Rahmenbedingungen reÁektiert. Indem der Geistliche in der Bildunterschrift als Amerikaner klassiÀziert wird, thematisiert das Dargestellte auch die Unterstützung der Besatzungsmächte, hier explizit der Amerikaner.94 Weitere Bilder der Gedenkbroschüre, die Soldaten bei Aufräum- und Bergungsarbeiten zeigen, stützen solche säkularen Zugänge zum angebotenen Bildprogramm.95 In einem solchen Spannungsverhältnis sakraler wie säkularer Interpretationen steht auch die Verwendung apokalyptischer Motive in der Kommunikation von Industrieunglücken. Solche Motive fokussieren ihrem Ursprung nach auf ein Zeitenende, sehen sich im 20. Jahrhundert aber mit der Erwartung menschlicher Gestaltungsmacht konfrontiert. Dies wird mit Blick auf die eingangs eingeführte rhetorische Form der stehenbleibenden Uhren, die den Augenblick eines Unglücks Àxieren, deutlich. Sie ist ein etabliertes Motiv der industriellen Katastrophenkommunikation des 20. Jahrhunderts und Àndet nicht nur wie in der Chronik Karl-Otto Brauns oder einer von Unternehmen, Stadt und Region gemeinsam herausgegebenen Schrift, die der Opfer des Jahre 1948 gedenkt,96 in retrospektiven Schriften Anwendung. Schon die zeitgenössische Medienberichtserstattung greift auf dieses Symbol zurück. So schreibt beispielsweise der konservative Münchner Merkur zwei Tage nach dem Unglück des Jahres 1948: „Die Explosion, deren Ursache bis jetzt noch nicht geklärt werden konnte, ereignete sich am Mittwochnachmittag um 15.44 Uhr. Auf dem Werksgelände blieben in diesem Augenblick sämtliche Uhren stehen. Eine riesige StichÁamme, gefolgt von einer gigantischen Detonation, welche die Städte Ludwigshafen und Mannheim erschütterte, schlug […] empor.“97 Die rhetorische Form der stehenbleibenden Uhr ebenso wie deren fotograÀsche Darstellung, die zum Bildprogramm industrieller Unglücke zählt, dient zunächst der Einhegung des katastrophalen Geschehens. Sie folgt damit der Logik numerischer Bestimmungen – dem Messen von Kennzeichen der Katastrophe, dem Zählen der Opfer, der Darle94

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Das Foto knüpft damit in der Bildtradition an eine Darstellung der Milde des militärischen Siegers in dem Gemälde von Antoine-Jean Gros: Napoléon à la bataille d’Eylau von 1807 an. Die säkulare Lesart alliierten Wohlwollens und deren empathischer Hilfe kommt auch in Zeitungsberichten zum Ausdruck. So schreibt der Westen: „Die Zahl der Toten stieg […]; Geistliche gaben ihnen den letzten Segen. Die Schwerverwundeten erhielten die Sterbesakramente und letzten Trost aus Priestermund, sei es von einem deutschen, französischem oder amerikanischen Geistlichen.“ BASF-Archiv: Stätte, in: Der Westen. Exemplarisch Nachmittag: Sergeant William McKee, o. S. und ibid.: Französische Pioniere, o. S. Die Gedenkschrift wird mit den Worten des pfälzischen Oberregierungspräsidenten Franz Bögler eingeleitet. Er schreibt: „Als die Werksuhren der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik in Ludwigshafen am 28. Juli 1948 um 15.43 Uhr zum Stillstand kamen, hielt wieder einmal großes Leid Einzug in die so schwer heimgesuchte Stadt. Eine gewaltige schwarze Rauchfahne erhob sich über dem Werk, Zeichen einer furchtbaren Katastrophe, die vielen Familien tiefe Trauer brachte.“ Bögler: Geleit. Franz Bögler war in seiner Funktion als Oberregierungspräsident zugleich auch „Sonderbevollmächtigter zur einheitlichen Leitung und Lenkung aller für Ludwigshafen im Zusammenhang mit der Explosionskatastrophe zu ergreifenden Maßnahmen“. Die Rheinpfalz, 4. Jg. (3.8.1948) Nr. 62, Titelseite. BASF-Archiv: Deutschland, in: Münchner Merkur.

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gung zeitlicher genau benannter Abläufe einzelner Rettungsmaßnahmen oder der Bezifferung von Schäden und Hilfsgeldern etc. Die quantiÀzierende Bestandsaufnahme dimensioniert das ‚unsagbare Grauen‘. Sie ordnet und klassiÀziert es. Damit ändert sich die Form der Aneignung. Dem hilÁosen Erleben werden Möglichkeiten des rationalen Erfassens entgegengesetzt. Auf diese Weise werden aber nicht nur Katastrophenerfahrungen narrativ bewältigt. Die Ordnung des Geschehens, die zeitliche Bestimmung von Ereignissen und deren Reihung ist auch im Nachgang von Unglücken für die versicherungsrechtliche Behandlung der Schäden relevant. Doch das sprachliche wie bildliche Symbol der stehenbleibenden Uhr Àxiert nicht nur den Beginn des Unglücks. Es wird vielmehr unabhängig von der weltanschaulichen Ausrichtung des Publikationsorgans oder seiner räumlichen Nähe zum Geschehen sowie zeitlich übergreifend von 1921 bis 1948 genutzt, um einen Bruch zu markieren.98 Die in Ost-Berlin erscheinende Berliner Zeitung etwa schreibt: „Ein Chemiker des Werkes beobachtete am Mittwoch kurz vor 15.45 Uhr über dem 200 Meter vom Hauptverwaltungsgebäude entfernten Bau 14 eine hochschießende weiße Wolke, zu der etwas undeÀnierbares Graues hinzukam. Im gleichen Augenblick erfolgte die Explosion. Sämtliche Uhren des Betriebes blieben um 15.45 Uhr stehen. Die Detonation war in einer Entfernung von 30 Kilometer Luftlinie zu spüren. Ein etwa 1000 Meter hoher Rauchpilz stand kurz darauf über dem Werk.“99 Dem Fortschreiten der Zeit als Alltagserfahrung der Menschen wird durch das Bild der stehengebliebenen Uhr die plötzliche Unterbrechung im Unglück entgegengestellt. Es symbolisiert den Schock als den Moment, in dem Normalität aussetzt. Zugleich verweist das Bild darauf, dass im Unglück die über Uhren vermittelte wissenschaftlich-technische Zeitordnung versagt.100 Dies deuten sowohl der zitierte Artikel der Berliner Zeitung als auch der zuvor erwähnte Bericht des Münchner Merkurs durch den Verweis auf den Betrieb beziehungsweise das Werksgelände als Orte der stehenbleibenden Uhren an. Dem DeutungsdeÀzit, das dadurch innerhalb eines linear konzipierten Fortschrittsnarrativs von Wohlfahrt durch industrielle Produktion entsteht, wird durch die Übernahme sprachlicher Elemente der Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament begegnet. „Die Erfahrungen der Menschen im 20. Jahrhundert waren maßgeblich geprägt von Gewalt und Zerstörung, Tod und Untergang; deswegen nimmt es nicht wunder dass die Bilder der Vernichtung gegenüber den Erlösungsvisionen noch weiter in den Vordergrund gerückt sind.“101 Dement98 Davon zeugt seine Verwendung in Zeitungen aller politischen Richtungen und lokalen Verortungen zu beiden betrachteten Zeitpunkten. Für 1921 mögen die Beispiele der Berichte in der seit 1917 kommunistischen Bergischen Arbeiterstimme, der Neußer Zeitung, ein lokaler Zusammenschluss von Tageszeitungen der Stadt Neuss, sowie der nationalliberalen, der DVP nahestehenden Tägliche Rundschau als Belege für die zeitliche, räumliche und weltanschauliche Relevanz der rhetorischen Figur reichen. BASF-Archiv, Nr. 221: Ursache; ibid., Nr. 202: Stickstoffwerk; ibid., Nr. 443: Zahl. 99 Ibid.: Einzelheiten, in: Berliner Zeitung. 100 Zur Bedeutung von Uhren als kultureller Ausdrucksform von Zeit vgl. Adam: Diktat, S. 35–48 und S. 130–134. 101 Vondung: Faszination, S. 192.

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sprechend konstruieren die säkularen Medienberichte des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an das biblische Vorbild Zeichen, die die Katastrophe symbolisieren. Sie werden sowohl im Sinne eines Zeitenendes als auch – menschlichen Gestaltungsanspruch markierend – einer Zeitenwende entworfen, wie im Folgenden dazulegen sein wird. Das Ende betonen Schilderungen des unmittelbaren Explosionsgeschehens und seiner Folgewirkungen, die sich, ergänzend zu den zitierten Beispielen aus dem Jahr 1948, auch in der Berichterstattung von 1921 Ànden: „Die erste Explosion erfolgte etwa 7.32 Uhr vormittags, die zweite ungefähr eine halbe bis eine Minute später. […] Verletzte, die mit knapper Not dem Tode entgangen sind, erzählen, daß sie zuerst einen Blitz sahen und gleich darauf eine schwarze Riesensäule, […] die sich zu einer Rauchwand ausbreitete. Dann erfolgte die erste Detonation, der kurz darauf die zweite folgte.“102 Die in den drei Texten103 unterschiedlicher Zeiten und weltanschaulicher Kontexte erwähnten Zeichen, ‚Blitze und StichÁammen‘, ‚schwarze Riesensäulen und weiß-graue Wolken‘ sowie ‚Rauchwände und -pilze‘ werden in anderen Artikeln um weitere apokalyptische Bilder ergänzt.104 Sie alle lassen sich in einem „Erlebnisbericht“, den die Schwäbische Landeszeitung veröffentlicht, Ànden. Der Augenzeuge schreibt am 3. August 1948 gewissermaßen eine Apokalypse des Industriezeitalters. Er bettet die biblischen Zeichen von Vernichtung in die Darstellung einer Welt moderner Fortbewegungsmittel, industrieller Erwerbsarbeit, spürbarer Kriegsfolgen und eines Besatzungsalltags ein. An einem Hochsommertag gegen halb vier, so schreibt der Verfasser, erreicht er „ueber die provisorische Rheinbrücke“ gerade noch die Straßenbahn, um in den Betrieb zu fahren, in dem er arbeitet. „Da, ein scharfer furchtbarer Knall reißt alles von seinen Sitzen. … Vor uns steigt ein riesiger Wolkenberg auf, schwarz und drohend. Langsam brechen Flammen aus dem gigantischen Gebilde, himmelhoch wächst alles. Da strömen sie schon heraus … über die grauen und schwarzen Gesichter rinnt Blut. … Wind treibt den dicken Qualm und die Hitze uns direkt entgegen. Ich sehe nichts mehr. … Ein Mann steigt splitternackt auf den Wagen, sein ganzer Körper ist mit roten Blacken bedeckt. … Es ist schon 8 Uhr abends und noch immer wüten die Brände.“105 Der Bericht endet 102 BASF-Archiv, Nr. 221: Arbeitermord. Auch hier verweist der Erscheinungsort des Textes darauf, dass die beschriebene narrative Struktur unabhängig von der weltanschaulichen Ausrichtung des Publikationsorgans Verwendung Àndet. Der hier zitierte Artikel wurde in den ‚Sozialistischen Monatsblättern‘ veröffentlicht, „in der Weimarer Zeit ein ‚Hort‘ der rechten Sozialdemokratie“, Woltering; Monatshefte, S. 5. 103 Zitiert wurden für 1948 der Münchner Merkur und die Berliner Zeitung, für 1921 die Sozialistischen Monatshefte. Vergleichbare Symbolisierungen des Grauens Ànden sich in anderen Zeitungen der Zeit, beispielsweise nahezu wortgleich in der Kölnischen Zeitung, BASF-Archiv Nr. 631a: Explosion. Hier ist von einem „Blitz“ und einer gleich darauffolgenden schwarzen „Rauchsäule“ die Rede. Etwas modiÀziert ist die Wortwahl im Mannheimer General-Anzeiger, ibid., Nr. 437: Explosionskatastrophe, der von einer „ungeheure[n] StichÁamme“ und „ohrenbetäubende[m] Knall“ spricht. 104 Exemplarisch ibid., Nr. 411; Katastrophe; ibid., Nr. 437: Anilinwerk, ibid., Nr. 480: Explosionskatastrophe; ibid., Stätte, in: Der Westen und Paeffgen: Augenzeugenbericht. 105 BASF-Archiv: Erlebnisbericht, in: Schwäbische Landeszeitung.

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mitten im Inferno mit dem Verweis auf die am heutigen Tag ausbleibenden Passkontrollen an der Zonengrenze und der VerzweiÁung von Menschen, die auf ihre Angehörigen warten. Durch die narrative Struktur, die der Verfasser seinem Text gibt, setzt er der Normalität eines Sommernachmittags Zerstörung und Verlust, zugleich aber auch die Überwindung von Trennendem im Wegfall der Zonengrenze gegenüber. Beide Pole werden durch die apokalyptischen Bilder, eine Aufzählung der Plagen – Erdbeben106, Finsternis, Ströme von Blut hier in Begriffen des Fließens und der Verwundung von Menschen gefasst, versengende Hitze und Geschwüre – verbunden. Auf diese Weise stellt der Augenzeuge in gewaltigen Worten und Bildern den Zeitenenden-Charakter der Katastrophe in der Vernichtung einer behelfsmäßig verfassten Nachkriegszeit dar, ohne diesen an ein erkennbares Gerichtshandeln, wie es das biblische Vorbild in der Offenbarung des Johannes vorsieht, zurückzubinden. Stattdessen konstruiert er menschliche Gestaltungsmacht, die sich im Wegfall der Zonengrenze angesichts der Katastrophe äußert – ein Zeichen, dass ZeitenwendenCharakter hat. Es weist in eine politisch-nationale Zukunft. Es wird deutlich, dass die Rückgriffe auf eine überkommene, eingeführte biblische Symbolik im 20. Jahrhundert nicht in religiösen Kontexten stehen. Dies ist angesichts einer „Privatisierung religiöser Zugehörigkeitsentscheidungen“107 sowohl hinsichtlich der Konfessionalität als auch mit Blick auf eine Beteiligung an Glaubensüberzeugungen und -praktiken generell nicht möglich. Zu indifferent sind für die untersuchten Massenmedien die Haltungen einer imaginierten oder erwarteten Leserschaft in den beiden Untersuchungszeiträumen. Allerdings eröffnet die Anlehnung an Strukturmerkmale der biblischen Narrative angesichts einer verstärkten Hinwendung zu Religion und Frömmigkeit im Nachgang der Kriege und vor allem einer durch christliche Werte geprägten Sozialisation108 Interpretationsräume ohne sie zu determinieren. So können die modernen Pressetexte im Anschluss an die christliche Überlieferung von den Zeitgenossen durchaus religiös gedeutet und im Sinne einer Strafe für gesellschaftliches Fehlverhalten, das Reue verlangt, gelesen werden.109 Insbesondere 1948 liegt dies in ReÁexion auf die nationalsozialistischen Verbrechen und zwei von Deutschland ausgegangenen Weltkriegen nahe.110 In den Pressentexten selbst bleibt die Ausformulierung eines sol106 Noch deutlicher in einem Bericht zum Unglück des Jahres 1921. Damals schrieben die Heidelberg Neuesten Nachrichten: „Heute Morgen um 7.33 Uhr vernahm man in H e i d e l b e r g eine ungeheure Erd- und Lufterschütterung, die mit einem starken donnerähnlichen Knall verbunden war. Die Häuser wankten.“ BASF-Archiv, Nr. 220: Explosionskatastrophe (Hervorhebung aus Original übernommen). 107 Hier und im folgenden Kaube: Apokalypse, S. 290 f. Das Zitat Àndet sich auf S. 290. 108 Eine solche an christlichen Grundwerten orientierte Sozialisation wird innerhalb des Untersuchungszeitraum institutionell vor allem durch ideologische Vorgaben und Jugendorganisationen in der Zeit des Nationalsozialismus infrage gestellt. 109 Zum Motiv der Buße in der Flugblätter-Katastrophenberichterstattung des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Zeller: Wahrnehmung, S. 31–34. 110 So schreibt beispielsweise Der Westen am 3.8.1948: „Möge die Hand der Vorsehung das Unglück von Ludwigshafen zum Zeichen machen einer Gesinnung, die uns läutert zur Friedfertig-

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chen Deutungsmusters im Anschluss an apokalyptische Darstellungsformen jedoch singulär. Wesentlich häuÀger als eine Rhetorik der Reue Àndet sich in den veröffentlichten Zeitungsartikeln des 20. Jahrhunderts die Rede vom bewussten gesellschaftlichen Verzicht auf Vergnügungen und öffentliches Leben als Reaktion auf das in Anlehnung an biblische Narrative kommunizierte industrielle Unglück. Ein solcher Verzicht wird in der Berichterstattung der Zeit als Ausdruck der Solidarität und Gemeinschaftsbildung nach innen verstanden.111 Im geteilten und gemeinschaftlich getragenen Leid, so eine den Pressetexten sowohl 1921 als auch 1948 eingeschriebene Überlegung, zeige sich die Zusammengehörigkeit der Nation als Voraussetzung für deren internationale Anerkennung.112 Auch diese säkulare Aneignung einer apokalyptisch dargestellten Vernichtungswirkung industrieller Unglücke baut auf der Kenntnis der Ursprungstexte auf, sieht den Bezugspunkt einer möglichen Überwindung von Tod und Grauen aber nicht in der Abkehr von bisherigen Handlungsweisen und der Vergebung durch eine höhere Instanz.113 Vielmehr fordern die Texte performatives, auf nationale Einheit ausgerichtetes Handeln. In dieser Sicht erscheint die sprachlich stilisierte Apokalypse der Industrieunfälle als Tiefpunkt in der Geschichte einer Stadt oder Region, der durch Integration aufzubauende oder zu stärkende nationale Strukturen und Selbstbestimmungsrechte überwunden werden kann. Auf diese Weise wird dem Geschehen eine Zukunft eingeschrieben, die jenseits christlicher Heilserwartung in der menschlichen Gestaltbarkeit von Politik und der Hoffnung auf den Nationalstaat114 liegt. Ordnung und Gestaltung. Ein Fazit Die Narrative, auf die vor allem die gedenkende Kommunikation industrieller Katastrophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland strukturell zurückgreift, ebenso wie die politisch wie medial gebundenen Formen der Verkettung von Inforkeit.“ BASF-Archiv: Hand, in: Der Westen. 111 So berichtet beispielsweise die Kölnische Zeitung 1921 davon, dass am Tag des Unglücks sämtliche Veranstaltungen in der Stadt ausfallen und die Rheinpfalz weiß in den Wochen nach dem Unglück 1948 von ungewöhnlicher Ruhe in Ludwigshafen zu berichten. Für beide BASF-Archiv: Unglück, in: Kölnische Zeitung; Eine Stadt trauert, in: Die Rheinpfalz. Vgl. hierzu PÀster: Naturkatastrophen, S. 16, hier besonders Fußnote 48, mit der Blick auf die soziale Dimensionierung des Erdbebens von Lissabon durch Beschränkung in der Mitte des 18. Jahrhunderts. 112 Dabei wird unter der beschriebenen und geforderten Anteilnahme mehr als nur Empathie und öffentliche Ruhe verstanden. 1921 und 1948 werden die Deutschen über die Zeitungen zu praktischen und Ànanziellen Hilfeleistungen aufgefordert. Die Wirkungen dieser Aufrufe sind für 1921 – positiv wertend – in der Denkschrift über die Tätigkeit des Hilfswerk Oppau dokumentiert; Denkschrift. 113 Im christlichen Verständnis wäre dies Gott, säkular ausgelegt könnten auch die Siegermächte oder die Opfer deutscher Gewalttaten als eine solche Instanz verstanden werden. 114 Es ist zu berücksichtigen, dass die Verfasstheit des Nationalstaats und seine Einbindung in die internationale Gemeinschaft in beiden untersuchten Zeitabschnitten durchaus different verstanden wird.

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mationen in der zeitnahen Berichterstattung der ersten 24 Stunden, dienen der Ordnung und Vermittlung ‚unsagbaren Grauens‘. Sie ermöglichen die Transformation von disparaten Einzelwahrnehmungen und Ereignisse zu einem katastrophalen Geschehen. Auf diese Weise werden die Industrieunglücke gesellschaftlich dimensioniert. Sie bekommen innerhalb historisch deÀnierter politischer Konstellationen Ort und Bedeutung zugewiesen. In ReÁexion auf diese können in den Pressetexten Verhaltens- und Handlungsoptionen einer massenmedial konstruierten Öffentlichkeit entworfen werden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Katastrophenberichterstattung 1921 wie 1948 an das Mitgefühl der Zeitgenossen appelliert. Sie tut dies zum einen durch die massenmediale Logik der Informationsvermittlung, die lokale Katastrophen national oder international kontextualisiert. Zum anderen ermöglicht die narrative Struktur der Texte vielfältige Lesarten des Geschehens. Religiöse Aneignungen durch die Zeitgenossen sind ebenso möglich wie säkulare, politisch-ideologische Rückbindungen, die auf Zusammenhalt nach innen und Akzeptanzgewinn für nationale Ansprüche nach außen gerichtet sind. Durch die unterschiedlichen Ebenen narrativer Gestaltung massenmedial vermittelter Katastrophenkommunikation werden somit Handlungsräume entworfen, die nicht nur auf die Bewältigung des jeweiligen Unglücks, sondern auch auf die Verhandlung umfassender Kontingenzerfahrungen infolge zweier Weltkriege gerichtet sind. Sie sind durch strukturelle Ein- und Ausschlüsse einerseits, die Offenheit, einzelne kommunikative Akte im Rezeptionsvorgang zu (re-)kombinieren, andererseits gekennzeichnet. Narrative, ebenso wie politisch und medial gebundene Verkettungsformen von Informationen ermöglichen damit die Thematisierung dessen, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich undenkbar war: die Infragestellung technisch-industriellen Fortschritts als Grundlage gesellschaftlicher Wohlfahrt. Zugleich eröffnen sie die Möglichkeit der Kontinuitätsbildung und Zukunftsgestaltung angesichts von materiellen und wahrgenommenen katastrophalen Brüchen. Archivquellen BASF-Archiv, Ausschnittsammlung Nachrichtenabteilung (Quellen zu Oppau 1921): –, Nr. 202: Stickstoffwerk in die Luft geÁogen. – Zahllose Menschenleben vernichtet, in: Bergische Arbeiterstimme, 22. Sept. 1921. –, Nr. 220: Eine Explosionskatastrophe in Oppau. Mehrere Hundert Tote, in: Heidelberger Neueste Nachrichten, 21. Sept. 1921. –, Nr. 220a: Furchtbares Explosionsunglück. 700 Tote und Verwundete, in: Tübinger Chronik, 21. Sept. 1921. –, Nr. 221: Ein neuer Arbeitermord des Kapitalismus, in: Sozialistische Monatshefte, 22. Sept. 1921. –, Nr. 221: Die Ursache der Explosion, in: Neußer Zeitung, 22. Sept. 1921. –, Nr. 222: Von Schlachtfeld der Arbeit. Die furchtbare Explosionskatastrophe in Oppau, in: Rheinische Zeitung, 22. Sept. 1921. –, Nr. 223: Die Katastrophe in Oppau, in: Freie Presse, 23. Sept. 1921. –, Nr. 411: Eine Katastrophe in Oppau. Die Anilinfabrik bei Ludwigshafen in die Luft geÁogen, in: Kölner Tageblatt, 21. Sept. 1921. –, Nr. 428: Eine furchtbare Explosionskatastrophe bei Ludwigshafen, in: Wiesbadener Tageblatt, 21. Sept. 1921.

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–, Nr. 430: Die Explosionskatastrophe bei Ludwigshafen, in: Wiesbadener Tagblatt, 22. Sept. 1921. –, Nr. 433: Folgenschwere Explosion, in: Hallesche Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 437: Das Anilinwerk Oppau in die Luft geÁogen, in: Stuttgarter Neues Tageblatt, 21. Sept. 1921. –, Nr. 437: Explosionskatastrophe in der Anilinfabrik, in: Mannheimer Generalanzeiger, 21. Sept. 1921. –, Nr. 442: Das Explosionsunglück in Ludwigshafen. Letzte Telegramme, in: Fränkischer Kurier, 21. Sept. 1921. –, Nr. 442a: Furchtbares Unglück in der Salpeterfabrik Oppau. Schwere Schäden, in: Krefelder Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 443: Große Zahl der Opfer. Rettungsmaßnahmen, in: Tägliche Rundschau, 22. Sept. 1921. –, Nr. 444: Die Oppauer Katastrophe, in: Krefelder Zeitung, 22. Sept. 1921. –, Nr. 445: Explosionskatastrophe in der badischen Anilinfabrik. Das Werk Oppau in die Luft geÁogen. – Hunderte von Toten und Schwerverletzten, in: Berliner Tageblatt, 21. Sept. 1921. –, Nr. 445: Schwere Explosionskatastrophe, in: Dresdner Anzeiger, 21. Sept. 1921. –, Nr. 445: Das Oppauer Stickstoffwerk explodiert. Die größte Industrie-Katastrophe des Kontinents – 800 Tote und Verwundete – Zerstörungswirkungen in 80 km Umkreis, in: Vossische Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 446: Furchtbares Explosionsunglück, in: Vorwärts, 21. Sept. 1921. –, Nr. 480: Furchtbare Explosionskatastrophe. Kesselexplosion auf den Badischen Anilin- und Sodawerken, in: Coblenzer Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 631: Ein schweres Unglück. Explosion des Stickstoffwerks in Oppau, in: Kölnische Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 631a: Die Explosion von Oppau. Eine der größten Katastrophen, in: Kölnische Zeitung, 21. Sept. 1921. –, Nr. 679: Oppau. Bisher 300 Leichen geborgen, in: Kölnische Volkszeitung, 22. Sept. 1921. BASF-Archiv, Ausschnittsammlung (Quellen zu Ludwigshafen 1948): –, Feierliche Beisetzung der Opfer von Ludwigshafen. Die Werktätigen der sowjetischen Besatzungszone solidarisch mit den Opfern, in: Tägliche Rundschau, Berlin, 3.8.48. –, Deutschland schart sich um die Opfer am Rhein. Ludwigshafen eine nationale Katastrophe, in: Münchner Merkur, 30.7.48. –, Einzelheiten der Explosionskatastrophe. Augenzeugen berichten/1000 Meter hoher Rauchpilz/ Das Werk ein Trümmerhaufen, in: Berliner Zeitung, Berlin, 30.7.48. –, Ein Erlebnisbericht, in: Schwäbische Landeszeitung, Augsburg, 3.8.48. –, Deutschlands schrecklichste Explosionskatastrophe. Badische Anilin- und Sodawerke in Ludwigshafen vernichtet – Bisher 600 Tote und 1400 Schwerverletzte geborgen – Zahl der Opfer wahrscheinlich viel höher – Ursache: Phosgengas für die Herstellung von V 2, in: Abendpost, Weimar, 29.7.48. –, Explosionskatastrophe in Ludwigshafen. Teile der Nitro-Lackfabrik der IG-Farben zerstört – Die Zahl der Opfer noch unbekannt, in: Allgemeine Zeitung, Mainz, 29.7.48. –, Grauenvolle Explosionskatastrophe. IG-Farben Ludwigshafen in die Luft geÁogen – Hunderte Tote, Tausende Verletzte – Schwere Schäden in Ludwigshafen und Mannheim. Vermutungen über den Explosionsherd, in: Hamburger Echo, Hamburg, 29.7.48. –, Deutschlands furchtbarste Explosionskatastrophe – 1000 Tote geborgen. Die Badische Anilinwerke in Ludwigshafen Áogen in die Luft, in: Freie Presse, Zwickau, 29.7.48. –, Zweifaches Gedenken, in: Telegraf, Berlin, 3.8.48. –, Die Hand des Todes, in: Der Westen, Neuwied, 3.8.48. –, Die Katastrophe in der „Anilin“ Ludwigshafen, in: Thüringer Volk, Gera, 3.8.48. –, Katastrophe in Ludwigshafen, in: Neue Zeit, Berlin, 29.7.48. –, Die Pfalz trauert mit Ludwigshafen. Die Katastrophe in der Anilin, in: Die Rheinpfalz, Neustadt, 29.7.48.

„Unsagbares Grauen“

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–, Eine Stadt trauert, in: Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, 3.8.48. –, Stätte des Grauens und Schreckens. Einzelheiten zur Katastrophe in Ludwigshafen, in: Abendpost, Weimar, 29.7.48 –, An der Stätte der Katastrophe. Ein Augenzeuge berichtet, in: Der Westen, Neuwied, 3.8.48. –, Stunden des Abschieds in Ludwigshafen. Zehntausende wohnten dem feierlichen Staatsakt auf dem Marktplatz bei – Einsegnung der Opfer auf dem Friedhof, in: Die Rheinpfalz, Neustadt, 3.8.48. –, Das Tagesereignis, in: Schwäbische Zeitung, Leutkirch Allgäu, 3.8.48. –, Tausende trauerten um die Ludwigshafener Opfer. Die Trauer- und Beisetzungsfeierlichkeiten, in: Wetzlarer Neue Zeitung, Wetzlar, 3.8.48. –, Trauerfeier in Ludwigshafen, in: Westfalen-Zeitung, Bielefeld, 3.8.48. –, Trauerfeier in Ludwigshafen. General König ehrt die Opfer des Explosionsunglücks, in: Weser Kurier, Bremen, 3.8.48. –, Trauerfeier für die Opfer von Ludwigshafen. In Anwesenheit von General König und Vertretern der deutschen Regierungen, in: Südkurier, Konstanz, 3.8.48. –, Die Ursache noch nicht bekannt. Erste Untersuchungsergebnisse in Ludwigshafen, in: Allgemeine Zeitung, Mainz, 29.7.1948. – , 600 Tote in Ludwigshafen. Schweres Explosionsunglück in der Badischen Anilin- und Sodafabrik, in: Main-Echo, Aschaffenburg, 29.7.48.

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RISIKOVERHALTEN UND ‚STÖRFALLKRISEN‘ IN DER CHEMISCHEN INDUSTRIE. EINE UNTERNEHMENSGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVE Thilo Jungkind 1. Die Problemstellung Die Produktion der chemischen Industrie birgt Risiken in sich. Chemieunternehmen avancieren damit in einer industrialisierten Moderne zu Wohlstands- und Risikoproduzenten zugleich. Dies wird insbesondere für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg überdeutlich, in der die Produktion enorme Ausmaße annahm und Umweltrisiken gravierender zu Tage traten.1 In weiten Teilen der öffentlichen Meinung herrscht noch heute Konsens, dass die großen Chemiewerke Gefahrenherde und Umweltsünder erster Güte sind. Die Unternehmen werden unter anderem deswegen unter Generalverdacht gestellt. Wir haben es dabei mit einem historisch gewachsenen Vertrauensverlust zu tun, der moderne Verhaltensstrategien und Nachhaltigkeitskonzepte sowie die Diskussion um unternehmerische Verantwortung auf Seiten der Unternehmen erzwang. Angesichts der Relevanz dieser Themen ist verwunderlich, dass Hartmut Berghoff und Mathias Mutz unlängst ein beträchtliches Forschungsdesiderat aufzeigten: „There is no study from a business-historical perspective“.2 Gemeint sind unternehmensgeschichtliche Arbeiten für die Zeit nach 1945, die sich aus unternehmensinterner Sicht mit einer dezidierten Quellenanalyse dem Themenfeld von Risikopotentialen insbesondere für die Umwelt zuwenden. Dieser Beitrag stellt daher folgende Leitfragen: Wie haben die Unternehmen in unterschiedlichen historischen Settings produktionsinduzierte Risiken wahrgenommen und bewältigt? Welche Verhaltensmuster und Managementpraktiken strebten sie an, wo sind die Gründe für den Wandel im unternehmerischen Handeln und ihres institutionellen Arrangements zu suchen? Lösen technisch-chemische Störfälle zwangsläuÀg Unternehmenskrisen aus oder ist nicht viel stärker die jeweilige historisch-kulturelle Bewertung der Vorfälle in den Blick zu nehmen?3 1 2 3

Vgl. Teltschick: Großchemie, S. 188. Berghoff und Mutz: Missing Links, S. 13. Zu den unterschiedlichen Ansätzen der Disziplin: Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte; Jones und Zeitlin: Handbook. Zu einer ökonomisch ausgerichteten Unternehmensgeschichte: Pierenkemper: Unternehmensgeschichte. Für eine kulturwissenschaftliche Erweiterung exemplarisch Wischermann: Kultur, S. 17–31. Teils kritisch Hesse, Kleinschmidt und Lauschke: Herausforderungen, S. 9. Im Zuge einer modernen, interdisziplinären und integrierten Unternehmensgeschichtsschreibung sind mehrere Aspekte von Bedeutung: Erstens sind Unternehmen der chemischen Industrie Ausgangspunkt von produktionsinduziertem Risiko für

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Der vorliegende Beitrag verfolgt eine doppelte Zielsetzung: In einem ersten Teil möchte er die methodischen und konzeptionellen Herausforderungen solcher Fragestellungen aufzeigen und die Fruchtbarkeit eines solchen Zugangs nicht nur für die Unternehmensgeschichte, sondern auch für eine historisch-qualitativ arbeitende Betriebswirtschaftslehre extrahieren: Im besten Fall können die folgenden Überlegungen damit zur Basis werden, um in weiteren Forschungen konkrete Handlungsstrategien für Unternehmen zu entwerfen. Grundlage dafür sind empirische Studien zum historischen Wandel im Umgang mit Störfallkrisen der chemischen Industrie: In einem zweiten Teil werden sie anhand von Fallbeispielen entwickelt, die sich aus Quellen unterschiedlichster Funktionsbereiche der Unternehmen Bayer und Henkel speisen. 2. Risiko, Störfall und Krise Am Anfang einer wissenschaftsgeschichtlichen Beschäftigung mit den Themenkomplexen Risikoverhalten und Störfallkrisen muss zunächst eine Klärung der zentralen Begriffe Risiko, Störfall und Krise stehen: Risiko: Risikoforschung nicht nur hinsichtlich der Frage nach technischen Risiken und deren gesellschaftlichen Zuschreibungen beschäftigt seit langer Zeit die unterschiedlichsten Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften.4 Eine formalisierte Betriebswirtschaftslehre hingegen hat keine Probleme, den Begriff zu fassen. Risiko muss eine mess- und distinguierbare Größe sein. Risiko entspricht dort der Eintrittswahrscheinlichkeit eines möglichen Störfalls multipliziert mit der Schadenshöhe.5 Doch sind Versagensrisiken technischer Anlagen – oder der Menschen, die sie bedienen – nicht einfach monetär bezifferbare Größen. Mit Karl-

4 5

ihre natürliche und lebensweltliche Umwelt. Der Begriff Umwelt bezeichnet die natürliche und die „künstliche“ (wirtschaftliche, politische, technische und gesellschaftliche) Umgebung von Unternehmen. Vgl. Gabler: Wirtschaftslexikon, S. 3003. In diesem Beitrag werden die Begriffe natürliche und lebensweltliche Umwelt synonym gebraucht, wobei die natürliche Umwelt physische Gebilde wie Gewässer, Luft und Infrastrukturen sind. Lebensweltliche Umwelten hingegen werden als gesellschaftliche Erwartungshaltungen und Strukturen bezeichnet, die sich auf allgemeines Unternehmenshandeln beziehen, etwa hinsichtlich des Umgangs mit der natürlichen Umwelt. Hieraus folgt zweitens, dass eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie diese Umwelt mit in die Analyse der internen Wandlungsprozesse des Unternehmens einbeziehen muss. Drittens ergibt sich der Anspruch an eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie in diesem Beitrag, die sich wandelnden strategischen Handlungen der betrachteten Unternehmen darzustellen und in ihrem historischen Kontext zu verorten. Erste Versuche, die zeigen, wie soziokulturelle Kontexte und unternehmerisches Handeln in wechselseitiger Abhängigkeit stehen, wurden von Hartmut Berghoff unternommen, der in seiner Habilitationsschrift eine „Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ postuliert. Vgl. Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt, S. 15. Jüngst auch Raasch: Wir sind Bayer, S. 20–24. Alle Arbeiten sind jedoch noch als methodische und theoretische Experimente zu verstehen. Vgl. Bechmann: Risiko und Gesellschaft, S. VII. Vgl. Rosenkranz und Missler-Behr: Unternehmensrisiken, S. 20.

Risikoverhalten und ‚Störfallkrisen‘ in der chemischen Industrie

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Siegbert Rehberg sind Risiken als die „Präsenz des Möglichen“ beschreibbar.6 Die Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit und ihrer Folgen wiederum ist eine „soziale Konstruktion von Wirklichkeit“ innerhalb der Miniaturgesellschaft Unternehmen.7 Die Bewertung und Wahrnehmung der produktionsinduzierten Risiken innerhalb des Hierarchiegefüges eines Unternehmens und seine daraus folgenden Eindämmungsversuche vom Chemiewerker bis zum Vorstandsvorsitzenden, ändern sich im betrieblichen Alltag im Laufe der Zeit. Dies gilt auch für den Umgang mit technischen Anlagen hinsichtlich möglicher schädlicher Wirkungen. Störfall: In diesem Beitrag geht es ausschließlich um den Begriff „Störfall“ im Kontext chemisch-technischer Anlagen.8 Störungen technischer Systeme beschreibt Ulrich Krystek kurz mit Dysfunktionalitäten im Bereich des Sachpotentials von Unternehmen.9 Sie können im alltäglichen Geschäftsbetrieb nie vollständig ausgeschlossen werden, wobei sich ihre Intensität innerhalb eines Kontinuums bewegt, das von der Betriebsstörung ohne Folgen bis hin zum größten anzunehmenden Unfall heranreicht.10 Somit sind Störfälle das physische Wahrhaftigwerden des Risikos. Diese phänomenologische Sichtweise des (Nicht-)Funktionierens versperrt aber die Sicht auf die mögliche Außenwirkung. Ein wesentliches Merkmal eines chemisch-technischen Störfalls ist die mögliche Schädigung des Raumes jenseits der Werkstore, was allerdings erst im Jahre 1980 eine formell-institutionelle Rahmung in der Bundesstörfallverordnung erhielt: „Störfall […] ist eine Störung des bestimmungsgemäßen Betriebes, durch die ein Stoff […] frei wird, entsteht, in Brand gerät oder explodiert und eine Gemeingefahr hervorgerufen wird. Gemeingefahr […] ist eine Gefahr für Leben oder hinsichtlich schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen von Menschen, die nicht zum Bedienungspersonal des gestörten Anlagenteils gehören, […], für Sachen von hohem Wert, die sich außerhalb der Anlage beÀnden, falls durch eine Veränderung ihres Bestandes oder ihrer Nutzbarkeit das Gemeinwohl beeinträchtigt wird.“11 Krise: Wie auch die Risikoforschung ist die Krisenforschung ubiquitär. Die Erforschung von Unternehmenskrisen spiegelt sich zumeist in Beraterliteratur der Betriebswirtschaftslehre wider, die Frühwarnsysteme evaluieren und strategische 6

Zit. nach Itin: Tagungsbericht Krisengeschichte(n). ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. 23.07.2009–25.07.2009, Heidelberg, in: H-Soz-u-Kult, 25.09.2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2782 (14.04.2011). 7 Zur Umsetzung sozialkonstruktivistischer Ansätze in der Unternehmensgeschichte vgl. Niebering und Wischermann: Paradigma, S. 40. 8 Die Auseinandersetzung mit Störungen und Störfällen erfährt in den Kulturwissenschaften gegenwärtig eine Renaissance. So fand etwa vom 12. bis 14. Mai 2010 in Berlin eine Tagung mit dem Titel „Störfälle. Epistemologie, Performanz, Ästhetik“ statt. Rein technische Störfälle in interdisziplinärer Perspektive Ànden an den Universitäten Konstanz und Heidelberg Beachtung: Gemeinsame Tagung in Konstanz am 04. und 05. März 2010 „Industrielle Krisenkommunikation im 20. Jahrhundert. Theoretische Bestimmung und kommunikative Bewältigung industrieller Störfallkrisen im deutschen Sprachraum in historischer Perspektive“. 9 Vgl. Krystek, Moldenhauer und Angsten: Restrukturierungsmanagement, S. 29. 10 Zur Unvermeidbarkeit technischer Ausfälle und ihren Risiken vgl. Perrow: Normale Katastrophen. Ders.: The next Catastrophe. 11 Störfall-Verordnung, § 2 (1), (2), (3).

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Bewältigungskonzepte offerieren will. Sowohl die Betriebswirtschaftslehre als auch die Unternehmenshistoriographie widmet sich meist klassischen Konjunkturund Produktkrisen.12 Die Auseinandersetzung mit Unternehmenskrisen infolge von Störfällen bildet in beiden Disziplinen ein Forschungsdesiderat. Durch die beschriebene Verzahnung der Begriffe Risiko und Störfall wird deutlich, dass mögliche Krisen, die auf einen Störfall zurückzuführen sind, in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber dem Risiko- und Störfallverhalten von Unternehmen stehen. Frühwarnsysteme wie auch Bewältigungsstrategien sind aus unternehmenshistorischer Sicht kontextgebunden. Der (historische) Krisenbegriff steht für einen Scheidepunkt, eine mögliche Wende, welcher sich ein Unternehmen im übertragenen Sinne gegenübersieht.13 Dabei wird das Unternehmen durch die Krise – bzw. ihren Auslöser, also den Störfall –, bedroht, was jedoch nicht im Untergang des Unternehmens enden muss.14 ‚Störfallkrisen‘ sind aus dieser Sicht als unplanbarer und ungewollter, auf einen Störfall zurückzuführender Prozess des institutionellen Wandels zu verstehen, der von einem produzierenden Unternehmen mit einem risikoreichen Produktportfolio ausgelöst wird. Nach Störfällen sollte also der Wandel des herrschenden institutionellen Arrangements, das von essentieller Bedeutung für das alltägliche Wirtschaften des Unternehmens ist, eine obligatorische Maßnahme des Verursachers sein. Doch können wir diesen Wandel im inner-unternehmerischen institutionellen Arrangement in der Geschichte von Unternehmen der chemischen Industrie tatsächlich durchgehend beobachten? Es gilt dabei zu bedenken, dass geltende Spielregeln und sinnhafte Handlungsmuster innerhalb des Unternehmens gleichwohl durch die Einbettung eines Unternehmens in seine gesellschaftliche Umwelt determiniert werden, die damit zu ökonomischen Kerngrößen aufsteigen. Die Werkstore werden damit zu einer von beiden Seiten durchlässigen Membran, was sich in der Strategie des Unternehmens raum- und zeitabhängig widerspiegelt. 3. Unternehmen in institutionellen und kulturellen Rahmungen Wie Hesse, Kleinschmidt und Lauschke unlängst behaupteten, sei eine institutionentheoretisch ausgerichtete Unternehmensgeschichte nicht mehr handlungsfähig, ja an ihr Ende gekommen:15 Sie scheitere an der Herausforderung, das GeÁecht aus dem Unternehmen (in diesem Falle als Störfallverursacher) und seinem gesellschaftlichen Umfeld (in diesem Falle als Betroffener) angemessen zu fassen. Die von ihnen benannte konzeptionelle Hürde liegt in der Vielzahl der zu berücksichtigenden instituti12 13 14

15

Vgl. Van de Kerkhof: Bewältigung, S. 9–19. Vgl. Vierhaus: Krise, S. 315. In Anlehnung an wissenssoziologische Erkenntnisse beschreibt Robert Stallings den Begriff Krise als „eine mögliche Wende, wo bisherige Routinen und Praktiken einem Wandel unterzogen werden. Sie impliziert nicht, dass der Ursprung der Krise ein lebensbedrohliches und physisch zerstörerisches Ereignis ist.“ Vgl. Stallings: Desaster-Studien, S. 45. Vgl. Hesse, Kleinschmidt und Lauschke: Herausforderungen, S. 13.

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onellen Ausprägungen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber dem betrachteten Unternehmen und deren Operationalisierung. Mosaiksteinartig muss aus Sozial-, Zeit- und Kulturgeschichte16, Umwelt17- und Technikgeschichte18 eine Rahmung gebildet werden. Auf der Analyseebene bedarf es eines Filtrats aus Quellen derjenigen Abteilungen des Unternehmens, die Aufschlüsse darüber geben, wie das Unternehmen seinen relevanten institutionellen und kulturellen Kontext wahrnimmt, und gleichzeitig Aufschluss über unternehmerisches Handeln bzw. Nichthandeln liefert, das auf diesen institutionellen und kulturellen Kontext zurückzuführen ist. Einen Ausweg bietet damit eine kulturwissenschaftlich argumentierende Unternehmensgeschichte, die unterstellt, dass Unternehmen deshalb funktionieren, „weil die Akteure in speziÀschen Sinnzusammenhängen handeln und ihre Handlungsregeln institutionalisieren. […] Organisationen und ihre Akteure wirtschaften in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten.“19 Diese Art des unternehmensgeschichtlichen Forschens bietet die Möglichkeit, die Kategorien Zeit und Kultur in eine ökonomische Theorie einzubinden.20 Im Folgenden wird daher das Theoriegebäude des Neoinstitutionalismus vorgestellt: Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie21 erhielt in den letzten Jahren einen Aufschwung in der zumeist qualitativ arbeitenden Organisationswissenschaft und steht in der Tradition einer neuartigen Wirtschaftssoziologie.22 Das Kernargument des Neoinstitutionalismus lautet: „Die Umwelt von Organisationen besteht aus institutionalisierten Erwartungsstrukturen, die die Ausgestaltung von Organisationen nachhaltig prägen.“23 Diese starke Behauptung ist nur in Teilen mit einer ökonomischen Handlungstheorie vereinbar.24 Insbesondere die von Douglass North beeinÁusste institutionenökonomische Theorie kann eine Verbindung von historischen Kontexten, Kul16 17 18 19 20 21 22

23 24

Neuerdings Schildt und Siegfried: Kulturgeschichte, sowie Doering-Manteuffel und Raphael: Boom. Treffend hierzu Groh und Groh: Ökologische Krise. Ebenso Winiwarter: Umweltgeschichte, S. 255–298. Einen guten Überblick bietet König: Technikgeschichte, insbesondere S. 109–216. Wischermann: Kultur, S. 17. Die Beschränkung auf die Erforschung innerer Phänomene wird durch das Postulat von Clemens Wischermann, wonach Organisationen in kulturgeprägten Kontexten wirtschaften, aufgebrochen. Die Begriffe Organisation und Unternehmen werden im Folgenden synonym verwendet, was mit der Theorie konform ist. Einen hervorragenden Überblick bieten Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie. Deterministische Konzepte der ‚öffentlichen Exponiertheit‘ werden hier nicht diskutiert. Vgl. dazu Ulrich: Unternehmung, Freeman: Stakeholder Approach, und Dyllik: Umweltbeziehungen. Zur Ausrichtung der Theorie in Bezug auf ihre AfÀnität zur Wirtschaftssoziologie vgl. Maurer und Schimank: Die Gesellschaft der Unternehmen. Die Einbeziehung institutionalisierter Erwartungsstrukturen in unternehmerische Strategie und deren EinÁüsse auf das Organisationsverhalten zu erklären, ist partiell von der Neuen Institutionenökonomik zu leisten. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 11. Vgl. Richter und Furobotn: Neue Institutionenökonomik. Zu möglichen Bindegliedern der beiden Ansätze vgl. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 151–158 sowie Ferraro, Pfeffer und Sutton: Self-FulÀlling, S. 13–16.

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tur und (In-)EfÀzienz herstellen. North selbst weicht hierfür in jüngster Vergangenheit von einem Kernstück der ökonomischen Theorie und ihres Handlungsmodells ab, indem er den Glauben an eine universalistische Gültigkeit ad acta legt: In diesem Irrglauben sieht er einen „der Gründe, warum Wirtschaftswissenschaftler als Berater anderer Länder so oft falsch liegen. Sie gehen davon aus, dass ein und dasselbe Wirtschaftsmodell überall anwendbar ist. Aber das kulturelle Erbe, das dafür verantwortlich ist, inwieweit wir dieses Wirtschaftsmodell als ein sinnvolles betrachten, ist eben nicht universal.“25 North exponiert das kulturelle Erbe einer Gesellschaft. Hierzu gehören auch regelmäßige historische Verschiebungen von institutionalisierten Erwartungshaltungen gegenüber Organisationen. Die von North angesprochenen Versuche, institutionelle Rahmenbedingungen zu gestalten, erfahren in neoinstitutionalistischen Organisationstheorien jedoch einen Perspektivenwechsel, der sich von einem universalistischen Steuerungsanspruch entfernt. Institutionelle und kulturelle Rahmungen werden nicht gestaltet, Organisationen reagieren auf sie, was zwangsläuÀg dazu führen muss, dass sich ähnliche Organisationen und inner-organisatorische Verhaltensmuster ausprägen.26 3.1 Institutionen und Kultur Der Neoinstitutionalismus versteht unter Institutionen „institutionalisierte Regeln, Erwartungen oder Vorstellungssysteme bzw. Interpretationsschemata“ oder „verfestigte soziale Erwartungsstrukturen“.27 Dies führt dazu, dass in bestimmten sozialen und historischen Situationen von bestimmten Typen von Akteuren, im Speziellen von Organisationen, erwartet wird, dass sie deÀnierte Handlungsskripte anwenden.28 Diese grundlegende DeÀnition präzisierend, trennt William Scott zugleich zwischen regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Dimensionen von Institutionen, wobei er die kulturell-kognitive Dimension als am wirkungsmächtigsten in ihrer handlungsbeschränkenden und damit Risiko minimierenden Eigenschaft ansieht.29 Vor allem die letzt genannte Dimension ist stark an die Wissenssoziologie Berger-Luckmann’scher Prägung angebunden.30 Kultur wird dann

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North: Verständnis, S. 137. Die neoinstitutionalistische Tradition nimmt ihren Anfang bei der Erkenntnis, dass die Herausbildung institutionalisierter Regeln, die sich auf gewisse Bereiche der Arbeitsaktivität von Organisationen beziehen, dazu führen, dass sich die formale Struktur der Organisation und Teilorganisation in einer den institutionalisierten Regeln entsprechenden Weise ausformt und erweitert. Damit werden die unterschiedlichsten Ansprüche, die an Unternehmen in modernen Gesellschaften gestellt werden, größer und verändern sich schneller im Laufe der Zeit. Vgl. Meyer und Rowan: Formal Structure, S. 345. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 55. Ibid., S. 55. Vgl. Scott: Institutions and Organisations, S. 55–59. Vgl. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 60.

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zur Chiffre für kollektiv institutionalisierte Sinnwelten, innerhalb derer sich alltägliches Denken und Handeln entwickeln.31 Unternehmen sind in diesem Verständnis offene Systeme, die in ihr gesellschaftliches Umfeld eingebettet sind und von ihm durchdrungen werden.32 Durch Sedimentation bilden sich innerhalb eines Unternehmens Glaubenssysteme an die Richtigkeit und den (nicht notwendigerweise monetären) Nutzen der übernommenen Elemente heraus, wobei dies auf keinen Fall bedeutet, dass es immer wieder zu Widerstand hiergegen kommen kann. Es bleibt dann zu fragen, wie sich die Theorie in historischen Prozessen verändernder sozialer Strukturen abbildet und welche Anreize das Unternehmen hat, auf diese veränderten sozialen Strukturen und Erwartungshaltungen zu reagieren? Dies wird im Konzept des organisationalen Feldes operationalisiert. 3.2 Organisationale Felder Seit einiger Zeit herrscht ein weitläuÀges Verständnis des Feldbegriffes vor, das die Einbeziehung der gesamten relevanten Umwelt von Organisationen in den Blick nimmt. Das heißt, alle individuellen und kollektiven Akteure, die auf die Struktur, das Verhalten und das Überleben einer betrachteten Organisation EinÁuss haben, etwa auch Behörden, Ämter oder soziale Bewegungen, werden in die Analyse einbezogen und als Teil des organisationalen Feldes ausgewiesen.33 Mit Andrew Hoffmann wird das erweiterte Feldkonzept dann zu „centers of debates in which competing interest negotiate over issue interpretation“.34 Das organisationale Feld selbst bildet den kulturellen Kontext von Organisationen, wobei hier „‚Kultur‘ nicht allein dafür zuständig [ist], gegebene soziale Verhältnisse mit Sinn und Legitimation zu beliefern. Kulturelle Semantiken und soziale Strukturen bilden sich nicht isomorph aufeinander ab, sondern stellen zwei interdependente Größen dar, die sich auf spannungsreiche und dynamische Weise wechselseitig hervortreiben, bedingen und irritieren. ‚Kultur‘ soll nicht vorrangig darauf verpÁichtet werden, sozialen Konsens zu gewährleisten, sondern umfasst das Kontinuum aller Abweichungsgrade innerhalb von Praktiken und Diskursen und bringt dadurch einen Möglichkeitsüberschuss hervor, ohne den — so die Vermutung — Gesellschaften nicht hinreichend elastisch auf ihre innere Uneinheitlichkeit und Kontingenz zu reagieren vermöchten.“35 31 32

33 34 35

Vgl. Berger und Luckmann: Konstruktion sowie Schütz und Luckmann: Strukturen. Daraus resultieren ständige Aushandlungsprozesse innerhalb von Unternehmen über sich verändernde gesellschaftliche Erwartungshaltungen ebenso wie zwischen Unternehmen und diesen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen. Vgl. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 121. Vgl. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 34. Hoffmann: Evolution and Change, S. 351. Vgl. Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz: Wissenschaftliches Konzept, in: Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“

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Organisationale Felder expandieren zu einem Konglomerat, das stetig neue Logiken, Erwartungen und Diskurse hervorbringt, verhandelt und verändert. Durch eine solche Sichtweise verliert die Organisationszentrierung an Bedeutung zugunsten einer Themenorientierung innerhalb des Feldes, die auf das betrachtete Unternehmen einwirkt. Die Rolle eines Unternehmens als Mitglied des organisationalen Feldes ist somit aufgrund der inhärenten Felddynamik in ständiger Bewegung.36 Dies veranlasst den Unternehmenshistoriker, jene Einzelphänomene ausÀndig zu machen, hierdurch das sich im historischen Kontext ständig verändernde organisationale Feld ex post zu identiÀzieren und seine historische Dynamik und Einwirkungsmechanismen auf das betrachtete Unternehmen zu analysieren. Sowohl die das Unternehmen von außen durchdringenden kulturellen Kontexte wie auch die inneren Sinnsysteme, die dabei auf den Prüfstand gestellt werden, können mit modernen kulturtheoretischen Zugängen beschrieben und interpretiert werden. Es fehlt noch die Begründung, warum sich ein Unternehmen im Lichte der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nach den Vorgaben des organisationalen Feldes richtet oder zumindest den Eindruck erweckt, dies zu tun.37 Die Antwort liegt im Konzept der Legitimität und im Akteursverständnis des Ansatzes selbst.38 3.3 Legitimität und Akteure im Neoinstitutionalismus Das Überleben einer Organisation hängt in erster Linie von deren Legitimität ab. Legitimität wird dabei aber nicht als spezielle Ressource verstanden, die ebenso wie andere Ressourcen in (ökonomischen) Transaktionsbeziehungen eingesetzt werden kann, sondern als eine notwendige Bedingung, in der sich die Übereinstim-

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37 38

an der Universität Konstanz: Wissenschaftliches Konzept, URL: http://www.exc16.de/cms/ wiss-konzept.html (14.04.2011). Dem Einspruch, dass der Feldbegriff im NI (Neoinstitutionalismus, T. J.) als organisationaler Umweltbegriff zu kurz greift, wenn es darum geht, die Totalität des gesellschaftlich relevanten EinÁussraums auf Fokalorganisation zu erfassen , kann entgegen gehalten werden, dass gerade die themenorientierte DeÀnition von Feldern dies entkräftet. Vgl. Walgenbach und Meyer, S. 72. Dieses Phänomen wird im Neoinstitutionalismus als „Entkopplung“ bezeichnet. Vgl. Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 30. Die wirtschaftssoziologische Tradition des Neoinstitutionalismus führt zu einer Abkehr von einem basalen ökonomischen Handlungsmodell, das auf Generalkonzepten wie dem methodischen Individualismus, dem Marginalprinzip, der Gleichgewichtstheorie und der auf exogen modellierten und konsistenten Präferenzordnungen basierenden Nutzenmaximierung des homo oeconomicus beharrt. Vgl. Schmid und Maurer: Institution und Handeln, S.12. Für Unternehmen als Untersuchungsgegenstand neoinstitutionalistischer Fallstudien ergibt sich hieraus, dass nicht mehr die efÀziente Steuerung des institutionellen Arrangements überlebenswichtig sind. Es „rücken die institutionelle Konstruktion von Rationalität und EfÀzienz sowie das Legitimitätspotential von Praktiken und Strukturen, die als ‚natürlich‘, ‚normal‘ und ‚angemessen‘ oder mit Sachzwängen begründet in organisationalen Feldern etabliert sind oder in dieses eingeführt werden, ins Blickfeld einer institutionalistischen Analyse.“ Walgenbach und Meyer: Organisationstheorie, S. 70.

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mung der Organisation mit gesellschaftlich geteilten Werten, normativen Erwartungen sowie mit allgemeinen Regeln und Gesetzen widerspiegelt.39 Damit verschiebt sich aus meiner Sicht der rein ökonomische und rationale Handlungszweck eines Unternehmens hin zu einer ‚kulturrationalen‘ Sinnhandlung, die durch den institutionellen und historisch-kulturellen Kontext des Unternehmens geprägt wird und keinerlei Anspruch auf universale Gültigkeit mehr besitzt. Legitimität ist also eine Zuschreibung, die sich auf die Handlungen des sozialen Gebildes ‚Unternehmen‘ hinsichtlich eines bestimmten Themas des organisationalen Feldes bezieht. Die Erwartungen und Zuschreibungen bezüglich der Handlungsfähigkeit des Unternehmens sind gleichwohl eng mit den oben bereits angedeuteten Attributen wünschenswert und angemessen gekoppelt, die Teil eines epochal bestimmten Werte-, Normen-, Glaubens- und Begriffssystems sind. Auf den ersten Blick erscheinen Organisationen im Neoinstitutionalismus als handelnde Akteure passiv und töricht, die bereitwillig jedwede Art von institutionalisierten Strukturelementen und kulturrelevanten Themen übernehmen. Dies änderte sich mit dem besseren Verständnis von Institutionen im Sinne von Scott, das dem Akteur eine dezentrierte Stellung in der Theorie zuschreibt. An den Platz eines übersozialisierten Akteurs rückt ein Abwägender, die institutionelle und kulturelle Umwelt ReÁektierender, der sehr wohl im Eigeninteresse handelt.40 Dieses Eigeninteresse, so wird betont, unterscheidet sich jedoch von Annahmen, die dem ökonomischen Modell der rationalen Wahlhandlung entstammen.41 Aus diesen Überlegungen resultiert in der Theorie ein Machtbegriff, der auf eine Konkurrenzsituation von Wirklichkeitsdeutungssystemen hinweist und die spannungsreichen Aushandlungsprozesse zwischen Organisationen und ihren Umwelten fokussiert. Dass die neoinstitutionalistische Organisationstheorie in überzeugender Weise das veränderte Risikoverhalten von Unternehmen der chemischen Industrie zu erklären vermag, soll im Folgenden in einer kurzen Unternehmensgeschichte des veränderten Risikoverhaltens am Beispiel der Unternehmen Bayer und Henkel demonstriert werden. 4. Eine kurze Unternehmensgeschichte des veränderten Risikoverhaltens 4.1 Der Störfall als legitimer Kollateralschaden „Mit Volldampf voraus“, so lautete das Motto der alljährlichen Weihnachtskonferenz der Firma Henkel im Jahre 1948, das in der Werkzeitschrift 1949 an die Mitglieder des Unternehmens weitergegeben wurde.42 Die Wiederaufnahme und stetige Ausweitung der Produktion war das Primärziel der großen Chemiewerke, worin wie in den anderen Industriezweigen auch der unternehmerische Sinn gesehen 39 40 41 42

Ibid., S. 12–13. „Akteure sind in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie keine Trottel“. Ibid., S. 121. Ibid., S. 116. Vgl. „Blätter vom Hause“: 27. Jg. 1949, Heft 1, S.3.

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wurde. Die Risiken der sich stetig ausweitenden Produktion waren den Unternehmen durchaus bekannt. Die Emission von Stoffen über die Werksgrenzen hinaus wurde allerdings nur zögerlich zu verhindern versucht. Zu groß waren die eigenen Ansprüche, selbst einen großen Teil zum Wiederaufstieg der Bundesrepublik zu einer Industrienation beizutragen. Zudem konnten die Unternehmen aufgrund von fehlenden formalen und informellen Institutionen an alte Handlungsmuster im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken anknüpfen, die Stör- und Unfälle als Kollateralschäden im Kalkül zuließen.43 Zwar berichtet etwa ein Direktionsrundschreiben der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom Dezember 1955 von einem „Fischsterben unterhalb unseres Werkes. Die Untersuchung des Rheinwassers in diesem Zeitraum ergab einen erheblich höheren Phenolgehalt als sonst. Die Betriebe tragen dafür Sorge, daß auch keine stoßweise Abgabe solcher Produkte, insbesondere Phenol, in das Abwasser erfolgen kann“.44 Doch steuerten solche Appelle wenig zur Verbesserung der Verhältnisse bei. Fast monatlich kam es zu solchen Zwischenfällen im Einzugsgebiet des Werkes am Rhein, der zugleich die Trinkwasserquelle für die Menschen der Rheinschiene darstellte. Toxische Produkte wie auch die sogenannten üblichen Emissionen — dies waren vor allem säurehaltige Dämpfe und Stickoxide — gelangten unkontrolliert nach außen. Die Verhältnisse für die Nachbarn des Werkes wurden zunehmend problematischer und führten mitunter zu gesundheitlichen Schäden. So beschreibt ein Leverkusener Bürger den Zustand seiner Ehefrau den Bayerwerken gegenüber: „Meine Frau ist gerade erst von einem Erholungsaufenthalt zurückgekommen und liegt nun schon wieder da, der Arzt sagt, sie brauche schon wieder Luftveränderung […]. Wir haben uns schon an Asche und Farbe gewöhnt, aber dieser Gestank und die schlechte Luft nehmen einem den Atem“.45 Trotzdem blieben organisatorische Strukturen bestehen. Ebenso war die Überzeugung, präventive Maßnahmen ergreifen zu müssen, kaum vorhanden oder wurden ignoriert. Eine Besprechung der Rechtsabteilung mit dem zuständigen Abwasser- und Abluftlabor hinsichtlich solcher Geschehnisse endete mit dem Fazit: „Anlieger müssen sich im Rahmen der Ortsüblichkeit Schäden gefallen lassen“.46 Die Nachbarn der Unternehmen ihrerseits waren bereit, den Preis ihrer eigenen Gefährdung für Fortschritt und Wohlstand zu bezahlen und teilten damit die „Wiederaufbau-Mentalität“47, die das Unternehmen stellvertretend für die bundesdeutsche Gesellschaft in der Mitte der 1950er Jahre vorlebte. Die Beschwerden, die bei den Unternehmen über die Lebensbedingungen in ihren Umgebungen eingingen, verpufften aufgrund der Ehr43

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Die Organisation von Unternehmen, wie sie vor 1945 zu erkennen war, hätte sich in den langen 1950er Jahren (Werner Abelshauser) fortgesetzt. Im Westen Deutschlands habe es gar nicht zu einer kapitalistischen Restauration kommen können, weil die privatwirtschaftliche Grundstruktur 1945 gar nicht gestört oder tiefgreifend verändert gewesen sei. Es sei richtiger, von kapitalistischer und bürokratischer Kontinuität zu sprechen. Vgl. Kocka: Neubeginn, S. 190. Direktions-Rundschreiben vom 1. Dezember 1955. Rechts- und Steuerabteilung an AWALU (Abwasser und Abluft, T. J)-Kommission, 4.8.1954. Bayer, Aktennotiz Betr.: Immissionsschäden vom 17.8.54. Schildt und Siegfried: Kulturgeschichte, S. 98.

