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German Pages 410 [414] Year 2021
NASSAUER GESPRÄCHE
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS WIRTSCHAF T, RELIGION UND GESUNDHEIT ALS GEGENSTAND VON BÜROKR ATIE IN DEUTSCHLAND 1930 –1960 Herausgegeben von Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht
Franz Steiner Verlag
NASSAUER GESPRÄCHE DER FREIHERR-VOM-STEIN-GESELLSCHAFT Band 12 Herausgegeben von der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V., Schloss Cappenberg Geschäftsstelle: Freiherr-vom-Stein-Platz 1, 48147 Münster www.freiherr-vom-stein-gesellschaft.de
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS WIRTSCHAF T, RELIGION UND GESUNDHEIT ALS GEGENSTAND VON BÜROKR ATIE IN DEUTSCHLAND 1930 –1960
Herausgegeben von Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht Unter Mitarbeit von Anna Elbers, Benedikt Kemper und Jan H. Wille
Franz Steiner Verlag
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INHALT Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
Verwaltungslogik und kommunikative Praxis. Zur Einleitung
7
LOGIKEN DES VERWALTENS Stefan Fisch
Politische Beamte und Politisierung von Beamten
25
Christoph Lorke
Autoritäre Verwaltung zwischen ‚Konsequenz‘ und ‚Angemessenheit‘. Binationale Eheschließungen im Nationalsozialismus
59
Niklas Lenhard-Schramm
Die zwei Körper des Ministers. Personale Behördenbezeichnungen in Verwaltungslogik und kommunikativer Praxis
87
BÜROKRATIEN ZWISCHEN PLAN UND MARKT – WIRTSCHAFT VERWALTEN Anna Elbers
„Der getreue Unterbau?“ Die Zusammenarbeit des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag am Beispiel der Arbeiten zum Kammerrecht 123 Raphael Hennecke / Sebastian Teupe
Neue Wirtschaftspolitik, alte Richter. Wettbewerbsregulierung in der frühen Bundesrepublik aus Sicht der Rechtsprechung
145
Dierk Hoffmann
Der Aufbau der Wirtschaftsverwaltung in der SBZ / DDR. Kontinuitäten und Brüche
183
6 Inhalt
Michael C. Schneider
Wirtschaft verwalten – Kommentar
201
DIE TRANSZENDENZ IM WELTLICHEN STAAT – RELIGION VERWALTEN Benedikt Brunner
Verwaltung des volkskirchlichen Erbes im deutschen Protestantismus zwischen Diktatur und Demokratie, 1930–1960
213
Sascha Hinkel
„Eine weitere Diskussion über diese und ähnliche Fragen dürfte wohl ebenso zeitraubend wie unfruchtbar und ergebnislos sein.“ Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ in der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und kirchlicher Verwaltung
241
Jan H. Wille
Wie selbstverständlich einhalten. Normensetzende Verwaltungspraktiken beim Reichskonkordat nach 1945
263
Christiane Kuller
Religion verwalten – Kommentar
293
VON BÜRGERN UND PATIENTEN – GESUNDHEIT VERWALTEN Franziska Kuschel
Gesundheit als umstrittene Bundesaufgabe. Politische Gestaltungsansätze des Bundesministeriums für Gesundheitswesen in den 1960er Jahren
307
Benedikt Kemper
Ein ganzes System auf der Anklagebank. Öffentliche Unsicherheitswahrnehmung als Katalysator ministerialen Verwaltungshandelns
337
Annette Hinz-Wessels
Medizinische Spezialbehandlungen in Westdeutschland. Verwaltungshandeln und kommunikative Praxis in der DDR
367
Malte Thießen
Gesundheit verwalten – Kommentar
395
Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS Zur Einleitung
A
ls in der Bundesrepublik Ende der 1950er Jahre vermehrt Kinder mit fehlgebildeten Gliedmaßen zur Welt kamen, wurde über viele Monate weder erkannt, dass die Zahl der geschädigten Kinder dramatisch zunahm, noch dass es einen Zusammenhang mit dem soeben auf den Markt gekommenen Schlafmittel Contergan gab. Das Medikament, welches werdenden Müttern als völlig unbedenkliche Hilfe bei Schwangerschaftsbeschwerden empfohlen wurde, erwies sich als ein Wirkstoff mit hoch fruchtschädigender Wirkung. Bekannt wurde dieser Zusammenhang mit erheblicher Zeitverzögerung. Erst die Intervention des Kinderarztes Widukind Lenz im November 1961 machte den Fall Contergan publik. Er schrieb an die Forschungsabteilung des Herstellerkonzerns Grünenthal, die abwiegelnd reagierte, und sprach auf einem Ärztekongress über die besorgniserregenden Ergebnisse seiner Forschungen, die eine eindeutige Korrelation von Contergan-Einnahme der Mutter und Fehlbildungen des Neugeborenen belegten. Erst als die Zeitung Welt am Sonntag diese Hinweise in einem Artikel vom 26. November 1961 aufnahm, stoppte einen Tag später die Firma Grünenthal die Auslieferung von Contergan.1 Als Einleitung für einen Band mit Studien zur Verwaltungslogik und bürokratischer kommunikativer Praxis mit Schwerpunkt auf der Zeit zwischen den 1930er und den 1960er Jahren taugt die Aufdeckung des Contergan-Skandals gerade deshalb, weil Verwaltung und Behördeninstanzen in diesem Zusammenhang nicht oder doch erst sehr spät auftauchten. Bis zur Initiative von Widukind Lenz hatten die zuständigen Behörden auf Landesebene auf die besorgniserregende Zunahme 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lenhard-Schramm, Contergan-Skandal.
8 Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
von Fehlbildungen bei neu geborenen Kindern nicht reagiert, ein Bundesministerium für Gesundheit existierte zu diesem Zeitpunkt nicht und wurde erst im Nachgang zum Contergan-Skandal 1961 geschaffen. Die Zurückhaltung der Behörden erklärt sich einerseits aus einer großen Distanz der Verwaltung zum Feld der Medikamentenherstellung und -nutzung. Ein arzneimittelrechtliches staatliches Zulassungsverfahren hatte es im Vorfeld nicht gegeben. Die Unbedenklichkeit von Arzneimitteln prüften nicht Behörden, sondern die Herstellerfirmen in eigener Verantwortung. So hatte sich der Kinderarzt Lenz mit seinem Verdacht, dass Contergan eine fruchtschädigende Wirkung habe, ganz selbstverständlich nicht an die Behörden, sondern an die Herstellerfirma gewandt, das war gängige Praxis. Die staatliche Arzneimittelaufsicht war hingegen zu der Zeit von einem passiven Amtsverständnis geprägt, nach dem sie nur auf Antrag oder offizielle Informationen zu reagieren hatte. Die Gesetzeslage war ebenso unbestimmt: Zwischen 1959 und dem Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1961 hätte nicht einmal eine rechtliche Grundlage für das Verbot von Contergan existiert. Andererseits lässt sich die fatale Zurückhaltung der Behörden unter anderem mit einer (in diesem Fall falschen) Lehre aus der NS-Vergangenheit erklären. Die steigende Zahl von Fehlbildungen bei neugeborenen Kindern wurde deshalb nicht bekannt, weil diese nicht erfasst wurden. Tatsächlich hatte man auf Verwaltungsseite bewusst auf die statistische Erfassung verzichtet, weil die Erinnerung an die zeitgenössisch sogenannte ‚Kinder-Euthanasie‘ in der NS-Zeit noch frisch war. Eine Meldepflicht für Fehlbildungen fehlte somit in der Bundesrepublik, wollte man doch nicht qua zentralisierter Datensammlung einer Mordaktion potenziell Vorschub leisten, wie sie das NS-Regime seit 1939 bis zum Kriegsende betrieben hatte.2 Und genau dieses Moment des ‚Lernens‘ aus der NS-Diktatur führte zum Ende der 1950er Jahre dazu, dass das Medikament Contergan zunächst bis Mitte 1961 rezeptfrei, später dann für wenige Monate länger rezeptpflichtig bis inklusive November 1961 als Schlaf- und Beruhigungsmittel für Schwangere vertrieben wurde. Allein in der Bundesrepublik Deutschland kamen in den Folgejahren vierbis fünftausend Kinder mit fehlgebildeten oder fehlenden Gliedmaßen zur Welt. Erst in der Folgezeit und in Reaktion auf den Contergan-Skandal änderte sich dann vieles im behördlichen Umgang mit Arzneimitteln. Mit der Einrichtung des Bundesministeriums für Gesundheit änderten Politik und Verwaltung ganz grundsätzlich die Kompetenzverteilung und Verfahrenswege in Reaktion auf den Contergan-Skandal. Ebenso wurden auch die gesetzlichen Grundlagen verändert, indem der Gesetzgeber zahlreiche Bestimmungen des Arzneimittelrechts vor allem mit Blick auf die Zulassung von Medikamenten wie auch die Produkthaftungsregeln neu erließ. Gesundheit und speziell die Herstellung, der Vertrieb und die Einnahme von Medikamenten wurden zunehmend als ein Politikfeld konzipiert, welches von der Politik gestaltet, mit Regeln versehen und aus der Verwal2 Ebd., S. 381–422.
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS
tung in Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft, Apothekern und der Pharmaindustrie administriert wurde. Der Contergan-Skandal und das (Nicht-)Verhalten der Verwaltung stehen deshalb am Anfang unseres Bandes mit Studien zur Verwaltungslogik und zu kommunikativer Praxis in bürokratischen Zusammenhängen, weil dieses Beispiel die gängige Routine der Forschungen zu Behörden und der Verwaltung im Allgemeinen produktiv irritiert. In mehrfacher Hinsicht zeigt dieser Einzelfall, wie wichtig es ist, bestimmte Beschränkungen der bisherigen Behördenforschung zu überwinden: Weder ein akteurs- oder organisationszentrierter noch ein nur auf ein politisches System beschränkter Zugriff alleine kann den einleitend beschriebenen Zusammenhang fassen und analysieren. Hätte man, um nur eine Facette herauszugreifen, nur auf die Akteure in der Verwaltung geschaut, wäre das Behördenversagen bei Contergan gar nicht oder erst zu einem sehr späten Zeitpunkt aufgedeckt worden. Das Feld Gesundheitspolitik und speziell das der Medikamentenzulassung, der Kontrolle des Vertriebs wie auch der Wirksamkeit von Wirkstoffen wurde erst im Laufe der 1960er Jahre tatsächlich von der Verwaltung erschlossen. Wer diesen Prozess in den Blick bekommen will, darf sich daher nicht an den organisatorischen Grenzen einzelner Ministerien oder Behörden orientieren, sondern sollte über funktionale Zusammenhänge danach fragen, wie der Bundesstaat und die Länder in das Feld der Gesundheitspolitik eingriffen und ihr Verhältnis zu den beteiligten Akteuren regelten. Deshalb taugt das Beispiel des Behördenverhaltens im Contergan-Skandals dazu, die „kritische konzeptionelle Selbstbefragung“ der so stark boomenden Behördenforschung anzuregen.3 In diesem Sinne soll im Folgenden nicht nur ein kurzer Aufriss der Entwicklung von Behördenforschung im ‚Aufarbeitungsboom‘ auf wissenschaftliche Verengungen aufmerksam machen, sondern auch anhand konzeptioneller Überlegungen deutlich werden, auf welche Weise unser Projekt diese Sackgassen zu vermeiden sucht.
I.
Verwaltungspraxis als Kommunikation: Methodische Reflexionen des ‚Aufarbeitungsbooms‘
Die Historiographie zur Verwaltung und zu einzelnen Behörden hat einen rapiden Aufschwung genommen – und wird das auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch tun. Was über viele Dekaden allein das Geschäft von wenigen Spezialistinnen und Spezialisten aus der Rechts-, der Politik- und der im engeren Sinne Verwaltungswissenschaft war, entwickelte sich seit Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend zu einem Boom, der nur wenige zeithistorische Lehrstühle und Forschungsinstitute nicht involvierte. Spätestens in Folge der „Nachrufaffäre“ im Auswärtigen Amt im Jahr 2005, die der grüne Außenminister Joschka Fischer 3 Weinke, Alles noch schlimmer. Vgl. auch Mentel, Über die Notwendigkeit der Selbstreflexion
sowie ders., Der kritische Blick auf sich selbst.
9
10 Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
mit dem Einsetzen einer Historikerkommission zur Untersuchung der Geschichte des ‚alten‘ und des ‚neuen‘ Außenministeriums zu beantworten suchte, schlug die „Stunde der Kommissionen“.4 Rund zwanzig unterschiedliche Forschungszusammenhänge wurden installiert, die sich mit der Geschichte bundesdeutscher Behörden wie auch mit deren Vorgängerinstitutionen im Nationalsozialismus beschäftigten.5 In Verwaltung und Politik lösten sich bestehende Vorbehalte und Widerstände gegen eine Durchleuchtung insbesondere der NS-Vergangenheit und des Übergangs in die Nachkriegszeit nicht nur weitestgehend auf, sondern wurden von der gegenteiligen Überzeugung abgelöst. Zugespitzt gesprochen gehört heute die geschichtspolitische Offenheit und der Wille zur Aufarbeitung der eigenen Institution zu den guten Gepflogenheiten behördlicher Öffentlichkeitsarbeit. Unter dem Label ‚Aufarbeitung‘ signalisieren die Spitzen der Institutionen Transparenz gegenüber möglichen Verstrickungen in die NS-Diktatur, den damals begangenen Staatsverbrechen wie auch einer mangelhaften Auseinandersetzung damit nach 1945. Nicht nur der Staat als Abstraktum, sondern – so das Signal – auch einzelne seiner Institutionen fühlen sich für die Geschichte der von ihnen repräsentierten Verwaltungsstrukturen verantwortlich. Ob und gegebenenfalls welche Weiterungen diese Form der symbolischen Kommunikation auch materialiter hat, bleibt dabei in der Regel offen. Als aufmerksamer Beobachter dieser Entwicklung hat der Historiker Christian Mentel das Jahr 2016 als einen erneuten Schub in dieser Entwicklung charakterisiert.6 In diesem Jahr lobte die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), ein vier Millionen Euro starkes Forschungsprogramm zur „Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden“ aus.7 Dieses finanziert das Projekt „Verwaltungslogik und kommunikative Praxis im und nach dem Nationalsozialismus: Wirtschaft, Religion und Gesundheit im Zugriff zentraler Behörden 1930–1960“, aus dem der vorliegende Sammelband hervorgeht. In unserem Projekt wie auch darüber hinaus gilt, dass der geschichtspolitischmoralische Impetus, wie ihn der Fördergeber motiviert, nicht deckungsgleich ist mit der innerfachlichen Ausdifferenzierung von Wissen.8 Insbesondere bei einer so massiv auftretenden und damit lenkenden Auftragsforschung besteht die Gefahr, dass die impulsgebende theoretische Reflexion und die methodische Weiterentwicklung des Feldes zu kurz kommen und stattdessen mindestens implizit die Erwartungshaltung der Finanziers erfüllt wird. Gewarnt wurde vor Einseitigkei4 Schildt, In der Welt historischer Kommissionen, S. 315. 5 Vgl. Mentel/Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus, S. 106–
111. 6 Vgl. Mentel, Über die Notwendigkeit der Selbstreflexion. 7 Vgl. Forschungsprogramm zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden, URL: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/390062/c4aa8d1a 36dec7b78c17726c34bdb69b/2016-11-23-forschungsprogramm-ns-vergnagnehit-data.pdf?download=1 (letzter Zugriff am 7.6.2021). 8 Vgl. Mentel, Über die Notwendigkeit der Selbstreflexion.
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS
ten, Selbstreferentialität und Innovationsscheu. Es sei „alles noch viel schlimmer“ gewesen als gedacht, so karikierte Axel Schildt den zu erwartenden Duktus von Ergebnissen, wenn diese denn vor allem aus der rückwärtsgewandten Wiederholung von bereits Bekanntem bestünden.9 Verwaltungsgeschichte ist keine Fortschrittsgeschichte. Mit dem Boom der Behördenforschung und ihrem besonderen Charakter als Auftrags- beziehungsweise als Anregungsforschung hat sich ein spezielles Narrativ etabliert, welches implizit, gelegentlich sogar explizit, auf die Erwartungshaltung von Auftraggebern reagiert. Die Entwicklung von Behörden wird vor allem aus der Perspektive einer wachsenden Distanzierung von der NS-Vergangenheit beschrieben. Das ist auf den ersten Blick offensichtlich und gelegentlich angelegt durch den spezifischen Zugriff. Wer konzeptionell vor allem NS-belastete Köpfe wie auch in der Diktatur erlassene Gesetze und Verordnungen ‚zählt‘, wird selbstredend, mit zeitlich größerem Abstand zu diesen, Zusammenhänge feststellen. Ebenso gilt: Wer sein Erkenntnisinteresse darauf richtet, in welchem Maße und mit welchen Effekten Kontinuitäten, aber auch neue Impulse die Verwaltungspraxis nach innen und außen über die Regimewechsel 1933, 1945 und 1949 hinweg prägten, wird damit nur einen kleinen und vielleicht nicht einmal den wirkmächtigsten Teil in den Blick nehmen können. Auch wenn das oben angeführte Beispiel der Rolle der Behörden im Contergan-Skandal nicht überstrapaziert werden soll, belegt es diesen Hinweis doch zumindest punktuell. Für die fatale Passivität der Behörden waren weder die beruflich-politische Sozialisation der Akteure in der Diktatur noch ‚veraltete‘ Gesetze allein ursächlich, im Gegenteil: Die gutgemeinten ‚Lehren‘, die man aus der Distanzierung zur NS-Diktatur gezogen hatte, bewirkten das Gegenteil des Gewollten. Bis heute, so hat Annette Weinke ihre Reflexion der Behördenforschung resümiert, verharrt ein Teil dieses Forschungsstrangs im „unreflektierten Erzählmodus einer demokratie- und erinnerungspolitischen Fortschrittsgeschichte“.10 Dass sich dessen Überzeugungskraft immer stärker abschwächt, so die Vermutung von Weinke, zeigen auch die Studien im vorliegenden Band. Ein zweiter Punkt, der den besonderen Bias von Teilen der aktuellen Forschung erklären hilft, ist eine einseitige Konzentration auf die politischen Kontexte von Verwaltung und Behördenteilen. Diese ist nicht nur im besonderen Impuls des BKM-Aufarbeitungsprojekts von 2016 angelegt, sondern lässt sich auch weit darüber hinaus als Problem charakterisieren.11 Verwaltungen werden oftmals beschrieben als Maschinen, als Organismen, als Gehirne, als Kulturen oder sogar als psychische Gefängnisse.12 Mit Blick auf staatliche Macht sind sie als langer 9 Schildt, In der Welt historischer Kommissionen, S. 320. 10 Vgl. Weinke, Alles noch viel schlimmer, Text ohne Paginierung. 11 Vgl. Forschungsprogramm zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zentraler
deutscher Behörden, URL: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/390062/c4aa8 d1a36dec7b78c17726c34bdb69b/2016-11-23-forschungsprogramm-ns-vergnagnehit-data.pdf? download=1 (letzter Zugriff am 7.6.2021). 12 Vgl. die ausführliche Analyse der einzelnen Metaphern bei Morgan, Images of Organization.
11
12 Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
Arm von Herrschaft, ihre Durchsetzung im Alltag oder die Repräsentation von Macht vor Ort gefasst worden. Solche Metaphern können hilfreich sein, um bestimmte Aspekte der Funktion und des Funktionierens von Verwaltung zu fassen. Was dabei weniger in den Blick kommt, ist das, was Verwaltung alltäglich tut und wie sie damit Bedeutung erst konstituiert. Verschiedene Studien zeigen, dass sich Verwaltungshandeln keinesfalls als Vollzug von von oben erlassener Anordnungen beschreiben lässt, sondern die verschiedenen Akteure Protagonisten vielfältiger Aushandlungsprozesse sind: „Im Alltag verwaltet Verwaltung Wirklichkeit“,13 konstituiert und verändert diese, indem sie beispielsweise Eingaben und Informationen von außen in eine bürokratisch zu verarbeitende Sprache übersetzt und so anschlussfähig macht an die Welt der Gesetze und Verordnungen. Andererseits kommuniziert sie kontinuierlich, um die Wirklichkeit in eine der Organisation zugängliche Façon zu übersetzen. Verwaltungen kommunizieren mit über-, nebenund untergeordneten Verwaltungen; sie sprechen intern, um in den einzelnen Zügen der Verwaltung Abstimmung und Kongruenz zu erreichen; sie kommunizieren mit den Verwalteten, die zunehmend nicht nur Objekt ihrer Tätigkeit sind, sondern auch responsiv wirken.14 Die vorrangige Praxisform von Verwaltung ist damit die der Kommunikation. Verwaltung setzt Impulse der Politik um, indem sie Normen kommuniziert und implementiert, sie befolgbar macht und ihre Ignorierung ahndet. Verwaltung greift andererseits auf die Welt zu, sammelt Informationen, ordnet und kategorisiert das Vorfindbare, um Wissen zu generieren, damit Entscheidungen der Politik vorzubereiten oder diese gar nahezulegen. Wer die Praxis des Verwaltens in den Mittelpunkt stellen will, muss daher nicht nur beachten, auf welche Weise Verwaltung die von der Politik zugewiesenen Aufgaben für sich definierte, deren Bearbeitung intern organisierte und diese dann praktisch vollzog, sondern auch vor allem, wie sie diese extern legitimierend gegenüber den Verwalteten, den direkt betroffenen und einbezogenen Interessengruppen kommunizierte.
II. Verwaltungslogik und kommunikative Praxis: Fragestellungen und Perspektiven Den Kern des vorliegenden Sammelbandes bildet ein Forschungsprojekt, in dem ein Team aus Münsteraner und Hamburger Kolleginnen und Kollegen die entwickelten Prämissen umzusetzen versucht. Dabei geht es weniger um die Geschichte einzelner Behörden und ‚Ämter‘, sondern vielmehr um die kommunikativen und praktischen Logiken der Verwaltenden gegenüber den Verwalteten. Wir analysieren, auf welche Weise Verwaltung die von der Politik zugewiesenen Aufgaben für sich definierte, deren ‚Bearbeitung‘ intern organisierte und diese dann extern legitimierend gegenüber den Adressaten, vor allem gegenüber direkt betroffenen 13 Haas, Verwaltungsgeschichte, S. 181. 14 Vgl. Raphael, Die Sprache der Verwaltung und Becker, Sprachvollzug im Amt.
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und einbezogenen Interessengruppen kommunizierte. Dazu analysieren wir, wie zwischen den 1930er und den 1960er Jahren Verwaltung drei ‚klassische‘ und tief in die Gesellschaft hineinwirkende Politikfelder bearbeitete: Wie wurde die Wirtschaft erfasst, organisiert und gelenkt? Wie wurden die Religionsgemeinschaften staatlich reglementiert und die Beziehungen wie auch die gemeinsamen Felder zwischen Staat bzw. Land organisiert? Wie griff der Staat im Feld der Gesundheitspolitik ein und regelte sein Verhältnis zu den beteiligten Akteuren? Im Bereich der Wirtschaft beließen die Nationalsozialisten zwar grundsätzlich das Privateigentum, schränkten die private Verfügung darüber aber immer stärker ein. Neben den klassischen Instanzen der Wirtschaftsverwaltung waren es eine Reihe von (durchaus konkurrierenden) Sonderinstitutionen, die qua Lenkung die Rüstungsanstrengungen für den Krieg maximieren sollten. Die beiden deutschen Nachfolgestaaten entwickelten dann in der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges hoch unterschiedliche, ebenfalls stark politisierte Konzepte und Praktiken der Wirtschaftsorganisation und -lenkung, die unmittelbar mit dem politischen Selbstverständnis des Gemeinwesens verbunden waren (‚soziale Marktwirtschaft‘ versus ‚sozialistische Planwirtschaft‘). Trotz aller Unterschiede auf der ideologischen Ebene zeigen sich doch in der Art der Verwaltung starke Kontinuitäten, die nicht allein auf die in der Zusammenbruchgesellschaft der Besatzungszonen vergleichbaren wirtschaftlichen Problemlagen, sondern auch auf eine gewisse Elitenkontinuität zurückzuführen ist. Ein gutes Beispiel für das Austarieren von staatlicher Wirtschaftsverwaltung und gesellschaftlicher Selbstverwaltung stellen die Industrie- und Handelskammern dar, die sowohl Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet übernahmen wie auch die Unternehmen gegenüber dem Staat vertraten, also selbst am Schnittpunkt von Verwaltung und Verwalteten standen.15 Die politische Regulierung von Religionsgemeinschaften und ihren kirchlichreligiösen Belangen war spätestens seit den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts ein permanentes Thema staatlicher Verwaltung. Während in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts die jeweiligen Staatsparteien den öffentlichen Einfluss der Kirchen mit repressiven Maßnahmen zurückzudrängen versuchten, bemühten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Anschluss an staatskirchenrechtliche Traditionen der Weimarer Republik um ein kooperatives Verhältnis. Im ‚Dritten Reich‘ war die kirchenbezogene Staatsverwaltung seit 1935 im Reichskirchenministerium zentralisiert, in der DDR seit 1954 in der Arbeitsgruppe/Abteilung für Kirchenfragen beim ZK der SED bzw. seit 1957 im Staatssekretariat für Kirchenfragen. In der Bundesrepublik war und ist die verwaltungsmäßige Ausgestaltung des Staats-Kirchen-Verhältnisses im Wesentlichen 15 Siehe dazu das Promotionsprojekt von Anna Elbers: „[D]er stille, aber getreue Unterbau“!?
Die Zusammenarbeit der Wirtschaftsverwaltungen Deutschlands mit dem Deutschen Industrieund Handelstag im Zeitraum von 1930 bis 1960 – Zwischen Vereinnahmung und Kooperation (Arbeitstitel).
13
14 Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
eine Angelegenheit der Bundesländer. Gleichwohl waren und sind in der Bundesrepublik auch zentrale Bundesbehörden und Ministerien mit religionspolitischen Angelegenheiten befasst. Entgegen der landläufigen Meinung, Religion sei eine ‚Privatsache‘, zeigt der verwaltungsgeschichtliche Blick auf die Bereiche von Kirchen- und Glaubensgemeinschaften, dass auch diese zum Gegenstand von staatlichem Verwaltungshandeln geworden sind. Besonders deutlich wird dies an den komplizierten Verhandlungen und Debatten um die Fortgeltung des Reichskonkordats von 1933 auf dem Gebiet der Bundesrepublik, die erst durch ein von manchen als salomonisches, von anderen als inkonsistent bezeichnetes Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1957 beigelegt werden konnten.16 Der staatliche Umgang mit dem vielfältigen Politikfeld der Gesundheit war im 20. Jahrhundert einem starken institutionellen Wandel unterworfen. Zusätzlich fielen zahlreiche Bereiche der Gesundheitsversorgung in den Kompetenzbereich der Länder, gerade in den ersten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums. Entsprechend existierte auf der Zentralebene bis nach dem Zweiten Weltkrieg kein Gesundheitsministerium. In der Weimarer Republik fielen Aufgaben wie der Gesundheitsschutz, die Prävention, die Statistik wie auch die Finanzierung von Gesundheitsversorgung auf Reichsebene in die Zuständigkeit des Reichsministeriums des Innern und des Reichsgesundheitsamts. Im Nationalsozialismus wurde das Gesundheitswesen durch Sonderbeauftragte und Parteistellen zunehmend ‚polykratisiert‘ und stark politisch eingebunden. Nach 1945/49 beschritten die beiden deutschen Staaten zunächst unterschiedliche Wege: Während in der DDR ab 1949/50 ein eigenes Gesundheitsministerium existierte, zeichnete in der Bundesrepublik zunächst ganz im Sinne des klassischen Leitbildes der ‚Medizinalpolizei‘ der Bundesminister des Innern für das Gesundheitswesen verantwortlich. Im Jahr 1952 kam das Bundesgesundheitsamt hinzu, bevor 1961 das Bundesministerium für Gesundheitswesen gegründet wurde. Daher war die Verwaltung der Gesundheit in besonderem Maße vom Zusammenspiel verschiedener Behörden auf unterschiedlichen Ebenen geprägt. Eine weitere Herausforderung bildete ein immer wieder aufflammendes, enormes öffentliches Interesse an Gesundheitsthemen. Sei es der Contergan-Skandal in den 1960er Jahren, sei es die SARS-CoV-2 Pandemie heute, Gesundheitsthemen elektrisieren die Öffentlichkeit und erzeugen intensive gesellschaftliche Debatten. Dieses Spannungsfeld aus verteilten Kompetenzen, politischen Vorstellungen und den Ansprüchen der Verwalteten, in welchem die Gesundheitsverwaltung in allen Systemen zu navigieren gezwungen war, entfaltet sich eindrücklich am Beispiel des vielleicht heikelsten Eingriffs der Gesundheitsverwaltung in das Leben der Verwalteten: der zwangsweisen Verbringung in die Psychiatrie. Hier war die Verwaltung in jedem System neu aufgefordert, eine den Ansprüchen der Zeit entsprechende Balance zwischen der Freiheit
16 Siehe dazu das Promotionsprojekt von Jan H. Wille: Das Reichskonkordat 1933 bis 1957. Ein
Abkommen im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche (Arbeitstitel).