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furcht vor dem ‚größten Brötchengeber‘ am Ort, blieben „in ihrer Form sehr höÁich“48 und reihten sich in eine allgemeine Protestmüdigkeit gepaart mit dem allgemein herrschenden Blick nach vorne ein. Dies führte auf Seiten der Unternehmen zu einer Stagnation von Anreizen, für Risiken außerhalb des reinen Produktionszwecks technische Verbesserungen zu erzielen. Die Handlungslogik der Unternehmen und ihre organisatorische Ausgestaltung lässt sich bis in die 1960er Jahre hinein pointiert festhalten: Ersten waren Präventivmaßnahmen zur Eindämmung der produktionsinduzierten Risiken nicht im Kalkül vorgesehen, außer sie gefährdeten die Produktion selbst. Somit war ausschließlich schützenswert, was sich innerhalb der Werksgrenzen befand. Zweitens wurden verursachte Schäden nach eingehender Prüfung aus patriarchalischer Attitüde gegenüber der Nachbarschaft zum Teil ersetzt. Da die Unternehmen dies als Kollateralschaden bewerteten, hielten sie an den bestehenden Strukturen und Verhaltensweisen fest. Drittens schließlich hatten die Unternehmen mit Verweis auf die Selbstverwaltung und Selbstkontrollkraft der Wirtschaft in Bezug auf die erzeugten Risikopotentiale einen elaborierten Apparat zur Hand, der die Preisgabe hinsichtlich Informationen zu technischen Risiken verwehrte und gesetzliche Regelungen ablehnte.49 Diese unternehmerischen Handlungslogiken wurden von einem institutionellen und kulturellen Umfeld legitimiert, das einen erneuten Fortschrittsoptimismus erkennen ließ. Dies galt sogar nach einem heftigen Explosionsunglück, das sich bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen im Dezember 1960 zutrug und bei dem zwei Mitarbeiter ihr Leben verloren sowie 31 Schwer- und Schwerstverletzte zurückblieben. In der Neuen Rheinischen Zeitung wurde darüber berichtet: „Die Explosion war bis Düsseldorf zu hören. […] Arge Zerstörung hat die Druckwelle der Explosion in der näheren und weiteren Umgebung angerichtet“.50 In den Folgetagen des Unglücks zeigte sich, wie das Unternehmen solche Geschehnisse kommunikativ nach innen und außen rechtfertigte, ihnen Sinn abrang und damit den legitimen Status unterstrich. „Fast jede chemische Produktion bringt gewisse Gefahren mit sich. […] Wir können nicht alles vermeiden […] mit dieser nüchternen Haltung gegenüber den Umständen, die ein Chemiebetrieb nun einmal mit sich bringt, muß sich allergrößte Wachsamkeit verbinden. […] Apparaturen werden neu installiert. Die Produktionen laufen wieder“.51 Der Explosion wurde nach innen Unvermeidbarkeit unterstellt. Die Außendarstellung von Seiten des Führungspersonals zielte auf die nicht nachhaltig gestörte Produktion und folgerichtig auf den Fortgang der Prosperität des Unternehmens. So heißt es, dass in „dem von der Explosion betroffenen Betrieb […] nur ein geringer Bruchteil der gesamten Produktion des Bayerwerkes hergestellt“ werde: „Auch die48 49 50 51

Vgl. Henkel, Juristische Abteilung an Direktor Schilbock vom 16.10.1959. Vgl. Verband der chemischen Industrie, Technischer Ausschuss vom 11. Juli 1969. Zur wirtschaftspolitischen Kontinuität des Selbstverwaltungsprinzips in der Bundesrepublik vgl. Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte, S. 59. Bayer, Pressereferat Leverkusen: Neue Rheinische Zeitung Nr. 305 vom 30.12.1960. Bayer, „Unser Werk“ Heft 1 1961, S. 37.

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ser Betrieb wird […] im Laufe der nächsten Woche wieder die Produktion aufnehmen“.52 Durch umherÁiegende Splitter war es zu Schäden auch an Gebäuden außerhalb des Werkes gekommen. Man entschied, die „Sicherheitsbestimmungen, die sich bei Explosionen ohnehin als unsinnig erwiesen haben“ zu umgehen und „dieses Problem unter keinen Umständen in Düsseldorf zu erwähnen, weil sonst endlose Diskussionen und Gesetzesänderungen den ganzen Neubau in Frage stellen“.53 Damit beanspruchte das Unternehmen die Deutungshoheit über Risiken der Produktion und deren zukünftigen Vermeidung für sich. Angesichts ihrer institutionellen und kulturellen Rahmung waren die Unternehmen in den beginnenden 1960er Jahre nicht gewillt, ihrer so gearteten Produktion und ihren Risiken Legitimität entziehen zu lassen. Damit lag nicht nur die Deutungshoheit, sondern auch die Entscheidungsbefugnis über die Art und Weise des Risikoverhaltens alleine beim Unternehmen selbst. Ernst zu nehmende Proteste von Seiten des organisationalen Feldes in Gestalt einer partizipations- und protestbereiten Öffentlichkeit, aber auch von Seiten der Behörden blieben aus. 4.2 Sukzessiver Legitimitätsverlust und die Ausdehnung des organisationalen Feldes Die hier aufgezeigten Verhaltensmuster blieben im Großen und Ganzen bis Ende der 1960er Jahre bestehen. Zwar gab es zwischen 1962 und 1970 einige technologische Neuerungen, die sich der Verschmutzung von Wasser und Luft zuwendeten.54 Doch die Schadstoffbelastungen in den Einzugsgebieten der Unternehmen und Schadstofffrachten der Flüsse gingen nur sehr zögerlich zurück.55 Dies lag zum einen an der nach wie vor vorhandenen Kontrollresistenz der Unternehmen und damit einhergehend oftmals am fehlenden Durchsetzungsvermögen der zuständigen Behörden.56 Emissionswerte galten als Betriebsgeheimnisse und wurden unter Verschluss gehalten. Ebenso fehlte das Verständnis auf Seiten der Mitarbeiter für diese Fragen. Seit Beginn der 1970er Jahre konnten die Unternehmen ihre Lobby jedoch nicht mehr wirkungsvoll zur Geltung bringen. Eine Flut von Verordnungen und anderen gesetzlichen Regelungen brachen über sie herein.57 Die Unternehmen wur52 53 54 55 56

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Bayer, Pressemitteilung vom 29.12.1960. Bayer, Dr. Wegler an Baukonstruktionsbüro, 30.12.1960. Für Bayer exemplarisch Plumpe und Schultheis: Meilensteine, S. 402–404 und 490–494. Für Henkel Feldenkirchen und Hilger: Menschen und Marken, S. 187–190. Vgl. Wäßle: Industrie und Umwelt, S. 49. So wollte beispielsweise ein zuständiger Sachverständigen des Gewerbeaufsichtsamtes „aufgrund der bisher guten Zusammenarbeit mit dem Werk“ eine Gerichtsverhandlung infolge eines Störfalls nicht beeinÁussen. Vgl. Bayer, Staatliches Gewerbeaufsichtsamt an Vorstand, 12.11.1969. Als grundlegender Einschnitt gilt das Bundesimmissionsschutzgesetz aus dem Jahre 1974, das die Preisgabe von Information über Risiken technischer Anlagen – also Immissionen – für die natürliche und lebensweltliche Umwelt forderte und zu heftigen Kontroversen innerhalb der

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den sukzessive dazu verpÁichtet, ihr Wissen über die Risikopotentiale ihrer Anlagen preiszugeben.58 Befördert wurde diese Welle formaler Institutionen durch den aufkeimenden Umweltschutzdiskurs innerhalb der Bundesrepublik, der so neuartige Phänomene wie Bürgerinitiativen und Protestbewegungen in das organisationale Feld der betrachteten Unternehmen hineinspülte.59 Nach Jahren des Stillstandes und einer Macht- und Deutungshoheit der Unternehmen hinsichtlich der Beurteilung und Bekämpfung produktionsinduzierter Risiken wurden sie nun mit völlig neuen Erwartungshaltungen ihnen gegenüber konfrontiert, woraus große KonÁiktpotentiale erwuchsen. Es stellte sich ein gesellschaftlicher Perspektivenwechsel ein, der Natur als schützenswertes Gut deÀnierte.60 Dieser Perspektivenwechsel ging einher mit einem technik- und unternehmenskritischen Umweltschutz, dem die chemische Industrie heftig ausgesetzt war und der in den kommenden Jahren bis hin zu einer allgemeinen Systemkritik einer liberalen Wirtschaftsordnung heranreichte. Die neuen Zuschreibungen gegenüber den Unternehmen bewegten sich nun in Kategorien von Misstrauen und Ablehnung der alten unternehmerischen Handlungslogiken und forderten ein Umdenken in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit. Dieser Perspektivenwechsel wurde von den Unternehmen sehr wohl reÁektiert, wobei die Problematik darin bestand, ihn in innere Handlungslogiken zu überführen und hierdurch die abhanden gekommene Legitimität hinsichtlich der eigenen Produktion und deren unvermeidbaren Risiken zurückzuerobern. Friedrich Bohmert wurde 1972 gegenüber dem Henkel–Management überdeutlich: „Es ist überraschend, wie die Umweltproblematik in den letzten Jahren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist und heute, das wissen wir aus Untersuchungen, einen Angst-Faktor für weite Kreise der Bevölkerung darstellt. Unternehmen der chemischen Industrie müßen [sic] alte Verhaltensweisen schleunigst über Bord werfen, denn die öffentliche Meinung ist eine unsichtbare, unangreifbare Macht. Die Spielregeln innerhalb von Unternehmen müßen [sic] sich ändern, die wie bisher die EinÁüsse, die von Politik und Gesellschaft ausgingen, ignorierten. Eine Politik der Geheimhaltung und des Totschweigens von Problemen, die durch den eigenen Industriezweig und das eigene Unternehmen verursacht werden, muß endgültig der Vergangenheit angehören. Wir haben uns in Zukunft auf eine Situation einzustellen, in der sich Öffentlichkeit teilweise durch so neue Erscheinungen wie Bürgerinitiativen u. a. Aktionen sehr konkret mit Unternehmen beschäftigen“.61 Solche Forderungen wurden im Laufe der 1970er Jahre durchaus in der Unternehmensorganisation sichtbar. Umweltschutz und Sicherheit bildeten nach und

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Unternehmen sowie zwischen Unternehmensspitzen und der Bundesregierung führte. Vgl. BIschG insbesondere §§ 1–10. Ebenfalls wurde 1974 das Bundesumweltamt ins Leben gerufen. So wurde zu Beginn der 1970er Jahre eine Katastierung von emissionsträchtigen Anlagen forciert, wobei die Unternehmen stets versuchten, Gegenmodelle hierfür zu entwerfen. Etwa Bayer, Bericht für die AWALU-Kommission über Abwasserkataster vom 24.09.75. Vgl. Schildt und Siegfried: Kulturgeschichte, S. 366–371. Vgl. Egger: Humanökologie, S. 147. Henkel, Referat von Dr. Friedrich Bohmert am 24.11.1972.

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nach gleichwertige Problemfelder. Die organisatorische Abbildung zeigte sich etwa in Umweltschutzabteilungen, die den Werken weisungsbefugt waren. Diese Organisationen verfügten nun über eigene Rechtsabteilungen, eine eigene Öffentlichkeitsarbeit, eigene Schulungsmaßnahmen, Forschungs- und Entwicklungsstellen und Kontrollgremien.62 Das Ziel war, Verhaltensweisen innerhalb aller Hierarchiestufen der Unternehmen zu generieren, die denen der gesellschaftlichen Erwartung entsprachen. Aushandlungsprozesse und KonÁikte innerhalb der Unternehmen zeigen aber auch, dass alte Handlungsmuster mit den neuen heftig konkurrierten. So musste der Werkleiter des Bayerwerkes Leverkusen oft als schlichtende Instanz bei KonÁikten zwischen Betriebsleitern und Mitarbeitern der Umweltschutz- und Sicherheitsabteilung eintreten. Despektierlich wurden letztere als „Umwelt-Advokaten“ bezeichnet, die neue Generation der Umweltschützer nannte die Betriebsleiter hingegen alte „Bereichsfürsten“ und „Erbsenzähler“.63 Die Konzerne waren Mitte der 1970er Jahre vorerst noch in der Lage, zumindest den Eindruck zu erwecken, die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ihnen gegenüber zu erfüllen. Hinzu kam ein Richtungswechsel der neuen Bundesregierung unter Helmut Schmidt, der bei einem Spitzentreffen mit Vertretern der chemischen Industrie im Sommer 1975 eine Entschärfung des KonÁikts zwischen Ökonomie und Ökologie versprach.64 Umweltschutz und Sicherheit blieben allerdings Dauerthemen des öffentlichen Diskurses. Die von Bohmert angesprochenen Fehler der Vergangenheit und andauernden Versäumnisse brachten den Unternehmen weiterhin harsche Kritik ein. Das Misstrauen hatte sich verfestigt. Neue Verteidigungsstrategien wie Argumentationsseminare, Umwelttage und Tage der offenen Tür wurden von den Unternehmen implementiert.65 Doch fehlte der öffentlichen Anklage noch der Beweis, dass die chemischen Risiken in zerstörerischen Unfällen kulminieren konnten, dass also der von Bohmert angesprochene Angst-Faktor berechtigt sei. Wenn man so will, dann wurde dieser Beweis am 10. Juli 1976 im kleinen italienischen Städtchen Seveso erbracht.66 Der Störfall von Seveso ereignete sich bei einem Tochterunternehmen des Basler Pharmakonzerns Hoffmann- La Roche. Es kam bei der Herstellung eines Desinfektionsmittels zu einer nicht vorhersehbaren thermischen Reaktion. Die Folge war ein 62 63 64 65 66

Etwa Bayer, AWALU an Spartenleiter vom 23.4.74. Bayer, Interview mit Dr. Hans-Georg Meyer, ehemals Umweltschutzabteilung der Bayer AG vom 18.12.2009. Vgl. Bayer, Gespräche mit Politikern. Beispielhaft Bayer, AWALU-Öffentlichkeitsarbeit an Sparten bezüglich Information zum Tag der offenen Tür vom 28. Mai 1974. Dem Verfasser liegen detaillierte Unterlagen zu Ursachen des Störfalls, seinem Verlauf und der nachfolgenden Krise des Unternehmens vor. Eine vernünftige Analyse für die weitere Unternehmensstruktur und die nachhaltigen veränderten Handlungslogiken, die sich infolge des Störfalls bei Hoffamm-La Roche einstellten, müssen weitere Forschungen aufzeigen. Diese Forschungen sind aufgrund der guten Quellenlage aus organisationswissenschaftlicher und unternehmenshistorischer Sicht erstrebenswert.

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Austreten von Dioxin, das weite Teile der Umgebung der Produktionsstädte kontaminierte. Ohne hier näher auf die Ereignisse von Seveso eingehen zu können, zeigt die Sorge des Präsidenten des Verwaltungsrates von Hoffmann-La Roche, dass die Ereignisse den Anfang eines Scheidewegs des Unternehmen darstellten, da „in unserem Konzern und für ein äusserst heikles Problem so entgegengesetzte Meinungen vorhanden sind. Die ganze Sache ist m. E., ohne zu übertreiben, geradezu von lebenswichtiger Bedeutung […].“67 Doch wie reagierten die deutschen Unternehmen auf diesen so einschneidenden externen Schock, wo sie sich doch bereits dem ständigen Kreuzfeuer ihrer Kritiker ausgesetzt sahen, nicht zuletzt, weil ein solcher Störfall stets ausgeschlossen und die chemische Produktion als sicher dargestellt worden war. Die Reaktion im Vorstand der Bayer AG war eine zeitnahe Analyse der „Ursachen und Auswirkungen des Giftgasfalles von Seveso auf die bisher bei uns durchgeführten Fabrikationen. Es besteht die Überzeugung, dass das bei uns durchgeführte Verfahren beherrschbar ist, jedoch sind Zwischenfälle nicht auszuschließen. Aufgrund der unübersehbaren Folgen einer möglichen Katastrophe beschließt der Vorstand, daß die zur Zeit stilliegende Anlag für Trichlorphenol nicht wieder angefahren wird, wobei Klarheit besteht, daß diese Entscheidung endgültig ist, so daß auch anstelle der darauf aufgebauten PÁanzen-Schutz-Produktion neue Erzeugnisse gesucht werden müssen“.68 War sich Bayer noch sieben Jahre zuvor darüber einig, nicht einmal technische Daten über Anlagen und Risikopotentiale preiszugeben, so wurden im Anschluss an das Dioxinunglück von Seveso Anlagen nicht mehr angefahren und die Suche nach Substitutionsprodukten gefordert, worin m. E. eine ganz zentrale Veränderung der inneren Handlungslogik zu erkennen ist. Das Risiko der eigenen Produktion wurde fortan zugegeben und war Grund zu einer veränderten Denkweise, wie sich das Unternehmen seinen produktionsinduzierten Risiken in Zukunft zu stellen habe. Die verschärften Proteste gegenüber der chemischen Industrie im Nachgang von Seveso, der weitere Verlust von Legitimität und die europaweite69 Anklage des Industriezweiges führten zu der paradoxen Situation, dass die bloße Möglichkeit eines Störfalls trotz nun installierter Sicherheitseinrichtungen die Unternehmen in neue Defensivstrategien zwangen, um eine Unternehmenskrise abzuwehren. Auch die Tatsache, dass sich neue Sinnstrukturen in den Unternehmen herausgebildet hatten, die den unvermeidbaren Kollateralschaden nicht mehr akzeptieren wollten, änderten an dieser Situation nur wenig. Die Unternehmen wurden infolge weiterer Störfälle derart unter Druck gesetzt, dass sie abermals ihre bestehenden Handlungsroutinen und Praktiken überdenken mussten. Das Risiko als die Präsenz des jederzeit möglichen Störfalles wurde nicht mehr hingenommen. 67 68 69

Hoffmann La-Roche, Brief von Dr. Jann an Sacher vom 15.12.1976. Bayer, Protokoll der Vorstandssitzung am 3.8.76 in Leverkusen. So bildete sich beispielsweise auf europäischer Ebene ein informelles „Wassertribunal“, das aus verschiedensten Protestgruppen bestand und die chemische Industrie öffentlich hinsichtlich ihrer alten und in deren Sicht weiterhin bestehenden Verfehlungen an den Pranger stellte. Vgl. Bayer, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen, Protokoll vom 22. März 1983.

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Beispiel dafür ist ein Störfall, zu dem es am 7. November 1979 im Bayerwerk Dormagen bei der Herstellung von PÁanzenschutzmitteln kam. Die Katastrophenschutzmaßnahmen, die das Unternehmen in den Jahren zuvor installiert hatte, funktionierten reibungslos: Zwar war bei einem Brand schnell die Vermutung aufgekommen, ein Pestizid sei ausgetreten. Ein sofort in Auftrag gegebenes Gutachten negierte dies aber stichhaltig. Der giftige Stoff konnte aufgrund der entstandenen Hitze gar nicht entwichen sein.70 Und dennoch wurde der Störfall von einem ortsansässigen Publizisten als Grundlage für ein Horrorszenario herangezogen, das den Ereignissen von Seveso in nichts nachstand – im Gegenteil: von toten und orientierungslos umherirrenden Menschen war die Rede.71 Die öffentliche Diskussion und die Angriffe auf Bayer spielten sich also zwischen geschürter Angst und Polemik ab, die immer wieder auf die Bildsprache und die narrativen Strukturen des Seveso–Störfalls zurückgriffen.72 Das Unternehmen wurde von der öffentlichen Anklage zu Verteidigungsstrategien gezwungen, die eine offene Unternehmenspolitik notwendig machten, aber trotzdem das Image des Konzerns nicht mehr nachhaltig zu bessern vermochten. Der Vorstand von Bayer berichtet von einem „öffentlichen Standgericht“, wobei sich „die Bayer-Vertreter […] in dieser Veranstaltung gut behauptet haben. Insgesamt dürfen sich die Unternehmen in ihrer Umweltschutzpolitik nicht mehr abwartend verhalten, sondern es wird ein aktives Vorgehen erforderlich, um den ständigen Angriffen besser begegnen zu können. Es ist wichtig, die Bevölkerung rechtzeitig aufzuklären und die durch Rundfunk und Presse hervorgerufene Verunsicherung abzubauen“.73 Obwohl das nun implementierte Störfall- und Katastrophenmanagement funktionierte, führte der Dormagener Störfall für das Unternehmen zu einem bis dahin nicht gekannten Angriff von Seiten der Medien und bundesweiten Protestgruppen. Der Bundestag nahm das Ereignis als Paradebeispiel für die weitere Diskussion über die zu beschließende Störfallverordnung.74 Trotz der Abbildung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen in formellen Strukturen des Unternehmens sowie der veränderten Sinnstrukturen und einer erneuerten Sicherheits- und Umweltschutzkultur gelang es den Unternehmen – in diesem Fall wurde zumeist auf die Bayer AG verwiesen – nicht, mögliche schwerwiegende Unternehmenskrisen infolge chemisch-teschnischer Störfälle auszuschließen.

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Vgl. Bayer, Gutachten zu Produkten bei der Verbrennung von Gusathion vom 29. November 1979. Vgl. Everwyn: Der Dormagener Störfall. Vgl. Neuß-Grevenbroicher Zeitung: „Gaswolke nach Brand bei Bayer“, Westdeutsche Zeitung: „Zwischen Angst und Einbildung“, Neuß-Grevenbroicher Zeitung: „Verursachte Rauchwolke mehrfachen Vogeltod?“. Bayer, Protokoll der Vorstandsitzung am 18.12.1979. Vgl. Raasch: Wir sind Bayer, S. 578.

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5. Unternehmensgeschichtliche Implikationen – Schluss In der unternehmensgeschichtlichen Forschungslandschaft scheint sich ein Trend abzuzeichnen, der die Rolle des Unternehmens als gesellschaftlich eingebetteten Akteur stärker fokussieren will. Insbesondere solche Fragestellungen, die sich mit den Auswirkungen unternehmerischer Handlungslogiken auf die direkte Betroffenheit dieses gesellschaftlichen Umfeldes – und vice versa – beziehen, bedürfen jedoch noch einer theoretischen Schärfung. Dies gilt in besonderer Weise für die Erfassung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen gegenüber einem Unternehmen und sich hieraus einstellender (De-)Institutionalisierungsprozesse innerhalb der Organisation, die mit einer rein ökonomischen Handlungslogik nicht zu fassen sind. Ein solches Themenfeld und gleichzeitiges Desiderat unternehmensgeschichtlichen Forschens sehe ich im veränderten Risikoverhalten von Unternehmen der chemischen Industrie und der Frage, wie diese kontextualisierten Erwartungshaltungen gegenüber den Unternehmen Krisen infolge von chemischen Störfällen von der Mitte des 20. Jahrhunderts an hervorrufen können. Die Erfahrungswelt der bundesdeutschen Gesellschaft ist nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem begleitet von einem wechselseitigen Prozess der Technikeuphorie auf der einen Seite bei gleichzeitiger Bewusstwerdung unbeherrschbarer Risiken einer zunehmenden Technisierung auf der anderen Seite. Dieses Bewusstwerden scheint sich aufgrund struktureller Brüche und der Möglichkeit einer institutionellen Neuformierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt manifestiert zu haben. Industrielles Risikoverhalten und in letzter Konsequenz auch der Störfall stellen durch ihren antagonistischen Charakter, der den Zwiespalt zwischen Fortschrittsglauben und technischen Gefahren radikal aufzeigt, ein Untersuchungsfeld dar, das unternehmensgeschichtliche und organisationswisssenschaftliche Erträge erbringt. Gleichzeitig wird der Blick auf die Unternehmen als zentrale Akteure der Industriegesellschaft gelenkt. Eine integrierte Unternehmensgeschichte macht dann nicht mehr an den Werkstoren halt. Vielmehr thematisiert sie das, was sich jenseits der Werkstore der Unternehmen abspielt und wonach sich neue Handlungslogiken richten. Gleichwohl besteht aber auch die Möglichkeit, vom Innern der Unternehmen her zu argumentieren und dem gesellschaftlichen Akteur ‚Unternehmen‘ eine Vormachtstellung über Deutungshoheiten und die Formung der institutionellen Umwelt zuzusprechen. Beide Wege sind denkbar; freilich hängt die Frage der Vormachtstellung aber vom historischen Setting selbst ab. Ich habe in diesem Beitrag eine theoretische Basis vorgeschlagen, die im Stande ist, Unternehmen als einen in institutionelle und kulturelle Kontexte eingebetteten Akteur zu explizieren. Unternehmerisches Handeln wird in einem solchen Modell ebenso wie sein eigenes, inneres institutionelles Arrangement mit den wechselseitigen BeeinÁussungen von historisch-kulturellen Erwartungshaltungen und Sinnentwürfen in Verbindung gebracht, indem es diese externen Logiken aufnimmt, reÁektiert und, um persistente Legitimität zu erlangen, seine Organisationsstrukturen und Managementpraktiken demgemäß deÀniert. Damit wird das soziale, institutionelle und kulturelle Umfeld in historischen Kontexten zu ökonomischen

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Kerngrößen aufgewertet. Diese Forschungen stehen gerade erst am Anfang. Es konnte in diesem Beitrag nur darum gehen, aus einer unternehmensgeschichtlichen Perspektive die Handlungslogiken nachzuzeichnen und sie mit Hilfe des entsprechenden theoretisch-konzeptionellen Rahmens in ihrer wechselseitigen BeeinÁussung durch das institutionelle Umfeld und die kulturelle Rahmung des Unternehmens in Verbindung zu setzen. Es wird in Zukunft in der unternehmensgeschichtlichen Forschung und der qualitativ arbeitenden Betriebswirtschaftslehre darum gehen, explizite Handlungsvorschläge und –strategien für Unternehmen zu entwerfen, wie sie strategisch auf ihren sich ständig im Wandel beÀndlichen Kontext reagieren.75 Der Begriff des Risikos wurde als die ständige Präsenz des möglichen Störfalls beschrieben. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden Störfälle als Kollateralschäden betrachtet, die bei einer stetigen Ausweitung der Produktion unumgänglich schienen. Störfallprävention zielte vor allem auf die Mitarbeiter und die Anlagen selbst ab. Des Weiteren wurde hier davon ausgegangen, dass Störfälle eine Außenwirkung haben und sich als physisches Wahrhaftigwerden des chemisch-technischen Risikos darstellen. Damit kommt es keineswegs nur zu einer Störung der chemischtechnischen Anlage, sondern ebenso zu einer Störung des Verhältnisses zwischen dem Unternehmen und der ihm entgegengebrachten Erwartungshaltungen. Beobachtet wird eine solche nachhaltige Störung jedoch erst seit den 1970er Jahren. Zu mächtig war zuvor die Deutungshoheit der Unternehmen über Risiken der chemischen Produktion. Verantwortlich für das Umdenken der Unternehmen, das aus ihren veränderten relevanten Organisationsstrukturen und Managementpraktiken – und damit auch ihrer eigenen Handlungslogiken – entnommen werden kann, war ein Perspektivenwechsel hin zu einer schützenswerten Natur und Umwelt. Es fand eine neue gesellschaftliche Sinnkonstruktion über Schützenswertes und damit auch über Risiken statt.76 Damit schälte sich gleichzeitig ein technikund unternehmenskritischer Umweltschutzgedanke heraus, der bis hin zu einer allgemeinen Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem der Bundesrepublik reichte. Die Unternehmen sahen sich neuartigen formalen und informellen Spielregeln gegenüber. Den Unternehmen der chemischen Industrie wurde die Legitimität hinsichtlich ihrer Art zu produzieren entzogen, was zu einem Wandel des inneren institutionellen Arrangements der Unternehmen binnen weniger Jahre führte. Ständige Aushandlungsprozesse mit der unternehmerischen Umwelt wie auch im Innern der Unternehmen ließen eine neuartige Sicherheitskultur entstehen, die zu großen Teilen von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen hervorgebracht wurden. Unternehmenskrisen infolge von Störfällen rekurrieren aus dieser Sichtweise auf den Entzug von Legitimität im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Die Zuschreibung des kulturellen Kontextes gegenüber Unternehmen wandelte sich vom ökonomi75 76

Hierzu sei auch auf das Promotionsprojekt des Verfassers verwiesen, das im Jahr 2012 an der Universität Konstanz abgeschlossen wurde. Im Prinzip Àndet sich hier die Konstitution der Risikogesellschaft wieder. Vgl. Beck: Risikogesellschaft.

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schen Heilsbringer der Wiederaufbauphase hin zu einem Zerstörer der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt. Störfallkrisen sind damit ein Kulturprodukt, das aus den Sinnorientierungen der bundesdeutschen Gesellschaft seit den frühen 1970er Jahren entsprang. Trotz der Einsicht der Unternehmen, Präventivmaßnahmen ergreifen zu müssen, die auch die Welt jenseits der Werkstore schützen und trotz zum Großteil funktionierender reaktiver Veränderung in Routinen und Praktiken infolge von Störfällen wurde den Unternehmen ein destruktives Risikoverhalten unterstellt. Damit ist auch die Verbindung zum vorliegenden Band hergestellt: Nicht alleine die reell existierenden chemisch-technischen Risiken sind es, die Unternehmen in Krisen stürzen können. Alleine die Präsenz des Möglichen, das Krisennarrativ an und für sich, reicht aus, um Unternehmen in desperate Zustände zu versetzten, in denen sie (zumeist recht kostspielig) ihr institutionelles Arrangements und ihre tradierten Praktiken über Bord werfen müssen. Quellen Basel, Historisches Archiv Roche: Brief von Dr. Jann an Sacher vom 15.12.1976, TI.8.8.1–101570a; Seveso-Akten. Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Werkzeitschrift „Blätter vom Hause“ 27,1 (1949). Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Juristische Abteilung Direktor Schilbock, Betr.: Immissionssache Krüll vom 16.10.1959, Zug.-Nr. 451 Akten Opterbecke; Emissionen/Immissionen alt. Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Verband der chemsichen Industrie an die Mitglieder des Technischen Ausschusses, Niederschrift über die Sitzung des Technischen Ausschusses am 11. Juli 1969 in Frankfurt am Main, Zug.-Nr. 451 Akten Opterbecke; VCI/Technischer Ausschuss 1.7.69–30.06.73. Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Referat von Dr. Friedrich Bohmert „Problematik des Umweltschutzes in der Öffentlichkeitsarbeit“ auf der 2. Konferenz der Umweltschutzbeauftragten am 24.11.1972, Zug. Nr. 451 Akten Opterbecke; Umweltschutz/Kommission/Konferenz 2. Sitzung. Leverkusen, Bayer-Archiv: Direktions-Rundschreiben vom 1. Dezember 1955, 59/384; Ingenieurverwaltung Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Leverkusen, Bayer Archiv: Aktennotiz Leverkusen-Bayerwerk, Rechts- und Steuerabteilung an AWALU-Kommission vom 4.8.1954 Betr.: Abgase, Signatur und Bestandsbezeichnung: 59/384; Ingenieurverwaltung Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Leverkusen, Bayer Archiv: Aktennotiz Leverkusen Bayerwerk, AWALU-Labor an Rechts- und Steuerabteilung vom 17.8.54 Betr.: Immissionsschäden, Signatur und Bestandsbezeichnung: 59/384; Ingenieurverwaltung. Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956. Leverkusen, Bayer Archiv: Neue Rheinische Zeitung Nr. 305 vom 30.12.1960 erfasst von der volkswirtschaftlichen Abteilung/Pressereferat Leverkusen, 59/337; Ingenieurverwaltung. Meldungen über Unfälle, Explosionen u. ä. 1955–1963. Leverkusen, Bayer Archiv: Dr. Wegler an Baukonstruktionsbüro, Ingenieurabteilung und Direktor Prof. Dr. Bayer Ing.-Abt. vom 30.12.1960, 59/337; Ingenieurverwaltung. Meldungen über Unfälle, Explosionen u. ä. 1955–1963. Leverkusen, Bayer Archiv: „Die Nacht vom 28. zum 29. Dezember“, Unser Werk, Heft 1 (1961). Leverkusen, Bayer Archiv: Volkswirtschaftliche Abteilung an CheÀngenieur Riess, Presse-mitteilung vom 29.12.1960, 330/332; Direktionsabteilung. Leverkusen, Bayer Archiv: Schreiben des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamts Solingen an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer AG vom 12. November 1969, 59/337; Ingenieurverwaltung. Meldungen über Unfälle, Explosionen u. ä. 1964–1985.

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Leverkusen, Bayer Archiv: Protokoll der Vorstandssitzung am 3.8.76 in Leverkusen, 380/7 Nr. 41; Vorstandsprotokolle. Leverkusen, Bayer Archiv: Bayer AG Forschungszentrum Sparte PÁanzenschutz Gutachten zu Produkten bei der Verbrennung/Verschwelung von Gusathion vom 29. November 1979, 59/337; Ingenieurverwaltung. Meldungen über Unfälle, Explosionen u. ä. 1964–1985. Leverkusen, Bayer Archiv: Protokoll der Vorstandsitzung am 18.12.1979 in Leverkusen, 380/7 Nr. 55; Vorstandsprotokolle. Leverkusen, Bayer Archiv: Arbeitskreis Umweltschutzinformationen, Protokoll vom 22. März 1983, 388/214; Werkverwaltung Leverkusen. Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. Leverkusen, Bayer Archiv: Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, 388/246; Werkverwaltung Leverkusen. Leverkusen, Bayer Archiv: AWALU-Öffentlichkeitsarbeit an Sparten bezüglich Information zum Tag der offenen Tür vom 28. Mai 1974, 388/209; AWALU I 1974. Leverkusen, Bayer Archiv: Bericht für die AWALU-Kommission über Abwasserkataster vom 24.09.75, 59/384; Ingenieurverwaltung. Abwasser- und Abluftlabor 1974–1977 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnlichen Vorgängen (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG) vom 15. März 1974. Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung) – 12. BImSchV vom 27. Juni 1980. „Gaswolke nach Brand bei Bayer“, in: Neuß-Grevenbroicher Zeitung Nr. 260, 8. November 1979, S.18. „Verursachte Rauchwolke mehrfachen Vogeltod?“, in: Neuß-Grevenbroicher Zeitung Nr. 262, 10. November 1979, S. 56. „Zwischen Angst und Einbildung“, in: Westdeutsche Zeitung, 9. November 1979, S. 34.

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B. WIE LÄSST SICH DIE KRISE DEUTEN? AUFSTIEG UND NIEDERGANG ALS INTERPRETATIONSMODELLE Carla Meyer Krisen sind nichts Gegebenes, Naturwüchsiges, sondern etwas (medial) Gemachtes und Konstruiertes; ein Ereignis wird zur Krise erst durch die Sinn- und Bedeutungszuschreibung der Beobachter. Aus der Anerkennung der Diskursivität von Krisen wiederum erwächst die Einsicht, dass Krisendiagnosen stets kulturell und historisch variabel bleiben: Das, was aus heutiger Sicht als ‚großes‘ Ereignis der Geschichte oder ‚Krise‘ gilt, muss keineswegs durch die Akteure schon so wahrgenommen worden sein – und umgekehrt. Diese nur scheinbar banale Einsicht eint drei Beiträge, die zeitlich vom Hochmittelalter bis ins späte 20. Jahrhundert reichen. Christoph Dartmann nimmt mit den Jahrzehnten um 1100 eine ‚Phase beschleunigten historischen Wandels‘ in den Blick, die in der Forschung in der Regel in Erzählungen vom ‚Aufbruch‘ Europas oder gar von der Renaissance des 12. Jahrhunderts eingeordnet wird. Nicht nur aus der Perspektive der zeitgenössischen Quellen heraus lassen sich jedoch auch augenfällige Indizien für die besondere Fragilität und Krisenhaftigkeit dieser Zeit konstatieren. Am Beispiel des kommunalen Italien im Spannungsfeld von Kaiserherrschaft, Papsttum und regionalen MachtkonÁikten diskutiert Dartmann, welche Folgen es für die historische Arbeit besitzt, wenn historisches Geschehen unter positiven oder negativen Vorzeichen in historische Erzählungen gefasst wird – und welche Rolle dabei Geschichtsbilder und Forschungstraditionen mit ihren tief verwurzelten Vorstellungen vom ‚Aufstieg‘ und ‚Niedergang‘ bestimmter Formationen spielen. Was als ‚Krise‘ zu qualiÀzieren ist, wie sich eine ‚Krise‘ deuten lässt, ist abhängig vom System der Begriffe und ihrer Semantiken, das in einer Epoche zur Verfügung steht. Diese Überlegung ist Ausgangspunkt für den Beitrag von Urte Weeber zum Diskurs über die Republiken um 1700. In Traktaten und Reiseberichten über Venedig, die Niederlande und die Eidgenossenschaft, die im 17. Jahrhundert noch voll des Lobes über die wirtschaftliche Blüte und die außergewöhnliche Freiheit der Republiken waren, – so kann Weeber zeigen – werden an der Wende zum 18. Jahrhundert Aussagen über die „Dekadenz“ und den „Niedergang“ dieser Gemeinwesen laut. Die Autoren konstatieren jedoch nicht nur DeÀzite und Verfallserscheinungen, sie sehen auch Chancen und mahnen zu Reformen. Weeber fragt daher, inwiefern sich der zeitgenössische „Niedergangsdiskurs“ aus der Perspektive heutiger geschichtswissenschaftlicher Analyse nicht adäquater als „Krisendiskurs“ beschreiben lässt. Dass unterschiedliche „Beschreibungskulturen“ nicht nur in der zeitlichen (oder geographischen) Distanz zwischen Gesellschaften, sondern auch innergesell-

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schaftlich in ideologischen Differenzen begründet sein können, zeigt der Beitrag von Cordia Baumann am Beispiel der zeitgenössischen Debatten um den Terror der „Roten Armee Fraktion“. Einig war man sich in allen Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, dass die erste Hochphase der RAF seit 1970 als krisenhaft zu qualiÀzieren sei. Heftig umstritten zwischen der „konservativen“ Mehrheit und der als „Sympathisanten“ verunglimpften Linken war jedoch, welche Ereignisse als Auslöser und Katalysator der Krise gelten sollten, ja, was überhaupt als Kern der ‚Krise‘ zu identiÀzieren sei. Waren es die Verbrechen der RAF, die die Gesamtgesellschaft in die Krise zu stürzen drohten? Oder ging die größere Bedrohung nicht vom Staat und seinen die Demokratie aushöhlenden Anti-Terror-Gesetzen aus? Baumanns Analyse von drei gesellschaftskritischen Produktionen des ‚Neuen Deutschen Films‘ offenbart ein Klima der tiefen Verunsicherung und Angst bei weiten Teilen der intellektuellen Linken, das im allgemeinen Diskurs um die RAF heute weitgehend vergessen ist.

DAS HOCHMITTELALTER ALS KRISE? EIN ESSAY ZUM PROFIL INSTITUTIONELLER STRUKTUREN Christoph Dartmann Im Jahr 2009 publizierte Thomas N. Bisson eine Monographie unter dem Titel „The Crisis of the Twelfth Century“. Wie der Verfasser vorweg ahnte, musste dieser Titel in den Ohren angelsächsischer Kollegen wie eine Provokation wirken. Daher weist er in seinem Vorwort selbst darauf hin, dass er sich der Differenz zwischen seinem Bild vom 12. Jahrhundert und den Ergebnissen anderer Mediävisten bewusst sei. Allen voran haben Charles Homer Haskins und Giles Constable nachhaltig die Vorstellung von einer „Renaissance of the Twelfth Century“ oder einer „Reformation of the Twelfth Century“ fest im angelsächsischen Geschichtsbild verankert. Dort, wo es um Bissons eigenes Thema geht – die Charakterisierung institutioneller, ‚staatlicher‘ Strukturen –, dominieren Arbeiten, die die Modernität des 12. Jahrhunderts betonen. Paradigmatisch ist der Titel, den Joseph R. Strayer einer Monographie gegeben hat: „On the Medieval Origins of the Modern State“. Bisson setzt die These dagegen, dass öffentliche, politische Strukturen zwischen der Mitte des 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts so tief in die Krise geraten seien wie sonst im gesamten Mittelalter nicht mehr. Die bis über die Jahrtausendwende hinaus fortwirkenden Elemente karolingischer Staatlichkeit seien der Proliferation zahlloser lokaler Akteure zum Opfer gefallen. Gestützt auf ‚private‘ Ressourcen wie einer Burg und der Kontrolle über eine begrenzte Zahl von Land und Leuten hätten diese neuen Herren die überkommenen öffentlichen Strukturen verdrängt und die mittelalterliche Gesellschaft mit einem Netz kleinster Herrschaften überzogen; direkt ausgeübte physische Gewalt sei zu einem Kernbestand sozialer Praxis und einer alltäglichen Erfahrung geworden, „like being burnt out of house and home by Norman invaders or having your lord’s bailiff stuff shit into your mouth for trying to Áee the estate.“1 Den Hintergrund für Bissons „Krise des 12. Jahrhunderts“ stellt die intensive internationale Debatte über die hochmittelalterlichen gesellschaftlichen und politischen Prozesse dar, die je nach Standpunkt als „mutation féodale“ oder als „feudal revolution“ bezeichnet werden. In welchem Maße hat die Ausbildung einer Feudalgesellschaft im Sinne Marc Blochs die politischen und sozialen Verhältnisse etwa 1

Dieser Beitrag soll als Essay eher einige Fragen der Erzählung von Geschichte fokussieren als historische Gegebenheiten selbst darstellen. Deswegen beschränke ich mich auf die Literaturhinweise, die nötig sind, um die Argumentation nachzuvollziehen, ohne eine vollständige Bibliographie der reichen Literatur zu den angesprochenen mittelalterlichen Prozessen anzustreben. Bisson: Crisis; Haskins: Renaissance; Constable: Reformation; Strayer: Origins; das Zitat bei Riches: Rez. „Bisson: Crisis“.

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ab der Jahrtausendwende umgestürzt? Handelt es sich um einen abrupten Bruch, eine Revolution, deren welthistorische Bedeutung nur mit der der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist? Ihren Ausgang nahm diese Diskussion am Beispiel Frankreichs, wo einer „anarchie féodale“ zugeschrieben wurde, die geordneten Verhältnisse der Karolingerzeit zerschlagen zu haben, ehe sich ab dem 12. Jahrhundert unter den Kapetingern ein neues, machtvolles Königtum entwickelt habe. Die Diskussion über die Stellung der „mutation de l’an mille“ und der folgenden Jahrzehnte bezieht sich daher auf Schlüsselmomente im nationalen Geschichtsbild Frankreichs, in dem der Aufstieg des mittelalterlichen Königtums, die Entstehung der Universität und der Bau der gotischen Kathedralen eine zentrale Stellung einnehmen. Die Feudalgesellschaft à la Bloch wird aus dieser Perspektive zum Brutmilieu, in dem sich die Errungenschaften französischer Größe unter idealen Bedingungen entwickeln konnten. Die Internationalisierung dieser zunächst von französischem Material ausgehenden Debatte hat unter anderem dazu geführt, dass die Bedeutung nationaler Geschichtsbilder wie geschichtswissenschaftlicher Traditionen für die Begriffsbildung, die Fragestellungen und die Interessen der mediävistischen Forschung deutlich erkennbar wurde. Chris Wickham hat in einem einleitenden Essay zu einer Tagung, die einen europaweiten Überblick über die Debatte zum Feudalismus anstrebt, diesen Aspekt herausgearbeitet und aufgezeigt, in welch unterschiedlichen geschichtskulturellen Zusammenhängen die verschiedenen Studien zum Feudalismus stehen und welche Rückwirkung das auf die Interpretamente hat, die zur Diskussion stehen. In England verortete man etwa den Beginn einer Entwicklung hin zu moderneren Formen der Herrschaftsorganisation bei der normannischen Eroberung der Insel im Jahr 1066, der Feudalismus wurde zu einem Element dieser Modernisierungsgeschichte. Die deutsche Mediävistik fokussierte vor allem das Lehnswesen im engeren Sinne, die feudo-vasallitischen Bindungen, die nach Heinrich Mitteis seit dem 12. Jahrhundert zu einem neuen Herrschaftsinstrument in den Händen der Staufer wurden. Das Lehnswesen habe, so diese Position, dem Versuch gedient, der Zentralgewalt neue Machtmittel in die Hand zu geben, nachdem der Investiturstreit sie erheblich geschwächt habe. Diese unterschiedlichen nationalen Forschungstraditionen besitzen, so Wickham, nach wie vor ein erhebliches Gewicht. Je nachdem, welche Resonanzräume die Formulierung einer „Krise des 12. Jahrhunderts“ anklingen lässt, können ganz unterschiedliche Prozesse oder Strukturen zur Bekräftigung wie Kritik an diesem Konzept aufgeführt werden.2 Im Zuge der Debatte über Bissons Version einer „Feudal Revolution“ ist darüber hinaus auf die Perspektivität der Quellen hingewiesen worden, zuletzt von Theo Riches. Bissons Bild von einer Zunahme von Gewalterfahrungen im Zuge der Fragmentierung und Privatisierung von Herrschaft lasse sich in erster Linie aus der Überlieferung geistlicher Institutionen ablesen. Daher ist zumindest nicht auszu2

Einen Überblick über die Positionen verschafft Bisson: ‚Revolution‘; Bissons Ansatz ist in derselben Zeitschrift breit diskutiert worden: Barthélemy u. a.: Debate; vgl. Bisson: Reply. Bloch: Feudalgesellschaft; die internationalen Perspektiven erschließt Wickham: Forme. Mitteis: Lehnrecht.

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schließen, dass es sich nicht so sehr um eine tatsächliche Zunahme von Gewaltakten gehandelt habe, sondern um eine gestiegene Sensibilität für physische Verletzung und Überwältigung. Sollte das zutreffen, resultierte die Krise des 12. Jahrhunderts vor allem aus einer gewandelten Wahrnehmung tradierter Muster sozialer Praxis, nicht jedoch aus deren tiefgreifender Veränderung.3 Was erlaubt es also, von einer Krise während des 11. und 12. Jahrhunderts zu sprechen? Der folgende Essay möchte die genannten drei Aspekte – die Zusammenfassung komplexer sozial-kultureller Prozesse zu einer kohärenten Krisengeschichte, das Gewicht nationaler Geschichtsbilder und die Rückfrage nach zeitgenössischer Perzeption – am Beispiel des institutionellen Gefüges in Ober- und Mittelitalien in den Jahrzehnten um 1100 verfolgen. An erster Stelle soll daher auf den folgenden Seiten versucht werden, durch die Brille des ‚Krisennarrativs‘ auf die gesellschaftlichen Prozesse des späten 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts zu schauen. Dazu muss der Begriff der Krise zuerst näher deÀniert werden. Denn vom engeren, dem Wortstamm verpÁichteten Verständnis her ist eine Krise gleichbedeutend mit einer Phase, in der sich ein System großen Herausforderungen stellen muss und vor der Entscheidung steht, ob ein neuer, stabilerer Zustand erreicht wird oder ein endgültiger Zusammenbruch erfolgt. Analog zur Krise im Verständnis der Medizin stünde also die Perspektive auf eine zwar prekäre, aber die Hoffnung auf eine grundlegende Besserung implizierende Situation als Narrativ zur Verfügung. Dem gegenüber steht ein eher landläuÀges Verständnis, die Krise lediglich als Phase problematischer Gegebenheiten zu begreifen, ohne das Moment des raschen Umschwungs, des ‚Auf-der-Kippe-Stehens‘ mitzudenken. Im Fall der Argumentation Bissons greift das engere Verständnis einer Krise, in der die älteren Traditionen einer öffentlichen Ordnung verloren gehen, aber dann ab dem späteren 12. Jahrhundert einer neuen Konjunktur protostaatlicher Konzepte und Institutionalisierungen Raum geben. Als eigentliche Krise, so Bisson, sei die Zwischenphase anzusehen, in der das Übergewicht lokaler Herrschaften zu einer AuÁösung jeder Form von Staatlichkeit geführt habe. Will man das als einen krisenhaften Prozess fassen, muss man den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Transformationen von Besitzund Herrschaftsrechten, Gesellschaftsstrukturen und sozialer Praxis plausibel machen.4 Zweitens muss sich jeder historiographische Versuch, bestimmte Phasen des Mittelalters als Krisen zu interpretieren, über die Prägungen nationaler Geschichtskulturen Rechenschaft ablegen. In der deutschsprachigen Mediävistik erschien das Spätmittelalter aus verschiedenen Perspektiven als Phase der Krise. Nationalstaatliche Historiker, die den Zustand ‚Deutschlands‘ an der Stärke der Könige und Kai3

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Bisson: „Revolution“, S. 9 f., verweist selbst auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen als Begründung für die Existenz eines „public order“ im 10. Jahrhundert. Zur Rhetorik der Klage über Gewalt vgl. neben Riches: Rez. „Bisson: Chrisis“, auch White in seinem Beitrag zu Barthélemy u. a.: Debate. Zu Begriff und Konzept ‚Krise‘ vgl. Koselleck, Tsouyopoulos und SchönpÁug: Art. „Krise“; Koselleck: Art. „Krise“; Habermas: Krise; Krise im weiter verstandenen Sinne etwa bei Christ: Krise.

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ser maßen, sahen mit dem Ende der Staufer Ànstere Zeiten anbrechen. Mit ihnen verschwanden die Träger der Zentralgewalt, die in der Lage gewesen waren, die partikularen Kräfte – allen voran die Territorialherren – unter Kontrolle zu halten. Das Spätmittelalter erschien aus dieser Perspektive als die Epoche, in der Deutschlands Weg zu einem machtlosen Flickenteppich auf der politischen Landkarte des neuzeitlichen Europa vorgezeichnet wurde. Aus ganz anderen Motiven heraus hat auch die Kirchen- und Liturgiegeschichte dem Spätmittelalter schlechte Noten erteilt. Im Protestantismus war dieses Bild von der reformatorischen Kritik an den Zuständen der römischen Kirche ihrer Zeit geprägt, die katholische Liturgiewissenschaft bewertete die individualisierende, persönlichen Nachvollzug und emotionales Einfühlen befördernde Frömmigkeit des späteren Mittelalters skeptisch. Diesen ablehnenden Positionen stand auf der anderen Seite ein bürgerliches Geschichtsbild gegenüber, das in den blühenden Städten des ausgehenden Mittelalters – allen voran in Nürnberg – ein Vorbild für den eigenen Kampf um Selbstbestimmung und ökonomischen Erfolg sah. Derartige Spannungen in der Bewertung einzelner Phasen des Mittelalters lassen sich unbegrenzt vermehren, wenn man den Rahmen der nationalen Geschichtskulturen überschreitet – man denke nur an die Stellung der Dantezeit oder der im 14. Jahrhundert beginnenden Entwicklung von Humanismus und Renaissance in der nationalen Autobiographie, die sich Italien im 19. Jahrhundert gab. Wer in der deutschsprachigen Mediävistik spätmittelalterliche Verhältnisse auf den Begriff einer Krise bringt, schließt daher an fest verwurzelte Geschichtsbilder an. Im italienischen Kontext müsste man hingegen sehr viel genauer begründen, in welcher Hinsicht man dieselbe Epoche als Krise bezeichnen möchte, brachte sie doch die Kunst Giottos oder Brunelleschis hervor und ist somit grundsätzlich als Phase des Aufblühens konnotiert. Ob also bestimmte Prozesse mit dem Narrativ der Krise erzählt werden, gewinnt seine SigniÀkanz erst vor dem Hintergrund etablierter Geschichtsdeutungen, wie sie vor allem die nationalen Geschichtskulturen anbieten.5 Drittens schließlich ist nach der Wahrnehmung der Zeitgenossen zu fragen. Lassen sich Indizien dafür ausmachen, dass sie selbst ihre Zeit oder zumindest bestimmte Prozesse als Krisen, als Zeiten des Umbruchs o. ä. erfasst haben? Grundsätzlich stellt sich ja die Frage, bis zu welchem Maße das Mittelalter über Begriffe für sozialen oder kulturellen Wandel verfügte. Eine mögliche Position besteht darin, grundsätzlich nur für die Kontexte von Krisen zu sprechen, für die in zeitgenössischen Quellen einschlägige Bewertungen nachgewiesen werden können. Allerdings würde die Geschichtswissenschaft mit dieser Verengung der Krisendiagnose auf gesellschaftliche Selbstbeobachtung ihre längere und weitere Räume über5

Vgl. noch einmal Wickham: Forme; auf die Bedeutung nationalsprachlicher Traditionen für die Frage nach dem Verständnis frühmittelalterlicher Staatlichkeit hat nachdrücklich hingewiesen Keller: Forschung. Zur Bewertung des Spätmittelalters in der deutschsprachigen Mittelalterforschung Schneidmüller: Konsens; Angenendt: Liturgik; zu Nürnbergs ‚goldenem Zeitalter‘ vgl. Meyer: Stadt. Das italienische Bild von Mittelalter und Renaissance umreißen Elze und Schiera (Hg.): Mittelalter; Buck und Vasoli (Hg.): Renaissance. Zum Begriff der „nationalen Autobiographie“ vgl. Jacobmeyer: Konditionierung.

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schauende Beobachterperspektive aufgeben, würde also für die vermeintlich sichere Akteursperspektive einen hohen Preis zahlen. Zur Debatte steht auf den folgenden Seiten also eine Phase, die in der deutschen wie italienischen Geschichtswissenschaft seit langem breit unter den Stichwörtern „Investiturstreit“ und „Entstehung der Stadtkommune“ diskutiert wird. An dieser Stelle kann es aber nicht um eine Zusammenfassung dieser Forschungen gehen, sondern nur um einige Schlaglichter. Denn die folgenden Ausführungen gehen lediglich der Frage nach, in welchem Sinne das Narrativ einer Krise auf die genannten Verhältnisse angewandt werden kann und welcher Erkenntnisgewinn überhaupt diesem Konzept innewohnt. I. Die institutionellen Strukturen der Region, die ab der Mitte des 12. Jahrhunderts als kommunales Italien bezeichnet werden können, erfuhren in den einhundert Jahren zwischen 1050 und 1150 tiefgreifende Transformationen. Anfangs- und Endpunkt dieser Entwicklung lassen sich einigermaßen klar konturieren. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts bewegte sich die Ausübung politischer Macht in Bahnen, die noch von der karolingischen Reichsorganisation vorgezeichnet worden waren. Markgrafen älterer oder jüngerer Tradition sowie Bischöfe als Inhaber gräÁicher Rechte übten öffentliche Funktionen aus, unter denen besonders die Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben hervorstach. Daneben standen Àskalisch nutzbare Rechte, also Zölle, Märkte oder Münzen. Des Weiteren etablierten sich Herrschaften mit geringerer geographischer Reichweite, die aus dem Aufbau befestigter Anlagen resultierten. Um diese Kastelle erfolgte eine Siedlungskonzentration, die mit einer Verdichtung von Herrschaftsrechten durch die lokalen Machthaber einherging. Weil auch diesen Akteuren öffentliche Rechte übertragen wurden, ergab sich das Bild eines zunehmend polyzentrischen Machtgefüges, in dem den Königen des italischen Regnum eine wichtige Stellung zukam. Darüber hinaus stand den Königen bis etwa zum Jahrtausendwechsel mit dem ‚Palatium‘ in Pavia ein Zentrum wenigstens rudimentärer zentraler Verwaltung zur Verfügung.6 Um 1150 lässt sich ein grundsätzlich gewandeltes institutionelles Gefüge ausmachen. Markgrafengeschlechter wie Bischöfe hatten in weiten Teilen des kommunalen Italiens ihre politische Bedeutung eingebüßt. Stattdessen hatten Stadtgemeinden – Schwurgenossenschaften zum Zweck einer koordinierten Vertretung städtischer Interessen nach außen wie der Sicherstellung von Frieden im Inneren der Stadt – eine dominierende Stellung gewonnen. Diese Stadtkommunen griffen auch in ihr Umland aus und versuchten, die Diözese beziehungsweise Grafschaft (Contado), die der Stadt zugeordnet waren, unter ihre Kontrolle zu bringen. Darin kon6

Zum Ausgangspunkt dieses Wandlungsprozesses – den politischen Strukturen Italiens etwa um die Jahrtausendwende, vgl. mit breiter Literatur Keller: ‚Erbe‘; einen Zugang zu den Transformationsprozessen aus der Perspektive der Rechtspraxis eröffnen die Studien von Wickham: Justice; Ders.: Courts.

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kurrierten nicht nur die Städte untereinander, sondern auch Stadtregierungen mit anderen Herrschaftsträgern im Contado, wo lokale Machthaber, geistliche Institutionen und ländliche Kommunen gleichfalls um eine Konsolidierung ihrer Position bemüht waren. Vielfach gelang den Städten daher nicht ein direkter Zugriff auf ländliche Gebiete, stattdessen versicherten sich die Kommunen einer Oberhoheit oder der Rolle eines Moderators zwischen den anderen Protagonisten. Als in den 1150er Jahren Friedrich Barbarossa darum bemüht war, seine Stellung im italischen Reich in neuer Weise zur Geltung zu bringen, leisteten zahlreiche Städte, allen voran Mailand, erbitterten Widerstand gegen eine Herrschaftspraxis, die in ihren Augen als Usurpation erschien. Das Verhältnis zwischen den neu gewachsenen institutionellen Strukturen in Ober- und Mittelitalien und den grundsätzlich als Herrschern anerkannten Königen musste erst wieder neu austariert werden, was letztlich aber weder Friedrich Barbarossa noch seinen Nachkommen und Nachfolgern gelang.7 Die Transformation politischer Strukturen in Ober- und Mittelitalien war die Konsequenz aus einem Bündel von Prozessen, die je unterschiedlichen Rhythmen folgten und zugleich in beständiger Wechselwirkung zueinander standen, nämlich die Kirchenreformen und der Aufstieg des Papsttums, der Investiturstreit und die Wandlung lokaler Machtverhältnisse in Italien zwischen 1050 und 1150. Wenige Stichwörter mögen genügen, um an die breit diskutierten Gegebenheiten zu erinnern. Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts erlebte das Papsttum einen rasanten Aufstieg. Zuvor besaß der Bischof von Rom unangefochten einen Ehrenvorrang. Seine Chancen, die eigene Position auch faktisch zur Geltung zu bringen, wechselten jedoch stark. Während langer Phasen des 10. und frühen 11. Jahrhunderts waren die Päpste wenig mehr als Spielbälle regionaler Kräfte in Zentralitalien. Lediglich die enge Kooperation mit den römischen Kaisern konnte den Päpsten ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und überregionaler Wirkung verschaffen. Mit dem Eingreifen des deutschen Königs Heinrich III. im Jahr 1046 änderte sich das grundlegend. Seine Intervention entzog dem römischen Adel den direkten Zugriff auf die Besetzung des päpstlichen Throns. Das ermöglichte eine Verfestigung und Ausdifferenzierung institutioneller Strukturen im Umfeld des Papstes, die in die Etablierung des Kardinalskollegiums und der Kurie als hoch entwickeltem Verwaltungszentrum mündeten. Diese strukturellen Transformationen stabilisierten zugleich eine neue programmatische Ausrichtung des Papsttums, das zum Zentrum kirchenreformerischer Bemühungen wurde. Dem Leitbild kirchlicher Freiheit verpÁichtet richtete sich das Bemühen der Reformer auf die Durchsetzung neuer Standards priesterlicher Lebensführung ebenso wie bei der Besetzung kirchlicher Ämter.8 Diese Reformbemühungen stießen innerhalb der Ortskirchen oft auf breiten Widerstand und führten zu lang andauernden, hartnäckig ausgetragenen KonÁikten. 7

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Zum viel behandelten Thema des Aufstiegs der Kommunen vgl. etwa Milani: Comuni; Jones: City-State. Zur stauÀschen Herrschaftspraxis in Italien, die aktuell breit diskutiert wird, vgl. Görich: Ehre. Ders., Keupp und Broekmann (Hg.): Herrschaftsräume; mit anderen Akzenten Quaglioni und Dilcher (Hg.): Inizi. Zur Geschichte von Papsttum und Kirchenreform vgl. zusammenfassend Keller: Begrenzung, S. 107–126; Tellenbach: Kirche; Schieffer: Reformpapsttum; Ders.: Papst.

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Widerstand entzündete sich zum einen daran, dass bis dato selbstverständliche GepÁogenheiten des kirchlichen Lebens als schwere Sünden oder sogar Häresien denunziert wurden. Widerstand rief zum anderen hervor, dass Päpste auf einmal unmittelbar in die lokalen Verhältnisse hineinzuregieren beanspruchten. So beschwerte sich Erzbischof Liemar von Bremen, Gregor VII. kommandiere die Bischöfe wie seine Gutsverwalter herum.9 Die Auseinandersetzungen blieben jedoch nicht auf diesen Gegensatz zwischen einer reformorientierten Zentrale und widerständigen Ortskirchen beschränkt, sondern erfassten die lokalen Kleriker und Laien unmittelbar, so dass sich vielfach Befürworter und Gegner der Reform in einer Diözese oder Kirchenprovinz gegenüberstanden. Das Bemühen um eine Reform des kirchlichen Lebens im lateinisch geprägten Europa stieß daher eine Unzahl lokaler oder regionaler KonÁikte an. Wegen der engen VerÁechtung von kirchlichen und herrscherlichen Strukturen wurden selbstverständlich auch die Königreiche von diesen Auseinandersetzungen erfasst. Der sogenannte ‚Investiturstreit‘, die Folge heftiger Kontroversen zwischen den Kaisern Heinrich IV. und Heinrich V. und den Päpsten zwischen Gregor VII. und Calixt II., ist nur das prominenteste Beispiel kirchenpolitischer KonÁikte, die die Könige der europäischen Reiche auszufechten hatten. Die Sonderstellung der deutschen Könige als römische Kaiser machte ihre Verständigung mit den Päpsten besonders schwierig, weil sich aktuelle Streitpunkte immer wieder mit grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Sacerdotium und Regnum verbanden, etwa im Gefolge des Aufstands der Sachsen und der breiten Fürstenopposition gegen Heinrich IV. Die Konfrontation der Salier mit dem Reformpapsttum seit Gregor VII. führte nicht nur zu einer Schwächung der legitimatorischen Grundlagen des Königtums, sondern auch der Herrschaftspraxis – insbesondere im italischen Reich südlich der Alpen.10 Diese GroßkonÁikte betrafen auch das polyzentrische Machtsystem in Oberitalien unmittelbar, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. 1) Jeder überregionale Bezug von Machtausübung wird fraglich. Wenn im früheren 11. Jahrhundert die Stellung von Markgrafen oder die Ausübung von Gerichtsrechten durch einen Rekurs auf den zuständigen König legitimiert wurde, schnitt die Delegitimation königlicher Herrschaft die Möglichkeit ab, eigenes Agieren in dieser Form zu rechtfertigen. 2) Die Stellung der Bischöfe als dominante Akteure im städtischen Raum wie darüber hinaus wurde durch beständige KonÁikte unterminiert. Auch wenn die Kirchenreform genuin religiösen Motiven verpÁichtet war, betraf sie auch die weltliche Stellung des Klerus. Zum einen stellten die Vorwürfe eines unwürdigen Lebenswandels grundsätzlich das Renommee der Geistlichkeit in Frage, zum anderen erfasste ein erweitertes Verständnis von Simonie zentrale Bestandteile der materiellen Ausstattung geistlicher Ämter. Weil die Bischöfe wie keine andere Gruppe im Fokus dieser Debatten standen, wurde ihre Stellung unter anderem im städtischen 9 10

Briefsammlungen, ed. Erdmann und Fickermann, Nr. 15, S. 33–35, hier S. 34: „Periculosus homo vult iubere, quĕ vult, episcopis ut villicis suis“. Aus der Perspektive des römisch-deutschen Königtums vgl. Weinfurter: Jahrhundert; zu Heinrich IV. Althoff: Heinrich IV.; Ders. (Hg.): Heinrich IV.

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Italien zutiefst erschüttert. Das betraf auch ihre Position im polyzentrischen Herrschaftsgefüge Ober- und Mittelitaliens. 3) Die genannten Tendenzen betrafen auch die Rolle, die der regionale Adel in den Städten wie in ihrem Umland spielte. Die Vernetzung von lokalen und regionalen Akteuren – etwa im Rahmen bischöÁicher Lehnskurien, verwandtschaftlicher Netzwerke oder regelmäßig einberufener Gerichtsversammlungen – erfuhr eine deutliche Schwächung. Zugleich lässt sich das Auftreten von Akteuren beobachten, die die Gunst der Stunde nutzten, um in höchst aggressiver Weise die eigene Position auf Kosten etablierter Kräfte auszubauen.11 Die Folgen dieser ineinander verschlungenen Prozesse für die Strukturen lokaler Macht in Ober- und Mittelitalien zeichnen sich in Umrissen ab, zumindest für gut dokumentierte Beispiele. Die Fragmentierung der Überlieferung führt allerdings dazu, dass sich nicht jeder Aspekt für jede Region in gleicher Weise erfassen lässt, sodass jede Synthese Gefahr läuft, den besonders dicht dokumentierten Sonderfall für das repräsentative Beispiel zu nehmen.12 Insgesamt führten die genannten Tendenzen dazu, dass um 1100 etablierte Strukturen politischer Macht in Ober- und Mittelitalien kollabierten und ein Prozess der Reorganisation von Machtressourcen auf lokaler Grundlage einsetzte. Aus diesem Prozess gingen die Stadtkommunen zwar als stärkste Kraft hervor, ihr Auftreten ist jedoch nur vor der Folie der anderen Protagonisten zu verstehen, mit denen sie um die Kontrolle von Rechten, Menschen und Land konkurrierten. Schaut man sich die Rhythmen an, in denen sich die kurz angedeuteten Prozesse vollzogen, fallen die Phasenverschiebungen ins Auge. Die Päpste und ihre Umgebung gewannen seit den 1040er Jahren zunehmend an Selbständigkeit und Handlungsmacht. Diese neue Stärke resultierte vor allem aus der Unterstützung, die ihnen Kaiser Heinrich III. bis zu seinem Tod im Jahr 1056 gewährte. Ein Jahrzehnt konzertierter Reorganisation an der Spitze der lateinischen Kirche hatte diese so weit stabilisiert, dass sie von diesem Zeitpunkt ab auch ohne Beistand aus dem Reich ihre Stellung behaupten und weiter ausbauen konnte. Denn das Königshaus der Salier erlebte nach dem Tod Heinrichs III. eine entscheidende Schwächung dadurch, dass sein Sohn und Nachfolger noch bis 1065 als minderjährig galt. Die Spannungen, die zu diesem Zeitpunkt zutage getreten waren, wirkten auch fort, nachdem Heinrich IV. selbständig die Regierung übernommen hatte. Die Sachsenkriege der Jahre 1073–1075 und die sich unmittelbar im Anschluss zuspitzende Konfrontation mit Gregor VII. belegen die Strukturschwäche eines Königtums, dessen Herrschaftspraxis wie -legitimation zunehmend fraglich wurde. Erst nach der Entmachtung Heinrichs IV. durch seinen Sohn stabilisierte sich ab 1105 die Königsherrschaft wenigstens nördlich der Alpen wieder allmählich, nicht jedoch im italischen Teilreich. 11

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Zu den ‚Placita‘ als zentralen Orten regionaler Herrschaftspräsentation vgl. neben Wickham: Justice, auch Bougard: Justice; Keller und Ast: Cartae. Zu den Auseinandersetzungen in Mailand und anderen Städten vgl. in der Zusammenschau Zumhagen: KonÁikte. Die ideellen Grundlagen des Königtums unter der Perspektive der Sakralherrschaft diskutiert Erkens: Königtum. Diese Konstellation diskutiert explizit Keller: Mailand.

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Schaut man auf die Chronologie lokaler Auseinandersetzungen in Italien, zeigt sich ein vergleichbares Bild. Mailand, für das allein eine dichte Historiographie für die meisten Phasen der hier interessierenden Zeit vorliegt, erlebte spätestens seit der Wahl Erzbischof Widos im Jahr 1045 unruhige Zeiten.13 Während Widos Amtszeit von 1045 bis 1071 sind für die Jahre 1045, 1057–59 und 1066 gewaltsame Episoden belegt, in die er unmittelbar involviert war. Seit dem öffentlichen Auftreten der Pataria, einer rigoristischen Reformbewegung um die Kleriker Ariald und Landulf, war in Mailand selbst eine Gruppe aktiv, die Wido die Berechtigung absprach, als Mailänder Erzbischof zu wirken. Auch unter seinen Nachfolgern sollte sich die Lage nicht beruhigen, so dass von den zwölf Erzbischöfen, die zwischen 1018 und 1135 amtierten, sicher neun heftigen Anfeindungen ausgesetzt waren. Über die anderen Amtsträger fehlen einschlägige Quellen. Auch andernorts kam es zu gewalttätigen KonÁikten über die Person der Bischöfe sowie den Lebenswandel des Weltklerus. Für Florenz ist die Absetzung des Bischofs Petrus Mezzabarba gut belegt, der 1068 nur wenige Jahre nach seiner Inthronisation den Bischofsstuhl wieder räumen musste. Danach glätteten sich die Wogen jedoch rasch wieder. Das entspricht dem Bild, das man für andere Städte gewinnt: Auch in ihnen gab es umstrittene Oberhirten, aber die KonÁikte scheinen nicht mit der gleichen Ausdauer fortgeführt worden zu sein wie in Mailand. Damit es zum Streit kam, bedurfte es neben einem problematischen Amtsinhaber auch lokaler Akteure, die gegen ihn tätig wurden. Es handelte sich nicht um zentral angestoßene oder miteinander koordinierte Kampagnen zur Reform der Kirchen in Italien, sondern um ein Wechselspiel zwischen lokalen Protagonisten und ihren Alliierten in der römischen Reformzentrale. Auch auf der Ebene lokaler KonÁikte haben wir es also mit einer Vielfalt divergierender Chronologien zu tun, die dieselben Zeiträume je nach Perspektive der Akteure zu Phasen grundsätzlicher Erschütterung oder weitgehend unproblematischer Routine werden ließen. Die nicht allzu ausgeprägte Interdependenz zwischen dem Geschehen in einzelnen Städten und die stark an persönliche Präsenz gebundene Öffentlichkeit ließ vermutlich kein geschlossenes Bild einer tiefgreifenden Krise entstehen, wie es die Vogelperspektive des historiographischen Überblicks nahe legt. Allenfalls in den Kreisen der Reformer um das Papsttum, an das sich viele reformorientierte Kräfte mit der Bitte um Unterstützung wandten und das selbst aktiv in die lokalen Verhältnisse hineinzuregieren beanspruchte, dürften die fragmentierten Realitäten in einen größeren Zusammenhang gestellt worden sein. Man kann daher die geschilderten Entwicklungen als eine Krise institutionalisierter Machtausübung fassen. Die Interdependenz verschiedener, zunächst nicht unmittelbar aufeinander bezogener Prozesse hat einige Jahrzehnte der Instabilität, des beschleunigten Wandels herbeigeführt, an deren Ende sich neue Strukturen politischer Macht verfestigt hatten, in denen die städtischen Kommunen eine zentrale Stellung einnahmen. Dieses Modell entfernt sich aber von dem, was die Zeitgenossen selbst wahrnehmen konnten, sofern sie ihre Erfahrungen überhaupt auf den Begriff bringen wollten. Wichtig erscheint es, die divergierenden Rhythmen des Geschehens 13

Vgl. neben Zumhagen: KonÁikte, auch Keller: Pataria; Ders. und Zumhagen, Art. „Pataria“ (Literatur).

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im Blick zu behalten, will man das Geschehen in das Modell einer Krise zusammenführen. II. Die bereits dargelegten Entwicklungen spielen in den geschichtswissenschaftlichen Traditionen zum Papsttum, zur deutschen sowie zur italienischen Geschichte eine prominente, aber deutlich unterschiedliche Rolle. Die Papstgeschichte musste die Jahrzehnte, in denen der Bischof von Rom zum Spielball lokaler Kräfte geworden war, als Tiefpunkt wahrnehmen.14 Das Ànstere Bild, das über lange Zeit vom Papsttum des 10. und frühen 11. Jahrhunderts gezeichnet wurde, wurde nicht nur von seiner Abhängigkeit von römischen Baronen und vom Fehlen kirchenpolitischer EinÁussmöglichkeiten bestimmt. Hinzu kamen die moralischen Qualitäten einiger Protagonisten, deren Lebenswandel kaum den Idealen des modernen katholischen Klerus entsprach. Gestalten wie Sergius III. – angeblich Liebhaber der Grafentochter Marozia und Vater des später amtierenden Johannes XI. – eigneten sich als Helden einer Légende noire, die polemische wie voyeuristische Bedürfnisse zu befriedigen geeignet war, nicht aber historische Legitimation zu leisten vermochte. Vor diesem dunklen Hintergrund musste sich der Aufstieg des Reformpapsttums umso leuchtender abheben. Die Päpste seit der Mitte des 11. Jahrhunderts erfüllten nicht nur die moralischen Erwartungen, die der moderne Katholizismus an seinen Klerus stellte, sondern übernahmen auch eine energische Regierung der kirchlichen Geschäfte. Das zunehmende Bemühen um eine Straffung kirchlicher Hierarchien und um eine stärkere RomÀxierung, das den Katholizismus seit dem 19. Jahrhundert prägte, konnte in Gregor VII. einen Vorläufer sehen, der in besonders eindrucksvoller Weise die Ansprüche des Bischofs von Rom artikulierte, das Oberhaupt einer monarchischen Kirchenorganisation zu sein. Die Friktionen, die die Initiative zu einer Kirchenreform im 11. Jahrhundert hervorrief, konnten aus dieser Perspektive nur als Störungen gewertet werden. Entsprechend harsche Urteile trafen alle, die als Reformgegner abqualiÀziert wurden. Die Vielschichtigkeit lokaler KonÁiktlagen, die für das städtische Italien so prägend war, trat zurück hinter einer identiÀkatorischen Zuweisung der Helden- und Schurkenrollen.15 Ähnlich, wenn auch mit konträren Wertungen, Àel das Urteil der kleindeutschprotestantischen Geschichtsschreibung über die Akteure des sogenannten ‚Investiturstreits‘ aus. Aus dieser Perspektive maß sich die Bewertung mittelalterlicher Akteure daran, ob sie zur Stärkung ‚Deutschlands‘ und einer starken Zentralregierung beitrugen oder ob sie diese Leitbilder ‚verrieten‘. Die Konfrontation zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. erscheint aus dieser Perspektive als grundsätzlicher KonÁikt zwischen Staat und Kirche. In tief habitualisierter Abneigung gegen den 14 15

Vgl. Schimmelpfennig: Papsttum, S. 122–146; Riché, Martin und Parisse: Christenheit, S. 820–832. Zur Katholischen Kirche im 19. Jahrhundert vgl. Nipperdey: Geschichte, S. 428–468; Wolf: Kirchengeschichte.

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sich im 19. Jahrhundert als Papstkirche neu erÀndenden Katholizismus erschienen die hochmittelalterlichen Reformpäpste als unmittelbare Vorläufer ihrer modernen Nachfolger. Gregor VII. wurde zu einem frühen Exponenten des Ultramontanismus, seine Maßnahmen gegen den König zu Vorboten nicht statthafter Eingriffe antinationaler Mächte in die Geschicke Deutschlands. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert – so schien es – gefährdete schon im Hochmittelalter die ultramontane Ausrichtung der Papstkirche die Entfaltung nationaler Größe. Heinrich IV. konnte aus dieser Perspektive als Vorkämpfer für eine von kirchlicher Bevormundung freie Staatlichkeit wahrgenommen werden, die zum Garanten nationaler Größe taugte. Sein Trotz in Canossa erschien immerhin als zweitbeste Lösung, wenn er schon nicht auf den demütigenden Bußgang verzichten wollte oder konnte. Die Schwächung der salischen Königsherrschaft, die die Jahrzehnte zwischen 1070 und 1130 zweifellos prägte, machte diese Phase zu einer Krise, aus der erst die Staufer das ‚Deutsche Reich‘ wieder herausführten, allen voran Friedrich Barbarossa.16 Für das italienische nationale Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts stellte der Aufstieg der Stadtkommunen eine Schlüsselphase dar, die in ihrer Bedeutung mit der Ottonenzeit für Deutschland zu vergleichen ist. Als Fremdherrscher wurden die ‚deutschen‘ Könige zu unmittelbaren Vorläufern der Habsburger Kaiser, deren Macht es zu brechen galt, um den Weg zu einem selbständigen italienischen Nationalstaat zu ebnen. Die Städte – vermeintliche Vorläufer moderner Bürgerlichkeit – fungierten mit ihren Kriegen gegen Friedrich I. und Friedrich II. als ProjektionsÁächen für Ideale nationalen Widerstands wie bürgerlicher Selbstbestimmung. Die Genese dieser politischen Formationen in den Jahren um 1100 bedeutete in dieser Sicht die Geburtsstunde der politischen Größe, der in Italien die Zukunft gehören sollte. Das konnte sich mit dem Mythos des Kreuzzugs verbinden, an dem sich verschiedene italienische Städte erfolgreich beteiligten. Giuseppe Verdis ‚I Lombardi alla prima crociata‘, dessen Libretto wiederum auf einem Epos von Tommaso Grossi beruht, legt eindrucksvoll Zeugnis ab von der Popularität dieser Epoche in der Mitte des 19. Jahrhunderts.17 Die hier behandelten Prozesse nehmen in der Kirchengeschichtsschreibung sowie in den nationalen Geschichtsbildern des deutschen und italienischen 19. Jahrhunderts, die – wenn auch vielfach gebrochen – bis heute fortwirken, eine divergierende Stellung ein. Vor diesem Hintergrund setzt der Rückgriff auf das Paradigma ‚Krise‘ einen je eigenen Akzent. Im Rahmen der Kirchengeschichtsschreibung ließe sich von einer Krise der Jahrzehnte um 1100 sprechen, in der das Verhältnis des neuen päpstlichen Zentralismus zu den einzelnen Diözesen neu austariert werden musste.18 Es hat sich in der Historiographie zunehmend bewährt, kirchliche Akteure nicht lediglich nach einem binären Schema in Reformer und Reformgegner aufzuteilen, sondern die vielschichtigen Motive anzuerkennen, die die Akteure 16 17 18

Vgl. Klenke: Bismarck. Zorzi (Hg.): Civiltà; Elze und Schiera (Hg.): Italia. Zur Geschichte und Mythologie des Ersten Kreuzzugs vgl. Andenna und Salvarani (Hg.): Deus. Eine neue Perspektive eröffnete es, die Geschichte des Reformpapsttums aus der Perspektive eines „Europas der Bischöfe“ zu schreiben; vgl. dazu Reuter: Europa.

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geleitet haben. Neben grundsätzlichen Überzeugungen haben momentane oder lokale Konstellationen ein wohl weitaus größeres Gewicht besessen, als in der älteren Forschung unterstellt. Es ging oft viel mehr um alltägliche Politik als um Grundsatzdebatten. Löst sich die Kirchengeschichtsschreibung aus einer teleologischen Perspektive, die einen unaufhaltsamen Aufstieg des Papsttums suggeriert, erschließt sich das immer instabile Verhältnis zwischen lokalen Akteuren und Eingriffen von Päpsten und ihrer Umgebung. Das Narrativ der Krise scheint geeignet, den prekären Charakter kirchlicher Strukturen, das VorläuÀge einmal gefundener Lösungen wieder zu erschließen, besitzt also für dieses Feld ein hohes Erkenntnispotenzial.19 Anders sieht es für die Geschichte der salischen Herrschaft aus. Die Auseinandersetzungen der Könige mit Fürsten und Gegenkönigen, mit Sachsen, schließlich mit den Päpsten zwischen Gregor VII. und Calixt II. stellten sie vor große Herausforderungen. Gewohnte Formen der Machtausübung gerieten ebenso in Gefahr wie die etablierten Formen königlicher Selbstdarstellung. Gerade für die Herrschaft über Ober- und Mittelitalien waren diese Jahre entscheidend, sie leiteten ein halbes Jahrhundert ein, in dem kaum ein nordalpiner König von größerer Bedeutung für die politischen und sozialen Realitäten des Regnum Italiae war. Daher wäre allenfalls zu fragen, ob das Etikett ‚Krise‘ sich lediglich auf eine längere Schwächephase des Königtums bezieht, oder ob im engeren Sinne nach einer kritischen, unmittelbar zu einer Entscheidung drängenden Entwicklung gefragt wird. Zumindest für das italische Regnum erscheint dieses präzisere Verständnis von ‚Krise‘ fragwürdig, denn es dauerte bis zum ersten Italienzug Friedrich Barbarossas im Jahr 1154, ehe ein Herrscher seine Stellung wieder nachdrücklich zur Geltung brachte. Und damit läutete der Staufer keineswegs eine Phase neuer Stabilität ein, vielmehr begannen sofort heftige Auseinandersetzungen, die bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts nur für kürzere Phasen überwunden werden konnten.20 Von einer Krise königlicher Herrschaft in Ober- und Mittelitalien seit der Mitte des 11. Jahrhunderts kann also nur in dem offeneren Verständnis gesprochen werden, das Phasen großer historischer Dynamik unter negative Vorzeichen stellt. Als Krise im engeren Sinne erscheint hingegen der Aufstieg der Städte zu entscheidenden Akteuren in Ober- und Mittelitalien. In diesem Kontext ist vor allem fraglich, mit welchen Belegen im Rahmen der spärlichen Überlieferung man die Etablierung der Stadtkommunen ansetzen möchte und welche Charakteristik man dieser neuen Formation zuschreibt. Lange Zeit galt der Nachweis von städtischen Konsuln als Beleg für die Bildung einer städtischen Kommune. Diese Belege setzen in den 1080er Jahren ein, es ergibt sich jedoch eine breite Streuung von knapp einem halben Jahrhundert, was unter anderem auf den fragmentarischen Charakter der heute noch vorliegenden Quellen zurückzuführen ist. Aber auch dort, wo diese Quellen reichlicher Áießen, scheint sich erst in den 1130er Jahren eine gewisse 19 20

Zur problematischen Suggestion von Folgerichtigkeit historischer Abläufe vgl. Görich: Versuch. Siehe die oben, Anm. 7, zitierte Literatur zu den stauÀschen Königen, in der die Frage nach der Bedeutung systematischer, langfristig verfolgter Herrschaftskonzepte höchst unterschiedlich bewertet wird.

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Regelmäßigkeit konsularischer Amtstätigkeit abzuzeichnen. Der krisenhafte Umsturz institutionell geordneter Formen der Machtausübung wäre demnach nicht mit der Nennung von Konsuln beendet, ihr Auftreten wäre hingegen selbst zunächst als Krisenphänomen zu bewerten. Erst mit der regelmäßigen Besetzung und auch Amtstätigkeit der Konsuln ist ein deutlicher Schritt zur Überwindung der institutionellen Krise zu fassen, also etwa mit dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts. Vielleicht noch zentraler als die Frage nach den Rhythmen der Krisenüberwindung ist die nach dem Charakter der neuen politischen Formationen. Die frühe Forschung zu den Kommunen und insbesondere ihre Rezeption im populären italienischen Geschichtsbild setzte eine bürgerliche, antifeudale Prägung der Stadtkommunen voraus. Ausweis dieser Bürgerlichkeit sollte die Besetzung städtischer Schlüsselpositionen durch Nichtadelige sein, insbesondere aus der Schicht der KauÁeute. Deren Interesse an friedlichem Handel und an Rechtssicherheit sollte das Agieren der neuen Stadtregierungen und deren Mentalitäten geprägt haben. Wie tief diese Vorstellungen verwurzelt sind, zeigte sich noch in den 1980er Jahren, als es zu heftigen Auseinandersetzungen um die Frage kam, ob man nicht die kommunale Gesellschaft als eine Sonderformation in der Ausbildung einer europäischen Ständegesellschaft im 12. Jahrhundert zu begreifen habe. Das Bild einer weitgehend adeligen, von älteren Eliten dominierten Stadtkommune brach offensichtlich tief sitzende Tabus im italienischen Bild vom Hochmittelalter. In der Zwischenzeit sind diese Kontroversen jedoch weitgehend abgeschlossen, ist die zutiefst adelige und ritterliche Prägung der kommunalen Kultur wie Politik anerkannt. In diesen Diskussionszusammenhängen kann der Leitbegriff der Krise vor allem eingesetzt werden, um danach zu fragen, wie tiefgreifend sich die Verhältnisse wandelten bzw. an welchen Stellen sich Kontinuitäten zum vorkommunalen Italien plausibel machen lassen.21 III. Abschließend sei noch ein Blick auf die Wahrnehmung institutioneller Wandlungsprozesse durch die Zeitgenossen geworfen, genauer auf die Darstellung der Jahrzehnte um 1100 in zwei historiographischen Werken, der ‚Historia Mediolanensis‘ Landulfs von St. Paul und den Annalen des Genuesen Caffaro. Beide Werke beinhalten ausführliche Berichte über die Geschicke der Heimatstädte ihrer Autoren während des ersten Drittels des 12. Jahrhunderts, die sich jedoch erheblich voneinander unterscheiden. Der Priester Landulf von St. Paul verfasste seine Geschichtserzählung unter dem unmittelbaren Eindruck seiner vergeblichen Versuche, die Kirche S. Paolo zurückzuerlangen, die er von seinem Onkel Liprand geerbt hat, der sie gleichfalls als Kleriker innegehabt hatte. Anders als der in der Forschung gängige Titel suggeriert, 21

Vgl. neben der bereits in Anm. 7 und 13 zitierten Literatur meine Habilitationsschrift: Dartmann: Interaktion, mit weiteren Verweisen. Die Debatte über die ständische Prägung der kommunalen Gesellschaft dokumentiert Keller: Signori, in seiner Einleitung zur italienischen Fassung.

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erhebt sein Werk nicht den Anspruch, eine Stadtgeschichte Mailands zu schreiben, sondern handelt nur von den Auseinandersetzungen, in die zunächst sein Onkel, dann er selbst verwickelt war. Liprand hatte sich in den kirchlichen KonÁikten, die seine Heimatstadt erschütterten, mehrfach auf der Seite der Gegner der Erzbischöfe engagiert und war dadurch unter anderem zu einem unerbittlichen Feind Grossolans geworden, der von 1102 bis 1112 als Nachfolger des heiligen Ambrosius amtierte. Deswegen hatte er seine Kirche verloren. Die ‚Historia‘ fokussiert wegen der persönlichen Verwicklung ihrer Protagonisten die Streitigkeiten um die Person und Amtsführung der Erzbischöfe Grossolan, Jordanus und Anselm V., um zu begründen, dass dem Autor Unrecht widerfahren sei. Diese idiosynkratrische Erzählperspektive hat der ‚Historia‘ in der Geschichtswissenschaft ein schlechtes Renommee eingehandelt. Landulf habe nur seine persönlichen Geschäfte in den Blick genommen und habe mit der Entstehung der Stadtkommune die wesentlichen Prozesse seiner Zeit nicht erfasst. Zwar zählt die ‚Historia‘ zu den frühen Belegen für Konsuln in Mailand, sie erscheinen jedoch nicht kontinuierlich als Zentrum städtischer Politik. Gerade wenn man unterstellt, die Stadtkommune habe bereits gegen 1100 die Politik geprägt, muss das, was Landulf berichtet, in hohem Maße unvollständig erscheinen. Dadurch, dass er sich nicht für die aufstrebende neue Stadtregierung interessiert, sondern fast nur über Erzbischöfe und Klerus berichtet, erweise sich der Verfasser als rückwärtsgewandte Persönlichkeit ohne die Fähigkeit, zentrale Neuerungen seiner Zeit überhaupt zu erfassen.22 Diese Bewertung der ‚Historia‘ Landulfs beruht auf der Unterstellung, die Kommune sei wie Athene aus dem Haupt des Zeus rasch und voll entwickelt in die Geschichte eingetreten. Wenn man hingegen die Stadtgemeinde als das Resultat eines allmählichen Herauswachsens laikaler Partizipation an der Regelung der städtischen Belange aus dem Schatten des Erzbischofs begreift, lässt sich Landulfs Geschichtswerk anders lesen. Aus dieser Perspektive erscheint es als eigenwilliges Pamphlet, das aber zugleich die Schwäche der Erzbischöfe seiner Zeit sensibel erfasst. Es erscheint durchaus plausibel, dass Versammlungen der Bürger, Konsuln und andere später zentrale Einrichtungen der Stadtkommunen in ihrer Inkubationsphase nur punktuell zu fassen sind, weil sie noch nicht die kontinuierliche Präsenz der späteren Zeit gewonnen hatten. Die vermeintlichen blinden Flecken Landulfs wären dann ein zuverlässiges Abbild der fragmentierten und Áuiden Situation innerstädtischer Institutionen in dieser Krisenphase der Mailänder Politik.23 Ganz anders fällt das Bild aus, das der Genueser Konsul, Diplomat und elder statesman Caffaro in den 1150er Jahren zeichnete. In einer Phase, in der die Kommune der ligurischen Hafenstadt vor allem aus Àskalischen Gründen vor dem Abgrund stand, schrieb er eine idealisierte Geschichte der Stadtgemeinde von ihren Anfängen im Jahr 1099 bis zu seiner Gegenwart. Die Frühgeschichte der Kommune repräsentiert in diesen von der Stadtregierung als ofÀzielle Geschichte approbierten 22 23

Zu Landulf ‚Iunior‘ vgl. Busch: Geschichtsschreibung, S. 41 f.; Zumhagen: KonÁikte, S. 112– 114; Rossini: Note, S. 411–480; Capitani: Landolfo, S. 589–622. Diese Sichtweise der frühen Kommune in Mailand entwickele ich in Kapitel 3 von Dartmann: Interaktion.

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Annalen ein ausführlicher Bericht von den Heldentaten der Genuesen während des Kreuzzugs im Heiligen Land. Parallel dazu setzt die Liste der Kommunalkonsuln ein, denn die AuÁistung der Namen des städtischen Regierungspersonals stellt das Gerüst der Jahrbücher dar. Dadurch wird in den Kommunalannalen der Eindruck institutioneller Kontinuität seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts suggeriert, was sich sowohl bei der Analyse anderer Überlieferungen als auch durch den Vergleich mit der Historiographie anderer Städte als fragwürdig erweist. Die im Sinne vermeintlich lang etablierter, stabiler Institutionen stilisierte Frühgeschichte der Kommune von Genua eignete sich bereits ein halbes Jahrhundert später als ProjektionsÁäche, auf der ein Gegenbild zu den problematischen Verhältnissen der eigenen Gegenwart entworfen werden konnte.24 Vergleicht man die Darstellungen Landulfs und Caffaros, ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Die gleiche Zeit und vermutlich ähnliche institutionelle Strukturprobleme erhielten von zwei Augenzeugen innerhalb weniger Jahre zwei völlig konträre Deutungen. Der Mailänder berichtet von einer tiefgreifenden Krise der ehrwürdigen ambrosianischen Kirche, der Genuese entfaltet hingegen die Ursprungslegende einer etablierten Stadtkommune, die nach etwa einer Generation ihre erste schwere Krise durchmacht und daher auf ihre idealisierten Anfänge zurückblickt. Diese Differenzen in der Wahrnehmung derselben Transformationsprozesse, aus denen bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts die Stadtkommune hervorgehen sollte, sind nur ein eklatantes Beispiel für ihre divergierende Bewertung durch die Zeitgenossen. Es liegt auf der Hand, dass sich je nach Position in Kirche und Gesellschaft und je nach Involvierung in die KonÁikte um religiöse Fragen wie Machtpositionen die Einschätzung der Abläufe grundlegend unterschied. Landulf und Caffaro sind nur zwei Akteure in einer ebenso dynamischen wie spannungsreichen politischen Landschaft, deren Perzeption in hohem Maße standortgebunden gewesen sein muss. Hinzu kommt, dass die Transformation der politischen Strukturen hin zur Stadtkommune in sehr verschiedenen Rhythmen erfolgte. Hafenstädten wie Genua und Pisa ist gewiss ein deutlicher Vorsprung zuzuschreiben, auch die Metropole Mailand hat relativ früh einen breit ausdifferenzierten kommunalen Regierungsapparat entwickelt. Dem gegenüber hat man für kleinere Städte wie Lucca oder Florenz mit einer weitaus langsameren Verfestigung neuer institutioneller Strukturen zu rechnen.25 Auch das Verhältnis zwischen der Stadtbevölkerung, ihrer Regierung, ihrem Klerus und dem Adel in Stadt und Umland hat jeweils speziÀsche KonÀgurationen ausgebildet, Allianzen und Feindschaften folgten je eigenen Mustern. Von dieser Vielfalt von strukturellen Gegebenheiten wie Entwicklungsgeschwindigkeiten müsste man sehr weit abstrahieren, um das Bild einer Krise zu entwerfen, das Ober- und Mittelitalien zwischen der Mitte des 11. und des 12. Jahrhunderts zu erfassen beanspruchte. Und dieses generalisierte Bild repräsentiert gewiss nicht mehr die Wahrnehmung der Zeitgenossen, sondern setzt die zeitliche Distanz wie fehlende persönliche Betroffenheit voraus, die erst die historiographische Rekonstruktion ermöglicht. 24 25

Zu Caffaros Annalen Placanica: Opera, S. 1–62; Schweppenstette: Politik; Bellomo: Servizio. Wickham: Courts.

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IV. Wie die Ausführungen im ersten Kapitel gezeigt haben, lässt sich die in der Forschung als „Erfolgsstory“ etablierte Geschichte der norditalienischen Städtelandschaft im 11. und 12. Jahrhundert gewinnbringend auch unter den umgekehrten Vorzeichen einer Krisengeschichte lesen. Es ist jedoch nötig, sich einige Fallstricke bewusst zu machen, die mit diesem Etikett verbunden sind. 1) Akteure, die in die hier behandelten Prozesse involviert waren, dürften nur in Ausnahmefällen ein Krisenbewusstsein in dem Sinne gehabt haben, dass sie die verschiedenen Ereignisse oder Aspekte der Veränderung als Faktoren oder Symptome einer zusammenhängenden Krise gewertet hätten. Bekannt ist, dass Otto von Freising im KonÁikt zwischen Kaiser und Papst, der mit Heinrich IV. ausbrach, den Beweis für das Anbrechen der Endzeit der Heilsgeschichte sah. Um zu dieser Diagnose zu gelangen, bedurfte es aber einer erheblichen Höhe geschichtstheologischer ReÁexion.26 Die Krisendiagnose ist also nicht den in die Prozesse involvierten Akteuren zugänglich, sondern erschließt sich erst aus einer wie auch immer motivierten Konzeptualisierung des historischen Verlaufs. Die Frage, ob Zeitgenossen Prozesse als Krisen wahrgenommen haben, wird methodisch nicht sinnvoll von der Frage nach Argumentationszielen und Darstellungskonventionen der vorliegenden Quellen getrennt beantwortet werden können – was die Krisendiagnose zusätzlich erschwert. 2) Je nach historiographischer Tradition, in der die moderne Analyse steht, ist es mehr oder weniger reizvoll, mit dem Modell der Krise zu hantieren. Wie im zweiten Kapitel ausgeführt, trägt derjenige Eulen nach Athen, der für die Jahrzehnte um 1100 eine Krise des Kaisertums oder der Königsherrschaft im Regnum Italiae diagnostiziert. Ein weitaus höheres kreatives Potenzial besitzt es, die Geschichte des Papsttums aus der Perspektive seines Verhältnisses zu den Ortskirchen zu schreiben, denn dann erschiene der erste Höhepunkt des Reformpapsttums als tiefe Krise des Verhältnisses zwischen den Bischöfen von Rom und ihren Amtsbrüdern in den Einzeldiözesen. Wie bereits eingangs ausgeführt, klingt die Formulierung einer Krise im Hochmittelalter je nach nationaler Meisterzählung sehr unterschiedlich provokativ. Auch kennen die verschiedenen nationalen Geschichtskulturen ihre eigenen Rhythmen, die die Jahrzehnte, um die es hier geht, in sehr unterschiedliche Krisengeschichten einordnen. Es macht einen fundamentalen Unterschied aus, ob dieselben Beobachtungen als Krise der salischen Königsherrschaft oder als krisenhafter Beginn des Aufstiegs der italienischen Stadtkommune kontextualisiert werden. Das Modell der Krise kann also für grundsätzlich divergierende Narrative eingesetzt werden. 3) Schließlich stellt sich die Frage, ob man die verschiedenen Geschichten einzelner Städte, einzelner Akteure oder bestimmter Akteursgruppen in das Modell 26

Vgl. Otto von Freising: Chronik, ed. Lammers, 6,35, S. 491–493. Zu Otto von Freising jüngst Mégier: Weltgeschichte; vgl. grundlegend Goetz: Geschichtsbild, siehe dazu die Rezension von Staubach: Rez. „Goetz: Otto von Freising“. Zur Deutung des Investiturstreits durch die zeitgenössische Chronistik vgl. auch Goetz: Investiturstreit.

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einer Krise integrieren möchte. Jenseits individueller Wahrnehmung und individueller Handlungsoptionen stiftet diese Interpretation einen Zusammenhang zwischen verstreuten Realitäten. Sollen sie als Faktoren oder Symptome einer Krise gewertet werden, müsste ihre Kohärenz oder Interdependenz bewiesen werden. Darüber hinaus impliziert „Krise“ im strengeren Sinne einen Verlauf, der von einer Verschärfung der Situation bis zum entscheidenden Umschlag in einen neuen Status geprägt ist. Damit wird dem Geschehen aus der Retrospektive eine Folgerichtigkeit unterstellt, die immer erst plausibel gemacht werden muss. Angesichts des fragmentierten Charakters kirchlicher, politischer und sozialer institutioneller Strukturen bleibt es problematisch, die vielfältigen Transformationsprozesse der hundert Jahre zwischen 1050 und 1150 auf den Begriff einer Krise zu bringen. Es besteht das Risiko, ihnen zugleich Interdependenzen und Entwicklungslogiken zu unterlegen, die der Polyzentrik dieser Zeit nicht gerecht werden. Im Modell der Krise schreibt sich der Blick von den Zentralen auf die lokalen Realitäten fort, mit dem Kirchen und Staaten im 19. Jahrhundert ihre Geschichten konstruiert haben. Dem gegenüber erscheint es weiterführend, dezentrale Perspektiven wie auch die Offenheit historischer Konstellationen zurückzugewinnen. Die Zusammenfassung der vielfältigen lokalen Entwicklungen zu einer narrativ kohärenten Krisengeschichte, deren Ende noch dazu bekannt ist, gefährdet die Anerkennung lokalen Sinns und situativer Kontingenz. ‚Krise‘ als Narrativ oder Deutungskonzept für die Transformationen institutioneller Strukturen in Nord- und Mittelitalien zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert kann diesen Anspruch nur unter dem Vorbehalt einlösen, dass die dargelegten Fallstricke umgangen werden. Sollte hingegen ‚Krise‘ lediglich ein Etikett sein, um Phasen größerer historischer Dynamik unter negativen Vorzeichen darzustellen, verlöre der Begriff jedes analytische Potenzial. Literatur Andenna, Giancarlo und Renata Salvarani (Hg.): Deus non voluit. I Lombardi alla prima crociata (1100–1101). Dal mito alla ricostruzione della realtà. Atti del convegno Milano, 10–11 dicembre 1999, Mailand 2003. Angenendt, Arnold: Liturgik und Historik. Gab es eine organische Liturgie-Entwicklung? Freiburg, Basel und Wien 2001 (Quaestiones disputatae 189). Althoff, Gerd: Heinrich IV., Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance). Althoff, Gerd (Hg.): Heinrich IV., OstÀldern 2009 (Vorträge und Forschungen 69). Barthélemy, Dominique u. a.: Debate: The ‚Feudal Revolution‘, in: Past & Present 152 (1996), S. 197–223, und 155 (1997), S. 177–208. Bellomo, Elena: A servizio di Dio e del Santo Sepolcro. Caffaro e l’Oriente latino, Padua 2003 (Medioevo europeo. Studi). Bisson, Thomas N.: The Crisis of the Twelfth Century. Power, Lordship, and the Origins of European Government, Princeton und Oxford 2009. Bisson, Thomas N.: Reply, in: Past & Present 155 (1997), S. 208–225. Bisson, Thomas N.: The „Feudal Revolution“, in: Past & Present 142 (1994), S. 6–42. Bloch, Marc: Die Feudalgesellschaft, Stuttgart 1999 [zuerst: Paris 1939]. Bougard, François: La Justice dans le royaume d’Italie de la Àn du VIIIe siècle au début du XIe siècle, Rom 1995 (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 291).

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WIE DIE KRISE DEN NIEDERGANG ALS REFORM ERFASST. DER DISKURS ÜBER ZEITGENÖSSISCHE REPUBLIKEN UM 1700 Urte Weeber Einbruch der Kritik in den Diskurs: Amelots Darstellung von Venedig Als Amelot de la Houssaie (1634–1706) im Jahr 1676 seine „Histoire du gouvernement de Venise“ vorlegte, machte gleich der erste Satz in der Widmung an den Marquis de Louvois et de Courtenvaux deutlich: Dieses Traktat sollte sich von all den vorangegangenen unterscheiden, die die ehrwürdige Serenissima bis dato nahezu uneingeschränkt mythisch verklärt hatten.1 So beginnt die Épître mit der Feststellung: „Monseigneur, Bien que la Republique de Venise scit aujourd’hui dans son declin, Elle ne laisse pas en l’état qu’elle est de conserver encore de la Majesté.“2 Während der ehemalige Sekretär des französischen Botschafters in Venedig den Niedergang der Seerepublik also zunächst noch durchaus zurückhaltend konstatiert, wird er gegen Ende seiner Abhandlung in dem eigens aufgeführten Kapitel mit der Überschrift „Discours des Causes de la décadence de la République de Venise“ doch zunehmend deutlicher.3 Amelot benennt in seiner Schrift klar einzelne Defekte der Republik Venedig und er führt ihren Niedergang auf verschiedene Staatskrankheiten zurück: „maladies d’Etat“, die gemäß dem Autor „incurables“, unheilbar seien.4 Eine englische Übersetzung von 1677 tradiert etwas vorsichtiger: „maladies of the state which cannot be conveniently remedied“5 – Staatskrankheiten also, die nicht mehr auf herkömmliche Weise, durch der Republik eigene Mechanismen, behoben werden können. Amelot versteht unter diesen vornehmlich Vetternwirtschaft, Unerfahrenheit und Korruption bei den Mitgliedern des Großen Rates.6 Er kritisiert außerdem die fehlende Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger, die durch den Rat der Zehn hervorgerufen werde.7 Darüber hinaus speise der Adel die übrigen Bürger 1

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Zum Mythos Venedig siehe u. a. Landwehr: Die Erschaffung Venedigs, S. 327–408; Rosand: Myths of Venice; Gilmore: Myth and reality in political theory; Lane: Seerepublik Venedig. Zu Amelot de la Houssaie und dem Beginn der Dekonstruktion des venezianischen Mythos siehe Wootton: Ulysses Bound?; außerdem: Landwehr: Die Erschaffung Venedigs, S. 408–480. Amelot de la Houssaie: Histoire du Gouvernement de Venise, Épitre (o. P.). Ibid., S. 313–330. Ibid., S. 90 f. Houssaie: History of the government of Venice, S. 72. Ibid. Vgl. z. B. ibid., S. 193–196, S. 350 f. oder S. 204: „Mais l’on n’est pas si populaire à Venise, bien que ce soit une République, & le Conseil de Dix a étendu la Loy de Léze-Majesté aux paroles entre lesquelles & les actions il met tres-peu de différence.“

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„par de fausses apparences de liberté“8 ab. Indem man die Bürger ungestört ihren Leidenschaften nachgehen lasse, lasse man sie in dem Glauben einer großen Freiheit. Diese sei aber nur vorgespielt und in Wirklichkeit „le principal instrument de [leur] servitude“.9 Der Modellcharakter Venedigs als Verkörperung der wahren Freiheit sei deshalb eine Farce: „Ils croient que le Gouvernement de Venise doit servir de règle & de modèle à tous les autres, & qu’il n’y a qu’eux de Gens-libres dans le monde, bien que véritablement ils soient sans Maître plûtost qu’en liberté.“10 In der Folge wurden Amelots Aussagen schnell und breit rezipiert, oftmals mit einem direkten Bezug auf den Autor und sein Traktat. So nimmt bereits sein Nachfolger in der französischen Botschaft in Venedig, Alexandre de Saint-Didier (1630– 1689), in seiner Abhandlung über Venedig 1680 klar Bezug auf Amelot.11 Angesichts der starken Kritik an seinem Vorgänger, die sich unter anderem in venezianischen Forderungen nach dessen Inhaftierung äußerten, bemühte er sich allerdings, lieber eine neutrale Position einzunehmen und dessen Schrift nicht zu bewerten.12 In seiner Abhandlung greift er jedoch ganz ähnliche Argumente auf und kritisiert einzelne Elemente der venezianischen Verfassung und des Handels.13 Auch in England, im Alten Reich und in den Niederlanden rekurrierte man auf Amelots Traktat und setzte sich mit dessen Aussage vom Niedergang Venedigs auseinander.14 Am Ende des 18. Jahrhunderts schließlich war Amelots Beitrag zu einem europaweiten Diskurs über Venedig allgemein anerkannt und längst nicht mehr umstritten. Lexika wie Zedlers Universallexikon oder Diderots Encyclopédie beziehen sich in ihren Literaturangaben explizit auf ihn und präsentieren die bei ihm angelegten Aussagen als allgemeingültig.15

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Ibid., S. 39. Ibid., S. 53. Ibid., S. 335. Saint Didier: La Ville et la Republique de Venise, Au Lecteur (o. S.). Ibid.: „[…] mais je laisse à juger aux autres, s’il a fait paroistre trop de passion, & si les plaintes que la Republique en a faites, sont bien ou mal fondées.“ Und so kommt auch Saint Didier zu dem Schluss, dass das Argument der größeren Freiheit dieser Republik nur eine ‚Chimere‘ sei: „qui ne s’apperçoit pas que la liberté qu’il pretend avoir au dessus des Peuples qui vivent dans un estat Monarchique, n’est qu’une pure chimere.“ Ibid., S. 326. Der in den Niederlanden lebende hugenottische Flüchtling Casimir Freschot z. B. grenzt sich in seinem Traktat über Venedig 1709 klar von Amelot ab. In großen Teilen des Textes setzt er sich mit jedem einzelnen Argument Amelots ausführlich auseinander: Freschot: Nouvelle Relation de la Ville & Republique de Venise. Siehe darüber hinaus z. B. auch Gude: Einleitung zu den Europäischen Staaten und derselben Beschluß, Bd. 1, S. 35 (1708) oder den anonymen Herausgeber 1707 in seinem Vorwort zur übersetzten Schrift „The Maxims of the Government of Venice in an Advice to the Republick“ des venetianischen Mönchs Paolo Sarpi: „The Maxims of the Government of Venice in an Advice to the Republick“, S. xiv. Zedler: Großes Vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 46, Sp. 1193–1264, Literaturangabe Sp. 1264; Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, arts et des métiers, Vol. 17, S. 5–15.

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Amelots „Histoire du gouvernement de Venise“ markierte am Ende des 17. Jahrhunderts einen Wandel, einen Bruch in einem Diskurs über ein Gemeinwesen, der zuvor von mythischer Verklärung und grenzenloser Bewunderung dominiert wurde. Auch wenn es vereinzelt bereits kritische Stimmen gab, so zielten diese doch auf eine allgemeine Verunglimpfung der Seerepublik in ihrer Gesamtheit. Eine differenzierte Betrachtung Venedigs mit dem Hinweis auf etwaige reformbedürftige Elemente, wie Amelot sie präsentierte, Àndet sich für die Zeit vor ihm nicht. Neue Aussagen waren nun augenscheinlich möglich, wurden bestritten, riefen Reaktionen hervor. Dabei wurde vor allem auch um die richtige Staatsform gerungen: Nach welchen Kriterien darf eine Republik bewertet werden? In welchen Bereichen muss sie sich verändern, um der Realität standzuhalten und zukunftsfähig zu bleiben? ‚Krise‘ oder ‚Niedergang‘? Vorstellung der Fragestellung Ein solcher Einbruch kritischer Aussagen in einen Diskurs der Wahrnehmung lässt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch mit Blick auf die zwei anderen namhaften zeitgenössischen Republiken, die Eidgenossenschaft und die Niederlande, konstatieren. Auch hier entfaltete sich das Narrativ vom Niedergang dieser Gemeinwesen zunehmend überregional und in verschiedenen Textgattungen. Der Begriff ‚Niedergang‘ tauchte dabei in mehreren Sprachen und terminologischen Varianten wie ‚Verfall‘ oder ‚Untergang‘ insbesondere in Reiseberichten und politischen Traktaten auf.16 Der Terminus ‚Krise‘ hingegen Àndet sich in den untersuchten Quellen nicht. Dies ist nicht verwunderlich, da er sich um 1700 im europäischen Raum erst langsam als Begriff der gesellschaftlichen und politischen Sprache etablierte.17 Die Forschungsliteratur verwendet mit Blick auf die historische Entwicklung der drei bekanntesten vormodernen Republiken im 18. Jahrhundert weitgehend unreÁektiert dieselbe Terminologie wie die zeitgenössischen Quellen. Sie konfrontiert den Leser mit der Aussage, dass Venedig, die Vereinigten Provinzen der Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft nach einer wirtschaftlichen und politischen Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert im 18. Jahrhundert einen „Niedergang“ erfuhren.18 Konstatiert wird zumeist ein Regimeumbruch, so die Wandlung der 16

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So z. B. Temple: Remarques sur l’Estat des Provinces Unies, Kap. VIII (1674); Bianchi: Account of Switzerland and the Grisons, made in English from the Italian Original printed in Venice in 1708, S. 16 (1710); Freschot: Nouvelle Relation de la ville & de la république de Venise, S. 270 (1709); Anonymus: Voiage historique et politique de Suisse, S. 329 (1736); Audiffret: Histoire et Géographie ancienne et moderne, Tome second, S. 536 (1694); Schmauß: Betrachtungen über den gegenwärtig verwirrten Zustand der Niederlande, S. 23 (1747); Le Bret: Staatsgeschichte der Republik Venedig, Erster Theil, S. 675 (1769). Vgl. Koselleck: Art. „Krise“, S. 619–621. Als Beispiele für eine solche Begriffsverwendung seien neben vielen anderen folgende Kapitelüberschriften für das 18. Jahrhundert genannt: „Verharren und Niedergang“ (Rösch: Venedig, S. 155, vor allem S. 169 ff.); „The Age of Decline. 1702–1806“ (Israel: The Dutch Republic, S. 957–1130).

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Schweiz zum helvetischen Zentralstaat durch Napoleon 1798, die Eroberung Venedigs durch denselben 1797 und die Umwandlung der Niederlande in eine Monarchie 1805. Dies wird, so scheint es dem Betrachter, als Ausgangspunkt genommen, um die zeitliche Spanne davor als „Niedergang“ zu bewerten. Nicht deutlich wird allerdings, ob dabei eine eigene Forschungskategorie angesetzt oder auf die zeitgenössische Wahrnehmung Bezug genommen wird. Im Folgenden soll deshalb anhand ausgewählter Quellenbeispiele der zeitgenössische Diskurs über die drei Republiken um 1700 vorgestellt und die Kategorie erörtert werden, mit welcher dieser Diskurs in der heutigen Forschung am besten zu fassen ist.19 Handelt es sich tatsächlich um einen ‚Niedergangsdiskurs‘ oder sollte man besser von einem ‚Krisendiskurs‘ sprechen? Ziel des Aufsatzes ist es, die Aussagen auszuloten, die in den Quellen im Zusammenhang mit dem Begriff des ‚Niedergangs‘ getroffen wurden. In einem zweiten Schritt soll dann hinterfragt werden, ob sich der Quellenbegriff ‚Niedergang‘ auch als Begriff der Forschung eignet, um diesen speziÀschen, frühneuzeitlichen Diskurs zu fassen. Handelt es sich um einen Diskurs, der eine zwangsläuÀge Entwicklung hin zum Ende dieser Gemeinwesen konstatiert? Einen Diskurs, in dem dessen Träger allein auf ihre Erfahrung rekurrieren und die gegenwärtigen Entwicklungen als unveränderbar ansehen?20 Oder ist dieser Diskurs ein offener, der einen Handlungsbedarf und eine Notwendigkeit zur Entscheidung konstatiert, den Ausgang dieser Entscheidung aber noch nicht vorwegnimmt? Wird hier im Sinne des griechischen Wortursprungs von ‚Krise‘21 vielmehr um den Ausgang gerungen? Und dominiert nicht vor allem eine Erwartungshaltung der Autoren mit Blick auf eine gestaltbare Zukunft? Der Aufsatz versucht also schließlich zu einer schärferen analytischen Abgrenzung der häuÀg als Paralleltermini bezeichneten Begriffe ‚Niedergang‘ und ‚Krise‘ zu gelangen und in diesem Sinne auch für eine bewusste Trennung zwischen frühneuzeitlichen Wahrnehmungs- und geschichtswissenschaftlichen Beschreibungskategorien zu plädieren. 19

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Die Untersuchung des Diskurses kann hier nur beispielhaft und in Auszügen erfolgen. Eine umfassende Untersuchung ist Gegenstand meines laufenden Dissertationsprojektes mit dem Arbeitstitel „Die Krise der Republiken im Spiegel der Monarchien. Ein politischer Reformdiskurs mit Blick auf Venedig, die Niederlande und die Eidgenossenschaft, 1670–1750“. Auch wenn in der Forschungslandschaft bereits eine geraume Zahl von Studien zu dem Bild Venedigs, der Niederlande oder Schweiz in europäischen Reiseberichten existiert, so bleiben diese doch zumeist rein deskriptiv und auf das Bild einer speziÀschen Republik beschränkt. Zur Schweiz: Waeber: Die Schweiz des 18. Jahrhunderts; Schirmer: Die Schweiz im Spiegel; Vogt: Die Schweiz im Urteil; Feller: Die Schweiz des 17. Jahrhunderts; neueren Datums: Burckhardt: A league of friendly states; Morkowska: Vom Stiefkind zum Liebling; Hentschel: Mythos Schweiz; zu den Niederlanden: Murris: La Hollande et les Hollandais; Schmidt: Die Niederlande und die Niederländer; Bientjes: Holland und die Holländer; Davids/Lucassen (Hg.): A Miracle Mirrored; Charles de Beaulieu: Deutsche Reisende in den Niederlanden; zu Venedig: Cladders: Französische Venedig-Reisen im 16. und 17. Jahrhundert; Landwehr: Die Erschaffung Venedigs. Vgl. Widmer: Niedergangskonzeptionen, S. 22. Zum Wortursprung des Begriffs ‚Krise‘ und dessen terminologischer Entwicklung siehe: Koselleck: Art. „Krise“.

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Bei der Quellenanalyse soll im Sinne einer historischen Diskursanalyse vorgegangen werden.22 Dabei sollen Aussagen in ihrer Historizität erfasst werden, also danach gefragt werden, welche Aussagen zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich, neu möglich oder vielleicht auch nicht mehr möglich waren. Auf diese Weise sollen die „Wahrnehmungen von Wirklichkeit“ und der „Wandel sozialer Realitätsauffassungen“ in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.23 Die Auswahl der Quellen ist dementsprechend sowohl räumlich als auch zeitlich und mit Blick auf die untersuchten Textgattungen sehr breit angelegt. Vornehmlich werden dieser Untersuchung Reiseberichte und politische Traktate aus dem englischen, deutschen und französischen Sprachraum zugrunde gelegt, da diese Räume gewissermaßen den Schwerpunkt einer frühaufklärerischen Debatte innerhalb der politischen Theorie bildeten. Es sind darüber hinaus Texte monarchisch sozialisierter Autoren, deren Blick von ‚außen‘ auf die drei zeitgenössischen Republiken mit der Arbeitshypothese untersucht wird, zugleich eine ReÁexion der eigenen Verhältnisse zu beinhalten. Kritische Wahrnehmung im Vergleich: die Reformbedürftigkeit der vormodernen Republiken Betrachtet man diese zeitgenössische Fremdwahrnehmung der Republiken genauer, so können dominante Themenkreise skizziert werden, die sich in den Aussagen über alle drei Republiken gleichermaßen aufÀnden lassen. HäuÀg entdeckt man Aussagen über den Sittenverfall der Bürger. Ihre Hingabe zum Luxus wird kritisiert, die Bestechlichkeit und politische Inaktivität nach sich ziehe, da nicht mehr das Gemeinwohl, sondern nur noch individuelle Interessen im Vordergrund stünden. Dieses Argument Àndet sich bereits bei Amelot.24 Aber auch der Kabinettssekretär des Prinzen von Holstein-Gottorp und spätere Philosophieprofessor in Kiel, Christian Cayus L. Hirschfeld (1742–1792), konstatiert etwa noch in den 1760er Jahren in seinen „Briefen die Schweiz betreffend“: „Nichts kann den Schweizern schädlicher und selbst der Freiheit nachtheiliger sein, als Ueppigkeit und Verschwendung“.25 Die Niederländer hingegen, so die anonym herausgegebene Schrift „A description of Holland: or, the Present State of the United Provinces“ von 1743, hätten gut daran getan, sich bisher immer strikt gegen den Luxus gewandt zu haben, denn nur so hätten sie einen vollkommenen Niedergang bis jetzt abwenden können.26 Dabei prangert die Argumentation in diesem Traktat 22 23 24 25 26

Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens; sowie erläuternd Landwehr: Historische Diskursanalyse. Landwehr: Historische Diskursanalyse, S. 96. Vgl. z. B. Houssaie: Histoire du Gouvernement de Venise, S. 16 oder S. 331. Hirschfeld: Briefe die Schweiz betreffend, S. 156. „It has been the great Care of the wise Rulers of the Republick to banish everything that looks like Pomp and SuperÁuity, from their Country; […] Should excessive Feasting, Dressing, Balls, &c. once gain ground in the Provinces, their military and mercantile Qualities would soon decline, and come to nothing; their Tempers would grow too soft and delicate for their

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nicht allein die die Tugend korrumpierende Kraft des Luxus im politischen und militärischen Bereich an, sondern sie folgt auch wirtschaftlichen Realitäten: „Besides which, the Materials for Luxury must be brought from other nations, and that must exhaust and ruin a Country, which has but few Commodities of its own to export.“27 Ein solches Argumentationsmuster ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass dieser Diskurs nicht allein bei einer moralischen und so zunächst auch noch genuin republikanischen Kritik am Zustand der Republiken und ihrer Bürger bleibt.28 Verstärkt – und das ist eine neue Entwicklung, die um 1700 einsetzt – wird der ‚Niedergang‘ der existierenden Republiken mit einem wirtschaftlichen Rückgang begründet. Schuld an einem solchen seien vor allem zu hohe Zölle und Abgaben. Dem einzelnen Bürger müssten mehr individuelle Freiheiten und Rechte im Handel und in Bezug auf seinen Besitz gewährt werden. Dies ist mit Blick auf Venedig etwa der Tenor von Joseph Addisons „Some Remarks on Several parts of Italy“ aus dem Jahre 1705. Addison (1672–1705) nennt drei Gründe dafür, dass der venezianische Handel „far from being in a Áourishing Condition“ sei:29 Erstens seien die Abgaben viel zu hoch, die dem Handel auferlegt worden seien. Zweitens handle der Adel in dem Glauben, dass ein Engagement im Handelswesen seine Ehre mindern würde. Und drittens würden Händler, die ihr Handwerk verstanden hätten und reich geworden seien, sich in den Adel einkaufen und ihre Handelstätigkeit aufgeben.30 Folglich kommt Addison zu dem Schluss: „Their Manufactures of Cloth, Glas and Silk, formerly the best in Europe,

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Climate, and the peculiar Business and Works, for which Divine Providence seems to have designed them.“ Anonymus: A description of Holland: or, the Present State of the United Provinces, S. 99. Ibid., S. 99 f. Der Begriff ‚Republik‘ bezog sich im ausgehenden 17. Jahrhundert nicht allein auf eine Verfassungskategorie, sondern war in unterschiedlichen Kontexten durch verschiedene Normen und Werte aufgeladen. Sowohl das Selbst- als auch das Fremdverständnis davon, was eine ‚Republik‘ ausmachte, umfasste nicht nur den Aufbau der politischen Ordnung eines Gemeinwesens, sondern auch bestimmte Tugend- und Freiheitsvorstellungen, die mit Hilfe von bestimmten Vokabeln und Symbolen kommuniziert wurden. Die Geschichtswissenschaft fasst diese Sprache mit der Kategorie des ‚Frühneuzeitlichen Republikanismus‘. Dieser wird in der Folge von John G. A. Pococks einÁussreichem Werk „The Machiavellian Moment“ zumeist als ein Paradigma aufgefasst, das auf der Grundlage von Aristoteles Polis-Philosophie durch Machiavelli im Florenz der Renaissance angesichts einer erwarteten zeitlichen Endlichkeit der ‚Republik‘ entwickelt wurde und folgende Elemente bzw. sprachliche Deutungsmuster umfasst: Tugend, Bewaffnung und Eigentum mit Blick auf die Bürgerpersönlichkeit sowie Konzepte von Mischverfassung und Partizipation mit Blick auf die Verfassung des Gemeinwesens. Die Freiheit des Einzelnen beruht dabei auf der Freiheit des Gemeinwesens, deren Erhalt einzig durch die politisch aktive Bürgertugend, die virtú, garantiert werden kann. Siehe dazu u. a. Pocock: The Machiavellian Moment; Mager: Republikanismus; Maissen: Geburt der Republic, S. 14–19 und S. 77–163; Wootton: True origins. Addison: Some Remarks on several parts of Italy, S. 83 f. „The Duties are great that are laid on the Merchandise. Their Nobles think it below their Quality to engage in TrafÀck. The Merchants that are grown rich, and able to manage great Dealings, buy their Nobility, and generally give over Trade.“ Ibid., S. 84.