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des Individuums und der Sicherheit der Gesellschaft zu finden. Eine mit Blick auf das oben skizzierte Spannungsfeld beinahe unmögliche Aufgabe.17 Wirtschaft, Religion und Gesundheit – alle drei Politik- und Verwaltungsfelder zeichnen sich dadurch aus, dass sie während des Nationalsozialismus nach politischen Vorgaben extrem ideologisiert waren und nach 1945 entsprechend umgestaltet werden mussten, in der DDR unter gänzlich anderen Vorzeichen als in der Bundesrepublik. Gerade diese starke politische Überformung lässt eine vergleichende und systemübergreifende Analyse als besonders reizvoll erscheinen, gerade auch dann, wenn über den Nationalsozialismus hinaus nach Traditionslinien in die Weimarer Republik zurückgefragt wird. Wer mit dieser Intention und auf diese Weise nach der ‚NS-Vergangenheit‘ und der ‚NS-Belastung‘ von zentralen deutschen Behörden fragt, ist auf eine problemerschließende methodisch-theoretische Vergewisserung angewiesen, welche Akteurskonstellationen, die interne Binnenstrukturierung und das Verwaltungshandeln ebenso berücksichtigt wie die Außenrepräsentation. All zu lange wurden Verwaltungen in der wissenschaftlichen Reflexion als rein zweckgebundene Organisationen angesehen, die mittels Differenzierung von Routineaufgaben und Leitungsfunktionen, zweckmäßiger Arbeitsteilung und Funktionszuweisungen zentrale Regelungen und Gesetze umsetzen.18 Diesem Verständnis von Verwaltungshandeln als das Prozessieren von rationalen Zweck-Mittel-Entscheidungen gemäß einer „logic of consequence“ haben die beiden Organisations- und Politikwissenschaftler James G. March und Johan P. Olsen in einer inzwischen sehr wirkungsreichen Theoriebildung das Handlungsmodell einer „logic of appropriateness“ entgegengesetzt, die dem tatsächlichen Handeln von Verwaltungsakteuren ihrer Meinung nach wesentlich näher kommt. Denn Verwaltungen folgen nicht immer nur zweckrationalen Effizienzgesichtspunkten, sondern müssen zugleich auf Erwartungen der Verwalteten reagieren und dafür sorgen, dass ihre Tätigkeit Akzeptanz und Glaubwürdigkeit von Seiten der Gesellschaft erfährt.19 Politische Akteure, aber auch Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung handeln demnach stets in einem ‚frame‘ von Überzeugungen, Rollenbildern und Erwartungen, die sie mit dem größeren sozialen Kontext, in dem sie sich bewegen, teilen. March und Olson folgen damit einem neo-institutio17 Vgl. das Promotionsprojekt von Benedikt Kemper: Den Wahnsinn verwalten. Unsicherheit
als Triebfeder von Einweisungsrechtsreformen zwischen der Weimarer Republik und dem geteilten Deutschland (Arbeitstitel). 18 Den klassischen Referenzpunkt für diese Sicht stellt Max Webers Idealtypus der ‚Bürokratie‘ als Ausprägung ‚legaler Herrschaft‘ dar: „Die rein bureaukratische, also: die bureaukratischmonokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung“. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 128. 19 March/Olsen, Rediscovering Institutions, S. 21–26; siehe auch dies., The Institutional Dynamics of International Political Orders, S. 949 ff.; dies., The Logic of Appropriateness.
15
16 Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht
nalistischen Theorieansatz, für den Handeln in Organisationen als bloßes Befolgen strenger Verfahren und rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen nicht hinreichend beschrieben werden kann. Vielmehr ist die Praxis von Individuen und Organisationen in der Sicht dieser Schule stets eingebettet in ein Set von „Institutionen“, verstanden als übergeordnete, sowohl kognitiv manifeste als auch latente Elemente enthaltende „Erwartungsstrukturen“, die „darüber bestimmen, was angemessenes Handeln und Entscheiden ist“.20 Erst durch die Einbettung in den weiteren normativ-kulturellen Kontext und die Adaption an gesellschaftliche Vorstellungen von der eigenen Rolle gewinnen Akteure und Organisationen soziale Akzeptanz und Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihres Tuns – eine Voraussetzung, ohne die Verwaltungen kaum effizient arbeiten können. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung sind die kulturellen Grundlagen des Verwaltungshandelns in den letzten Jahren vor allem unter dem Begriff der „Verwaltungskultur“ rubriziert worden.21 Erst die Berücksichtigung dieser kulturell-normativen Erwartungen kann sichtbar machen, wie weit Verwaltungen ihren jeweiligen Handlungsspielraum legitimerweise nutzen können und ab wann sie ihren Auftrag in den Augen der Verwalteten überschreiten. Ein gewisser Pragmatismus in der Ausgestaltung von Handlungsspielräumen ist insofern geradezu Voraussetzung für ein umweltbezogenes Verwaltungshandeln und sorgt dafür, dass sich dieses im sturen Prozessieren von Regeln und Dienstwegen nicht selbst blockiert. Oder, wie der Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel schreibt: „Dadurch werden gewissermaßen die Ecken und Kanten der bürokratischen Organisation glatt geschliffen und alltagsnahe Entscheidungen möglich, die sowohl der Verwaltung selbst als auch ihren Klienten nutzen, bis hin zur ‚brauchbaren Illegalität‘, wie Niklas Luhmann es überspitzt genannt hat.“22 Die ‚Logik der Angemessenheit‘ ist in moralischer Hinsicht daher auch nicht unbedingt besser als die ‚Logik der Konsequenz‘. Was jeweils als ‚angemessen‘ gilt, hängt vielmehr von der Wahrnehmung und der Definition der jeweiligen Situation ab, welche sich je nach historischem Kontext äußerst unterschiedlich darstellt. Wie eine Situation moralisch bewertet wird, präfiguriert jedenfalls maßgeblich die möglichen Handlungsoptionen. Letztlich wird man in der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Untersuchung konkreter Verwaltungsabläufe immer Aspekte aus beiden Logiken identifizieren können. Je nachdem, ob ein Verwaltungsakt von den Akteuren der Verwaltung selbst als alltägliche Routine oder als Einzelfall, als Regel oder Ausnahme interpretiert wird, ändert sich der Umgang mit ihm: statt schematischer Abarbei20 Hasse/Krücken, Neo-institutionalistische Theorie, S. 237. Auf die Bedeutung des neo-instituti-
onalistischen Theorieansatzes für eine erneuerte Verwaltungsgeschichte weist auch Birgit Emich hin – und dies nicht nur mit Blick auf die Frühe Neuzeit: Emich, Verwaltungskulturen im Kirchenstaat?, S. 169 ff. 21 Vgl. etwa Fisch, Verwaltungskulturen – geronnene Geschichte? und ders., Verwaltungskulturen als ‚geronnene Geschichte‘. Konkret im Hinblick auf die Erforschung einer einzelnen Behörde: Günther/Maeke/Palm/Richter/Stange, Kommunikation und Hierarchie. 22 Seibel, Verwaltung verstehen, S. 38 (mit Verweis auf Luhmann, Funktionen, S. 304–314).
VERWALTUNGSLOGIK UND KOMMUNIKATIVE PRAXIS
tung öffnet sich dann ein Raum für Diskussionen und Aushandlungsprozesse mit Betroffenen, politischen Kräften und der gesellschaftlichen Umwelt. Gerade in Zeiten des Regimewechsels – für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts insbesondere die Brüche von 1933 und 1945/49 – entstanden dadurch im Hinblick auf die ‚richtige Verwaltung‘, auf ihre jeweilige Effizienz und Angemessenheit zum Teil weit ausgreifende „Zonen der Unsicherheit“ (Wolfgang Seibel),23 in denen die vormals ausgehandelte Praxis des Verwaltens zunächst einmal neu justiert werden musste. Weniger die Verwaltungsroutinen, die ‚Logik der Konsequenz‘, sondern vor allem die grundsätzliche Organisation der Verwaltung wie auch die ‚Logik der Angemessenheit‘ mussten in diesen kritischen Momenten unter den Beteiligten – der Politik, den Akteuren der Verwaltung, wie auch den Verwalteten bzw. den Interessengruppen – neu austariert werden. Diese Neuadjustierung zwischen verwaltungsinterner Konsequenz und sozialer Angemessenheit zeigt sich vor allem im Hinblick auf drei Fragenkomplexe: a) Die Frage nach der internen Organisation und Praxis des Verwaltens: Welche Ämter und Behörden waren für welche Aufgabe ‚zuständig‘ und wie wurde diese ‚Zuständigkeit‘ abgegrenzt? Die Orientierung an einzelnen Sachthemen – etwa Wirtschaft, Religion und Gesundheit – statt an einzelnen Ministerien und Behörden erlaubt es, wechselnde bürokratische Zuständigkeiten und damit Machtverschiebungen zu identifizieren und zu beschreiben. Welche formellen und informellen Wege gingen einzelne Vorgänge bis zur Entscheidung? Welcher Ressourcen (Alltagswissen, Erfahrung, Expertise usw.) und welcher Techniken (Aktenführung, Karteien usw.) bediente man sich? Welche Routinen und Vorstellungen von ‚Normalität‘ unterlagen den einzelnen Vorgängen? Wie wurde das notwendige ‚Wissen‘ zu den einzelnen Sachthemen aufgebaut, um überhaupt ‚angemessen‘ reagieren zu können? b) Die Frage nach den jeweiligen Akteurskonstellationen und den politischgesellschaftlichen Ressourcen: Im übergreifenden Blick über einzelne Behörden und Ministerien hinaus können im Hinblick auf einzelne Sachthemen Interaktionszonen kenntlich gemacht werden, die das Ineinandergreifen unterschiedlicher Akteure innerhalb und außerhalb von Verwaltungen aufweisen. Welche Organisationen, welche Personen waren qua Zuständigkeit, aber auch auf eigene Initiative hin an spezifischen Entscheidungsprozessen beteiligt? Welches Sozialprofil hinsichtlich der Kategorien Geschlecht, Sozialschicht, Konfession, Ausbildung und Alterskohorte prägte die Akteure? Welche Rolle spielten Seilschaften und persönliche Netzwerke? Welche weltanschaulichen, politischen und religiösen Prägungen lassen sich innerhalb der beteiligten Verwaltungsteile ausmachen, wie definierten die Akteure Expertentum, Sachkenntnis oder Professionalität? Wie definierten sie Nähe und Distanz zu den Verwalteten bzw. den jeweiligen Interessengruppen, mit denen sie zu tun hatten? c) Die Frage der Kommunikation von Verwaltungsentscheidungen gegenüber den Interessengruppen wie auch der Öffentlichkeit: Schließlich zeigen sich Neu23 Ebd., S. 127.
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adjustierungen zwischen ‚Konsequenz‘ und ‚Angemessenheit‘ im Verwaltungshandeln im Hinblick darauf, auf welche Art und Weise der Akt und die Entscheidung des Verwaltens nach außen kommuniziert und zugleich von außen beobachtet wurden. Schon allein wegen der begrenzten Ressourcen zur ‚Durchherrschung‘ der Gesellschaft waren sowohl in der Diktatur wie auch in der Demokratie die staatlichen Instanzen darauf angewiesen, Einverständnis, Folgebereitschaft wie auch Mittun mit sprachlichen und symbolischen Mitteln herzustellen. Welche Sprache nutzte die Verwaltung? Welche Sprache nutzten die Verwalteten? Mit welchem behördlichen ‚Habitus‘ traten die Verwalter den Verwalteten gegenüber? Welche Praktiken – Begehungen vor Ort, Empfänge, Bürgerversammlungen – nutzte die Verwaltung, um ihre Entscheidungen an den Mann und die Frau zu bringen? Um sich diesen mannigfaltigen Fragenkomplexen und den aufgezeigten Herausforderungen und Chancen des ‚boomenden‘ Forschungsfeldes der neueren Verwaltungsgeschichte anzunehmen, gliedert sich der nachfolgende Sammelband in vier Segmente. Zunächst widmet sich ein kontrastierender Einstieg verschiedenen Logiken des Verwaltens. So wirft Stefan Fisch ein Schlaglicht von 1848 bis heute auf den Personenkreis der Politischen Beamten und analysiert die unterschiedlichen Politisierungsmechanismen. Demgegenüber erarbeitet Christoph Lorke am Beispiel von binationalen Eheschließungen das Austarieren zwischen den Polen ‚Konsequenz‘ und ‚Angemessenheit‘ der autoritären Verwaltung des Nationalsozialismus. Abschließend untersucht Niklas Lenhard-Schramm personale Behördenbezeichnungen im 19. und 20. Jahrhundert und beleuchtet dabei die metaphorischen und tatsächlichen ‚zwei Körper des Ministers‘. Mit den Bürokratien zwischen Plan und Markt setzt sich hiernach die Sektion des Politikfeldes Wirtschaft auseinander. Anna Elbers zeichnet anhand der Genese des Kammerrechts die kooperative wie konfrontative Zusammenarbeit des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag in der jungen Bundesrepublik nach. Eine Perspektive auf die Judikative dieser Zeit bieten Raphael Hennecke und Sebastian Teupe, die das Spannungsfeld der Logiken der Angemessenheit und Konsequenz am Beispiel des Umgangs bundesrepublikanischer Gerichte mit dem Problem der Wettbewerbsregulierung beleuchten. Dierk Hoffmann gewährt wiederum einen Einblick in die Kontinuitäten und Brüche beim Aufbau der Wirtschaftsverwaltung des zweiten deutschen Staates, der DDR, seit der Besatzungszeit. Die Verwaltung der Transzendenz im weltlichen Staat hat die darauffolgende Sektion Religion zum Thema. Benedikt Brunner skizziert den ideellen wie verwaltungspraktischen Umgang mit dem volkskirchlichen Erbe im deutschen Protestantismus zwischen 1930 und 1960. Die Rolle der päpstlichen Enzyklika ‚Mit brennender Sorge‘ aus dem Jahr 1937 in der Auseinandersetzung von staatlicher und kirchlicher Verwaltung diskutiert Sascha Hinkel besonders anhand der Korrespondenz des Breslauer Erzbischofs Adolf Kardinal Bertram. Inwieweit kontinuierende Verwaltungspraktiken des nach 1945 hochumstrittenen Reichskonkordates durch die Bundesbehörden und die katholische Kirche generiert und daran
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anschließend in den 1950er Jahren als Fortgeltungsgaranten instrumentalisiert wurden, legt hiernach Jan H. Wille offen. Die Sektion Gesundheit erforscht abschließend die Herausforderungen der Verwaltung im Spannungsfeld zwischen Bürgern und Patienten. Benedikt Kemper analysiert die Wahrnehmung öffentlicher Unsicherheit als Katalysator ministerialen Verwaltungshandelns am Beispiel des ‚Corten-Prozesses‘ in den 1950er Jahren. Anschließend untersucht Franziska Kuschel die Institutionalisierung von Gesundheitspolitik auf Bundesebene und die Aushandlung der Kompetenzen des erst im Folgejahrzehnt gegründeten Bundesministeriums für Gesundheitswesen. Mit einem Beispiel aus der deutsch-deutschen Verwaltungspraxis wartet abschließend Annette Hinz-Wessels auf, die anhand des Beispiels medizinischer Spezialbehandlungen ostdeutscher Bürger in Westdeutschland institutionelle wie individuelle Handlungsspielräume in den Blick nimmt. Die Beiträge der im Sammelband fokussierten Politikfelder Wirtschaft, Religion und Gesundheit werden durch Kommentare jeweils zum Sektionsende zusammengebunden, die weniger resümierend-bilanzierend als vielmehr reflektierend-ausblickend angelegt sind. Michael C. Schneider, Christiane Kuller und Malte Thiessen arbeiten heraus, welche Aspekte die Verwaltung von Wirtschaft, Religion und Gesundheit in den deutschen Staaten zwischen den 1930er und 1960er Jahren kennzeichneten, welche verwaltungspraktischen und -logischen (Dis-)Kontinuitäten es im Denken und Handeln der Akteure gab und wo daneben aber auch noch offene Forschungsdesiderate liegen.
Danksagung Der vorliegende Sammelband geht auf die vom 13. bis 15. November 2019 im Seminarzentrum Gut Siggen veranstalteten 13. Nassauer Gespräche unter dem Titel ‚Verwaltungslogik und kommunikative Praxis. Wirtschaft, Religion und Gesundheit als Gegenstand von Bürokratie in Deutschland 1930–1960‘ zurück, die dem entsprechenden Teilprojekt der BKM-Förderinitiative zur Präsentation von Zwischenergebnissen und der Diskussion derselbigen mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen diente. Wir bedanken uns bei der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V., die den Workshop organisatorisch und finanziell unterstützte wie auch die Drucklegung dieses Bandes ermöglichte. Wir bedanken uns bei der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V. S. und dem Team des Seminarzentrums Gut Siggen, die uns für den Workshop eine inspirierende wie äußerst gastfreundliche Umgebung schufen. Ebenso gilt unser Dank Marvin Becker, Annika Keute, Joana Gelhart und Samuel Krenzel für die tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung. Vor allem bedanken wir uns aber bei all denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht nur zum vorliegenden Band, sondern auch zum Gelingen des Workshops mit ihren Vorträgen, ihren Fragen und Kommentaren so entscheidend beigetragen haben.
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Prof. Dr. Thomas Großbölting, Universität Hamburg ist seit 2020 Professor für Zeitgeschichte am Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg und gleichzeitig Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH). Zuvor war er von 2009–2020 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte II am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach einer Vertretungsprofessur am Institut für Geschichte der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Sommersemester 2005) leitete er von 2005–2007 die Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (Berlin). 2007 wurde er zum Professor für Geschichte der Neuzeit an die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg berufen. Im akademischen Jahr 2008–2009 war er als Distinguished Visiting Professor am Munk Centre for International Studies an der Universiy of Toronto tätig. Publikationen: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10610), Bonn 2020; mit Stefan Lehr (Hg.), Politisches Entscheiden im Kalten Krieg. Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West (= Kulturen des Entscheidens, Bd. 2), Göttingen 2020; mit Olaf Blaschke (Hg.), Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus (= Schriftenreihe Religion und Moderne, Bd. 18), Frankfurt am Main u. a. 2020; Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013.
apl. Prof. Dr. Klaus Große Kracht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster leitet seit September 2020 gemeinsam mit Thomas Großbölting das Projekt ‚Aufarbeitung des Missbrauchs an Minderjährigen im Bistum Münster‘. Zuvor war er seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Mentor der integrierten Graduiertenschule. Im akademischen Jahr 2013/14 hatte er zuvor die Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der WWU übernommen, nachdem er bereits zuvor den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal vertreten hatte. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in Wuppertal wurde er mit dem Wuppertaler Lehrlöwen 2013 ausgezeichnet. Publikationen: zusammen mit Thomas Großbölting/Benedikt Brunner/Meik Woyke (Hg.), „Sagen, was ist“ . Walter Dirks in den intellektuellen und politischen Konstellationen Deutschlands und Europas, Bonn 2019; Campaigning against Bolshevism. Catholic Action in Late Weimar Germany, in: Journal of Contemporary History, Jg. 53 (2018), H. 3, 550–573; Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920–1960, Paderborn 2016.
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LOGIKEN DES VERWALTENS
Stefan Fisch
POLITISCHE BEAMTE UND POLITISIERUNG VON BEAMTEN
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olitische Beamte, die jederzeit aus ihrem Amt entfernt werden können, stellen im Gefüge des deutschen Beamtenrechts eine Ausnahme dar. Es gibt sie im Bund und in fast allen Ländern; nur Bayern steht in einer anderen Tradition. Die Ausnahmeregelung für politische Beamte betrifft zwar nur relativ wenige Personen, aber gerade solche, die in herausgehobenen Positionen tätig sind und dabei in einer besonderen Nähe zur Politik stehen, etwa als Abteilungsleiter in den Ministerien oder als Leiter bestimmter selbständiger Behörden. Beamtenrechtlich wird diese Gruppe umschrieben durch Aufzählung einer Reihe von Positionen in der Verwaltung, deren Inhaber von ihrem Dienstherrn jederzeit, und ohne dass dies einer Begründung bedarf, zur Disposition (z. D.) gestellt werden konnten, wie man früher sagte, oder jetzt in den einstweiligen Ruhestand (i. e. R.) versetzt werden können. Dabei wird ihnen ihr bisheriges Gehalt – mittlerweile in relativ engen Grenzen – weiter gezahlt; früher wurde das als Wartegeld bezeichnet und in großer Höhe auch für lange Zeiträume gewährt. Bei einer nicht strikt beamtenrechtlichen Verwendung dieses Begriffs der ‚politischen Beamten‘ im Plural schwingt immer auch ein Anklang an eine diffuse Politisierung der gesamten Beamtenschaft und ihrer Tätigkeit mit, zum Nutzen der regierenden Parteien. Es scheint, als müsse man beide Erscheinungen deutlich auseinander halten, aber es wird sich zeigen, dass sie eng miteinander verwoben sind.
I.
Revolutionäre Disziplinierungsversuche 1848 in Preußen
Erste lückenhafte Regeln für die Sonderstellung der politischen Beamten von heute entstanden im Zuge der Revolution von 1848. Als in Berlin am 18. März auf erste Zusagen von König Friedrich Wilhelm IV. der Kugelhagel seiner Truppen
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die Demonstrationen vor dem Schloss beendete, verließ in der ebenfalls unruhigen zweitgrößten Stadt Preußens, Breslau, der Oberpräsident Wilhelm von Wedell seinen Posten, bevor ihn eine Volksversammlung dazu auffordern konnte. Am 25. März ernannte der König Hans David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg zum „commissarius regius“ für Schlesien, einen unerfahrenen, farblosen Mann. Am 29. März stimmte er dem Rat des liberalen Anwalts und Stadtverordnetenvorstehers Heinrich Gräff zu, zurückzutreten, der dies noch am selben Tag dem König mitteilte und den umsichtigen, 1843 aus Königsberg nach Breslau gewählten liberalen Oberbürgermeister Julius Hermann Pinder als Nachfolger vorschlug.1 Dass er am folgenden Tag ernannt wurde – einer der ersten Bürgerlichen im Amt eines Oberpräsidenten! – war ein politisches Geschenk für die erste bürgerlich-liberale Regierung Preußens unter Camphausen und Hansemann, die am 29. März ins Amt gekommen war – die aber nach Valentins Urteil „so gut wie nichts [tat], um die Verwaltung der Provinzen in die Hand liberal gesinnter Männer zu bringen.“2 Immerhin legte die Regierung in einem königlichen Erlass vom 14. Juni sehr detailliert die Höhe der Wartegelder für solche Beamte fest, die „schon bisher zur Disposition gestellt worden sind, oder mit Rücksicht auf die bevorstehende Umbildung der Staatsbehörden vorläufig zur Disposition zu stellen sein werden“. Die Stellung zur Disposition war als neuartiges, von den Regeln für Offiziere abweichendes (personal)politisches Instrument erkannt, wenn auch noch nicht eingesetzt.3 Die nächste Regierung Auerswald-Hansemann baute darauf auf, als sie am 15. Juli ihre Pläne gegen konservative Beamte genauer ankündigte. Sie sollten schnell aus ihrem Amt entfernt werden, um die geplante Neuorganisation zu erleichtern, doch legte die Regierung das von ihr vorgesehene Verfahren nicht wirklich klar dar: [Es fehlt] nicht ganz an Fällen, wo Männer in amtlicher Funktion sich noch befinden, welche dem dermaligen Regierungs-System ihre Anerkennung geradehin versagen und demselben geflissentlich widerstreben. Ein solches Verhältnis darf nicht ferner geduldet werden, denn abgesehen davon, dass die Regierung, wenn sie sich in der Lage befindet, solcher Organe sich bedienen zu müssen, der zweckmäßigen und kräftigen Ausführung ihrer Anordnungen nicht gewiss sein kann, ist es als ein wesentlicher Übelstand zu betrachten, wenn hinterher die amtlichen Handlungen der bezeichneten Beamten gemißbilligt [sic] werden müssen; dadurch wird nicht nur der Beamtenstand, als solcher, kompromittirt, sondern auch die amtliche Autorität überhaupt, vornämlich [sic] unter den jetzt obwaltenden Umständen, auf 1 Vgl. Zeugenbericht von Hempel, Breslauer Revolution, S. 25, 34–36. 2 Valentin, Geschichte der Revolution, S. 548. 3 Vgl. Gesetz-Sammlung 1848, S. 153–154. – „Zur Disposition“ gestellte Offiziere sollten trotz ih-
res Ausscheidens im Kriegsfall schnell mobilisierbar bleiben, z. B. durch Kontrolle oder Anweisung ihres Wohnorts und fortdauernde Unterwerfung unter die Militärgerichtsbarkeit, vgl. dazu Aktenstück 170 des Reichstags vom 28.5.1871, Stenographische Berichte Reichstag, I. Legislaturperiode, I. Session, Band 3, S. 430–432, URL ab: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_ k1_bsb00018330_00413.html (letzter Zugriff 4.3.2021).
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eine sehr nachtheilige Weise beeinträchtigt. [… Es sollen] ohne Verzug die erforderlichen Schritte geschehen, um solche Beamte, von denen überhaupt eine den Verhältnissen entsprechende Wirksamkeit nicht zu erwarten ist, in gesetzlich zulässiger Weise ihrer amtlichen Thätigkeit zu entheben. [Wir ersuchen,] namentlich auf die Einzelnstehenden, und unter diesen wiederum besonders auf die Landräthe und deren Vertreter, sowie auf die Bürgermeister, ihre Aufmerksamkeit zu richten […] Wir ersuchen […] die Schritte zur Entfernung untauglicher Beamter zu beschleunigen, als es die bevorstehende neue Organisation der Behörden erleichtern wird, wenn untaugliche Beamte schon vorher entfernt worden sind.4
Formal handelte es sich um einen verwaltungsinternen Auftrag des Staatsministeriums an die Regierungspräsidenten für ihren jeweils nachgeordneten Bereich. Wenn er besonders auf die „Einzelnstehenden“ zielte, dann deshalb, weil diese selbständigen, gewählten Amtsträger der kommunalen Selbstverwaltung nicht in die kollegiale Struktur preußischer Behörden eingebunden waren und für sie auch keine formale Qualifikation etwa durch Staatsexamina gefordert war. Die Ministerien und anderen Zentralstellen waren im Blick auf eine „bevorstehende neue Organisation der Behörden“ mitbedacht. Die angekündigte Entfernung eines Beamten aus dem Amt zielte auf die politisch motivierte Sanktionierung solcher Beamter, die anderen Vorstellungen folgten als die neue Regierung. Zwar sollte das „in gesetzlich zulässiger Weise geschehen“, doch war das Beamtenrecht Preußens eher ein Torso; insbesondere stand es nicht eindeutig zur unumstößlich lebenslänglichen Anstellung. Die wenigen einigermaßen dokumentierten Maßnahmen5 blieben erfolglos. Besonders fällt die versuchte Amtsenthebung des Oberpräsidenten von Westfalen, Eduard Flottwell (1786–1865), auf. Als Protestant stand er von 1830 bis 1841 in gleicher Stellung in Posen in ständigen Auseinandersetzungen mit der polnischkatholischen Bewegung. Unter Beibehaltung seines Amtes als Oberpräsident in Münster ließ er sich 1848 im Wahlkreis Oschersleben in der Provinz Sachsen (deren Oberpräsident er von 1841 bis 1844 gewesen war), zum Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung wählen und schloss sich dort dem ziemlich konservativen Kreis des Café Milani an. Mit 128 Kollegen, darunter Jakob Grimm und Robert Blum, unterzeichnete er im Juli 1848 einen vor allem anti-katholischen Antrag des demokratischen Abgeordneten Maximilian Joseph Gritzner aus Wien. Darin wurden Verhandlungen mit der römischen Kurie zur Aufhebung 4 Circular-Verfügung vom 15.7.1848, betreffend die Wirksamkeit der Beamten für das dermalige
Regierungs-System, in: Ministerialblatt für die gesammte innere Verwaltung der Königlich Preußischen Staaten, 9 (1848), S. 250. – Kühlwetter, der eigentlich zuständige Minister, war erst am Tag zuvor in das am 25.6.1848 gebildete Ministerium Auerswald eingetreten. 5 Vgl. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38; in diesen Regestenbänden werden Personalsachen jedoch nur ohne Namen summarisch genannt, wobei für die Revolutionsmonate 1848 auch nur besonders wenige Protokolle vorliegen, vgl. dazu die quellenkritischen Bemerkungen der Bearbeiterin des Bandes Bärbel Holtz, Einleitung. Die Protokolle Bd. 4, Teil 1, S. 38–42.
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des Zölibats verlangt, die von einem eigenen Ausschuss der Paulskirche begleitet werden sollten. Flottwell und 19 andere Unterzeichner zogen jedoch schon am 26. Juli 1848 ihre Unterschrift wieder zurück, um „Störungen des confessionellen Friedens“ zu vermeiden. Sie wollten nunmehr diese Frage lieber „von jedem Einflusse der bürgerlichen Gewalt frei erhalten“6 und reagierten damit auf verbreitete Unruhe in der Öffentlichkeit. Wegen dieser Proteste aus der katholischen Bevölkerung Westfalens, die bei anderen Anlässen – etwa in der von Flottwell früher in Posen verfolgten Polenpolitik – nicht so ernst genommen wurden, berief das Staatsministerium am 23. August 1848 Flottwell als Oberpräsidenten in Münster ab. Es mutet als eine erstaunliche Rede pro domo an, wenn Flottwell zwei Tage später in der Diskussion der Nationalversammlung über Glaubens- und Gewissenfreiheit die Bedeutung von Petitionen, wie er sie unterschrieben hatte, in Frage stellte und herunterspielte: Aber, meine Herren, diese zahlreichen Petitionen können Den nicht irre machen, der durch vieljährige Erfahrung das Verfahren kennen gelernt hat, durch welches dergleichen Collectiv-Petitionen zu Stande gebracht werden. Ich darf wohl mit voller Überzeugung aussprechen, dass kaum der kleinste Theil der Unterzeichner den Gegenstand des Gesuchs selbst kennt, und noch weniger ihn zu beurteilen vermag.7
Und Flottwell wehrte sich als erfahrener hoher Beamter, der von 1844 bis 1846 auch zwei Jahre lang Finanzminister gewesen war, energisch gegen seine Abberufung. Er verlangte einen anderen Wirkungskreis in Form seiner Versetzung in ein anderes, gleichwertiges Amt, ohne allen Nachteil für seine dienstliche Ehre, wie das den noch geltenden Regeln entsprochen hätte. Da die Regierung Auerswald ihren Rückhalt in der preußischen Nationalversammlung schwinden sah und am 8. September 1848 zurücktrat, entschied sie nicht mehr, wie sie ihre ursprüngliche Entlassungsabsicht noch hätte umsetzen können. Noch 1848 wurde Flottwell für ein Jahr kommissarisch Oberpräsident seiner Heimatprovinz Preußen in Königsberg und 1850 regulär Oberpräsident von Brandenburg.8 In derselben August-Sitzung beschloss das Staatsministerium ähnliche Schritte gegen andere hohe Beamte, jedoch von vorneherein in ‚weicheren‘ Formen als der einer Entlassung. So sollte in Oppeln Regierungspräsident Erdmann Graf von 6 Antrag (und nachträgliche Distanzierung davon unter dem 26.7.1848!) als Beilage 1 zum Pro-
tokoll der 44. öffentlichen Sitzung vom 21.7.1848, Haßler, Verhandlungen, Bd. 5, Frankfurt 1849, S. 219–221. 7 Rede Flottwells in der 66. Sitzung der Nationalversammlung am 25.8.1848, Wigard, Stenographische Berichte, Bd. 3, S. 1730–1731 (Zitat S. 1731); Haßler, Verhandlungen, erwähnt dagegen nur, dass es eine Debatte gab, Bd. 1, S. 218–222. 8 Vgl. Sitzung des Staatsministeriums am 23. August 1848, Regest Nr. 6 in: Die Protokolle, Bd. 4, Teil 1, S. 60–61; Laubert, Flottwell, S. 90, erwähnt dabei ein Zurückhalten weiterer Maßnahmen durch Auerswald; Fenske, Flottwell, S. 157; Best/Weege, Handbuch Nationalversammlung, S. 141–142.