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are now excelled by those of other Countries. They are tenacious of old laws and customs to their great prejudice, whereas a trading Nation must be still for new Changes an Expedients, as different Juncturs and Emergencies arise“.31 Die Eidgenossenschaft wird diesbezüglich schon 1714 durch den englischen Gesandten Abraham Stanyan (1669–1752) kritisiert. In seinem „Account of Switzerland“ moniert er, dass kein freier Markt in den eidgenössischen Städten mit aristokratischer Regierungsform existiere. Diese mache die Bürger faul, verschlechtere die Qualität und erhöhe die Preise.32 Auch mit Blick auf die Wirtschaftspolitik der Niederlande Ànden sich kritische Stimmen. Anton Friedrich Büsching (1724–1793) etwa kritisiert in seiner „Neuen Erdbeschreibung“ von 1760 die „gar zu großen AuÁagen“, die in den Vereinigten Provinzen zu einem Rückgang des wirtschaftlichen Vermögens geführt hätten.33 Dennoch stellen die Niederlande für die meisten Autoren in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Sie werden aufgrund ihrer weitgehenden Zollfreiheit noch oft in ein positives Licht gerückt. Die Handelsfreiheit für den einzelnen Bürger und die Toleranz gegenüber GlaubensÁüchtlingen, die vor Ort die Wirtschaft mit neuen Ideen ankurbelten, werden – wie in dem Traktat „A Description of Holland“ von 1743 – geradezu als mögliche Standpfeiler des Überlebens gepriesen: „Holland is as industrious to receive Strangers from all Parts, as other Countries are to get rid of them. It is Maxim with the Dutch, That no Nation can bee too populous, provided it be industrious. They admit all Strangers that come to settle amongst them, and immediately grant them all the Privileges of the Natives. […] And this conduces exceedingly to the Wealth, Trade and Strength of the State. No country perhaps stands more in need of fresh Supplies of People than this.“34 In der Analyse und Kritik der wirtschaftlichen Strukturen der Republiken tritt demnach noch ein weiterer Faktor deutlich zu Tage: Das Bürgerrecht als Voraussetzung für die politische Partizipation und oft auch als Voraussetzung für die Teilnahme am Handel oder am Zunfthandwerk werde zu exklusiv und restriktiv vergeben. Gerade mit Blick auf die Eidgenossenschaft taucht dieser Kritikpunkt verstärkt auf. Der Reisende de Blainville35 zum Beispiel kritisiert in seinen Beschreibungen 31 32

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Ibid. „As to the Citizens of the Aristocratical Cantons […] they may be divided into Three Classes, the Trades-men and Merchants, the Pen-men, and the Military Men. The Àrst are generally esteemed to be proud and lazy; which Qualities chieÁy proceed from two Privileges they enjoy. One is, their Right of being chosen into the Government by Vertue of their Burgership, which makes them proud; and the other is, that of hindering any but a Citizen, from exercising any Trade within the Cities, which makes them lazy. From whence two Inconveniencies naturally Áow: One that Inhabitants pay every dear for their Goods; and the other, that the Workmen are bad; for where there is no great Choice of ArtiÀcers, one must be contented not only with bad Work, but to pay such a Price for it, as they please to impose.“ Stanyan: An Account of Switzerland, S. 140 f. Anton Friedrich Büsching: Neue Erdbeschreibung, S. 19 (1760). Anonymus: A Description of Holland, S. 96; vgl. auch de Beauval: Annales des ProvincesUnies, Tome 1, S. 121 (1726). Der Sieur de Blainville war ein hugenottischer Flüchtling, der 1685 in die Niederlande Áoh und dort in der Folge Sekretär der Generalstände wurde, vgl. Archive Biographiques Françaises,

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aus den Jahren 1705 und 1707 die restriktive Bürgerrechtsvergabe in Zürich und Basel. Er nennt es einen „Schlechten Staatsgrundsatz […] dass sie nemlich ihr Bürgerrecht niemanden als alle hundert Jahre einer einigen Person ertheilen, und diese muß noch dazu aus dem Canton gebürtig seyn, oder zum wenigstens ursprünglich daraus abstammen“.36 Man forderte also eine Erweiterung des Bürgerstandes und für diese Gruppe von Bürgern weitergehende Rechte im wirtschaftlichen Bereich. Darüber hinaus – so wird aus dem kritischen Diskurs immer wieder deutlich – sollte eine größere Meinungsfreiheit, d. h. vor allem weniger Zensur sowie eine stärkere Rechtssicherheit garantiert werden. Dieses Argument, das schon Amelot mit Blick auf Venedig anführt,37 greift beispielsweise Stanyan in seiner Kritik an der Eidgenossenschaft wieder auf: „I wish I could as easily justiÀe them of another Crime laid to their Charge, which is the Corrupt Administration of Justice. But that Vice is too palpable to be denied“38. Und ähnlich konstatiert die anonym herausgegebene Schrift „Voiage historique et politique de Suisse“ von 1734 in Bezug auf Bern: „A la vérité, dans tout Etat bien policé, pareils excès sont punis, & l’amende est moderée. Mais là, la punition étant arbitraire“.39 Insgesamt zielt dieser Niedergangsdiskurs also weniger auf eine Kritik an vernachlässigten Bürgertugenden und -pÁichten. Vielmehr wird das politische System bzw. die Ausgestaltung der politischen Systeme in den existierenden Republiken kritisiert und für den Verfall verantwortlich gemacht. Nicht zuletzt wird auch häuÀg die mangelnde Flexibilität und die Langsamkeit der Entscheidungsprozesse moniert, insbesondere mit Blick auf die föderal strukturierten Republiken der Niederlande und der Eidgenossenschaft. Eine solche Kritik Àndet sich beispielsweise bei dem in die Niederlande geÁohenen Hugenotten Jacques Basnage (1653–1725). Er moniert 1726 die Aufteilung der souveränen Kompetenzen unter den sieben Provinzen und das Fehlen einer dauerhaften, zentralen Entscheidungsinstanz, die dynamisch und Áexibel reagieren könnte.40 Das anonym publizierte Traktat: „A Description of Holland: or the Present State of the United Provinces“ aus dem Jahr

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Teil 1, Fiche 1013, S. 137, URL: http://db.saur.de.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/WBIS/basicTextDocument.jsf (12.04.2010). Des Herrn von Blainville […] Reisebeschreibung durch Holland, Deutschland und die Schweiz besonders aber durch Italien […], Bd.1, 1. und 2. Abtheilung, S. 363; ähnlich auch 1694 Audiffret: Histoire et Geographie ancienne et moderne. Tome second, S. 588. Siehe beispielsweise Houssaie: Histoire du gouvernement de Venise, S. 350 f.: „Ils afectent beaucoup de paroître bons Justiciers […] Mais il y a deux choses à redire dans leur Judicature. L’une est, qu’ils sont presque tous tres-ignorans dans le Droit, & ne jugent que par une certaine routine de leurs Loix. Et l’autre, que pour toute sorte de sujets ils condannent (sic) aux Galéres, pour des bagatelles, comme pour des cas atroces, acommodant la Justice à leur intérest, j’entend, au besoin qu’ils ont de gens de Rame.“ Stanyan: Account of Switzerland, S. 151. Anonymus: Voiage historique et politique de Suisse, d’Italie et d’Allemagne, S. 34. „Il semble que le Gouvernement seroit beaucoup plus ferme & plus commode, si les sept Provinces-Unies ne faisoient qu’une seule & même Souveraineté. Les Délibérations seroient plus promptes, si elles émanoient d’un même Corps toûjours assemblé; & l’éxécution plus vigoreuse, si elle dépendoit d’une même tête.“ De Beauval: Annales des Provinces-Unies, Tome 1, S. 13.

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1743 erläutert diesen „enormous Defect“ der niederländischen Verfassung sogleich in Abgrenzung zum besseren englischen Modell: „Thus this Assembly, which is called Sovereign, only represents the Sovereignity, and essentially differs from the Parliament of Great Britain, of which the Members are in a manner Principals, and may act independently of the Counties that deputed them […] This is an enormous Defect in this Constitution. […] For at present the Corruption of any small Town may putt the publick Affairs into great, and even fatal Disorder“. 41 Das Ideal der englischen Verfassung, die durch eine gemäßigte Monarchie wahre Freiheit – und das meint hier die individuelle Freiheit des einzelnen Bürgers und nicht mehr die politische Freiheit der Amtsträger – nicht länger nur suggeriert, sondern tatsächlich ermöglicht, wird denn auch in den untersuchten Texten zur Referenznorm der Kritik.42 Nicht zuletzt Montesquieu greift dieses Ideal in seinen Schriften auf, auch und gerade in Abgrenzung gegenüber Venedig und den Vereinigten Provinzen der Niederlande. In diesen Republiken seien die politisch Verantwortlichen „les sénateurs libres politiquement, et non pas civilement“.43 In England hingegen seien die Magistraten Sklaven, aber die Bürger frei.44 Eine bestmögliche Entfaltung dieser freien Bürger sei, so Montesquieu, in einem geordneten und stabilen System möglich, welches öffentliche Ruhe sowie Rechtssicherheit und Wohlstand garantiere.45 Genau diese Elemente präsentieren sich als Kernelemente, als Referenzideen des neuen kritischen Diskurses mit Blick auf die Republiken im 18. Jahrhundert. England garantiere gemäß Montesquieu dem Bürger durch die Prämissen der Gewaltenteilung und der Gesetzesherrschaft eine solche Entfaltung.46 Republiken könnten dies nur, wenn sie föderal strukturiert seien. Denn wenn eine Republik zu klein sei, würde sie von äußeren Kräften zerstört werden, wenn sie zu groß sei, von inneren Unruhen.47 Die Eidgenossenschaft und auch die Niederlande mit ihrer 41 42

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Anonymus: A Description of Holland: or the Present State of the United Provinces, S. 68–73. Onslow Burrish beschreibt dieses Ideal der englischen Verfassung in seinem 1728 erschienenen Traktat „Batavia Illustrata“ als „Just Mixture of Prerogative and Liberty“ (Burrish: Batavia Illustrata, S. ii.). Zur Modellfunktion der englischen Verfassung siehe auch Kraus: Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime. Montesquieu: Mes Pensées, ed. Caillois, S. 1432. Zu Montesquieus Venedigbild siehe auch Carrithers: Not so Virtuous Republics. „En Angleterre, ils sont esclaves comme magistrats, et libres comme citoyens“ Montesquieu: Mes Pensées, ed. Caillois, S. 1432. „L’esprit du citoyen n’est pas de voir sa patrie dévorer toutes les patries. Ce désir de voir sa ville engloutir toutes les richesses des nations, de nourrir sans cesse ses yeux des triomphes des capitaines et des haines des rois, tout cela ne fait point l’esprit du citoyen. L’esprit du citoyen est le désir de voir l’ordre dans l’État, de sentir la joie dans la tranquillité publique, dans l’exacte administration de la justice, dans la sûreté des magistrats, dans la prospérité de ceux qui gouvernent, dans le respect rendu aux lois, dans la stabilité des la Monarchie ou de la République.“ Ibid., S. 1143 f. Siehe dazu auch: Zurbuchen: Republik oder Monarchie? „Si une république est petite elle est détruite par une force étrangere; si elle est grande, elle se détruit par un vice intérieur“ Montesquieu: De L’Esprit des lois (1748), ed. Caillois, Livre IX, Chap. I, S. 369.

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föderalen Struktur hätten demgemäß durchaus eine Überlebenschance, aber auch nur dann, wenn die anderen Bedingungen einer freiheitlichen Verfassung, nämlich Gewaltenteilung und Gesetzesherrschaft, erfüllt seien. Niedergangserzählung als Krisendiskurs: Fazit und Ausblick Die hier vorgestellten Aussagen durchaus heterogener Quellentexte bündeln sich mit Beginn des 18. Jahrhunderts in einem Diskurs über den ‚Niedergang‘ der drei vormodernen Republiken von Venedig, den Niederlanden und der Eidgenossenschaft. Wie verhält sich dieser Diskurs in Bezug auf andere Niedergangserzählungen der Frühen Neuzeit? Peter Burke hat 1976 in seinem Aufsatz „Tradition and Experience. The Idea of Decline from Bruni to Gibbon“ sechs Kategorien bzw. Muster solcher Niedergangserzählungen benannt, die sich auf der Grundlage der Adaption und Transformation antiker Konzepte zwischen 1400 und 1800 herausgebildet hätten:48 1) 2) 3) 4)

kosmischer Verfall („cosmic decline“), Sittenverfall („moral decline, or the decay of manners“), Niedergang der Kirche („the decline or fall of the church“), politischer Verfall aufgrund einer entarteten Verfassung oder einer Expansion eines Reiches auf Kosten eines anderen („political decline“), 5) kultureller Niedergang („cultural decline“) sowie 6) (ab dem 17. Jahrhundert) wirtschaftlicher Verfall („economic decline“).49 Drei dieser Kategorien, nämlich der Sittenverfall sowie der politische und wirtschaftliche Niedergang (2, 4 und 6), erweisen sich auch als zentrale Argumentationsmuster in den angeführten Quellenbeispielen. Dennoch unterscheidet sich der skizzierte Diskurs über die existierenden Republiken um 1700 von anderen Niedergangserzählungen der Frühen Neuzeit und sollte in seiner SpeziÀtät rückblickend, aus der Perspektive der Forschung besser als ‚Krisendiskurs‘ denn als ‚Niedergangsdiskurs‘ bezeichnet werden. Diesen Schluss legen die vorgestellten Ergebnisse nahe, die wie folgt zusammengefasst werden können: 1. Der hier betrachtete Diskurs ist ein kritischer Diskurs. Im Sinne des griechischen Wortursprungs wird hier geurteilt, gestritten und um das ‚Für und Wider‘ mit Blick auf die Überlebensfähigkeit der drei vormodernen Republiken gerungen.50 Dabei greift dieser Diskurs zwar die für die Niedergangserzählungen der Frühen Neuzeit typische Klage über den Sittenverfall der Bürger und der daraus resultierenden Korruption des politischen Systems auf. Er bleibt aber nicht bei dieser Kri48 49 50

Burke: Tradition and Experience. Ibid., S. 138–142. Zum Wortursprung des Begriffs ‚Krise‘ und dessen terminologische Entwicklung siehe: Koselleck: Art. „Krise“, S. 617 f.

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tik stehen. Neue Elemente der kritischen Betrachtung treten hinzu, die auch eine neue Art des Umgangs erfordern. Der Diskurs erweist sich also als reÁexiver Spielraum, in dem traditionelle Handlungsmuster im Kontext neuer Herausforderungen erneut ausgetestet werden.51 Die konstatierten Niedergangserscheinungen können allerdings nicht mehr auf herkömmliche Art und Weise, eben durch reine Bürgertugend, bekämpft und überwunden werden, sondern es bedarf neuer Mittel und Wege. Sie können aber überwunden werden. 2. Das heißt, es wird zweitens nicht mehr nach Art eines Polybios oder eines Machiavelli zyklisch und meist auch nicht mehr naturgesetzlich argumentiert. Es gibt keinen ‚vorprogrammierten Niedergang‘ mehr, wie Burke es etwa für den Vorstellungsraum der meisten frühneuzeitlichen Denker konstatiert.52 Der Diskurs ist vielmehr im Sinne des Wortursprungs von ‚Krise‘ als Entscheidungsprozess angelegt: Welche Verfassung gewährt dem Bürger mehr Freiheit und was für eine Freiheit? 3. Dabei ist die ideale Referenznorm des Diskurses nicht mehr in der Vergangenheit angesiedelt, etwa als ideale antike Mischverfassung, verwirklicht in den antiken oder in den italienischen Republiken der Renaissance, sondern als idealtypische stabile, kleinräumige und föderative Republik in der Zukunft oder mit dem Modell des liberalen englischen Rechtsstaates in der Gegenwart verankert. 4. Es dominiert in diesem Diskurs also eine Erwartungshaltung und nicht mehr unbedingt der Erfahrungsfundus, den Paul Widmer als deÀnierendes Moment des Niedergangsbegriffes beschrieben hat.53 Gemäß dieser Erwartungshaltung könne künftig jedes Gemeinwesen (also auch Venedig, die Niederlande und die Eidgenossenschaft) mit Hilfe eines pragmatischen Verfassungsmodells so stabil werden, dass es sämtliche Niedergangserscheinungen wie einen moralischen Verfall der Bürger oder ökonomische Rückgänge stabil und Áexibel überwinden könne. Folgt man den meisten der hier vorgestellten Autoren, so beruht ein solches Modell vor allem auf Gesetzesherrschaft, einer liberalen Marktgestaltung, einer vorausschauenden Bürgerrechtspolitik und einer efÀzienten Verwaltung. Der Diskurs zeigt also mit der Kritik an Sittenverfall, Korruption, mangelnder Marktfreiheit und Rechtssicherheit sowie einer zu strikten Bürgerrechtsvergabe gravierende Mängel auf. Er konstatiert einen dringenden Handlungsbedarf,54 fragt dabei aber auch nach Chancen und sucht nach Wegen, diese Niedergangserscheinungen zu überwinden. Die AuÁösung der Republiken von Venedig, der Niederlande und der alten Eidgenossenschaft wird von den zeitgenössischen europäischen Autoren um 1700 im Gegensatz zu einem Großteil der heutigen Forschung 51 52 53 54

Annette Hornbacher hat dies in ihrem Vortrag als SpeziÀkum ethnologischer Krisendiskurse herausgearbeitet, siehe ihren Beitrag in diesem Band. Burke: Tradition and Experience, S. 142 ff. Widmer: Niedergangskonzeptionen, S. 22. Henning Grundwald und Manfred PÀster haben dies als „Dynamik“ beschrieben, die dem „Deutungsmuster Krise“ immer mitgegeben ist: „Wer von Krise spricht, diagnostiziert Notstand, Zeitknappheit und Handlungsbedarf. Gleichzeitig wird die eigene Position als eine die Krise erkennende und reÁektierende legitimiert und inszeniert sich das Krisengerede als Voraussetzung des Krisenmanagements oder der Therapie“. Grundwald und PÀster: Krisis!, S. 9.

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noch nicht als zwangsläuÀge Folge aus den Entwicklungen um die Jahrhundertwende gesehen. Vielmehr präsentiert sich dieser Niedergangsdiskurs als ein transnationaler Reformdiskurs, der einem sich wandelnden Freiheitsverständnis entspringt und versucht, bestehende republikanische Staatsgebilde den sich verändernden politischen Machtstrukturen auf dem Kontinent anzupassen. Destabilisierende Phänomene und SteuerungsdeÀzite werden nicht nur konstatiert, sondern ihnen werden im Zuge einer zunehmend dynamischeren Politikauffassung Reformvorschläge entgegengehalten. Mit der geschichtswissenschaftlichen Beschreibungskategorie ‚Krise‘ soll also nicht nur, wie der Soziologe Jürgen Friedrichs es vorschlägt, „die wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters“ bezeichnet werden,55 sondern mit ihrer Hilfe kann dieser frühneuzeitliche Diskurs über den ‚Niedergang‘ der Republiken als ‚Reformdiskurs‘ gefasst werden. Es ist ein Reformdiskurs, dem ein sich veränderndes Zeitverständnis zu Grunde liegt. Zeit wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend dynamischer wahrgenommen.56 Wissenschaftliche Kritik und methodischer Zweifel Áossen mit der Jahrhundertwende verstärkt von der Philosophie und den Wissenschaften in die gesellschaftliche und politische Praxis ein. Dies führte zu einem skeptischeren und differenzierteren Blick auf die Vergangenheit, die als abgeschlossen gedacht werden konnte.57 Folglich mussten auch Niedergangserscheinungen nicht mehr mit Blick auf ein in der Vergangenheit angesiedeltes Ideal normativ verankert, sondern konnten nun auch mit Blick auf die gegenwärtig erlebte Zeit und oder die zu erwartende Zukunft entwickelt werden.58 Als ‚Krisendiskurs‘ soll hier folglich ein Diskurs gefasst werden, der sich nicht auf die Konstruktion der Undenkbarkeit stützt,59 sondern sich gerade durch die Denkbarkeit neuer Konzepte und Vorstellungen auszeichnet. Dennoch ist dieser Diskurs ein offener und deshalb ist der hier verwendete Krisenbegriff auch von demjenigen abzugrenzen, den Reinhart Koselleck als „gesellschaftlichen Epochenbegriff“ der Aufklärung zu etablieren suchte.60 Denn für die Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts, so Koselleck in seinem Werk „Kritik und Krise“, wird „die Krise zum moralischen Gericht […] zum transistorischen Moment, dessen Ausgang in den Kategorien der bürgerlichen Kritik bereits beschlossen liegt“.61 Die hier vorgestellten Autoren sind noch nicht Teil eines so starken moralischen Fortschrittsoptimismus. Sie argumentieren zwar ebenfalls freiheitsorientiert, aber zugleich pragmatisch, stabilitätsorientiert und vor allem ergeb55 56 57 58 59 60 61

Friedrichs: Gesellschaftliche Krisen, S. 14. Vgl. hierzu u. a. Widmer: Niedergangskonzeptionen, S. 28; Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 170–173 und S. 328. Vgl. hierzu Schulze: Die Wahrnehmung von Zeit, S. 20–29; Landwehr: Die Erschaffung Venedigs, S. 429–431; Hölscher: Entdeckung der Zukunft, S. 9, S. 34–46. Vgl. auch Widmer: Art. „Niedergang und Untergang“, Sp. 841. „Undenkbarkeit“ wird oft als Eigenschaft des Terminus ‚Krise‘ mitgedacht. Siehe z. B. auch die Einleitung zum vorliegenden Band. Vgl. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 206; Ders.: Art. „Krise“, S. 634. Koselleck: Kritik und Krise, S. 145.

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nisoffen. Mit der Beschreibungskategorie ‚Krise‘ soll hier also auf einen Diskurs Bezug genommen werden, in dem die Notwendigkeit einer Entscheidung offensichtlich, die Entscheidung selbst aber noch nicht endgültig gefallen ist.62 Dabei soll diese Kategorie der ‚Krise‘ aber auf die Diskursebene beschränkt bleiben. Es handelt sich hier um eine Kategorie, mit deren Hilfe die Wahrnehmung von Autoren beschrieben wird. Ob sie sich dazu eignet, konkrete Ereignisse und Phänomene aus demselben Zeitraum – etwa den Verlust territorialer Besitzungen in Folge von Kriegen, die Entwicklung steuerlicher Einnahmen oder konkreter Staatsausgaben – ebenfalls zu beschreiben, oder ob die geschichtswissenschaftliche Forschung diesbezüglich weiterhin von ‚Niedergangserscheinungen‘ sprechen kann und darf, muss an anderer Stelle untersucht werden. In jedem Fall bedarf es immer und grundsätzlich einer skeptischen Überprüfung der Quellentermini hinsichtlich ihrer Angemessenheit als ForschungsbegrifÁichkeit. Die Narrative, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts und mit Blick auf die drei bekanntesten vormodernen Republiken rund um den Quellenbegriff ‚Niedergang‘ entfalten, lassen sich jedenfalls vielmehr mit dem Forschungsterminus der ‚Krise‘ als mit dem des ‚Niedergangs‘ fassen. Quellen Addison, Joseph: Some Remarks on several parts of Italy &c. in the years 1701, 1702 and 1703, London 1705. Anonymus: A Description of Holland: or, the Present State of the United Provinces, London 1743. Anonymus: Voiage historique et politique de Suisse, d’Italie et d’Allemagne, Francfort 1736. Audiffret, Jean Baptiste: Histoire et Géographie ancienne et moderne, Tome second, qui contient la France, les Pays-Bas, les Provinces-Unies, la Suisse, & la Savoye, par Mr. D’Audiffret, Paris 1694. Beauval, Jacques Basnage de: Annales des Provinces-Unies, Tome 1, La Haye 1726. Bianchi, Vendramino: Account of Switzerland and the Grisons, as also of the Valesians, Geneva, the Forest-Towns and their Allies. Containing the geographical, and present estate of all those places, made in English from the Italian Original printed in Venice in 1708, London 1710. Büsching, Anton Friedrich: Neue Erdbeschreibung. Vierter Theil, welcher die vereinigten Niederlande, die Eidgenossenschaft samt denen derselben zugewandten Orten, Schlesien und Glatz enthält, Hamburg 1760. Burrish, Onslow: Batavia Illustrata: or, a View of the Policy, and Commerce of the United Provinces: Particularly of Holland, with an enquiry into the alliances of the States General, with the Emperor, France, Spain, and Great Britain, 2 Bde., London 1728. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, arts et des métiers, par une société de gens de lettres; mis en ordre & publié par M. Diderot & quant à la partie mathematique par M. d’Alembert, Vol. 17, Paris, Geneve und Neufchastel 1772. Freschot, Casimir: Nouvelle Relation de la Ville & Republique de Venise, divisée en trois parties, dont la premiere contient son Histoire Generale, la seconde traite du Gouvernement & des moeurs de la Nation, et la troisieme donne connoissance de toutes les familles patrices, employées dans le Gouvernement, Utrecht 1709. 62

Zur Krise als ‚Verlaufsbegriff‘ im gesellschaftlich-politischen Bereich siehe: Koselleck: Art. „Krise“, S. 619.

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DIE DARSTELLUNG DER ‚TERRORISMUS-KRISE‘ IM NEUEN DEUTSCHEN FILM DER 1970ER JAHRE Cordia Baumann Die ‚Krise‘ avancierte in den 1970er Jahren in Medien und Politik zu einem Leitbegriff: Das „Krisenjahrzehnt“1 bot im Vergleich zur Dekade zuvor auf allen Gebieten Entwicklungen, die als Einbruch in die „goldenen Jahre“2 empfunden wurden. Die Öl- und Wirtschaftskrise ab 1973 und zahlreiche damit einhergehende Veränderungen machten die weltweiten krisenhaften Entwicklungen im wirtschaftlichen Bereich deutlich.3 Die Krisenwahrnehmung breitete sich aber auch in viele Teilbereiche der Gesellschaft aus; begonnen hatte diese Entwicklung schon vorher. So kann man die sog. 68er-Revolte als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise interpretieren. Doch erst durch den anhaltenden Terrorismus der 1970er Jahre setzten sich in der Bundesrepublik Krisennarrative durch, welche die Krise je nach Perspektive als Krise der ‚Inneren Sicherheit‘ bzw. als Krise des Rechtsstaats lasen.4 Das Narrativ einer Krise der ‚Inneren Sicherheit‘ wurde mit einer verstärkten ‚Anti-Terrorismus‘-Gesetzgebung und einem Ausbau polizeilicher Behörden, besonders einer Stärkung des Bundeskriminalamtes (BKA) beantwortet. Während der Gesetzgeber und die Bundesregierung dies mit der Stärkung eben jener ‚Inneren Sicherheit‘, somit mit der Abwendung der krisenhaften Entwicklungen begründete, empfand ein großer Teil der kritischen ‚Linken‘5 der Bundesrepublik diese Gesetzgebung sowie die verstärkte Polizeipräsenz als eigentliches krisenhaftes Phänomen – als Krise des Rechtsstaats, der von der Einschränkung durch staatliche Gesetzgebung bedroht war. Die Regierungsseite, namentlich Helmut Schmidt, sprach 1 2 3

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Hobsbawm spricht ab 1973 vom „Krisenjahrzehnt“ und nimmt die Ölpreiskrise als Einschnitt. Hobsbawm: Zeitalter. Ibid., Kapitel neun: Die Goldenen Jahre. Hobsbawm bezieht sich dabei nicht nur auf die Bundesrepublik Deutschland. Auf internationaler Ebene markierte das Scheitern des Systems von Bretton Woods das Ende des Nachkriegsbooms. Das Bewusstsein, darauf reagieren zu müssen, macht sich am ersten Weltwirtschaftsgipfel 1975 fest, der in den Folgejahren zu einer festen Institution wurde; in der Bundesrepublik war das erste Warnzeichen die Rezession von 1966/67; nach der Ölpreiskrise 1973 markierten Benzinmangel und autofreie Sonntage sowie die Einführung der Sommerzeit aus Energiegründen das neue Zeitalter. Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte (besonders Kapitel IX). Weinhauer deÀniert „Innere Sicherheit“ mit „Blick auf die Legitimation von Staatlichkeit […] als komplexes Maßnahmenbündel zur DeÀnition, Darstellung und Festigung von Staatsfunktionen nach innen.“ Weinhauer: „Staat zeigen“, S. 933. Mit ‚Linken‘ sind hier und im Folgenden Akteure des politisch linken, außerparlamentarischen Spektrums gemeint.

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ebenso von einer Krise des Rechtsstaats, meinte damit allerdings eine Gefahr von Seiten der RAF. 6 Als Medium der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen hatte sich seit Ende der 1960er Jahre der ‚Neue Deutsche Film‘ entwickelt. Im Zuge des Oberhausener Manifests von 1962 und dem dort geäußerten Wunsch junger Regisseure nach gesellschaftlich relevanten Themen im Kino und unter dem EinÁuss der Studentenbewegung sowie der ‚Nouvelle Vague‘ aus Frankreich hatten sich die Jungregisseure vom unpolitischen HeimatÀlm der 1950er Jahre distanziert und schufen zahlreiche gesellschaftskritische Filme.7 Regisseure des ‚Neuen Deutschen Film‘ waren neben anderen Alexander Kluge, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz und Werner Herzog. Das Unbehagen der jungen, linken Regisseure über die rechtsstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik kann in mehreren Produktionen aufgezeigt werden und ist als Gegenöffentlichkeit zur Darstellung der Krise der ‚Inneren Sicherheit‘ von Seiten der Bundesregierung bzw. der staatlichen Seite zu sehen. Auf die Forderungen der 68er-Bewegung rekurrierend, nahmen sie meist Bezug auf die Einschränkung von Freiheitsrechten im Zuge des Nationalsozialismus und stellten die Frage, inwiefern die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik der 1970er Jahre in derselben Gefahr wie damals sei, ob sie in einer ‚Krise‘ stecke. Der Begriff ‚Krise‘ bezeichnet von seinem medizinischen Ursprung her den Entscheidungskampf eines Organismus.8 Dem Moment der Krise folgt entweder die Genesung oder der Tod des Patienten. Übertragen auf gesellschaftliche Verhältnisse kann man in ähnlicher Weise von Krisen sprechen, wie der massenmediale Gebrauch von Begriffen wie ‚Wirtschaftskrise‘ oder ‚Vertrauenskrise‘ bezeugt. In der Wahrnehmung der 1970er Jahre kam es sowohl von politischer und medialer als auch von gesellschaftlicher Seite in Bezug auf den Terrorismus zu zwei Höhepunkten krisenhafter Zuspitzung: Im Zuge der Sympathisantendebatte und der Anschläge der ersten Generation der RAF 1972 sowie im Deutschen Herbst 1977.9 Während von staatlicher Seite die Stärkung der ‚Inneren Sicherheit‘ verkündet wurde, sahen dies die angesprochenen Regisseure des ‚Neuen Deutschen Films‘ anders, ihre Dar6

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Die von mir vorgenommene Trennung in „Krise der Inneren Sicherheit“ und „Krise des Rechtsstaat“ soll dem einfacheren Verständnis dienen, zumal der Begriff der Inneren Sicherheit tatsächlich zum Schlagwort im politischen Diskurs der 1970er Jahre avancierte. Helmut Schmidt bezeichnet die Phase des Terrors im Herbst 1977 als „schwerste Krise des Rechtsstaats seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland“ und meint damit den „Angriff“ der Terroristen auf den Rechtsstaat. Zitiert nach Kraushaar: Ausnahmezustand, S. 1021. Schmidt machte auch von Anfang seiner Amtszeit an deutlich, dass für ihn eine Kernfunktion des modernen Rechtsstaats die Sicherheitsfunktion war. Vgl. Conze: Suche (vgl. Fn. 23), S. 466. Elsaesser: Film. Dazu zählen sowohl LiteraturverÀlmungen wie Fassbinders Fontane EfÀ Briest (1974) oder Schlöndorffs Die Blechtrommel (1979) als auch gesellschaftskritische Auseinandersetzungen zu anderen Themen wie in Kluges Abschied von gestern (1966), Fassbinders Angst essen Seele auf (1974) oder Die Ehe der Maria Braun (1979). Ab den 1980er Jahren verlor der ‚Neue Deutsche Film‘ an Bedeutung und wurde von US-amerikanischen Produktionen verdrängt. Koselleck: Krise, S. 619. Zur öffentlichen Debatte vgl. Balz: Terroristen.

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stellung des Rechtsstaates war eine andere: War der Rechtsstaat in einer Krise? War er im Niedergang begriffen? Oder war der ‚Patient Rechtsstaat‘ schon tot? Zuerst ist also die Frage zu stellen, welche Entwicklungen dazu führten, dass die kritische Linke der Bundesrepublik den Rechtsstaat in Gefahr sah. Dabei soll im Folgenden keine vollständige Aufzählung und Analyse der Gesetzgebung der sozialliberalen Koalition stattÀnden, sondern nur einige der Entwicklungen angedeutet werden, um die Hintergründe für die Filmanalyse auszuleuchten. Zweitens soll anhand der drei Àlmischen Beispiele Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Volker Schlöndorff, 1975), Messer im Kopf (Reinhard Hauff 1978) und Deutschland im Herbst (Rainer Werner Fassbinder u. a., 1977/78) die Krisenwahrnehmung der Regisseure nachgezeichnet werden. Dabei sind diese drei Filme einerseits repräsentativ für den Umgang mit der Terrorismuskrise, weil sich außer den Regisseuren des ‚Neuen Deutschen Films‘ niemand in den 1970er Jahren mit dem Thema auseinandersetzt, andererseits sind sie innerhalb dieser Gruppe die bekanntesten und erfolgreichsten. Die Entwicklung des Rechtsstaates im Zuge des RAF-Terrorismus Der Gründung der RAF 1970 folgten nach einer Phase von Banküberfällen und Autodiebstählen 1972 die ersten terroristischen Anschläge, hauptsächlich auf USEinrichtungen in Deutschland. Schon vorher hatte sich die Situation in der Auseinandersetzung zwischen RAF und Polizisten zugespitzt, dabei hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Mit der Verhaftung der ersten RAF-Generation endete der Terrorismus nicht, er wurde sowohl symbolisch aus dem Gefängnis10 als auch außerhalb durch neue RAF-Mitglieder weitergeführt. Seinen Höhepunkt fand er 1977 im ‚Deutschen Herbst‘ mit den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April, am Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank Jürgen Ponto im Juli sowie mit der Entführung und Ermordung des Arbeitsgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im September 1977.11 Neben die direkte Auseinandersetzung mit der Gewalt der RAF trat als zweite Ebene der ‚Sympathisantendiskurs‘. Da ein Teil der links-intellektuellen Prominenz der Bundesrepublik ein gewisses Verständnis für die Motive der Terroristen äußerte oder zumindest den Umgang der Presse und teilweise auch der Politik mit dem Thema verurteilte, bot sie ein Angriffsziel für den zunehmend konservativen Diskurs. ‚Sympathisant‘ wurde zum Schimpfwort, das eine Reihe von Personen durch Verleumdungen zu diskreditieren half. Einerseits fußte die Kritik auf der vorhandenen Bereitschaft einiger ‚Linker‘, den Terroristen und insbesondere der pro10

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Über Hungerstreiks versuchten die Inhaftierten ihren „Körper als Waffe“ zu verwenden und gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren. Der Kampf gegen die sog. „Isolationsfolter“ und die „Zwangsernährung“ wurde zum wichtigsten Mittel der Rekrutierung neuer Mitglieder. Zum Körperdiskurs vgl. Balz: Terroristen, S. 135–150. Zur Geschichte des Terrorismus in der Bundesrepublik u. a.: Kraushaar (Hg.): RAF; Aust: Baader-Meinhof Komplex; Peters: Irrtum.

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minenten Ulrike Meinhof ZuÁucht und Hilfe zu gewähren und sich damit strafbar zu machen. Andererseits wurden aber zunehmend auch diejenigen kritisiert, die im Sinne des Gesetzes nicht strafbar waren, sondern als ‚geistige Unterstützer‘ beurteilt wurden.12 Längst reagierte die staatliche Seite nicht mehr nur auf die Radikalisierung des Terrorismus, sondern auch auf die ‚Sympathisanten‘. Neben der mediengestützten Dämonisierung der RAF und ihrer mutmaßlichen Unterstützer13 wurden die Befugnisse des Bundeskriminalamtes ausgebaut und zahlreiche Gesetze erlassen.14 So kam es z. B. zu mehreren Änderungen in der Strafprozessordnung und im Strafgesetzbuch im Zuge der ersten Verfahren gegen Mitglieder der RAF.15 Im ‚Deutschen Herbst‘ 1977 schließlich wurde ein umstrittenes Kontaktsperre-Gesetz erlassen und zusätzlich eine Nachrichtensperre gefordert, welche in Absprache mit dem Presserat eine freie Pressearbeit unmöglich machte.16 Eine besondere Rolle spielten in der öffentlichen Wahrnehmung aber der sogenannte ‚Radikalenerlass‘ von 1972 und der Paragraph 88a StGB von 1976, der „das verfassungsfeindliche Befürworten von Straftaten“ verbot. „Die Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“, von Gegnern als ‚Radikalenerlass‘ bezeichnet, erlaubte eine Prüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst, aber auch eine Überprüfung bereits Angestellter im Bezug auf ihr Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, auch wenn sie sich nicht strafbar gemacht hatten oder einer verbotenen Partei angehörten. Kritik entstand besonders auf Grund der Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Weitere Vorwürfe bezogen sich auf die angebliche Konzentration auf linke Bewerber und die Breite der Ablehnungsgründe.17 Paragraf 88a StGB legte fest, dass jeder mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft wird, der eine Schrift verbreitet oder auch nur zugänglich macht oder anpreist, die „die Befürwortung […] rechtswidriger Taten enthält“ oder die Bereitschaft anderer fördert, Taten zu begehen, die gegen die Sicherheit der Bundesrepublik gerichtet sind.18 Auch hier waren die Möglichkeiten einer breiten Auslegung des Gesetzes 12 13

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Vgl. zum Sympathisantendiskurs ausführlich Balz: Terroristen, S. 77–190. Veröffentlichungen wie ‚Der Baader Meinhof Report‘ (1972) zeigen durch ihre Wortwahl und die Konstruktion von Zusammenhängen den Versuch staatlicher Instanzen, die RAF zu dämonisieren. Gleichzeitig verbreitete die Presse Aussagen von Politikern wie, dass ein Sympathisant „schon sein [kann], wer Baader/Meinhof-Gruppe statt -Bande sagt“ (Bernhard Vogel). Zitat in Der Spiegel, vgl. „Mord beginnt beim bösen Wort“. Dies zeigt deutlich, dass der Umgang mit der RAF auch von staatlicher Seite stark emotional aufgeladen war. Für die Entwicklung der Polizei in den 1970er Jahren vgl. Weinhauer, „Staat zeigen“. Zur sogenannten RAF-Gesetzgebung vgl. grundlegend Berlit und Dreier: Auseinandersetzung. Tenfelde: Rote Armee Fraktion. Kraushaar: Ausnahmezustand, S. 1017–1019. Kritik wurde von Seiten der bundesdeutschen Presse dann verstärkt im Nachhinein geübt, weil die versprochene Aufklärung nie in ausreichendem Maße erfolgte. Zwar gab die Bundesregierung eine Dokumentation heraus, diese wies jedoch Lücken auf. Vgl. z. B. Spoo: Der Deutsche Herbst, oder Dillmann und Kurz: „Das paßte doch“. Zum ‚Radikalenerlass‘ vgl. Braunthal: Loyalität. Vgl. Lackner: Strafgesetzbuch, S. 456 f.

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ein Kritikpunkt. Betroffen fühlten sich vor allem linke Verlage, Drucker und Buchhandlungen, welche die Meinungsfreiheit und -vielfalt in Gefahr sahen, wenn sie nicht ihre Existenz gefährden wollten. Folge war in vielen Fällen die präventive Selbstzensur.19 Bezogen auf den ‚Radikalenerlass‘ kommt Faulstich zu demselben Urteil: „Die Vergiftung des politischen Klimas durch diese Praktiken war markant und umfassend.“20 Die genannten und weitere Gesetze wurden von Teilen der Gesellschaft deutlich als Einschränkung der demokratischen Freiheiten empfunden, da hier schon die Gesinnung mit hohen Strafen belegt und besonders die kritische ‚Linke‘ kriminalisiert wurde.21 Auch Heinz Steinert urteilt darüber in den vom Bundesinnenministerium herausgegebenen ‚Analysen zum Terrorismus‘ 1984: „Insgesamt wird damit die Beweislast verschoben: Nicht mehr staatliches Handeln muß sich vor dem Bürger rechtfertigen, sondern umgekehrt der Bürger vor dem Staat.“22 Ist sich die Forschung heute im Allgemeinen auch einig, dass die gesetzliche Entwicklung kein schwerwiegender Eingriff in den Rechtsstaat war23, zeigt Faulstichs Analyse jedoch auch, welche Probleme mit den neuen Gesetzen einhergingen. Das Aufgreifen des Themas in den im Folgenden analysierten SpielÀlmen verdeutlicht die Wahrnehmung der Situation von Seiten der Regisseure als ‚Krise des Rechtsstaats‘, wie es in der Forschungsliteratur zum bundesdeutschen Terrorismus im SpielÀlm angedeutet, aber noch nicht explizit ausgeführt wurde.24 Heinrich Böll/Volker Schlöndorff: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) Der früheste Film, der sich mit dem Umgang mit dem Terrorismus auseinandersetzte, war Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta aus dem Jahr 1975.25 Er basiert auf der im Jahr zuvor veröffentlichten Erzählung von Heinrich Böll mit dem Titelzusatz: oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann; Böll verfasste auch das Drehbuch zum Film. 19 20 21 22 23

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Vgl. Lorenz: Literatur, S. 151. Ein Beispiel für tatsächliche Zensur ist „Bommi“ Baumanns Werk „Wie alles anÀng …“, welches aufgrund seiner angeblichen Gewaltverherrlichung verboten wurde, was großen Protest hervorrief. Vgl. Arnold und Schult (Hg.): Buch. Faulstich: Gesellschaft, S. 11. Berlit und Dreier: Auseinandersetzung, S. 232 f., S. 288. Braunthal: Loyalität, S. 49–51. Steinert: Bedingungen, S. 552. Vgl. Überblicksdarstellungen wie Wolfrum: Geglückte Demokratie; Conze: Suche; Winkler: Weg; kritischer sind Berlit und Dreier: Auseinandersetzung, 285–299, Scheerer: Gesetzgebung, Tenfelde: Rote Armee Fraktion, Wesel: Strafverfahren; oder aus holländischer Sicht: Bakker Schut: Staatsschutz. Tenfelde und Wesel beschäftigen sich allerdings hauptsächlich mit den Gesetzesänderungen im Vorfeld des Stammheim-Prozesses. Vgl. u. a. Uka: Terrorismus; Kreimeier: RAF; Kraus: Deutschland. Bereits 1969 dreht Klaus Lemke den Film Brandstifter, der die Brandanschläge der Gruppe um Gudrun Ensslin und Andreas Baader aufgreift; hier kann man jedoch noch nicht wirklich von Terrorismus sprechen.

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Erzählung und Film greifen das Thema der Sympathisantenhetze auf, die Heinrich Böll 1972 am eigenen Leib erlebt hatte. Sein Artikel im Spiegel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“26, in dem er die Vorverurteilung namentlich der Bildzeitung sowie den allgemeinen Umgang mit der Thematik polemisch anprangerte, führte zu einer heftigen Auseinandersetzung in der Presse. In ihrem Verlauf wurde Böll scharf angegriffen und als ideologischer Wegbereiter und Helfershelfer der RAF verunglimpft.27 Die Geschichte der Katharina Blum basiert direkt auf diesen Erfahrungen Heinrich Bölls, aber auch auf anderen Fällen wie demjenigen Peter Brückners. Brückner, Professor für Sozialpsychologie in Hannover, war 1972 zwei Semester vom Dienst beurlaubt worden, weil ihm Unterstützung der RAF vorgeworfen wurde.28 Im besagten Spiegel-Artikel sah Böll die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch die Verhinderung kritischer Äußerungen gefährdet, gleichzeitig warf er der Presse vor, ungerechtfertigte Anschuldigung nicht als Vermutungen, sondern als Tatsache dargestellt zu haben. Er unterstellte dabei der Bildzeitung „nackte[n] Faschismus“.29 Die Krise wurde ihm zufolge also durch Politik und Medien erzeugt. Als Böll sich im Spiegel Anfang 1972 äußerte, hatte es noch kaum Tote gegeben, die ersten Bombenanschläge fanden erst im Frühsommer 1972 statt. Man kann Böll also nicht grundsätzlich eine Verharmlosung des Terrorismus vorwerfen, auch wenn die Taten der Terroristen bzw. ihre Gefährlichkeit bei Böll eine untergeordnete Rolle spielen. Kommen wir nun zu Volker Schlöndorffs VerÀlmung der Erzählung: Die junge Frau Katharina Blum, die nach einer Faschingsfeier einen jungen Mann mit nach Hause nimmt, wird morgens von einer Polizei-Sondereinheit geweckt, weil der Mann ein gesuchter Terrorist sei (später stellt sich heraus, dass er nur Deserteur der Bundeswehr ist). Er ist jedoch nicht mehr in der Wohnung und es werden Vorwürfe gegen Katharina erhoben, sie habe ihm die Flucht ermöglicht, was sie – aus Liebe, nicht aus ideologischen Gründen – auch getan hat. In der Folgezeit wird sie von der Presse, der Polizei und der Bevölkerung als ‚TerroristenÁittchen‘ verunglimpft, wird beim Polizeiverhör, in der Presse und in zahlreichen Briefen geschmäht und gedemütigt. Die Presse, namentlich die ZEITUNG – angelehnt an die BILD(-Zeitung) – drängt in ihr Leben und zerstört es nach und nach durch Lügen und Verdrehung der Wahrheit. Böll wählt für seine HauptÀgur sicherlich bewusst den Namen ‚Katharina‘, was ‚die Reine‘, ‚die Aufrichtige‘ bedeutet, und nimmt damit bereits eine Wertung vor. Der Film polarisiert stark durch seine Personenzeichnung. Während Polizei und Medien sie diffamieren, wird Katharina Blum durch ihre Lebensführung, ihre Persönlichkeit sowie durch ihre Freunde als rechtschaffen, ehrlich und integer charakterisiert, eher spröde und unnahbar. So wird Katharina Blum von ihrer Freundin als 26 27 28 29

Böll: Ulrike. Vgl. z. B. die anonymen Artikel in Bild und Quick: Narren, Hofnarren, blutige Narren; Die Bölls sind schlimmer als Baader-Meinhof. Im Zuge der Mescalero-Affäre geriet Brückner 1977 erneut in die Kritik. Vgl. Balz: Terroristen, S. 86–94. Böll: Ulrike, S. 55.

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„altmodisch“ und als „Nonne“ bezeichnet, weil sie es nicht gut Àndet, dass diese noch jemand Fremdes mit zur Party bringen will.30 Katharina lässt bewusst ihr Auto stehen, weil sie zu einer Faschingsfeier geht, besteht naiv darauf, dass der angebliche Terrorist Götten nicht zudringlich war, sondern zärtlich, wird von ihrem Arbeitgeber Blorna über alle Maßen als klug und vernünftig gelobt, als verletzlich beschrieben und von ihm und seiner Ehefrau zärtlich „Katharinchen“ genannt. Die Presse und auch die Polizei sexualisiert sie dagegen stark.31 Sie sprechen nur von ihren „Herrenbesuchen“32 und verdrehen offensichtlich alle Charaktereigenschaften ins Negative. Aus Blornas Aussagen („vernünftig“ und „klug“) macht DIE ZEITUNG „eiskalt und berechnend, ich halte sie jeder Zeit eines Verbrechens für fähig“.33 Als GegenÀgur zu Katharina Blum erscheint der Journalist Tötges, der als schmierig, aufdringlich und hinterhältig gezeichnet wird. Er besucht Katharinas verlassenen Ehemann, der nicht gut auf sie zu sprechen ist, und ihre Mutter, die direkt nach dem Besuch verstirbt und der er mehrere Sätze in den Mund legt. Vor allem aber behandelt er die Frauen, die er bei seinen Recherchen trifft, wie Freiwild.34 Nach den Verleumdungen, den Lügen und den Demütigungen, die u. a. dazu führen, dass Katharina ihre Eigentumswohnung, die ihre größte Errungenschaft war, verwüstet, Àndet am Ende noch eine Steigerung statt: Tötges, dem sie ein Exklusivinterview zugesagt hat, betritt ihre Wohnung und versucht sie zu weiterer Kooperation zu überreden. Er schließt mit den Worten: „Ich respektiere dich, sehr; […] wir müssen uns erst mal privat ein bisschen besser kennenlernen; […] ich schlage vor, dass wir jetzt erst mal ein bisschen bumsen.“35 Wenn Katharina Blum ihn im Anschluss an diese Szene erschießt, bleibt der Zuschauer mit der Erkenntnis zurück, dass diese Tat Blums einziger Ausweg aus ihrer Lebenskrise ist. Mit ihrem Opfer hingegen empÀndet der Zuschauer kein Mitleid. Da die rechtsstaatlichen Mittel versagen, muss Katharina Blum also zur Selbstjustiz greifen. Dass es das letzte Mittel für Blum ist, zeigt der Unwille, der sich in ihrem Blick spiegelt. Sie kneift die Augen zusammen, man sieht ihr das Entsetzen an. Hier unterstützt die Kameraführung die Interpretation, indem sie eben nicht den getroffenen Tötges ins Bild nimmt. Der Film suggeriert, dass es die Reaktion der staatlichen Seite, ihre 30 31 32 33 34 35

Verlorene Ehre (DVD), 3'54–4'00. Als der Polizeibeamte Beizmenne erkennt, dass Götten Áiehen konnte, fragt er Katharina Blum, die er von Anfang an duzt, wütend: „Hat er dich denn geÀckt?“ Ibid. 13'35. Ihr Herrenbesuch ist ein Freund ihrer Arbeitgeber, der sie sehr umwirbt, dem sie aber immer nur freundlich-ablehnend gegenüberstand. Sie schützt ihn sogar, indem sie seinen Namen nicht nennt. Ibid. 48'28–48'37. Auf die abstrakte Frage eines Journalisten, ob er sein Dienstmädchen eines Verbrechens für fähig halte, antwortet Blorna im Urlaub, ohne von Katharinas Verhaftung zu wissen, dass er jeden Menschen eines Verbrechens fähig halte. Ibid. 32'05–32'20. Eine Gruppe junger Mädchen fordert er zu einer „Spritztour mit Tötges“ auf und sagt hinterher zu seinem Kollegen: „Das scheint ja sexuelles Notstandsgebiet zu sein, vielleicht können wir hier noch einen wegstecken.“ Ibid. 30'45–30'56. Ibid. 94'30–94'55.

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direkte Zusammenarbeit mit der ZEITUNG und ihr fehlendes Eintreten für die Rechte Katharina Blums sind, die zu dem Mord führen.36 Durch diese Darstellung gelang es Böll und Schlöndorff auf polemische Weise, eine mediale Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Inhalt und Schluss verdeutlichen ihrer beider Wahrnehmung der Situation in der Bundesrepublik: Der Rechtsstaat steckt nicht mehr nur in der Krise, er existiert nicht mehr. In Bölls Interpretation spiegelt sich sein umfassendes Demokratieverständnis wider. Für ihn bedeutet ein derartiger Umgang der Presse mit Fakten und Wahrheit, wie er im Film auftaucht, einen Verstoß gegen den Rechtsstaat, gegen das Wertesystem des Grundgesetzes, wenn die ZEITUNG oder in der Realität die BILD-Zeitung von ‚Mörder‘ spricht, der Genannte aber nicht richterlich als Mörder verurteilt wurde.37 Darin ist auch der moralische Impetus eines Böll zu erkennen, der Rechte und PÁichten einer Demokratie betont, somit auch die WahrheitspÁicht der Presse. Da er gleichzeitig die BILD-Zeitung als übermäßig einÁussreich sowohl auf die Massen als auch auf die Politik empÀndet, fürchtet er die Folgen dieser Verstöße gegen den Rechtsstaat.38 Wie Sonja Krebs analysiert, setzt Böll im Grunde die ‚Gewalt‘, welche die Bildzeitung unbescholtenen Bürgern antut, gleich mit der physischen Gewalt der Terroristen. Beide bedienen sich der Demokratie, halten sich aber nicht an ihre Regeln, obwohl die Bildzeitung dies behauptet. Diese Schlussfolgerung Bölls führt zur fraglichen Gleichsetzung von Mord und Rufmord, was zur Legitimation von Katharina Blums Verhalten dient.39 Böll diagnostiziert in seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Bildzeitung und in Anlehnung an die NS-Jahre einen „Rückfall in vorgrundgesetzliche Zeiten“.40 Die Abwesenheit des Rechtsstaates bezieht sich bei Böll aber nicht nur auf den Bereich der Boulevardzeitungen, sondern auch auf die Justiz. Seine Kritik an der Missachtung der Werte des Grundgesetzes macht er unter anderem an der Bestrafung von Gesinnung fest.41 Der Film sowie die zugrunde liegende Erzählung wurden breit rezipiert, Die verlorene Ehre der Katharina Blum war einer der erfolgreichsten Vertreter des ‚Neuen Deutschen Filmes‘ und wurde mit zahlreichen Preisen und dem Prädikat

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Die VerÀlmung inszeniert die enge Zusammenarbeit von Ermittlungsbehörden und Medien, indem er zeigt, dass der Polizeibeamte Beizmenne dem Reporter Tötges ein Bild von Katharina Blum aus den Ermittlungsakten überlässt, damit dieser seinen Artikel bebildern kann (Ibid., 34'40). Außerdem hält er bei Katharina Blums Verhaftung ihr Gesicht länger als nötig in die Kamera und besteht dabei darauf, dass man „den Kollegen von der Presse die Gelegenheit geben [muss], ihrer InformationspÁicht nachzukommen.“ Ibid. 16'54–17'00. Der Artikel „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“, in dem die Bildzeitung die RAF ohne gesicherte Erkenntnisse als Verantwortliche für den Tod eines Polizisten darstellte, war Auslöser für Bölls oben genannten Spiegel-Artikel. Krebs: Rechtsstaat, S. 23–27. Vgl. ibid., S. 28–30. Ibid., S. 31. Ibid., S. 34.

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‚besonders wertvoll‘ belohnt.42 Gleichzeitig wurde er jedoch auch als verharmlosend kritisiert, da zum Zeitpunkt seiner Ausstrahlung bereits deutlich mehr Verbrechen von RAF-Seite begangen worden waren, als das noch Anfang 1972 der Fall war, als Böll durch seinen Spiegel-Artikel in die Kritik geriet.43 Wie gerne die staatliche Seite eine derartige Darstellung der bundesrepublikanischen Rechtsstaatlichkeit und Medienlandschaft verhindert hätte, beschreibt der Produzent Eberhard Junkersdorf im Interview 2008: Das Innenministerium versendete ein Telex an alle Polizeistellen, in denen diese angewiesen wurden, den Film nicht mit Material zu unterstützen.44 Reinhard Hauff: Messer im Kopf (1978) Der zweite und tatsächliche Höhepunkt der Terrorismus-Krise im Herbst 1977 brachte von Seiten des ‚Neuen Deutschen Filmes‘ zwei Werke hervor, die ebenso eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und medial zu interpretieren versuchten, in welcher Art von Krise sich der Rechtsstaat befand: Deutschland im Herbst von einem Autorenkollektiv des ‚Neuen Deutschen Films‘ und Messer im Kopf von Reinhard Hauff. Messer im Kopf von 1978 schildert die Àktive Geschichte des Biogenetikers Berthold Hoffmann, der im Zuge einer Polizeiaktion in einem Jugendzentrum von einem Polizisten in den Kopf geschossen wird. Die Polizei und die Medien sehen in ihm einen Verbrecher und Terroristen, der in Notwehr niedergeschossen wurde. Die linke Szene im Umfeld des Jugendzentrums, allen voran Volker, der neue Freund von Hoffmanns Ehefrau Ann, will ihn dagegen zur Märtyrergestalt aufbauen. Hoffmann selbst kämpft an Bett und Rollstuhl gefesselt mit seiner Erinnerung, seiner Sprache und Motorik. Nur langsam erlernt er Gehen und Sprechen. Von keiner Seite wirklich ernst genommen, versucht er schließlich selbst herauszuÀnden, was denn eigentlich passiert ist. Auch dieser Film endet – vergleichbar der Situation in Die verlorene Ehre der Katharina Blum – mit der Konfrontation Hoffmanns mit dem Polizisten, der ihn angeschossen hat. In vertauschten Rollen soll dieser mit ihm die Ereignisse nachspielen; ob Hoffmann am Ende ebenfalls schießt, bleibt unklar. 42

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So erhielt Angela Winkler als Hauptdarstellerin den Deutschen Filmpreis, der vom Bundesinnenministerium vergeben wurde und einer der renommiertesten Kulturpreise der Bundesrepublik ist. Das Prädikat ‚besonders wertvoll‘ hingegen wird von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden vergeben, die zwar eine Obere Landesbehörde ist, aber mit unabhängigen Gutachtern besetzt wird. Da der Film sich nur sehr indirekt mit dem RAF-Terrorismus beschäftigt, konnte auch keine direkte Verharmlosung diagnostiziert werden. Dass bewusst versucht wurde, Hinweise zur RAF zu entfernen, erklärt Volker Schlöndorff im Interview: Ein Bild von Holger Meins musste auf Drängen des WDR, der einer der Geldgeber war, herausgeschnitten werden. Winkler: Kofferträger. „Es gab von dem deutschen Innenminister […] ein Telex an alle Dienststellen in der gesamten […] Bundesrepublik: wenn das Team von Katharina Blum auftaucht: keine Unterstützung.“ Interview mit Eberhard Junkersdorf auf Verlorene Ehre (DVD), 14'52–15'06.

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Ähnlich wie Katharina Blum gerät Hoffmann in eine Lebenskrise, kämpft aber noch stärker gegen den Identitätsverlust. Er wird nicht nur von Polizei und Presse instrumentalisiert, sondern auch von den eigenen Freunden und Bekannten. Der fehlende Rechtsstaat, der Hoffmann nicht vor Vorverurteilung und falschen Beschuldigungen schützt, führt ihn im Endeffekt in eine ähnliche Situation wie Katharina Blum: Er will Selbstjustiz üben, weil ihm kein anderes Mittel der Verteidigung bleibt. Auch bei Hauff stehen die Sensationslust sowie die Vorverurteilung Hoffmanns von Seiten der Ermittlungsbehörden im Zentrum. Der Film suggeriert darüber hinaus sogar, dass der ermittelnde Kommissar sowie der Schütze Hoffmann wissentlich zu Unrecht beschuldigen. Bei der Aufklärung der Geschehnisse reagiert der Polizist unsicher und antwortet in der letzten Szene, von Hoffmann gefragt, warum er bei der Darstellung der Ereignisse gelogen habe, dass man ihn nie gefragt habe.45 Die Unschuld Hoffmanns wird von Seiten der Ärzte und Hoffmanns Freund Anleitner bestätigt, die nicht an die Notwehrsituation des Polizeischützen glauben.46 Der Arzt verweist auf die Gehirnerschütterung, die Hoffmann neben seiner Schussverletzung hatte und die von einem stumpfen Gegenstand her rühren müsse. Anleitner schließt daraus, dass Hoffmann erst niedergeschlagen und dann am Boden liegend in den Kopf getroffen worden sei. Die Vertuschung des Tathergangs von Seiten der Ermittlungsbehörden impliziert fehlende Rechtssicherheit sowie die Existenz eines ungerechten Polizeistaates. Auf die Nachfrage des Arztes, ob er wirklich glaube, Hoffmann könne gefährlich werden, sagt der leitende Beamte Scholz: „Natürlich glaub ich das, das sind doch keine gewöhnlichen Verbrecher, die nur auf persönlichen Vorteil aus sind, die sind viel schlimmer.“47 Er verurteilt Hoffmann als Terroristen, obwohl im Film keinerlei terroristisches Handeln gezeigt wird. Scholz unterstellt Hoffmann zudem zu simulieren, obwohl dieser eindeutig schwer behindert ist, was seine Ärzte immer wieder bestätigen. Hauff vermittelt den beklemmenden Eindruck einer Exekutive, der es nicht um Verbrechensaufklärung und -bekämpfung geht, sondern alleine darum, alle Linken als Terroristen zu brandmarken. Der Film gewinnt Eindrücklichkeit nicht alleine aus den Dialogen, sondern auch durch die Darstellung von Hoffmann und seinem Gegenspieler Scholz. Während Hoffmann zumeist als unschuldig und mitleidserregend gezeichnet wird, soll der Charakter des staatlichen Vertreters Scholz bewusst unsympathisch und hinterlistig wirken. Bei der Befragung Hoffmanns ist er nur so lange freundlich, wie der Arzt im Zimmer bleibt, dann fasst er ihn hart an, schüttelt seinen Rollstuhl und verlangt von ihm konkrete Antworten, obwohl Hoffmann offensichtlich völlig überfordert ist. Außerdem wirft er ihm „Verstellung“ vor, während Hoffmann verzweifelt Worte für das zu Ànden versucht, was er sagen will.48 Hoffmann zittert, hat einen dicken Kopfverband und drückt ständig ein Auge zu, um etwas sehen zu können. Erst mit der Zeit kann er schleppend gehen. Besonders deutlich wird seine 45 46 47 48

Messer im Kopf (DVD), 106'24. Ibid., 60'30–61'10. Ibid., 63'55–64'05. Ibid., 28'25–34'05.

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hilÁose Situation, als er nicht alleine die Toilette benutzen kann und als er nach dem Verhör halbnackt und zitternd im Rollstuhl sitzt. Hoffmann kämpft um seine Würde und seine Identität, die er im Zuge des Unfalls verloren hat. Tief sitzende Verzweiflung wird deutlich, als er in der folgenden Szene sogar vor Ann Áiehen will und weinend zusammenbricht. Scholz hingegen verkörpert durch sein Verhalten und seine Vorverurteilung nicht den Rechtsstaat, sondern den Unrechtsstaat. Anders als bei Katharina Blum wird die linke Szene allerdings auch nicht positiv gezeichnet. Verkörpert durch Volker, der eher als Großmaul charakterisiert wird, versuchen auch die angeblichen Freude Hoffmanns ihn zu benutzen. Sie wollen ihn als Opfer des Staates für ihre Zwecke verwenden, denken aber nicht an seine Wünsche und Ängste. Selbst Ann ist seltsam teilnahmslos und weiß nicht, wie sie mit ihm umgehen soll. Eigentlich ist Hoffmann, abgesehen von seinem Freund Anleitner und den hilfsbereiten Ärzten und Krankenschwestern, sehr einsam. Auch nach seinem Krankenhausaufenthalt, der ihn schließlich nicht ins Gefängnis führt, weil er plötzlich aus der Schusslinie geraten ist,49 fällt es ihm schwer, sich selbst wieder zu Ànden. In dieser Situation macht er sich eigenmächtig auf die Suche nach dem Schützen und stellt ihn in seiner Wohnung zur Rede. Dass die Geschichte den Entwicklungen in der Bundesrepublik entspringt, bestätigt Reinhard Hauff im Interview. Allerdings ist ein Hauptmotiv des Drehbuchautors Peter Schneider die Erfahrungen zweier Freunde, die er als Grundlage für die Geschichte genommen hat: Einen begleitete er nach einem Autounfall in die Reha, der andere war Rudi Dutschke und dessen Erlebnisse nach dem Attentat 1968.50 Insgesamt stehen im Zentrum also nicht nur die demokratischen Fehlentwicklungen, sondern der persönliche Weg eines Neuanfangs. Insofern dient der fehlende Rechtsstaat als Auslöser einer Lebenskrise und als Hintergrundfolie der Genesungsgeschichte.51 Rainer-Werner Fassbinder u. a.52: Deutschland im Herbst (1977/78) Das dritte Beispiel Deutschland im Herbst war eine direkte Reaktion auf die Nachrichtensperre während der Schleyer-Entführung mit dem Ziel, die Bilder zu zeigen, die vorher nicht zu sehen waren. Die Regisseure des EpisodenÀlms erläutern in zahlreichen Interviews, dass sie eine Gegenöffentlichkeit zur vorherrschenden ein49 50 51

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Diese Wendung ist nicht ganz einsichtig. Erst wird Hoffmann bei einer „Flucht“ aus dem Krankenhaus mit Polizeigewalt zur Rückkehr gezwungen, später erklärt Scholz Hoffmann, er, also sein Fall, sei gar nicht mehr „aktuell“. Interview mit Reinhard Hauff 2007 auf Messer im Kopf (DVD), 0'16–50. Sowohl Schneider als auch Hauff können eindeutig als Kritiker der gesellschaftlichen Umstände der 1970er Jahre eingeordnet werden. Vgl. Schneider: Lenz. Schneider spielt auch in den oben erwähnten Film Das zweite Erwachen der Christa Klages mit; Hauff inszenierte den Film Stammheim (1986). Neben Fassbinder waren noch folgende zehn Regisseure mit Episoden an Deutschland im Herbst beteiligt: Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel.

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seitigen Darstellung schaffen wollten. Schlöndorff bestätigt dies im Interview 2004 erneut mit dem Hinweis auf die „Gleichförmigkeit“ der Berichterstattung in Presse und Fernsehen.53 Der Film war relativ erfolgreich und wurde im Kino ebenso wie Messer im Kopf von fast 400.000 Besuchern gesehen. Als EpisodenÀlm, dessen Einzelteile von insgesamt elf Regisseuren gedreht wurden, stellt er eine Besonderheit in der deutschen Filmlandschaft dar.54 Besonders die zweite, die Fassbinder-Szene, verdeutlicht eindrücklich das Gefühl der Angst vor staatlichen Maßnahmen und Reaktionen, aber auch vor den Terroristen. Das Gefühl, die Demokratie und besonders der Rechtsstaat würden systematisch zerstört, wird anhand dieser zweigeteilten Szene verdeutlicht: Die Episode, die sehr zeitnah zum ‚Deutschen Herbst‘ gedreht wurde, zeigt Fassbinder selbst mit seinem Freund Armin in seiner Wohnung. Eine bedrückende Stimmung entsteht durch die geringe Ausleuchtung der Szene, besonders aber durch die zunehmend fahrige und ängstliche Wut von Fassbinder selbst. Er äußert ganz konkret Angst vor staatlichen Übergriffen, obwohl er keines Verbrechens schuldig ist: Er glaubt fest daran, abgehört zu werden55, und reagiert bei Sirenengeheul panisch, aus Angst, von der Polizei erschossen zu werden, wenn sie seine Wohnung stürmt. „Und wenn sie reingekommen wären? Dann hätte einer von uns die falsche Bewegung gemacht und sie hätten einfach drauf losgeschossen, und dann?“ Die Polizeigewalt wird als übermächtig und grenzenlos empfunden, sie scheint keinen Halt vor Unschuldigen zu machen. Den Gegenpol bildet sein Freund Armin, der Fassbinders Aufregung nicht versteht und ihn immer wieder zu beruhigen versucht. Während Fassbinder für den kritischen ‚Linken‘ steht, der die Rechtsstaatlichkeit durch staatliche Maßnahmen gefährdet sieht, verkörpert Armin die ‚breite Masse‘. Er glaubt an die notwendige Stärke der staatlichen Institutionen, befürwortet ihr Eingreifen und empÀndet Sicherheit durch die verstärkten polizeilichen und gesetzlichen Maßnahmen. Fassbinder ängstigt sich zwar auch vor den Terroristen selbst, dies aber hauptsächlich deshalb, weil er die Konsequenzen eines Kontaktes fürchtet. So erträgt er es nicht, als Armin einen Übernachtungsgast mitbringt, und zwingt ihn, den Fremden wieder fortzuschicken. Fassbinder wirkt psychisch und physisch am Ende, bricht zuletzt weinend zusammen. Er gerät durch die ‚Terrorismus-Krise‘ selbst in eine Krise. Den zweiten Teil der Episode bildet eine Interviewszene mit Fassbinders Mutter Liselotte Eder.56 Er diskutiert mit ihr die Ausgestaltung der Demokratie und die Ent53 54

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Dazu im Interview Volker Schlöndorff auf Deutschland im Herbst (DVD), 0'50–1'20. Eine der bekanntesten Episoden ist die ‚Antigone-Szene‘, deren Drehbuch wiederum Heinrich Böll verfasste. Sie handelt von der geplanten Ausstrahlung einer Neuinszenierung der „Antigone“ (Sophokles) im Fernsehen, die diskutiert und letztendlich abgesetzt wird, weil die Verantwortlichen das Stück als Parallele zu den Terroristen und ihrer beinahe verhinderten Beerdigung lesen. Hier wird ein Umgang mit der künstlerischen Freiheit dargelegt, der dem Art. 5, Abs. 3 des Grundgesetzes (Kunstfreiheit) entgegen steht. Beim Telefonieren ruft er in den Hörer: „Hören sie ruhig zu!“ Die Cutterin und spätere Lebensgefährtin Fassbinders, Juliane Lorenz, bestätigt im Interview 2004, dass das Gespräch Fassbinders mit seiner Mutter zwar nachgestellt war, aber so im Vorfeld stattgefunden habe. Interview auf Deutschland im Herbst (DVD), 0'30–1'10.

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führung der Lufthansamaschine Landshut: Sie weist auf die bedrückende Stimmung hin, indem sie bemerkt, sie würde niemanden ermutigen zu diskutieren, denn die Situation erinnere sie an die Nazi-Zeit, in der man eben geschwiegen habe. Sie vergleicht die Zeiten nicht nur miteinander, sondern setzt sie gleich. Im weiteren Verlauf wird jedoch auch ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Einschränkung demokratischer Rechte deutlich, indem sie die öffentliche Erschießung der Terroristen befürwortet, wenn einer der entführten Lufthansa-Passagiere erschossen würde. Auf Fassbinders Nachfrage, ob das demokratisch sei, reagiert sie mit den Worten: „In einer solchen Situation kannst du nicht ankommen mit Demokratie“.57 Auf unerbittliche Nachfrage Fassbinders hin nennt sie Demokratie als das Kleinste aller Übel und beschreibt ihre ideale Staatsform: Sie wünscht sich einen „autoritäre[n] Herrscher, der ganz gut ist.“58 Anders als ihr Sohn scheint sie die Grundbedeutung von Demokratie als Rechtsstaat, der sich an seine eigenen Gesetze halten muss, nicht verinnerlicht zu haben. Unterstützt wird sie innerhalb der Episode von Armin, der ebenso die Todesstrafe für die geeignete Lösung im ‚Deutschen Herbst‘ hält. Das Unbehagen, welches Fassbinder diesbezüglich äußert, zeugt von seiner Krisenwahrnehmung: Für ihn ist die bundesrepublikanische Demokratie im Herbst 1977 in einer tiefen Krise – der Rechtsstaat löst sich auf, er ist im Niedergang begriffen. Schuld daran haben für ihn nicht nur die Terroristen, deren Handeln er nicht gutheißt und die er als Mörder bezeichnet, sondern vor allem die staatliche Seite, von der er einen demokratischeren Umgang mit der terroristischen Herausforderung erwartet hat. Im Gespräch mit seiner Mutter und Armin wird deutlich, dass Fassbinder die Wiederkehr autoritärer Strukturen befürchtet und bereits diagnostiziert. Der Rechtsstaat ist lädiert, rechtsstaatliche Mechanismen funktionieren nicht mehr. Die Radikalität seiner Szene machte Fassbinder nach Aussage der Cutterin und Lebensgefährtin Juliane Lorenz später selbst Angst und er zögerte, die Szene in den Film aufzunehmen. Der Vergleich der Gegenwart mit der NS-Zeit, wie von Liselotte Eder eingeführt, spielt auch in anderen Episoden des Filmes eine Rolle.59 Dieser Bezugspunkt zum Nationalsozialismus stärkt das Bedrohungsgefühl insgesamt, weil er die Möglichkeit der Wiederkehr des Dritten Reiches suggeriert oder zumindest der Zustände vor der Entstehung des Grundgesetzes. Musikalische Brücken zur deutschen Geschichte im Allgemeinen werden in anderen Episoden durch häuÀges Einspielen des Deutschlandliedes geschlagen. Aber auch das Soldatenlied ‚Auf, auf zum Kampf …‘60 oder der Klassiker ‚Die Winterreise‘ von Schubert, welcher den existentiellen Schmerz eines Menschen ausdrückt, tauchen mehrmals auf. Fassbinder hingegen erzeugt die bedrückende Stimmung nicht durch Musik, ganz im Gegenteil wird sie durch den Verzicht auf Musik und die dadurch entstehende Stille bestärkt. 57 58 59 60

Deutschland im Herbst (DVD), 21'53–58. Ibid., 29'55–58. So werden beispielsweise Dokumentarbilder der Beerdigung Erwin Rommels gezeigt. Hier allerdings nicht in der NS-Version („dem Adolf Hitler haben wir geschworen“), sondern in der bekannteren Arbeiter- oder Kommunisten-Version von 1920, die auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Bezug nimmt.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerung Dass die Terrorismus-Krise in einem positiven Sinne von staatlicher Seite überwunden wurde, bestätigen Historiker und Politiker heute beinahe einhellig. Heinrich August Winkler urteilt: „Die Krise vom Herbst 1977 hinterließ […] eine bundesdeutsche Demokratie, der aus dem Triumph über den Terrorismus neues Selbstbewusstsein erwuchs.“61 Der Herbst 1977 als Krisenmoment wurde demzufolge also mit dem Sieg des Staates überwunden. Es ist jedoch auch deutlich geworden, dass die Regisseure des ‚Neuen Deutschen Filmes‘ der 1970er Jahre den Terrorismus in einem anderen Sinne als Krise wahrnahmen: Während der Terrorismus der RAF durchaus als Bedrohung erkannt wurde, ordneten sie jedoch einen Teil der krisenhaften Situation der staatlichen (Über-) Reaktion zu. Für die Filmemacher war die Krise 1977 also nicht im positiven Sinne überwunden, vielmehr befand sich der Rechtsstaat im Niedergang, die Krise war schon ins Negative umgeschlagen. Dabei versuchten alle aufgezeigten Filme eine ‚Gegenöffentlichkeit‘ zu schaffen, welche die Regisseure in der allgemeinen Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigt sahen. Dabei wurde die wahrgenommene Krise über die Strategie der Personalisierung veranschaulicht: In zwei der Beispielen werden Àktive Protagonisten geschaffen (Katharina Blum und Berthold Hoffmann), welche die gesellschaftliche Krise als Lebenskrise erfahren, im dritten Beispiel ist es die reale Person des Rainer Werner Fassbinder. Er bringt seine persönlichen Erfahrungen und dadurch Authentizität in den Film ein, ebenso wie für Böll eigene Erfahrungen zur Grundlage für Die verlorene Ehre der Katharina Blum wurden. Den ‚Opfern‘ der Krise des Rechtsstaates wird somit ein Gesicht verliehen. Dies führt so weit, dass über diese emotionale Personalisierung in Messer im Kopf und Katharina Blum sogar Selbstjustiz gerechtfertigt wird. Dabei war das Narrativ des Faschismusvorwurfs ein wichtiges Mittel in der Auseinandersetzung: In Rückbezügen und direkten Vergleichen verwendeten die Regisseure dieses Narrativ als Mittel zur Legitimation ihrer Kritik. Während bei Die verlorene Ehre der Katharina Blum vor allem in ihrer diskursiven Einbindung die Vorwürfe Bölls aufgegriffen werden, zieht Deutschland im Herbst ganz direkte Parallelen zum Faschismus. Die folgenden Jahre brachten noch einige Filme hervor, die das Thema Terrorismus und RAF in einer ähnlichen Weise aufgriffen: Mutter Küsters‘ Fahrt zum Himmel (Rainer Werner Fassbinder, 1975), Das zweite Erwachen der Christa Klages (Margarethe von Trotta, 1978) und Die dritte Generation (Rainer Werner Fassbinder, 1978) prangerten auch die gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Missstände an und sahen sich gleichzeitig durch die Konzentration auf die Motive der

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Winkler: Weg, S. 348. Dies bestätigt Edgar Wolfrum, der von einer „entscheidenden […] fundamentalen Niederlage“, welche die Schmidt-Regierung der RAF beibrachte, spricht. Ders., Geglückte Demokratie, S. 343. Doch auch in der Forschungsliteratur gibt es kritische Beurteilungen der Entwicklungen im Bereich der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, vgl. Fußnote 23.

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Terroristen dem Vorwurf der Verharmlosung des RAF-Terroristen ausgesetzt.62 Als Gegenöffentlichkeit zeigten sie den Teil des Terrorismusdiskurses, der sonst wenig in den Medien behandelt wurde. Auch andere Medien wie die Literatur schufen ähnliche Schreckensversionen des übermächtigen Überwachungsstaats, der keine funktionierende Demokratie im Sinne eines freiheitlichen Rechtsstaates mehr zu sein schien, so z. B. in Peter O. Chotjewitz‘ Die Herren des Morgengrauens, dessen Titel zum geÁügelten Wort für den Verfassungsschutz geworden ist. Auch PeterPaul Zahl beschreibt in seinem Schelmenroman Die Glücklichen ein Berlin der 1970er Jahre, in dem die Stimmung von staatlicher Willkür und polizeilicher Präsenz gekennzeichnet ist.63 Die linke Auseinandersetzung mit der Krise der 1970er Jahre war zwar durchaus eine intellektuelle. Sie wies der staatlichen Seite eine Mitverantwortung für die Krise durch eine überzogene Reaktion auf den Terrorismus zu und wehrte sich gegen die Renaissance konservativer Gesellschaftsvorstellungen mit den Schlagwörtern „BürgerpÁicht“ und „Loyalität“.64 So gesehen war die RAF nicht nur Anlass, sondern auch Ausdruck der Krise. Dabei handelt es sich nicht um eine Randerscheinung der Àlmischen Darstellung – im Film der 1970er Jahre gab es ansonsten keine andere Art der Auseinandersetzung mit der RAF. Mit dem Nachlassen der Bedrohung und aufkeimender Kritik in der Presse am ‚Überwachungsstaat‘65 sowie des Ministerwechsels im Innenministerium 1978 wurden Anfang der 1980er Jahre einige Gesetzesparagrafen abgemildert oder abgeschafft, wenn auch zahlreiche Anti-Terror-Gesetze wie das Kontaktsperre-Gesetz vom Herbst 1977 heute noch Gültigkeit haben.66 Heute ist sich die Forschung weitgehend einig, dass die Angst der Linken vor dem „Überwachungsstaat“ übertrieben, die grellen Warnungen der Filme damit überzogen seien. Allerdings ist der ‚Neue Deutsche Film‘ nicht nur irregeleitetes Relikt einer bewältigten Krise. Er gewinnt vielmehr neue, brisante Aktualität als Vorbild in der heutigen Krisenzeit des globalen Terrorismus. Dabei ist es interessant zu sehen, dass die beginnende Àlmische Auseinandersetzung in Deutschland mit der Terrorismusgefahr des neuen Jahrtausend in Anlehnung an Deutschland im Herbst erneut einen EpisodenÀlm hervorbrachte, der die neue Terrorismusgefahr

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In den 1980er Jahren kommen noch Die bleierne Zeit (Margarethe von Trotta, 1981) und Kinder unseres Volkes (Stefan Rinser, FernsehÀlm 1983) hinzu. Chotjewitz: Herren; Zahl: Glücklichen. Auch Zahls Roman basiert auf eigenen Erlebnissen. Büchse: Staatsbürgern, S. 314. Weinhauer: „Staat zeigen“, S. 945. Vgl. auch Balz: Terroristen, S. 320. Abgeschafft wurde z. B. bereits 1981 Paragraf 88a StGB mit der Begründung, dass die Zahlen der Ermittlungsverfahren gering seien, „der verunsichernde, Solidarisierungseffekte bewirkende EinÁuß auf das geistige Klima dagegen hoch“. Zitiert nach Berlit und Dreier: Auseinandersetzung, S. 286. Auch der ‚Radikalenerlass‘ wurde abgemildert, indem z. B. die Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Anstellung im öffentlich Dienst wegÀel. Da zahlreiche Gesetze jedoch nicht wieder abgeschafft wurden, stellt sich außerdem die Frage, ob es zu einem Gewöhnungseffekt gekommen ist und die ‚Krise des Rechtsstaates‘ heute auch in linken Kreisen als akzeptabler Normalzustand wahrgenommen wird.

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reÁektiert: Deutschland 09 – 13 kurze Filme zur Lage der Nation (2008/09).67 Mit Blick auf die neuesten Gesetze und Debatten zur ‚Inneren Sicherheit‘68 bleibt abzuwarten, in welcher Weise sich die Krisenwahrnehmung im Bereich des internationalen Terrorismus in Zukunft in Àlmischen Darstellungen niederschlägt.

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Die Episode von Fatih Akin, ein Interview mit Murat Kurnaz, dem mutmaßlichen deutschtürkischen Terroristen, der vier Jahre in Guantanamo inhaftiert war, stellt implizit Fragen nach der Rechtmäßigkeit seiner Behandlung. Eindrücklich zeigt auch die Episode „Gefährdet“ von Hans Weingartner die Folgen der neuen Gesetzgebung der letzten Jahre auf. Angelehnt an den realen Fall Andrej Holm wird die Gefährlichkeit von Lauschangriff, Vorratsdatenspeicherung und BKA-Gesetz aufgezeigt. Vgl. zur Problematik des BKA-Gesetzes von 2009 Naumann: Jeder ist verdächtig; zur Vorratsdatenspeicherung Prantl: Verfassungsgericht.

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Quellen Der Baader-Meinhof-Report. Dokumente – Analysen – Zusammenhänge. Aus den Akten des Bundeskriminalamtes, der „Sonderkommission Bonn“ und dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Mainz 1972. Die bleierne Zeit, Regie: Margarethe von Trotta, Bioskop Film GmbH 1981. Böll, Heinrich: Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?, in: Der Spiegel 3 (1972), S. 54–57. Die Bölls sind schlimmer als Baader-Meinhof, in: Quick vom 2.2.1972. Chotjewitz, Peter: Die Herren des Morgengrauens. Romanfragment, Hamburg 1978. Deutschland im Herbst, Regie: Rainer Werner Fassbinder u. a., Pro-ject Filmproduktion im Filmverlag der Autoren GmbH 1977/78 (DVD-Box Deutschland im Herbst, 2008). Die dritte Generation, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Pro-ject Filmproduktion im Filmverlag der Autoren GmbH 1978/79. Dillmann, Hans-Ulrich und Felix Kurz, „Das paßte doch alles in den Kram hinein“. Interview mit Henri Nannen, Herausgeber des „Stern“, in: taz vom 8.10.1982, S. 6. Kinder unseres Volkes, Regie: Stephan Rinser, FernsehÀlm 1981. Messer im Kopf, Regie: Reinhard Hauff, Bioskop Film GmbH 1978 (DVD-Box Deutschland im Herbst, 2008). „Mord beginnt beim bösen Wort“, in: Der Spiegel 41 (1977), S. 28–47. Narren, Hofnarren, blutige Narren: Sie sagen ‚befreien‘, sie meinen ‚zerstören‘, in: BILD vom 11.1.1972, S. 3. Naumann, Michael: Jeder ist verdächtig. Das BKA-Gesetz stellt die Bürger pauschal unter Verdacht und schafft eine Polizei neuen Typs – halb FBI, halb CIA. Warum ich gegen dieses Gesetz klage: eine Intervention, in: Die Zeit vom 23.4.2009, URL: http://www.zeit.de/2009/18/BKA-Gesetz (05.01.2011). Prantl, Heribert: Das Verfassungsgericht zieht die Notbremse, in: Die Süddeutsche (online) vom 19.3.2008, URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/einstweilige-anordnung-gegen-vorratsdatenspeicherung-das-verfassungsgericht-zieht-die-notbremse–1.289696–2 (11.2.2011). Spoo, Eckart: Der deutsche Herbst aus der Sicht eines Journalisten. Die Augen zugemacht, in: taz vom 12.10.1982, S. 9. Stammheim, Regie: Reinhard Hauff, Bioskop Film GmbH 1986. Die verlorene Ehre der Katharina Blum, Regie: Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, Bioskop Film GmbH 1975 (DVD-Box Deutschland im Herbst, 2008). Winkler, Willi: Ich war ein Kofferträger. Interview mit Volker Schlöndorff, in: Die Süddeutsche (online) vom 10.09.2007, URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/708/319580/text/(05.01.2011). Zahl, Peter-Paul: Die Glücklichen. Schelmenroman, Berlin 1979. Das zweite Erwachen der Christa Klages, Regie: Margarethe von Trotta, Bioskop Film GmbH 1978.

Literatur Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 460). Arnold, Peter und Jürgen Schult (Hg.): Ein Buch wird verboten. Bommi Baumann Dokumentation, München 1979. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof Komplex, München 81998. Bakker Schut, Pieter u. a. (Hg.): Staatsschutz und Berufsverbote in der BRD, Hamburg 1977. Balz, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt am Main, New York 2008. Berlit, Uwe und Horst Dreier: Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, in: Fritz Sack und Heinz Steinert (Hg.): Protest und Reaktion, Opladen 1984 (Analysen zum Terrorismus 4/2), S. 228–318.

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Braunthal, Gerard: Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der „Radikalenerlass“ von 1972 und die Folgen, Marburg 1992. Büchse, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern. Der deutsche Herbst und die Veränderung der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, hg. von Habbo Knoch, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 23), S. 311–332. Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart, München 2009. Elsaesser, Thomas: Der neue deutsche Film. Von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren, München 1994 (Heyne-Bücher 32). Faulstich, Werner: Gesellschaft und Kultur der siebziger Jahre: Einleitung und Überblick, in: Die Kultur der siebziger Jahre, hg. von Werner Faulstich, München 2004, S. 7–19. Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, München 82007. Koselleck, Reinhart: Art. „Krise“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, hg. von Otto Brunner, Stuttgart 1982, S. 617–650. Kraus, Petra et al. (Hg.): Deutschland im Herbst. Terrorismus im Film, München 1997. Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. Kraushaar, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, S. 1011–1025. Krebs, Sonja: Rechtsstaat und Pressefreiheit in Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Ein Beitrag zur Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit im Spiegel der Literatur, Frankfurt am Main 1990. Kreimeier, Klaus: Die RAF und der deutsche Film, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, S. 1155–1170. Lackner, Karl: Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, München 1980. Lorenz, Matthias: Literatur und Betrieb nach dem „Tod der Literatur“. Fiktionales Schreiben in der Bundesrepublik der siebziger Jahre, in: Kultur der siebziger Jahre, hg. von Werner Faulstich, München 2004, S. 147–164. Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004. Scheerer, Sebastian: Gesetzgebung im Belagerungszustand, in: Politik der inneren Sicherheit, hg. von Erhard Blankenburg, Frankfurt am Main 1980, S. 120–168. Schneider, Peter: Lenz, Berlin 1973. Steinert, Heinz: Sozialstrukturelle Bedingungen des „linken Terrorismus“ der 70er Jahre, in: Protest und Reaktion, hg. von Fritz Sack und Heinz Steinert (Analysen zum Terrorismus 4/2), Opladen 1984, S. 388–601. Tenfelde, Christopher: Die Rote Armee Fraktion und die Strafjustiz. Anti-Terror-Gesetze und ihre Umsetzung am Beispiel des Stammheim-Prozesses, Osnabrück 2009. Uka, Walter: Terrorismus im Film der 70er Jahre: Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der realen Gegenwart, in: Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, hg. von Klaus Weinhauer, Jörg Requate und Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt am Main 2006, S. 382–398. Weinhauer, Klaus: „Staat zeigen“. Die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, S. 932–947. Wesel, Uwe: Strafverfahren, Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip. Versuch einer Bilanz der RAFProzesse, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, S. 1048–1057. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 463). Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.

C. WIE LÄSST SICH DER KRISE BEGEGNEN? RISIKO- UND EXPERTENDISKURSE Katja Patzel-Mattern Katastrophen und Krisen fordern durch ihre soziale Wirkung den Menschen heraus. Angesichts einer Welt, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung aus den Fugen zu geraten droht oder bereits geraten ist, gilt es, das krisenhafte Geschehen zu erfassen und zu durchdringen, gegenwärtige Herausforderungen zu meistern und möglichen zukünftigen Risiken vorzubeugen. Dazu bedarf es Experten der Interpretation und Intervention sowie kommunikativer Akte der Vermittlung. Sie stehen in ihrer historischen Variabilität im Zentrum der drei Beiträge dieses Kapitels, das nicht nur unterschiedliche Krisen, sondern auch insgesamt sechs Jahrhunderte und zwei Kontinente umspannt. Christian Rohr widmet sich in seinem Beitrag astrologischen Expertendiskursen am Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Anhand von Kometenerscheinungen, Sternenkonstellationen sowie Sonnen- und MondÀnsternissen arbeitet er heraus, dass solchen astronomischen Phänomenen in Krisenzeiten eine besondere Beachtung geschenkt wurde. Dies bestätigte die Zeitgenossen einerseits durch die wahrgenommene Koinzidenz von Ereignis und Beobachtung in ihrer Prodigiengläubigkeit, erlaubte es andererseits aber auch, extreme Naturereignisse im Rückgriff auf antike oder biblische Traditionen einzuordnen und zu deuten. Eine Zäsur in der Rezeption kosmischer Phänomene stellte das beginnende 16. Jahrhundert dar, als diese unter dem EinÁuss des italienischen Humanismus vermehrt als Vorzeichen eines bevorstehenden Weltuntergangs gedeutet wurden. Dies führte aufgrund ausbleibender katastrophaler Ereignisse einerseits zu nachhaltigen Zweifeln am Wert der Astrologie, sollte andererseits den SintÁut-Diskurs der Frühen Neuzeit konfessionsübergreifend prägen. Die Bedeutung der Kommunikation für die Wahrnehmung und Interpretation, vor allem aber den Verlauf von Krisen stellt Clemens Zimmermann in seinem Beitrag heraus. Am Beispiel der letzten großen Subsistenzkrisen im südwestdeutschen Raum zwischen 1770 und 1846 analysiert er die Bemühungen zentraler Behörden, durch systematisierte und quantiÀzierende Verfahren einer Emotionalisierung der Bevölkerung und damit Gefährdungen des politischen Systems vorzubeugen. Dies war in der Praxis aufgrund verschiedener Unsicherheitsfaktoren nur partiell zu erreichen. So erwiesen sich die Informationen lokaler Akteure aufgrund partikularer Interessen als unzuverlässig. Überdies bestanden Unsicherheiten über allgemeine Faktoren wie Kaufkraft, Preisentwicklung und Ernteergebnisse. Schließlich wurde zumindest für die Jahre von 1770 bis 1772 eine standardisierte Datenerhebung durch unterschiedliche Maßsysteme erschwert. Solche Unsicherheiten wurden im Verlauf des Untersuchungszeitraums durch institutionelles Ler-

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nen reduziert. Zugleich sank aber die politische Bereitschaft, tatsächlich in das Produktions- und Handelssystem zu intervenieren. Die Entstehung genozidaler Gewalt, wie sie Dominik Schaller am Beispiel des Kolonialkriegs gegen die Herero und Nama im Deutsch-Südwestafrika des beginnenden 20. Jahrhunderts untersucht, wird häuÀg als Vorgeschichte des Holocausts und damit im Sinne eines deutschen Sonderwegs interpretiert. Eine solche Lesart erweitert der Autor durch die Berücksichtigung situativer und sozialpsychologischer Aspekte. Anhand von Erinnerungen, die auch zeitgenössische Gerüchte thematisieren, sowie Formen kolonialer Herrschaftsausübung kann er zeigen, wie eine latente Krisenstimmung die Eskalation von Gewalt beförderte. Die fortgesetzte Kommunikation von Bedrohungsszenarien und Unsicherheitsgefühlen steigerte die Sorge um den Verlust von nationalem wie persönlichem Prestige und EinÁuss, der durch Gewaltanwendung begegnet wurde. In dieser Perspektive lassen sich die Ereignisse in Deutsch-Südwestafrika globalgeschichtlich in den Kontext weiterer kolonialer Gewaltexzesse wie beispielsweise der Niederschlagung der sogenannten Mau-Mau-Bewegung oder des französischen Algerienkriegs einordnen.

MACHT DER STERNE, ALLMACHT GOTTES ODER LAUNE DER NATUR? ASTROLOGISCHE EXPERTENDISKURSE ÜBER KRISEN UND NATURRISIKEN IM SPÄTEN MITTELALTER UND AM BEGINN DER NEUZEIT Christian Rohr Einleitung: Kosmische Zeichen, Katastrophen und die Apokalypse in der Bibel Schon seit den prähistorischen Kulturen, besonders aber in den frühen Hochkulturen des Vorderen Orients, Ostasiens und Mittelamerikas sowie bei den Griechen und Römern beobachteten die Menschen genau den Lauf der Sterne und Planeten. Bestimmte Sternenkonstellationen, Sonnen- und MondÀnsternisse sowie Kometenerscheinungen erregten dabei ihr besonderes Interesse. Im Unterschied zum heutigen Denken wurden sie – da sie ja ebenfalls ein Teil der Natur waren – gleichsam als „Naturkatastrophen“ wahrgenommen, da sie in der Tradition der antiken und frühmittelalterlichen naturkundlichen Literatur für Folgewirkungen wie Seuchen, Krieg oder Tod verantwortlich gemacht wurden.1 An den kosmischen Zeichen lässt sich besonders gut erkennen, wie durch die menschliche Wahrnehmung und Deutung ein – rational gesehen – harmloses kosmisches Phänomen zur „astrologischen“, d. h. von den Astrologen „gemachten“ Katastrophe werden kann. Im Alten und Neuen Testament werden außergewöhnliche Himmelserscheinungen, besonders aber SonnenÀnsternisse und die Rotverfärbung des Mondes, mit dem Jüngsten Gericht in Verbindung gebracht.2 In den Evangelien verweist Jesus selbst auf die kosmischen Erscheinungen am Ende der Welt: Die Sonne werde sich verÀnstern, der Mond nicht mehr scheinen und die Sterne vom Himmel fallen.3 Auch die SonnenÀnsternis beim Tode Jesu wird schon im alttestamentlichen Buch Amos angekündigt.4 Diese dauerte nach den Berichten in den Evangelien von der sechsten bis zur neunten Stunde, also von Mittag bis etwa 15 Uhr.5 Begleitet wurde die SonnenÀnsternis von einem schweren Erdbeben.6 Nach der Offenbarung des Johannes spielen kosmische Zeichen auch vor und beim Jüngsten Gericht eine wichtige begleitende Rolle: Beim Öffnen des sechsten 1 2 3 4 5 6

Vgl. Fumagalli: Himmel, S. 13–24; Meier: Archäologie, S. 255–257; Gindhart: Kometenjahr, besonders S. 1–10; Rohr: Naturereignisse, S. 517–546. Joel 3, 4. Matthäus 24, 29; Markus 13, 24 f.; Lukas 21, 11 und 25. Amos 8, 9. Matthäus 27, 45; Markus 15, 33; Lukas 23, 44. Matthäus 27, 51.

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Siegels erhebe sich nicht nur ein gewaltiges Erdbeben, sondern auch die Sonne verdunkle sich, der Mond werde blutrot und die Sterne Àelen vom Himmel. Der Himmel selbst rolle sich wie eine Buchrolle ein.7 An Bibelstellen wie dieser zeigt sich deutlich, wie sehr kosmische Zeichen und Naturkatastrophen im religiösen Denken eine untrennbare Einheit bilden mussten. Auch beim Erschallen der dritten und vierten Posaune käme es zu schweren kosmischen Störungen.8 Desweiteren sei ein zur Erde gefallener Stern beim Erschallen der fünften Posaune dafür verantwortlich, dass ein Schacht in den Abgrund führe, aus dem Heuschrecken ohne Zahl hervorkämen.9 Immer wieder ist somit von Sternen die Rede, die auf die Erde fallen. Kometen konnten – ja mussten – den Menschen daher angesichts der Prophezeiungen vom Jüngsten Gericht Angst bereiten.10 Aufgrund der biblischen Bezüge verwundert es nicht, dass die Wahrnehmung und Deutung von bestimmten Himmelserscheinungen als Naturkatastrophe und Zeichen auch bzw. besonders im christlichen Bereich verbreitet war. Himmelsbeobachtung und Prodigiengläubigkeit im Mittelalter Es waren vor allem mehrere spätantike und frühmittelalterliche Autoritäten, die die Meinung verfestigten, dass einzelne Sternenkonstellationen, Sonnen- und MondÀnsternisse sowie andere kosmische Erscheinungen wie Nordlichter und Strahlenkränze, allen voran aber Kometen Unheil ankündigten. Auch meteorologisch erklärbare Erscheinungen wie Blutregen wurden als unheilvolle astronomische Zeichen gedeutet. Etwas war mit den Sternen durcheinander gekommen, zum disaster geworden,11 und zeigte auch Auswirkungen auf das Leben der Menschen sowie die Natur. Dabei verbanden sich ganz offensichtlich naturwissenschaftlich korrekte Beobachtungen, etwa dass die Gezeiten bei Vollmond und Neumond stärker seien, mit astrologisch-spekulativem Wissen in der Tradition der Antike. Beim letzten Universalgelehrten der Antike, Isidor von Sevilla († 636), ist die Ansicht überliefert, dass Kometen einen Regierungswechsel, Seuchen oder Kriege ankündigen.12 Mit außergewöhnlichen Naturerscheinungen und ihrer Deutung war auch der frühmittelalterliche Chronist Gregor von Tours (538–594) sehr gut vertraut. In seinem Traktat ‚De cursu stellarum ratio‘ geht er zunächst ausführlich auf menschlich geschaffene und „natürliche“ Wunder ein. Daran schließt sich ein Ster7 8 9 10 11

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Offenbarung, 6, 12–17. Ibid. 8, 10–12. Ibid. 9, 1–2. Vgl. dazu ausführlich Fried: Aufstieg, besonders S. 14 f. und S. 105–111. Der Begriff disaster für Naturkatastrophe ist erstmals 1564 in der französischen Form desastre belegt; 1580 tauchte erstmals die englische Form disaster auf. Vgl. zur Wortbedeutung Alexander: Catastrophe, S. 20; Oliver-Smith: Disasters; Schenk: Disaster Research, besonders S. 12 mit einem Literaturüberblick. Isidor von Sevilla: De natura rerum 26, 13, ed. Becker, S. 52; Isidor von Sevilla: Etymologiae 3, 71, 16 f., ed. Lindsay, o. S.

Macht der Sterne, Allmacht Gottes oder Laune der Natur?

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nenatlas an.13 Gregors Beschreibung der Sternbilder unterliegt einem rationalen, naturkundlichen Interesse und baut offensichtlich auf eigenen, von antiken Vorbildern weitgehend selbstständigen Beobachtungen auf. Einzig Kapitel 34 über Kometen weicht davon markant ab: „Dieser Stern wird von mehreren Gelehrten Komet genannt. Nicht immer, aber meistens erscheint er entweder beim Tod eines Königs oder wenn ein Gebiet von einer Katastrophe heimgesucht wird. Man erkennt und deutet ihn folgendermaßen: Wenn sein Kopf mit einem leuchtenden Diadem als Schweif erscheint, kündigt er den Tod eines Königs an; wenn er aber gleichsam ein Schwert trägt, rot leuchtet oder einen dunklen Schweif wirft, zeigt er großen Schaden für die Heimat an.“ 14 Gregors Interesse für Sternenkonstellationen und ihre Auswirkungen auf den Lauf der Geschichte kommt auch mehrfach in seinem Hauptwerk, den ‚Historiarum libri X‘, zum Ausdruck: Im Jahr 587, so berichtet Gregor von Tours, erschienen mehrere Naturzeichen, die normalerweise entweder den Tod eines Königs oder Unheil für ein ganzes Gebiet anzeigen.15 Der Autor hatte dabei nur ein Problem: Er wusste offensichtlich nicht, mit welchen Ereignissen er die Zeichen in Verbindung setzen konnte. Oder wollte er es gar nicht? In Gregors ‚Historiae‘ ist jedenfalls die Tendenz zu erkennen, die Berichte von astronomischen Zeichen zu instrumentalisieren, um damit Gut und Böse zu unterscheiden.16 Der angelsächsische Gelehrte Beda Venerabilis (672/673–735) übernahm diese Lehrmeinung.17 Vor allem auf Isidor und Beda bezogen sich Gelehrten des Mittelalters auch explizit, wenn sie über Kometen berichteten. So meinte etwa Honorius von Autun (um 1080–um 1137) in seinem astronomisch-astrologischen Werk ‚De imagine mundi‘, dass Kometen als Vorzeichen zu deuten seien.18 Im frühen 13. Jahrhundert kam es zur „Wiederentdeckung“ des Aristoteles – und damit der bei ihm überlieferten Naturphilosophen. Es war das Verdienst des aus Lauingen an der Donau stammenden Philosophen und Theologen Albertus Magnus (1193/94–1280), nicht nur die Schriften des Aristoteles und seiner Vorläufer zu rezipieren, sondern auch die Kommentare dazu aus dem jüdischen und arabischen Bereich. In ‚Meteora‘, einem seiner naturwissenschaftlichen Hauptwerke, beschäftigte er sich ebenso mit Kometen wie mit der Herkunft des Regens oder der Entstehung von Erdbeben. Albertus Magnus lehnte hingegen den Zusammenhang von Kometenerscheinungen mit Katastrophen, wie etwa mit dem Tod eines Königs oder mit Kriegen, ab, auch wenn dies einige Autoritäten behaupteten. Kometen hätten eine natürliche Ursache und würden auch nicht den Auslöser für etwas anderes 13

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Gregor von Tours: De cursu stellarum ratio 1–16, ed. Krusch, S. 407–413 (miracula); 16–34, ed. Krusch, S. 413–420 (Sternbildatlas); 35–47, ed. Krusch, S. 420–422 (astronomische Zeitmessung). Zum Werk und seiner Beurteilung vgl. ausführlich Bergmann und Schlosser: Gregor; Loose: Zeitbestimmung sowie zuletzt Rohr: Signa, besonders S. 76 f. Gregor von Tours: De cursu stellarum ratio 34, ed. Krusch, S. 419 f. Gregor von Tours: Historiae 9, 5, ed. Krusch und Levison, S. 416. Vgl. Rohr: Signa, S. 74–76. Beda Venerabilis: De natura rerum 24, ed. Jones, S. 216. Bedas Ausführungen bauen fast wortwörtlich auf der ‚Naturalis historia‘ des älteren Plinius auf. Honorius von Autun: De imagine mundi 1, 137, ed. Migne, Sp. 146.

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darstellen.19 Die Erkenntnisse des Aristoteles wurden weitgehend ohne Abweichung übernommen; empirische natürliche Forschung war der Scholastik fremd. Allerdings meinte Albertus Magnus, ebenso wie sein wichtigster Schüler Thomas von Aquin (1225–1274), dass die Ursache von Naturereignissen wie Erdbeben in erster Linie bei Gott liege und erst sekundär die natürlichen Reaktionen zum Tragen kämen. Größere Breitenwirkung erlangte das aristotelisch-scholastische Gedankengut des Albertus Magnus schließlich durch das ‚Buch der Natur‘ des Konrad von Megenberg (1309–1378).20 Der aus Schweinfurt in Mainfranken stammende Gelehrte schuf damit 1349 die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, die sich aufgrund ihrer volkstümlichen Ausdrucksweise rasch großer Verbreitung erfreute und schließlich 1499 erstmals gedruckt wurde. Inhaltlich übernahm Konrad die Erkenntnisse des Albertus Magnus bzw. Aristoteles, fügte aber durchaus auch eigene Beobachtungen und weitere zeitgenössische Informationen ein, etwa über die Heuschreckenplagen der Jahre 1338–134121 oder das Erdbeben in Kärnten und Friaul 1348.22 Damit wird Konrad von Megenberg zu einer eigenständigen und ergiebigen Quelle für die Wahrnehmung und Deutung von extremen Naturereignissen in der Mitte des 14. Jahrhunderts, da er Sichtweisen überliefert, die sich in den erzählenden oder normativen Quellen nie Ànden. Auch die Annalen und Chroniken des späten Mittelalters zeigen ein ausgesprochen intensives Interesse an Himmelserscheinungen. Diese stehen damit in einer Reihe mit Berichten zu Erdbeben, Überschwemmungen und anderen extremen Naturereignissen. Die Beobachtung und Notierung an sich macht schon deutlich, dass man diesen Phänomenen Symbolcharakter zugeschrieb, auch wenn dies nur zum Teil explizit ausgedrückt wurde. Ob dabei die Konnotationen eher traditionellastrologisch oder biblisch-apokalyptisch waren, lässt sich anhand der knappen Formulierungen in den meisten Fällen nicht auseinanderhalten; vermutlich verschwommen aber beide Deutungsmuster ineinander. a) Kometenerscheinungen und ihre Deutung Der gelehrte Mönch Gutolf von Heiligenkreuz verfasste im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts eine kurze, aber sprachlich hochstehende Chronik, die ‚Historia annorum 1264–1279‘. Den Auslöser für diese Geschichtsdarstellung zu einer der wichtigsten Umbruchszeiten des Mittelalters bildete vermutlich die Kometenerscheinung des Jahres 1264, auf die Gutolf ausführlich eingeht: „Im Jahr 1264 von der Fleischwerdung des Herrn wollte der Schöpfer aller Dinge dieser Welt ein weiteres Zeichen seiner Allmacht zeigen und schickte einen 19 20 21 22

Albertus Magnus: Meteora lib. 1 tract. 3 cap. 11, ed. Hossfeld, S. 32. Zu Konrad von Megenbergs Leben und Werk vgl. ausführlich Hayer: Konrad von Megenberg; Spyra: Buch. Vgl. dazu im Detail Rohr: Naturereignisse, S. 464 f. mit Anm. 31. Vgl. dazu im Detail ibid., S. 112–114.

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wunderschönen Kometen mit Feuerschweif und einem Kopf, der Lichtstreifen zog, in den Himmel. Ja, um es noch deutlicher auszudrücken, er machte damit seine Majestät allen Sterblichen durch ein Feuerzeichen am Himmel deutlich. Was dieser Stern als Vorzeichen bedeutet, wird im Buch des Honorius über das Aussehen der Welt und von Isidor ganz deutlich gesagt: Wenn nämlich ein Stern dieser Art erscheint, gibt es entweder einen Wechsel am Königsthron oder Seuchen oder kriegerische Zeiten, wie ein Dichter es mit besonders schönen Worten zusammengefasst hat: Mit seinem Feuer bringt der selten auftretende Komet Tod und Seuchen, er ist ein Verkünder von Kriegen und wechselt die Diademe der Könige aus. Wir haben schlagende Beweise gefunden, dass sich all das nach dem Erscheinen dieses Sterns erfüllt hat. Denn wenn jemand genau die Ereignisse im Ablauf der Jahre betrachtet, seit wir selbst den Kometen mit eigenen Augen gesehen haben, so haben wir begreifen können, dass in den wenigen Jahren seit dem Erscheinen dieses Sterns ein schreckliches Morden unter den Menschen auf der Erde auf vielfache, beklagenswerte Weise gewütet hat. Um von dem Geschehenen nur ein wenig von Vielem zu berichten: Kurz nachdem dieser Komet erschien, wurde Konradin […] gefangen genommen. In derselben Nacht, in der Papst Urban starb, verschwand der Komet.“23 Besonders in allgemeinen Krisen- und Umbruchszeiten wurde Kometen und anderen astronomischen Erscheinungen besondere Aufmerksamkeit zuteil,24 wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Der Komet von 1264 wurde jedenfalls im österreichischen Bereich sehr intensiv wahrgenommen. Die Fortsetzung der Zwettler Annalen berichtet von der 80 Tage andauernden Kometenerscheinung und führt für die Bedeutung dieses Zeichens eine der größten wissenschaftlichen Autoritäten des Mittelalters an: Schon Beda Venerabilis habe betont, dass damit Hunger, schwere Krankheiten, Seuchen, ein Regierungswechsel, eine Verpestung der Luft oder schwere Stürme angezeigt würden.25 Auch in der ‚Continuatio Sancrucensis II‘26 und in den ‚Annales Sancti Rudberti‘27 aus Salzburg wurde das Erscheinen des Kometen nicht nur erwähnt, sondern auch in seiner Bedeutung erklärt und mit Todesfällen und Kriegen dieser Zeit in Beziehung gesetzt. Im Jahr 1316 erschien erneut ein Komet, der vom Autor der Königssaaler Chronik (‚Chronica Aulae Regiae‘) aus Böhmen mit der schweren Überschwemmung dieses Jahres in Österreich, Böhmen, Polen und Meißen in Verbindung gebracht wurde.28 Dieser Autor gilt allerdings als einer der wenigen Autoren, die grund23 24 25 26 27 28

Gutolf von Heiligenkreuz: Historia annorum ad a. 1264, ed. Wattenbach, S. 649 f. Vgl. allgemein zu den Kometenbeobachtungen im Spätmittelalter Kokott: Kometenbeobachtungen. Continuatio Zwetlensis III ad a. 1263, ed. Wattenbach, S. 656. Das Ereignis wird in dieser Quelle allerdings (fälschlich) auf das Jahr 1263 datiert. Vgl. zur Stelle und zum Bezug auf Beda Venerabilis auch Draelants: Temps, S. 123. Continuatio Sancrucensis II ad a. 1264 (Codices 2 und 4), ed. Wattenbach, S. 646. Hier wird ein gelehrter etymologischer Exkurs, aufbauend auf Isidor, angeführt; Deutungen fehlen aber. Annales Sancti Rudberti Salisburgenses ad a. 1264, ed. Wattenbach, S. 797. Chronica Aulae Regiae 1, 126–128 ad a. 1316, ed. Loserth, S. 375–379.

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sätzlich derartige Verbindungen zwischen astronomischen Zeichen und Katastrophen aller Art herstellten. Der so genannte ‚Anonymus Leobiensis‘ bringt die Kometenerscheinung konkret mit zwei Katastrophen dieses Jahres in Verbindung: Zum einen habe damals in vielen Ländern eine Rinderpest gewütet, zum anderen hätte die Überschwemmung Zerstörungen unerhörten Ausmaßes angerichtet.29 Die schweren Naturkatastrophen um die Mitte des 14. Jahrhunderts waren aus der Sicht einiger Gelehrter dieser Zeit eine Folge der Kometenerscheinung des Jahres 1337: Nach Konrad von Megenberg kündigte er das Hereinbrechen der Heuschreckenplage von 1338 an.30 Johann von Viktring deutete diese Kometenerscheinung unter Berufung auf Isidor von Sevilla allgemeiner als Vorzeichen für zahlreiche Unglücksfälle und Plagen; dazu ist, der Anordnung der Berichte folgend, auch die Heuschreckenplage von 1338 zu zählen.31 Die ‚Chronica Aulae Regiae‘ bringt die Kometenerscheinung allerdings nur mit einem sehr heißen und trockenen Sommer im selben Jahr in Verbindung, der alle Kräuter verbrannt und zu einer mageren Weinernte geführt habe.32 In anderen Quellen wie der Bozner Chronik fehlt eine Deutung als Unglück bringendes Vorzeichen jedoch völlig.33 Dass die Folgen einer Kometenerscheinung in den Augen der Annalisten auch ambivalent sein konnten, zeigt die Bemerkung der ‚Continuatio Zwetlensis IV‘ zum Jahr 1361, das Auftreten eines Kometen um Maria Verkündigung (25. März) habe eine reiche Ernte und reiche Frucht gebracht, allerdings auch viel Donner und Blitz. In einem Dorf in der Nähe von Zwettl seien durch Blitzschlag zehn Rinder getötet worden.34 Für die Zeit zwischen 1400 und 1403 sind erneut mehrere Kometenerscheinungen belegt, wobei nicht klar wird, um wie viele es sich tatsächlich handelte oder ob sich unterschiedlich datierte Nachrichten auf ein und dasselbe Ereignis beziehen. Die Belege dafür stammen aus dem Land Salzburg,35 aus Klosterneuburg,36 Melk37 und Zwettl, wobei letztere Quelle, das ‚Kalendarium Zwetlense‘, explizit eine Verbindung mit dem großen Unglück dieser Zeit herstellt, das eine Folge der 29 30 31 32 33 34 35 36

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Anonymus Leobiensis: Chronicon ad a. 1316, ed. Zahn, S. 33. Konrad von Megenberg: Buch der Natur 2, 11, ed. Pfeiffer, S. 76. Johann von Viktring: Liber certarum historiarum 6, 5 ad a. 1336 (!) (Recensio D. A2), ed. Schneider, Bd. 2, S. 202: Johann von Viktring stellt sich mit seiner Position, der Komet sei gar kein Stern, gegen die Lehrmeinung des älteren Plinius in seiner ‚Naturalis historia‘. Chronica Aulae Regiae 3, 14 ad a. 1337, ed. Loserth, S. 530 f. Sinngemäß wird diese Nachricht auch bei Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 3, 11 ad a. 1337, ed. Zachová, S. 166 aufgenommen. Bozner Chronik zum Jahr 1337, ed. Masser-Vuketich, S. 79. Continuatio Zwetlensis IV ad. a. 1361, ed. Wattenbach, S. 688. Nach Hinterseer: Bad Hofgastein, S. 606 verursachte im Jahr 1400 ein Komet mit langem Streimen großen Schrecken in Gastein; danach habe es große Not und ein großes Sterben gegeben. Genauere Quellenangaben dazu fehlen aber. Continuatio Claustroneoburgensis V ad a. 1401, ed. Wattenbach, S. 736, mit einer praktisch wortwörtlichen Übernahme des oben S. 365 mit Anm. 23 wiedergegebenen Eintrags aus Gutolf von Heiligenkreuz: Historia annorum ad a. 1264. Auch die Kleine Klosterneuburger Chronik zum Jahr 1401, ed. Maschek, S. 295 erwähnt den Kometen. Continuatio Mellicensis ad a. 1402, ed. Wattenbach, S. 514 f.

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Sündhaftigkeit der Menschen sei; zudem sei damals der böhmische König Wenzel von seinem Bruder Sigismund gefangen genommen worden.38 Die ausführlichste astrologisch-naturwissenschaftliche Abhandlung zur Kometenerscheinung von 1402 enthalten die so genannten Wiener Annalen. In diese in mittelhochdeutscher Sprache verfasste Chronik wurde das lateinische Gutachten des in Wien lehrenden Magisters Friedrich von Drosendorf inseriert; er war als damaliger Hofastrologe (‚astrologus Austrie‘) gleichsam die unumstößliche Autorität.39 Friedrich von Drosendorf vertritt in seiner Stellungnahme die aristotelische Ansicht, dass es sich bei einem Kometen um keinen Stern handle, sondern um irdischen Rauch (‚vapor terrestris‘), der aufgrund seiner warmen Konsistenz aufsteige und mit Partikeln verunreinigt sei. Durch die Reibungshitze zwischen der unteren, erdnahen Sphäre und der darüber liegenden Sphäre des Äthers fange diese Ausdünstung der Erde schließlich Feuer.40 Danach folgt ein ausführlicher Traktat über die Bedeutung von Kometenerscheinungen in bestimmten Planetenkonjunktionen. Der Magister verschweigt auch nicht die Deutung, dass Kometen auf Dürre, Augenkrankheiten, Rindersterben und extreme Hitze bzw. nach anderen Gelehrten auf starke Regenfälle und Überschwemmungen hinweisen.41 Von alledem könne er aber für das Jahr 1402 nichts erkennen, zumal es sogar zu einem Zusammenfall von Kometenerscheinung und SonnenÀnsternis gekommen sei. Ganz im Gegenteil habe sich ein fruchtbares und von Kriegen freies Jahr ergeben,42 was darauf zurückzuführen sei, dass der Planet Jupiter, das Zeichen des Guten, im Ansteigen sei, während Saturn und Mars im Abstieg begriffen seien und dadurch an Kraft verloren hätten.43 Im Juni 1456 erschien erneut ein Komet – es handelte sich dabei um den sogenannten Halley’schen Kometen44 –, der sowohl in der annalistischen und chronikalen Literatur als auch in astronomischen Kreisen große Beachtung erfuhr. Sowohl Paolo da Pozzo Toscanelli (1397–1482) in Italien45 als auch der österreichische Astronom Georg Aunpeck von Peuerbach notierten genau ihre Beobachtungen und kommentierten sie. Der oberösterreichische Astronom, der an der Wiener Universi38 39

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Kalendarium Zwetlense ad a. 1403, ed. Wattenbach, S. 696. Am Beginn und am Ende des lateinischen Abschnitts vermerkt der Chronist der Wiener Annalen ad a. 1402, ed. Seemüller, S. 238–240, dass der Komet von Anfang März 1402 sechs Wochen lang zu sehen gewesen sei und genau von magister Fridericus de Drosendorff, Kanoniker zu St. Stephan und astrologus Austrie, beschrieben worden sei. Ibid., S. 238 f. Dieser Ansicht vom Entstehen der Kometen folgen auch die naturkundlichen Abhandlungen im Geiste der Scholastik, etwa Konrad von Megenberg: Buch der Natur 2, 11, ed. Pfeiffer, S. 75 f. Vgl. zur aristotelischen Erklärung zum Entstehen von Kometen zusammenfassend Sfountouris: Kometen, S. 42–46. Wiener Annalen ad a. 1402, ed. Seemüller, S. 239. Das Gutachten wurde offensichtlich noch vor den großen Überschwemmungen im Juni und Juli 1402 erstellt, die im gesamten österreichischen Donauraum schwere Schäden anrichteten. Vgl. Rohr: Naturereignisse, S. 231 mit Anm. 80. Wiener Annalen ad a. 1402, ed. Seemüller, S. 239 f. Vgl. Sfountouris: Kometen, S. 180 mit einer Zusammenstellung der Jahre, in denen der Halley’sche Komet zu sehen war. Vgl. Lhotsky und Ferrari d’Occhieppo: Gutachten, S. 278.

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tät „Humaniora“ lehrte, wurde offensichtlich beim Erscheinen des Kometen von zahlreichen verunsicherten Menschen um ein Gutachten gebeten; ein längeres aus dem Jahr 1456 sowie ein kurzes aus dem darauf folgenden Jahr sind erhalten geblieben.46 Etwas verärgert, wie auch der polemische Ton der Einleitung seines ersten Gutachtens von 1456 verrät, aber astronomisch genau und ausführlich beschreibt er zunächst den Weg des Kometen. Danach fasst er die aristotelische Theorie über das Entstehen von Kometenerscheinungen nochmals zusammen und zitiert dabei aus Aristoteles und der arabischen astronomischen Literatur. Mit einer weiteren Spitze kritisiert er diejenigen, die der Meinung seien, dass Kometen keinerlei Auswirkungen auf kommende Ereignisse hätten; diese hätten einfach die Werke der Gelehrten nicht gelesen und sollten eben in ihrer lächerlichen Dummheit glücklich werden.47 Georg Aunpeck beschränkt sich aber in der Folge auf das Zusammentragen von Lehrmeinungen über die Deutung von Kometen und zitiert dabei neben den astronomischen Autoritäten wie Ptolemäus und „Abenragel“ (Abul Hasan Ali ben Abu-Rigal) auch römische Dichter wie Vergil, Lukan und Claudian. Eine eigene Stellungnahme zur Deutung bleibt er – bewusst? – schuldig. In der Salzburger Chronistik aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde zum Kometen von 1456 besonders vermerkt, dass darauf eine Serie von Morden und mysteriösen Todesfällen folgte: Zunächst verlor der ungarische Reichsverweser János Hunyadi im Jahr 1456 sein Leben; noch im selben Jahr, am 9. November 1456, wurde Graf Ulrich II. von Cilli ermordet. Sein Mörder László Hunyadi wurde 1457 enthauptet und auch König Ladislaus Postumus starb 1457 im Alter von erst 17 Jahren, angeblich infolge einer Vergiftung.48 Der Schweif des Kometen zeigte nach dem Bericht des Thomas Ebendorfer nach Norden, was nach der Meinung der Zeitgenossen vor allem für Böhmen Hochwasser, Seuchen, Mord, Krieg und Raub sowie Teuerungen bedeutete.49 Wie weit die von Ebendorfer berichteten Überschwemmungen nur durch das Erscheinen des Kometen berichtenswert waren oder ob es sich tatsächlich um ein außergewöhnliches Hochwasser handelte, muss dahingestellt bleiben. Nüchtern beobachtete hingegen der Annalist im Stift Melk das Ereignis und notierte kommentarlos das Erscheinen des Kometen.50 Ein weiterer Komet war nach den ausführlichen Beobachtungen und Messungen des Astronomen Regiomontanus (Johannes Müller, 1436–1476) erstmals am 13. Januar des Jahres 1472 zu sehen.51 Auch die österreichische Annalistik regis46 47 48 49 50 51

Zu den beiden Gutachten des Georg Aunpeck von Peuerbach aus den Jahren 1456 und 1457 sowie zu den Begleitumständen ihrer Entstehung vgl. ibid., besonders S. 267 f. und S. 271–277. Georg Aunpeck: Iudicium super cometa, ed. Lhotsky und Ferrari d’Occhieppo, S. 274. Vgl. Danner: Himmelserscheinungen, S. 115 f. mit einer Analyse der Berichte in der Salzburger Chronistik (‚Chronicon Salisburgense‘, ‚Chronicon Saltzeburgense‘) zu den Kometenerscheinungen von 1456 und 1472. Thomas Ebendorfer: Chronica Austriae 4 ad a. 1456, ed. Lhotsky, S. 429. Continuatio Mellicensis ad a. 1456, ed. Wattenbach, S. 519. Die Kometenerscheinung ist auch in der anonymen Historia rerum Austriacarum ad a. 1456, ed. Rauch, S. 6 überliefert (dort zum 15. Juni). Zu den beiden Stellen vgl. Opll: Nachrichten, S. 155. Vgl. Sfountouris: Kometen, S. 51.

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trierte dieses astronomische Schauspiel, etwa die ‚Continuatio Mellicensis‘ zum Jahr 1472,52 doch brachte ihr Autor den Kometen nicht explizit in Verbindung mit konkreten Ereignissen; nichtsdestotrotz war das Erscheinen eines Kometen in jedem Fall berichtenswert. b) Auffällige Sternenkonstellationen Neben den Kometen verbreiteten auch bestimmte Sternenkonstellationen Angst und Schrecken, da man glaubte, dass sie für Unglück und Seuchen verantwortlich seien. Besonders gefürchtet war offensichtlich, wenn der Saturn in das Sternzeichen des Steinbocks wanderte, wie dies am 1. März 1341 geschah. Die Folge dieser Sternenkonstellation war nach Ansicht des Autors der ‚Chronica de ducibus Bavariae‘ der Ausbruch der Pest,53 und selbst noch die Pestwelle von Juli bis Oktober 1370 in Konstantinopel, Venedig und Deutschland führte der Autor unter Hinweis auf seine Ausführungen zu 1341 auf diese Sternenkonstellation zurück.54 Aber auch schon am 29. Januar 1280 gab das Erscheinen des Planeten Saturn Anlass zur Besorgnis.55 Im Juli folgte eine schwere Überschwemmung, im August verursachten Hagel, Sturm und andere Unwetter schwere Schäden und ließen die Flüsse und Bäche erneut stark anschwellen.56 Der Zusammenhang zwischen astronomischer Konstellation und extremen Naturereignissen auf der Erde war wohl nicht nur für den Autor der ‚Continuatio Vindobonensis‘ evident. Nach den Ausführungen des Chronisten Franz von Prag war das extreme Hochwasser von 1342 an der Moldau zu Prag nicht nur eine Folge der schlechten Sternenkonstellation, sondern Astronomen hätten sogar den Einsturz der Prager Brücke auf der Basis der astronomischen Vorzeichen vorhergesagt.57 Im Jahr 1345 Àelen eine MondÀnsternis und eine SonnenÀnsternis zusammen, die an sich schon Unglück und Krieg bedeuteten. Franz von Prag steigert das astronomische Bedrohungsszenario noch, indem er für dasselbe Jahr zusätzlich von einer Jupiter-SaturnKonstellation Ende März sowie dem Zusammentreffen von fünf Planeten – Saturn, Jupiter, Mars, Sonne und Merkur im Zeichen des Wassermanns – berichtet.58 Die 52

53 54 55 56 57 58

Continuatio Mellicensis ad a. 1472, ed. Wattenbach, S. 522. Weiter ist diese Kometenerscheinung in den Chronica Salisburgensia ad a. 1472, ed. Basnage, S. 493 erwähnt. Auf denselben Kometen ist wohl auch ein Hinweis bei Hinterseer: Bad Hofgastein, S. 606 zu beziehen, dass im Jahr 1473 in Gastein das Erscheinen eines Kometen mit auffälligem, lanzenförmigem Schweif großen Schrecken verursacht habe; eine Quellenangabe fehlt dazu leider. Chronica de ducibus Bavariae ad a. 1341, ed. Leidinger, S. 168. Die Stelle wird wortwörtlich von Andreas von Regensburg: Chronica pontiÀcum et imperatorum Romanorum ad a. 1341, ed. Leidinger, S. 87 übernommen. Chronica de ducibus Bavariae ad a. 1370, ed. Leidinger, S. 173 f. Continuatio Vindobonensis ad a. 1280, ed. Wattenbach, S. 711. Vgl. zu den Ereignissen im Detail Rohr: Naturereignisse, S. 221 f. Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 3, 15 ad a. 1342, ed. Zachová, S. 177–179. Ibid. 3, 19 ad a. 1345, ibid. Zachová, S. 188 f.