POLITISCHE BEAMTE UND POLITISIERUNG VON BEAMTEN
Pückler-Limburg „zum freiwilligen Rücktritt“ veranlasst werden, was aber nicht gelang.9 Ferner sollte Regierungspräsident Adolph Freiherr von Spiegel-Borlinghausen aus Düsseldorf entfernt werden, sei es durch Pensionierung oder durch Versetzung.10 Auch das erfolgte nicht so wie geplant; der König sprach damals für ihn, und er wurde erst am 5. November 1849 in den einstweiligen Ruhestand versetzt.11 Nicht nur bei der Regierung war in der Revolution 1848 die Absicht erkennbar, sich von Beamten in hohen und höchsten Stellungen wegen ihrer Haltung, Einstellung und „Gesinnung“12 zu trennen, auch wenn konkrete Verfehlungen nicht vorlagen, die disziplinarisch zu ahnden wären. In der preußischen Nationalversammlung in Berlin, die deutlich radikaler war als die deutsche in Frankfurt, fand nach dem Schweidnitzer Zwischenfall, bei dem der Einsatz des Militärs 15 Menschen das Leben kostete, im August 1848 ein entsprechender Antrag des Abgeordneten Stein eine große Mehrheit. Die Nation erwarte „sowohl im Zivil als im Militär solche Beamte […], die von dem Geist des neuen Staats, den Ideen der neuen Zeit tief durchdrungen sind und dahin mit uns arbeiten, dass diese Ideen auch in der Tat verwirklicht werden“, hieß es darin. Die unterlegene eher rechte Minderheit protestierte „im Namen der Freiheit“ gegen den „beleidigenden Versuch zu einem Zwange der Gewissen“ und gegen den „Anfang zu einer politischen Inquisition“.13 Hier traten sich das Regierungs- und das Oppositionslager im Parlament erstmals in der politischen Auseinandersetzung um den Einfluss auf die Beamtenschaft grundsätzlich gegenüber, weil sie beide ein neues personalpolitisches Instrument erkannten und es teils fördern, teils verhindern wollten. Preußische Beamte, die keine „den Verhältnissen entsprechende Wirksamkeit“ erwarten ließen, ließen sich in der Revolution von deren Anhängern beim Fehlen eines geregelten Verfahrens nicht recht entfernen, zumal diese bald auch politisch ins Hintertreffen gerieten. Der von ihnen angebahnte neue Weg entfaltete sich nach einer paradoxen Umkehrung der Situation am Ende des Jahres 1848, als am 15. November der im März ‚von unten‘ benannte schlesische Oberpräsident Pinder als Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung für deren Aufruf zur 9 Kurzbiographie, in: Die Protokolle, Bd. 4, Teil 2, S. 625–626. 10 Vgl. Kurzbiographie ebd., S. 649; Sitzung am 23.8.1848 ebd., S. 60–6; präziser am selben Tag
der persönliche Brief des Protokollführers August Costenoble an Otto Camphausen, Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2, Teil 2, Brief Nr. 222, S. 374–375. 11 Er blieb am 28.12.1848 beurlaubt und der König sprach sich noch im Februar und März 1849 für seine schonende Behandlung aus, Die Protokolle, Bd. 4, Nr. 19 (28.12.1848), S. 70 mit Anm. 2; nicht ganz konsistent Romeyk, Verwaltungsbeamte, S. 105, 118 und 758–759. 12 Zur problematischen Rolle von „Gesinnung“ als einem „Blindbegriff“, der Verdacht mit sich brachte, Koselleck, Preußen, S. 398–404 unter Bezug auf den Abschnitt „Volkerziehung“ in der Schrift des oppositionellen Demokraten Venedey, Preussen, S. 43–45. 13 Zum Schweidnitzer Zwischenfall am 31.7.1848, zum Antrag Stein vom 9.8.1848 und zum Protest der 135 unterlegenen Abgeordneten am selben Tage Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 735–737, Zitate S. 736 und 737.
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Steuerverweigerung stimmte und am 17. November in Breslau nach einigen Wirren erklärte, er sei ein konstitutioneller Beamter und werde ihn befolgen. Weil er nicht bereit sei, „die unbezweifelten Rechte der Krone wahrzunehmen“, forderte ihn am Tag darauf die neue Regierung des Grafen Brandenburg, die König Friedrich Wilhelm IV. am 2. November im Kampf gegen die radikale preußische Nationalversammlung berufen hatte, auf, seine Amtstätigkeit unverzüglich einzustellen; Pinder machte das am 21. November in Breslau bekannt.14 Wie seine liberalen Vorgänger setzte auch Brandenburg auf die Mitwirkung der aus politischen Gründen zu entfernenden Beamten, also mehr auf sozialen Druck statt auf klare Vorschriften. Eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für ein anderes Vorgehen schuf die Regierung Brandenburg am 11. Juli 1849 mit der umfangreichen „Verordnung, betreffend die Dienstvergehen der nichtrichterlichen Beamten, die Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand“, die zunächst eine nur auf begrenzte Zeit geltende Notverordnung war. Bevor der weitere Verlauf näher dargestellt werden kann, ist ein Rückblick auf Struktur und Entwicklung der Stellung von Beamten in Preußen nötig, dessen König beanspruchte, selbst der oberste Diener des Staates zu sein, mit freilich sehr viel weiter gefassten Rechten als alle anderen Staatsdiener.
II. Ursprünge in der preußischen Tradition einer seit 1790 auf den König zentrierten Verwaltung Im Jahre 1794 war das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ (ALR) publiziert worden, ein Solitär unter den Kodifikationen der Aufklärung, weil es in fast 20.000 Paragraphen Regelungen für Strafrecht, Zivilrecht und öffentliches Recht traf. Im zehnten Titel des Zweiten Teils handelt es „Von den Rechten und Pflichten der Diener des Staats“ in Militär und Verwaltung. Diese von Friedrich II. 1780 beauftragte Kodifikation in aufgeklärtem Geiste sollte jede Entlassung eines Beamten gegen seinen Willen an ein Urteil eines unabhängigen Gerichts binden. Doch nach Friedrichs Tod entfernte der neue König Friedrich Wilhelm II. unter dem Eindruck der Französischen Revolution diese wie auch andere vorgesehene Begrenzungen monarchischer Macht aus dem Entwurf.15 Noch 1844 galten im bekannten „Fünfmännerbuch“, einer Art Kommentar zum ALR, die folgenden sich auf die Beamten beziehenden Passagen als „grundlegend“: Seine Königl. Majestät haben den Satz, daß kein Staatsbedienter ohne Untersuchung und rechtliches Erkenntnis seiner Dienste entsetzt werden solle, in soweit verworfen, als da-
14 Holtz, Einleitung, in: Die Protokolle, Bd. 4, Teil 1, S. 20 mit Anm. 84; Schmidt, Steuerverweige-
rungs-Affaire, S. 173–174; Hempel, Breslauer Revolution, S. 65–72. 15 Vgl. allgemein Koselleck, Preußen, S. 23–42 und besonders zur problematischen Rolle von ‚Gesinnung‘, S. 398–404.
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durch Allerhöchst denenselben die freie Wahl ihrer Diener eingeschränkt würde. Dieses persönliche Reservat schließt jedoch, wie sich von selbst versteht, allen Minister-Despotismum aus […]. Der Landesherr kann eigene erhebliche und gerechte Bewegungsgründe zur Entlassung, und zugleich dazu haben, daß solche nicht durch den Weg Rechtens gehe.16
Die „Staatsbedienten“ des ALR waren also gerade nicht Bediente des Staates, sondern von einem König „frei gewählte Diener“, der ‚ungerecht‘ gar nicht hätte handeln können. Nur unvollkommen verdecken diese Sätze, dass der Wille des Königs weiterhin absolute Richtschnur sein soll, auch wenn diese Allmacht angeblich dem guten Zweck dienen soll, einen Despotismus der Minister zu verhindern – darauf wird zurückzukommen sein. Nach den Interventionen des Königs verschob die Endfassung des ALR von 1794 die Frage der Entlassung von Beamten in den Binnenraum der Verwaltung; Richter und Gerichte wurden nicht einmal erwähnt: „Kein Vorgesetzter oder Departements-Chef kann einen Civilbedienten, wider seinen Willen, einseitig entsetzen oder verabschieden“, hieß es in § 98. Das ALR sah vielmehr in den folgenden Paragraphen vor, dass höhere Beamte ordnungsgemäß gehört und die Sache dann nicht vom zuständigen Minister allein, sondern durch den Staatsrat mit Mehrheitsbeschluss beantragt werden sollte. Der König selbst sollte sie prüfen und entscheiden;17 bei den hier interessierenden höheren Stellen war ihm ja auch die Ernennung nach Vorschlag des Staatsministeriums vorbehalten.18 Gerichtsentscheidungen sollten nicht maßgeblich sein; und eine Kabinettsorder vom 17. Dezember 1805 bestätigte, dass die Entlassung eines Beamten auch völlig unabhängig vom Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens zulässig sein konnte. Sie bezog sich dabei auf einen anonymen Zeitungsartikel, wonach „die Verwaltung eines Theils der öffentlichen Gewalt“ nicht als „Eigentum“ und gar als „Pfründe“ des jeweiligen Beamten betrachtet werden dürfe.19 Eine weitere Kabinettsorder vom 15. Juli 1809 gab dem Ministerium die Möglichkeit, sich über das Urteil eines Gerichts zu erheben und, „wenn das Urtel [sic] durch die demselben beigefügten Gründe nicht hinreichend gerechtfertigt ist, […] die erforderliche Remedur zu treffen, und z. B. die Dienst-Entlassung des Angeklagten zu verfügen.“20 Das mit dem ALR eingeleitete Verfahren zur Entlassung wurde ausdrücklich in die Sphäre der Exekutive verschoben durch die Kabinettsorder vom 21. Fe16 Korrespondenz des Großkanzlers von Carmer mit dem General-Direktorium im Dezember
1790/Januar 1791, Gräff u. a., Ergänzungen, Bd. 5, S. 412–413. – Der Mitherausgeber Gräff verhalf in Breslau 1848 Pinder in das Amt des Oberpräsidenten, vgl. Text zu Anm. 1. 17 Vgl. ALR II 10 98 bis 101; Preußisches Allgemeines Landrecht. Ausgewählte öffentlich-rechtliche Vorschriften, hg. von Ernst Pappermann mit einer Einführung von Gerd Kleinheyer, Paderborn 1972, S. 100, auch URL: https://opinioiuris.de/quelle/1621 (letzter Zugriff am 4.3.2021). 18 Vgl. Kabinettsorder vom 3.11.1817 wegen der Geschäftsführung bei den Oberbehörden in Berlin, Gesetz-Sammlung 1817, S. 289–292. 19 Gräff u. a., Ergänzungen, Bd. 5, S. 612–613; vgl. Koselleck, Preußen, S. 405, Anm. 25. 20 Wegener, Dienst-Instruktion, S. 62–63.
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bruar 1823, mit der als neue Kategorie die „auf administrativem Wege erfolgenden Dienst-Entlassungen der Civilbeamten“ eingeführt wurden.21 Tatsachen mussten zwar noch „allemal zuvor zum Protokoll [untersucht werden], wie wohl nicht notwendig gerichtlich“. Darüber sollten dann der Justizminister und ein weiterer Minister dem Staatsministerium berichten und dessen Antrag noch der Staatsrat begutachten, bevor der König entschied. Karl Freiherr von der Horst wurde 1825 im Alter von 44 Jahren als Regierungspräsident von Minden wegen seiner völlig zerrütteten Vermögensverhältnisse „zur Disposition gestellt“; obwohl er drei Rittergüter besaß, hatte man ihm mehrfach sein gesamtes Gehalt pfänden müssen. Eine solche zeitweilige Entfernung bei halbem Gehalt, die bei ihm 1842 in die endgültige Pensionierung überging, war inner-administrativ schon damals möglich; hatte aber noch nicht politische Gründe.22 Eine weitere Kabinettsorder vom 16. August 1826, die nicht amtlich verkündet wurde,23 verzichtete bei „mangelhafter Dienstführung und moralischen Gebrechen“, einem bis dahin nicht genannten Grund, den man auch politisch auffassen konnte, auf die Notwendigkeit des Protokollierens der Tatsachen. Der Vorgesetzte sollte einseitig über sein nunmehr rein mündliches Verfahren gegenüber dem Beamten berichten, wieder sollten zwei Minister prüfen, das Staatsministerium einen Antrag stellen und der König entscheiden – damit war der Staatsrat als relativ unabhängiges Gremium aus dem Verfahren gedrängt. Seitdem war eine rein inner-administrative Amtsenthebung gegen den Willen des Betroffenen möglich.24 Eine Kabinettsorder vom 4. September 1827 eröffnete schließlich einen Weg, selbst wenn die bei einem Disziplinarverfahren erhobenen Tatsachen nicht zur gewünschten Entlassung ausreichten, dennoch „nach dem Ermessen der vorgesetzten Behörde“ zur Zwangspensionierung des Beamten zu schreiten,25 sofern die erhobenen Tatsachen seine „Amtswirksamkeit gefährden“ könnten. Schon eine reine Möglichkeitsbetrachtung von Gefährdungen konnte nun einen realen Amtsverlust zur Folge haben.26 Wenn der Beamte dabei noch keine 15 Dienstjahre erreicht hatte, bedeutete das ab 1835, dass er ohne Pensionsansprüche entlassen wurde.27 Diese Details zeigen deutlich, dass alle Anordnungen eine gemeinsame Richtung nahmen. Mit dem Ziel, dem König die von ihm 1790 angeordnete „freie Wahl“ seiner Diener zu sichern, entwickelte sich aus den vielschichtigen Schritten 21 Gesetz-Sammlung 1823, S. 25–27; auch Gräff u. a., Ergänzungen, Bd. 5, S. 414–415. 22 Vgl. Wegmann, Leitende Verwaltungsbeamte, S. 130–131 und 289. 23 Vgl. nicht-amtlich in: Annalen der preußischen innern Staats-Verwaltung, Bd. 17, H. 3 (Juli-
Sept. 1833), S. 586–588; vgl. Bergius, Preußen, S. 310. 24 Vgl. Bergius, Preußen, S. 310–311; zur Lückenhaftigkeit Rejeweski, Treue, S. 17 f. 25 Annalen, Bd. 11, H. 4 (Okt.–Dez. 1827), S. 867–868; auch Gräff u. a., Ergänzungen, Bd. 5, S. 415–416. 26 Eine Ähnlichkeit zu der polizeirechtlich von der Gefahrenabwehr inspirierten „Wirkungstheorie“ drängt sich auf, die in der Weimarer Republik die verfassungsmäßige Filmzensur bestimmte, siehe Fisch, „Panzerkreuzer Potemkin“, S. 12, Anm. 24. 27 Vgl. Kabinettsorder vom 31.10.1835; Gräff u. a., Ergänzungen, Bd. 5, S. 417.
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gemäß dem ALR in der Zeit bis 1830 ein kondensiertes Verfahren gegen unliebsame höhere Beamte, an dem nur noch die beantragende Staatsregierung und der entscheidende König mitwirkten. Die Regierung war Regierung des Königs, von ihm bestimmt, und die Amtsenthebung gegen den Willen eines Beamten war nun zur inneradministrativen Ausübung einer sehr alten monarchischen Prärogative geworden. Das erste preußische Disziplinargesetz vom 29. März 1844 wird manchmal als ‚Beamtengesetz‘ angesehen, denn es ergänzte das durch solche Praktiken undeutlich gewordene ALR zumindest für einen Teil der Beamtenverhältnisse und unterschied zwischen strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Verstößen.28 Auch dieses – noch ohne Mitwirkung eines Parlaments beschlossene – erste Gesetz zu Beamtenfragen reihte sich in die eben dargelegte Tendenz zur Ausstrahlung monarchischer Vorrechte in den Bereich der Regierung ein und erweiterte deren personalpolitischen Handlungsspielraum. Neu war insbesondere, dass Beamte nicht mehr an ein bestimmtes Amt an einem bestimmten Ort gebunden bleiben sollten, sondern dass sie Versetzungen in ein gleichwertiges Amt bei gleichem Einkommen und Ersatz von Umzugskosten dulden sollten – das war genau das, was Flottwell im August 1848 als geltendes Recht für sich beansprucht hatte. Die eigentliche Verrechtlichung dieser Ausnahmetatbestände erfolgte nach der Auflösung der widerspenstigen, zur Steuerverweigerung aufrufenden Nationalversammlung und dem gleichzeitigen Oktroi der – in wichtigen Punkten durchaus dem Entwurf eben dieser preußischen Nationalversammlung vom 26. Juli 1948, der „Charte Waldeck“, 29 entsprechenden – ‚Oktroyierten Verfassung‘ vom 5. Dezember 1848. Damit war ein Auftrag an die zu wählenden zwei Kammern des neuen Landtags zu ihrer anschließenden Revision durch gemeinsamen Beschluss verbunden.30 Art. 105 dieser vorläufigen Dezemberverfassung ermächtigte den König, wenn die Kammern nicht versammelt waren, „in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums“ Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, die dem Landtag anschließend zur Genehmigung vorzulegen waren. Das war ein ziemlich weit gehendes Notverordnungsrecht. Zügig gewählt, trat er Ende Februar 1849 zusammen, doch wurde die nach allgemeinem Wahlrecht aller „selbständigen“ Männer gewählte, immer noch ziemlich oppositionelle zweite Kammer bereits Ende April wieder aufgelöst. In der anschließend parlamentslosen Zeit erließ die Regierung Brandenburg am 11. Juli 1849 die umfangreiche „Verordnung, betreffend die Dienstvergehen der nichtrichterlichen Beamten, die Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand“. Eine
28 Vgl. Gesetz vom 29.3.1844, betreffend das gerichtliche und Disziplinar-Strafverfahren gegen
Beamte, in: Gesetz-Sammlung 1844, S. 77–90. 29 Nicht bei Huber, Dokumente, URL: http://www.documentarchiv.de/nzjh/preussen/1848/preussische-charte-waldeck.html (letzter Zugriff 4.3.2021). 30 Vgl. Oktroyierte Verfassung 1848 als Dok. Nr. 188 in Huber, Dokumente, Band 1, S. 484–493, auch URL: http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfpr1848.html (letzter Zugriff 4.3.2021).
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vorherige Diskussion über diese Vorschrift ist in den Protokollen des dafür verfassungsmäßig ‚verantwortlichen‘ Staatsministeriums jedoch nicht nachweisbar.31 Diese Notverordnung des gegenrevolutionären Kampfministeriums Brandenburg, das sich aber an die neue Verfassung gebunden sah, ist zum Modell für alle weiteren Regelungen bis zum heutigen Tag in der Bundesrepublik Deutschland geworden, mit deren Hilfe Regierungen hohe – ‚politische‘ – Beamte jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzen können. Im letzten, achten Abschnitt dieser Disziplinarverordnung geht es um „Verfügungen im Interesse des Dienstes, welche nicht Gegenstand eines Disziplinarverfahrens sind“ und also eigentlich auch nicht einer sich darauf beziehenden Rechtsvorschrift. Sie wurden dennoch hier aufgenommen, um klar zu machen, dass sie gerade nicht Gegenstand des im Übrigen ausführlich behandelten gerichtsähnlichen Disziplinarverfahrens vor dem neu eingerichteten „Disziplinarhof“ werden sollten. Als solche Verfügungen ‚im Interesse des Dienstes‘ galten nach § 94 Ziffer 1) die nun eindeutig geregelten Versetzungen in ein anderes Amt „von nicht geringerem Range und etatmäßigem Diensteinkommen“ und nach Ziffer 2) Versetzungen in den neu eingeführten „einstweiligen Ruhestand“. Dadurch wurde die Stellung der später so genannten ‚politischen Beamten‘ geregelt und der Kreis der darunter fallenden hohen Stellen präzise und abschließend umschrieben: [… Es] können durch königliche Verfügung jederzeit die nachbenannten Beamten mit Gewährung des vorschriftsmäßigen Wartegeldes einstweilig in den Ruhestand versetzt werden: Unterstaatssekretäre, Ministerialdirektoren, Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten und Vicepräsidenten, Beamte der Staatsanwaltschaft bei den Gerichten, Vorsteher Königlicher Polizeibehörden, Landräthe; ferner die Gesandten und andere diplomatische Agenten.32
Die Notverordnung wurde der Nachfolgerin der im April aufgelösten zweiten Kammer vorgelegt. Diese Wahlen fanden erstmals gemäß dem am 30. Mai 1849, ebenfalls durch (Not-)Verordnung, eingeführten Dreiklassenwahlrecht statt, das zwar wie 1848 allgemein (und indirekt, über Wahlmänner), aber dabei doch sehr ungleich war, indem es die Stimmen nach Steuerlast in drei Abteilungen unterschiedlich gewichtete. Diese neue Kammer trat am 5. August 1849 erstmals zusam31 Gesetz-Sammlung 1849, S. 271–290; die entsprechenden Regesten der anders als 1848 regel-
mäßig vorliegenden Kabinettsprotokolle wurden ohne Ergebnis durchgesehen, Die Protokolle, Bd. 4. Vgl. Hattenhauer, Geschichte, S. 223–225, der die Notverordnung von 1849 jedoch noch der liberalen Phase zuordnet und den Zusammenhang zum Gesetz von 1852 nicht herstellt. 32 Ebd., S. 290.
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men, und ihr legte das Staatsministerium am 22. August 1849 verfassungsgemäß u. a. seine (Not-)Verordnung zu den nichtrichterlichen Beamten vom 11. Juli 1849 zur Prüfung vor.33 Dem Parlament gegenüber musste die Regierung ihre Maßnahmen begründen, was sie eine Woche später am 29. August 1849 tat.34 Die Staatsregierung wollte sich in ihrer Arbeit nicht „zweckwidrig“ beschränkt sehen, zugleich aber „den Staatsbeamten angemessenen Schutz gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen gewähren“. Andere Verfassungsstaaten hätten ihr sehr wohl ein Vorbild dabei sein können, „die Absetzbarkeit der Beamten […] wesentlich zu erleichtern“, und: Die Erwägung der Minister-Verantwortlichkeit und die Betrachtung, dass das Bedürfnis der Opposition gegenwärtig in der Volks-Repräsentation, in der freien Presse und in dem Versammlungs- und Vereinigungsrechte seine volle Befriedigung finden könne, und dass die Staats-Gewalt in der Centralisation und in der vermehrten Abhängigkeit der Beamten ein neues unentbehrliches Gegengewicht begründen müsse, endlich die ernsten Erfahrungen, welche die Regierung in der neueren Zeit gemacht hat, wären wohl geeignet gewesen, dieselbe auf jenen Weg [der erleichterten Absetzbarkeit der Beamten, SF] hinüberzudrängen. […] Es ist indessen mehr als zweifelhaft, ob es rathsam sei, die Gegensätze zwischen der Freiheit der Staatsbürger auf der einen und der Abhängigkeit der Beamten auf der anderen Seite, dergestalt auf die Spitze zu treiben. Unbestreitbar gehört es zu den schwierigsten Fragen der Politik, wie weit die einer constitutionellen Regierung unentbehrliche Kraft in einer strengen Unterordnung ihrer Organe und wie weit sie in einer gesicherten, Achtung und Vertrauen erweckenden Stellung derselben zu suchen sei.35
Diese verkomplizierend-abwägende, dabei offen gehaltene Einleitung der Regierung liest sich erstaunlich angesichts der realen Maßnahmen, die sie ergriffen hatte. Beschwichtigend sagt sie über ihre nicht disziplinarrechtlichen, also nicht rechtlich überprüfbaren Maßnahmen, sie seien „bis auf e i n e n Punkt der früheren Gesetzgebung entlehnt“. Neu sei nur die „zeitweise Quiescirung“ solcher Beamter, die „entweder in Beziehung auf die innere oder äußere Politik als die eigentlichen Organe der Staatsregierung vorzugsweise zu betrachten sind, als: die Stellvertreter der Minister, die Verwaltungschefs der Kreise, Bezirke und Provinzen […] oder solche, bei denen „der Regierung nothwendig ein mehr unmittelbarer Einfluss auf ihre Amtsthätigkeit zustehen muss, damit in wichtigen Zweigen der Verwaltung die notwendige Kraft und Einheit gesichert bleibe“, die Staatsanwälte und Polizeidirektoren. Und weiter:
33 Vorlage der Verordnung zur Sitzung am 22.8.1849, Stenographische Berichte Zweite Kam-
mer, Bd. 2 [am 30.5.1849 einberufen], Teil 1 [7.8.1849–5.10.1849], S. 120–127). 34 Vorlage der Motive zur Sitzung am 29.8.1949, ebd., S. 153–156 (dazu ein Anhang mit Abdruck vieler Bestimmungen das ALR, S. 156–161). 35 Ebd., S. 153–154.
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Gäbe es keine Möglichkeit, dergleichen Beamte, solange sie sich nichts eigentlich Strafbares haben zu Schulden kommen lassen, oder solange sie nicht völlig dienstunfähig geworden sind, mit Bewilligung eines angemessenen, ihren anständigen Lebensunterhalt sichernden Wartegeldes einstweilen in Ruhestand zu versetzen, so würde in der That die unerlässliche Harmonie der Regierungstätigkeit nur in sehr ungenügenden Maße zu erzielen sein und die Ministerverantwortlichkeit könnte nimmer eine Wahrheit werden.36
Als Angelpunkt der gesamten Argumentation erweist sich nun doch, anders als in der Einleitung der ‚Motive‘, die durch die Verfassung eingeführte Ministerverantwortlichkeit, die unter den preußischen Verhältnissen bis 1918 gerade keine parlamentarische Verantwortung bedeutete. Das Parlament erschien König und Staatsministerium grundsätzlich als der Ort der Opposition. Eine politische Sanktion der Regierung wäre dem Parlament nur möglich geworden mit der im Titel IV. „Von den Ministern“ (Art. 59 der oktroyierten und Art. 61 der am 31. Januar 1850 verkündeten revidierten Verfassung37) vorgesehenen Ministeranklage durch eine der beiden Kammern. Doch eine Einigung der beiden gesetzgebenden Faktoren König und Parlament auf das angekündigte Ausführungsgesetz kam bis 1918 nicht zustande und die Bestimmung blieb unanwendbar. „Die Minister des Königs sind verantwortlich“ wird im anderen Kontext des Titels III. „Vom Könige“ (1848 in Art. 42 und 1850 in Art. 44) statuiert und der Satz konkretisiert sich nur in der Gegenzeichnung der Regierungsakte des Königs. Im Zusammenhang mit dieser Schrumpfform von Minister-Verantwortlichkeit sollte man Beamte in unmittelbarer Nähe der Spitze „einstweilig“ aus ihrem Dienst entfernen können, auch wenn sie sich nichts hatten zu Schulden kommen lassen. Alle vier Kernelemente der ‚politischen Beamten‘ von heute sind somit in Preußen im Jahre 1849 einseitig ohne das Parlament und mit stetem Blick auf die Regierung als „Regierung des Königs“ normiert worden. Dabei handelt es sich um die Entlassbarkeit ohne Begründung und ohne Ehrverlust, wie er mit einem förmlichen Disziplinarverfahren verbunden gewesen wäre, die jederzeitige und sofortige Möglichkeit dieses Geschehens, die Begrenzung des betroffenen Personenkreises auf genau bestimmte hohe Verwaltungspositionen und die Weiterzahlung beträchtlicher Teile des Gehalts. Natürlich gab es immer Gründe für die Entfernung eines solchen ‚politischen Beamten‘, sei es politischer, sei es persönlicher Art, aber sie sollten bewusst nicht justiziabel werden, indem sie im Dunkel rund um die monarchische Aura verblieben. Die 1849 verordnete Begrenzung materieller (Wartegeld) wie immaterieller (die Ehre betreffender) Schädigungen der betroffenen Beamten erscheint wie eine Lehre aus Flottwells Widerständig36 Ebd., S. 156. 37 Oktroyierte Verfassung 1848 siehe Anm. 30; [revidierte] Verfassungsurkunde für den Preußi-
schen Staat 1850 als Dok. Nr. 194 in Huber, Dokumente, Band 1, S. 500–514; sie blieb bis zur Novemberrevolution in Kraft, auch URL: http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfpr1850.html (letzter Zugriff 4.3.2021).
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keit, aber auch als Betonung der Dispositionsmacht des Königs – und auch seines Staatsministeriums – gegenüber dem Parlament. Aus dem § 94 Ziffer 2 der (Not-) Verordnung von 1849 zur jederzeit möglichen Entfernung ‚politischer Beamter‘ aus ihrem Amt wurde schließlich im Gesetz gleichen Titels vom 21. Juli 1852 der nur ganz unwesentlich anders gefasste § 87 Ziffer 2.38 Diese gesetzliche Regelung galt bis zum Ende der Monarchie 1918.39 In größerem Maße in Anspruch genommen wurde sie zu politischer Neuausrichtung der hohen Beamtenschaft im Lande am Beginn der ‚Neuen Ära‘ 1858, im Heeres- und Verfassungskonflikt und nach der Reichsgründung im Kulturkampf. Das seit 1790 immer wieder bestätigte Recht des Königs, über seine Diener „frei zu entscheiden“, hatte sich faktisch zu einem Initiativrecht der Regierung erweitert, das hier gesetzlich fundiert wurde. Der andere Gedanke von 1790 dagegen, dass die unmittelbare Verfügung des Königs über sein Personal einen „Minister-Despotismus“ verhindern solle, verblasste im Lichte dieses Schulterschlusses von Monarch und Ministern in der Verfassung bis zur Unkenntlichkeit.