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Katastrophen der folgenden Jahre waren für Franz von Prag somit nur eine logische Folge der schlechten astronomischen Konstellationen. Das Erdbeben in Kärnten und Friaul vom 25. Januar 1348 wurde von mehreren Autoren auf eine konkrete Sternenkonstellation, die Verbindung von Mars und Saturn, zurückgeführt, etwa vom Verfasser der so genannten ‚Notae Veronenses‘,59 aber auch von Konrad von Megenberg, dem Autor der ersten deutschsprachigen Naturgeschichte, der die Verbindung von Mars, Jupiter und Saturn als ausschlaggebend ansah.60 Franz von Prag ging gar von einer Konstellation von fünf Planeten aus, die sich acht Tage vor dem Beben eingestellt habe.61 c) Sonnen- und MondÀnsternisse Die Nachrichten über Sonnen- und MondÀnsternisse sind zwar in den Annalen des Spätmittelalters durchaus zahlreich, doch wurden sie nur zum Teil mit anderen (negativen) Ereignissen in Beziehung gesetzt. Besonders betont wurde der Zusammenfall einer SonnenÀnsternis mit dem Erdbeben von 126762 in den ‚Annales Sancti Rudberti‘63 aus Salzburg sowie bei Gutolf von Heiligenkreuz.64 Eine Assoziation zu den Begleiterscheinungen beim Tod Jesu am Kreuz – SonnenÀnsternis und Erdbeben – lag damals wohl für viele Menschen nahe.65 Auch eine SonnenÀnsternis des Jahres 1321 – nur wenige Jahre nach der Serie von großen Überschwemmungen und Hungersnöten – wurde mit Unheil in der Natur in Verbindung gebracht: Das Getreide, das zuvor prächtig gewachsen war, gedieh nicht mehr weiter. Auch soll es sehr große Überschwemmungen gegeben haben, die großen Schaden auf den Feldern, in den Städten und Dörfern anrichteten. Wo diese schweren Überschwemmungen auftraten, verrät der Verfasser der ‚Chronica Aulae Regiae‘ nicht, doch wohl am ehesten in dessen Umkreis in Böhmen.66 Dieselbe, an solchen Erscheinungen besonders interessierte Quelle vermerkt auch eine fast totale SonnenÀnsternis zum Jahr 1330, die nach Meinung des Verfassers einen Ernteausfall

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Notae Veronenses ad a. 1348, ed. Cipolla, S. 475. Konrad von Megenberg: Buch der Natur 2, 33, ed. Pfeiffer, S. 107 f. Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 3, 26 ad a. 1348, ed. Zachová, S. 203. Vgl. zum Erdbeben von 1267 ausführlich Rohr: Naturereignisse, S. 120 f. Annales Sancti Rudberti Salisburgenses ad a. 1267, ed. Wattenbach, S. 797. Gutolf von Heiligenkreuz: Historia annorum ad a. 1267, ed. Wattenbach, S. 650 f. Weiter ist die SonnenÀnsternis, allerdings ohne Erwähnung des Erdbebens, in der Continuatio Zwetlensis III ad a. 1267, ed. Wattenbach, S. 656 erwähnt. Matthäus 27, 45 und 27, 51. Weiter ist die Verbindung von Erdbeben und SonnenÀnsternis bei Jesaja 24, 18; Job 9, 5 und Offenbarung 6, 12 bezeugt. Vgl. dazu Eisinger: Katastrophen-Eintragungen, S. 179. Chronica Aulae Regiae 2, 10 ad a. 1321, ed. Loserth, S. 414. Die SonnenÀnsternis ist auch in der Continuatio Mellicensis ad a. 1321, ed. Wattenbach, S. 511 sowie beim Anonymus Leobiensis: Chronicon ad a. 1321, ed. Zahn, S. 34 zum selben Datum bezeugt.

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beim Roggen zur Folge hatte.67 Eine weitere SonnenÀnsternis 1333 soll vor allem extreme Trockenheit im Sommer und Ernteausfälle gebracht haben.68 Mitten in der Zeit der großen Krisen, etwa während des Mongoleneinfalls in Europa (1241) und ein Jahrhundert danach in den 1340er Jahren, als die Heuschreckenplage von 1338–1341, die große Überschwemmung in Mittel- und Westeuropa 1342 sowie die verheerende Pestwelle wüteten, war die Sensibilität für kosmische Zeichen wie SonnenÀnsternisse besonders groß. Die in mehreren österreichischen Annalen überlieferte SonnenÀnsternis des Jahres 1241 ist zumeist gemeinsam mit Nachrichten über den Mongoleneinfall in Ungarn, aber auch mit Kämpfen zwischen Herzog Friedrich II. dem Streitbaren und dem König von Böhmen überliefert.69 Als im Jahr 1339 mitten während der großen, mehrjährigen Heuschreckenplage eine totale SonnenÀnsternis zu sehen war, brachte der Annalist im steirischen Zisterzienserstift Neuberg an der Mürz beide Ereignisse in einen festen Zusammenhang zueinander, ebenso auch den kalten Winter, der darauf folgte.70 Interessant ist auch seine Bemerkung zum Jahr 1344, wonach die Astronomen für dieses Jahr erneut eine SonnenÀnsternis und Unheil vorausgesagt hatten; die angekündigte Katastrophe fand allerdings nicht statt.71 Weiters wurden auch die SonnenÀnsternisse von 134872 und 134973 nicht nur mit der Pest, sondern auch mit Unwettern in Verbindung gebracht. Der Krainer Historiograph Johann Weichard von Valvasor berichtet in seiner 1689 erschienenen ‚Ehre des Herzogthums Krain‘, wohl aufbauend auf älteren Chroniken, dass im Jahr 1448 eine vollständige SonnenÀnsternis in Krain beobachtet worden sei. Diese wurde als Vorzeichen für Kriege gedeutet, die in den Jahren 67 68

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Chronica Aulae Regiae 2, 24 ad a. 1330, ed. Loserth, S. 473. Die Formulierung wird gekürzt bei Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 2, 20 ad a. 1330, ed. Zachová, S. 128 übernommen. Chronica Aulae Regiae 2, 33 ad a. 1333, ed. Loserth, S. 495. Die Nachricht Àndet sich auch bei Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 2, 24 ad a. 1333, ed. Zachová, S. 138 (wiederholt in 3, 12 ad a. 1339, ed. Zachová, S. 169). Ohne Bezug zu einer Trockenperiode bezeugt auch der Anonymus Leobiensis, Chronicon ad a. 1333, ed. Zahn, S. 39 dieselbe SonnenÀnsternis. Annales Frisacenses ad a. 1241, ed. Weiland, S. 65; Continuatio Zwetlensis III ad a. 1241, ed. Wattenbach, S. 655; Continuatio Sancrucensis II ad a. 1241, ed. Wattenbach, S. 639; Continuatio Admuntensis ad a. 1241, ed. Wattenbach, S. 593; Annales Sancti Rudberti Salisburgenses ad a. 1241, ed. Wattenbach, S. 787. Letzterer Bericht steht bezeichnender Weise zwischen dem zum Einfall der Tartaren (Mongolen) und dem zum Tod Papst Gregors IX. Zu weiteren Belegen zu dieser SonnenÀnsternis vgl. Draelants: Temps, S. 107 mit Anm. 75. Continuatio Novimontensis ad a. 1339, ed. Wattenbach, S. 672. Die SonnenÀnsternis bezeugen auch die Bozner Chronik zum Jahr 1339, ed. Masser-Vuketich, S. 86 sowie Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 3, 12 ad a. 1333, ed. Zachová, S. 169, allerdings ohne das Ereignis zu deuten. Continuatio Novimontensis ad a. 1344 (Codex N), ed. Wattenbach, S. 673. Die Nachricht Àndet sich wortwörtlich auch beim Anonymus Leobiensis, Chronicon ad a. 1344, ed. Zahn, S. 44. Vgl. zur Stelle auch Eisinger: Katastrophen-Eintragungen, S. 183. Kleine Klosterneuburger Chronik zum Jahr 1348, ed. Maschek, S. 289. Ibid. zum Jahr 1349, ed. Maschek, S. 289.

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danach das Herzogtum heimsuchten. Zudem wütete 1449 in der Steiermark, in Kärnten und in Krain die Pest.74 MondÀnsternisse treten deutlich häuÀger als SonnenÀnsternisse auf, doch wurde von ihnen in Annalen und Chroniken offenbar nicht regelmäßig berichtet. Zumeist wurden MondÀnsternisse erwähnt, wenn sie nach Ansicht des Autors in einem besonderen Zusammenhang mit unheilvollen Ereignissen standen; auch das Zusammenfallen von Sonnen- und MondÀnsternissen innerhalb kurzer Zeit erschien den Annalisten berichtenswert.75 Außerdem erregte es das Interesse der Annalisten, wenn eine MondÀnsternis mit besonderen Lichtverhältnissen, etwa einer Rötung des Mondes, in Verbindung stand.76 Zum Jahr 1262 berichtet die ‚Continuatio Sancrucensis II‘, dass es damals sogar zu zwei MondÀnsternissen gekommen sei, einer in der Fastenzeit sowie einer zweiten in der Nacht vom 30. auf den 31. August. Unmittelbar daran schließt die Nachricht an, dass es in Wien einen Brand gegeben habe, der fast die ganze Stadt verwüstet habe; auch viele andere Städte in Österreich und Mähren seien durch Brand – vermutlich im Zuge kriegerischer Ereignisse – vernichtet worden. Zudem seien die Getreidepreise, wohl durch eine Missernte und Krieg, stark angestiegen.77 Für den 24. Februar 1263 berichten dieselben Annalen erneut von einer MondÀnsternis sowie einer großen Hungersnot in ganz Österreich, Ungarn, Böhmen und Mähren, wie sie bis dahin noch kaum vorgekommen sei. Danach aber habe es eine ganz besonders ergiebige Weinlese gegeben.78 Die MondÀnsternis des Jahres 1309 brachte die ‚Continuatio Sancrucensis III‘ mit einem Adelsaufstand gegen Herzog Friedrich III. in Verbindung, der Rache für die Ermordung König Albrechts I. plante.79 Der Autor der ‚Chronica Aulae Regiae‘ aus Königssaal in Böhmen, der auch für zahlreiche SonnenÀnsternisse das passende Unheil zur Seite zu stellen vermochte, setzte die MondÀnsternis des Jahres 1335 mit dem darauf folgenden strengen, schneereichen Winter sowie einem kühlen, regnerischen Sommer (1336) in Verbindung.80

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Valvasor: Ehre, Bd. 4, S. 352. Belegstellen bei Rohr: Naturereignisse, S. 533 Anm. 84. Vgl. etwa Annales Gotwicenses ad a. 1222, ed. Wattenbach, S. 603. Vgl. zur Stelle auch Draelants: Temps, S. 106 mit parallelen Quellen zu diesem Ereignis aus Deutschland. Continuatio Sancrucensis II ad a. 1262 (Codex 4), ed. Wattenbach, S. 645. Die Nachricht wird fast wortwörtlich beim Anonymus Leobiensis, Chronicon ad a. 1262, ed. Zahn, S. 15 übernommen. Continuatio Sancrucensis II ad a. 1263, ed. Wattenbach, S. 645. Die Nachricht wird fast wortwörtlich beim Anonymus Leobiensis, Chronicon ad a. 1263, ed. Zahn, S. 15 übernommen. Continuatio Sancrucensis III ad a. 1309, ed. Wattenbach, S. 734. Chronica Aulae Regiae 3, 10 ad a. 1335, ed. Loserth, S. 521. Ähnlich verbindet Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae), 2, 17 ad a. 1328, ed. Zachová, S. 120 eine MondÀnsternis mit vier Wochen anhaltenden Stürmen und zahlreichen Toten durch eine Seuche.

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Die Hochblüte der Prodigienliteratur um 1500 Die Astrologie erlebte im Mittelalter vor allem in Spanien – im Kreuzungsbereich von christlichem, muslimischem und jüdisch-sephardischem Denken – eine Blüte. Aus diesem Kulturkreis stammt auch der so genannte Toledobrief, eine Prophezeiung des Johann von Toledo zum September 1186, die der Astrologe im Jahr davor an zahlreiche Adressaten in ganz Europa verschickt hatte. Darin wird vorausgesagt, dass durch das Zusammentreffen aller Planeten im Sternbild der Waage ein Erdbeben die Welt erschüttern würde; eine Sonnen- und MondÀnsternis würde die eigentliche Katastrophe einleiten, Winde fast alle Häuser zerstören, Hunger und Tod auf das nahe Kommen des Antichrists hindeuten. Den Menschen werde daher empfohlen, ihre Wohnstätten zu verlassen.81 Der Brief erschien in lateinischer Fassung zum ersten Mal vermutlich 1179, doch baut er auf zahlreichen Prophezeiungen auf, die zu dieser Zeit im christlicharabisch-jüdischen Kontaktbereich kursierten und bis nach Byzanz bekannt waren. Der Toledobrief wurde in den Jahrhunderten danach mit gleichem oder ähnlichem Inhalt, aber veränderten Jahreszahlen, immer wieder neu „aufgelegt“, obwohl – oder gerade weil – die große Katastrophe 1186 ausblieb.82 Auch im heutigen Österreich kursierten spätere Fassungen des Toledobriefs: Im berühmten ‚Liber fundationum‘ des Stifts Zwettl, der so genannten „Bärenhaut“ aus der Zeit um 1327/1328, ist auf dem vorletzten Blatt eine Version des Toledobriefs aus dem Jahr 1322 mit einer Katastrophenprophezeiung für das Jahr 1329 eingetragen. Dieselbe Fassung wurde als Nachtrag in das Görzer Urbar eingetragen, das 1299 von Graf Albert II. von Görz-Tirol in Auftrag gegeben worden war.83 Auch in der Bibliothek des Benediktinerstifts Kremsmünster war der Toledobrief zum Jahr 1329 zweifach vorhanden.84 Sehr ausführlich geht auch Franz von Prag in seiner Chronik auf die Prophezeiungen für 1329 ein: eine SintÁut werde kommen, Winde würden Häuser und Bäume niederstürzen; eine SonnenÀnsternis, bei der sich die Scheibe blutrot färbe, und eine MondÀnsternis würden folgen und Kriege ankündigen.85 Um die Mitte des 15. Jahrhunderts erlebten apokalyptische Prophezeiungen im Gefolge des Toledobriefs eine neue Hochkonjunktur. So sagte Regiomontanus (Johannes Müller, 1436–1476) für das Jahr 1454 eine biblische SintÁut voraus. Drei 81 82

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In Straßburg löste der Brief eine regelrechte Panik aus: Bischof Heinrich Áoh aus der Stadt. Zahlreiche Bewohner verließen ebenfalls Straßburg und wohnten aus Angst zum Teil für Jahre auf den umliegenden Feldern oder in Erdhütten. Vgl. Sfountouris: Kometen, S. 33. Zum so genannten Toledobrief und seiner Nachwirkung vgl. ausführlich Weltecke: Konjunktion, besonders S. 209–214 mit einer Zusammenstellung der frühen Quellen zum Toledobrief; Mentgen: Astrologie, S. 17–135 mit einer umfassenden Abhandlung zur Nachwirkung des Toledobriefs im 13. bis 15. Jahrhundert in ganz Europa. Vgl. im Detail Mentgen: Astrologie, S. 58 f. Kremsmünster, Stiftsbibliothek: CC 273, fol. 44rv sowie Kremsmünster, Stiftsbibliothek: CC 18, fol. 246v. Vgl. dazu Mentgen: Astrologie, S. 60 f. mit Anm. 195 und 197. Franz von Prag: Chronica (Continuatio chronicae Aulae Regiae) 2, 18 ad a. 1329, ed. Zachová, S. 124.

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Jahrzehnte später, 1484 nahm der Hofastrologe Friedrichs III., Johannes Lichtenberger,86 eine Konjunktion von Jupiter, Saturn und Mars im Zeichen des Skorpions zum Anlass, um daraus das Herannahen einer großen Seuche zu prophezeien. Da das Sternbild des Skorpions nach der Meinung der zeitgenössischen Astrologie die Geschlechtsteile beherrsche, bezog man im Nachhinein das Auftreten der „Franzosenkrankheit“ (Syphilis) ab 1493 auf diese Weissagung – wohl auch, weil lange unerkannt blieb, dass sich diese Krankheit durch Sexualkontakte übertrug.87 1499 publizierte der Tübinger Mathematiker und Astronom Johann StoefÁer eine erneute Prophezeiung umwälzender Geschehnisse (‚mutatio, variatio ac alteratio‘), da sich im Februar dieses Jahres nicht weniger als 20 kleine, mittlere und größere Konjunktionen ergeben würden.88 Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, d. h. seit der Tätigkeit Johannes Lichtenbergers, nahm die Rolle der Astrologen am Hof Friedrichs III. und Maximilians I. merklich zu.89 Sie hatten die Aufgabe, auf Prodigien (Vorzeichen) jeder Art zu achten und auf der Basis dieser ihre Prognosen über die politische und persönliche Zukunft des Herrschers zu stellen. So wurde etwa der Tod Friedrichs III. am 19. August 1493 in Linz unter dem Blickwinkel zahlreicher Wunderzeichen gesehen, die den Tod des Herrschers ankündigten: ein Komet wurde beobachtet, ein Meteor Àel vom Himmel,90 das Linzer Schloss stand vom Blitz getroffen in Flammen, ein Straußenvogel lag mit gebrochenem Genick im Schlossgraben und tote Vögel auf der Zugbrücke zum Linzer Schloss. Freilich sah Kaiser Friedrich III. selbst nach dem Bericht des Hofastrologen Joseph Grünpeck (um 1473–1532) darin nur „tückische Scherze der Natur“ (‚quotidiana nature ludibria‘).91 Berühmt wurde auch die Federzeichnung zu diesen Vorzeichen in Joseph Grünpecks „Historia Friderici III. et Maximiliani I.“,92 die den Titel ‚De prodigiis et ostentis que mortem Friderici imperatoris precesserunt‘ (in der deutschen Fassung „Wunderzeichen kündigen Kaiser Friedrichs Tod an“) trägt. Friedrichs Sohn, Kaiser Maximilian I., hatte ganz offensichtlich Probleme mit der Aussage, dass die Wunderzeichen tatsächlich den Tod Friedrichs III. angekündigt hätten. Er strich 86 87 88 89 90

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Zu Johannes Lichtenberger vgl. im Überblick zuletzt Mentgen: Astrologie, S. 227–235. Zu der seit dem Ende des 15. Jahrhunderts intensiv diskutierte Frage nach den Ursachen der „Franzosenkrankheit“ vgl. ausführlich Walter: Syphilis. Zu den Prophezeiungen in der zweiten Hälfte des 15. und ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. im Detail Fried: Aufstieg, S. 171–175. Vgl. dazu im Detail Mentgen: Astrologie, S. 235–248. Gemeint ist der Kometeneinschlag von Ensisheim im Sundgau am 7. November 1492. Zu diesem Kometeneinschlag vgl. auch Diebold Schilling: Schweizer Bilderchronik zum Jahr 1492 (Luzern, Zentralbibliothek: S 23 fol., fol. 157r), dort mit einer Illustration zum Ereignis. Für eine Farbtafel dazu vgl. Schmid: Bilderchronik, Farbtafel zu fol. 157r. Joseph Grünpeck: Historia Friderici III. et Maximiliani I., ed. Chmel, S. 76. 12. Zu diesem „hausgeschichtlichen Lehrbuch“ für den späteren Kaiser Karl V. vgl. Wacha: Wetterchronik, S. 16; Lipburger: De prodigiis, S. 136; Mentgen: Astrologie, S. 236–238. Zu Joseph Grünpeck und zu seiner 1516 fertig gestellten ‚Historia Friderici et Maximiliani I.‘ vgl. ausführlich Benesch und Auer: Historia, S. 14–27. Das Werk gehört zum großen gedechtnus-Projekt Maximilians. Vgl. dazu Müller: Gedechtnus; Rohr: Naturereignisse, S. 88.

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daher die Federzeichnung in Grünpecks ‚Historia‘ eigenhändig durch und vermerkte dazu: „Fridrich Nyt“.93 Ebenso war Maximilian I. von den bei Grünpeck notierten Wunderzeichen bei seinem eigenen Regierungsantritt so sehr irritiert, dass er auch die Zeichnung dazu selbst durchstrich: Vom Himmel fallen zahlreiche Steine, Schwerter und drei Kreuzesnägel über einer Lanze mit dem Schwamm von der Kreuzigung Christi (in der Mitte). In der linken oberen Ecke sind auf einer Wolke zwei kämpfende Turnierreiter vor zwei wilden Männern zu sehen, die eine Mondsichel in Händen halten. Die Darstellung bekommt – aus der Sicht der zeitgenössischen Astrologie – dennoch einen positiven Charakter, weil über allem eine Sonne als Zeichen des heiteren Himmels und des Tages scheint.94 Kometen und SonnenÀnsternisse spielten auch im 16. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Chronistik. Mehr noch als zuvor wurden sie mit Krieg, Missernten und extremen Naturereignissen in Beziehung gesetzt. Allerdings ist gerade bei den Nachrichten aus barocken Chroniken des 17. und 18. Jahrhundert, die rückblickend über die beginnende Neuzeit berichten, nicht immer klar zu unterscheiden, ob die Autoren Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ihrer Quellen wiedergaben oder eher ihre eigene Sicht der Dinge. Die Kometenerscheinung des Jahres 153195 und das Auftreten eines Meteors im Januar 1532 waren für Martin Luther Zeichen eines nahen Weltuntergangs. Er widersprach damit den zeitgenössischen Astrologen, die diesen erst deutlich später ansetzten.96 Auch der Arzt und Gelehrte Paracelsus beobachtete den Kometen ‚im hochbirg‘ – im Raum St. Gallen97 – und verfasste darüber einen kleinen Traktat, in dem er die Meinung vertrat, dass zum Kometen zwei Auslegungen anzuwenden seien: Zum einen führte er das Erscheinen von Kometen auf eine Konjunktion von Skorpion und Saturn zurück, zum anderen deutete er den Kometen als Vorzeichen für Pest, Hunger und Not.98 Zum Jahr 1531 berichtet auch – aus der Distanz von knapp 100 Jahren – der Steyrer Chronist Valentin Preuenhueber über Kometenerscheinungen, die sich noch in die beiden darauf folgenden Jahre zogen. Sie waren nach der Ansicht des Autors verantwortlich für eine große Hungersnot im Heiligen Römischen Reich, die auch Teile Oberösterreichs erfassten, wie aus einem Bericht des Kämmerers des Stifts Kremsmünster hervorgehe. Die Bauern hätten Brot aus Leinsamen (‚haarbollen‘)99 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. dazu Benesch und Auer: Historia, S. 119 mit Abb. 12; Zelfel: Ableben, S. 78–80; Rohr: Naturereignisse, S. 541 mit Tafel 15. Vgl. dazu die detaillierte Bildbeschreibung bei Benesch und Auer: Historia, S. 127 f. mit Abb. 46; Rohr: Naturereignisse, S. 541 mit Tafel 16. Es handelt sich um ein Erscheinen des Halley’schen Kometen. Vgl. Sfountouris: Kometen, S. 14 f. und 180. Luther: Tischreden, Bd. 2, Ab. 2756a, S. 636. Vgl. Gamper: Paracelsus. Paracelsus: Vßlegung des Cometen, besonders S. 41–43. Vgl. dazu Sfountouris: Kometen, S. 14 f. sowie zuletzt ausführlich Holenstein Weidmann: Prophetie. Nach Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Sp. 25 sind unter haarbollen Flachsknoten zu verstehen.

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und Eicheln gebacken. Die Stadt Steyr dürfte aber offensichtlich von einer derart schweren Versorgungskrise verschont geblieben sein.100 Ein europaweites mediales Großereignis stellten die SintÁutprophezeiungen zum Jahr 1524 dar. Ausgehend von den oben erwähnten Weissagungen des Toledobriefs und von Johann StoefÁer aus dem Jahr 1499 entstand in astrologischen Kreisen eine intensive Diskussion darüber, ob es aufgrund von nicht weniger als 16 Planetenkonjunktionen im Zeichen der Fische 1524 zu einem Extremereignis kommen werde, und wenn ja zu welchem.101 So vermutete der brandenburgische Hofastrologe Johann Carion 1521, dass eine große SintÁut (‚diluvium‘) herannahen werde, die das Ende der Welt einleite.102 Mehr als 150 Druckschriften von insgesamt 59 Autoren, verfasst in zahlreichen Sprachen, entstanden in den Jahren zwischen 1517 und 1525 zur Vorhersage über das Jahr 1524.103 Sie stimmten der Prognose zu, lehnten sie ab, deuteten sie oder beschwichtigten die Leserschaft. Selbst der junge Karl V. soll sich vom Philosophen Augustinus Niphus 1519 eine Stellungnahme eingeholt haben, die beschwichtigend ausÀel.104 Zahlreiche Menschen begannen dennoch mit Vorkehrungsmaßnahmen, bestiegen Berge oder bauten Archen.105 Als dann schließlich im Februar 1524 keine SintÁut hereinbrach und sich auch sonst das gesamte Jahr nicht durch starke Regenfälle, sondern im Gegenteil durch Dürre auszeichnete, herrschte nicht nur in den astrologischen Kreisen Ratlosigkeit, ja das gesamte Ansehen der damals so populären Astrologie stand auf dem Prüfstand. Zahlreiche Gegner astrologischer Deutungen sahen sich in ihrer Skepsis bestätigt und sparten nicht mit Polemiken. So meinte etwa Martin Luther, ein entschiedener Gegner der Astrologie: „Nichts könnte mich überreden, […] dass ich den Divinationen der Astrologie Glauben schenkte, die so häuÀg irren, dass nichts ungewisser ist (als sie).“106 Parodien über die Astrologie und ihre Prophezeiungen hatten nicht erst nach der nicht eingetretenen SintÁut von 1524 Hochkonjunktur.107 Einen neuen Höhepunkt des Interesses erreichten Kometen schließlich im konfessionspolemischen Diskurs anlässlich des Winterkometen 1618/1619, dessen Erscheinen mit der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges zusammenÀel. Zahlreiche gedruckte Predigten kommentierten das Ereignis, wobei die Deutung als Zeichen des Gotteszorns und des bevorstehenden Weltenendes dominierte. 108 100 Preuenhueber: Annales Styrenses, S. 247. 101 Vgl. zu dieser Diskussion ausführlich Mentgen: Astrologie, S. 123–127 und S. 135–155; Wimböck: In den Sternen. 102 Carion: Prognosticatio. 103 Vgl. dazu ausführlich Talkenberger: SintÁut, S. 154–325 sowie zuletzt Wimböck: In den Sternen. 104 Niphus: De falsa diluvii prognosticatione. Zur Deutung, dass Niphus die Schrift Karl V. nicht nur gewidmet, sondern auch auf dessen Anfrage verfasst habe, weil er über die SintÁut-Prophezeiung erschrocken war, vgl. Fried: Aufstieg, S. 175. Dagegen wendet Mentgen: Astrologie, S. 138 mit Anm. 572 ein, dass es für dieses Verhalten Karls keinen unmittelbaren Beweis gebe. 105 Fried: Aufstieg, S. 175. 106 Luther: Tischreden; zitiert nach Fried: Aufstieg, S. 176. 107 Vgl. zu den Parodien auf astrologische Schriften im Detail PÀster: Parodien. 108 Vgl. dazu jetzt ausführlich Gindhart: Kometenjahr.

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1503 beobachtete der Welser Pfarrer Lorenz Mittenauer, dass blutige Zeichen in verschiedenen Formen aus den Wolken Àelen. Was sie bedeuteten, davon habe er von den Gelehrten nichts gehört.109 Für dasselbe Jahr bezeugt Franz Schweyger in seiner Chronik der Stadt Hall in Tirol, dass Kreuze in mehreren Farben vom Himmel auf die Erde gefallen seien und sich auf der Kleidung der Menschen niederließen. Daher habe man in Hall mit den herabgefallenen Kreuzen eine Prozession abgehalten, bei der die Menschen mit brennenden Kerzen und barfuß durch die Stadt zogen.110 Aus der Sicht der Menschen in vormoderner Zeit wurde auch der Blutregen als Unheil bringendes kosmisches Zeichen angesehen. Dass es sich dabei um ein natürliches Phänomen handelt – um mit Regen vermischten roten Sand, der bei extremen Tiefdrucklagen im Mittelmeerraum aus der Sahara bis nach Mitteleuropa verweht werden kann –, wussten die Menschen damals noch nicht. Neben der großen räumlichen Distanz zum „Ursprung“ dieses Phänomens war es vor allem auch das seltene Auftreten des mit Sand versetzten Regens, der eine Deutung als Wunderzeichen nahe legte. Im Mittelalter wurde dem Phänomen des „Blutregens“ keine besonders große Aufmerksamkeit geschenkt. So wurden europaweit im 13. bis 15. Jahrhundert gerade zwischen sechs und acht derartige Ereignisse pro Jahrhundert registriert.111 Im ‚Buch der Natur‘ Konrads von Megenberg wird das Wunderzeichen zudem sehr „rational“ erklärt: Durch Brände sei viel Rauch in die Atmosphäre gelangt und habe sich dort mit der feuchten Luft verbunden, so dass sich das Regenwasser rot färbe.112 Berücksichtigt man die weite Verbreitung dieser Naturgeschichte auch im lesekundigen Publikum der Städte und Dörfer, so kann davon ausgegangen werden, dass sich viele Menschen keine Sorgen machten, dieses eigenartige Naturphänomen könne als Vorzeichen für Unheil zu deuten sein. Mit dem frühen 16. Jahrhundert änderte sich die Wahrnehmung des „Blutregens“ jedoch signiÀkant. Es war das humanistische Italien, das „auf dem Feld des ‚Aberglaubens‘ die Vorhut“113 bildete. Plötzlich tauchten derartige Phänomene vermehrt in Prodigiensammlungen auf, gemeinsam mit Kometen, Sonnen- und MondÀnsternissen, weiteren Himmelszeichen oder Missgeburten. Derartige Kompilationen fanden im 16. Jahrhundert in gedruckter Form reißenden Absatz. Sie befriedigten zum einen die Sensationslust der Leserschaft, doch bildeten sie zum anderen auch einen Àxen Bestandteil im Rahmen der Ermahnungen zu Umkehr und 109 Lorenz Mittenauer, Chronica ad a. 1503, ed. Schiffmann, S. 263 f. Vgl. zu dieser Stelle auch Schiffmann: Aufzeichnungen, S. 263 f.; Wacha: Wetterchronik, S. 11. 110 Franz Schweyger, Chronik der Stadt Hall zum Jahr 1503, ed. Schönherr, S. 71. In der Bozner Chronik zum Jahr 1501 (Handschrift E), ed. Masser-Vuketich, S. 304 ist das Herabregnen von kleinen Kreuzen schon für das Jahr 1501 bezeugt. 111 Sperl: Blutregen, S. 60. 112 Konrad von Megenberg, Buch der Natur 2, 16, ed. Pfeiffer, S. 82. Zu noch früheren „rationalen“ Erklärungen für das Phänomen des „Blutregens“ aus dem Kloster Coggeshall (Essex) und bei Wilhelm von Conches vgl. Wegmann: Entdeckung, S. 290–292; Wegmann: Naturwahrnehmung, S. 112–114. 113 Sperl: Blutregen, S. 60.

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Buße, nicht nur seitens der katholischen und später auch reformierten Geistlichkeit, sondern auch seitens der Astrologen. Es war vor allem auch Martin Luther selbst, der mit seinem eschatologischen Gedankengut diese Entwicklung hin zur StrafeGottes-Deutung von Wunderzeichen in der Natur mittrug.114 Mit dem Sündenfall Adams sei auch die ganze Natur durch Gottes Fluch ins Verderben gezogen worden – Grund genug, vor der Natur Angst zu haben.115 Damit wandelte sich auch die Deutung des „Blutregens“ allmählich vom natürlichen Wunderzeichen hin zum Ausdruck des Zornes Gottes, denn die Assoziation zu Blut lag aufgrund der Farbe des Regens nahe. Für das 16. Jahrhundert sind 90 Fälle von „Blutregen“, für das 17. Jahrhundert 100 Fälle belegt. Dieser signiÀkante Anstieg ist weder durch die dichtere Quellenlage noch durch klimatische Veränderungen ausreichend erklärbar, sondern ist in erster Linie auf eine Sensibilisierung für außergewöhnliche Naturerscheinungen zurückzuführen. Wie Alexander Sperl zeigen konnte, war die Wahrnehmung von „Blutregen“ in den protestantischen Ländern ungleich höher als in den katholischen. Von den 190 dokumentierten Fällen entfallen allein 67 Prozent auf die protestantischen Kernländer Sachsen und Württemberg sowie deren angrenzende Regionen, während in den überwiegend katholischen Ländern Europas gerade 22 Prozent der Fälle dokumentiert sind.116 Nur zwei Fälle sind aus Ober- und Niederösterreich bekannt, zwei weitere aus Kärnten.117 Dies deckt sich etwa auch mit dem Eindruck, dass SintÁutAssoziationen bei schweren Überschwemmungen deutlich häuÀger in protestantischen Ländern auftraten als in katholischen.118 Neben den reinen Prodigiensammlungen entstanden im Laufe des 16. Jahrhunderts auch mehrere Nachrichtensammlungen, in denen vornehmlich Flugschriften zusammengetragen und auf diese Weise zu den „bürgerlichen Chroniken“ in einer Zeit der Buchdrucks wurden. Eine der umfangreichsten Sammlungen geht auf den Zürcher Bürger Johann Jakob Wick zurück, die Flugschriften aus der Zeit zwischen 1560 und 1587 enthält. Darin Ànden sich auch zahlreiche Nachrichten zu außergewöhnlichen kosmischen Zeichen, etwa „Blutregen“, Kometen oder Kreuzen am Himmel. Die meisten Flugblätter beziehen sich auf (angebliche) Ereignisse in der Schweiz und am Oberrhein, wenige auf den Ostalpenraum. Eine Ausnahme bildet dabei ein illustriertes Flugblatt aus Wien: Demnach sei damals am Himmel ein geharnischter Mann mit einem Schwert zu sehen gewesen. Dabei habe es gehagelt, gestürmt und geregnet, ja auch Feuer soll vom Himmel gefallen sein. Die Men114 Zur Rolle Martin Luthers für eine veränderte theologische Deutung der Natur vgl. Rohr: Naturereignisse, S. 63 f. 115 Vgl. in diesem Sinne Sperl: Blutregen, S. 61 f.; Kempe: Flammen, S. 163 f. 116 Zahlreiche Blutregenfälle Ànden sich beispielsweise bei Lycosthenes: Prodigiorum ac ostentorum chronicon, einer 1557 gedruckten Prodigiensammlung aus Basel. 117 Sperl: Blutregen, S. 69 mit Tab. 2–4. 118 Zur Verwendung und Verbreitung des Begriffs diluvium für schwere Fluten vgl. Rohr: Naturereignisse, S. 391–394 sowie Rohr: Writing a Catastrophe, S. 89–92. Nach Niccoli: Prophecy, S. 143 f. habe sich der diluvium-Begriff erst während des späten 15. Jahrhunderts im Zusammenhang mit schweren Überschwemmungen infolge der Abholzung des Apennins von Italien nach Mitteleuropa verbreitet. Vgl. dazu ablehnend Mentgen: Astrologie, S. 147 f.

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schen glaubten, dass der Jüngste Tag nahe sei und Àngen auf Anordnung von Kaiser Ferdinand I. zu beten an. Einen Monat später habe man aus einer Wolke eine geharnischte Hand mit einem feurigen Schwert ragen gesehen. Die Bedeutung des Zeichens blieb den Menschen aber unklar; im Jahr darauf folgte in Österreich eine Pestepidemie.119 Zusammenfassung Kometen, Sonnen- und MondÀnsternisse sowie weitere astronomische Zeichen wurden in erster Linie in Krisenzeiten beobachtet.120 Die Sensibilität für die Wahrnehmung derartiger Vorzeichen des Unheils steht somit in einem direkten Zusammenhang mit den extremen Naturereignissen, Seuchen und Hungersnöten dieser Zeiten. Aus der Sicht der Menschen historischer Gesellschaften war der Prodigiencharakter von astronomischen Erscheinungen somit evident. Wie viele astronomische Besonderheiten in den Normalzeiten hingegen nicht registriert, ja ‚übersehen‘ wurden, lässt sich aus heutiger Sicht nur schwer rekonstruieren. Der Umgang mit astronomischen Erscheinungen im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit folgte zwei zum Teil divergierenden Traditionen: Zum einen baute das Gedankengut auf der Erwähnung von kosmischen Zeichen in der Bibel auf. Vom Himmel fallende Sterne (Kometen und Meteoriten), SonnenÀnsternisse oder Verfärbungen der Sonne und des Mondes gehörten dabei zu den apokalyptischen Vorzeichen und boten daher häuÀg Anlass für das Aufkommen von Endzeitstimmungen. Zum anderen aber spielte bei der Beurteilung von kosmischen Zeichen die astrologische Tradition aus der Antike mit ihrer starken Fixierung auf einen Prodigien-Glauben eine große Rolle. Über Enzyklopädisten wie Isidor von Sevilla und Beda Venerabilis erreichte sie im Mittelalter weite Verbreitung. Dazu kam eine auf antiken Wurzeln basierende Astrologie im jüdischen und arabischen Kulturkreis, die vor allem über die Kontaktzonen in Spanien Eingang in die abendländischen Gelehrtenkreise fand. Als typisches Beispiel dafür ist etwa der Toledobrief mit Katastrophenprophezeiungen für das Jahr 1186 zu sehen, der in redigierter Form immer wieder neu adaptiert wurde. Die Quellen des Hoch- und Spätmittelalters vermitteln das Bild, dass besonders Kometen, bestimmte Planetenkonjunktionen – vor allem Saturn, Mars und Jupiter – sowie Sonnen- und MondÀnsternisse als Vorzeichen für drohendes Unheil, etwa das Auftreten von Krieg, Seuchen, Hunger, aber auch Überschwemmungen, Erdbeben und Dürre angesehen wurden. Dieses Deutungsmuster wurde aber nicht lückenlos gehandhabt: Die Zeichen konnten auch Glück bringen, etwa über den „Umweg“, dass das angekündigte Unglück den Feind treffen würde. Regelrechte Weltuntergangsszenarien wurden aber aus kosmischen Erscheinungen in der Regel nicht 119 Zürich, Zentralbibliothek, Handschriftensammlung: Ms. F 12, fol. 80r: Vgl. dazu Senn: Wickiana, S. 46; Rohr: Naturereignisse, S. 538 mit Tafel 14. Bei Harms und Schilling: Flugblätter, Bd. VI, 1 fehlt das Flugblatt. 120 Vgl. in diesem Sinn schon Eisinger: Katastrophen-Eintragungen, S. 342.

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abgeleitet, ja selbst Phänomene wie der „Blutregen“ wurden im ausgehenden Mittelalter oft naturkundlich gedeutet und fanden daher nur zum Teil Aufnahme in die schriftliche Überlieferung. Im Laufe des 15. Jahrhunderts ist in der Rezeption von Himmelserscheinungen ein klarer Paradigmenwechsel zu erkennen: Ausgehend vom stark ausgeprägten Prodigienglauben im italienischen Humanismus erlangte die Astrologie an mehreren Fürstenhöfen eine entscheidende Rolle. Gerade die Habsburger Friedrich III. und Maximilian I. förderten die Astrologie maßgeblich, auch wenn sie mit deren Aussagen, wie etwa das Beispiel der Vorzeichen zum Tod Friedrichs III. zeigt, ihre Probleme hatten. Um 1500 kam es außerdem zu einer Renaissance der ToledobriefTradition, indem diese Prophezeiungen auf eine angeblich bevorstehende SintÁut im Februar 1524 bezogen wurden. Der SintÁut-Diskurs der Jahre 1517–1525, der auf dem Weg des Flugblatts in ganz Europa geführt wurde, zeigt auf, dass damals Befürworter der Astrologie und entschiedene Gegner sich die Waage hielten. Als trotz der vorhergesagten Planetenkonjunktion das Jahr 1524 ohne SintÁut blieb, ja sogar ausgesprochen trocken war, wurden der Nutzen und die Zuverlässigkeit der Astrologie an sich in Frage gestellt. Allerdings änderte sich in diesem Diskurs allgemein auch die Einstellung zur biblischen SintÁut (‚diluvium‘), deren erneutes Kommen gerade in protestantischen und reformierten Kreisen für das 16. Jahrhundert erwartet wurde. Der EinÁuss der Sterne auf die irdischen Geschehnisse stand aber wohl für die meisten Menschen unzweifelhaft fest. Eine besondere Sternenkonstellation, eine Störung des „gewohnten“ Himmels durch Kometen wurde daher zum disaster, zu einer Störung des kosmischen Gleichgewichts und aufgrund der Auswirkungen auf die Erde häuÀg zur Katastrophe. Quellen Druckwerke nach 1600 sind im Literaturverzeichnis erfasst. Albertus Magnus: Meteora, hg. von Paul Hossfeld, Münster 2003 (Alberti Magni Opera Omnia 6/1). Andreas von Regensburg: Chronica pontiÀcum et imperatorum Romanorum, hg. von Georg Leidinger, München 1903, Nachdruck Aalen 1969 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge 1), S. 1–158. Wiener Annalen 1348–1404, hg. von Joseph Seemüller, Hannover und Leipzig 1909, Nachdruck München 1980 (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken 6), S. 231–242. Annales Frisacenses a. 1217–1300, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1879 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 24), S. 65–67. Annales Gotwicenses a. 1068–1230, hg. von Wilhelm Wattenbach, Hannover 1851, Nachdruck 1963 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 9), S. 600–604. Annales Sancti Rudberti Salisburgenses a. 1–1286, hg. von Wilhelm Wattenbach, Hannover 1851, Nachdruck 1963 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 9), S. 758–810. Anonymus Leobiensis, Chronicon, hg. von Joseph Zahn, Graz 1865. Georg Aunpeck von Peuerbach: Iudicium super cometa, qui anno Domini 1456 per totum fere mensem Iunii apparuit, hg. von Alphons Lhotsky und Konradin Ferrari d’Occhieppo, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 68 (1960) S. 271–276.

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Christian Rohr

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„KRISENKOMMUNIKATION“. MODELLBILDUNG UND DAS EMPIRISCHE BEISPIEL DER TEUERUNGSKRISEN 1770/72, 1816/18, 1845/46 IM SÜDWESTDEUTSCHEN RAUM Clemens Zimmermann Sowohl der Verlauf von Krisen wie deren Interpretation und Wahrnehmung wird entscheidend durch Kommunikation konstituiert. Obwohl nicht verkannt werden soll, dass es reale, funktional zu begreifende Krisenursachen gibt, in denen nonintentionale, auf mehreren Ebenen erkennbare Kausalelemente zusammenwirken1, werden die in Krisen auftretenden Kognitionen, wirksamen Strategien und politischen Instrumente entscheidend durch kommunikative Akte beeinÁusst. Diese entfalten ihre eigene Dynamik, ordnen sich nicht unbedingt einem rationalen Modell unter. Bei Krisenkommunikation passiert ständig Unvorhersehbares, entsteht weitere Unsicherheit, Kontingenz. Wenn man von diesen Prämissen ausgeht, sind zwei Typen von „Krisenkommunikation“ zu erkennen: Beim ersten Typ handelt es sich um die intentionalen Versuche einzelner politischer und wirtschaftlicher Akteure, krisenhafte Abläufe zu beeinÁussen und zu steuern, um strategische Vorteile zu erlangen und um eine hergebrachte Ordnung wieder herzustellen. Heutige explizite Modelle zur „Krisenkommunikation“ als Managementproblem Ànden sich im Bereich der Betriebswirtschaftslehre und der Unternehmensforschung.2 Hier geht es um die Chancen, über intentionale Strategien die Wahrnehmung von Krisen durch dritte Personen und Gruppen zu beeinÁussen und Deutungshoheit in größeren und medialisierten Öffentlichkeiten zu gewinnen. Beim zweiten Typ handelt es sich um komplexe Kommunikationsensembles, in deren Rahmen verschiedene Akteure zur Krisenkommunikation beitragen, und deren Kognitionen, Medien, Durchschlagskraft oder Reichweite die Abläufe der Krisen jeweils bestimmen. Beide Typen interaktiver Krisenkommunikation sollen hier am Beispiel von Teuerungskrisen des 18. und 19. Jahrhunderts erläutert werden. Für diese Zeit ist von einem wachsenden Medialisierungsprozess auszugehen, wie er sich am Beispiel einer europaweit wahrgenommenen Katastrophe, des Erdbebens von Lissabon 1

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Zu denken wäre hier etwa an Klimakatastrophen mit gravierenden Auswirkungen auf gesellschaftliche Sinnstiftung und Reproduktion, Absatzeinbrüche und dramatische Kaufkraftverluste, politisch bedingte Eingriffe wie Krieg, Besatzungsherrschaft und Terrorismus oder Bankenzusammenbrüche. Nolting und Tießen: Krisenmanagement; Rother: Krisenkommunikation; Schulz: Management.

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1755, darstellt. Ebenso zeigt sich in diesem Zusammenhang das mediale Potenzial, Ereignisse zu konstruieren.3 Neuere Studien zur Moderne belegen, wie eine überhitzte mediale Berichterstattung Schlagworte politischer Führung aufgreift und Bereitschaft zur gewaltsamen Krisenintervention in größeren Öffentlichkeiten steigert. Auch für die hier beschriebenen Krisen ist bereits von einer interaktiven Beziehung von Medien, örtlich dimensionierten Öffentlichkeiten und politischen Diskursen auszugehen.4 Im Folgenden soll nach einer Klärung der Begriffe „Krise“ und „Kommunikation“ und einer kurzen Diskussion bisheriger Forschungsansätze das empirische Beispiel der Subsistenzkrisen 1770/72, 1816/18 und 1845/46 behandelt werden. Anknüpfend an Studien zur heutigen Krisenkommunikation erweist es sich als Forschungsaufgabe, verschiedene Handlungsebenen der Akteure und Kommunikationsprobleme zwischen diesen Ebenen zu berücksichtigen. Ebenso sollen die Vorstellungen der Akteure über den Krisenzustand rekonstruiert werden. Die EfÀzienz des Austauschs von Botschaften zur Bewältigung von Krisen ist außerdem durch die technische EfÀzienz der verwendeten Kommunikationskanäle und Übermittlungswege sowie durch die Verkettung von Akteuren und die krisenverschärfende oder -abschwächende Bedeutung von Medien bestimmt. Hierbei begünstigte der Netzwerkcharakter5 der Kommunikation gemeinsame Erlebnis- und Verhaltensweisen und die nötige Übereinkunft über die DeÀnition dessen, was die Krise ausmachte.6 Dies gilt vor allem für die Frage, ob man personalisierend nach „Schuldigen“ suchte oder ob man „systemischen“ Wirkungszusammenhängen die Genese einer Krise zuschrieb. Beides beeinÁusste dann auch die Übereinkunft über geeignete Instrumente der Krisenbewältigung entscheidend. Grundsätzlich gilt: Hat man „Schuldige“ im Zusammenhang einer Verschwörungs- oder Konspirationstheorie und eines tradierten, immer wieder aktualisierten Feindbildes7 gefunden,8 so wird man diese konkrete soziale Gruppe bekämpfen. Diese IdentiÀzierung von „Wucherern“ und „Spekulanten“ hatte beim historischen Beispiel, wenig überraschend, antijüdische Komponenten, reichte noch 1846/47 bis in Kreise von sächsischen Bürgermeistern und Staatsbeamten hinein9 und riss bis zum 20. Jahrhundert nicht ab.10 Verschwörungstheorien „antworten auf Krisen und provozieren sie gleichzeitig“.11 Geht es hingegen um eine Analyse von Systemzusammenhängen als Krisenursachen, wie sie im Untersuchungszeitraum an Bedeutung gewann, wird man allgemeine Instrumente und Rahmenbedingungen für die Selbstregulierung von Krisengeschehen zu entwickeln suchen, nicht aber direkt intervenieren. 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Georgi: Erdbeben; Lauer: Erdbeben; Wilke: Erdbeben; Wilke: Ereignisse; Requate: Neuigkeiten. Britton: Confusion; John: Going Public. Vgl. Trezzini: Netzwerkanalyse, passim. Hoffmann: Grundlagen. Wippermann: Agenten; Gailus: Food Politics, S. 31. Vgl. Caumanns und Niendorf: Verschwörungstheorien. Hecht: Nahrungsmangel, S. 72–77. Gailus: Protestforschung, S. 138–139. Groh: Verschwörungstheorien, S. 43.

„Krisenkommunikation“.

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Die IdentiÀkation von „Schuldigen“ auf der Grundlage von Lokalismus und netzwerkartiger Kommunikation war historisch Grundlage für die Aktionen von Volksmengen in Hungerkrisen, vor allem in Städten, wo sich diese Netzwerke auf alltägliche Beziehungen und eine gewisse Anonymität stützen konnten. Aber auch die Bürokratien verfügten über kommunikative Netzwerke, mit denen sie mit begrenzter, aber steigender Effektivität den Fortgang produktivierender Reformen und die Rationalität kommunaler Gemeindeverwaltung zu kontrollieren und zu beeinÁussen suchten. Dies geschah über unmittelbare Inspektionen, wachsenden Einsatz bürokratisierter Formen von Schriftlichkeit, statistische Informationsstrategien12, Dekrete und Broschüren. Aufgrund dieser nach 1750/60 sehr gesteigerten Kommunikationsdichte – die auch durch die relativ hohe Besiedlungsdichte des Raumes begünstigt wurde – kann man zumindest für Südwestdeutschland davon ausgehen, dass staatliche Bürokratien über die Verhältnisse einzelner Gemeinden recht gut informiert waren.13 Diese Informations- und Erfahrungsbasis ging auch in die Interaktionen während der hier untersuchten Teuerungskrisen ein, doch reichte sie kaum in die Sphäre der wirklichen innerdörÁichen Beziehungen und in die quantiÀzierbare Ökonomie der Haushalte hinein. Krisenkommunikation fand primär innerhalb der Bürokratie oder zwischen Gemeinden und Beamten von höheren Behörden statt. Zugleich muss man sich aber vergegenwärtigen, dass das Krisengeschehen vor dem Hintergrund konkreter lokaler Öffentlichkeiten zu sehen ist, auch wenn diese keine formellen Mitwirkungsmöglichkeiten hatten.14 So sah man sich nicht nur mit ofÀziellen Vertretern größerer Bevölkerungsgruppen, sondern mit spontanen Volksmengen als Gegenöffentlichkeiten konfrontiert.15 Ihre Entstehung hing damit zusammen, dass staatliche Akteure zur Publikation von Verlautbarungen gezwungen waren, um Krisen zu bekämpfen. Diese führten dann über die Wahrnehmung dieser Entwicklung bei Produzenten und Händlern zu einem bedrohlichen Anstieg von Preisen.16 Krisenbegriff Im Folgenden wird ein handlungsorientierter Krisenbegriff zugrunde gelegt. Dabei geht es nicht um lang anhaltende Strukturkrisen wie die „Krise des Ancien Régime“ oder den allmählichen Niedergang der Textilindustrie in der Bundesrepublik, auch nicht um weitreichende, aber nur diffus deÀnierte Legitimationskrisen wie die der 12 13 14 15 16

Grohmann: Entwicklung; Schmidt: Statistik; Raphael: Recht und Ordnung, S. 48, 81–87. Vgl. Holenstein: „Gute Policey“. Zur dörÁichen Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit Mahlerwein: Öffentlichkeit. Ländliche Gesellschaft. Zusammenfassend: Hölscher: Öffentlichkeit; Schmale: Öffentlichkeit; Zimmermann: Öffentlichkeit. Bohstedt: Moralische Ökonomie; Lipp und Kaschuba: Wasser und Brot; Hecht: Nahrungsmangel. Huhn: Teuerungspolitik, S. 45.

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Weimarer Republik oder des politischen Systems der Bundesrepublik in den 1960er Jahren. Vielmehr werden Krisensituationen in den Blick genommen, in denen unmittelbarer Handlungsbedarf für zentrale Akteure, Institutionen, aber auch Bevölkerungen oder Teile derselben bestehen. Aus der Tradition des Wortbegriffes „Krise“ wird also die antike Bedeutung von „Entscheidung“ und „Wettstreit“ in einer Situation von Unsicherheit und Gefährlichkeit aufgegriffen17, wie sie sich auch in der medizinischen Krise wiederÀndet, die eine Phase darstellt, „in der sich das Schicksal des Patienten entscheidet“18. Damit grenzt sich der verwendete Krisenbegriff von jenem ab, der in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts verwendet wird und die Bedeutung eines Strukturproblems ganzer Epochen erklären will. Wie der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas ausführte, setzt sich eine solche Strukturkrise aus verschiedenen Teilkrisen – Motivationskrisen, Rationalitätskrisen, Legitimationskrisen – zusammen. Begleitet werden die Teilkrisen von Phänomenen wie der Verdinglichung des Bewusstseins oder einer Entwertung von „Restbestände[n] bürgerlicher Ideologien“.19 Dieser Ansatz hatte eine ungeheure politische Durchschlagskraft, seine wissenschaftliche Berechtigung lässt sich aber historisch schwer operationalisieren. Ergiebig kann der Begriff der Krise hingegen gerade werden, wenn man ihn als offene Kategorie versteht, bei dem jeweils einzelne soziale Felder20 in ihrer Interaktion behandelt werden und bei dem es nicht nur um Krise als Problem und Störung der Ordnung geht, sondern auch als Raum der Chancen, der Wandlungen, der Lernprozesse.21 Das Element des Lernens in Krisenzeiten betonte Hansjörg Siegenthaler. Seine Ausführungen sind als ein maßgebliches kommunikationstheoretisches Konzept historischer Krisenforschung zu lesen: Bei Krisen lösen sich Strukturen auf, werden dysfunktional, Lern- und Reformprozesse setzen ein und neue Möglichkeiten zeichnen sich in einer „offenen Situation“ ab. Die individuellen Akteure haben große Informationsprobleme: Sie können Krisenkommunikation und -bewältigung nur sinnvoll betreiben, wenn sie auch auf allgemeine kulturelle Ressourcen zurückgreifen und sich des Konsenses anderer Akteure versichern. In Krisen müssen die Akteure erkennen, dass ihr Erfahrungswissen gerade nicht mehr ausreicht.22 Es handelt sich demnach bei einer Krise im hier gemeinten Sinn weder um bloße schwierige Situationen oder Problemlagen für die Politik, wie sie ein deutscher Herrscher des 15. Jahrhunderts erlebt haben mag, der es mit Streitigkeiten zwischen Reichsstädten und Territorialfürsten zu tun hatte, oder eine preußische 17

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Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 204 f. Karl Friedrich Nebenius bezeichnete die Situation 1816 in Karlsruhe als „höchste Calamität“ für „viele unserer Mitbürger“ in einer Situation des „Hungers“, in der soziale Unterschiede auf bedrückende Weise zu Tage träten; Brüning: Nebenius, S. 305. Diese Äußerung verweist zugleich auf den Zusammenhang von aktuellem Krisenmanagement und langfristig angelegten produktivierenden und liberalen Reformen, wie sie der Finanzrat und spätere Innenminister unermüdlich vorbereitete. Winau: Krise, hier S. 43. Habermas: Legitimationsprobleme, bes. S. 71. Bourdieu: Soziologische Fragen, S. 107. Föllmer, Graf und Leo: Einleitung, hier S. 14. Siegenthaler: Regelvertrauen, bes. S. 62–83, 178–186, 221–225.

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Behörde des 18. Jahrhunderts, die lokale Steuerverweigerungen bewältigen musste. Es geht auch nicht um vielfach jahrzehntelang anhaltende Strukturperioden oder um ganze Jahrhunderte, die im Zeichen der Krise stünden, ja angeblich aus Krise substantialistisch bestehen.23 Es ist hier vielmehr die Aufgabe, zeitgenössische Wahrnehmungen des Krisengeschehens zu rekonstruieren, das auf eine akute Gefährdung politischer Ordnungen hinauslief. Zusammenfassend ist festzuhalten: Krisen im hier gemeinten Sinn sind Phasen, in denen 1. die (politischen) Institutionen akut mit mehr Problemen konfrontiert sind, als sie bewältigen können, und in denen diese Institutionen und (lokale, regionale, nationale) gesellschaftliche Systeme (der jeweiligen Gegenwart) unter akutem Zeitdruck und akuter Entscheidungslast stehen, weil sonst irreversibler Schaden droht.24 Damit verknüpfen sich weitere Kriterien wie Bedrohung, Überraschung, Komplexitätsverlust und Übereilung.25 Von einer „Krise“ kann 2. dann gesprochen werden, wenn die Akteure selbst eine solche (implizit oder explizit) perzipierte Diagnose und kommunikative Übereinstimmung über das Ausmaß der Krise und ihrer Bewältigung betreiben, d. h. intensiv Krisenkommunikation innerhalb und außerhalb ihrer Felder, und klärende, Konsens schaffende Situationen deÀnieren. Schließlich ergibt sich 3. eine speziÀsche Krisendynamik auch dadurch, dass Erfahrungen und Erwartungen auseinander treten. Die Bevölkerungen erleiden – wenigstens gilt das für die hier untersuchte innerbürokratische Krisenkommunikation während Subsistenz- und Teuerungskrisen26 – einen Einbruch des Kontingenten in eine hergebrachte Ordnung. Insbesondere ihre materiellen Ansprüche konnten von Institutionen wie dem Getreidemarkt und den Kommunen nicht mehr garantiert werden, Ereignisse kumulierten sich zu einer allmählichen Überforderung von Akteuren. Kommunikationsbegriff „Kommunikation“ fand im hier maßgeblichen Zeitraum von 1770 bis 1846 sowohl mündlich, lokal und unmittelbar, als auch symbolisch generierend und in schriftlicher Form statt. Die Bedeutung strukturierter, relativ dauerhafter Kommunikationssysteme über größere Distanzen wuchs. Dies wurde im Begriff der „Kommunikationsrevolution“ reÁektiert, auch wenn man sich diese Revolution prozesshaft vorstellen muss.27 Verschriftlichte, bildhafte, allgemeine wie zweckgebundene kommunikative Inhalte wurden innerhalb diverser Kanäle tendenziell immer verzweigter und ausgedehnter weitergegeben und dieser expansive, medial gebundene Pro23 24 25 26 27

Vgl. Hobsbawm: General Crisis; Wallerstein: Crise; Lehmann und Trepp: Im Zeichen der Krise; Bisson: Crisis. Bündige Kritik an überdehnten Krisenbegriffen: Schuster: Krise. In Anschluss an Habermas: Legitimationsprobleme, S. 73. Bühl: Krisentheorien, S. 27 f. Der Forschungsstand bei Konersmann: Regionenbildung. Vgl. Behringer, Zeichen, S. 643–688.

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zess führte zu einer Ausweitung von kommunikativen Interaktionen und zu komplexeren Relationen der einzelnen Medien.28 Hingegen war die Relevanz älterer Kommunikationsformen, wie sie Prozessionen oder Bittwallfahrten im Mittelalter und im städtischen Kontext darstellten, erheblich gesunken.29 Die verschiedenen Kommunikationskanäle wiesen, wie im empirischen Teil näher ausgeführt wird, sehr unterschiedliche Kapazitäten und Reichweiten auf. Dies alles soll für den Teilbereich der staatlichen Bürokratie untersucht werden. Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Geschwindigkeit, die als Normen das soziale Feld der territorialen Bürokratie des 18. Jahrhunderts beherrschten, trugen zu ihrer wachsenden historischen Wirkung entscheidend bei, sind allerdings in der jeweiligen Praxis im Hinblick auf andere Normen und Verhaltensweisen wie das Autonomiebestreben von Dorfgemeinden oder die KäuÁichkeit von Beamten erst einmal nachzuweisen. Für die drei untersuchten Teuerungs- und Hungerkrisen handelte es sich ferner um kommunikative Netzwerkbildung. So wie es Knotenpunkte vielfältig sich überlappender Kommunikationsnetze im „Normalfall“ gibt, so auch in der Krisenkommunikation, wo sich dann auf der inhaltlichen Ebene all jene Argumente, Enttäuschungen und Verschwörungstheorien begegnen, die zu historisch höchst wirkmächtigen Kriseninterventionen führen. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass Kommunikation vor Ort ebenso wichtig war wie ortsübergreifender Austausch. Vor Ort entwickelten sich besondere Formen der Öffentlichkeit (neben und im Zusammenhang mit ortsübergreifenden Öffentlichkeiten) – Öffentlichkeit nicht als Inhalt, sondern als Forum, verstanden, als potenziell pluralistische, indes historisch institutionell speziÀsch reglementierte und damit auch eingeengte Sphäre des Austauschs und der ReÁexion. So geraten beim hier untersuchten Beispiel besondere Kommunikationsräume in den Blick, nämlich die von Rathaus, Dorf und Stadt. Ebenso sollte man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass auch in diesen Begegnungsräumen wachsend Verschriftlichung stattfand und auf Àxierte Texte zurückverwiesen werden konnte. Aber man würde an den Erkenntnissen der neueren Kommunikationsgeschichte und Frühneuzeitforschung vorübergehen, übersähe man, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Krisensituationen und der Ausbreitung von Gerüchten gibt, die keineswegs nur eine subversive Funktion hatten30, sondern auch als Informationsquellen der Obrigkeit dienten. Sie erreichten im Vormärz in geÀlterter Form über die Zeitungen den Landtag und die Regierung.31 Gerüchte trugen zur Dynamik von Revolten und Revolutionen32 bei, waren allen Bevölkerungsteilen zugänglich und allein deshalb schwer zu kontrollieren. Sie untergruben Vertrauen in Autoritäten, konnten, wie in Frankreich vor 1789, zu einer Politisierung des Privaten beitragen, schürten Emotionen oder dämpften sie. Sie stellten einen Gegendiskurs der Nicht-Eliten dar, dienten aber auch der herrschenden Ordnung, und dies 28 29 30 31 32

Werkstetter: Pest, S. 292. Vgl. Jörg: Teure, S. 357–373. Hohkamp: Gerücht; Sälter: Gerüchte; Bruhn und Wunderlich: Medium Gerücht; Eibach: Gerüchte. Ibid., S. 253. Lefebvre: Furcht.