III. Montgelas’ ganz andere Konzeption lebenslang tätiger Beamter in Bayern seit 1796 Der früheste Weg zum heutigen deutschen Berufsbeamtentum war mit dem letzten großen Verfassungsgesetz des untergehenden Heiligen Römischen Reiches verbunden, dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der die Abtretung aller linksrheinischen Gebiete an Frankreich und ihre Folgen regelte. Den Reichsständen, die dort Länder und Leute verloren, gewährte er Kompensationen aus aufgelösten kirchlichen Herrschaften, Reichsstädten und anderen Dispositionsmassen rechts des Rheins und veränderte so völlig die Struktur des Alten Reiches. In diesem Dokument finden sich bemerkenswert großzügige Regelungen für das Personal von depossedierten Landesherren. Ihren ehemaligen Bediensteten wurde „der unabgekürzte, lebenslängliche Fortgenuß ihres bisherigen Rangs, ganzen Gehalts und rechtmäßiger Emolumente“ belassen, sofern sie sich ihren Kenntnissen entsprechend „an einem anderen Orte und in anderen Dienstverhältnissen anstellen“ ließen; ansonsten hatten sie einen Anspruch auf Pensionierung zu Lasten ihres neuen Landes.40 Für die aufgelösten geistlichen Länder wurde diese Regelung ausdrücklich bekräftigt mit dem Ausdruck „in Ansehung der standesmäßigen Un38 Vgl. Gesetz-Sammlung 1852, S. 465–488. 39 Überblick über den Stand des preußischen Beamtenrechts kurz vor dem Ersten Weltkrieg bei
Hue de Grais, Handbuch, S. 88–107, besonders zu Beamtenpflichten, Disziplinarrecht und „Verfügungen außerhalb des Disziplinarverfahrens“ wie der „Stellung zur Disposition“ mit Wartegeld S. 94–97. 40 Hauptschluss der außerordentlichen Reichsdeputation vom 25.02.1803 [Reichsdeputationshauptschluss], in: Huber, Dokumente, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–28, § 59, auch URL: http://www.documentarchiv.de/nzjh/rdhs1803.html (letzter Zugriff 4.3.2021).
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terhaltung der unter der gegenwärtigen Veränderung leidenden Personen“41 – der Weg von der damals ‚standesmäßigen‘ zur heutigen ‚amtsangemessenen‘ Besoldung war von da aus nicht mehr sehr weit. In Brandenburg-Preußen bestand vielleicht aufgrund des Allgemeinen Landrechts von 1794 kein so großer Anpassungsdruck in dieser Frage. Bayern dagegen übertrug die Lebenslänglichkeit der Anstellung von Beamten analog zu den Regeln für die 1803 aus fremden Diensten übernommenen Beamten wenig später auf alle hohen Beamten im Land. Kurfürst Maximilian I. Joseph erließ am 1. Januar 1805 ein Beamtengesetz „mit dem permanenten Karakter einer konstitutionellen Haupt-Landes-Pragmatik“.42 Sie stellt damit, wenig bemerkt, die älteste für längere Zeit in Kraft stehende (Teil-)Verfassung Bayerns und Deutschlands dar. Die Grundgedanken dieses Beamtengesetzes hatte Graf Montgelas dem damaligen Herzog Maximilian von Pfalz-Zweibrücken bereits im Jahre 1796 im Exil im brandenburgisch-preußischen Franken entwickelt, als er ihm sein Regierungsprogramm für den zu erwartenden Erbfall in München vorlegte. Dieses „Ansbacher Mémoire“ sprach sich für die Unabsetzbarkeit der (höheren) Beamten aus, weil nur so leistungsfähige Männer für den Staat zu gewinnen seien; Montgelas vertrat damit die egalitäre Leistungsorientierung der Französischen Revolution. Die Lebenslänglichkeit der Stellung aller hohen Beamten begründete Montgelas mit folgenden Überlegungen, die weit über den Schutz bereits erworbener Rechte im Reichsdeputationshauptschluss hinausgingen: Man kann sich im übrigen schwerlich darüber hinwegtäuschen, dass allein die Beständigkeit der Untergebenen den Ersatz für den mehr oder weniger häufigen Wechsel der Vorgesetzten schafft, der in der Natur der Arbeit sowie in den Verbindungen der Minister liegt, und die somit in jedem Zweig die Einheitlichkeit der Prinzipien aufrechterhält, diesen Geist von Ganzheitlichkeit und Kontinuität, der die Seele einer Verwaltung darstellt. Aus Vorsicht ist es vielleicht angebracht, ein Gegengewicht zur zu großen Macht der Minister zu bilden, indem man unabhängig von ihrem Willen die Dauer der Tätigkeit der Referendäre [Vortragende Räte, SF] festlegt. Ihren Vorgesetzten in allen Fragen der Ordnung sowie der Führung der Geschäfte untergeordnet, werden sie niemals ihren Fortgang behindern und keine Macht haben, das „Gute“ zu verhindern oder zu hemmen. Ihr fester und gemeinsamer Wille wird jedoch die Kraft besitzen, einem Unrecht zu widerstehen, das eine Intrige [von Seiten der Minister, SF] erzwingen wollte.43
41 Ebd., § 68. 42 Königlich Baierische Haupt-Landes-Pragmatik über die Dienstverhältnisse der Staatsdiener
hauptsächlich in Beziehung auf ihren Stand und Gehalt vom 1. Jänner 1805 (mit erläuternden Anmerkungen), in: Gönner, Staatsdienst, Anhang, S. I–XLVI, Zitat S. XLV; vgl. Hattenhauer, Geschichte, S. 179–188 (Dienstpragmatik) und 188–193 (Gönner). 43 Ansbacher Mémoire [Übersetzung], S. 23–24.
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Im französischen Original steht das ‚Gute‘ nicht in Anführungszeichen; und die Formulierung zu den Gegengewichten lautet: Peut-être est-il de prudence de donner un contrepoids contre la trop grande puissance des ministres en rendant la durée des fonctions des référendaires indépendante de leurs volontés.44
„Contrepoids“ verweist auf die Verfassungsdiskussion im revolutionären Frankreich, bei der sowohl Montesquieus strikte Gewaltentrennung als auch die ‚checks and balances‘ der amerikanischen Verfassung intensiv durchdacht wurden, ein Thema, mit dem Montgelas vertraut war, der in diesen Jahren als ‚Jakobiner‘ verdächtigt wurde.45 Aus den Erwartungen an den Geist der Beamtenschaft und an ihren Willen, Unrecht zu verhindern, ergab sich als Gegenleistung und vor allem Garantie die Alimentierung auf Lebenszeit zur Sicherung ihres materiellen Auskommens: Jedes Individuum, das seine Zeit dem Dienst am Staat verschreibt, hat einen berechtigten Anspruch auf angemessene Entlohnung während seines Lebens, entsprechend dem gesellschaftlichen Rang, den es einnimmt, und nach seinem Tod auf eine angemessene Entschädigung für seine Frau und seine Kinder. Bisher ist man genau in die entgegengesetzte Richtung gegangen; man glaubte unendlich zu gewinnen, indem man sich billig dienen ließ.46
Das waren erstaunlich eigenständige und weitblickende Ideen für einen Mann, der auf dem Weg war, ab 1799 für fast zwei Jahrzehnte selbst leitender Minister erst des Kurfürstentums und ab 1806 des Königreichs Bayern zu werden. Sein Gedanke von 1796, die Beamten sollten im Falle eines Unrechts für ein „Gegengewicht“ innerhalb der Staatsbehörden sorgen, erscheint grundlegend für eine auch heute sinnvolle rechtsstaatliche Beamtenethik, die neben den Rechten wie dem auf Alimentation auch die damit verbundenen Pflichten wie die zu selbständigem Urteil aus der auf diese Weise garantierten persönlichen Unabhängigkeit ins Bewusstsein zu heben versucht.47 Das Verfassungsgesetz der Staatsdienerpragmatik von 1805 wurde 1818 als Beilage IX in die neue Verfassungs-Urkunde Bayerns integriert.48 Zunächst konnte allerdings nur ein kleiner Kreis ‚pragmatischer Beamter‘
44 Transkription des französischen Originals bei Weis, Reformprogramm, S. 244–256, hier S. 244–
245. 45 Vgl. Abschnitt „Zwischen den Fronten des Revolutionskrieges“ bei Weis, Montgelas, S. 230– 261. 46 Ansbacher Mémoire [Übersetzung], S. 23. 47 Kerngedanke bei Lindner, Legitimation. 48 Verfassungs-Urkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, in: Huber, Dokumente, Bd. I, Nr. 53, S. 155–171 (hier jedoch ohne diese Beilagen); mit allen Beilagen URL: https://www. verfassungen.de/by/verf18-i.htm (letzter Zugriff 4.3.2021).
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nach drei Jahren Probezeit seiner definitiven Anstellung und der Hinterbliebenenversorgung sicher sein. Die Grundgedanken von 1805 bestimmen das bayerische Beamtenrecht bis heute, denn ihm blieb immer der Gedanke völlig fremd, Beamte könnten so wie nach 1848 in Preußen aus dem Willen der Regierung ohne einen zureichenden disziplinarrechtlichen Grund, also: aus politischen Gründen, in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis dieser beiden konträren Positionen ist „Gegengewicht“. In Preußen sollen König und Regierung (und unter ihrem Druck dann eben auch: die hohen Beamten) zusammenstehen und so ein Gegengewicht gegen das Parlament als den Ort der Opposition bilden. Dagegen richtete der Kurfürst/König in Bayern mit Montgelas die Regierung und Verwaltung so ein, dass es den hohen Beamten möglich sein sollte, ein Gegengewicht gegen die Macht der Minister zu bilden, der Minister der Krone! Der Absolutheitsanspruch der königlichen Macht ist hier zurückgenommen,49 und das Gesetz der Staatsdienerpragmatik von 1805 war ein erstes den Monarchen selbst-bindendes Verfassungsgesetz, bevor er 1818 die Verfassungs-Urkunde folgen ließ. Die konstitutionelle Monarchie wurde in Bayern sehr früh verankert, und sie enthielt von Anfang an die Idee eines inner-administrativen Mechanismus von ‚checks and balances‘. In der Praxis war dies den Nachfolgern von König Max I. Joseph oft nicht recht; aber die Umgehung dieser Regeln war nicht so einfach, wenn sie nicht die reguläre Versetzung in den seit Montgelas‘ Zeiten relativ gut dotierten Ruhestand als Disziplinierungsmittel nutzen wollten. Das Beurteilungswesen gab manche Informationen,50 und man konnte auch subtilere Druckmittel anwenden. Ludwig I. hatte 1826 ein Gehaltsregulativ erlassen, aber es war weder veröffentlicht noch hatten Beamte einen Rechtsanspruch, entsprechend diesen Sätzen besoldet zu werden; und das Parlament konnte nur die Gesamtsumme der Personalaufwendungen bestimmen. Bei der Ernennung konnte er daher häufig niedrigere Gehälter festsetzen als vorgesehen. Gängige Praxis war damals auch, dass einem Beamten das mögliche Höchstgehalt (bei Montgelas: ‚Standesgehalt‘, das allein der standesgemäßen Alimentation diente, also bei der Pensionierung erhalten bleiben und im Laufe der Karriere von 70 bis auf 100 % des Gesamtgehalts steigen sollte) erst für den Zeitpunkt seines Ausscheidens als Gnadenakt in Aussicht gestellt wurde – entsprechend seinem Verhalten.51 Das Kaisertum Österreich regelte seine Beamtenverhältnisse erst recht spät im Jahre 1914, ohne ein Äquivalent zu ‚politischen Beamten‘ im preußischen Sinne zu schaffen; dort bezeichnet dieser Begriff das gesamte Betätigungsfeld in der in49 Vgl. Weis, Montgelas, Band 1, S. 149–150 sieht ihn als Anhänger von Vertragstheorien und
überzeugten Gegner des Gottesgnadentums. 50 Vgl. zur Entwicklung eines standardisierten Beurteilungswesens Götschmann, Innenministerium, S. 151–168, mit dem wichtigen Hinweis, dass das ausgeprägte Leistungsprinzip einen Vergleich zwischen Personen jenseits der Gesinnungsfragen beförderte, S. 167. 51 Vgl. ebd., S. 174–182.
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neren Verwaltung.52 Die Schweizer Eidgenossenschaft hat aus ihrer ganz anderen, erst oligarchischen, dann immer mehr demokratischen Tradition der Republik nie wirklich ein Berufsbeamtentum im deutschen Sinne entwickelt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sie sich in Bund und Kantonen auf Beamte gestützt, die auf eine für alle gemeinsam zu einem bestimmten Termin endende Amtsdauer von vier Jahren (oder ggf. kürzer) gewählt wurden; wobei de facto Wiederwahl die überwiegende Regel war. Die Wähler waren die Parlamente oder von diesen gewählte Behörden und somit indirekt vom Volk gewählt.53 Im System begrenzter Amtsdauern kannte die Schweiz zwei Wege der Entlassung, einen normierten disziplinarrechtlichen, der Verschulden voraussetzt, und einen immer möglichen administrativen. Dort galten nur allgemeine Rechtsgarantien, vor allem auf Anhörung und auf Begründung; sonst war er nicht normiert. Dieses umstrittene System ähnelte der preußischen Kategorie von „auf administrativem Wege erfolgenden Dienst-Entlassungen“, jedoch ohne ihre politische Instrumentalisierung von 1850 zur leichteren Entlassbarkeit politischer Beamter.54 Seit 2002 sind Befristung der Ämter und periodische Wiederwahl weitgehend durch ein Kündigungssystem (mit Angestelltenstatus) ersetzt.
IV. Vermehrung der Stellen von ‚politischen Beamten‘ in Preußen und im Reich bis 1918 Die personalpolitische Wirksamkeit des neuen, jetzt gesetzlichen Instruments der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand erwuchs vor allem aus der reinen Möglichkeit dieser Maßnahmen, auch ohne dass sie angewandt wurden, und berührte damit dauerhaft Haltungen und Handlungen der davon betroffenen Beamten. 1866 wurden nach der Annexion großer Teile Nord- und Mitteldeutschlands in Folge des Preußisch-Deutschen Krieges die Regeln für ‚politische Beamte‘ in den neuen Provinzen Preußens auf einen erheblich erweiterten Kreis der von den besiegten Kriegsgegnern übernommenen Beamten ausgedehnt, und mehr noch, sie galten in die Zukunft auch für alle später dort tätig werdenden Beamten. Dies regelte die „Verordnung, betreffend die Ausdehnung des preußischen Disziplinargesetzes auf die Beamten in den neu erworbenen Landesteilen“ vom 23. September 1867.55 In den einstweiligen Ruhestand versetzen konnte man in den neuen Provinzen zusätzlich auch noch die Provinzial-Steuerdirektoren und ihre Ober52 Vgl. zu Österreich Hackl, Dienstpragmatik und Fisch, Beamte, S. 28. 53 Vgl. Bellwald, Verantwortlichkeit, S. 33–37, wichtig S. 36 mit Anm. 29, wonach bei der Wieder-
wahl für 1981–84 von knapp 28.000 Bundesbeamten nur 85 nicht wiedergewählt wurden, die meisten wegen Erreichens der Altersgrenze, und nur 18 wegen Nichterfüllens der Anforderungen. 54 Vgl. Michel, Beamtenstatus, S. 19–22 (deutsches Beamtenrecht und Amtsdauersystem) und S. 159–166 (administrative und disziplinarische Entlassung während der Amtsdauer). 55 Gesetzsammlung 1867, Teilband 2, S. 1613–1618, hier S. 1617. – Nur die hannoverschen Land-
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regierungsräte, bei den Regierungen auch die Abteilungsdirigenten, die Oberregierungsräte und die Oberforstmeister, und ebenso bei vergleichbaren Behörden wie den hannoverschen Landdrosteien. Das galt ferner für die Leiter von Fachbehörden wie Oberpostdirektionen, Obertelegrafeninspektionen, Eisenbahndirektionen, Oberbergämtern und Bergwerksdirektionen und selbst die Leiter von Gestüten und landwirtschaftlichen Lehranstalten. In den Kreisen der neuen Provinzen konnten nicht nur, analog zu den Landräten in Preußen, die Amtmänner, sondern auf der Ebene darunter in Schleswig die vor allem mit Polizeiaufgaben betrauten Hardesvögte und in Holstein die Kirchspielvögte, und überall sogar die Direktoren der höheren Lehranstalten jederzeit so zur Disposition gestellt werden, wie der ursprünglich enge Kreis der ‚politischen Beamten‘ im alten Preußen. Bismarck hatte ausdrücklich gewünscht, die „Kategorien“ dafür zu erweitern und ließ die Minister selbst dazu Vorschläge machen.56 Aus diesem Verfahren ergab sich ein teils recht eigenartiger Kreis betroffener Beamtenstellen, denn die Verabschiedung geschah unter Zeitdruck, nur eine Woche vor dem Ende der einjährigen Diktaturphase in den neuen Provinzen, in der eine Gesetzgebung ohne Beteiligung des Landtags möglich war. Wie in Preußen wollte Bismarck auch für den Norddeutschen Bund und dann das Reich den Kreis der politischen Beamten durch „Amovibilität der Ministerialräte“ erweitern.57 Das Gesetz vom 31. März 1873 über die Reichsbeamten behandelte vor allem die vom Kaiser ernannten höheren Beamten des neuen Reichs sowie die vom Reichstagspräsidenten ernannten Beamten des Parlaments, später u. a. auch die der Reichsbank, der Kaiserlichen Marine und der deutschen Schutzgebiete. Der Kreis der jederzeit zur Disposition stellbaren Beamten nach Art. 25 blieb entgegen Bismarcks Absichten ähnlich ‚eng‘ wie bei den ersten preußischen Regelungen von 1852, weil die Reichsleitung die Reichstagmehrheit nicht überzeugte, dass es „nöthig“ sei, neben der Leitungsebene auch die vortragenden Räte und sogar die etatsmäßigen Hilfsarbeiter sowie die höheren Post- und Telegraphen-Beamten in diese Gruppe aufzunehmen. Die Abgeordneten lehnten auch die in § 10 vorgesehene Bindung nicht nur an Verfassung und Gesetze, sondern auch an „sonstige Anordnungen“ ab. Die Wartegelder wurden erheblich erhöht, weil den zur Disposition gestellten Beamten „ein Verschulden nicht zur Last fällt“. 58 Ähnliche Gesetze wurden später in Baden, Mecklenburg-Schwerin und
drosteien in Art. IV wurden 1904 (Gesetzessammlung 1904, S. 283) ausgenommen, die schon seit 1885 in preußische Regierungen umgewandelt waren. 56 Staatsministerium 19.6.1867, Die Protokolle, Band 6, Teil 1, S. 73 (Nr. 35). 57 Staatsministerium 2.1.1870, Die Protokolle, Band 6 Teil 1, S. 168 (Nr. 202). 58 Reichsgesetzblatt 1873, S. 61–90 und der Entwurf als Aktenstück 9 des Reichstags vom 8.4.1872, Stenographische Berichte Reichstag, I. Legislaturperiode, III. Session, Band 3, S. 60–78, URL ab: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k1_bsb00018361_00066.html (letzter Aufruf 4.3.2021); vgl. Hattenhauer, Geschichte, S. 243–247.
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Mecklenburg-Strelitz verabschiedet; in den Hansestädten (ohne höhere Verwaltungsbeamte) galt Vergleichbares nur für die Staatsanwälte.59 Für das Reichsland Elsass-Lothringen beschlossen am 23. Dezember 1873, während der hier mehr als dreijährigen Diktaturphase, allein der Kaiser und der Bundesrat ein Landes-„Gesetz, betreffend die Rechtsverhältnisse der Beamten und Lehrer“, das diese den Regeln des Reichsbeamtengesetzes unterwarf.60 Zugleich wurde der Kreis der höheren Beamten, die jederzeit entlassen werden konnten, ähnlich erweitert wie schon 1867 in den neuen Provinzen Preußens; es war ja auch wieder kein Parlament beteiligt. Nach Art. II konnten im Reichsland jederzeit aus dem Dienst entfernt werden neben dem Oberpräsidenten auch sein Vizepräsident im Oberpräsidium (beide 1879 ersetzt durch den Kaiserlichen Statthalter, den Staatssekretär als Chef des Ministeriums und die Unterstaatssekretäre), ferner der Direktor der Zölle und indirekten Steuern, die Bezirkspräsidenten in den drei Bezirken, die Oberregierungsräte, der Landforstmeister und die Oberforstmeister, die Polizeidirektoren, die Kreisdirektoren (Landräte), die Beamten der Staatsanwaltschaft, die Kreisschulinspektoren, die Direktoren der öffentlichen höheren Schulen und – noch weiter als 1867 in den neuen Provinzen – sogar die Lehrer an öffentlichen niederen Schulen. Die seit 1849/52 gegenüber den Beamten verstärkte Stellung des Staatsministeriums als Regierung des Königs griff nach der Reichsgründung auch auf die Haltung der politischen Beamten bei Wahlen aus. Ein von Bismarck (als preußischer Ministerpräsident) gegengezeichneter Königlicher Erlass erlegte ihnen am 4. Januar 1882 die Pflicht zur „Vertretung der Politik Meiner Regierung auch bei den Wahlen“ auf. Darin bekräftigte der König noch den Glauben an seine eigene Entscheidungsmacht, obwohl diese sich schon länger, spätestens seit 1849/52 auf die Staatsregierung verschoben hatte: Die Verfassung Preußens ist der Ausdruck der monarchischen Tradition dieses Landes, dessen Entwicklung auf den lebendigen Beziehungen seiner Könige zum Volke beruht. Diese Beziehungen lassen sich auf die vom Könige ernannten Minister nicht übertragen, denn sie knüpfen sich an die Person des Königs. Es ist deshalb Mein Wille, daß sowohl in Preußen, wie in gesetzgebenden Körpern des Reichs über Mein und Meiner Nachfolger verfassungsmäßiges Recht zur persönlichen Leitung der Politik Meiner Regierung kein Zweifel gelassen und der Meinung stets widersprochen werde, als ob […] die Nothwendigkeit verantwortlicher Gegenzeichnung Meinen Regierungsakten die Natur selbständiger Königlicher Entschließungen benommen hätte. Es ist die Aufgabe Meiner Minister, Meine verfassungsmäßigen
59 Vgl. Schmid-Burgk, Wartestand, S. 17–19. – Auch in Sachsen gab es (wie in Bayern) keine
politischen Beamten, was den Staatsdienern „eine größere Sicherheit in ihrer Stellung“ gab, Fessler, Entwicklung, S. 162, Anm. 2. 60 Gesetzblatt Elsass-Lothringen, 1873, S. 479–482 (anschließend Abdruck des Reichsbeamtengesetzes vom selben Jahr), URL http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033606-6 (letzter Aufruf 4.3.2021).
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Rechte durch Verwahrung gegen Zweifel und Verdunkelung zu vertreten; das Gleiche erwarte Ich von allen Beamten, welche Mir den Amtseid geleistet haben.61
Im bekannten Fall der preußischen „Kanalrebellen“ von 1899 brach der Konflikt zwischen der abhängigen Stellung gerade eines ‚politischen Beamten‘ und der Freiheit eines Abgeordnetenmandats massiv auf. Gewöhnlich vertraten Regierungspräsidenten und Landräte ganz die konservative Linie des Staatsministeriums, in dessen Beamtentum sie aufgestiegen waren. Zur Homogenität in Weltsicht und Denken des höheren Verwaltungspersonals trug ihre frühe Filterung im Einstellungs- und Auswahlgespräch mit dem Regierungspräsidenten bei, der lange Zeit nach freiem Ermessen zum Regierungsreferendariat und damit zur Verwaltung zuließ. „Daß dabei politische und soziale Erwägungen oder Vorurteile eine Rolle spielen können, ist klar“, sah schon Hintze 1911 klar.62 Politische Beamte mit entsprechender eigener Passung führten so eine entsprechende Passung des Nachwuchses der höheren Verwaltung herbei.63 1899 stellten sich jedoch auf diese traditionserhaltende Weise sozialisierte Regierungspräsidenten und Landräte als Landtagsabgeordnete gegen den Bau des Mittellandkanals, von dem die sehr aktive Lobby des ‚Bunds der Landwirte‘ eine Schädigung des junkerlichen Großgrundbesitzes in Ostelbien befürchtete. Auf Befehl des persönlich engagierten Wilhelm II. setzte der preußische Innenminister von der Recke diese 23 BeamtenAbgeordneten unter Druck, auf keinen Fall die Regierungsvorlage abzulehnen. Er verlangte entweder Stimmenthaltung (also nicht: Verleugnung ihrer persönlichen Überzeugung) oder Verzicht auf ihr Abgeordnetenmandat oder freiwilliges Ausscheiden aus dem Staatsdienst. Eine freie Ausübung des Abgeordnetenmandats wog für König und Regierung offenkundig weniger als die weit gefasste Treuepflicht, die hier auch leichter als bei weniger exponierten Beamten sanktionierbar war. Zwei Regierungspräsidenten und 18 Landräte blieben bei ihren Auffassungen, stimmten gegen die Regierungsvorlage und wurden zu „Kanalrebellen“. Sie 61 [König] Wilhelm an Staatsministerium, gegengezeichnet durch Bismarck, 4.1.1882, in: Deut-
scher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, Nr. 6, 7.1.1882, Titelseite, URL: https://digi.bib.uni-mannheim.de/viewer/reichsanzeiger/film/046-7965/0574.jp2 (letzter Zugriff am 4.3.2021); vgl. Kehr, Reaktion, S. 79–81. 62 Hintze, Beamtenstand, S. 51; Er glaubte auch eine Steigerung der Qualitäten eines guten Beamten „durch Züchtung Generationen hindurch“ erkennen zu können, S. 50; erstaunlich ist, dass sich Max Weber nicht erkennbar mit diesem naheliegenden ‚Auslese‘- und damit Rationalisierungsproblem beschäftigt hat. 63 Vgl. Gesetz, betreffend die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst vom 11.3.1879, Gesetzsammlung 1879, S. 160–164; § 4 stellt fest, dass ein Gerichtsreferendar nach den obligatorischen zwei Jahren dort „von dem Regierungspräsidenten […], in dessen Bezirk er beschäftigt werden will, zum Regierungsreferendarius ernannt [wird]“, was gerade nicht einen Rechtsanspruch eröffnete. Hinzu kam eine bedarfsorientierte numerus-clausus-Politik, die Ablehnungen erleichterte. – Zum Regierungsreferendariat und seiner Bedeutung für die Herausbildung des ‚Juristenprivilegs vgl. Bleek, Kameralausbildung, S. 123–128, 153–162, 170–179 und 191–193, zur sozialen Herkunft der höheren Beamten vgl. Runge, Politik, S. 169–179.
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wurden „im Interesse des Dienstes“, wie immer ohne weitere Begründung, sofort in den einstweiligen Ruhestand versetzt: Des Königs Majestät haben auf den Vortrag des Königlichen Staatsministeriums mittels Allerhöchsten Erlasses vom 26. v. Mts. […] zu genehmigen geruht, Sie, im Interesse des Dienstes, in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Indem ich ihnen hiervon Kenntnis gebe, ersuche ich Sie, ihr Amt unverzüglich niederzulegen.64
Zugleich verlangte das Staatsministerium, dass die höheren politischen Beamten und die Landräte ihre Pflichten erfüllen sollten: In allen Beziehungen, in welche sie durch ihre amtliche Stellung mit dem öffentlichen Leben gebracht werden, haben sie sich gegenwärtig zu halten, dass sie die Träger der Politik der Regierung Seiner Majestät sind und den Standpunkt derselben wirksam zu vertreten haben, unter keinen Umständen aber aufgrund ihrer persönlichen Meinungen die Aktion der Regierung zu erschweren berechtigt sind. Sie würden im anderen Falle durch ihr Verhalten die Autorität der Staatsregierung schwächen, die Einheitlichkeit der Staatsverwaltung gefährden, ihre Kraft lähmen und Verwirrung in den Gemüthern hervorrufen. Ein solches Verhalten steht mit allen Traditionen der preußischen Verwaltung im Widerspruch und kann nicht geduldet werden. Wir vertrauen, daß es genügen wird, die politischen Beamten hierauf mit Ernst und Bestimmtheit hinzuweisen, und hoffen, daß nicht wieder ein Anlaß geboten werden wird, weitergehende Maßregeln zu treffen.65
Dieser Erlass hätte auf dem üblichen Dienstweg ergehen können, und er hätte nicht amtlich veröffentlicht werden müssen. Durch die Publikation wurde jedoch über die Verwaltung hinaus allen deutlich zu verstehen gegeben, dass die zwanzig gleichzeitigen Versetzungen in den einstweiligen Ruhestand nicht nur eine Maßnahme „im Interesse des Dienstes“ waren, die allein die Innensphäre der Verwaltung betrafen, sondern dass sie politisch gemeint waren und nach außen wirken sollten.66 In einer Beamtenstellung an der Spitze sollte man nicht öffentlich von der Auffassung der Regierung des Königs abweichen. Der Begriff des ‚politischen Beamten‘ für diesen Personenkreis ist hier erstmals amtlich gebraucht worden.
64 Verfügung des Oberpräsidenten von Pommern vom 1.9.1899 gegen zwei Landräte, zit. bei
Horn, Kampf, S. 74, Anm. 47; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 1092–1105 (in Bd. 3, S. 896 ordnet Huber die Beamten-Abgeordneten aber fälschlich dem Reichstag zu), Hattenhauer, Geschichte, S. 228–235 und Rejewski, Pflicht, S. 118–125. 65 Erlass der Staatsregierung an alle Oberpräsidenten, 31.8.1899, in: Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, Nr. 205, 31.8.1899, URL: https://digi.bib.uni-mannheim.de/viewer/reichsanzeiger/film/018-9425/0306.jp2 (letzter Zugriff am 4.3.2021). 66 Köttgen, Berufsbeamtentum, S. 153 vermag für die konstitutionelle Monarchie dennoch „keinen Wesensunterschied“ zwischen den politischen Beamten und den übrigen zu erkennen.
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Hier trafen verschiedene Logiken aufeinander. Die inzwischen bei der Staatsregierung konzentrierten67 Verfügungsrechte über politische Beamte (und deren Türhüter-Rolle für den gesamten Nachwuchs des höheren Verwaltungsdienstes) waren in sozialer Praxis innerhalb der Zusammenarbeit von Regierung und Verwaltung entstanden. Diese interne Logik entwickelte sich im Kaiserreich abgesondert von der Praxis und Logik eines lebendigen Rechtsstaats, die sich in stetiger Kommunikation auch und gerade mit Dritten durch Kommentare, kritische wissenschaftliche Literatur und vor allem höchstrichterliche Rechtsprechung nach außen entfalten konnte; und das Fehlen dieser anderen Perspektive wirkte in die Republik weiter.
V.
Politische Beamte und Politisierung im parlamentarischen System der Weimarer Republik
Das Spannungsfeld, in dem politische Beamte stehen, veränderte sich grundlegend durch den Übergang von der Monarchie zur Republik im Jahre 1918. Die Beamtenschaft wurde offener; erstmals konnten sogar Sozialdemokraten, kurz zuvor noch ‚Reichsfeinde‘, und Frauen auf Stellen für höhere Beamte ernannt werden. Das neue parlamentarische Regierungssystem basierte darauf, dass Parteien gleichberechtigt in einem Wettstreit miteinander um die politische Gestaltungsmacht stehen, und dass die Regierung ihre Macht immer nur auf klar begrenzte Zeit hat. Das Recht, an die Inhaber höchster Beamtenstellen besondere Loyalitätsforderungen zu stellen und dies ggf. durch Entfernung aus dem Amt durchzusetzen, war in Preußen ein Vorrecht des Monarchen aus absolutistischen Zeiten gewesen, das nach 1848 in der gemeinsamen Stellung gegen das Parlament schrittweise auf die Regierung erweitert und dann auch auf das Reich übertragen wurde. Die Macht ruhte dabei im Monarchen auf Lebenszeit, und nicht auf die begrenzte Zeit eines politischen Zweckbündnisses. Dennoch wurde das Instrumentarium, wie es war, bekräftigt, und an die Parteiendemokratie nur durch Teilhabe mehrerer Richtungen und Ausweitung des Personenkreises angepasst. Öffentliches Problembewusstsein gab es eben bis 1918/19 überhaupt nicht. Die revolutionäre Regierung Preußens schrieb sich sehr schnell ohne weitere Begründung die Verfügung über die politischen Beamten zu. Sie überführte schon am 26. Februar 1919 den § 87 Ziffer 2 des Disziplinargesetzes vom 21. Juli 1852 in eine eigenständige ‚Verordnung mit Gesetzeskraft‘. Das war auch wieder wie 1849 eine Notverordnung, denn die Verfassunggebende Landesversammlung war
67 Wenn König Friedrich Wilhelm IV. nach 1848 selbst noch eingriff, galt das als Zeichen seines
„nachtragenden Charakters“, also ein persönlicher Zug, der die soziale Praxis der „seinem Wesen widersprechenden Personalpolitik“ der Regierung störte; der strukturelle Gegensatz war im Persönlichen aufgelöst, vgl. Rejewski, Pflicht, S. 54–55.
POLITISCHE BEAMTE UND POLITISIERUNG VON BEAMTEN
zwar schon am 26. Januar 1919 gewählt, trat aber erst am 13. März zusammen.68 Die ‚politischen Beamten‘ waren immerhin aus dem – sowieso nur scheinbaren – Zusammenhang mit disziplinarisch zu ahndenden Verfehlungen genommen. Der Kreis der Betroffenen wurde 1919 eher enger definiert als in der Notverordnung von 1849. 1919 ermöglichte man auch allen Beamten bis Ende 1920 den Eintritt in den Ruhestand mit voller Pension (von 75 %), die dies „infolge der Umgestaltung des Staatswesens“ wünschten. Das politische Ziel war, die Beamtenschaft stärker auf ein parlamentarisches System einzustellen. Im neuen „demokratischen Preußen“69 wurden nun politische Beamte ausgetauscht. Dieser Prozess verlief bei den Landräten während der Revolution 1918/19 noch eher vorsichtig, verstärkte sich aber, gerade im Osten des Landes, nach dem Kapp-Putsch im März 1920. Ein weiterer Personalaustausch betraf 1922 nach den Morden an Erzberger und Rathenau alle Gruppen der politischen Beamten. Im Reich erweiterte das Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 den Kreis der politischen Beamten beträchtlich. Dazu zählten jetzt auch die vielen „planmäßigen und außerplanmäßigen Referenten“ im Büro des Reichspräsidenten, in der Reichskanzlei, in der Presseabteilung der Reichsregierung und in den politischen Abteilungen des Innenministeriums.70 Damit erreichte die Reichsregierung der „Weimarer Koalition“ unter Reichskanzler Wirth, was der Reichstag des Kaiserreichs im Jahre 1873 Bismarck nicht zugestanden hatte. Preußen folgte Ende 1922 und dehnte den Status der politischen Beamten auf die Ministerialdirigenten, die Oberpräsidialräte und die ersten Vertreter der Regierungspräsidenten sowie den ersten Vertreter des Polizeipräsidenten von Berlin aus.71 Neue politische Beamte wurden nach einem Proporz berufen, der stärker zugunsten der kleinen (aber eben wichtigen) Parteien wirkte und sogar die Opposition einschloss, wenn deren Bewerber als Personen republiktreu erschienen.72 So löste sich die bisherige konfessionelle und soziale Homogenität der Spitzen der höheren preußischen Beamtenschaft auf.73 68 Verordnung, betreffend die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den
Ruhestand, 26.2.1919, § 3 und § 13, Preußische Gesetzsammlung 1919, Nr. 13, S. 33–36, die als Entwurf am selben Tag erst dem Kabinett in Weimar vorgelegt wurde, Die Protokolle, Band 11, Nr. 15, S. 54. – Die Vizepräsidenten der Regierungen waren keine politischen Beamten mehr, dafür wird zusätzlich der Vorsitzende der 1886 geschaffenen Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen aufgeführt, die allerdings durch den Frieden von Versailles bald ihr Tätigkeitsfeld und damit ihre Germanisierungsaufgabe verlor. 69 Zugespitzt bei Möller, Demokratisches Preußen. 70 Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik vom 21.7.1922, Art. III und IV und das Verzeichnis in der Anlage, Reichsgesetzblatt I 1922, S. 590–593. 71 Gesetz zur Abänderung der Verordnung […] vom 26.2.1919, vom 31.1.1922, Preußische Gesetzsammlung 1923, Nr. 1, S. 1–2. 72 Vgl. die Listen für die 539 politischen Beamten außerhalb der preußischen Ministerien und für alle 72 höheren Beamten des Innenministeriums aus dem Nachlass von Innenminister Grzesinski bei Möller, Preußen, S. 547. 73 Vgl. zu den Etappen der „Demokratisierung“ dieser Teilgruppe (!) der politischen Beamten Runge, Politik, S. 100–156, zur veränderten sozialen Struktur und den politischen Präferenzen am Ende der 20er Jahre S. 181–204.
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Die Parteien der „Weimarer Koalition“ aus Sozialdemokratie, katholischem Zentrum und Linksliberalen hatten unterschiedliche Rekrutierungsprobleme bei ihrem Zugriff auf hohe Verwaltungspositionen. Sie alle konnten unter den bis 1918 in Reich und Ländern eingestellten Laufbahnbeamten kaum auf Parteigänger zurückgreifen – dazu war die Personalauswahl im Kaiserreich zu sehr auf monarchisches Denken, protestantische Konfession und konservative Grundhaltung ausgerichtet gewesen. Das Zentrum und die Linksliberalen fanden erfahrene Männer in der Selbstverwaltung der Provinzen und der Städte. Der SPD dagegen blieben nur wenige Bewerber aus der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, besonders der Krankenkassen, und ansonsten Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre – die aber oft deutlich höhere Gehälter gewohnt waren als der Staat vorsah. 1920 wurde die „Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst“ von den Regierungsassessoren auf die Justizassessoren ausgedehnt und so kamen aus der liberaler eingestellten Justiz Seiteneinsteiger in die Verwaltung. Finanz- und Innenminister wurden zudem ermächtigt, auch andere Personen für die höhere Verwaltung als befähigt zu erklären, wenn sie „fachliche Vorbildung“ und eine „mindestens dreijährige Tätigkeit in einem öffentlichen Verwaltungsdienste“ vorwiesen.74 Von den 488 preußischen Landräten kam schon am Ende 1926 nur noch etwas mehr als die Hälfte aus dem Regierungsreferendariat und dazu ein gutes Fünftel aus dem Justizreferendariat, aber fast ein Zehntel war ohne jede spezielle Vorbildung (und bei den 24 Polizeipräsidenten sogar mehr als ein Drittel).75 Zu beachten ist auch, dass die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst wuchs; 1929 waren es schon 32.000 gegenüber 143.000 Beamten.76 Angestellte waren leichter einzustellen und leichter zu kündigen; das schuf gute Voraussetzungen für eine schleichende Politisierung. 1929 sprach Köttgen klar aus, dass (mindestens) an den politischen Beamten „die bestimmenden politischen Kräfte heute nicht minder interessiert sind als in der Vergangenheit“.77 Im Rückblick meinte Horst Möller, dass 1919/20 die Verantwortlichen „die Ambivalenz politischer Rechte und Pflichten der Beamten in der parlamentarischen Demokratie [nicht] reflektiert zu haben“ scheinen.78
74 Gesetz, betreffend Änderung des Gesetzes über die Befähigung zum höheren Verwaltungs-
dienste vom 10.8.1906, vom 8.7.1920, Preußische Gesetzsammlung 1920, Nr. 34, S. 388–389. 75 Zur Einstellungspraxis vgl. Köttgen, Berufsbeamtentum, S. 127–131, Zahlen S. 130, Anm. 3. 76 Vgl. Möller, Parlamentarismus, S. 515, Anm. 33. 77 Köttgen, Beamtenrecht, S. 42 (eine populär gehaltene Darstellung). 78 Möller, Parlamentarismus, S. 516.
POLITISCHE BEAMTE UND POLITISIERUNG VON BEAMTEN
VI. Auflösung von Recht in der politischen Praxis seit 1932 – Erbe und Erblast der Bundesrepublik Politisch in die Gegenrichtung wirkte der „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932. Reichskanzler von Papen enthob, gestützt auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten, die geschäftsführende Regierung von Ministerpräsident Otto Braun (SPD) ihres Amtes und ließ seinen Reichskommissar Franz Bracht (Zentrum) die Berliner Polizei der Reichsregierung unterstellen und das höhere Personal in den Ministerien und in der Provinz in breitem Umfang austauschen. Für Ernst Rudolf Huber erscheint das als ein „Akt der Wiederherstellung der Überparteilichkeit der Staatsverwaltung durch Einschränkung des ‚Parteibuchbeamtentums‘ und gleichzeitige Festigung des Fachbeamtentums“, ohne dass er dabei jedoch die neuen Männer und ihre Qualifikation näher betrachtet hätte.79 Die schiere Masse dieser in Wirklichkeit auf Politisierung des Personals in eine Richtung zielenden Maßnahmen ist bedrückend. Von 1925 bis zum 20. Juli 1932 wurden 35 Landräte in den einstweiligen Ruhestand versetzt, danach waren es 180 Landräte, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt oder beurlaubt wurden, wobei ab 1934 die preußische Regierung kaum noch regelmäßig zusammentrat.80 An der Macht, bekämpfte die NSDAP das ihr verhasste ‚Parteibuchbeamtentum‘ der Republik zuerst durch Radau und Unterstellungen und dann durch eine systematische politische und rassistische Säuberung. Sie stützte sich auf das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, das auch die früheste, danach immer weiter entfaltete Formulierung des „Arierparagraphen“ (§ 3) enthielt. Die Säuberung brachte die eigenen, vielfach sach-unkundigen Anhänger in die frei gemachten Ämter.81 Das Gesetz bezweckte genau das Gegenteil seines Titels, indem es das Vertrauen in die Grundlagen des Berufsbeamtentums zersetzte, die seit dem ALR und der Staatsdienerpragmatik gelegt worden waren. Dieser Spagat wurde durchaus gesehen und das Gesetz wurde anfangs auf sechs Monate befristet. Die ‚Normalität‘, zu der man danach zurückkehren wollte, konnte aber für Weitsichtige nicht mehr normal sein. Trotzdem bediente sich das neue System jedoch auch weiterhin des traditionellen Instruments politisch bestimmter Personalpolitik, der Versetzung von ‚politischen Beamten‘ in den einstweiligen Ruhestand. Hjalmar Schacht entfernte im November 1934 Gottfried Feder, einen ‚Alten Kämpfer‘ mit der frühen NSDAPMitgliedsnummer 531, aus seinem Amt als Staatssekretär im Reichswirtschafts79 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1028–1034 (Zitat S. 1034). 80 Vgl. Einträge im Sachregister zu „Ruhestand, einstweiliger“, Die Protokolle, Band 12, Teil 2,
S. 474–482, wobei zwischen den Zeiträumen vor und nach dem 20.7.1932 (Grenze S. 476) unterschieden wird. Nur „Landräte“ sind eindeutig einzelne Personen, was bei „Ministerium“ oder „Regierungspräsident/Vizepräsident“ nicht der Fall ist; Namen fehlen im Regest. 81 Vgl. Reichsgesetzblatt I 1933, S. 175–177, die Regel gegen Juden in § 3, die Befristung bis zum 30.9.1933 und der Ausschluss des Rechtswegs in § 7, vgl. die frühe Studie mit großem Quellenteil von Mommsen, Beamtentum, bes. S. 39–61 sowie Mühl-Benninghaus, Beamtentum, S. 1–93.
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ministerium auf diese ‚einstweilige‘ Weise, aber doch ohne Rückkehr.82 Als kommissarischer Minister konnte Schacht so mögliche Angriffspunkte der Partei gegen seine von ihm dem Staat zugeordnete Maßnahme vermeiden. Den Gesamtkomplex des Beamtenrechts regelte in nationalsozialistischem Sinne das „Deutsche Beamtengesetz“ vom 26. Januar 1937, das eine Mischung aus alten beamtenrechtlichen Grundsätzen und ideologischer Durchdringung darstellte und das nicht mehr neu anzuwendende Gesetz von 1933 ablöste.83 Nach § 71 konnte jeder Beamte aus politischen Gründen entlassen werden, sofern es ein Untersuchungsverfahren gab und er gehört wurde. In § 44 wurde der Kreis der traditionell einseitig entfernbaren ‚politischen Beamten‘ mit anderem Schwerpunkt erweitert, indem in Präsidial- und Reichskanzlei, Auswärtigem Amt und auch noch im Propagandaministerium ausdrücklich alle Beamten des höheren Dienstes darunter gefasst wurden; die Unterschiede zwischen Reichs-, Landes- und Kommunalbeamten zählten kaum noch. Eine Begründung für die Aufrechterhaltung des Sonderstatus von politischen Beamten neben der allgemeinen Entlassbarkeit aus politischen Gründen § 71 wurde nicht gegeben. In der Literatur aus dem Umfeld der NSDAP wurde das Ermessen als freie „Maßnahme im Interesse des nationalsozialistischen Staates“ gedeutet,84 aus Sicht des Reichsjustizministeriums dagegen sollte es nicht allein um „Abweichungen in den politischen Ansichten“ gehen können, sondern auch um ein „Ermessen“ des Führers, das „einer Begründung nicht bedarf“ 85 – also nichts anderes war als reine Willkür. Diese ‚Versetzung in den Wartestand‘ war als souveräner Akt des immer noch absolutistisch regierenden preußischen Königs über „seine Diener“ entstanden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie gelegentlich als persönliche Schrulle eines Herrschers angesehen, andererseits aber durch die preußische Regierung verfestigt, dann in das neue Deutsche Reich getragen und am Ende des Jahrhunderts zielbewusst zur Wahl- und Abgeordnetenbeeinflussung mit Hilfe der besonderen Abhängigkeit ‚politischer Beamter‘ instrumentalisiert. In der Weimarer Republik vermehrten die Parteien, deren Mitglieder bis dahin außer bei Konservativen und teilweise Nationalliberalen keinen Zugang zur höheren Beamtenschaft hatten, die Stellen ‚politischer Beamter‘ zur Steigerung ihres Einflusses und hoben dabei teilweise auch die beamtenrechtlich intensiv geregelten Anforderungen an Qualifikation durch Studium und Ausbildung auf. Der Nationalsozialismus gab vor, dieses ‚Parteibuchbeamtentum‘ zu bekämpfen – und bediente sich seiner mehr denn je zuvor.
82 Zu Feder als Staatssekretär 1933–34 vgl. Fisch, Willkür, S. 22–23 und 48. 83 Vgl. Reichsgesetzblatt I 1937, S. 39–70. 84 Nadler/Wittmann/Ruppert, Deutsches Beamtengesetz, Erläuterungen zu § 44, S. 824–828, Zi-
tat S. 826 und zu § 71, S. 1096–1111. 85 Schneider, Deutsches Beamtengesetz, S. 476–478, Zitat S. 477.
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Wie ging die Bundesrepublik mit diesem schillernden institutionellen Erbe um, das sie einerseits aus der konstitutionellen Monarchie vorfand, das aber bis 1932 auch schon dem parlamentarischen System anverwandelt worden war? Grundlage aller Beamtenverhältnisse nach 1945 blieb das Deutsche Beamtengesetz von 1937 – bald in einer ‚entnazifizierten‘ Fassung. Für die neuen Länder, die aus dem alten Preußen entstanden waren, ergab sich auf diese Weise ein einigermaßen zusammenhängendes Beamtengesetz, das in Preußen ja immer fehlte. Für den Bund wurde die bereinigte ‚Bundesfassung‘ des Gesetzes im Sommer 1950 sogar neu verkündet. Ihr § 44 umschrieb den gegenüber 1937 angepassten Kreis der politischen Beamten; die Staatssekretäre, Ministerialdirektoren und Pressereferenten gehörten alle dazu und im Bundespräsidialamt, Bundeskanzleramt und Auswärtigen Amt auch die Ministerialdirigenten mit den Beamten des höheren Dienstes.86 Ein eigenständiges Bundesbeamtengesetz (BBG) vom 14. Juli 1953 ersetzte diese Übergangsregelung und behandelt die politischen Beamten restriktiver als 1950 in § 36, indem die höheren Beamten im Bundespräsidialamt und im Bundeskanzleramt nicht mehr dazu zählten. An ganz anderer Stelle wurde dafür in § 8 Absatz 2 für einen weithin deckungsgleichen Personenkreis (Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Leiter nachgeordneter Bundesbehörden) das Gebot zur Stellenausschreibung aufgehoben, und Ausnahmen an die Zustimmung des Bundespersonalausschusses gebunden.87 Damit entfiel die Selbstbindung durch Nennung bestimmter ‚fachlicher Voraussetzungen‘ für Bewerber, ähnlich wie 1920 in der Weimarer Republik, als auf diese Weise eine Politisierung an der Spitze eingeleitet wurde. In der jetzt geltenden Fassung des Bundesbeamtengesetzes von 2009 ist die Liste der politischen Beamten in § 54 nur wenig gewachsen, aber § 8 ist noch sehr viel offener formuliert und erlaubt der Bundesregierung, sich selbst Ausnahmen von der Ausschreibungspflicht durch Rechtsverordnung zu gestatten; selbst bei der Einstellung in den Beamtendienst kann von öffentlichen Ausschreibungen abgesehen werden.88 Nur wenig vorher hatte der Bundesgesetzgeber im Zuge der Föderalismusreform mit § 30 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) alle Länder ermächtigt, in ihrem Beamtenrecht Ämter vorzusehen, bei deren Ausübung Beamte „in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen
86 Vgl. Bundesfassung des DBG vom 30.6.1950, BGBl (I) 1950, Nr. 30, S. 279–305, URL: http://
www.verfassungen.de/de33-45/beamte37.htm (letzter Zugriff am 4.3.2021); entfallen waren gegenüber 1937 u. a. die Beamten im Propagandaministerium, die Treuhänder der Arbeit und die vielen Stellen von Landes- und Kommunalbeamten. – Aus der Erfahrung des im Reichsfinanzministeriums für Beamtenfragen schon vor 1933 zuständigen Oskar Fischbach erwuchsen seine Kommentierungen des Berufsbeamtengesetzes 1933, des Deutschen Beamtengesetzes 1937 und auch noch der Bundesfassung 1950, vgl. Fischbach, Deutsches Beamtengesetz [1950]; zu den Kommentaren der frühen Bundesrepublik vgl. Wacke, Sammelrezension. 87 Vgl. BBG vom 14.7.1953, BGBl (I) 1953, Nr. 36, S. 551–585. 88 Vgl. BBG in der Fassung vom 5.2.2009, zuletzt geändert 2019, URL: https://www.gesetze-iminternet.de/bbg_2009/index.html (letzter Aufruf 4.3.2021).
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Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen“; allerdings hat Bayern davon immer noch nicht Gebrauch gemacht.89 Im Rückblick auf über 200 Jahre erweist sich die Institutionalisierung politischer Beamter in den meisten deutschen Verwaltungen und in fast allen deutschen Beamtengesetzen als eine paradoxe Verkettung von Logiken des Vertrauens und des Misstrauens. Der Sonderstatus dieser Beamten ergibt sich aus der Überzeugung, die politische Spitze, nämlich die Krone und dann auch die Regierung müsse sich bei den Inhabern hoher Verwaltungspositionen auf eine besondere, weiter als bei anderen Beamten reichende Loyalität verlassen können. Verfassungsgeschichtlich ist das eher Ausdruck eines persönlichen Treueverhältnisses zum Monarchen als einer besonderen Beziehung zum ‚Staat‘, und so begründete sich ab 1849 die – erhoffte – gemeinsame Opposition von Regierung und Verwaltung zum Parlament. Als die „Kanalrebellen“ am Ende des 19. Jahrhunderts Misstrauen auf sich zogen, lag das daran, dass sie die Freiheit des politischen Mandats durch die Wähler höher stellten als die von ihrem Amt geforderte besondere politische Übereinstimmung. Institutionell lässt sich Treue und Vertrauen nur durch das Paradox absichern, dass es einseitig möglich sein muss, sie individuell und persönlich in einer bestimmten Situation abzusprechen. Dem diente das im Kontext disziplinarrechtlicher Maßnahmen ab 1848 geschaffene Instrument der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, die zwar gerade nicht eine disziplinarrechtliche Maßnahme sein soll, dennoch aber, gerade weil Gründe nicht genannt werden, ein Akt höchsten – politischen – Misstrauens ist. Allerdings war der Weg zu dieser Institution des politischen Beamten nicht zwangsläufig, wie die ganz andere Konstellation in Bayern seit der Staatsdienerpragmatik zeigt, wo die zudem von der Verfassung garantierte Lebenslänglichkeit der Beamtenstellung nicht angegriffen wurde, und erst recht der Blick auf die republikanischen Traditionen in der Schweiz, die inzwischen den Weg über kündbare Angestelltenverhältnisse beschritten hat. Die personenbezogenen Kategorien monarchischer Herrschaft verschoben sich mit dem Übergang zum parlamentarischen System 1918/19. Hier muss von jedem Beamten Loyalität zu wechselnden Regierungen erwartet werden können, freilich nicht in dem weiten Umfang persönlicher Treue. Doch gerade in Krisenmomenten häuften sich die Versetzungen in den einstweiligen Ruhestand wegen Misstrauens nach gezeigter oder vermuteter Illoyalität. Und der beachtliche Zustrom anderweitig qualifizierter Bewerber in die Beamtenstellungen war in der Weimarer Republik von vorneherein ein Element von partei-orientierter Personalpolitik und Politisierung der Beamtenschaft. Somit wurden im parlamentarischen System diese in den einstweiligen Ruhestand versetzbaren Beamten echte ‚politische Beamte‘, die diese Tätigkeit nur unter ei89 BeamtStG vom 17.6.2008, zuletzt geändert 2019, URL: https://www.gesetze-im-internet.de/
beamtstg/index.html (letzter Aufruf 4.3.2021); zu Bayern Voitl, Alimentationsprinzip, S. 106 und Anm. 73 dort.
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ner entsprechenden Regierung ausübten und danach weggelobt oder einstweilig in den Ruhestand versetzt wurden. Das widerspricht strukturell der dem Beamtentum inhärenten, auf lange Dauer gedachten Verpflichtung auf den Staat. Neben ‚normale‘ Erwartungen an die Loyalität treten besondere an die eigenen‘ Leute, seien sie nun ‚politische Beamte‘ im Rechtssinne in den Spitzenstellungen oder in politisierter Personalpolitik ausgewählte weitere Beamte in normalen Stellungen. In der Bundesrepublik änderte sich das nicht; im Gegenteil, es häuften sich nach Machtwechseln die Personalveränderungen bei den Stellen politischer Beamter.90 Da man als neue Regierung die bei Amtsantritt vorhandenen politischen Beamten als loyal zur Vorgänger-Regierung ansieht, will man sich dieses Instruments politischer Patronage in gleicher Weise bedienen, und der geerbte Kreislauf bleibt. Eine weitere Erblast aus der Praxis der Weimarer Republik ist das weite Feld von viel weniger transparenten politisierten Ernennungen in normale Stellen. Eine im Interesse der Institutionen wirklich sachlich-rationale Bestenauslese mit klar bestimmten Kriterien für die Personalauswahl ist dieses Erbe aus Vertrauensüberlegungen jedenfalls nicht, zumal es aus monarchischer, nicht demokratischer Staatsauffassung einem ‚Minister-Absolutismus‘ sehr nahe steht. Eine besondere Erblast liegt daher darin, dass die schnelle Entscheidung vom Februar 1919, die wieder in einer unbefriedigenden parlamentslosen Situation getroffen wurde, nur diesmal von demokratischen Parteien, danach immer wieder gerne als gegeben angenommen worden ist.
90 Vgl. Derlien, Einstweiliger Ruhestand und andere Arbeiten des Autors.
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Prof. em. Dr. Stefan Fisch, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer war von 1996 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Seit 2007 ist er Chairperson der Project Group „Adminstrative History“ des Institut International des Sciences Administratives Bruxelles und von 2011–2016 war er Mitglied der „Unabhängigen Geschichtskommission zur Erforschung der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorläufer“. Publikationen: Verwaltung im langen 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs (Hg.), Handbuch des Verwaltungsrechts (HVwR), Bd. I: Grundstrukturen des deutschen Verwaltungsrechts, Heidelberg 2021, § 2 (im Erscheinen); Beamte in der deutschen Revolution 1918/19, in: Peter Becker/Therese Gerstenauer/Veronika Helfert u. a. (Hg.), Hofratsdämmerung? Verwaltung und ihr Personal in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie 1918 bis 1920, Wien 2020, S. 193–212; Verwaltungskulturen als „geronnene Geschichte“. Sozialwissenschaftliche und geschichtliche Zugänge, in: Martin Burgi (Hg.), Zur Lage der Verwaltungsrechtswissenschaft (= Die Verwaltung. Beiheft 12), Berlin 2017, S. 149–163; Verwaltungskulturen – Geronnene Geschichte?, in: Die Verwaltung, Jg. 33 (2000), S. 303–323; zusammen mit Werner Abelshauser/Dierk Hoffmann/ Carl-Ludwig Holtfrerich/Albrecht Ritschl (Hg.), Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990, 4 Bde., Berlin 2016.
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AUTORITÄRE VERWALTUNG ZWISCHEN ‚KONSEQUENZ‘ UND ‚ANGEMESSENHEIT‘ Binationale Eheschließungen im Nationalsozialismus
I.
Einleitung
I
m Jahr 2017 wurden hierzulande insgesamt 407.466 Ehen geschlossen. 46.329 (11,4 Prozent) hiervon waren binationale Heiraten mit deutscher Beteiligung, mehr als jedes neunte Paar also. Bei Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit rangierten türkische (4.930), italienische (1.992) und österreichische (840) Männer auf den ersten drei Plätzen, Männer mit deutschem Pass ehelichten Türkinnen (3.111) vor Polinnen (2.296) und Russinnen (1.800).1 Hinter all diesen Verbindungen stehen indes nicht nur individuelle Lebensgeschichten und private Lebensentscheidungen, sondern jeweils auch „trockene“ administrative Akte. Denn die Gewährung einer Eheschließung war und ist wenigstens hierzulande Gegenstand behördlicher, genauer: standesamtlicher Verwaltungsarbeit. Personenstandsrecht und die damit verbundenen bürokratischen Routinen und verwaltungsmäßigen Abläufe umfassen komplexe juristische Tatbestände – die umso komplexer werden, wenn nationale Grenzen überschritten und somit internationale Dimensionen berührt sind, ob bei Geburten, Eheschließungen und -scheidungen oder Todesfällen. Dies gilt nicht nur für heutige Begebenheiten, sondern 1 Vgl. für die Zahlen – aktuellere sind noch nicht verfügbar – die Übersichten des Verbandes
binationaler Familien und Partnerschaften, URL: https://www.verband-binationaler.de/index. php?id=590; https://www.verband-binationaler.de/fileadmin/Dokumente/Statistiken_Zahlen/Top 10_der_Partnerwahl_2017_-_Frauen.pdf; https://www.verband-binationaler.de/fileadmin/Dokumente/Statistiken_Zahlen/Top10_der_Partnerwahl_2017_-_Maenner.pdf (letzter Zugriff am 17.4.2020). Der Verband bezieht sich dabei jeweils auf das Statistische Bundesamt.
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auch im historischen Rückblick: Gedacht sei etwa an die weitreichenden privatrechtlichen Wirkungen der Staatsangehörigkeit,2 des Passwesens3 oder Fragen von Migrationskontrollen und Einbürgerungsregularien,4 die entscheidende Auswirkungen auf die (Im-)Mobilisierung des/der Einzelnen hatten. Indem im Folgenden binationale Eheschließungen – also Heiraten zwischen Ehepartnern mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit5 – in den Mittelpunkt der Analyse rücken, wird sowohl die bis heute zentrale Rolle von Verwaltungen für das Funktionieren von Grenz- und Migrationsregimen im Allgemeinen beleuchtet6 als auch eine Annäherung an das ‚Innere‘ des historischen Verwaltungshandelns angestrebt. Dabei soll die Nutzung und Ausdeutung von Entscheidungsspielräumen seitens der Mitarbeiter in den Behörden ebenso wie auf Seiten der handelnden Paare betrachtet werden. Auf diese Weise wird der Versuch unternommen, der immer wieder konstatierten, weitgehenden Theoriearmut bezüglich der Verwaltungsgeschichte insbesondere für die Zeit des Nationalsozialismus zu begegnen.7 Zunächst werden hierfür die wichtigsten personenstandsrechtlichen Grundlagen für national grenzüberschreitendes Heiraten erläutert, ehe in einem weiteren Schritt die zentralen Zusammenhänge zwischen Verwaltungskultur, Verwaltungslogiken und administrativen Entscheidungsverfahren in Migrationsregimen vorgestellt werden. Dass diese Migrationsregime mit Jochen Oltmer stets durch ein „Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure mitgeprägt“8 waren und sich daraus rasch Spannungen ergeben konnten, wird sodann am Beispiel nationalsozialistischer Ehe- und Migrationspolitik nachvollzogen.9
2 Vgl. Angster/Gosewinkel/Gusy, Staatsbürgerschaft. 3 Torpey, Invention. 4 Reinecke, Grenzen; vgl. daneben Ther, Außenseiter. Siehe insgesamt zum Zusammenhang aus
Migrationsbewegungen und Verwaltungsarbeit Fisch, Emigration. 5 Dass die Unterscheidung zwischen binationalen, bikulturellen oder interkulturellen Ehen voller definitorischer und heuristischer Problematiken ist, ist dem Autor bewusst, vgl. nur Gutekunst, Grenzüberschreitungen, S. 17–21. Da jedoch zunächst die Dimension der Staatsangehörigkeit (bei allen kulturellen Aufladungen, wie zu zeigen sein wird) verwaltungskulturelle Probleme aufwarf, ist dies aus pragmatischen Gründen für diesen Artikel der maßgebliche Zugriff. 6 Vgl. hierfür Gutekunst, Liebe. 7 Eden/Marx/Schulz, Verwaltungen. Eine Ausnahme bildet aus Sicht der Autoren Kühl, Organisationen. 8 Oltmer, Migrationsregime, S. 5. 9 Vgl. für einen Überblick Oltmer, Steuerung; ders., ‚Volksgemeinschaft‘; vgl. außerdem Pries, Migration.