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weit ins 20. Jahrhundert hinein. Gerüchte wurden aufgrund der wachsenden Medialisierung eher noch weitergetragen als entkräftet.33 Teuerungskrisen in der Forschung Die hier zu untersuchenden Teuerungs- und Hungerkrisen in ihren naturhaften, ökonomischen, sozialen und politischen Aspekten sind bereits als Einzelfälle und insbesondere in ihrer naturhaften Bedingtheit, agrargeschichtlichen Dimension sowie ihren systemischen und biologischen Dimensionen nach gut untersucht. Sie reichen in unseren Breitengraden bis ins 19. Jahrhundert und wurden nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erneut in bedrohlicher Weise relevant.34 Während sich die ältere Forschung für objektive Zusammenhänge, natürliche Bedingtheit und Ànanzielle Aspekte, ihre demographische Evidenz und die Hungererfahrung interessierte, traten in den Varianten, die sich mit der Protestgeschichte solcher Krisen beschäftigten, bereits deutlich stärker kommunikationsgeschichtliche Aspekte zutage. Proteste, „riots“, „taxation populaire“ liefen stets darauf hinaus, auf lokaler Ebene Öffentlichkeit für die wahrgenommene Krisensituation zu schaffen und Warnsignale an die Obrigkeit zu senden, die Militanz künftig noch zu steigern. Seit dem 19. Jahrhundert tendierte die Obrigkeit ihrerseits dazu, politische Konspirationen hinter den Manifestationen zu vermuten. Doch gab es keinen automatischen Zusammenhang zwischen der Schwere des Krisenverlaufs und den Protesten dagegen. Diese hingen vielmehr mit jeweiligen Handelswegen, lokalen Protesttraditionen und der Ausbreitung von Gerüchten über die Absichten von Händlern und Obrigkeiten zusammen.35 Hieran soll angeknüpft und nachgewiesen werden, dass das Ausmaß und vor allem der Verlauf dieser Krisen von der stattÀndenden Kommunikation abhing. Insbesondere die Kommunikation unter Volksmengen, die Weise ihrer Artikulation und die Kommunikationspolitik von Obrigkeiten in diesen wiederkehrenden (allerdings lokal sehr unterschiedlich auftretenden) Krisen stehen hier zur Debatte. Vor allem soll gezeigt werden, dass sich innerhalb des bürokratischen Wissensfeldes die Fähigkeit der Beamten steigerte, das Ausmaß der Krisen zu prognostizieren und dosierte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Während die von den Krisen in ihrem Leben Betroffenen Vorstellungen von „moralischer Ökonomie“ überwiegend aufrechterhielten, verlief die Krisenwahrnehmung in dieser bürokratischen Sphäre deutlich dynamischer. Dies hing mit allgemeinen wirtschaftspolitischen Diskursen zusammen, in deren Kontext personalistische und lokalistische Erklärungsmodelle ganz erheblich an Glaubwürdigkeit verloren hatten. Dennoch standen die obrigkeitlichen Akteure der Krisenkommunikation vor dem Zwang, unmittelbare Erfolge zu erzielen. Die Krisen mussten tatsächlich einge33 34 35

Vgl. zur historischen Bedeutung von Gerüchten in der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation: Fox: Rumour; Freist: Opinion; Pompe: Neuheit; Darnton: Poesie; Farge: Lauffeuer; Farge und Revel: Vanishing Children; Altenhöner: Kommunikation. Gailus und Volkmann: Kampf; Erker: Ernährungskrise; Trentmann und Just: Food. Post: Crisis, S. 78–80; Gailus: Hungerkrisen; Wirtz: Widersetzlichkeiten, S. 164–165.

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dämmt und somit gesellschaftliche Reproduktion und Àskalische Abschöpfung des Mehrprodukts aufrecht erhalten werden, was den Spielraum für ein Marktsteuerungsmodell, bei dem man auf die Selbsttätigkeit eher langfristig wirkender Faktoren setzt, erheblich einengte. Damit wird in der Untersuchung dem Umstand nachgegangen, dass Behörden, die an sich schon zu einem gemäßigt liberalen Wirtschaftsmodell übergegangen waren, sich veranlasst sahen, partiell zu „älteren“ Krisenregulativen und personalistischen Argumenten zurückzukehren, weil die Dynamik und der Entscheidungsdruck zu groß wurden. Krisenkommunikation 1770/72, 1816/18 und 1845/46 in Baden und Württemberg Die Subsistenz- und Teuerungskrisen 1770/72, 1816/18 und 1845/46 hatten eine europäische Dimension36, auch hinsichtlich ihrer Tradierung im kollektiven Gedächtnis. Sie waren aber auch ein lokal und regional hoch differenziertes Geschehen. Für lokale Bevölkerungen brachten diese Krisen ernsthafte Überlebensprobleme, die sich auch in erhöhter Mortalität und damit in einer grundlegenden Erfahrung niederschlugen. Selbst wo kein akuter Hunger herrschte, kann man doch von einer weitgehenden „Not“ als Verunsicherung und Zukunftsangst von Teilen der Bevölkerung ausgehen. Erheblicher Preisauftrieb für das Brotgetreide und andere Grundnahrungsmittel bei einer insgesamt geringen Ernährungselastizität bedeutete aber auch, dass erhebliche monetäre Transfers zwischen gesellschaftlichen Klassen (d. h. zu den Überschussproduzenten und Händlern) und interregional stattfanden (zu den Überschussgebieten). Die Teuerungskrisen bedeuteten für die zuständigen Behörden eine grundlegende Störung der guten Ordnung, die Gefahr sozialer Proteste sowie die Notwendigkeit, materielle Versorgung sicherzustellen, weil diesbezüglich eine klare, rasch dynamisierte Erwartungshaltung der Untertanen bestand. Deswegen waren sie fast schon dazu gezwungen, weitreichende Interventionen in den Getreidemarkt vorzunehmen, obwohl doch im wirtschaftspolitischen Diskurs erhebliche Zweifel an eben solchen Interventionen angemeldet worden waren. Die inhaltlichen Zusammenhänge sind bereits mehrfach dargestellt worden, ohne jedoch der kommunikativen und medialen Dimension genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Ebenso kann man auf die frühere Forschung zu sozialen Protesten zurückgreifen, die, wie Manfred Gailus klargestellt hat, aufzeigen konnte, dass „Protest […] face-to-face-Öffentlichkeit oder Versammlungsöffentlichkeit der Vielen“ darstellt. Er wendet sich zugleich an eine „breitere Öffentlichkeit der Community, der Nachbarn, Passanten, Zuschauer sowie der professionellen Medien“37.

36 37

Post: Crisis, S. 36–53. Gailus: Protestforschung, S. 130.

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Beobachtung und Prognose des Krisenverlaufs als Informationsund Entscheidungsproblem der Bürokratien, 1770/72 Angesichts des fundamentalen Gewichts, das die Produktion von Brotgetreide und sein Preis für die menschliche Ernährung, die gesamte Wirtschaft und die staatlichen Haushalte hatte, musste die Beobachtung von Witterung und die Prognose zu erwartender Ernteerträge für die Bürokratien eine zentrale Aufgabe sein. Welche Instrumente standen – zunächst in der Krise 1770/72 – zur Verfügung: zum Ersten die eigene Erfahrung der Beamten, die diese sich über den Augenschein und mannigfaltige Berichte aus dem Land verschafften; zum Zweiten Klagen, Eingaben und Petitionen der betroffenen agrarischen Unter- und Mittelschichten; zum Dritten der Hinweis lokaler Amtsträger auf eine drohende allgemeine Krisensituation und soziale Polarisierungsprozesse. Ein völlig unerwarteter Markttumult im nur wenige Kilometer von der Residenz Karlsruhe entfernten Durlach im Oktober 1770 verwies auf die Beschleunigung der Prozesse. Die Nachricht gelangte innerhalb weniger Stunden an die Zentrale. Überhaupt liefen 1771 mehrfach am Tage Nachrichten unterschiedlicher Provenienz ein, aus denen man dann Schlüsse zog. Aufgrund einer solchen Beobachtungsbasis ergab sich die Notwendigkeit zu entscheiden, ob man in Baden an der frühliberalen Freihandelspolitik festhalten oder zum bewährten, aber hoch problematischen Instrument der Fruchtsperren zurückkehren, d. h. regionale Exportverbote verhängen sollte. Diese Entscheidungen hingen wiederum von zwei Faktoren ab: von den Grundpositionen der maßgeblichen Beamten und von den Nachrichten und Prognosen, wie sich die benachbarten Territorien verhielten. Diese – wachsend negativen – Nachrichten gelangten teils auf informellem Wege, teils über ofÀzielle Korrespondenz an die badischen Zentralbehörden.38 Auch hier handelte es sich um einen begrenzten Kommunikationsraum von etwa 50 Kilometern. Doch dieser Kommunikations- und Handlungsradius weitete sich in der Krise erheblich aus. Im Sommer 1771 hatte man es mit einer restriktiven Haltung sämtlicher benachbarter Territorien zu tun, mit der Frage, ob partiell noch ein freier Binnenhandel zwischen einzelnen Landesteilen gestattet sein solle, sowie mit großräumigen Transfers von Getreide in die Schweiz. Dies wiederum warf die Frage auf, ob und wie weit man zu einer eigenen staatlichen Aufkaufs- und Bevorratungspolitik übergehen solle, um den Zusammenbruch des freien Handels zu kompensieren. Hierzu waren eine Schätzung sämtlicher Getreidevorräte der privaten Haushalte und Finanzbehörden, teils auf der Grundlage lokaler „Visitationen“, ebenso wie eine Beurteilung der Geschehnisse auf dem Schwarzmarkt nötig, um eine angemessene Menge von Getreide im Ausland zu beschaffen und dann wieder zu sozial verträglichen, aber doch für die Staatskasse einträglichen Preisen abzugeben.39 Noch problematischer, sowohl was die materiellen Spielräume als auch die informationelle Durchdringung der Geschehnisse betraf, zeigte sich 1770/72 die Situation im Herzogtum Württemberg. Es handelte sich hier um ein weitaus größeres 38 39

Zimmermann: „Noth“, S. 105–112. Ibid., S. 113–118.

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und demnach auch für die Zentrale weniger transparentes Territorium mit deutlich eigenständigen Akteuren und um ein Land, in dem die materiellen Gegensätze zwischen gewerblichen Teilregionen mit hohem Zukaufsbedarf an Getreide und getreideexportierenden Agrarregionen (im Süden) ausgeprägt waren. Schon in „normalen“ Zeiten war es für die Zentrale in Stuttgart/Ludwigsburg schwer, die ca. 100 Kilometer entfernten südlichen Oberämter zu kontrollieren. Generell genossen die Stadtgemeinden bzw. die dort herrschenden Oligarchien erhebliche Autonomie, gerade in Ànanzpolitischen Angelegenheiten. Eine Empfehlung des Oberrats, der zentralen Regierungsbehörde von 1767, an Unterbehörden und Gemeinden, mehr Getreidevorräte anzulegen, blieb ungehört. Der Oberrat beobachtete die Getreidemärkte kontinuierlich, auch suchte man sich durch lokale Informationen über Brotpreise und Konsumverhalten der Bevölkerung auf dem Laufenden zu halten. Allerdings konnte die tatsächliche Versorgungssituation doch nur schwer genau abgeschätzt werden. Es zeigten sich nicht nur erhebliche lokale Unterschiede, sondern auch Verunsicherungen durch sich ausbreitende Gerüchte über Kinder, die in einigen Orten zum Sammeln von „Wurzeln“ als Notnahrung geschickt worden seien.40 Über eingehende Berichte aus den verschiedenen Landesteilen und ihre innerbürokratische Begutachtung wurde Anfang 1771 versucht, genau festzustellen, wo wirklicher Mangel herrschte. Im Frühjahr desselben Jahres erreichten Klagen über akuten Fruchtmangel auf dem Briefwege sowohl aus dem Land als auch aus den Kreisen des niederen Hofpersonals in Ludwigsburg selbst die Zentrale. Zu diesem Zeitpunkt (am 15.12.1770) hatte man bereits eine „Fruchtdeputation“ für das Krisenmanagement eingerichtet, in der die Interessen verschiedener Behörden, der Staatskirche und der bürgerlichen Landschaft vertreten waren. Eine solche Deputation entsprach also den Machtverhältnissen. Inhaltliches Ziel war ein landesinterner Ausgleich von Getreidevorräten, d. h. der Übergang zu einer präzisen Umverteilungspolitik. Hierzu sollte an jedem Ort eine Bestandsaufnahme der bestehenden Vorräte durch Oberamtleute und Schultheißen geschehen. Eine Lawine von äußerst schwer einzuschätzenden Informationen41 über solche Vorratsermittlungen und Anfragen zu individuellen Fällen, Beschwerden über falsche Entscheidungen der Deputation und Berichten über Notzustände rollte nun auf die Deputation zu, vor allem im April 1771, als 801 Entscheidungen über all diese Gegenstände zu fällen waren. Schon allein die Konfrontation mit den jeweiligen Interessen der kommunalen Basis und einzelner Vertreter der regionalen Bürokratie und ihrer jeweiligen, mit lokalen Verhältnissen argumentierenden Schreiben forderte die kognitive Kapazität der Deputationsmitglieder erheblich heraus. Ebenso entstand die Frage, welche Interessen jeweils vorrangig zu berücksichtigen waren, die des Hofes oder der Beamten selbst. Noch schwerer war es für die Fruchtdeputation abzuschätzen, ob die auf Selbsteinschätzung beruhenden Angaben über Vorräte und lokalen Bedarf realistisch waren. Diese Selbsteinschätzungen wurden zwar in Form von normierten Verfahren durchgeführt und über Tabellen und Statisti40 41

Zimmermann: Krisenregulierung, S. 107–110. Partiell wurden lokale Erhebungen rein mündlich durchgeführt: Moltmann: Aufbruch, S. 69.

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ken42 übermittelt, waren aber kaum glaubwürdig. Der Fehlbedarf wurde von den lokalen Produzenten und öffentlichen Akteuren generell zu hoch eingeschätzt, um eine Notreserve zu behalten und von den gestiegenen Preisen selbst zu proÀtieren. Schließlich eskalierte die Lage im April mit einem Markttumult in Pfullingen nahe der Gewerbe- und Reichsstadt Reutlingen. Insofern schwankten nicht nur die Bedarfsermittlungen der Zentralbehörde ganz erheblich, sondern man war zugleich auch mit qualitativ schwer einzuschätzenden Nachrichten, insbesondere über das Protestpotenzial konfrontiert. So war es dann nahe liegend, im selben Monat zu hohen Beträgen von 30 % des Staatshaushalts Getreide auf Auslandsmärkten einzukaufen, das man dann mit merklichen Verlusten an die einzelnen Oberämter bzw. Stadtgemeinden weiterverkaufte. Letztlich zeigten sich bei der württembergischen Krisenkommunikation 1770/72 demnach 1. erhebliche Informationsprobleme trotz des Einsatzes aller verfügbarer statistischer und innerbürokratischer Methoden und Instrumente, besonders weil man auf lokale Kooperation angewiesen war; 2. Probleme bei der Verrechnung der Einzelangaben in der Zentrale, da man über lokale Maße und Gewichte ebenfalls nicht immer genau Bescheid wusste, und 3. unzureichende Möglichkeiten der Zentrale, die äußerst zahlreich auftretenden lokalen KonÁikte zwischen Land- und Stadtgemeinden einerseits sowie zwischen Export- und Importinteressenten andererseits zu ergründen, da die eigene Beobachtungsbasis äußerst eingeschränkt war. Allerdings bemühte man sich in der Deputation darum, jedem Einzelfall genau nachzugehen, Kontrollinformationen von Lokalbehörden und Stadtverwaltungen einzuholen und sich über Anlegen von Tabellenwerken und interne Gutachten einen Überblick zu verschaffen.43 Immer wieder war in den lokalen Schreiben von konkreten Praktiken einzelner privater Händler oder von Getreide verkaufenden, zu monopolistischen Praktiken neigenden „Fürkäufern“ die Rede. Von anonymen Marktgesetzen oder einer Betrachtungsweise von Krise analog zu Kategorien liberaler Ökonomen war nichts zu bemerken. Dieser immer konkrete, lokale und personalistische Beobachtungs- und Beschreibungsmodus, der stets im Vorwurf gipfelte, jemand betreibe bewusst „Spekulation“, galt nicht nur 1770/72, sondern auch in der gravierenden Hungerkrise 1816/18. Auch 1846/47, als es sich neben agrarischen Ausfällen (und Interessen) um eine gewerbliche Absatzkrise vor dem Hintergrund eines strukturschwachen, aber insgesamt stabilen städtischen Kleinhandwerks und eines Anwachsens von lohnarbeitenden Klassen handelte, gab es diese personalisierten Schuldzuschreibungen. Zugleich zeigte sich aber eine bedeutende inhaltliche Verschiebung in Richtung einer strukturellen Krisenwahrnehmung.44

42 43 44

Zu deren Tradition vgl. auch v. Hippel: Herzogtum. Zimmermann: Krisenregulierung, S. 111–129. Zimmermann: Hunger, S. 20–22.

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Aushandeln von Interessen, Informationsverarbeitung und „öffentliche Meinung“ bei der württembergischen Krisenpolitik von 1816/18 und 1845/46 Die Konstellation im Württemberg von 1770/72, in der einzelne Landesteile unterschiedlich betroffen waren und ganz verschiedene wirtschaftliche Interessen hatten, stellte sich im Rahmen des viel größeren Königreichs und im Rahmen einer gestärkten und rationalisierten Staatsbürokratie erneut ein. Allerdings war sie nun in einen um die Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit deutlich erweiterten und semantisch veränderten politischen Kontext eingebettet. Eine aus Repräsentanten von Ministerien und der „Stände“, also des Landtags (der eine aktive Krisenpolitik gefordert hatte), zusammengesetzte „Teuerungskommission“ betrieb unter Rückgriff auf die Akten der Jahre 1770/72 erneut eine aktive Krisenintervention. Symbolische, wenn auch praktisch völlig unwirksame Aktionen wie die Wiedereinführung des Marktzwangs für Getreidehändler sollten die „öffentliche Meinung“ beruhigen, von der nun als allgemeiner Faktor der Interessenaushandlung die Rede war. Gewaltsame „Auftritte“ von Teilen der Bevölkerung standen zwar im Raum, ereigneten sich aber so gut wie nicht. Eine erneute, wenn intern auch heftig umstrittene Registrierung aller Getreidevorräte wurde dekretiert. Wieder war man in der Zentrale auf die Berichte der einzelnen Oberämter angewiesen, da es an einer zuverlässigen Ernteund Preisstatistik sowie Ernteprognostik fehlte, auch wenn man sich darum bemühte, einzelne Daten zusammenzutragen. Auch hierbei wurden immer wieder die Erfahrungen von 1771 in die interne Debatte eingebracht, die man aus der Lektüre der Akten zog. Etwas deutlicher als 1770/72 traten interne Gegensätze und Debatten über die Modalitäten der Beschaffungspolitik, die Aufrechterhaltung einer liberalen Getreidepolitik und die Lastenverteilung zwischen Staat und Gemeinden ins Licht der Öffentlichkeit, so durch sich widersprechende Dekrete und Verlautbarungen im Regierungsblatt. Allerdings konnte von einer expliziten öffentlichen Debatte in der – recht spärlichen und kontrollierten – Presse Württembergs 1816/18 keine Rede sein.45 Dies änderte sich bis zur nächsten Ernährungskrise 1845/46 deutlich. In dieser tauchten zunächst einmal die tradierten Muster und Instrumente der Krisenintervention, an die man sich teils noch erinnerte oder die man aus der Aktenlektüre zog, bis ins Detail wieder auf. Doch gab es auch bedeutende Innovationen bei den Konstellationen: 1. Das strukturelle Machtverhältnis zwischen Zentralstaat und Gemeinden hatte sich nach 1803 zunächst sehr eindeutig zugunsten des Ersteren verschoben. Jedoch hatte sich spätestens in den 1830er Jahren der Landtag bzw. die Abgeordnetenkammer auf der Grundlage des Budgetrechtes als Forum politischer Kritik etabliert, die sich auch gegen inefÀziente und bevormundende Bürokratie richtete. In konkreten materiellen Fragen stimmten Regierungs- und Kammervertreter allerdings häuÀg überein.46 45 46

Ibid., S. 25–27. Hettling: Reform, S. 105–108, 119, 151.

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2. Die Zentrale beobachtete nun systematischer und schon im Vorfeld die Ernteergebnisse. Ihr Aktionsrahmen war auf die Versorgung über den transatlantischen Handel in Amsterdam gerichtet, hatte sich also, als Ergebnis globalisierter Kommerzialisierung der Getreideversorgung und des intensivierten Transports, geographisch wesentlich erweitert. 3. Durch die „Zentralstelle der Landwirtschaftlichen Vereine“ kontrollierte man die Ernte- und Bedarfsangaben der Oberämter und begrenzte so lokalen Eigensinn. Diese Zentralstelle war ein staatliches Instrument agrarischer Produktivierungspolitik und der Diskursivierung agrarischer Innovationen.47 Die örtlichen Vereine selbst setzten sich aus traditionellen Honoratioren und Landwirten mit größeren Betrieben als Experten zusammen. Bei solchen Vereinen handelte es sich einerseits um ein zentrales Organisationselement bürgerlicher Öffentlichkeit.48 Zugleich fungierten Vereine auch als Interessensorganisationen, die in eine erneut gegründete „Getreidekommission“ speziell die agrarischen Interessen einbrachten. Andererseits handelte es sich bei ihnen um einen Brückenkopf staatlicher Wirtschaftspolitik in der ländlichen Gesellschaft, in der man Experten mobilisierte.49 Diese Organisation konnte also im Zusammenhang der Krisenpolitik funktionalisiert werden und verweist darauf, dass man „bürgerliche Öffentlichkeit“ nicht einfach als oppositionell zum Staat denken muss.50 4. Erneut war die kommunalistische Konstruktion bürgerlicher Öffentlichkeit wirksam, indem über Städte und Landgemeinden jeweilige örtliche Wünsche vorgetragen wurden, die nun aber nicht nur bürokratieintern, sondern auch in der Presse Gegenstand von Verhandlungen waren. Ferner erwiesen sich bürgerliche Hilfsvereine in den Kommunen als Hauptansatzpunkt, städtische Arme zu versorgen. Die Form eines Vereins war eine wichtige soziale Innovation im Zusammenhang der breit geführten Krisenkommunikation. Zur direkten Armenversorgung waren in der Krise weder die Stadtverwaltungen selbst noch staatliche Institutionen in der Lage oder auch nur willens. Man setzte also in dieser Hinsicht auf bürgerliche Selbstorganisation, allerdings nach Mustern, die von der Zentrale vorgeschlagen und von dieser über belehrende Broschüren51 kommuniziert wurden. Den Armen wurde seitens des Staates ein Unterstützungsrecht notfalls auch gegen die kommunalen Interessen garantiert. So rückte der Staat als regulierender Sozialstaat in den Städten vor.52 5. Mittlerweile war von einer landesweiten „öffentlichen Meinung“ als autonom konstituierte Macht neben Gemeinden und monarchischer Staatsadministration auszugehen. Diese öffentliche Meinung artikulierte sich auf dem Forum des 47

48 49 50 51 52

Auch in Baden fragte das Innenministerium bei der „Centralstelle“ der Landwirtschaftlichen Vereine nach, wie die Bedarfslage sei und ob man zu einer aktiven Krisenpolitik übergehen solle, ferner wurde diese mit praktischen Aufgaben betraut: Schaier: Verwaltungshandeln, S. 90 f., 109–112, 125, 129, 139 f., 147, 149, 159, 232 f., 263 f. Vgl. Lipp: Verein. Brakensiek: Agrarreformen. Zimmermann: Hunger, S. 28–29. Broschüren, Pamphlete und ökonomische Fachliteratur als mediale Grundlage von Krisenernährungsdiskursen 1770/72: Huhn: Teuerungspolitik. Zimmermann: Hunger, S. 29–33.

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Landtags, d. h. der Zweiten Kammer. In diesem suchten einzelne Abgeordnete die Ströme staatlicher Subventionen in die eigene Region zu lenken. Die Verhandlungen des Landtags selbst waren nun aber im Unterschied zur alten Ständeversammlung öffentlich, ebenso wie die eingehenden Petitionen als traditionelles Instrument von Untertanen, ihre Nöte zu artikulieren.53 Die bürgerliche Gesellschaft, aus der die Abgeordneten hervorgingen, war selbst mobiler und komplexer geworden. Ganz neu war, dass im Landtag – im Anschluss an die jährlichen Haushaltsdebatten und frühere Diskussionen über Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung – öffentlich über die Krisenpolitik debattiert wurde. Nicht nur verstanden sich seine Vertreter als entscheidende Mittler der Volksinteressen, bezogen sich also auf die württembergische „Nation“ und nicht mehr allein auf lokale Bedürfnisse, sondern es erhob sich auch offene Kritik an Maßnahmen. Auch die Krisendebatte im Landtag verschob sich mehr und mehr in Richtung einer Auseinandersetzung über die materiellen Grundbedingungen im Land und tendierte in die Richtung, weitere bedeutende Ausgaben für innovative Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu genehmigen.54 6. Mittlerweile gab es eine entwickelte aktuelle Presse. Sie erwies sich über die früheren Regierungsblätter und die schon 1816/18 verbreitete, diskursive Broschürenliteratur hinaus55 als teilautonome Macht. Die Presse hatte schon unmittelbar vor der Krise auf die Nahrungsmittellage und die Preisentwicklung hingewiesen.56 Ihr wurde in der Ersten Kammer das Potenzial zugeschrieben, öffentliche Meinungsbildung über den Krisenverlauf und damit diesen selbst erheblich zu beeinÁussen. Tatsächlich konnten sich durch Presse und Eisenbahnverkehr bislang nur lokal kommunizierte Gerüchte ausweiten, dadurch wuchs der Handlungsdruck für die Regierung. Durch beide Faktoren wurde ferner der alte lokalistische Argumentationsmodus, es handele sich um besondere Bedingungen, geschwächt, da man nun an jedem Ort Informationen über die Situation in anderen Regionen und Orten bekommen konnte. Auch der Landtag stellte einen überlokalen Kommunikationszusammenhang dar, wenn etwa der Abgeordnete des Oberamtes Gaildorf, Federer, dort ausführte, dass die zunächst lokalen Initiativen („Privathilfe“) zu Getreideaufkäufen sich erschöpft hätten und man nun „allgemein […] fühlte“, dass der Staat eingreifen solle.57 53 54 55

56 57

Für Baden: Schaier: Verwaltungshandeln, S. 121, 136, 146 f., 161–169. Zu Petitionen und Öffentlichkeitsprinzip in der badischen II. Kammer: Becht: Parlamentarismus, S. 242–266, 527–558. Hettling: Reform, S. 156 f. Z. B.: Anon.: Gedanken über die Ursachen der gegenwärtigen Armuth und über die besten Mittel derselben, Tübingen 1817, Anon.: Ueber den Getreide-Handel in dem nördlichen und südlichen Deutschland, Ulm 1817, Alexander Lips: Ueber die wahren Ursachen der Brodnoth und Theuerung, Erlangen 1817 oder G. Rau: Der Zustand des Landes, wie er war, wie er ist, und wie er sein sollte, Gaildorf 1847. Hettling, Reform, S. 155. Auch die Presse in Baden berichtete kontinuierlich und teils sehr kritisch über Krisenmaßnahmen. Schaier: Verwaltungshandeln, S. 61–89, 97, 119–123, 131– 135, 156–159, 163, 181, 189, 201, 203, 204–206, 227–231, 253–258, 281–289. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten 1847, Bd. 1, Stuttgart 1847, S. 8. Vgl. auch dort, ibid., 3. Band, Beilagen-Heft, S. 314–371.

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Bürgerliche Öffentlichkeit hatte sich also als Element der Krisenkommunikation etabliert, wenn sie auch ihren materiellen Interessen nach und trotz aller polarisierenden Krisendeutungen stärker mit der Administration verquickt war als es der liberalen Theorie und dem Selbstbild entsprach. Krisenmanagement und Krisenkommunikation waren zwar weiterhin durch lokale Gegebenheiten, Machtverhältnisse und KonÁikte bestimmt, jedoch insgesamt weitaus komplexer als in den vorausgegangenen Phasen. Vor allem der staatlich durchgesetzte Druck auf die Kommunen, die jeweiligen eigenen Armen tatsächlich zu versorgen, war neu. Die Kommunikationswege und -foren hatten sich mit der Bühne des Landtags und mit der Presse grundlegend erweitert und generalisiert.58 7. Die Politisierung und Polarisierung der Krisenkommunikation zeigt sich auch daran, dass nicht mehr diffuse Volksmengen wie im 18. Jahrhundert, sondern explizit städtische und ländliche Unterschichten massiv in Erscheinung traten: An ca. 50 Orten kam es zu teils sichtbaren, teils verdeckt geführten Aktionen. Die Öffentlichkeit der Straße59, der Wirtshäuser als traditionelle Kommunikationsorte, war voll intakt. Die Artikulation sozialer Interessen von Armen, armen Handwerkern und Lohnabhängigen sprengte sowohl die bisherigen Formen und Inhalte des Kommunalismus der lokalen Honoratioren und traditionellen Herrschaftseliten als auch die Grenzen eines bürgerlichen Parlamentarismus60, ebenso wie den grundsätzlich ‚rationalen‘ Modus der Berichterstattung in den Zeitungen.61 Resümee Die Dynamik und Unsicherheit von Krisenkommunikation, aber auch die Ansätze, sie zu steuern und dadurch Kontrolle über krisenhafte Geschehnisse zu erlangen, verwies darauf, Krisenkommunikation nicht allein als Folge und keineswegs nur als Begleiterscheinung von ‚objektiven‘ Krisenzusammenhängen, sondern sie auch als konstitutiven Teil der Krisen selbst zu sehen. Es zeigte sich, dass Öffentlichkeit von Krisenkommunikation auch schon im 18. Jahrhundert und durchaus nicht nur im Zusammenhang des Bürgertums und der Städte herrschte, sondern auch das Land und nichtbürgerliche Gruppen in diese Öffentlichkeit einbezogen waren. Es stellte sich ferner heraus, dass mit dem 19. Jahrhundert die Bedeutung interpersonaler lokaler Öffentlichkeiten zurückging, sie allerdings ein starkes Gewicht behielten. Die Relevanz institutionalisierter Öffentlichkeiten, wie die der frühliberalen Landtage, wuchs. Die Kommunikationsradien wurden nicht nur größer, weil die Aktionsradien der handelnden Bürokratien gestiegen waren, sondern auch weil neue Foren und die Tagespresse mit dem 19. Jahrhundert zu eigenständigen Akteuren von Krisenkommunikation wurden. Schließlich zeigte sich, dass die Akteure, in diesem Fall besonders die Bürokratie, in hohem Grade die jeweilige Handlungssi58 59 60 61

Zimmermann: Hunger, S. 39–42. Binder: Struktur; Kienitz: Brotkrawall. Vgl. Waibel: Frühliberalismus. Zimmermann: Hunger, S. 37–39; Kaschuba und Lipp: 1848, S. 156–169.

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tuation beobachteten, erhebliche Wissensbestände aktivierten und spezielle Medien wie Akten einsetzten, was nicht heißt, dass damit materiell schon alles gewonnen war. Schwieriger war es, innerkommunale Meinungsbildung und Wissensverarbeitung zu beobachten. Neben Veränderungspotenzialen – vor allem die wachsende Tendenz zur Selbststeuerung der Getreidemärkte zeigte sich – hatten paternalistische oder interventionistische Krisenlösungsversuche im Bereich der Ernährung größere Durchschlagskraft als im allgemeinen wirtschaftspolitischen Diskurs. Literatur Altenhöner, Florian: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München 2008. Becht, Hans-Peter: Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution, Düsseldorf 2009. Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003. Bisson, Thomas N.: The crisis of the twelfth century. Power, Lordship, and the origins of European government, Princeton 2009. Binder, Beate: „Dort sah ich, dass nicht Mehl verschenkt, sondern rebellt wird“. Struktur und Ablauf des Ulmer Brotkrawalls, in: Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, hg. von Carola Lipp, Bühl-Moos 1986, S. 88–110. Bohstedt, John: Moralische Ökonomie und historischer Kontext, in: Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990, hg. von Manfred Gailus und Heinrich Volkmann, Opladen 1994, S. 27–51. Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1994. Brakensiek, Stefan: Das Feld der Agrarreformen um 1800, in: Figurationen des Experten, hg. von Eric J. Engstrom, Volker Hess und Ulrike Thoms, Frankfurt am Main 2005, S. 101–122. Britton, John A.: „The Confusion Provoked by Instantaneous Discussion“. The New International Communication Network and the Chilean Crisis of 1891–1892 in the United States, in: Technology and Culture 48/4 (2007) S. 729–757. Brüning, Rainer: Karl Friedrich Nebenius (1784–1857) als Vertreter der badischen Reformpolitik, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 157 (2009) S. 305–314. Bruhn, Manfred und Werner Wunderlich (Hg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern 2004. Bühl, Walter L.: Krisentheorien. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang, Darmstadt 1984. Caumanns, Ute und Mathias Niendorf (Hg.): Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001. Darnton, Robert: Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002. Eibach, Joachim: Gerüchte im Vormärz und März 1848 in Baden, in: Historische Anthropologie 2/2 (1994) S. 245–264. Erker, Paul: Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, Stuttgart 1990. Farge, Arlette: Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. Farge, Arlette und Jaques Revel: The Vanishing Children of Paris. Rumour and Politics before the French Revolution, Cambridge/Mass. 1991. Föllmer, Moritz, Rüdiger Graf und Per Leo: Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hg. von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf, Frankfurt a. M. 2005, S. 9–41.

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„AUF MEINE SEELE LEGTE SICH WIE EIN ALP DIE IN LETZTER ZEIT SO HÄUFIG WIEDERKEHRENDE FURCHT VOR EINEM NAHENDEN UNHEIL.“ KRISENSTIMMUNG UND GEWALT IN DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA Dominik J. Schaller Um 1900 schien sich der deutsche Traum von einem Platz an der Sonne zu verwirklichen: In Südwestafrika – dem heutigen Namibia – hatte sich eine dynamische Siedlergesellschaft entwickelt, deren Selbstverständnis darin bestand, im südlichen Afrika nicht weniger als ein „neues Deutschland“ zu schaffen. In der Utopie von einem „jungen Deutschland“ in Übersee vereinte sich imperiales Streben nach Weltgeltung mit der Kritik am durch die Industrialisierung beschleunigten sozioökonomischen und kulturellen Wandel im Wilhelminischen Kaiserreich, die sich insbesondere in einer romantischen Idealisierung der ständisch-agrarischen Lebenswelt manifestierte. Dazu mischten sich – nicht ganz widerspruchslos – Vorstellungen von einer intakten Gesellschaft, die dem deutschen Siedler Freiheit und das Recht auf Selbstverwirklichung ermöglichen sollte.1 Auch wenn die Kolonie Südwestafrika noch immer auf jährliche Reichszuschüsse in Millionenhöhe angewiesen war und nur sehr wenige Deutsche tatsächlich bereit waren nach Afrika auszuwandern, waren die Vorzeichen für die Entwicklung der Siedlerkolonie an der Wende zum 20. Jahrhundert überaus vielversprechend. Im Gegensatz zum tropischen Westafrika („White Man’s Grave“) galt Namibia aufgrund seiner günstigen klimatischen Bedingungen als ideale überseeische Heimstätte für deutsche Auswanderer. Darüber hinaus war es der kolonialen Verwaltung und der ihr unterstellten Schutztruppe gelungen, Zentral- und Südnamibia weitgehend zu „paziÀzieren“. Nach erbitterten Kämpfen in den 1890er Jahren akzeptierten die meisten indigenen Chiefs den deutschen Herrschaftsanspruch und kooperierten mit der Kolonialregierung. Nicht wenige afrikanische Führer waren zur Sicherung und Festigung ihrer eigenen Machtposition auf deutsche Unterstützung angewiesen.2 In der Folge stieg die Zahl der europäischen Bevölkerung in der Kolonie sukzessive an: Während die Zahl der weißen Einwohner Deutsch-Südwestafrikas 1893 erst 558 betrug, bewohnten zehn Jahre später bereits 4682 Europäer die Kolonie.3 Innerhalb eines Jahrzehnts hatte sich die Bevölkerung also verachtfacht. 1 2 3

Zu den zeitgenössischen Debatten über eine in Südwestafrika zu errichtende „deutsche Kultur“ siehe Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 43–119. Den besten Überblick zur Entwicklung der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia unter Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive bietet Gewald: Herero Heroes. Kaulich: Geschichte, S. 353.

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Mit dem Bevölkerungswachstum gingen ein beachtlicher wirtschaftlicher Aufschwung sowie ein entscheidender Ausbau der Infrastruktur einher. 1902 wurde die 382 Kilometer lange Eisenbahnlinie zwischen der Hafenstadt Swakopmund und dem Verwaltungshauptort Windhoek im Landesinnern fertig gestellt. Überdies wurde 1903 mit dem Bau der Otavi-Bahn begonnen, welche Zentralnamibia mit den umfangreichen Kupfervorkommen im Norden der Kolonie verbinden sollten. Von dieser Entwicklung proÀtierten nicht nur die größeren Land- und Minengesellschaften. Während deutsche Siedler und Farmer in den 1890er Jahren noch um ihre ökonomische Existenz fürchten mussten, verbesserte sich ihre Lage seit 1900 markant. Dazu trug paradoxerweise die Rinderpest bei, die Südwestafrika ab 1896 verheerte. Mittels Schutzimpfungen konnten deutsche Siedler ihre Herden größtenteils retten. Die Herero hingegen, die den Handel mit Vieh bis zu diesem Zeitpunkt dominiert hatten, verloren auf einen Schlag einen großen Teil ihrer wirtschaftlichen Grundlage. Dieser ökonomische Einbruch hatte massive soziale und kulturelle Folgen: Die Herero sahen sich gezwungen, ihre autarke Lebensweise aufzugeben und bei europäischen Unternehmern und Farmern um Lohnarbeit nachzusuchen. Herero-Chiefs, die einen aufwändigen Lebensstil pÁegten und europäische Luxusgüter und Alkohol schätzen gelernt hatten, waren zur Wahrung ihres Lebensstandards gezwungen, Land zu Spottpreisen an Siedler oder Landgesellschaften zu veräußern. Als Folge dieser Entwicklung büßten zahlreiche politische und religiöse Führer der Herero ihre Legitimation ein. Der durch die Rinderpest von 1896 bewirkte grundlegende Wandel der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse in Zentralnamibia führte zu einer Zunahme von Misshandlungen indigener Arbeitskräfte durch Siedler, die ihr „Herrenmenschentum“ immer selbstbewusster zur Schau stellten. Rassistisch motivierte Übergriffe gegen Afrikanerinnen und Afrikaner gehörten bald zur Tagesordnung. Die wirtschaftlichen und politischen Zukunftsaussichten der europäischen Siedlergesellschaft in Südwestafrika gestalteten sich zu dieser Zeit überaus positiv und vielversprechend. Gleichwohl herrschten in der deutschen Siedlergesellschaft nach 1900 vielerorts nicht etwa Optimismus oder Aufbruchsstimmung. Vielmehr drückten diffuse Ängste und die Furcht vor „Eingeborenenaufständen“ die Stimmung. Die deutsche Siedlerin und spätere Leiterin der Kolonialfrauenschule in Witzenhausen Helene von Falkenhausen beschrieb in ihren Erinnerungen, wie viel Skepsis sie dem Enthusiasmus ihres Gatten entgegen gebracht hatte und wie sie sich vor der Zukunft fürchtete: „Wir ließen die bisher durchlebten arbeits- und sorgenvollen Jahre an unserem Geiste vorüberziehen, und mein Mann sprach voll froher Zuversicht die Hoffnung aus, dass wir endlich besseren, leichteren Zeiten entgegen gingen. Während er so sprach, wurde ich stiller und stiller; auf meine Seele legte sich wie ein Alp die in letzter Zeit so häuÀg wiederkehrende Furcht vor einem nahenden Unheil. Ich bat meinen Mann, die Pläne nicht weiter zu spinnen und erzählte ihm, dass ich schon öfters das Gefühl gehabt hätte, als sollte das Jahr 1904 für uns ein sehr kummervolles werden.“4 Konkrete Gründe für ihre pessimistische Grundstimmung führt Helene 4

Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 204.

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von Falkenhausen nicht an. Ihre Angst bleibt nebulös. Da der Bericht 1906 erschienen und somit nach dem Ausbruch des Kolonialkriegs mit den Herero 1904 verfasst worden ist, ließe sich argumentieren, die Autorin verwende die Schilderung dieser Vorahnung als dramatisches Stilmittel. Allerdings ändert eine solche Schlussfolgerung nichts am Befund einer verängstigten und nervösen Siedlergesellschaft in Südwestafrika. In zahlreichen überlieferten Berichten, Briefen und im Nachhinein veröffentlichten Tagebüchern Ànden sich ähnliche Äußerungen. Das Leitmotiv vieler dieser Aufzeichnungen ist die Angst vor dem Ausbruch eines großen afrikanischen Aufstandes, der die Existenz der deutschen Siedlergemeinschaft plötzlich beenden könnte. Nach der Jahrhundertwende, als die Siedlerschaft zusehends selbstbewusster auftrat und die Ausschaltung der Afrikaner als politisch einÁussreiche Akteure forderte, nahm diese Furcht paradoxerweise geradezu paranoide Züge an. Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Aufstand versetzten die europäische Bevölkerung regelmässig in Angst und Schrecken. Die Funktion derartiger Gerüchte bestand nicht zuletzt darin, die Kolonialregierung unter Druck zu setzen, damit sie sich vehementer für die Interessen der Siedler engagieren und die politische wie ökonomische Unabhängigkeit der indigenen Bevölkerung stärker beschneiden würde. Der Farmer Conrad Rust hielt in seinen Aufzeichnungen denn auch fest, dass die Kolonialregierung das Gefahrenpotenzial dieser Gerüchte durchaus erkannte. Offenbar überlegten sich die Behörden, die Verbreitung nicht erwiesener Berichte über Aufstandsvorbereitungen der Herero unter Strafe zu stellen.5 Allenthalben glaubten deutsche Siedler, Hinweise für Aufstandspläne der Afrikaner zu erkennen. Die Siedlerin Margarete von Eckenbrecher beschrieb, wie sie ihre Waschfrau dabei ertappte, als diese ihrem Kind den Tod aller Weißen in Südwestafrika verkündet haben soll: „Stutzig machte mich ein Lied meiner poetisch veranlagten Waschfrau Emma: Ihr armen Weißen. Ihr kommt ja doch um in diesem Lande. Du kleines Kind kannst nichts dafür, dass du hier geboren bist. Aber auch du musst sterben.“6 Der Farmer Rust wiederum deutete gar einen banalen Vorgang wie das Auftreten eines Herero, der seine Kühe gegen Ochsen eintauschen wollte, als Zeichen für einen baldigen Angriff der Herero.7 Tatsächlich brachen im Januar 1904 Kämpfe zwischen den Herero und den deutschen Kolonialisten aus. Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika dauerte rund vier Jahre und machte den Einsatz von über 20.000 deutschen Soldaten erforderlich. Insbesondere der hartnäckige Widerstand der Nama, die erst später zu den Waffen griffen und sich einer efÀzienten Guerilla-Taktik bedienten, forderte der Kolonialmacht viel Geduld ab. Die Kosten dieses Krieges beliefen sich auf 585 Millionen Reichsmark und führten zu einer politischen Krise in Deutschland.8 Der Krieg kostete zwischen 60.000 und 70.000 Afrikanern das Leben. Dabei wurden die sozio-ökonomischen und politischen Strukturen der Herero und Nama schwer be-

5 6 7 8

Rust: Krieg und Frieden, S. 5. Eckenbrecher: Was Afrika mir gab und nahm, S. 106. Rust: Krieg und Frieden, S. 4. Zu den sogenannten Hottentotten-Wahlen siehe Van der Heyden „Hottentottenwahlen“.

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schädigt. Die deutschen Sieger enteigneten die überlebenden Afrikaner, sperrten sie in Konzentrationslager und zogen sie zur Zwangsarbeit heran.9 In der Historiographie wird dieser Krieg gemeinhin als Genozid oder als Erster Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet.10 Der 1944 vom polnischjüdischen Völkerrechtler Raphael Lemkin eingeführte Begriff „Genozid“ hat sich mittlerweile auch in den Sozialwissenschaften als analytischer Begriff durchgesetzt. Allerdings ist die Verwendung dieses Konzepts in den Geschichtswissenschaften methodisch überaus problematisch und folglich nicht unumstritten.11 Genozidforscher versuchen, über einen Vergleich von Völkermorden strukturelle Gemeinsamkeiten von Massenmorden herauszuarbeiten. Das Resultat dieser Vorgehensweise ist ein idealtypisches Modell, das sich empirisch vorwiegend am Holocaust orientiert. Genozid wird somit in der Regel als langfristig geplanter homogener und zentralisierter Massenmord verstanden. Ferner suggeriert das Genozidkonzept eine strikte dichotomische Unterscheidung zwischen allmächtigen Tätern sowie wehr- und willenlosen Opfern. Zahlreiche jüngere empirische Studien haben die Aussagekraft dieses mechanischen Verständnisses von Massenmord indes in Frage gestellt. Völkermorde ereignen sich oft im Kontext von kriegerischen Ereignissen und sind das Ergebnis von Radikalisierungsprozessen. In den wenigsten Fällen haben Täter ihre Vernichtungsabsichten lange im Voraus minutiös geplant. Zudem macht es nicht immer Sinn, eindeutig zwischen Täter- und Opfergruppen zu unterscheiden. Wie die Analyse der tragischen Ereignisse in Ruanda 1990–1994 und im sudanesischen Darfur seit 2004 zeigt, sind es oft gewaltvolle Interaktionsund Austauschprozesse zwischen verschiedenen Gruppen, die letztlich in genozidale Gewalt münden.12 In den Geschichtswissenschaften dient das Genozidkonzept als Erzählmuster, das die Deutung von komplexen Prozessen kollektiver Gewalt erleichtern und auf einen möglichst einfachen Nenner bringen soll.13 Die bisherige Geschichtsschreibung zum Kolonialkrieg in Namibia 1904-08 beziehungsweise zum Mord an den Herero hat sich das Erzählmuster des Genozids stark zu eigen gemacht. Eine derartige Untersuchung der Ereignisse ist zwangsläuÀg sehr intentionalistisch. Entsprechend werden vor allem ideologische Motive wie zum Beispiel die sozialdarwinistische Einstellung des deutschen Oberkommandierenden in Südwestafrika in den Fokus gerückt.14 Tatsächlich hatte Lothar von Trotha seiner Meinung, „aufständi9 10 11 12 13 14

Für einen Überblick zum Krieg und seinen Folgen siehe Schaller: Kolonialkrieg. Zur Entwicklung der Genoziddiskussion und der Geschichtsschreibung zum Kolonialkrieg siehe: Zimmerer: Colonial Genocide. Für eine substanzielle Kritik am Genozid-Konzept und mögliche methodische Alternativen siehe Gerlach: Extremely Violent Societies. Vgl. Lemarchand: Dynamics; Prunier: Darfur. Hinzu kommt noch eine erinnerungspolitische Dimension, zumal Genozid als das Schlimmste aller Verbrechen („crime of crimes“) gilt. Zu diesem Aspekt siehe Chaumont: Konkurrenz; Schaller: Struggle for Genocidal Exclusivity. Vgl. etwa Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft; Bridgman: Revolt of the Hereros. Moderat intentionalistisch ist Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord. Als einer der ersten hat sich der Völkerrechtler Raphael Lemkin wissenschaftlich mit dem Mord an den

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sche Stämme in Strömen von Blut“ zu vernichten, vor und während des Kolonialkriegs gegen die Herero und Nama mehrfach geäußert. Der Chef des deutschen Generalstabs von Schlieffen hatte den Ansichten seines Untergebenen denn auch beigepÁichtet.15 Gleichwohl ist der Rassismus Lothar von Trothas und vieler deutscher Siedler keine hinreichende Erklärung für die Eskalation der Gewalt bis hin zum Massenmord. Im Nachhinein erschien die Ermordung von bis zu 60.000 Afrikanern vielen Siedlern und Politikern als irrational und kontraproduktiv, da die südwestafrikanische Kolonialwirtschaft dringend auf indigene Arbeitskräfte angewiesen war. Jüngere Arbeiten zum Kolonialkrieg in Namibia haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern militärische Traditionen und Doktrinen sowie situative Faktoren wie beispielsweise Angst, Panik, Gerüchte und Gruppendruck zur Radikalisierung des Verhaltens deutscher Kolonialsoldaten beigetragen haben.16 Eine solche Herangehensweise stellt die Auffassung der traditionellen Kolonialgeschichtsschreibung, welche Europäer als quasi omnipotente Akteure und Afrikaner als hilÁose Subjekte darstellt, radikal in Frage. Vielmehr erscheinen Europäer im kolonialen Kontext oft als „helpless imperialists“, denen es nicht oder nur bruchstückhaft gelang, die Kontrolle über die „situation coloniale“ zu gewinnen.17 In der Tat handelte es sich bei den meisten Kolonialstaaten in Afrika um höchst fragile Gebilde. In den African Studies hat sich dieser Paradigmenwechsel in Form einer Neubewertung der europäischen Kolonialherrschaft schon früher durchgesetzt. Während nach der Unabhängigkeit radikale Historiker wie der Nigerianer Ajayi polemisierten, der europäische Kolonialismus sei nicht mehr als eine Fußnote der afrikanischen Geschichte, betrachten Afrikanisten heute die Handlungsspielräume und vielfältigen aktiven und passiven Widerstandsformen der Kolonisierten sehr viel differenzierter.18 Exzessive Gewalt seitens der Kolonisatoren war daher vor allem ein Zeichen der Schwäche und eine Reaktion auf die mitunter erfolgreichen Strategien der Afrikaner, sich dem Herrschaftsanspruch der Kolonialherren zu entziehen.19 Aus der Diskrepanz zwischen totalem Herrschaftsanspruch und der Realität des kolonialen Alltags, der von Instabilität, politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt war, entwickelte sich ein Gefühl der Ohnmacht, das sich ins-

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Herero auseinandergesetzt. Methodisch hält er sich dabei strikt an das von ihm entwickelte Genozidkonzept. Seine Manuskripte zur deutschen Kolonialherrschaft in Afrika hat er allerdings nicht veröffentlichen können. Vgl. Schaller: Raphael Lemkin. Vgl. Schaller: Kolonialkrieg, S. 166–168. Vgl. Hull: Absolute Destruction; Schaller: From Conquest to Genocide; Schaller: Genocide and Mass Violence; Kuss: Deutsches Militär. Tagungsbericht Helpless Imperialists. Imperial failure, radicalization, and violence. 14.01.2010–16.01.2010, Freiburg i. Br., in: H-Soz-u-Kult, 25.01.2010, . Ajayi: Colonialism. Die zahlreichen Formen des Widerstands der Herero gegen die deutsche Herrschaft in Namibia haben vor allem Gesine Krüger und Jan-Bart Gewald in ihren Arbeiten dargestellt. Vgl. Gewald: Herero Heroes; Krüger: Kriegsbewältigung. Exzessive Gewalt diente häuÀg auch der theatralischen Inszenierung des kolonialen Machtanspruchs. Die Ausstellung von toten Körpern von Rebellen und öffentliche Hinrichtungen sollten der kolonialen Herrschaft Sichtbarkeit und Nachwirkung verleihen. Vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 50; Pesek: Koloniale Herrschaft, S. 191–204.

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besondere in Siedlergesellschaften in Form einer permanenten Krisenstimmung manifestierte. Wie ich eingangs schon dargelegt habe, blieb diese Krisenwahrnehmung in Deutsch-Südwestafrika selbst dann noch bestehen, als sich die Machtverhältnisse eindeutig zugunsten der Europäer verändert hatten und der Ausbau der kolonialen Infrastruktur bedeutend vorangekommen war. Im Folgenden möchte ich das Verhältnis zwischen Gewaltexzessen im kolonialen Namibia und der eben skizzierten Krisenstimmung näher umreißen. Dabei werde ich aufzeigen, dass die ans Paranoide grenzende Krisenstimmung in Deutsch-Südwestafrika ein entscheidender – aber bisher in der Forschung vernachlässigter – situativer Faktor war, der zur Radikalisierung und Entgrenzung von Gewalt beigetragen hat. Selbst der Ausbruch des Krieges von 1904 ging – wie der Historiker Jan-Bart Gewald nachweisen konnte – im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung auf die krisenhafte Panik deutscher Siedler und Militärs zurück.20 Die Eroberung Südwestafrikas zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung Am 12. April 1893 unternahm der deutsche Hauptmann Curt von François einen überfallartigen Angriff auf das Lager der Witbooi-Nama bei Hoornkrans. Hendrik Witbooi, der Kapitän der angegriffenen Nama, beschrieb die Attacke der Deutschen in einem Brief wie folgt: „Captain [von François] attacked us early in the morning while we were unsuspectingly asleep, and although I took my men out, we were unable to beat them back; and the Captain entered the camp and sacked it in so brutal a manner as I would never have thought a member of a White civilised nation capable of – a nation which knows the rules and ways of war. But this man robbed me, and killed little children at their mother’s breast, and older children, and women, and men. Corpses of people who had been shot he burned inside our grass huts, burning their bodies to ash. Sadly and terrifyingly Captain [von François] went to work, in a shameful operation.“21 Die von Curt von François ausgeübte Gewalt, die Massaker an Frauen und Kindern einschloss, war nicht etwa ein Zeichen von Stärke sondern vielmehr eine VerzweiÁungstat. Da die Herero 1890 ein Friedensabkommen mit den ihnen bisher verfeindeten Nama geschlossen hatten, wurde der deutsche Hauptmann nervös und fürchtete, die koloniale Eroberung Südwestafrikas könne gefährdet sein. Daraufhin suchte er sein Heil in einem überstürzten Angriff auf die Nama, der einen mehrjährigen verlustreichen Guerilla-Krieg zur Folge hatte und die Kolonialmacht an den Rand einer Niederlage brachte. Der Reichsregierung in Berlin war klar, dass ein möglicher Verlust Südwestafrikas in Deutschland und vor allem auch auf internationaler Ebene als Blamage sondergleichen angesehen würde, weshalb sie die Befehlshaber vor Ort unter Druck setzte und anwies, den 20 21

Vgl. Gewald: Herero Heroes, S. 191. Brief vom 18.4.1893 von Hendrik Witbooi an Hermanus van Wyk. Der Brief ist abgedruckt in: National Archives of Namibia: Witbooi Papers, S. 126 f. Bei den Briefen von Hendrik Witbooi handelt es sich um Quellen von außergewöhnlichem Wert, zumal für die Frühphase der kolonialen Eroberung Afrikas wenige schriftliche Berichte von indigenen Führern überliefert sind.

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Krieg unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel so schnell wie möglich siegreich zu beenden. Die Anwendung von exzessiver Gewalt wurde so von oberster Stelle legitimiert und gefördert. Diese Episode ist für die koloniale Eroberung Südwestafrikas durchaus charakteristisch. Sie zeigt, wie Panik und Krisenstimmung die Entscheidungsträger vor Ort zu überstürztem Handeln verleitete. Die Folge waren Chaos und Unsicherheit. Der drohende Verlust der Kolonie und der dazugehörige internationale Ansehensverlust waren schließlich nur durch den Einsatz von massiver Gewalt abzuwenden. Die chronische Krisenstimmung der „men on the spot“ und ihr Verhalten, das dann tatsächlich veritable Herrschaftskrisen nach sich zog, waren das Ergebnis eines Widerspruchs, welcher der deutschen Kolonialpolitik inhärent war. Geprägt war diese durch eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts kam dem kolonialen Gedanken große Bedeutung zu. Die Auffassung war verbreitet, dass die Deutschen, als Angehörige einer führenden und bedeutenden „Kulturnation“, dazu verpÁichtet seien, zur Zivilisierung und Christianisierung der Welt beizutragen. Richard Wagner hatte diesen Gedanken bereits 1848 auf den Punkt gebracht: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen. Wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäfÀsches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. Wir wollen es deutsch und herrlich machen. […] Die Strahlen deutscher Freiheit und deutscher Milde sollen den Kosaken und Franzosen, den Buschmann und Chinesen erwärmen und verklären.“22 Wagners Aufruf scheint die These von Susanne Zantop zu bestätigen, die in ihrer Studie zum kolonialen Gedanken in der deutschen Literatur vor der Reichsgründung herausgearbeitet hat, dass das Verlangen nach einem Platz an der Sonne für die Konstituierung einer nationalen deutschen Identität ein wichtiges Element gewesen sei, das in nicht zu unterschätzendem Maße zur Errichtung und Etablierung des Kaiserreichs beigetragen habe.23 Nach der Reichsgründung setzte bald eine intensive und öffentlich geführte Kolonialdiskussion ein, in der kulturmissionarische Argumente mit sozialdarwinistischen Begründungen konkurrierten. Überdies schien der Erwerb oder die Eroberung von Kolonien als Ausweg aus der sozialen Krise, in die Deutschland nach Ansicht vieler politischer Beobachter aufgrund von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum geraten sei. Gegen Ende der 1870er Jahre organisierten sich die Befürworter einer deutschen Expansion nach Übersee in zahlreichen Kolonialvereinen, die zumeist aus geographischen Gesellschaften hervorgegangen waren.24 Als Reichskanzler Bismarck in den Jahren 1884 und 1885 die Erwerbungen deutscher Händler und Abenteurer in Südwestafrika, Ostafrika, Kamerun und Togo unter Reichsschutz stellte, griff die koloniale Begeisterung vollends auf die deutsche Bevölkerung über. Insbesondere die zu er22 23 24

Rede Richard Wagners am 15. Juni 1848 in Dresden. Zitiert nach Glasenapp: Das Leben Richard Wagners, S. 460. Vgl. Zantop: Kolonialphantasien. Zur Genese und Wirkung der organisierten Kolonialbewegung in Deutschland siehe Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 22–27; Gründer: Geschichte, S. 26–50.

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richtende Siedlungskolonie in Südwestafrika beÁügelte die kolonialen Fantasien der Deutschen. Die Kultivierung und Besiedlung Afrikas verstanden weite Teile der Bevölkerung als nationales Projekt von allergrößter Wichtigkeit, von dessen Erfolg der Bestand Deutschlands abhängen sollte.25 Diesen Enthusiasmus teilten Bismarck und seine Nachfolger indes nicht. Bismarck hatte sich vor der Ausstellung der Schutzbriefe 1884 wiederholt als Gegner einer kolonialen Expansion Deutschlands zu erkennen gegeben. Über die Motive für Bismarcks Wende hin zu einer aktiven Kolonialpolitik ist in der Historiographie heftig debattiert worden. Wie Hans-Ulrich Wehler aufgezeigt hat, dürften aber innenpolitische Gründe ausschlaggebend gewesen sein.26 Obwohl die deutsche Regierung den emotionalen und symbolischen Wert von deutschem Kolonialbesitz richtig einschätzen konnte, war sie nicht bereit, größere Summen für den Ausbau der erforderlichen kolonialen Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Bismarck hatte gehofft, vorwiegend private Land- und Konzessionsgesellschaften würden sich der Erschliessung und somit auch der Eroberung der neuerworbenen Kolonialgebiete widmen.27 Diese Hoffnungen erfüllten sich im Fall von Südwestafrika allerdings nicht. Nachdem Kanzler Caprivi die Idee verworfen hatte, das Schutzgebiet wie Sansibar zum Gegenstand eines Tauschgeschäfts mit einer andern europäischen Großmacht zu machen, sah sich die Regierung nolens volens gezwungen, die Kolonisation mit möglichst geringen staatlichen Mitteln selbst voranzubringen. Dabei sollten kostspielige und aufwändige Kolonialkriege tunlichst vermieden werden. Von den Kolonialbeamten vor Ort wurde die Quadratur des Kreises erwartet. Theodor Leutwein, der elf Jahre als Gouverneur in Südwestafrika gedient hatte, erhielt vom Reichskanzler denn auch die folgende Instruktion: „Wir wollen keinen Krieg führen, wir wollen auf unblutige Weise uns immer mehr zu Herren des Landes machen und unsere Herrschaft befestigen. Wir haben Südwestafrika einmal, jetzt ist es deutsches Land und muss als deutsches Land erhalten bleiben.“28 Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, standen dem deutschen Gouverneur hauptsächlich zwei Methoden zur Verfügung: Erstens der Einsatz von massiver aber begrenzter Gewalt, der die Widerstandsbereitschaft der Afrikaner eindämmen sollte sowie, zweitens, die Errichtung eines Systems der indirekten Herrschaft auf der Grundlage von Bündnissen mit indigenen Führern, die mit Hilfe der europäischen Kolonisatoren ihren eigenen Herrschaftsanspruch untermauern und in einigen Fällen gar erweitern konnten. Mit dieser Strategie war Leutwein bis 1904 rela-

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So begrüßte auch Max Weber in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 die imperiale Expansion Deutschlands folgendermaßen: „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.“ Zitiert nach Mommsen: Max Weber, S. 74. Vgl. Wehler: Bismarck. Zur Entwicklung der verschiedenen Land- und Konzessionsgesellschaften in Südwestafrika siehe Drechsler: Land- und Minengesellschaften. Zitiert nach Bley: Kolonialherrschaft, S. 18.