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II. Grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Verwaltungskultur und Migration Bei Eheschließungen mit AusländerInnen griffen im Untersuchungszeitraum in Deutschland personenstandsrechtliche Verfahren, die weitgehend bis heute ihre Gültigkeit haben: Sobald einer der Verlobten im Zuge des Eheaufgebots beim zuständigen Standesamt eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit angab, musste er ein sog. Ehefähigkeitszeugnis vorbringen, ausgestellt von einer dazu berechtigten inneren Heimatbehörde. Dieses Dokument bescheinigt, dass kein rechtliches Hindernis für die geplante Eheschließung vorlag, also ein Mangel an Ehefähigkeit (Volljährigkeit) oder ein Eheverbot (wie eine bereits bestehende Ehe oder eine Verwandtenheirat). Der Standesbeamte hatte die Richtigkeit der Angaben dieses und der weiteren Dokumente zu prüfen, damit rechtlich bindende Entscheidungen getroffen werden konnten. Diese sollten dem Paar garantierten, dass ihre Ehe auch im Heimatland des ausländischen Verlobten sowie in Drittstaaten rechtliche Anerkennung fand. Einige, insbesondere die meisten außereuropäischen Staaten, kannten solche Ehefähigkeitszeugnisse allerdings nicht. In diesen Fällen entschied der Präsident des Oberlandesgerichtes, in dessen Zuständigkeitsgebiet der Antrag gestellt worden war, ob eine Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses infrage kam oder nicht. Die letztliche Entscheidung des Oberlandesgerichtspräsidenten war wiederum vom zuständigen Standesbeamten vorzubereiten.10 Das Dokument bildete dadurch die Grundlage dafür, dass die Staatsgewalt bestimmte Normen durchsetzen bzw. bei abweichenden Entwicklungen und vermeintlichen Bedrohungen anvisierter Ordnungen präventiv eingreifen konnte. Mitunter waren Angelegenheiten von so großer Bedeutung, dass, wie im Folgenden gezeigt wird, oberste Reichsbehörden eingeschaltet wurden. Dieses komplizierte und mehrstufige personenstandsrechtliche Verfahren erzeugte Rationalitätsfiktionen und repräsentierte normsetzende Praktiken im standesamtlichen Kontext. Jene „Erfindung“ des Ehefähigkeitszeugnisses und seine Implementierung in das deutsche Personenstandswesen gehen auf Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück, als mit der Einführung der Zivilehe die Verstaatlichung der Eheschließung festgeschrieben wurde. Mit dieser Expansion des Staates verband sich bald eine umfassende Einführung und stetige Verinnerlichung bestimmter bürokratischer Regeln, die letztlich darauf zielten, dass staatliche Behörden – wie das Standesamt – private Verhältnisse und Lebensbereiche in einer Weise prägen konnten, wie es zuvor nicht möglich war. Folglich kam es zu einer Schaffung administrativer (Bio-)Macht und einer sich vergrößernden institutionellen Reflexion alltäglicher, auch sexuell-intimer Praktiken.11 10 Vgl. hierfür beispielsweise Dutta, Familie; zeitgenössisch zu privatrechtlichen Fragen und et-
waigen Kollisionsnormen Letzgus, Eheschließung. 11 So folgert Giddens, Wandel, S. 39–43.
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Die zentrale Frage dabei lautete: Wer darf wen unter welchen Voraussetzungen heiraten? Die Gewährung von Eheschließungen als Gegenstand moderner behördlicher Verwaltungsarbeit umfasste vielfältige rechtliche, administrative und persönlich-soziale Anforderungen. Standesämter und weitere Entscheidungsinstitutionen befanden sich folglich im Spannungsfeld von konfligierenden Anforderungen und Ansprüchen gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, da die dort getroffenen Entscheidungen Konsequenzen nach sich zogen, die sich auf demographische, juristische, soziale, ökonomische und andere Aspekte erstreckten. Verwaltungshandeln im standesamtlichen Kontext war demnach mit zahlreichen, teils widersprüchlichen Anforderungen und Problemlagen konfrontiert, woraus sich sehr unterschiedliche Handlungsroutinen entwickelten und Erwartungshaltungen konstituierten.12 Diese permanente Auseinandersetzung und Identifikation der einzelnen Beamten mit Normen, Loyalitätserwartungen sowie Wertstrukturen war – so die erste Hypothese der nachfolgenden Ausführungen – sowohl für die Wissensgenerierung als auch die Herstellung von Entscheidungswissen von fundamentaler Bedeutung. Das Gleiche gilt für die sich im Standesamt permanent wiederholenden Praktiken: die Aufnahme des Eheaufgebots nach einer klar dafür vorgesehenen Abfolge, das Ausstellen von Heiratspapieren nach eingehender Prüfung auf Gültigkeit und Vollständigkeit aller erforderlichen Dokumente, schließlich die Vornahme der Trauung – all dies schuf Erwartungssicherheit, und zwar nicht nur bei den Verlobten, sondern auch bei den Standesbeamten. Bei der konkreten Anwendung von Verfahrensvorschriften und Entscheidungsmechanismen aber konnten sich – so die zweite Hypothese – in Einzelfällen immer wieder Ausnahmen, Inkonsistenzen und Widersprüche ergeben, die auf unterschiedliche Gewichtung und Bevorzugung einzelner normativer Maßstäbe zurückzuführen sind und das konkrete Verwaltungshandeln entsprechend beeinflussen konnten. Dabei war mit Niklas Luhmann die konkrete Entscheidungspraxis zunächst immer von der „Persönlichkeitsstruktur der Entscheider“13 abhängig. Demnach konnten angelernte Arbeits- und Sozialisationsweisen Auswirkungen auf Entscheidungen haben und dadurch bestehende normative Arrangements überformen. Gründe für eine Beeinflussung des Verwaltungshandelns konnten aber auch rechtliche Unsicherheiten hinsichtlich möglicher juristischer Kollisionen, außenpolitisch-diplomatische Abwägungen oder anderes sein, was zu normativen Konflikten angesichts widersprüchlicher Erwartungshaltungen und Verflechtungslagen führen konnte. Welche Konsequenzen haben diese normativen Konfliktlagen nun konkret bezogen auf den Gegenstand der binationalen Eheschließungen? Bei binationalen Heiraten geht es um administratives Beobachten und Gewichten der Kategorien Geschlecht, Nation, Kultur und „Rasse“ – und somit um jeweils hochgradig komplexe, normativ aufgeladene und somit erklärungsbedürftige Dimensionen, die 12 Schimank, Entscheidungsgesellschaft, S. 79–88. 13 Luhmann, Verwaltungswissenschaft, S. 67; 84.
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sich überlagern, unterschiedliche Wirkungen und Dynamiken entfalten und daher eine angepasste, individuelle Handhabung verlangen. Nehmen wir nur die durch administrative Verfahren angestrebte Ordnung und Kontrolle von Geschlechterbeziehungen, wirft der Zusammenhang von gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen, der Beeinflussung von Geschlechterwahrnehmung und ihren Folgen zahlreiche Fragen für die administrative Praxis auf.14 Aufgrund der (imaginierten) Gefährdung der biologischen Reproduktion von Nation und Ethnie konnte die Konstruktion rassischer, religiöser und kultureller Abweichung den institutionellen Entscheidern im Standesamt und nachgeordneten Behörden dabei helfen, den „fremden“ Mann oder die „fremde“ Frau, die den „eigenen“ Ehepartner sexuell wie körperlich aus der Gemeinschaft „herauszureißen“ drohten, sozial abzuqualifizieren.15 Dies war eine auch von der Verwaltung genutzte Technik, die gleichzeitig darauf zielte, Ehre – hier verstanden als normative Ressource, die Erwartungen bezüglich der Gruppeninteressen zum Ausdruck bringt16 – der bedrohten Frau oder des bedrohten Mannes sowie letztlich der (männlichen) Beschützer zu verteidigen.17 Auf diese Weise konnten bestimmte Ehrvorstellungen und Loyalitätsverständnisse, zumal wenn sie rassenbiologisch aufgeladen waren, eigenständige normative Kraft entfalten, die freilich bei Frauen ungleich stärker zum Tragen kamen als umgekehrt: Vielen Beobachtern und Entscheidern galt die weibliche Sexualfunktion als Quelle potentieller Gefährdung der normativen Sexualreinheit und männlicher Ehre, auch und gerade für die Reproduktion der Nation, was wiederum präventives, patriarchalisches und protektionistisches Verhalten begründete.18 Geschlechtsmarkierte Feindbilder waren folglich tendenziell antiemanzipatorisch und dienten dazu, Frauen argwöhnisch-wachsam zu beobachten, sie in ihren Entscheidungen als naiv und unvorsichtig, leichtsinnig und gefährlich, ja nötigenfalls als würde- und ehrlos abzuwerten, wodurch sie sozial, institutionell und symbolisch-diskursiv in einer niedrigeren Position gehalten wurden. So verstanden, erscheint standesamtliches Agieren als komplexer Handlungszusammenhang, der (Verwaltungs-)Politik, Gesellschaft (Bevölkerung und Geschlecht) und Individuum (bzw. das heiratslustige Paar) gleichermaßen berührt. „Das“ Standesamt begegnet demgemäß als ein Aktions-, Erfahrungs- und Möglichkeitsraum für Standesbeamte und migrantische Individuen gleichermaßen, als Ausgangspunkt von Handlungsentscheidungen und erster Ort des Aufeinanderprallens zwischen „eigen“ und „fremd“, einer interkulturellen Begegnungssituation gewissermaßen – und somit als entscheidender Akteur bei der Regulierung des grenzüberschreitenden Intimen. Der Blick auf das Standesamt und die dort 14 Siehe für den kolonialen Kontext Schaper, Sex Drives, S. 259. 15 Vgl. hierfür und das Folgende meine eigenen Überlegungen: Lorke, Liebe verwalten; ders.,
(Un-)Ordnungen; ders., Authorities. 16 Simmel, Soziologie, S. 660; vgl. hierzu aus normativ-rechtsgeschichtlicher Perspektive Collin, Rechtsprechung. 17 Yuval-Davis, Gender & Nation, S. 51. 18 Frevert, Ehre.
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erfolgten, zunächst nur lokal wahrgenommenen, aber bald überlokal und mitunter gar in nationalen Verwaltungseinheiten diskutierten Entscheidungsprozesse gestattet einen faszinierenden mikroanalytischen Zugriff auf das Entstehen, Fortwirken und die Verbreitung von „Fremdheit“ aus der Perspektive von Verwaltung und Öffentlichkeit. Wird die Kompetenz im Umgang mit kultureller Vielfalt in heutigen Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen beinahe vorausgesetzt, etwa bei Fragen um Organisations- und interkulturelle Personalentwicklung,19 so funktionierten die Dynamiken im Standesamtswesen in den 1930er und 1940er Jahren sicherlich anders. Nähern wir uns in historischer Perspektive Alltagskontakten mit der Verwaltung und somit konkreten administrativen Entscheidungssituationen im Migrationskontext, um die es hier geht, sind im Interaktionssystem zwischen Verwaltern und Verwalteten Regelhaftigkeiten und Eigendynamiken anzunehmen, die von einer formalen Restriktivität der Situation geprägt waren (ExpertenLaien-Kommunikation mit asymmetrischer Machtverteilung, Handlungs- und Zeitdruck, institutionelle und soziale Kontrolle),20 die durch unterschiedliche soziale, religiöse, ethnische, kulturelle oder „rassische“ Hintergründe weiter verstärkt werden konnten.21 Der bzw. die „fremde“ Verlobte wurde vermutlich gerade im Untersuchungszeitraum regelmäßig (wenn auch wohl nicht immer und durchweg) mittels stereotyp-ethnozentrisch strukturierten Erfahrungswissens gedeutet, das von der interpretativen Trias „eurozentrisch-christlich-bürgerlich“ bestimmt und mit Versuchen einer Vereindeutigung einhergegangen sein dürfte. Prallten die mit bestimmten Normen, Deutungsmustern, Klassifikationen und damit verbundenen Ordnungsvorstellungen versehenen Standesbeamten mit der sozial, national, religiös, kulturell, „rassisch“, aber nicht zuletzt auch privatrechtlich „abweichenden“ Herausforderung eines „fremden“ Verlobten aufeinander, kam es zur beidseitigen Konstruktion von Differenz. Diese orientierte sich zumeist an gängigen imaginierten (Kultur-)Grenzen,22 wies jedoch auf Seiten der Verwalter aufgrund der Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten eine deutlich größere Tragweite auf. Denn Institutionen wie das Standesamt konnten und können individuelles Verhalten und etwaige Kontingenzen der Akteure durch Regelsetzung und bestimmte Handlungs- und Entscheidungsstrategien gezielt steuern23 – wenn auch wohl niemals vollständig kontrollieren oder gar unterbinden, nicht nur im Migrationskontext. Um sich solchen, hier zunächst noch abstrakt vorgestellten interkulturellen Kontakt-, Kommunikations- und Interaktionssituationen historisch und konkret annähern zu können, scheint das Konzept der „Verwaltungskultur“ geeignet. Denn mit Stefan Fisch ist von unterschiedlichen kulturellen Prägungen auszugehen,24 19 Siehe nur exemplarisch Grünhage-Monetti, Interkulturelle Kompetenz; Kommunale Gemein-
schaftsstelle, Interkulturelle Öffnung. 20 Mit Blick auf behördliche Begegnungen in jüngerer Zeit Grunow, Alltagskontakte. 21 Groß, Interkulturelle Kommunikation. 22 Osterhammel, Kulturelle Grenzen. 23 Schulze, Neo-Institutionalismus. 24 Fisch, Verwaltungskulturen.
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die das Verwaltungshandeln bestimmt haben und bei kulturell differenten Begegnungssituationen umso mehr Auswirkung gehabt haben dürften. Das Konzept der Verwaltungskultur betrachtet Behörden nicht als monolithische Blöcke, sondern versteht diese im Sinne einer Kulturgeschichte der Verwaltung als „lebend“25. Dadurch rückt das kommunikative Handeln von Institutionen wie dem Standesamt in den Mittelpunkt des analytischen Interesses.26 Die Verwaltungskultur zu untersuchen heißt auch, Verwalten als moderne Form des Organisierens und Ordnens von Wirklichkeit zu begreifen, bei der durch Kommunikation Sinnhorizonte generiert, geordnet und klassifiziert werden. Kommunikation und Verwaltungsverhalten sind demzufolge entlang verschiedener, mehr oder weniger stark verankerter normativer Vorstellungswelten, Gewohnheiten und Werthaltungen, Sitten, Interessen, Handlungsrationalitäten, Werten und Leitmaximen sozialen Handelns ausgerichtet und strukturieren auf diese Weise das Agieren der Beamten.27 Das Konzept der Verwaltungskultur sieht vor, institutionelle Vielfältigkeit und Komplexität anzunehmen und zeitgenössische Sinnzuschreibungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wie auch die Erwartungshaltungen des sozialen wie auch politischen Umfeldes der Verwalter in die Analyse administrativer Einheiten miteinzubeziehen. Auf den Gegenstand binationaler Eheschließungen angewandt bedeutet dies, nach den mannigfachen Einflüssen auf standesamtliches Handeln zu fragen, ob nun nach normativen Vorgaben, wie übergeordneten Regelsystemen und (personenstands-) rechtlichen Rahmenbedingungen, oder nach sozialen Komponenten, wie der Orientierung an sozial akzeptierten und gesellschaftlich mehr oder weniger geteilten Werthaltungen. Die Orientierung an diesen mehrdimensionalen Strukturen und einem nach innen wie nach außen kommunizierten Entscheidungswissen entlasten Verwaltungen und die dort Handelnden letztlich von Entscheidungskomplexität.28 Dieser kommunikativen Ordnungs- und letztlich Verkürzungsfunktion kommt in der alltäglichen Standesamtspraxis gerade im interkulturellen Kontext eine fundamentale Bedeutung zu. Für die historische Annäherung an jene interkulturelle Begegnungssituationen und um ein Verständnis für die häufig ungeschriebenen zeitgenössischen „Übersetzungsleistungen“29 sowie die kulturell, rassistisch und sonst wie begründete Reduktion der Entscheidungskomplexität zu entwickeln, erscheint neben staatlichen Maßgaben die Beschaffenheit spezifisch lokaler Verhältnisse zentral. Denn Verwalten ist mit Lutz Raphael stets ein „Aushandeln von Lösungen, die sowohl die Verwaltungen wie auch die Gemeinden zufriedenstel25 So der Ansatz bei Ellwein, Staat. 26 Die kommunikative Dimension administrativen Agierens beleuchtet Siegbert Rehberg, Ins-
titutionen. 27 Diese Überlegungen finden sich gebündelt bei Haas, Kultur; vgl. ferner Becker, Überlegungen; ders., Sprachvollzug, hier insbesondere dessen Einleitung, S. 9–42. 28 Meyer/Rowan, Institutionalized Organizations; siehe darüber hinaus die einschlägige Arbeit von Simon, Administrative Behavior; für Kritik an diesem Konzept siehe die Beiträge in Hasse/ Krüger, Neo-Institutionalismus. 29 Vgl. Lässig, Übersetzungen.
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len konnten.“30 Das Lokale bestimmt auch die Frage von Entscheidungsabhängigkeiten und Entscheidungsautonomie, von bürokratischen Zuständigkeiten und institutionellen Entscheidungsabläufen sowie etwaigen Spannungslinien, die unter anderem durch die Intervention politischer oder gesellschaftlicher Akteure entstehen konnten. Örtlichen Erwartungshaltungen zu begegnen und dabei rechtlich-normativen Vorgaben „von oben“ gerecht zu werden – all dies determinierte das Agieren standesamtlicher Verwalter. Kommunen und die Standesämter im Besonderen sind wesentliche Kommunikations- und Beobachtungseinheiten bezüglich Migration und deren Folgeprozessen, in denen es zu Sinnzuweisungen und Anschlussentscheidungen, aber auch immer wieder zu einer Absorption von bestehenden Unsicherheiten kam.31 Kurz und zusammengefasst: Im Interaktions-, Kontakt- und Kommunikationsraum Standesamt, einer Kontaktzone zwischen Gesellschaft, Staat und Individuen, wirkten die dort arbeitenden Beamten als Mediatoren zwischen staatlicher Bürokratie, den Erfordernissen der lokalen Bevölkerung sowie den individuellen Bedürfnissen der Klienten, was auf vielfältige Aushandlungsprozesse verweist. Individuen fordern staatliche Bürokratien, Migrantinnen und Migranten Migrationsregime heraus, „entwickeln Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen strukturierten Feld eigene räumliche Bewegungen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten“. 32 Die Herausforderungs- und Erfolgswahrscheinlichkeit sowie die jeweiligen Autonomiegrade bestimmten sich dabei nach der Verfügbarkeit unterschiedlichen Kapitals. Je nach Migrantin oder Migrant konnten vorliegende Informationen anders bewertet worden, Beobachtungsweisen und Kategorisierungen unterschiedlich ausgefallen sein, was die prinzipielle Wandelbarkeit von Migrationsregimen nahelegt.33 In der Folge entstanden Räume für alternative Mobilisierungsformen oder ausgleichende Macht und somit etwas, das als „eigen-sinniges“ Verhalten interpretiert werden könnte.34 Wird folglich in die historische Analyse nicht nur die Perspektive der Beamten, sondern auch die der Gruppe der Verwalteten integriert, können deren jeweilige Handlungs- und Erfahrungsräume vermessen werden. Verschiedene Studien haben auf die Wichtigkeit lokaler Verwaltungen in verschiedenen europäischen Migrationsregimen hingewiesen, aber auch auf die immer wieder aufscheinende Differenz zwischen normativen Ansprüchen und konkreten Ermessensspielräumen, sowohl historisch35 als auch soziologisch oder ethnologisch: Wenn etwa heute Asylverwaltungen als ‚gatekeeper‘ und ‚Grenzver30 Raphael, Sprache, S. 205. 31 Bommes, ‚Verwaltung‘, S. 461; zur Bedeutung des Lokalen im Einwanderungskontext in heu-
tiger Zeit Filomeno, Theories. 32 Oltmer, Migrationsregime, S. 9. Zum Begriff des Migrationsregimes ebd. 33 Ebd., S. 7. 34 Hierunter versteht Alf Lüdtke die Mehrdeutigkeit von Sinnzuschreibungen, die aus dem interaktiven Zusammenspiel zwischen Individuen und Organisation entstehen konnten. Siehe Lüdtke, Eigen-Sinn. 35 Vgl. etwa Pleinen, Europa.
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walter‘ gedacht werden, wo fundamentale Lebensentscheidungen in jenem skizzierten komplexen Wechselspiel aus Staat, Gesellschaft und Individuum lokal getroffen werden, liegt es nahe, eine solche Grenzverwaltungsfunktion auch für das Standesamt anzunehmen.36 Bedeutsam für die Erfassung jener Differenz und das Begreifen standesamtlichen Verwaltungshandelns als soziale und kulturelle Interaktionsgeschichte erscheint neben dem bisher Festgehaltenen – Migrationsregime, Verwaltungskultur, Interkulturalität und Lokalität – die Unterscheidung zwischen der „Logik der Konsequenz“ und „Logik der Angemessenheit“. 37 Unter der „Logik der Konsequenz“ ist das rationale, idealtypische Befolgen einer effizienten Zweck-MittelRelation zu verstehen. Die Erfüllung eines administrativen Zwecks geschieht über das konsequente Umsetzen politischer Entscheidungen mittels dafür vorgesehener formalisierter Verfahren und mehr oder weniger eingeübter bürokratischer Routinen. Bei der „Logik der Angemessenheit“ hingegen werden solche Entscheidungen und Vorstellungen berücksichtigt, die angesichts einer spezifischen Situation bezogen auf die jeweiligen sozialen Erwartungen als geboten und angemessen erscheinen und unter Umständen von der „Logik der Konsequenz“ abweichen konnten, aus deren Entscheidungen sich neue Handlungsspielräume ergaben, die sowohl der Verwaltung als auch den Klienten helfen konnten.38 Was dabei konkret als „angemessen“ zu betrachten ist, hängt von der Wahrnehmung und der Definition der jeweiligen Situation durch die unterschiedlichen beteiligten Akteure ab. Je nach historischem Kontext konnte die Einschätzung jener Angemessenheit und die Notwendigkeit, Akzeptanz nach außen zu generieren und wandelbaren Erwartungen gerecht zu werden, überaus unterschiedlich ausfallen. Bedingt von den Handlungsmustern der Formalität und Informalität als soziale Ordnungsformen, die wechselseitig zur Geltung kommen konnten,39 werden nun exemplarisch diese Differenzen am Beispiel des nationalsozialistischen Heirats- und Migrationsregimes und den daraus resultierenden Handlungsmustern und -spielräumen erörtert.
III. „Logik der Konsequenz“: Rationalitätsfiktionen und normsetzende Praktiken Ist die Rede von „institutionellen Akteuren“, ist darunter in der Regel ein sehr heterogenes Arrangement zu verstehen, bestehend aus zahlreichen (zumal nationalen und internationalen) Einzel- und Kollektivakteuren, deren Interessen, Normen und Handlungen abweichen können und entsprechend verhandelt und 36 Lahusen/Schneider, Asyl, S. 12. Siehe auch Scheffer, Asylgewährung. 37 March/Olsen, Institutions, S. 21–26; siehe daneben zudem dies., Institutional Dynamics,
S. 949–952. 38 Vgl. Emich, Verwaltungskulturen, S. 169; vgl. hierfür auch die Ausführungen bei Seibel, Verwaltung, S. 38. 39 Siehe auch Dahlvik, Entscheiden.
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aufeinander abgestimmt werden müssen. Für die Verwaltung im Nationalsozialismus ist das umso deutlicher festzustellen, ja ist von der Forschung eine amorphe, polykratische Entscheidungsordnung konstatiert worden – insbesondere bezogen auf die Kommunikationsmodi und konfligierenden Interessen zwischen einzelnen Herrschaftssäulen.40 Diese Beobachtung lässt sich auch auf das Feld nationalsozialistischer Ehe- und Migrationspolitik übertragen, wobei nach der „Machtergreifung“ nach deutschem bürgerlichen Recht zunächst noch kein formales Hindernis für eine Eheschließung zwischen Reichsangehörigen und Ausländerinnen und Ausländern – gleich welcher „Rasse“ – bestand. Allerdings war es wie zuvor den Ländern vorbehalten, die Eingehung der Ehe von der Beibringung einer entsprechenden Erlaubnis oder eines Zeugnisses abhängig zu machen (§ 1315, Abs. 2 BGB); und bereits für die Weimarer Republik lassen sich zahlreiche, gezielt verhinderte Eheschließungen deutscher Frauen mit Männern aus vor allem außereuropäischen Ländern insbesondere muslimischen Glaubens festhalten.41 Nach 1933 war das Haager Eheschließungsabkommen von 1902, das die internationale Heirat privatrechtlich regeln sollte, zwar formal noch in Kraft, doch wurden von einzelnen Landesregierungen und Standesämtern verstärkt „Rassegesichtspunkte“ angewandt, um unerwünschte Heiraten mit „fremdrassigen Ausländern“ wirksam und effektiv zu verhindern. Aufgrund einer reichsweit heterogenen Handhabe wurden mit der „Verordnung zur Vereinheitlichung der Zuständigkeit in Familien- und Nachlaßsachen“ (31. Mai 1934) sämtliche landesrechtliche Vorschriften außer Kraft gesetzt und für das gesamte Reichsgebiet gleichmäßige Regelungen eingeführt. Dies hieß konkret, dass ein Zeugnis der zuständigen Heimatbehörde vorgelegt werden musste, wonach kein Ehehindernis bestand. Wenn dieses Ehefähigkeitszeugnis nicht beschafft werden konnte, war es gemäß den oben geschilderten Vorgaben auch weiterhin prinzipiell möglich, eine Befreiung von dessen Beibringung zu beantragen. Entschied darüber bei europäischen Staaten der Oberlandesgerichtspräsident, war es in allen anderen Fällen fortan das Reichsjustizministerium. Diese institutionelle Vorkehrung hatte aus Sicht des Auswärtigen Amtes den Vorteil, bei Eheschließungen zwischen Reichsangehörigen und AusländerInnen „rassenpolitische Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, ohne dass aber in der Verordnung selbst oder in den dazu erlassenen Durchführungsvorschriften irgendwie der Rassebegriff auch nur erwähnt wird.“42 Mit der Verordnung wollten sich die Machthaber die Tatsache zunutze machen, dass es in asiatischen Ländern und den USA kein Standesamtswesens im europäischen Sinne gab; gleiches galt für die meisten südamerikanischen Staaten und afrikanischen Kolonien. Folglich mussten entsprechende Ehe-Konstellationen die Be40 Hachtmann, Anmerkungen; zur Debatte im Überblick siehe Thamer, Monokratie – Polykra-
tie. 41 Siehe Lorke, (Un-)Ordnungen; Kleiber/Gömüsay, Fremdgängerinnen. 42 Hier und im folgenden Notiz im Auswärtigen Amt, 15.11.1934, in: Politisches Archiv des Aus-
wärtigen Amtes (= PA AA), R 49844.
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freiung bei einer deutschen Behörde beantragen, wobei nach den Durchführungsbestimmungen für die Entscheidung „die gesamten Verhältnisse der Verlobten“ Berücksichtigung zu finden hatten, aber keiner Begründung bedurften. Ähnliche Regelungen waren bereits zuvor in Preußen in Kraft. Dort wurden sie bereits genutzt, um eine solche „schon immer als unerwünscht angesehene Verehelichung“ zu erschweren, „ohne dass dieser Gesichtspunkt irgendwie nach aussen in Erscheinung trat und von fremden Regierungen zum Gegenstand von Beschwerden gemacht werden konnte“.43 Hintergrund war der Umstand, dass zuvor staatlicherseits unterbundene Verehelichungen, etwa mit Partnern aus Fernost, Kritik aus dem Ausland hervorriefen und zu teils schwerwiegenden diplomatischen Verwerfungen geführt hatten. Dies sollte sich trotz der Verordnung auch nicht wesentlich ändern, auch wenn diese administrative Maßnahme scheinbar Rationalität und Erwartungssicherheit schuf. Diese Eheverhinderungsmechanismen verweisen in vielerlei Hinsicht auf das Fortwirken imperialer und kolonialer Überlegenheit, die bereits vor 1933 in standesamtlich relevanten Entscheidungssituationen zum Ausdruck gekommen war. Besonders gut nachvollziehen lässt sich das hochgradig volatile Wechselspiel aus Verbot und Ausnahmegenehmigungen am Beispiel chinesischer und – noch weitaus mehr, da noch stärker außenpolitisch begründet – japanischer EhepartnerInnen, und zwar bis weit in die frühen 1940er Jahre hinein.44 Davon abgesehen betteten sich auch binationale Ehepläne bald schon im Kontext der allgemeinen ehepolitischen Verfügungen ein: Frühzeitig bedeutsam war dabei ein skeptischer Ansatz in Behörden, die befürchteten, dass sich Schlupflöcher ergeben konnten, um bestimmte Vorschriften zu umgehen. Die wiederholt getätigte Beobachtung, dass Ausländerinnen einer bevorstehenden Reichsverweisung dadurch begegnet wären, dass sie sich mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet hatten und so gemäß Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz die deutsche Staatsangehörigkeit durch das Eingehen einer solchen Scheinehe erwarben, wurde behördlicherseits als großer Missstand aufgefasst. Dessen Bekämpfung sollte vor allem bei Standesämtern ernsteste Aufmerksamkeit eingeräumt werden.45 Bei dieser Frage ging es um nicht weniger als um eine Definition, was „richtige Liebe“ ist und was nicht. Für die Herstellung behördlichen Entscheidungswissens ist somit grundsätzlich ein hohes Maß institutionellen Misstrauens anzunehmen, was vermutlich eine Konstante modernen Verwaltungshandelns ist und etwa auch für heutige Asylverfahren gezeigt wurde.46 Jener Verdachtscharakter47 weist auf das vermeintliche experimentale Wesen grenzüberschrei43 Notiz im Auswärtigen Amt, 15.11.1934, in: PA AA, R 49844. 44 Siehe dazu Lorke, Intimacy; Yu-Dembski, NS-Rassenpolitik; Furuya, Nazi Racism. 45 Der Reichs- und Preußische Minister des Innern an die Regierungspräsidenten und den Poli-
zeipräsidenten Berlin, 10.9.1935, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (= LA NRW), W, I 99a/ GA 346, Nr. 1318. Zur Problematik insgesamt Messinger, Schein. 46 Affolter, Asyl-Verwaltung, S. 154–156. 47 D’Aoust, Premediation.