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tiv erfolgreich.29 Der Gouverneur sorgte für günstige politische und ökonomische Rahmenbedingungen, die für den Aufbau einer europäischen Siedlergesellschaft in Südwestafrika erforderlich waren. Aus Sicht der deutschen Siedler bestand die Kehrseite der Medaille jedoch darin, dass sie „abhängige Herren“ blieben. Genau genommen handelte es sich dabei um eine doppelte Abhängigkeit: Politisch, militärisch und ökonomisch waren die Siedler vom Willen der Kolonialbehörden in der Metropole abhängig. Weitaus beängstigender empfanden sie indessen die Tatsache, auf die Kooperationsbereitschaft und den guten Willen von rassisch und kulturell angeblich unterlegenen Afrikanern angewiesen zu sein. Die unter europäischen Siedlern verbreitete Angst vor einem drohenden Verlust der eigenen Vormachtstellung führte zu einer permanenten Krisenstimmung. Die in den Augen der Siedler fehlende Bereitschaft der Reichsregierung und der Kolonialbehörden, die Unterwerfung der afrikanischen Gesellschaften konsequent und endgültig zu betreiben, schürte die Nervosität der europäischen Bevölkerung und bestärkte sie in ihrer Bereitschaft, jederzeit auf das Schlimmste gefasst zu sein und sich für den unausweichlichen Gau vorzubereiten.30 Der Ausbruch des Kolonialkriegs von 1904 als selbsterfüllende Prophezeiung Als der Krieg zwischen den Herero und der deutschen Kolonialmacht im Januar 1904 im zentralnamibischen Okahandja ausbrach, befand sich Gouverneur Leutwein mit dem Großteil der Schutztruppe im Süden des Schutzgebiets, um eine „Strafexpedition“ gegen die Bondelswarts Nama zu führen. Zeitgenössischen Beobachtern schien dies ein Indiz dafür, dass die Herero diesen für sie günstigen Zeitpunkt bewusst gewählt hätten, um einen schon seit Längerem geplanten „Aufstand“ zu beginnen.31 Auch in der Historiographie zum Herero-Krieg hat sich diese Ansicht weitgehend durchgesetzt.32 Gewiss herrschte unter den Herero große Verbitterung über die deutsche Fremdherrschaft mit all ihren demütigenden Begleiterscheinungen. Eine jüngere Generation hatte die Zusammenarbeit ihrer Chiefs mit den Deutschen schon länger kritisiert und radikalere Maßnahmen bis hin zu einer Erhebung gefordert. Einer genaueren empirischen Betrachtung hält die These von der Planung eines Aufstands trotzdem nicht stand. Die Analyse der Ereignisse in Okahandja im Januar 1904 lässt vielmehr den Schluss zu, dass es die panische Reaktion 29 30 31 32

Die beste Analyse des sogenannten Systems Leutwein bietet Bley: Kolonialherrschaft, S. 18– 106. Vgl. Gewald: Herero Heroes, S. 148; Krüger: Kriegsbewältigung, S. 55–56. Vgl. Leutwein: Elf Jahre, S. 467–470; Hintrager: S. 58; Rust: Krieg, S. 4. Vgl. etwa Bridgman: Revolt, S. 64; Drechsler: Kolonialherrschaft, S. 143. Als Belege für diese These dienen Briefe, in denen Samuel Maharero, der Paramount-Chief der Herero, Hendrik Witbooi und andere afrikanische Führer aufgefordert hat, gemeinsam mit ihm gegen die Deutschen zu kämpfen. Vgl. Pool: Maharero, S. 202. Dem Historiker Jan-Bart Gewald hat allerdings aufzeigen können, dass diese Briefe – sofern sie denn authentisch sind – erst nach Ausbruch des Krieges verfasst worden sind und deshalb keinerlei Aufschluss über entsprechende Pläne der Herero bieten. Vgl. Gewald: Herero Heroes, S. 156–161.

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eines deutschen OfÀziers war, welche die gewaltvolle Dynamik ausgelöst hatte: In Okahandja führte Distriktschef Zürn mit Vertretern der Herero Verhandlungen über die Errichtung und Abgrenzung zukünftiger Reservate. Dabei bewies Zürn wenig Fingerspitzengefühl. Auf die Anliegen und Forderungen seiner afrikanischen Verhandlungspartner ging der deutsche OfÀzier nicht ein. Er gestand den Herero viel weniger Land als ursprünglich vereinbart zu und fälschte letztlich ihre Unterschriften unter einem Vertrag. Offenbar war ihm nicht ganz wohl dabei, denn er fürchtete, die Herero könnten nach Rache sinnen.33 Als sich am 10. Januar 1904 eine Delegation der Waterberg-Herero Okahandja näherte, kursierten unter deutschen Siedlern und Soldaten wieder einmal Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden „Eingeborenenaufstand“. Die Herero wollten sich in Okahandja treffen, um die Nachfolge eines kürzlich verstorbenen Chiefs zu klären. Da sich unter ihnen auch die Herero befanden, deren Unterschriften Zürn gefälscht hatte, war sich dieser sicher, dies sei der Auftakt zum lange erwarteten großen Krieg. Zürn ließ Vorbereitungen für die Verteidigung von Okahandja treffen und versetzte damit wiederum die Herero in Unsicherheit und Angst. Der Missionar Fritz Meier berichtete, wie sehr der Aktionismus von Zürn die Herero überraschte. Einen Herero-Chief zitierte Meier folgendermaßen: „Wir begreifen Euch nicht; was soll eigentlich dieses Patrouillenreiten der Soldaten und wozu Áüchten sich die Weißen alle auf die Feste? Wenn wir Gewehre bei uns haben, was in ihren Augen auffällig erscheint, ist das nicht Usus bei uns, wenn es sich um die Wahl eines Häuptlings handelt?“34 Die Herero ließen sich von der deutschen Panik anstecken und glaubten ihrerseits, ein feindlicher Angriff stünde bevor. Samuel Maharero vernahm Gerüchte, Zürn trachte ihm nach dem Leben. Gerüchte, Ängste und Missverständnisse haben letztlich zum Ausbruch des Krieges beigetragen. Selbst nach dem Beginn der Feindseligkeiten beabsichtigten die Herero nicht das Führen eines „VerzweiÁungskampfes“ oder eines „schicksalhaften Rassenkampfes“. Sie hofften, durch einen begrenzten Krieg ihre politische und wirtschaftliche Lage innerhalb des kolonialen Staates zu verbessern. Aus diesem Grund signalisierten sie mehrfach Verhandlungsbereitschaft.35 Doch die alles überlagernde Krisenstimmung unter den europäischen Kolonialisten verhinderte ein Durchbrechen der Gewaltdynamik. Schauermärchen über Gräueltaten der Herero radikalisierten sowohl die politischen Entscheidungsträger in Berlin wie auch Kolonialsoldaten und Siedler vor Ort. In den ersten Kriegswochen lag die Initiative bei den Afrikanern. Es mag paradox erscheinen, dass die Schutztruppe auf den Ausbruch der Feindseligkeiten nicht vorbereitet war, obwohl Siedler und zahlreiche Angehörige der Kolonialregierung von der Idee eines „Eingeborenenaufstands“ regelrecht besessen gewesen waren. Dieser Umstand scheint darauf hinzudeuten, dass Gouverneur Leutwein seinem afrikanischen Partner Maharero vertraut haben muss und zumindest keine unmittelbare Aufstandsgefahr ausgemacht hat. Die organisierte Kolonialbewegung sowie 33 34 35

Gewald: Herero Heroes, S. 145–148. Berlin, Bundesarchiv: R1001, 2113, Bl. 61. Vgl. Krüger: Kriegsbewältigung, S. 60.

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Siedlerlobbies in Deutschland rüttelten die Öffentlichkeit auf und verkündeten, der Verlust Südwestafrikas stünde bald bevor. Der Kaiser und der deutsche Generalstab waren zu radikalen Maßnahmen bereit. Sie hatten die Niederlagen der Italiener 1896 im äthiopischen Adua und der Russen im Krieg gegen Japan 1905 vor Augen. Der Schmach, einem „farbigen Volk“ militärisch zu unterliegen, wollten sie unter allen Umständen entgehen. Gegen den Widerstand des Kabinetts beschlossen sie die Ernennung des Hardliners Lothar von Trotha zum Oberkommandierenden der Streitkräfte in Südwestafrika.36 Gouverneur Leutwein wurde in der Zwischenzeit untersagt, mit den Herero Verhandlungen zu führen. Bei Lothar von Trotha handelte es sich um einen erfahrenen Kolonialkrieger, der bereits in Ostafrika und in China im Rahmen des sogenannten Boxerkriegs Erfahrungen gesammelt hatte. An der Art und Weise, wie er den Krieg in Südwestafrika zu beenden gedachte, ließ er nie den geringsten Zweifel: „Es fragte sich nun für mich, wie ist der Krieg mit den Herero zu beendigen. Die Ansichten darüber, bei dem Gouverneur […] einerseits und mir andererseits gehen gänzlich auseinander. [Ersterer will] schon lange verhandeln und bezeichnet die Nation der Herero als notwendiges Arbeitsmaterial für die zukünftige Verwendung des Landes. Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss […].“37 Mit der Ankunft Lothar von Trothas in Südwestafrika wurde der Kampf gegen die Herero denn auch zu einem Vernichtungskrieg. Mit dem berüchtigten „Schießbefehl“ unterstrich der neue Oberkommandierende seine genozidale Intention.38 An Gräueltaten an der afrikanischen Bevölkerung beteiligten sich deutsche Soldaten aber nicht nur, weil sie das rassistische und sozialdarwinistische Weltbild ihres Befehlshabers teilten. Die Panik und Hysterie der Siedler griffen schnell auch auf Soldaten über, die eigens zur Bekämpfung der Herero nach Südwestafrika entsandt worden waren. Die Furcht vor den angeblich grausamen Herero wurde so zu einem entscheidenden handlungsleitenden Motiv. Insbesondere Gerüchte über die Misshandlung von deutschen Frauen und Kindern durch die Herero steigerten die Wut und die Angst der Kolonialkrieger. In seinem Tagebuch hielt ein Oberleutnant der deutschen Streitkräfte fest: „Die Schufte haben mit einer ausgesuchten Grausamkeit und Rohheit ihre Opfer gequält, oft genug auch Frauen und Kinder. Ich glaube nicht, dass sich Herr Bebel für die schwarzen ‚Brüder‘ so erwärmen würde, wenn er sich höchstpersönlich herbemühte.“39 Aus den Aufzeichnungen des Oberleutnants geht nicht hervor, dass er selbst Zeuge derartiger Brutalitäten wurde. Davon muss er vom Hörensagen erfahren haben. Besonders hartnäckig hielt sich das Gerücht, die Herero würden gefallene oder gefangene deutsche Soldaten ihrer Uniformen berauben und anschließend verstümmeln. Wie sehr solche Geschichten die Deutschen beschäftigt und verängstigt haben, geht aus den Tagebuchaufzeichnungen des Matrosen Auer hervor: „In den Gefechten, die anfangs wegen Mangel an Leuten öfter nachteilig für uns endeten, Àelen den Hereros alle Uniformstücke und 36 37 38 39

Vgl. Zirkel: Militärische Struktur, S. 106–112. Berlin, Bundesarchiv: R1001, 2089, Bl. 5. Vgl. Schaller: Kolonialkrieg, S. 170. Windhoek, National Archives: A 109: S. 39.

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Ausrüstungsgegenstände, welche unsere gefallenen Kameraden trugen, in die Hände; jeden toten deutschen Soldaten beraubten die Marodeure völlig der Kleidung, und der Plündernde zog sie sofort an, wobei die schwarzen Räuber noch sehr stolz auf die gestohlenen Uniformen waren. Wenn nach einigen Wochen eine größere Abteilung nach der Gefechtsstelle vorrückte und die Toten begraben wollte, fand sie diese total entkleidet und entweder von den Feinden verstümmelt oder von wildem Raubzeuge zernagt, das scharenweise die Steppe durchzog, wo es ihm nie an neuer Nahrung fehlte. […] Es blieb schon eine sehr schwierige, mit höchster Lebensgefahr verbundene Aufgabe, die Verwundeten dem Gegner zu entreißen, der kein Mitleid kannte und sie – wenn sie nicht gerettet werden konnten – ohne Gnade zu Tode marterte.“40 Weit verbreitet war zudem die Angst vor den Herero-Frauen. Dazu hielt Oberleutnant Stuhlmann fest: „In dritter Linie halten sich die Weiber auf, die die Männer mit Rufen und sinnlichen Gesängen anfeuern. Wehe dem unglücklichen Feinde, der in deren Hände fällt. Die grässlichsten Verstümmelungen, wie Augenausdrücken, Abschneiden der Geschlechtsteile, langsames allmähliches Einschlagen des Schädels mit dem Kirri [eine Art Keule] harren seiner. Sie sind Bestien und noch schlimmer als ihre sonst ebenbürtigen männlichen Stammesgenossen.“41 Darüber hinaus diente die Dämonisierung der Herero-Frauen dazu, Gewalt gegen Nichtkombattanten zu legitimieren. Berichte über an Frauen verübte Gräueltaten relativierte Generalstabschef Schlieffen in einem Brief an den Reichskanzler mit dem Hinweis auf die angebliche Bestialität der „Herero Weiber“: „Sollten in dem einen oder anderen Ausnahmefalle Frauen erschossen worden sein, so ist zu bedenken, dass Frauen sich nicht nur an den Kämpfen beteiligt haben, sondern auch die hauptsächlichen Urheber der grausamen und scheußlichen Martern waren, denen unsere Verwundeten oft unterworfen worden sind, und dass durch den Anblick der mit bestialischer Absichtlichkeit zur Schau gestellten Opfer die Kameraden zu einer verzeihlichen Wut gereizt wurden.“42 Diese Quellenauszüge verdeutlichen, welche Wirkungsmacht die negativ verzerrte Wahrnehmung der Afrikaner, Angst, Panik, Gerüchte und die in der deutschen Siedlergesellschaft schon seit Beginn der Kolonisation vorhandene Krisenstimmung erzeugt und in welchen Ausmaß diese Faktoren zur Eskalation der Gewalt in Südwestafrika beigetragen haben. Derartige Prozesse der Radikalisierung und der Entgrenzung der Gewalt verunmöglichten selbst dann eine Deeskalation der Situation, als der Krieg schon längst zugunsten der Kolonialmacht entschieden war. Auch die totale Niederlage der Herero und der Nama sowie die weitgehende Zerstörung der Lebensgrundlagen der Afrikaner vermochten Kolonialbehörden und Siedler nicht wirklich zu beruhigen. Krisenstimmung und Furcht vor weiteren Erhebungen blieben bestehen, was aus Sicht der Kolonisatoren die Errichtung eines totalitär anmutenden Überwachungs- und Zwangsarbeitssystems erforderlich machte. 40 41 42

Unterbeck: Südwestafrika, S. 160 f. Windhoek, National Archives: A109: S. 62. Berlin, Bundesarchiv: R1001, 2089: Bl. 107.

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Totale Kontrolle und Sozialtechnologie Als der Guerilla-Krieg gegen die Nama noch andauerte, unterbreitete der stellvertretende Gouverneur von Südwestafrika Tecklenburg der Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amts in Berlin einen Vorschlag, wie in der „Eingeborenenfrage“ verfahren werden sollte. Tecklenburgs Ideen waren überaus radikal: Er forderte die Einziehung allen afrikanischen Landes und sonstigen Besitzes. Zudem hielt er fest, dass „jegliche Stammesorganisation“ aufhören und die Bewegungsfreiheit der Afrikaner eingeschränkt werden müsse. Auch ihren Wohnsitz sollten Herero und Nama fortan nicht mehr frei wählen dürfen: „Werften, die abseits im Felde sich der polizeilichen Kontrolle zu entziehen suchen, werden nicht geduldet. Sie würden die Herde bilden, an denen die Erinnerung an Stammesorganisation und Landbesitz genährt würde. Keine größere Gemeinschaft Eingeborener darf sich selbst überlassen bleiben, sich nach außen als selbständige Körperschaft abschließen.“43 Diese Vorstellungen Áossen 1907 in die sogenannten Eingeborenenverordnungen ein. Die Kolonialverwaltung bezweckte damit, sämtliche Lebensbereiche der aus den Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern Entlassenen zu überwachen. Ab dem Alter von sieben Jahren waren alle Afrikaner verpÁichtet, eine Blechmarke mit einer Nummer, die im „Eingeborenenregister“ verzeichnet war, um den Hals zu tragen. Seinen Wohndistrikt konnte ein Afrikaner nur mit einem Reisepass verlassen, den er am Bestimmungsort gegen eine neue Passmarke einzutauschen hatte. Überdies musste jeder Afrikaner jederzeit ein Dienstbuch mit sich führen, in welchem der aktuelle Arbeitgeber aufgeführt war. Ohne Dienstbuch konnte ein Afrikaner wegen „Landstreicherei“ verhaftet werden.44 Diese Maßnahmen zielten in erster Linie darauf ab, die Afrikaner in eine „Proletarierklasse ohne Stammesidentität“ zu transformieren. Dergestalt sollte dem in der Kolonie chronischen Arbeitskräftemangel entgegen gewirkt werden. Die „Eingeborenenverordnungen“ waren allerdings auch Ausdruck der Kriegshysterie und der in der Siedlergemeinschaft vorherrschenden Unsicherheit. Auch die Nachricht vom Tod der lange erbittert Widerstand leistenden Nama-Führer Hendrik Witbooi und Jakob Morenga sowie die ofÀzielle Aufhebung des Kriegszustandes Ende März 1907 vermochten die nervösen Kolonialisten nicht nachhaltig zu beruhigen. Einzelne lokale Zwischenfälle oder begrenzte Widerstandsaktionen von kleinen NamaGruppen lösten regelmäßig Hysterie und panische Reaktionen aus. Als ebenso beunruhigend empfanden die deutschen Siedler die Tatsache, dass das neue Kontrollsystem von Afrikanern zuweilen umgangen werden konnte. Immer wieder entledigten sich Herero ihrer Passmarken und Áohen in unzugängliche Gebiete, wo sie vor dem Zugriff der Kolonialmacht halbwegs sicher waren. Deutsche Patrouillen unternahmen daher regelmäßige Kontrollen in abgelegenen Regionen, um afrikanische Siedlungen aufzulösen und die Flüchtigen zu jagen. Diese Maßnahmen reichten Siedlern und Farmern jedoch nicht. Sie gelangten mit immer radikaleren Vorschlä43 44

Berlin, Bundesarchiv: R1001, 1220: Bl. 28. Zur Genese und der genauen Form der sogenannten Eingeborenenverordnungen siehe Zimmerer: Deutsche Herrschaft, S. 69–76.

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gen zur Verbesserung des Kontrollsystems an die Kolonialregierung. Der Landwirtschaftliche Verein Okahandja beispielsweise schlug vor, alle Afrikaner in der Kolonie zu tätowieren: „Der Verein ist der Ansicht, dass eine derartige Maßregel heilsam auf zum Entlaufen neigende Eingeborene einwirken würde, weil auch sie von ihrer sehr baldigen Wiederergreifung überzeugt sein müssen. Das EmpÀnden der Eingeborenen würde durch eine Tätowierung nicht verletzt werden, denn sie sind von früher her eine viel grausamere Art der Kenntlichmachung durch ihre Kapitäne, z. B. Abhacken eines Fingergliedes und dergl. gewohnt.“45 Bereits während der Zeit der Kriegsgefangenschaft hatten die überlebenden Herero mit einem Reorganisationsprozess ihrer Gesellschaft begonnen. Treibende Kräfte dieser Rekonstruktionsbemühungen waren Herero, die als „Bambusen“ (Diener) in der deutschen Schutztruppe gedient hatten. Im Verborgenen machten sie sich an die Entwicklung eines ausgeklügelten Netzwerks und Versorgungssystems. Die Strukturen der Schutztruppe dienten ihnen als Vorbild für die Rekonstruktion ihrer Gemeinschaft. Im Geheimen trafen sich die ehemaligen „Bambusen“, um in alten Schutztruppenuniformen gemeinsam Exerzierübungen abzuhalten.46 Den Kolonialherren bereitete diese Entwicklung große Sorgen. Es wurde befürchtet, die Herero würden sich auf einen weiteren Aufstand vorbereiten. Herero, die sich der Kontrolle der Deutschen entzogen hatten, machten sich überdies an den Wiederaufbau ihrer Herden. Europäische Farmer und Siedler beklagten sich denn auch immer häuÀger über dreiste Viehdiebe und setzten die Kolonialregierung unter Druck, die Gefahr, die von den Afrikanern ausgehe, ein für alle Mal zu beseitigen. In deutschen Kolonialzeitschriften wurden Lösungen zur Erhöhung der Sicherheit in Südwestafrika diskutiert. Auf große Resonanz stieß der Vorschlag, Herero und Nama in andere deutsche Kolonien zu deportieren.47 Private Unternehmer wie beispielsweise der General-Vertreter der „Clucose-Sugar-Rfg. Futtermittel Import“ wandten sich mit ähnlichen Vorschlägen regelmäßig an die deutschen Kolonialbehörden: „Wie wäre es, wenn man die gefährlicheren Elemente nach Ostafrika deportiert & sie dort beim Bahnbau verwendet. Infolge der Sprachverschiedenheit würden sie in Ost mit den revolutionären Ideen keinen festen Fuß fassen, während sie in West nach Freilassung doch recht unsichere Cantonisten auf die Dauer bilden. Der Transport kann gar nicht so viel kosten, da ein größeres Schiff doch an 1000 Stück bereits transportieren kann. Man kann die Leute schließlich auch nach andern Deutschen Kolonieen [sic] als Arbeiter transportieren, erhält so ihre Arbeitskraft & säubert das Land.“48 Bei diesen Vorschlägen handelte es sich nicht nur um letztlich unbedeutende sozialtechnologische Utopien und Fantasien kolonialpolitisch interessierter Kreise. Die Kolonialbehörden in Berlin und Windhoek erwogen tatsächlich die Verschickung „ganzer Stämme“ in die Südsee oder nach Neuguinea. Zwischen 1904 und 1914 wurden einzelne Nama-Gruppen versuchsweise nach Ka45 46 47 48

Windhoek, National Archives: ZBU, W. III. b. 1: Bl. 35. Krüger: Kriegsbewältigung, S. 183–297; Gewald: Herero Heroes, S. 215–285. Einen ausführliche Diskussion der Deportationen von Herero und Nama aus Südwestafrika bietet Schaller: Kolonialkrieg, S. 189–195. Berlin, Bundesarchiv: R1001, 2090: Bl. 16.

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merun deportiert. Wissenschaftler und Kolonialbeamte erörterten zudem, ob eine „Vermischung“ von Papua und Afrikanern aus „rassischer Sicht“ überhaupt wünschenswert wäre.49 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die weitere Planung und Ausführung dieses sozialtechnologischen Unternehmens, das letztlich dem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis der europäischen Bevölkerung DeutschSüdwestafrikas geschuldet war. Abschließende Bemerkung: Ein deutscher Sonderweg? Der Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama 1904–1908 hat in den letzten Jahren beachtliche wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit erfahren. In Anbetracht der für die afrikanischen Gesellschaften Südwestafrikas verheerenden Folgen der deutschen Kolonialherrschaft ist dies auch gerechtfertigt. Allerdings ist dieses neuerwachte Interesse vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass dieser Krieg von einem deutschen General geführt wurde, der aus seinem sozialdarwinistischen Rassismus keinen Hehl machte und die Vernichtung des afrikanischen Gegners offen befürwortete. Es erscheint daher verlockend, Kontinuitäten zwischen dem „Ersten Deutschen Völkermord“ in Afrika und dem Holocaust auszumachen. Die Annahme von einer kausalen Verbindung zwischen diesen beiden Fällen von Genozid mündet in die vieldiskutierte These von einem deutschen Sonderweg. Vielen (populär)wissenschaftlichen Arbeiten zum Kolonialkrieg in Namibia liegt diese Intention mehr oder weniger zugrunde, weshalb ideologische Aspekte im Zentrum der Forschung stehen. Das Hauptaugenmerk dieses Beitrags galt indessen situativen und sozialpsychologischen Aspekten. Dabei wurde aufgezeigt, dass der Ausbruch und die Eskalation von kolonialer Gewalt in Südwestafrika zu einem nicht unbedeutenden Teil auf die chronische Krisenstimmung deutscher Kolonialbeamter und Siedler zurückzuführen ist. Diese Feststellung trifft auch auf Fälle kolonialer Gewaltexzesse zu, die von andern imperialen Akteuren begangen wurden. Die Niederschlagung der sogenannten Mau-Mau-Bewegung 1952–1960 im britischen Kenia und der französische Algerienkrieg 1954–1962 sind nur zwei Beispiele. Diese Erkenntnis relativiert die Exklusivität und Sonderstellung des deutschen Kriegs in Südwestafrika, der im Rahmen einer globalgeschichtlichen Betrachtung von kollektiver Gewalt zuweilen als direkter Vorläufer des Holocaust identiÀziert wird.50

49 50

Berlin, Bundesarchiv: R1001, 2091: Bl. 20. Siehe Zimmerer: Nationalsozialismus postkolonial.

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Dominik J. Schaller

Archivquellen Bundesarchiv Berlin Lichterfelde (BArch), Reichskolonialamt (R 1001), 1220: Einziehung von Vermögen der Afrikaner. BArch, R1001, 2089: Differenzen zwischen Generalleutnant v. Trotha und Gouverneur Leutwein über das Verhältnis von militärischen und politischen Maßnahmen zur Beendigung des Krieges. BArch, R1001, 2090: Überführung der Kriegsgefangenen aus Deutsch-Südwestafrika in andere Schutzgebiete. BArch, R1001, 2091: Überführung der Kriegsgefangenen aus Deutsch-Südwestafrika in andere Schutzgebiete. BArch, R1001, 2113: Aufstand der Hereros im Jahre 1904, Band 3. National Archives of Namibia (NAN), A 109: Tagebuch meiner Kriegserlebnisse in Süd-West-Afrika 1904 und 1905 als Oberleutnant der Schutztruppe (Major Stuhlmann). National Archives of Namibia (NAN), ZBU, W. III. b. 1: Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen, Generalia.

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Auf meine Seele legte sich wie ein Alp …

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REGISTER Das Register umfasst geographische Bezeichnungen und Namen, sowohl reale als auch mythologische und literarische. Orthographische oder fremdsprachige Varianten aus Quellenzitaten wurden nicht gesondert aufgeführt. Nicht differenziert wurden verschiedene Zeitstufen geographischer Entitäten. Abkürzungen: Bf. = Bischof, dt. = deutsch; d. G. = der Große; Ebf. = Erzbischof; Fam. = Familie; Frh. = Freiherr; frz. = französisch; Gf. = Graf; Hzg. = Herzog; Kg. = König; Kgn. = Königin; Ks. = Kaiser; lit. = literarisch; P. = Papst; röm. = römisch; s. = siehe; St. = Sankt; tschech. = tschechisch. Abenragel (Abul Hasan Ali ben Abu-Rigal) 368 Adam (lit.) 378 Addison, Joseph 330 Adrian von Bubenberg 231, 236 f. Adua 417 Aelius Donatus 195 f. Afrika 99 f., 104, 195, 407, 411, 414, 421 Ägypten 18 Aimeric 217 Akin, Fatih 356 Albach, Horst 77, 80 Albert II. von Görz-Tirol, Gf. 373 Albertus Magnus, Bf. von Regensburg 189 f., 363 f. Albrecht I. von Habsburg, röm.-dt. Kg. 372 Alessandro de Ritiis 182 Alexandros von Tralleis 195 f. Alfred von Sareshel 189 Altmeier, Peter 268 Amazonien 99 Ambrosius, Bf. von Mailand 318 Amerika 16, 158, 361 Amos (lit.) 361 Anleitner (lit.) 350 f. Ann (lit.) 349, 351 Anonymus Leobiensis 366 Anselm V., Ebf. von Mailand 318 Antichrist s. Teufel Antigone (lit.) 352 Antonius, Marcus (Marc Anton) 223 Apennin 378 Aquila 182 Ariald 313

Aristoteles 181, 184, 189, 221, 363 f., 368 Asinius Pollio, Gaius 221 Athene (lit.) 318 Audiffret, Jean Baptiste 327, 332 Auer 417 Augustinus, Bf. von Hippo Regius 187, 214 f. Augustinus Niphus (Agostino Nifo) 376 Aunpeck, Georg 367 f. Avicenna (Abŗ ’AlĦ b. al-˔usain b. ’Abdullăh b. SĦnă) 189 Aymanns, Peter 48, 55-57 Ba’ashir, Abŗ Bakar 112 Baader, Andreas 344 f. Bacon, Francis 105 Baden 394 f., 399 f. Bali 98, 108-115 Bamberg 218 Barbara von Cilli, röm.-dt. Kgn. 219 Bartholomaeus de San Concordio 216 Basel 181-183, 332 Bateson, Gregory 32 Batur 109 Beauval, Jacques Basnage de 332 Bebel, August 417 Bebermeyer, Renate 120, 134-136 Beda Venerabilis 184, 187, 363, 365, 379 Beixa 106 Beizmenne (lit.) 347 f. Belgien 101 Belial s. Teufel Benedict, Philipp 158 Berlin 262, 269, 271, 355, 412, 416, 419 f. Bern 175, 224-229, 231 f., 237, 242 f., 332 Berndt, Ralph 74

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Register

Besakih 113 Bethlehem 184 Bianchi, Vendramino 327 Bingen 259 Bismarck, Otto von 257, 413 f. Bisson, Thomas N. 305-307 Blainville, Sieur de (Herr von) 331 f. Bloch, Marc 305 f. Blorna (lit.) 347 Blum, Katharina (lit.) 343, 345-348, 350 f., 354 Blumenberg, Hans 118, 166 Boccaccio, Giovanni 216 Bodmer, Johann Jakob 224, 243 Boesch, Ernst 45 Bögler, Franz 252, 270 Böhmen 365, 368, 370, 372 BolafÀ, Ezio 214-216 Böll, Heinrich 345 f., 348 f., 352, 354 Bonaiuti, Baldassarre 193 Boockmann, Hartmut 18 Bossuet, Jean-Bénigne 167 Bourbonen (Fam.) 152 Brahe, Tycho 197 Braudel, Fernand 155 Braun, Karl-Otto 249 f., 253, 270 Bretton Woods 341 Brückner, Peter 346 Brunelleschi, Filippo 308 Brunhölzl, Franz 215 Bruni, Leonardo 216, 219, 240, 334 Bruno von Magdeburg 218 Brustellin, Alf 351 Buback, Siegfried 343 Bubenberg (Fam.) 236 Büchner, Karl 222 Burke, Peter 334 Burrish, Onslow 333 Büsching, Anton Friedrich 331 Byzanz 373 Caesar, Gaius Julius 214 f.,223, 239 Caesarius von Heisterbach 181 Caffaro (di Rustico da Caschifellone) 317- 319 Calixt II., P. 311, 316 Camerarius, Joachim 197 Canossa 315 Canterbury 195 Caprivi, Georg Leo von 414 Carion, Johann(es) 376 Carus, Carl Gustav 30 Carvalho e Mello, Sebastião José de 106, 113 Catilina, Lucius Sergius 214 f., 218 f., 221, 223 f., 229, 231, 234 f., 239, 241 f.

Cato, Marcus Porcius 214, 223, 239 Celtis, Conrad 217 Chile 104 China 158, 417 Chotjewitz, Peter O. 355 Christ, Karl 150 Cicero, Marcus Tullius 214 f., 223 Claudian(us), Claudius 368 Clemm, Carl und August 252 Cloos, Hans Peter 351 Closener, Fritsche 183, 191 Coler, Cristoph 217 Compagni, Dino 219 Konrad von Hirsau 216 Constable, Giles 305 Cordes, Philipp 25 Dante Alighieri 190, 216, 218 Darfur 410 Dehio, Ludwig 16 Delort, Robert 180 Demandt, Alexander 131 Demokrit 184 Denpasar 113 Deutschland 185, 188, 215, 250, 252, 257, 259, 261, 265 f., 269, 274, 307 f., 314 f., 341-343, 349, 351, 353, 355 f., 359, 369, 387, 389 f., 407, 409, 412-414, 417 Diderot, Denis 326 Donati, Corso 219 Dresden 258 Durlach 395 Dutschke, Rudi 351 Ebendorfer, Thomas 368 Eckenbrecher, Margarete von 409 Eder, Liselotte 352, 353 Edigheim 249 Egli, Tobias 197 Elberfeld-Barmen 258 Elliott, John H. 156 Elsass 180, 186 Engelhorn, Friedrich 252 Engels, Friedrich 13 England 306, 326, 333 Ensisheim (Sundgau) 374 Ensslin, Gudrun 345 Erasmus von Rotterdam 196 Erde (Planet) 362, 365, 367, 369, 377, 380 Erikson, Erik Homburger 32, 48-52 Esch, Arnold 226, 234 Euanthius 195 Eubanks, Philipp 140

Register Europa 11, 98, 102-105, 107, 114, 158, 175, 177, 180, 193, 215, 330, 371, 377 Evans-Pritchard, Edward Evan 97 Falkenhausen, Helene von 409 Fassbinder, Rainer Werner 342 f., 351-354 Faulstich, Werner 345 Federer, Friedrich 400 Feldbauer-Durstmüller, Birgit 74 Ferdinand I., röm.-dt. Ks. 379 Festinger, Leo 31 Filipp, Sigrun-Heide 48, 55-57 Florenz 177, 183, 186, 188, 191, 193, 196, 199 f., 216 f., 219 f., 224, 241, 313, 319, 330 Flower, Harriet 150 Foucault, Michel 102 François, Curt von 412 Frankenreich 186 Fränkli, Hans 231 f., 234, 237-240 Frankreich 162, 193, 198, 215 f., 218, 306, 342 Franz von Alençon-Anjou 152 Franz(iskus) von Prag 369 f., 373 Freschot, Casimir 326 f. Freud, Sigmund 32, 39 f., 49, 51 Friaul 364, 370 Fricker, Thüring 175, 224, 226-229, 231-240, 242 f. Fried, Johannes 180 Friedel-Howe, Heidrun 69 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Ks. 219, 310, 315 f. Friedrich II. der Streitbare, Hzg. von Österreich 371 Friedrich II., röm.-dt. Ks. 315 Friedrich III., röm.-dt. Ks. 374, 380 Friedrich III. (der Schöne), Hzg. von Österreich 372 Friedrich von Drosendorf 367 Frutolf von Michelsberg 218 Frye, Northrop 129 Fulda 184 Gaildorf 400 Gailus, Manfred 394 Galen(os) von Pergamon, Aelius 10, 30, 131 GarÀnkel, Harold 31 Gebsattel, Viktor Emil von, Frh. 40 Geißbart (lit.) 233 Gennep, Arnold van 101 Genua 319 Gewald, Jan-Bart 412, 415 Gfeller von Möschbach 228 f., 231, 234, 237 Gibbon, Edward 334

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Giotto di Bondone 308 Giuliano de Medici 219, 241 Glauche, Günter 215 Gluckman, Max 100 Goethe, Johann Wolfgang von 104, 133 Gomorrha (lit.) 187 Gott, Gottheit 101, 104-106, 111, 113, 179-182, 184, 187-190, 192, 194, 229, 240, 270, 364, 378 Götten (lit.) 347 Gottfried von Straßburg 218 Gradenigo, Iacopo 193 Graubünden 162 Graus, František 11, 15 Gregor IX., P. 371 Gregor VII., P. 311 f., 314-316 Gregor, B f. von Tours 186, 362 f. Griechenland 67 f., 72, 90 f. Gros, Antoine-Jean 270 Grossi, Tommaso 315 Grossolan, Eb f. von Mailand 318 Gruner, Johann Rudolf 243 Grünpeck, Joseph 374 f. Grunwald, Henning 12, 19, 126 Guantanamo 356 Gude, Heinrich 326 Guido von Biandrate, Gf. 219 Gunung Agung 108 f., 113 Gutolf von Heiligenkreuz 364, 370 Habermas, Jürgen 71, 390 Habsburger (Fam.) 315 Hannibal 239 Hanno 239 Harding, Elizabeth 12 Hasenack, Wilhelm 74 Haskins, Charles Homer 305 Hauff, Reinhard 343, 349-351 Havighurst, Robert 49 Hazard, Paul 162, 167 Heidegger, Martin 40 Heidelberg 189, 259 Heider, Werner 31 Heiligendamm 11 Heinrich I. von Hasenburg, Bf. von Straßburg 373 Heinrich III., röm.-dt. Ks. 310, 312 Heinrich IV. von Navarra, frz. Kg. 152 f. Heinrich IV., röm.-dt. Ks. 218 f. Heinrich IV., röm.-dt. Ks. 311 f., 314 f., 320 Heinrich V., röm.-dt. Ks. 311 Henri duc de Rohan 161 f. Heron von Alexandria 194

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Register

Herzog, Werner 342 Heussi, Karl 162-165 Hickethier, Knut 264 Hieronymus, Sophronius Eusebius 187, 195 f., 214 Himmel 184, 192, 194, 198 Hippokrates von Kos 29, 131 Hirschfeld, Christian Cayus L. 329 Hitler, Adolf 353 Hobsbawm, Eric J. 154 f., 157 Hoff, Peter 264 Hoffmann, Berthold (lit.) 349-351, 354 Hofmannsthal, Hugo von 213 Hölderlin, Friedrich 41, 103, 114 Hölkeskamp, Karl-Joachim 149 Holland s. Niederlande Holm, Andrej 356 Holstein-Gottorp 329 Holzkamp, Klaus 32 Honorius von Autun (Augustodunensis) 363, 365 Hoornkrans (Hornkranz) 412 Hornbacher, Annette 25 f. Houssaie , Amelot de la 325-327, 329, 332 Hugo von Trimberg 216 Hülsmann, Michael 25, 85, 89 Imhof, Kurt 251 Imperium Romanum 18, 134, 175, 214, 216 f. Indien 107, 111, 193 Indischer Ozean 98, 107 Indonesien 97, 101, 103, 107, 109-112 Isidor von Sevilla, Bf. 181, 183, 362 f., 365 f., 379 Italien 185, 216-218, 307-317, 319-321, 330, 367, 377 Jacobus de Voragine 187 János Hunyadi 368 Japan 417 Java 108 f., 111-113 Jesus Christus 184, 186 f., 269, 361, 370, 375 Jimbaran 112 Johann von Toledo 373 Johann von Viktring 366 Johannes XI., P. 314 Johnson, Jeffrey Allen 250, 252 Jones, Eric Lionel 180 Jordanus, Ebf. von Mailand 318 Jungkind, Thilo 176 Junkersdorf, Eberhard 349 Jupiter (Planet) 367, 369 f., 374, 379 Kamerun 413 Kant, Immanuel 102 f., 105

Karl IV., röm.-dt. Ks. 225, 230, 238 Karl V., röm.-dt. Ks. 196, 376 Karlsruhe 259, 390, 395 Kärnten 364, 370, 372, 378 Katalonien 193 Kelley, Herold 31 Kenia 421 Kennan, George Frost 255 Kepler, Johannes 198 Kistler, Peter 227, 231 f., 234, 236, 238-240 Klages, Christa (lit.) 354 Kleist, Heinrich von 104 Klosterneuburg 366 Kluge, Alexander 342, 351 Koch, Helmut 74 Kohlberg, Lawrence 37 Konersmann, Ralf 131, 178 Königssaal (tschech. Zbraslav) 372 Konrad von Megenberg 190, 364, 366, 370, 377 Konradin, Kg. von Jerusalem und Sizilien 365 Konstantinopel 369 Kopenhagen 117 Koselleck, Reinhart 11, 14-16, 25 f., 117, 198 f., 267, 336 Krain 371 f. Kranz, Natalie 12 Kremsmünster 373, 375 Krummenacher, Alfred 76 Krystek, Ulrich 77, 80, 283 Kuhn, Thomas 18 f. Kurnaz, Murat 356 Küssenberg 186 Kuta 112 Kyoto 11 La Penna, Antonio 215 f., 218, 240 Ladislaus Postumus, Kg. von Böhmen und Ungarn 368 Laing, Ronald 32 Lammers, Walther 16, 18 Landulf(us Patarinus) 313 Landulf (d. J.) von San Paolo 317-319 László Hunyadi 368 Laucken, Uwe 33 Lauingen a. d. Donau 363 Le Bret, Johann Friedrich 327 Le Coutre, Walter 74 Lechfeld 218 Ledworuski, Gabriele 222 Leipzig 190 Lemke, Klaus 345 Lemkin, Raphael 410

Register Lenda, Jacobus de 181 Leutwein, Theodor 414-417 Lévi-Strauss, Claude 122 Lichtenberger, Johannes 374 Liebknecht, Karl 353 Liemar von Bremen, Ebf. 311 Link, Jürgen 141 Link, Werner 11 Linz 374 Liprand 317 f. Lissabon 98, 103-107, 111, 114, 274, 387 Lobsien, Eckard 126, 138 Löhneysen, Gisela 80 Lord Chandos (lit.) 213 Lorenz Mittenauer 377 Lorenz, Juliane 352 f. Lorenzo il MagniÀco de’ Medici 219 f. Lotman, Jurij Michailowitsch 125 Lucca 319 Lucifer s. Teufel Lucius Ateius 221 Ludwig der Bayer, röm.-dt. Ks. 225, 230 Ludwig XIII., frz. Kg. 152 Ludwigsburg 396 Ludwigshafen 249 f., 252-255, 257, 262-264, 267, 269 f., 273 f. Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 368 Lukian von Samosata 195 f. Lukrez (Titus Lucretius Carus) 183 Luther, Martin 52, 375 f., 378 Luxemburg, Rosa 353 Macharzina, Klaus 82 Machiavelli, Niccolò 215, 217, 330, 335 Maharero, Samuel 415 f. Mähren 372 Mailand 188, 217, 219, 310, 312 f., 318 f. Mainka, Maximiliane 351 Mainka-Jellinghaus, Beate 351 Mainz 259 Maladrige, Gabriel 106 Malaspina, Saba 181 Mannheim 252, 257 f., 260, 262 f., 265, 270 Mannheim, Karl 162, 165 Maria von Medici, frz. Kgn. 153 Marozia 314 Marquard, Odo 105 Marr, Rainer 69 Mars (Planet) 367, 369, 370, 374, 379 Marx, Karl 13 Maximilian I., röm.-dt. Ks. 374 f., 380 Maximilian II., bayr. Kg. 252 Medici (Fam.) 190, 219 f., 241 f.

429

Meier, Christian 149-151 Meier, Fritz 416 Meinhof, Ulrike 344, 346 Meins, Holger 349 Meißen 365 Meisterlin, Sigmund 175, 217, 225, 229-240, 242 f. Melanchthon, Philipp 197 Melk 366, 368 Merapi 107, 109 Merkur (Planet) 369 Meuthen, Erich 19 Meyer, Carla 175 Mitteis, Heinrich 306 Mond (Himmelskörper) 361 f., 372, 375, 379 Montesquieu, Charles-Louis de 333 Morenga, Jakob 419 Moskau 154 Mousnier, Roland 154-156 Mugellotal 183 Müller, Rainer 80 Mundenheim 269 Mussato, Alberto 218 Mutter Küster (lit.) 354 Namibia 407 f., 410-412, 421 Ndembu 100 Nebenius, Karl Friedrich 390 Neuberg an der Mürz 371 Neuguinea 420 Niclaus von Diesbach 228, 231 Niederlande 104, 326, 328 f., 331-335 Nietzsche, Friedrich 18 Noah (lit.) 188 Nünning, Ansgar 14, 16, 26 Nürnberg 175, 186, 217, 224 f., 229 f., 232, 235, 237, 240, 242, 308 Oberhausen 342 Okahandja 415 f., 420 Oppau 249, 253-255, 257, 260, 266 Orest (lit.) 221 Origenes (Adamantius) 184 Ortega y Gasset, José 163 Ostafrika (Deutsch-Ostafrika) 413, 417, 420 Österreich 365, 372 f., 375, 378 f. Otto I. d. Gr., röm.-dt. Ks. 218 Otto II., röm.-dt. Ks. 218 Otto von Freising, Bf. 320 Ottonen (Fam.) 216 Paolo dal Pozzo Toscanelli 367 Paracelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim) 184, 197, 375

430 Paris 181, 189 f. Parker, Geoffrey 157-159 Pastika, Mangku 113 Patzel-Mattern, Katja 10, 176 Pavia 309 Pazzi (Fam.) 219, 241 Pazzi, Francisco 241 Pazzi, Giovanni 219 Pazzi, Jacopo 241 f. Pelagius, Alvarus 177 Petrarca, Francesco 216 Petrus Comestor 187, 190 Petrus Meffordis (Meffreth von Meißen) 190 Petrus Mezzabarba, Bf. von Florenz 313 Peuerbach 367 Pfeffer, Jeffrey 71 f., 79, 81 PÀster, Manfred 12, 19, 126 Pfullingen 397 Piaget, Jean 31, 37 Piccolomini, Enea Silvio (Pius II., P.) 219 Pirckheimer, Willibald 217 Pisa 190, 193, 319 Pistoria 218 Platon 190 Plessner, Helmut 40 Polen 365 Poliziano, Angelo 219 f., 241 f. Polybios 335 Pombal, Marquês de s. Carvalho e Mello 106 Ponto, Jürgen 343 Popper, Karl 86 Poršnev, Boris 154 f. Portugal 106 Prag 369 Ptolemäus 368 Quintilian(us), Marcus Fabius 214 f. Rachholz, Maria 266 Rahewin 217-219 Ravaillac, François 153 Regiomontanus (Johannes Müller) 368, 373 Rehberg, Karl Siegbert 20 Reich, röm.-dt. 216, 326, 375 Reichenberg 229 Reims 218 Reitz, Edgar 342, 351 Restoro d’Arezzo 190 Reutlingen 397 Reynman, Leonhard 191 Rheinland-Pfalz 263 Riario, Girolamo 219 Richelieu, Armand-Jean du Plessis 153, 162 Richer von Reims 218

Register Riches, Theo 306 Ricoeurs, Paul 129 f., 137 Riegel, Klaus 32 Rinser, Stefan 355 Rohr, Christian 188, 199, 359 Rom 133, 219, 314, 320 Rommel, Erwin 353 Roosevelt, Franklin D. 17 Rosenplüt, Hans 232 f. Röslin, Helisäus 198 Röthig, Peter 80 Rousseau, Jean-Jacques 133 Ruanda 410 Rupé, Katja 351 Rust, Conrad 409 Saarbrücken 259 Sachsen 311, 316, 378 Sahara 377 Saint-Didier, Alexandre Toussaint Limojon de 326 Saint-Simon, Henri de 14 Salancik, Gerald R. 71 f., 79, 81 Salerno 196 Salier (Fam.) 216, 311 f. Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 175, 184, 213-225, 227, 229-242 Salutati, Coluccio 216 Salviati, Francesco, Ebf. von Pisa 219, 241 Salzburg 365 f., 370 Sankt Gallen 162, 195, 375, Sansibar 414 Santiago de Chile s. Chile Sarpi, Paolo 326 Satan s. Teufel Saturn (Planet) 367, 369 f., 374 f., 379 Sawilla, Jan Marco 26 Schaller, Dominik 360 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 30 Schenk, Gerrit Jasper 15, 175 Schilling, Diebold 243 Schlegel, Friedrich 104, 114 Schleyer, Hanns Martin 343, 351 Schlieffen, Alfred von 411, 418 Schlögel, Rudolf 12 Schlöndorff, Volker 342, 345 f., 348 f., 351 f. Schmal, Stephan 214 Schmauß, Johann Jakob 327 Schmid, Regula 243 Schmid, Wolf 123 f., 128 Schmidt, Helmut 341 f., 354 Schmidt, Siegfried J. 15 Schneider, Peter 351

Register Scholten, Helga 12 Scholz (lit.) 350 f. SchönpÁug, Ute 40 Schreyögg, Georg 86 Schubert, Peter 351 Schulenburg, Nils 80-86 Schuster, Peter 17-19, 177 Schütze, Fritz 38 Schweinfurt 188, 364 Schweiz 328, 332-335, 378, 395 Schweyger, Franz 377 Seeley, John Robert 141 Sempronia 219, 223 Seneca, Lucius Annaeus 184 Sergius III., P. 314 Seveso 176 Sidonius Apollinaris (Gaius Sollius Modestus Sidonius Apollinaris) 194 Siegenthaler, Hansjörg 17, 390 Sig(is)mund, röm.-dt. Ks. 219, 367 Sinkel, Bernhard 351 Sixtus IV., P. 219 Sizilien 193 Skandinavien 215 Smedslunds, Jan 33 Sodom (lit.) 187 Sonne (Stern) 361 f., 369, 375, 379 Sophokles 352 Spanien 373, 379 Spengler, Oswald 18 Sperl, Alexander 378 Sri Lanka 107 Staehle, Wolfgang H. 77 Stanyan, Abraham 331 f. Starn, Randolph 145 Staufer (Fam.) 216, 308, 315 f. Steiermark 372 Steinert, Heinz 345 Stettler, Michael 243 Steyr 375 f. Stierle, Karlheinz 121, 127 f. Stierlin, Helm 32 StoefÁer, Johann(es) 197, 374, 376 Straßburg 182 f., 188, 191, 373 Straub, Jürgen 25 Strayer, Joseph R. 305 Studer, Gottfried 227, 234 Stuhlmann, Franz 418 Stuttgart 396 Südwestafrika (Namibia) 360, 407-410, 412-415, 417-421 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 221

431

Suharto, Haji Mohamed 111 Sulpicius Severus 218 Sumatra 107 f. Swakopmund 408 Symes, Ronald 150 Tacitus, Publius Cornelius 214 Tecklenburg, Hans 419 Tempier, Étienne, Bf. 189 f. Temple, William 327 Teufel (Antichrist, Belial, Lucifer, Satan) 187, 229 f., 233, 239 f., 242, 373 Thailand 107 Thisiphone (lit.) 229 Thomas von Aquin 187, 364 Thukydides 27 Titus Petronius (genannt Arbiter) 195 Togo 413 Toskana 180, 193 Tötges (lit.) 347 f. Trevor-Roper, Hugh R. 157-159, 162, 167 Trier 185 Tristan (lit.) 218 Trobriand 99 Troeltsch, Ernst 162, 165 Troia 193 Trotha, Lothar von 410 f., 417 Trotta, Margarete von 345, 354 f. Tübingen 197 Tuchman, Barbara 16, 19 Turner, Viktor 99-103, 107, 115 Twinger von Königshofen, Jakob 191 Ulich, Dieter 33 f., 41, 53 Ulrich II. von Cilli, Gf. 368 Ungarn 371 f. Urban IV., P. 365 Valentin Preuenhueber 375 Valerius Maximus 239 Valois (Fam.) 152 Valvasor, Johann Weichard Frh. von 371 Veltlin 162 Venedig 216, 325-328, 330, 332-335, 369 Verdi, Giuseppe 315 Vergil (Publius Vergilius Maro) 368 Vierhaus, Rudolf 12, 14, 19, 149 f., 160 Villani, Giovanni 177, 188, 218 Visconti, Giangaleazzo 217, 219 Vogel, Bernhard 344 Volker (lit.) 349, 351 Voltaire (François Marie Arouet) 104, 167 Voss, Martin 250 Wagner, Richard 413 Walter von Brienne 177

432 Warburg, Aby 190 Watzlawik, Paul 32 Weber, Max 414 Wehler, Hans-Ulrich 414 Weiner, Bernard 31 Weingartner, Hans 356 Weinrich, Harald 138 Wels 377 Welzer, Harald 11 Wenders, Wim 342 Wengler, Martin 178 Wenzel, röm.-dt. Kg. 367 White, Hayden 11, 13, 129 f., 135, 251 Wick, Johann Jakob 378 Wickham, Chris 306 Widmer, Paul 335 Wido von Mailand, Ebf. 313 Widukind von Corvei 218 Wien 367, 372, 378 Wiesbaden 259, 349 Wilhelm von Conches 190, 377 Willhelm II., dt. Ks. 417 Willi, Jürg 32

Register Windhoek 408, 420 Winkler, Angela 349 Winkler, Heinrich August 354 Witbooi, Hendrik 412, 415, 419 Wittgenstein, Ludwig 34 Witzenhausen 409 Wolf, Joachim 85 WülÀng, Wulf 141 Württemberg 378, 394 f., 398 Yudhoyono, Susilo Bambang 111 Zahl, Peter-Paul 355 Zantop, Susanne 413 Zdenko von Waldstein, Baron 217 Zedler, Johann Heinrich 326 Zeus (lit.) 318 Zill, Rüdiger 118 Zimmermann, Clemens 359 Zürich 162, 332, 378 Zürn, Ralf 416 Zwettl 366, 373 Zwierlein, Cornel 180 Zwingli, Huldrych 197

V I E RT E L JA H R S C H R I F T F Ü R S O Z I A L U N D W I RT S C H A F T S G E S C H I C H T E – B E I H E F T E

Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0846

164. Manuel Schramm Konsum und regionale Identität in Sachsen Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung 2002. 329 S., kt. ISBN 978-3-515-08169-6 165. Rainer Metz Trend, Zyklus und Zufall Bestimmungsgründe und Verlaufsformen langfristiger Wachstumsschwankungen 2002. XVIII, 533 S., geb. ISBN 978-3-515-08238-9 166. Jürgen Schneider (Hg.) Natürliche und politische Grenzen als soziale und wirtschaftliche Herausforderung Referate der 19. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 20. April 2001 in Aachen 2003. 299 S., kt. ISBN 978-3-515-08254-9 167. Albert Fischer Luftverkehr zwischen Markt und Macht (1919–1937) Lufthansa, Verkehrsflug und der Kampf ums Monopol 2003. 367 S., kt. ISBN 978-3-515-08277-8 168. Bettina Emmerich Geiz und Gerechtigkeit Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter 2004. 334 S., kt. ISBN 978-3-515-08041-5 169. Günther Schulz / Christoph Buchheim / Gerhard Fouquet / Rainer Gömmel / Friedrich-Wilhelm Henning / Karl Heinrich Kaufhold / Hans Pohl (Hg.) Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2003. 661 S., geb.

ISBN 978-3-515-08435-2 170. Christine Reinle Bauernfehden Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich 2003. 589 S., geb. ISBN 978-3-515-07840-5 171. Bernd Fuhrmann Konrad von Weinsberg Ein adliger Oikos zwischen Territorium und Reich 2004. 388 S., kt. ISBN 978-3-515-08456-7 172. Thomas Hill Die Stadt und ihr Markt Bremens Umlands- und Außenbeziehungen im Mittelalter (12.–15. Jahrhundert) 2004. 423 S. mit 29 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08068-2 173. Susanne Hilger „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und DaimlerBenz (1945/49–1975) 2004. 314 S. mit 16 Abb. und 7 Graf., geb. ISBN 978-3-515-08283-9 174.1 Gerd Höschle Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939 Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität 2004. 369 S., kt. ISBN 978-3-515-08531-1 174.2 Michael Ebi Export um jeden Preis Die deutsche Exportförderung von 1932 bis 1938 2004. 268 S., kt. ISBN 978-3-515-08597-7 174.3 Christoph Buchheim (Hg.) German Industry in the Nazi Period 2008. 214 S. mit 9 Abb. und 1 Faltkte., kt. ISBN 978-3-515-09150-3 174.4 Jonas Scherner

Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung 2008. 320 S. mit 62 Tab. und 26 Schaubildern, kt. ISBN 978-3-515-09152-7 174.5 Ulrich Hensler Die Stahlkontingentierung im Dritten Reich 2008. 183 S. mit 9 Abb. und 21 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08985-2 175. Rolf Walter (Hg.) Geschichte des Konsums Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 23. bis 26. April 2003 in Greifswald 2004. 452 S., kt. ISBN 978-3-515-08540-3 176. Georg Altmann Aktive Arbeitsmarktpolitik Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland 2004. VI, 289 S., kt. ISBN 978-3-515-08606-6 177. Arnd Reitemeier Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters Politik, Wirtschaft und Verwaltung 2005. 722 S., geb. ISBN 978-3-515-08548-9 178. Hans Pohl Wirtschaft, Unternehmen, Kreditwesen, soziale Probleme Ausgewählte Aufsätze 2005. 1. Band: XII, 1–872 S., 2. Band: VIII, 873–1333 S., geb. ISBN 978-3-515-08583-0 179. Moritz Isenmann Die Verwaltung der päpstlichen Staatsschuld in der Frühen Neuzeit Sekretariat, Computisterie und Depositerie der Monti vom 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert 2005. 182 S., kt. ISBN 978-3-515-08523-6 180. erscheint nicht 181. Henning Trüper Die Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte und ihr Herausgeber Hermann Aubin im Nationalsozialismus 2005. 167 S., kt.

ISBN 978-3-515-08670-7 182. C. Bettina Schmidt Jugendkriminalität und Gesellschaftskrisen Umbrüche, Denkmodelle und Lösungsstrategien im Frankreich der Dritten Republik (1900–1914) 2005. 589 S., kt. ISBN 978-3-515-08706-3 183. Josef Matzerath Adelsprobe an der Moderne Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung und nichtrationale Rededefinition einer traditionalen Sozialformation 2006. 611 S., geb. ISBN 978-3-515-08596-0 184. Brigitte Kasten (Hg.) Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000) Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag 2006. XX, 408 S., geb. ISBN 978-3-515-08788-9 185. Jennifer Schevardo Vom Wert des Notwendigen Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der fünfziger Jahre 2006. 320 S., kt. ISBN 978-3-515-08860-2 186. Irmgard Zündorf Der Preis der Marktwirtschaft Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963 2006. 333 S. mit 11 Graf., kt. ISBN 978-3-515-08861-9 187. Torsten Fischer “Y-a-t-il une fatalité d’hérédité dans la pauvreté?” Dans l’Europe moderne les cas d’Aberdeen et de Lyon 2006. 236 S., kt. ISBN 978-3-515-08885-5 188. Rolf Walter (Hg.) Innovationsgeschichte Erträge der 21. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 30. März bis 2. April 2005 in Regensburg 2007. 362 S. mit 40 Abb. und 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08928-9 189. Sebastian Schmidt / Jens Aspelmeier (Hg.) Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und

190.

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früher Neuzeit 2006. 233 S. mit 14 Graf. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-08874-9 Michel Pauly Peregrinorum, pauperum ac aliorum transeuntium receptaculum Hospitäler zwischen Maas und Rhein im Mittelalter 2007. 512 S. mit 2 fbg. Abb., 40 fbg. Ktn. und CD-ROM., geb. ISBN 978-3-515-08950-0 Volker Manz Fremde und Gemeinwohl Integration und Ausgrenzung in Spanien im Übergang vom Ancien Régime zum frühen Nationalstaat 2006. 360 S. mit 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08969-2 Markus A. Denzel / Hans-Jürgen Gerhard (Hg.) Wirtschaftliches Geschehen und ökonomisches Denken Ausgewählte Schriften von Karl Heinrich Kaufhold aus Anlaß seines 75. Geburtstages 2007. 572 S., geb. ISBN 978-3-515-09017-9 Satoshi Nishida Der Wiederaufbau der japanischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Die amerikanische Japanpolitik und die ökonomischen Nachkriegsreformen in Japan 1942–1952 2007. 474 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09056-8 Boris Gehlen Paul Silverberg (1876–1959) Ein Unternehmer 2007. 605 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09090-2 Frank Pitzer Interessen im Wettbewerb Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955–1966 2007. 482 S., kt. ISBN 978-3-515-09120-6 Gabriel Zeilinger Lebensformen im Krieg Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekriegs 1449/50 2007. 285 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09049-0 Matthias Steinbrink Ulrich Meltinger Ein Basler Kaufmann am Ende

des 15. Jahrhunderts 2007. 601 S. mit 1 Farb- und 8 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-09134-3 198. Philipp Robinson Rössner Scottish Trade in the Wake of Union (1700–1760) The Rise of a Warehouse Economy 2008. 392 S. mit 41 Graf., kt. ISBN 978-3-515-09174-9 199. Rolf Walter (Hg.) Geschichte der Arbeitsmärkte Erträge der 22. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 11. bis 14. April 2007 in Wien 2009. 421 S. mit 36 Abb. und 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-09230-2 200. Peter Kramper Neue Heimat Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982 2008. 664 S., geb. ISBN 978-3-515-09245-6 201. Markus A. Denzel Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914 2008. 581 S. und 1 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-09292-0 202. Angelika Westermann Die vorderösterreichischen Montanregionen in der Frühen Neuzeit 2009. 384 S., kt. ISBN 978-3-515-09306-4 203. Gudrun Clemen Schmalkalden – Biberach – Ravensburg Städtische Entwicklungen vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit 2009. 393 S., kt. ISBN 978-3-515-09317-0 204. Stefan Krebs Technikwissenschaft als soziale Praxis Über Macht und Autonomie der Aachener Eisenhüttenkunde 1870–1914 2009. 472 S. mit 22 Abb. und 5 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09348-4 205. Markus A. Denzel / Margarete Wagner-Braun (Hg.) Wirtschaftlicher und sportlicher Wettbewerb Festschrift für Rainer Gömmel zum 65. Geburtstag

2009. 438 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09373-6 206. Sabine von Heusinger Die Zunft im Mittelalter Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg 2009. 662 S. mit 5 Abb., 30 Tab., 9 Zeichn. und CD-ROM ISBN 978-3-515-09392-7 207. Verena Postel Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter 2009. 189 S., kt. ISBN 978-3-515-09393-4 208. Beate Sturm ,wat ich schuldich war‘ Privatkredit im frühneuzeitlichen Hannover (1550–1750) 2009. 336 S. mit 46 Abb. und 18 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09431-3 209. Hendrik Mäkeler Reichsmünzwesen im späten Mittelalter Teil 1: Das 14. Jahrhundert 2010. 328 S. mit 13 Ktn., 3 Diagr. und 2 Münztaf., geb. ISBN 978-3-515-09658-4 210. in Vorbereitung 211. Volker Ebert / Phillip-Alexander Harter Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985) 2010. 278 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09693-5 212. Volker Ebert Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972) 2010. 452 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09692-8 213. Markus A. Denzel / Jan de Vries / Philipp Robinson Rössner (Hg.) Small is Beautiful? Interlopers and Smaller Trading Nations in the Pre-industrial Period Proceedings of the XVth World Economic History Congress in Utrecht (Netherlands) 2009 2011. 278 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09839-7

214. Rolf Walter (Hg.) Globalisierung in der Geschichte Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel 2011. 273 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09851-9 215. Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 216. Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 217. Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 218. Bastian Walter Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 219. Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb. und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 220. Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 221. Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1

Krisen – sie bezeichnen das, was eigentlich undenkbar ist: Die Ereignisse überschlagen sich, werden als unkalkulierbar wahrgenommen, ihr Ausgang ist ungewiss. Andererseits wird Krisen mit festen sprachlichen Mustern begegnet. In der Kommunikation wird ihnen ein logischer Ablauf, ein Telos unterstellt. Damit sind sie nicht nur Mittel zur Zukunftsbewältigung, sondern sie ordnen auch den Blick in die Vergangenheit: In den historischen Wissenschaften dient das Schlagwort der Krise sowohl interdisziplinär als auch transepochal als Leitbegriff, um Kontinuitäten

wie auch Wandel zu erklären. Die Vielzahl der konstatierten Krisen lässt freilich zweifeln, wie sich ein breit gefasster Krisenbegriff hermeneutisch schlüssig definieren lässt. Wann ist eine Ereigniskette als „Krisenzeit“ zu qualifizieren? Wie beständig sind solche Qualifizierungen? Zugleich stellt sich die Frage nach der narrativen Konstruktion solcher „Krisengeschichten“: Nötigt der Fokus auf Krisen zu einer bestimmten Strukturierung des Stoffs, zu einem bestimmten Darstellungsziel? Formt er damit implizit unsere Forschungsaussagen?

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ISBN 978-3-515-09659-1