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tender Beziehungen hin, wenigstens aus Sicht vieler beteiligter Behördenmitarbeiter, die in späteren Jahren durch die Implementierung der Tatbestandes der „Rassenschande“48 sowie den „Verbotenen Umgang“49 neue Nahrung erhalten sollten. Die ehepolitischen Grenzlinien der „Volksgemeinschaft“ wurden im Laufe der Jahre immer schärfer konturiert: Verbot das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“) vom 15. September 1935 die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden, war mit dem ergänzenden „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit es deutschen Volkes“ (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935 ein weiteres Ehehindernis geschaffen, nämlich etwa dann, wenn einer der Verlobten an einer ansteckenden Krankheit litt oder als „erbkrank“ galt. Fortan wurde ein Ehetauglichkeitsgesetz von den Brautleuten gefordert, auch bei binationalen Eheschließungen. Nach einem Runderlass vom 26. November 1935 lag es nunmehr im Ermessen des Standesbeamten, ob er auf Grund der ihm vorgelegten Unterlagen den Nachweis einer „arischen Abstammung“ als geführt betrachtete oder nicht. Insofern die Heiratsurkunde der Eltern oder andere beweiskräftige Bescheinigungen über die Religionszugehörigkeit der Eltern und Großeltern vorlagen, stellte es kein Problem dar, wenn diese im Ausland geboren waren. In einem solchen Fall genügte eine eidesstattliche Versicherung, „es sei denn, dass er aus bestimmten Tatsachen Anlass zu der Annahme hat, dass die Verlobten oder einer von ihnen nicht deutschblütig sind“. 50 Mittels all jener Beschränkungen und Eingrenzungen war eine Grundlage für die „Logik der Konsequenz“ insofern etabliert, als dass nun wenigstens scheinbar klare rechtliche und normative Rahmenbedingungen geschaffen waren. In Fällen von Eheanträgen binationaler Verlobter, die aufgrund ihrer als wenig problematisch erachteten Paar-Zusammenstellung genehmigt wurden, konnten diese Bedingungen auch regelmäßig und zigfach Wirkung entfalten – wie im folgenden Fall aus dem Jahr 1937, als ein 35jähriger deutscher Uhrmacher mit einer fünf Jahre jüngeren, aus der Schweiz stammenden Sekretärin die Ehe schließen wollte. Beide benötigten hierfür den Nachweis, dass nach dem Erbgesundheitsgesetz keine Ehehindernisse vorlagen; weiterhin mussten die Geburtsurkunde, ein Ehefähigkeitszeugnis, das sechs Monate gültig sein musste, der Geburtsschein der Braut, der Eheschein der Brauteltern, die amtliche Bescheinigung der Stadt Luzern, wonach die Dame Staatsangehörige der Schweiz war sowie ein Ledigennachweis des Zivilstandesamtes Luzern vorgelegt werden. Daraufhin hatte das Paar noch mehrere Wochen für die behördliche Genehmigung ihres Anliegens zu warten, ehe die Hochzeitsglocken erklingen konnten.51 Der adminis48 Siehe nur Przyrembel, „Rassenschande“. 49 Vgl. zentral Schneider, Umgang. 50 Der Reichs- und Preußische Minister des Innern an den Regierungspräsidenten Arnsberg,
3.2.1936, in: LA NRW W, I 99a/GA 346, Nr. 1318. 51 Hier und im folgenden Ehegesuch, 18.7.1937, in: Staatsarchiv Bremen 3-C.1.b.2., Bd. 2.
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trative Prozess einer binationalen Eheschließung, so macht dieser Fall deutlich, konnte nicht nur eine personenstandsrechtlich komplizierte, sondern auch eine langwierige Angelegenheit werden, die umfassende privatrechtliche Kenntnisse bei den Verwaltern sowie eine gehörige Portion Geduld bei den Verwalteten erforderte. Von Seiten der Verwalter waren die Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von der Bestrebung geprägt, die „Logik der Konsequenz“ weiter zu vereindeutigen. Diese Tendenz lässt sich an einer Vielzahl von Bestrebungen erkennen, bestehende personenstandsrechtliche Vorkehrungen zu verschärfen, um dadurch Barrieren zum heimischen Heiratsmarkt für bestimmte Bewerber zu errichten bzw. weiter zu erhöhen. Dabei wird deutlich, dass institutionelle Entscheider verschiedene Interessenslagen zu berücksichtigen hatten und unterschiedliche Akteure Ansprüche geltend zu machen versuchten. Exemplarisch besonders gut beobachten lässt sich dies anhand der Diskussionen um ein grundsätzliches Verbot binationaler Eheschließungen, das seit Ende 1938 ganz prominent auch von Adolf Hitler vorangetrieben worden war. Dabei hatte er insbesondere Verbote für Beamte und „Parteigenossen“, „zumal solchen in hervorragenden Stellungen“, im Visier, um davon ausgehend übergreifende Verbotsmaßnahmen vorzubereiten. Zu diesem Zweck wurde ein entsprechender Gesetzesentwurf erarbeitet, der zunächst die zentrale Frage tangierte, ob ganz allgemein deutschen Staatsangehörigen die Heirat mit Nichtdeutschen untersagt werden sollte bzw. was einem solchen rigorosen Schritt entgegenstand. Wie brisant diese Frage war, formulierte der Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers Ende 1938, der dahinter eine „höchste außenpolitische Tragweite“ vermutete.52 In einer darauf einberufenen informellen Ressortbesprechung Anfang Januar 1939, bei der neben Rudolf Heß Vertreter aus der Reichskanzlei, dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium anwesend waren, wurde diese Frage lebhaft erörtert. Als problematisch wurden dabei verschiedene Punkte ausgemacht, wie unter anderem eine Ausdehnung eines möglichen Verbotes auf sämtliche „Auslandsdeutsche“ (zumal der Begriff selbst definitorische Schwierigkeiten mit sich brachte). Eine solche Weitung wurde zwar insgesamt als erwünscht betrachtet, doch schien eine Durchsetzung in der Praxis auch deswegen kaum durchführbar, weil geeignete Sanktionen fehlten, Ausnahmeregelungen unklar blieben und ein unmäßiger Aufwand an Arbeitskraft und Ressourcen befürchtet wurde. Zudem wurde vermutet, dass ein solches Verbot im Ausland größere diplomatische Folgen zeitige und als massivere Beschränkung der persönlichen Freiheit aufgefasst werden könnte als im Inland, wo durch die verschiedenen Ehehindernisse seit 1933 bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen worden waren, sich also eine gewisse Gewöhnung eingestellt hatte. Mit Blick auf die Zahl binationaler Eheschließungen – für das Jahr 1937 wurde die Zahl auf zwei Prozent aller Eheschließungen hochgerechnet, wobei die meisten der nicht52 Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers an den Reichsjustizminister Gürtner,
27.12.1938, in: Bundesarchiv (= BArch), R 3001/20465; vgl. hierfür Röger, Grenzen.
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deutschen Ehepartner aus Österreich, der Tschechoslowakei, dem Memelgebiet und Polen stammten – wurde empfohlen, nachgeordnete Behörden durch entsprechende Richtlinien zur Ablehnung dieser Anträge zu ermächtigen. Aufgrund der geringen Zahl wurde es ferner als ausreichend eingeschätzt, lediglich die Heiraten von Offizieren, Beamten, Führungskräften des Reichsarbeitsdienstes und Inhabern vergleichbarer Positionen zu verbieten.53 Dass dieses Thema nicht nur außenpolitisch-diplomatisch wie verwaltungstechnisch und -kulturell relevant und umstritten war, zeigt das Engagement weiterer Akteure. Bestehende Ehebeschränkungen sollten aus Sicht der NSDAP-Auslandsorganisation, die sich im März 1939 hierzu äußerte, zwar auch auf im Ausland lebende Deutsche ausgedehnt werden, um unerwünschte Eheschließungen unterbinden zu können. Dabei hatte die Vereinigung allerdings die heiratsmarktlichen Besonderheiten in den unterschiedlichen Regionen im Blick: Es mag richtig sein, daß es in manchen Staaten für einen Auslandsdeutschen nicht leicht ist, einen ihm zusagenden deutschen Ehepartner zu finden. Die Auslandsorganisation hat sich aber bereits dieser Sorge der Auslandsdeutschen angenommen.54
Die als „Fürsorge“ um die Auslandsdeutschen verstandene Betreuung auch in Privat- und Liebesdingen sollte künftig noch weiter ausgebaut werden. So wurde von den zuständigen Behörden unter anderem gefordert, Deutsche, die eine Ausländerin „deutscher Volksabstammung“ heiraten wollten, von einem etwaigen generellen Verbot binationaler Eheschließungen zu befreien.55 Solchen Lockerungsüberlegungen standen wiederum verschiedene Bedenken gegenüber, die sich auf die Verwaltung ausländischer Behörden bezogen und institutionelle wie private Schlupflöcher erwarten ließen. Das Vertrauen in diese nichtdeutschen Verwaltungen war offenbar derart gering, weshalb eine Mussvorschrift erlassen werden müsse, um die „Durchschlagskraft“ des Verbotes zu erhöhen, wie es Heß im Juni 1939 forderte.56 Gleichzeitig mehrten sich Bedenken anderer Art, wie sie etwa in Teilen der Reichskanzlei, dem Auswärtigen Amt oder dem Reichsinnen- und -justizministerium artikuliert wurden. Sie bezogen sich auf die unmittelbaren privatrechtlichen Folgen einer binationalen Eheschließung, die aus deren Sicht unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen konnte: Eine Ausländerin dürfe durch eine verbotswidrige Eheschließung nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben dürfen, ebenso wenig die gemeinsamen Kinder. Der ausländische Mann, so die Befürch53 Reichsinnenminister Frick an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers,
7.1.1939, in: BArch, R 3001/20465. 54 Der Stellvertreter des Führers an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers, 23.3.1939, in: BArch, R 22/465. 55 Ebd. 56 Der Stellvertreter des Führers an den Reichsjustizminister Gürtner, 6.6.1939, in: PA AA, R 49686.
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tung, könnte sich durch eine Eheschließung der Wehrpflicht entziehen, wurde bei einer Besprechung im Auswärtigen Amt noch im April 1939 vorgebracht.57 In den Wochen vor Kriegsbeginn lassen sich zwar Wünsche rekonstruieren, gewünschte Verschärfungen bald in die Wege zu leiten. Hitler wollte ein allgemeines Gesetz mit einem Sondergesetz für Beamte des Auswärtigen Dienstes verbinden, doch blieb in der polykratischen Verwaltungsstruktur unklar, welche Stellen mit welchen Kompetenzen und Berechtigungen ausgestattet sein sollten.58 Ein letzter Akteneintrag von Martin Bormann datiert auf den 26. August,59 sodann wurde das Thema nicht weiter verfolgt, sieht man einmal vom später verfügten „Führererlass über die Fernhaltung international gebundener Männer von maßgebenden Stellen in Staat, Partei und Wehrmacht“ vom 19. Mai 1943 ab, der die Pensionierung der meisten Diplomaten, die mit Ausländerinnen verheiratet waren, vorsah – allerdings für weitere administrative Unklarheiten sorgen sollte.60 Unklarheiten und Widersprüche hatten sich ohnehin in den Kriegsjahren gemehrt.
IV. „Logik der Angemessenheit“: Aneignungen und Widersprüche Die Versuche „von oben“, für die konkret handelnden Standesbeamten und nachgeordneten Behörden bezüglich etwaiger Ehekonsense und -verbote möglichst eindeutige Verfahrenshinweise zu formulieren, kontrastierten in der Praxis mit verwaltungskulturell begründeten Ausnahmefällen. Hier griff die „Logik der Angemessenheit“, die eine erstaunliche Flexibilisierung normativer Entscheidungsroutinen im Umgang mit (bestimmten) binationalen Paaren verrät, die auf ein gewisses Maß an Generosität (bei grundsätzlich starker) Willkür im Behördenhandeln deutet.61 Aufschlussreich sind die jeweiligen Begründungsmuster, die sich in einem Spannungsfeld aus lokalen/regionalen und globalen Dimensionen bewegten. Nach Eingehung eines Eheaufgebots war in allen Fällen binationaler Heiratsgesuche eine Reduktion bestehender privatrechtlicher Unsicherheiten erforderlich, und zwar regelmäßig durch Einholung von Informationen wie Gutachten, der Nutzung von personenstandsrechtlichen Nachschlagewerken oder dem Austausch mit Kollegen bzw. übergeordneten Behörden. Eine „weiche“, indes kaum zu vernachlässigende Bedeutung besaßen überdies spezifische Informationen über den „fremden“ Heiratsbewerber, die es für den Einzelfall auch lokal zu verorten galt. Dadurch erlangte das örtliche Herrschafts- und Beobachtungssystem, innerhalb dessen der Standesbeamte – wie gezeigt – eine zentrale, da administrativ eröffnende Rolle spielte, eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich 57 Besprechung am 18.4.1939 im Auswärtigen Amt, Vermerk, in: PA AA, R 49686. 58 Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers an den Stellvertreter des Führers u. a.,
4.8.1939, in: BArch, R 3001/20465 59 Vgl. PA AA, R 49686. 60 Moll, „Führer-Erlass“, S. 337 f. 61 Luhmann, Programmierung.
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der Bewilligungswahrscheinlichkeit eines national grenzüberschreitenden Ehegesuchs. Das Wahrnehmen des Gegenüber im Standesamt, das Sammeln von Auskünften und die Berufung auf ähnlich gelagerte Fälle halfen den Entscheidern dabei, auf effiziente Weise und mit der Suggestion einer „Logik der Konsequenz“ versehene Entscheidungsregeln anzuwenden und Entscheidungen zu treffen.62 Zumeist waren es konkrete situative Wahrnehmungen und Vor-Ort-Erfordernisse, die das Standesamt nach eigenen Beobachtungen gegeneinander abzuwägen hatte. Allerdings sind diese Entscheidungssituationen in ihrer Komplexität zu betrachten: Die Sozial- und Zeitdimensionen sind dabei ebenso wichtig wie eine damit verbundene Ressourcenknappheit, zumal in Kriegs- und Krisenzeiten. Niklas Luhmann äußerte hierzu, „Zeit an sich“ sei niemals „knapp“. Vielmehr entstünde „der Eindruck der Zeitknappheit […] erst aus der Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.“63 Die neue Unübersichtlichkeit ab Kriegsbeginn schuf eine erweiterte Komplexität, generierte Handlungsdruck und erforderte Schnelligkeit von Entscheidungen – bei weiterhin bestehender sozialer wie institutioneller Kontrolle. In den ersten Jahren nach Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zeigten sich gerade im außereuropäischen Kontext verschiedene Problematiken. Über einen längeren Zeitraum wurden – neben den oben erwähnten deutschchinesischen und deutsch-japanischen Verehelichungsgesuchen – mögliche Rückwirkungen deutscher „Rassenpolitik“ auf die diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten wie insbesondere die Türkei, Ägypten oder Iran diskutiert, und zwar bereits seit 1934 und bis weit nach Ausbruch des Krieges.64 Ohne die einzelnen Argumentationen und langwierigen Diskussionsprozesse hier nachzeichnen zu können,65 lautete die oberste Maßgabe bei der Zurückweisung von Ehegesuchen, „rassenpolitische Erwägungen“ in Begründungen zu vermeiden. Die Schwierigkeit, auf den Standesämtern mit solchen Ehegesuchen umzugehen, bringt eine Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt im Jahr 1936 zur grundsätzlichen Interpretation der „Artverwandtschaft“ auf den Punkt. Dabei ging es um eine Art Schadensbegrenzung, nachdem die möglichen Folgen nationalsozialistischer Rassengesetzgebung erkannt worden waren und Ägypten sechs Wochen vor der offiziellen Eröffnung mit einem Boykott der Olympischen Spiele drohte. Dies geschah aufgrund des deutschen Umgangs mit Eheanliegen von Staatsangehörigen, die mit deutschen Frauen verlobt waren. Vergleichbare Spannungen und Verwerfungen gab es auch mit der Türkei und Iran. Während Kairo und Ankara besänftigt wurden, blieb Iran den Spielen fern.66
62 Vgl. hierfür mit Anlehnung an Max Weber Ellwein, Staat, Bd. 1, S. 74; vgl. auch Bommes, ‚Ver-
waltung‘. 63 Luhmann, Knappheit, S. 149. 64 Vgl. PA AA, R 99182. 65 Vgl. Lorke, Racial Boundaries. 66 Was indes auch andere Gründe gehabt haben mag. Vgl. Herf, Nazi Propaganda, S. 21.
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Wie uneindeutig die Entscheidungsprozesse bei bestimmten Ehe-Konstellationen waren, zeigen zwei Beispiele aus den Jahren 1938 und 1939. Wurde einem Briten im Februar 1939 die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses erteilt, nachdem dieser eine Beschwerde gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz eingereicht hatte,67 lässt sich beinahe zeitgleich erkennen, dass weniger allein die Staatsangehörigkeit bei der Entscheidungsfindung relevant war, sondern diese vielmehr von den zeitgenössischen Entscheidern in intersektioneller Kombination mit „Ethnie“ und Herkunft sowie Religionszugehörigkeit verknüpft wurde. Denn einem britischen Staatsangehörigen, der zu jener Zeit in Berlin studierte und eine deutsche Frau heiraten wollte, allerdings aus Indien stammte und Moslem war, wurde die Ehegenehmigung verwehrt, da diese Beziehung behördlicherseits als „in jeder Beziehung als höchst unerwünscht“ angesehen wurde. Vermieden werden sollte bei der Ablehnung freilich, „rassenpolitische Gründe“ zu betonen, könnte doch von einer „erneuten unerwünschten Erörterung der deutschen Rassegesetzgebung in der indischen Presse“ ausgegangen werden. Stattdessen machten Auswärtiges Amt und Reichsjustizministerium andere Gründe geltend und beriefen sich auf die Berichterstattung der dortigen deutschen Auslandsvertretungen. Diese hätten – dies sollte der Frau „in vertraulicher Weise“ erklärt werden – bereits häufiger derartige Eheschließungen beobachtet, bei denen die deutschen Frauen „in der ihnen völlig wesensfremden indischen Umgebung seelisch und wirtschaftlich“ letztlich „verkommen“, dem Auslandsdeutschtum „zur Last“ fielen und so „das deutsche Ansehen“ schädigen könnten.68 Noch Jahre danach sollten diese Aspekte die Behörden beschäftigen. Eheschließungen mit „artfremden Personen“ sollten nach Vorschlag des Auswärtigen Amts im Jahr 1941 wirksam (und künftig noch rigider) vor allem durch das Ehefähigkeitszeugnis bzw. die Nichtgenehmigung von dessen Beibringung verhindert werden – denn nicht nur bezogen auf die seinerzeit vorrangig fokussierten deutsch-japanischen Konstellationen galt, dass es die involvierten Behörden als grundsätzlich „rassenpolitisch unerwünscht“ betrachteten, dass „deutsche Frauen rassenfremde Ausländer heiraten“.69 In der Aktenüberlieferung finden sich doch aber gerade bei diesen ursprünglich unerbetenen Verbindungen immer wieder Abweichungen von dieser Maßgabe, sei es nun bei einem aus Palästina stammenden Araber, der in der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes arbeitete und aufgrund seiner Sprachkenntnisse und familiären Herkunft in personenstandsrechtlicher Hinsicht im Sommer 1943 als „Sonderfall“ deklariert wurde,70 oder sei es die Genehmigung zur Eheschließung für einen türkischen Studenten
67 Vgl. PA AA, Familienrecht, Bd. 3, R 49702. 68 Reichsjustizministerium an den Kammergerichtspräsidenten, 30.9.1938 sowie Auswärtiges
Amt an das Reichsjustizministerium, 9.1.1939, in: PA AA, Familienrecht, Bd. 3, R 49702. 69 Aufzeichnung, Referat Rademacher, 20.6.1941, in: PA AA, R 99176. 70 Vgl. PA AA, Familienrecht 3, Bd. 8, R 49704.
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und eine Sängerin aus Wien im Frühling 1944, die aus außenpolitischen Gründen „dringend“ befürwortet wurde.71 Doch auch bei europäischen Herkunftsländern lassen sich administrative Ausnahmegenehmigungen vermerken, die im Einzelfall Beschleunigungen bürokratischer Verfahren nach sich ziehen konnten. Wirtschaftliche Erfordernisse etwa konnten entsprechende Erleichterungen kreieren, wie im Falle eines Assistenzarztes, der im November 1939 eine Luxemburgerin heiraten wollte, deren Vater ein hochrangiger Zollrat war. Der Arbeitgeber des Mannes sicherte den Verlobten wie den Behörden zu, den Antrag bestmöglich zu unterstützen, habe doch „die Gesellschaft“ ein großes Interesse an der Eheschließung (bzw. keines an einer möglichen Verhinderung). Hintergrund war die Hoffnung deutscher Behörden, der Brautvater könne entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit deutschen Waren ausüben. Die gewünschte Eheschließung wurde daher angesichts der rasch vermerkten Eigenschaft der Frau als „Volksdeutsche“ letztlich als „unbedenklich“ eingestuft.72 Regierte hier das Primat des Ökonomischen, konnten vorherrschende demographische oder auch „rassenpolitische Bedenken“ bei bestimmten Kontexten aus anderen, individuellen bzw. diplomatischen Gründen temporär ausgesetzt werden. Ein Beispiel ist die Heirat des damaligen 1. Legationssekretärs der kroatischen Gesandtschaft in Berlin mit einer deutschen Frau im Jahr 1942, und zwar „im Hinblick auf die vorliegenden außenpolitischen Interessen“.73 Gemeint waren damit die geostrategisch hochwichtigen Verbindungen zum faschistisch regierten Vasallenstaat auf der Balkanhalbinsel, die man durch eine versagte Ehegenehmigung nicht aufs Spiel setzen wollte.74 Ganz ähnlich gelagert war der Fall eines Wehrmachtsangehörigen, der im April seine bulgarische Verlobte ehelichen wollte. Das Beispiel zeigt die Einbeziehung nichtdeutscher Behörden in die Entscheidungsfindung, denn das Paar erhielt seinerzeit Unterstützung seitens der Bulgarischen Gesandtschaft in Berlin, um die Heiratserlaubnis zu erhalten. Die Begründung, das Anliegen nicht nur wohlwollend, sondern auch prioritär zu behandeln, bezog sich auf die Familie der Verlobten, die als „deutschfreundlich gesinnt“ charakterisiert wurde. Eine Ablehnung des Ehekonsenses könnte, so die konsularische Einschätzung, „schlechte Folgen politischer und wirtschaftlicher Art“ für das deutschbulgarische Verhältnis nach sich ziehen. Auch wenn unklar ist, ob es letztendlich 71 Reichsjustizministerium an das Auswärtige Amt, 20.5.1944, in: PA AA, Familienrecht 3, Bd. 8,
R 49704. Die Genehmigung erfolgte nur ausnahmsweise, weil auch besondere Gründe vorlagen, denn: „Mit der gleichen Begründung könnte sonst jeder zu Studienzwecken in Deutschland weilende türkische Staatsangehörige die Genehmigung zur Ehe mit einer deutschblütigen Frau für sich beanspruchen.“ 72 Gesandtschaft Luxemburg an das Auswärtige Amt, 27.11.1939, in: PA AA, RZ 404 – R 43935. Eine Genehmigung sollte jedoch erst erteilt werden, sobald die Frau die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatte. Siehe dazu das Schreiben vom 15.12.1939, ebd. Vgl. zu diesem Beispiel auch Röger, Grenzen, S. 101. 73 NSDAP-Reichsleitung an das Rassenpolitische Amt, 20.2.1942, in: PA AA, R 99176. 74 Vgl. Broszat/Hory, Ustascha-Staat.
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zu einer Vermählung beider gekommen ist,75 schienen solche Argumente in einer Zeit, in der es um die von deutscher Seite erwünschte (und später von bulgarischer vereitelte) Deportation der bulgarischen Juden ging, sicherlich zu verfangen.76 Ein weiteres Beispiel, das eine vergleichbare administrative Handhabung offenbart, ist das eines spanischen Staatsangehörigen, der als Mitglied der spanischen Freiwilligen-Division in den Jahren 1942 und 1943 an der Ostfront gekämpft hatte und eine Frau aus Zeitz, einer Kleinstadt zwischen Jena und Leipzig, die er 1944 in der dortigen Schreibmaschinen-Werkstatt kennengelernt hatte, heiraten wollte. Hier bat die spanische Botschaft über das Oberlandesgericht Naumburg um eine entsprechende Intervention der zuständigen Stellen.77 In diesem Fall war die potentielle oder tatsächliche politische, militärische oder wirtschaftliche Bedeutung verbündeter oder neutraler Staaten ausschlaggebend dafür, die Möglichkeit der Erfüllung individueller Lebenspläne vor grundsätzliche ideologische Maßgaben zu stellen. Ähnlich wurde noch im letzten Kriegsjahr mit Blick auf deutsch-italienische Eheschließungen geurteilt: Ein etwaiges Verbot aller binationalen Eheschließungen wurde im Auswärtigen Amt als „politisch untragbar“ eingeschätzt, da ein solches zu außerordentlichen Belastungen zwischen beiden Staaten führen könne und „eine Diffamierung des italienischen Volkstums“ bedeute, die die „Stellung der faschistischen Regierung weiter erschweren würde“.78 Entscheidungen über Eheschließungen waren somit wandelbaren, stark dynamischen Variablen ausgesetzt, die gewissermaßen „quer“ zu den ohnehin bestehenden institutionellen Logiken bestanden. Ein aus Peru stammender Mann wollte Ende 1942 eine Assistenzzahnärztin heiraten, die zu dieser Zeit in Würzburg gemeldet war. Der Verlobte war seinerzeit Leiter einer Gruppe der „Apristen“ (Alianza Popular Revolucionaria Americana/Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), die enge Beziehungen zu Franco und Nazi-Deutschland unterhielt. Der Bewegung wurde im Auswärtigen Amt eine große Bedeutung „für die Propagandaarbeit“ in Südamerika eingeräumt – dies war schließlich auch der Beweggrund für den damit beauftragten Legationsrat Franz Rademacher, der zwar seine grundlegenden Abneigung „gegen derartige Mischehen“ nicht verbergen wollte, in diesem Fall indes eine außenpolitische Notwendigkeit erkannte und annahm, es sei hilfreich, „in den sauren Apfel zu beissen und eine Ausnahme zuzulassen.“79 75 Königliche Bulgarische Gesandtschaft Berlin an das Auswärtige Amt, 14.4.1943, in: PA AA,
R 49688. Das Auswärtige Amt sah vor, den Fall nach einem Schreiben vom 27.4.1943 (ebd.) nochmals zu prüfen, allerdings ist keine endgültige Entscheidung über den weiteren Fortgang in den Akten überliefert. 76 Heiber, Tod. 77 Verbalnote des Oberlandesgerichts Naumburg an das Auswärtige Amt, 25.5.1944, in: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, C 127, 684. Ob es zu einer Verheiratung gekommen ist, lässt sich nur vermuten. 78 Notiz im Auswärtigen Amt, 12.8.1944, in: PA AA, Familienrecht 3, Bd. 8, R 49704. 79 Rademacher an Groß, 10.11.1942, in: PA AA, R 99176; siehe auch das Antwortschreiben eine Woche später.
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Walter Groß, Leiter des Rassenpolitischen Amtes, versprach, jenen „politischen Wünschen Rechnung“ zu tragen, und urteilte nach der Begutachtung der eingesandten Lichtbilder des Mannes, der Mann aus dem Andenstaat, sei „im Wesentlichen frei von indianischen Einschlägen und vorwiegend dem sogenannten harten kastilischen Typus der westischen Rasse“ zuzuordnen. Zwar bestünden weiterhin „grundsätzliche bevölkerungspolitische […] Bedenken“, die sich mit dem Verlust einer Frau des eigenen Volkes verbanden, doch wurde eine Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses erteilt – allerdings erst fünf Monate nach Einreichung des Gesuchs.80 Die beiden Verlobten konnten demnach heiraten, waren aber nicht nur auf eine aus ihrer Sicht günstige außenpolitische Wetterlage angewiesen, sondern mussten auch einiges an Geduld aufweisen. Gleiches galt für eine portugiesisch-deutsche Konstellation. Ein aus Coimbra stammender Mann stand im Oktober 1941 kurz vor seinem Diplom an der Bergakademie Clausthal (Harz) und wollte vor seiner Rückkehr eine Einheimische heiraten. Allerdings zeigte sich der dortige Bürgermeister, der auch gleichzeitig die Funktion des Standesbeamten erfüllte, überaus unnachgiebig, indem er pflichtbewusst und geradlinig die „Logiken der Konsequenz“ befolgte und ein erstes Gesuch ablehnte.81 Jenes Verhalten wurde nach Beschwerde der Verlobten auch von verschiedenen Seiten als unangemessen betrachtet: Sowohl die Akademische Auslandsstelle der Hochschule als auch das Deutsche Studienwerk für Ausländer intervenierten mit Verweis auf den Vater des Verlobten, den Prorektor der Universität in Coimbra, der damals in Portugal eine führende politische Rolle spielte und dem amtierenden Staatspräsidenten António de Oliveira Salazar, der Nazideutschland gegenüber neutral bis positiv eingestellt war, nahe stand. Da man hier den Vater als „einen aufrichtigen und aktiven Freund Deutschlands“ einschätzte und befürchtete, die Ablehnung könne größere Kreise ziehen und mögliche deutschlandskeptische Stimmen im Staat auf der Iberischen Halbinsel lauter werden lassen, sollte der Bürgermeister noch einmal ins Gebet genommen werden, um die Entscheidung zu revidieren.82 Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes war das Verhalten des Amtsmannes in außenpolitischer Hinsicht zwar nicht angebracht gewesen, doch wurde begrüßt, dass er die Eheschließung verhindern wollte, da diese zwischen „nicht artverwandten“ Verlobten erfolgte. Rademacher sah auch davon ab, dass sich der Bürgermeister offiziell entschuldigen sollte.83 Das Beispiel steht für die Tragweite und Folgen polykratischer Strukturen und den 80 Vgl. Abschrift im Auswärtigen Amt, 7.11.1942, in: PA AA, R 49703 sowie Abschrift vom
5.4.1943, ebd. 81 Institut für Bergab- und -aufbereitung an der Bergakadamie Clausthal an den Deutschen Akademischen Auslandsdienst, 21.10.1941, in: PA AA, R 99176. 82 Deutsches Studienwerk für Ausländer an die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, 24.10.1941, ebd. Zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Portugal und Deutschland in jenen Jahren Louçã, Nazigold. 83 Schreiben des Auswärtigen Amtes an das Deutsche Studienwerk für Ausländer, Vermerk Rademacher, 14.1.1941, in: PA AA, R 99176.
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Umstand, dass staatliche Kontrollinstanzen und verschiedene Akteure der Migrationssteuerung untereinander keineswegs immer die gleichen Leitlinien verfolgen mussten, im Gegenteil.84 Widersprüche und ein gewisser Pragmatismus waren in diesem administrativen Kräfteparallelogramm, umrahmt von lokalen Figurationen, sozialen Faktoren, individueller Hartnäckigkeit auf Seite der Verwalteten sowie deren Prominenz, überaus maßgebend.
V.
Schlussbemerkungen
Der Beitrag hat das Ziel verfolgt, am Beispiel binationaler Eheschließungen und ihrer Genehmigung bzw. Versagung das Zusammenspiel zwischen Individuen und Organisation und den damit verbundenen Folgen zu beleuchten. Die hier eingenommene Perspektive kann wohl weniger dabei helfen, die informellen Konsense und konkreten Regeln der Verwaltungspraxis ausnahmslos zu durchdringen oder gar die konkreten mikrostrukturellen inter- wie verwaltungskulturellen Wahrnehmungsweisen zu erfassen. Dies kann allenfalls fragmentarisch erreicht werden. Vielmehr aber kann zumindest ansatzweise eingeordnet werden, welche typischen Denk- und Handlungsstrukturen im Untersuchungszeitraum bei der Problemstellung „internationale Eheschließung“ in der alltäglichen Verwaltungspraxis vorherrschten und welche zeitgenössischen Vorstellungswelten moderner Administration und ihrem Gestaltungsanspruch daraus ableitbar sind – und wie diese durch spezifische Einzelfälle herausgefordert wurden. Verwaltungshandeln, auch und gerade im Personenstandswesen, war auch von 1933 bis 1945 geprägt von Ordnung, Effizienz, Produktivität und Rationalität. Damit trug es zur Produktion und Reproduktion bestehender Ungleichheiten (geschlechtsspezifisch, herkunftsmäßig, kulturell, „rassisch“) bei. Die durch „Logiken der Konsequenz“ flankierten vorgebenden normativen Systeme waren zwar personenstandsrechtliche und individuelle Handlungsrahmen, wurden aber erst von den unterschiedlichen beteiligten Akteuren selbst geschaffen, stabilisiert, modifiziert oder auch hinterfragt. Dies schloss Aneignungen und Selbstermächtigungen, Widersprüche und Eigenlogiken von Normen, aber auch situative Wandlungen von Deutungsmustern, Klassifikationen und damit verbundenen Ordnungsvorstellungen ein. Standesamtliches Agieren und Entscheiden in einem um die nachgeordneten Behörden erweiterten Rahmen eröffnete Räume für ausweichende Mobilitätsmodi, wie das Umgehen von Vorschriften durch eine Heiratsmigration,85 und mehrdeutige Handlungen, die Verwaltete und Verwaltende aus dem vorgesehenen, intendierten Sinn bestimmter Ordnungen ableiteten. Dies konnte nicht inten84 Eule, Ausländerbehörden. 85 Die in diesem Aufsatz nicht weiter ausgeführt werden konnten, aber auch nicht erst mit den
Jahren 1933 aufkamen, sondern eine längere Tradition aufwiesen. Vgl. dafür Lorke, (Un-)Ordnungen.
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80 Christoph Lorke
dierte, widersprüchliche und kontradiktorische Auswirkungen nach sich ziehen. Die Fälle zeigen eindrücklich, inwiefern übliche Handlungs- und Entscheidungsmodalitäten (etwa der eugenisch-rassenhygienische Imperativ) in einem jeweils näher zu bestimmen Verhältnis mittels individuell-„eigen-sinniger“ Aneignungen und Situationsdeutungen und aufgrund bestimmter lokaler Gegebenheiten, tagesaktuell-diplomatischer Notwendigkeiten oder außenpolitischer Erfordernisse unterwandert oder gar obsolet werden konnten. Das Thema der (Un-)Durchlässigkeit von Migrationsregimen und ihrer Kontroll- und Regulierungsmechanismen ist hochaktuell, etwa mit Blick auf Einwanderungsbehörden und Asylverwaltungen86 oder das Fortwirken rassistischer Deutungsmuster in Gesellschaft und Bürokratien.87 Dabei stellt sich immer auch die Frage nach der Entgrenzung vorgesehener administrativer wie migrantischer Rahmungen und den damit verbundenen Folgen in längerer Perspektive – auch und gerade durch grenzüberschreitendes Heiraten.
86 Heimeshoff/Hess/Kron u. a., Grenzregime; Schittenhelm, Asylsuchende. 87 Vgl. nur Foroutan/Geulen/Illmer u. a., Phantom „Rasse“ oder Drews-Sylla/Makarska, Rassis-
men.
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AUTORITÄRE VERWALTUNG ZWISCHEN ‚ KONSEQUENZ‘ UND ‚ANGEMESSENHEIT‘
PD Dr. Christoph Lorke, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster vertritt derzeit die Professur für Neuere und Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des 19. Jahrhunderts am Historischen Seminar der Universität Münster. Zuvor war er seit 2009 ebenda Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Nach der Promotion 2013 erfolgte die Habilitation in Neuerer und Neuester Geschichte sechs Jahre später. Publikationen: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt am Main u. a. 2015; Liebe verwalten. ‚Ausländerehen‘ in Deutschland (1870–1945) (= Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 37), Paderborn 2020. Zum Thema ist außerdem erschienen: Undesired Intimacy: German–Chinese Couples in Germany (1900s–1940s), in: The History of the Family, Jg. 24 (2019), S. 560–584.
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Niklas Lenhard-Schramm
DIE ZWEI KÖRPER DES MINISTERS Personale Behördenbezeichnungen in Verwaltungslogik und kommunikativer Praxis
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erwaltung ist im Alltag primär: Kommunikation – so lässt sich in Abwandlung eines bekannten Weber-Zitats und in Anlehnung an neuere, kulturwissenschaftlich inspirierte Arbeiten zur Verwaltungsgeschichte festhalten.1 Verwaltungs- und Regierungsbehörden können grundsätzlich nicht kommunikationslos tätig werden, sondern ihre Wirksamkeit allein durch kommunikative Akte entfalten. Behörden und ihr Handeln sind dabei stets durch einen spezifischen Kommunikationsraum bedingt, der sich zwischen normativen Erwartungen und Vorstellungen darüber aufspannt, was eine Behörde überhaupt ist, welche Zwecke sie erfüllt und welche Mittel sie dazu verwenden darf und soll. Beamte und Behörden unterliegen insoweit immer einer sinngebenden Verwaltungslogik, die aus bestimmten Traditionen erwächst und sich in einer bestimmten kommunikativen Praxis verbalisiert. Von zentraler Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang, wie eine Behörde nach außen auftritt, also wie sie sich bezeichnet und aus welchen Gründen sie dies tut. Vor diesem Hintergrund ist eine Beschäftigung mit Behördenbezeichnungen aufschlussreich, weil diese nicht nur bestimmte Zuständigkeiten markieren, sondern auch spezifische Amtstraditionen und -verständnisse ausdrücken. Die historische Forschung hat sich mit dem Aspekt der Behördenbezeichnung bisher noch nicht näher befasst, zumindest nicht mit Blick auf moderne Staats-
1 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125–126 (= Kap. 3, § 3): „Herrschaft ist im Alltag primär:
Verwaltung.“ Siehe zur Bedeutung der Kommunikation für die Verwaltung Luhmann, Begriff, S. 25; ders., Recht, S. 104 („Sammelpunkt von Kommunikationen“); Cancik, Verwaltung, S. 9; Becker, Sprachvollzug, S. 11–12 und passim; Lenhard-Schramm, Land, S. 29–30; ferner Pröve, Herrschaft, S. 15–17; Raphael, Sprache.
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behörden.2 Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man sich die amtliche Benennungsform zentraler Behörden vor Augen führt: Obwohl sie komplexe Organisationen waren, trugen sie bis in die frühen 1990er Jahre offiziell keinen sachlichen, sondern einen personalen Namen. Dies galt nicht zuletzt für die obersten Bundesbehörden (mit Ausnahme des Auswärtigen Amts). Das Innenressort zum Beispiel hieß offiziell „Der Bundesminister des Innern“ und nicht „Bundesministerium des Innern“ – Behörde und Behördenleiter firmierten also amtssprachlich synonym. Entsprechendes galt für Landesbehörden im norddeutschen Raum, namentlich für die Nachfolgestaaten Preußens. Diese Benennungspraxis erstreckte sich aber genauso auf die mittlere und untere Verwaltungsebene. Offizielle Behördenbezeichnungen waren zum Beispiel „Der Regierungspräsident“ (anstatt „Bezirksregierung“) oder „Der Landrat“ (anstatt „Landratsamt“).3 Auch wenn diese personale Bezeichnungsform zahlenmäßig stark zurückgegangen ist, existiert sie nach wie vor. „Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof“ oder „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ mögen hier als Beispiele genügen.4 Der folgende Beitrag beleuchtet die Hintergründe, Bedeutung und Folgen dieser durchaus erklärungsbedürftigen Bezeichnungspraxis am Beispiel der Ministerialebene. Dabei wird es unter anderem um die Fragen gehen, seit wann und weshalb man die obersten Behörden personal bezeichnete, wie sich die Begründungsmuster wandelten und warum diese Bezeichnungsform in den 1990er Jahren fallengelassen wurde. Die erste zentrale These lautet dabei, dass die personale Behördenbezeichnung in einer staatsmetaphorischen Transferleistung wurzelt: Als das moderne Ministerialsystem zu Beginn des 19. Jahrhunderts das monarchische Selbstregierungsprinzip ersetzte, wurden auch Vorstellungen von einem königlichanthropomorphen Staatskörper auf die Verwaltung übertragen. Der personalisierte Behördenbegriff erwies sich, so die zweite zentrale These, als langlebig, weil er im Folgenden mit verschiedensten Begründungen aufgeladen werden konnte: mit autoritären wie demokratischen Rechtfertigungsmustern, mit verfassungsrechtlichen wie verwaltungspraktischen Erwägungen. 2 Eine Ausnahme bildet Hoffmann, Bundesministerien, S. 12–21, der die Bezeichnung der obers-
ten Bundesbehörden nach 1949 thematisiert, sich dabei aber im Wesentlichen auf einen Überblick der Rechts- und Verwaltungsvorschriften beschränkt und die Ursprünge, Bedeutung und Folgen der personalen Bezeichnungsform allenfalls am Rande streift. 3 Auch in der Justiz waren personale Behördenbezeichnungen („Der Leitende Oberstaatsanwalt“ statt „Staatsanwaltschaft“, „Der Generalstaatsanwalt“ statt „Generalstaatsanwaltschaft“) bis in die 1960er gängig, zumal nach dem (bis heute gültigen) § 144 GVG Beamte der Staatsanwaltschaft stets nur in Vertretung ihres Behördenleiters handeln. Insoweit kann die Staatsanwaltschaft als „Genotypus“ der monokratischen Behörde gelten (Hufeld, Vertretung, S. 30). 4 Siehe dazu Staatshandbuch Bundesrepublik, S. 53, 165, 388. Insbesondere auf Landes- und Kommunalebene ist die personale Behördenbezeichnung heute noch verbreitet, vor allem als „Der Landrat“ und „Der Oberbürgermeister“ (§ 59 KrO NRW; §§ 62–63 GO NRW), mitunter auch mit Zusätzen versehen („Der Landrat als Kreispolizeibehörde“). Siehe zum Beispiel Staatshandbuch Nordrhein-Westfalen, S. 23 und passim.
DIE ZWEI KÖRPER DES MINISTERS
Anlehnend an das Forschungsprojekt, aus dem dieser Band hervorgegangen ist, legt der Aufsatz seinen Schwerpunkt auf die obersten Behörden in der Bundesrepublik, ohne aber die Ursprünge dieser kommunikativen Verwaltungspraxis außer Acht zu lassen. Dazu wird in einem ersten Schritt der ideelle Hintergrund des personalen Behördenbegriffs beleuchtet. Dabei geht es vor allem um symbolische Verkörperungen von institutionellen Ordnungen wie Staaten und Verwaltungen, wobei zu zeigen ist, wie in den Symbolisierungen dieser (aus Personen hervorgegangenen) Ordnungen personale Imaginationsformen fortleben. Der zweite Teil richtet den Blick sodann auf die administrative Heimat des personalen Behördenbegriffs: auf den preußischen Staat.5 Hier wird dargelegt, wie die Verwaltungsspitze durch Einführung des Ministerialsystems an Bedeutung gewann und wie die damit einhergehende Monokratisierung der (obersten) Behörden deren sprachliche Personalisierung bedingte. Der dritte Abschnitt behandelt die Zeit des Deutschen Reiches. Von Interesse ist hier vor allem, wie die personalen Bezeichnungsformen von 1871 bis 1945 begründet wurden und wie die politischadministrativen Zäsuren und Systemwechsel diese Formen und deren Begründung beeinflussten. Das Fortleben des personalen Behördenbegriffs nach 1945 wird im vierten Teil behandelt. Wie und weshalb dieser Begriff in Westdeutschland nicht nur beibehalten, sondern auch rechtlich weiter untermauert wurde, ist hier ebenso Thema wie die erste zaghafte Kritik an der personalen Form. Der fünfte Abschnitt geht dann der allmählichen Erosion der personalen Bezeichnungsform ab den frühen 1970er Jahren nach, bevor der sechste Abschnitt zeigt, wie und weshalb diese Form in den frühen 1990er Jahren weithin (aber nicht gänzlich) abgeschafft und durch eine sachliche Form ersetzt wurde. Im Mittelpunkt stehen dabei die zentralen Konfliktlinien und Triebkräfte dieses amtssprachlichen Wandels, der eine lange Verwaltungstradition im Wesentlichen beendete.
I.
Staat und Verwaltung – Institution und Person
Die Vorstellungen von der modernen Staatsverwaltung sind mit den Vorstellungen vom modernen Staat untrennbar verwoben. Sowohl Behörden als auch der Staat selbst lassen sich als institutionelle Ordnung verstehen. Solche Ordnungen leben, wie uns die Kultursoziologie lehrt, von einer kollektiven Fiktion, von einem gemeinsamen Glauben an diese Ordnung. Da dieser Glauben gegenseitig erwartet wird, erscheint er als äußerlich gegeben, als dauerhaft und selbstverständlich.6 Allerdings kann diese Ordnung nie selbst sichtbar sein, sondern nur in ihren symbolischen Verkörperungen, die sie stets hervorbringt und die sie überhaupt erst 5 So auch Becker, Regierungspräsidenten, S. 149; Dittrich, Bündeln, S. 32. 6 Berger/Luckmann, Konstruktion; Meyer/Rowan, Organizations; DiMaggio/Powell, Institutio-
nalism; Zucker, Institutionalization; Walgenbach/Meyer, Organisationstheorie; sowie LenhardSchramm, Land, S. 35–41 mit weiteren Verweisen.
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sinnlich erfahrbar machen. Institutionelle Ordnungen erscheinen erst durch solche Symbolisierungen als objektive Wirklichkeit.7 Zu diesen Symbolisierungen zählen, um im Bereich der Verwaltung zu bleiben, Wappen, Siegel oder Gebäude, aber nicht zuletzt auch Anredeformen und Amtstitel. Institutionelle Ordnungen zeichnen sich durch eine große Stabilität aus. Auch wenn sie nie eindeutig sein können, auch wenn sie kritisiert oder infrage gestellt werden, stabilisieren sich diese Ordnungen wie von selbst, indem sie normative Geltungsansprüche und Erwartungen über ihren eigenen Sinn und Zweck hervorbringen.8 Durch ihre feste Verankerung im kollektiven Bewusstsein können sie nicht im Nu geändert, von jetzt auf gleich umgestülpt werden. Dabei ist die symbolische Formensprache durch gesellschaftliche Übung und Konvention fest mit ihrer institutionellen Ordnung verwachsen. Auch ihre symbolischen Verkörperungen sind mithin stabil: Was zum Beispiel der Begriff des Ministers bedeutet oder wofür ein Staatswappen steht – dies sind kollektive Vorstellungen, die sich nicht schlagartig verflüchtigen, sondern nur in langwierigen Prozessen umgeformt werden können. Moderne Vorstellungen von Herrschaft, Staatlichkeit und Verwaltung und ihre symbolischen Verkörperungen erwachsen – so lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten – aus alten überkommenen Vorstellungswelten, die in erheblichem Maße vorprägen, wie Herrschaft, Staatlichkeit und Verwaltung wahrgenommen und begriffen werden, wie über sie gedacht und gesprochen wird. Diese Vorstellungen werden auch von neuen Ordnungen aufgegriffen und integriert, dabei neuen Begründungszusammenhängen unterworfen und mit neuem Sinn versehen, ohne dass die älteren Vorstellungsfacetten vollständig verloren gingen. Wie sehr Ideen von monarchischer Herrschaft und Souveränität auch in demokratischen Systemen fortleben, hat etwa Philip Manow am Beispiel parlamentarischer Repräsentationsorgane gezeigt.9 Da Herrschaft in personalen Beziehungen wurzelt, kann es kaum verwundern, dass die Personalisierung des Staats zu den wirkmächtigsten politischen Metaphern gehört. Bereits Platon verstand den Staat als makros anthropos10 – eine nachhaltige Deutung, die den Staat als Individuum höherer Ordnung, mit eigenem Willen und eigenen Organen, erscheinen ließ und auch von den Klassikern der Staatstheorie wie Hobbes oder Hegel aufgegriffen wurde.11 Diese Denkweise lebt bis heute fort, nicht nur wenn umgangssprachlich von „Vater Staat“ die Rede 7 Dazu eingehend Rehberg, Symbolische Ordnungen; Melville, Institutionalität; Stollberg-Rilin-
ger, Symbolische Kommunikation; pointiert auch Stollberg-Rilinger, Kleider, S. 9–12. 8 Melville/Vorländer, Geltungsgeschichten; siehe ferner Rehberg, Symbolische Ordnungen, S. 43 und passim; Stollberg-Rilinger, Kleider, S. 10. 9 Manow, Schatten, S. 7–14. 10 Platon, Politeia, II, 368d–369a; IV, 434d–435a; V, 462. 11 Hobbes, Leviathan, S. 17, 167 (zur ikonographischen Wirkmacht Bredekamp, Hobbes); Hegel, Grundlinien, §§ 257, 270, 279, zu Hegel Haase, Grundnorm, S. 349–350 und passim. Zur Fiktion der Staatsperson Kreß, Staat, S. 24–30, 57–71; Koschorke, Staat; Skinner, Körper; Ellwein, Fiktion.
DIE ZWEI KÖRPER DES MINISTERS
ist, sondern auch in der Denkfigur der juristischen Person, die im 19. Jahrhundert anhand des Staates entwickelt wurde.12 Wie sehr diese Personalfiktion auch mit bestimmten Ämtern verbunden war, hat Ernst Kantorowicz 1957 in Die zwei Körper des Königs betont. Demnach habe sich im Mittelalter aus der frühkirchlichen Zwei-Naturen-Lehre eine folgenreiche juristische Fiktion entwickelt: die Unterscheidung in einen leiblich-sterblichen Körper des Königs einerseits und in einen transzendent-unsterblichen Körper anderseits. Daraus sei die Idee des politischen Körpers entstanden, eine Idee, die die frühneuzeitliche Staatstheorie und insoweit auch moderne Staatsvorstellungen entscheidend geprägt habe.13 Diese Idee des politischen Körpers ist auch in der Moderne nicht verschwunden, vielmehr wurde sie transformiert, ohne ihren ursprünglichen Sinngehalt gänzlich abzustreifen.14 Dass personale Staats- auch personale Verwaltungsvorstellungen bedingten, lässt sich an der Institutionalisierung des modernen Verwaltungsstaates nachvollziehen, die sprachlich vom Begriff des „Amtes“ geprägt war.15 Beim „Amt“ handelt es sich insoweit um einen „Grundbegriff vormoderner Staatlichkeit“, der die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ebenso wenig kannte wie die Teilung der staatlichen Gewalten.16 Die Semantik des Amtsbegriffes war daher multidimensional. Er bezeichnete eine bestimmte Stellung und Würde, konnte aber auch einen Bezirk meinen, ebenso eine Organisation, etwa eine Behörde, sowie das Gebäude, in dem eine solche Organisation residierte.17 Der Begriff des Amtes vereinte also sprachlich noch die Person des Amtsträgers mit der Organisation des Amtsapparats. Der Amtsbegriff war dabei zunächst von seiner personalen Bedeutung geprägt. Ein Amt: das war Fürstendienst, kein Staatsdienst. Was beim Amt vor allem zählte, das war die vom Fürsten verliehene Würde, weniger die mit dem Amt verbundene öffentliche Funktion.18 Trotz der fortdauernden Bindung an die Person des Fürsten gewann in den frühneuzeitlichen Staatenbildungsprozessen die transpersonale Seite des Amtsbegriffes zunehmend an Bedeutung. Mit der Verstetigung von bestimmten Aufgabenkreisen und der Routinisierung der Geschäftsführung entwickelte sich das Amt zu einem komplexen Regelsystem mit festgelegten Funktionen, Rechten und Pflichten, zu einer institutionellen Ordnung mit einem typischen Symbolreservoir, zu einer Ordnung, die auch den jeweiligen Amtsträger überdauerte.19 Vor allem im 18. Jahrhundert verlor der Amtsbegriff dann zuUhlenbrock, Staat; Koschorke, Staat, S. 319–387; Wolff, Person; Höhn, Staatsbegriff. Kantorowicz, Körper. Manow, Schatten, S. 9–10. Dazu allgemein Koselleck u. a., Verwaltung; Carl u. a., Amt. Carl, Amt, Sp. 305. Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 280: „Das jetzige amt drückt nun hauptsächlich den dienst, das geschäft aus, womit einer beauftragt ist, dann aber den ihm untergebnen kreis oder bezirk, ja sein haus.“ 18 Carl, Amt, Sp. 305–306. 19 Koselleck u. a., Verwaltung, S. 38, 47–48, 51–52 und passim. 12 13 14 15 16 17
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nehmend sein personenbezogenes Dienstethos, während er im Gegenzug immer fester an ein abstraktes Staatsgebilde gebunden wurde. Dies galt zum Teil auch für die Monarchen selbst, etwa wenn sich der preußische König Friedrich II. als „Erster Diener des Staates“ verstand.20 Dieser Prozess bedeutete eine allmähliche Verselbstständigung der Bürokratie. Auch wenn das Amt formal auf die Person des Fürsten bezogen blieb, begann es doch, sich semantisch von ihm abzulösen und in einer eigenen Personalfiktion aufzuleben. In diesem Zusammenhang entstand auch das moderne Ministeramt: Bis weit in die frühe Neuzeit wurde der Begriff des Ministers uneinheitlich verwandt. Er konnte alle Diener des Fürsten bezeichnen, unabhängig von Rang oder Aufgabenkreis.21 Der Minister existierte mithin lange vor der Organisation des Ministeriums. Die moderne Ministerialverwaltung erwuchs insoweit erst aus der Person des Ministers, und zwar als Ergebnis eines komplexen Institutionalisierungsprozesses seit dem Spätmittelalter. Laut einer klassischen Erklärung Otto Hintzes vereinten sich bei diesem Prozess drei historische Elemente: die großen Hofämter, die fürstlichen Sekretäre, die als Vollzugsorgane des fürstlichen Willens wirkten und aus denen die Staatssekretäre mit klaren Zuständigkeiten hervorgingen, und die kollegialen Rats-Organe.22 Auch wenn im deutschen Raum die Staatsverwaltung lange Zeit von kollegialen Strukturen dominiert blieb,23 ging das personalisierte Verständnis von Staat, Herrschaft und Verwaltung nicht verloren. Vielmehr blieb es eine essentielle Imaginationsform, auch im bürokratischen Anstaltsstaat, der die traditionellen Staats-, Herrschafts- und Verwaltungsbilder seit dem frühen 19. Jahrhundert mit neuem, mit „neo-metaphysischem“ Sinn auflud,24 indem er auch die zwei Körper des Königs allmählich durch die zwei Körper des Ministers substituierte.
II. Preußische Personalisierung: eine verwaltungssprachliche Stilbildung Am Anfang der modernen preußischen Verwaltung standen die umfassenden Reformen nach 1806.25 Bereits im Spätherbst 1808 wurde das alte und schwerfällige Kabinettssystem durch eine Ministerialverfassung ersetzt. Dieser Schritt war für 20 Siehe zur Entpersonalisierung des Staatsgedankens, die eine institutionelle Emanzipation
der Beamtenschaft „vom Fürstendiener zum Staatsdiener“ bewirkte, Carl, Amt, Sp. 305–307; DVG 2, S. 302–309; Koselleck u. a., Verwaltung, S. 62–64. 21 Babel, Minister, Sp. 572. 22 Hintze, Entstehung, S. 277; Babel, Minister, Sp. 572–573; Pecˇ ar, Hofamt. 23 Dazu eingehend Gross, Kollegialprinzip, bes. S. 111–120; ferner Carl, Amt, Sp. 308; DVG 1, S. 109–112, 307–330 und passim, mit Blick auf Preußen S. 895–902. 24 Zu diesem Begriff Manow, Schatten, S. 12–13. 25 Zu den Verwaltungsreformen nach 1806 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 145–161; DVG 2, S. 136–154, 399–479; Koselleck, Preußen; allgemein auch Knemeyer, Verwaltungsreformen.
DIE ZWEI KÖRPER DES MINISTERS
die deutsche Verwaltungsgeschichte von „epochaler Bedeutung“, weil die in den Jahren bis 1825 geschaffene Behördenorganisation bis zum Ende des preußischen Staates keine wesentliche Änderung mehr erfuhr, vielmehr in zentralen Zügen bis heute fortbesteht.26 Handelte es sich beim Königreich Preußen bis dahin im Prinzip um verschiedene, durch königliche Personalunion verklammerte Länder, Provinzen und Staaten, so wurden diese Territorien nun durch die Verwaltungsorganisation zu einem einheitlichen Staatsganzen verschmolzen.27 Das Gewirr aus verschiedenen Behörden mit teils territorialer, teils sachlicher Zuständigkeit löste sich auf. An seine Stelle traten fünf bürokratisch strukturierte Fachressorts mit klaren Kompetenzen (Inneres, Auswärtiges, Krieg, Finanzen und Justiz), die nun jeweils unter der Leitung eines Fachministers für den Gesamtstaat verantwortlich waren.28 Es war vor allem Karl August von Hardenberg, der als Staatskanzler ab 1810 die weitere Organisation der preußischen Staatsbehörden maßgeblich prägte. Er war verantwortlich für die Schaffung einer straff hierarchischen und zentral gelenkten Exekutivgewalt monokratischen Zuschnitts, mit leistungsfähigen und effizienten Behörden.29 Ziel war dabei die „Einheit der Verwaltung“ – ein Ideal, das sich nicht zuletzt in der Skepsis gegenüber kollegialen Behördenprinzipien äußerte.30 Von den Zentralbehörden ausgehend, setzte sich nun eine neue Behördenstruktur durch: das Präsidialsystem (auch „Bürosystem“), das sich an das Vorbild militärischer Führung anlehnte und die Entscheidungsbefugnis auf einen einzigen verantwortlichen Leiter übertrug. Die eigentliche Sacharbeit erfolgte dagegen in den Büros (auch „Referate“ oder „Dezernate“), denen ebenso ein verantwortlicher Leiter vorstand und die mit der Zeit wiederum zu größeren Struktureinheiten (Abteilungen, Gruppen usw.) zusammengefasst wurden. Damit entstand ein hierarchischer Behördenaufbau aus mehreren Leitungsebenen, die alle dem Prinzip der verantwortlichen Einzelleitung folgten, aber alle bürokratisch auf den Behördenleiter zugespitzt waren.31 Der Gedanke der monarchischen Staatsleitung diffundierte auf diese Weise in das Verwaltungsgefüge des neuen Staates. Wie der König den Staat, so verkörperte der Minister die Verwaltung, weil diese sich durch seinen Einzelwillen überhaupt
26 DVG 2, S. 416, 451 (Zitat). 27 Nipperdey, Geschichte, S. 36; DVG 2, S. 147 (siehe auch mit Blick auf den preußischen Staats-
begriff ebd., S. 322). 28 Siehe vor allem: Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der Preußischen Monarchie, in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung, 16.12.1808, in: PrGS 1806–1810, S. 361–373; Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der Preußischen Monarchie, 27.10.1810, in: PrGS 1810, S. 3–23. Zu den anderen Ländern Wunder, Geschichte, S. 24–25. 29 DVG 2, S. 420, 435. 30 Das Ziel einer „Einheit der Verwaltung“ verfolgten auch andere Reformer, etwa Wilhelm von Humboldt, siehe DVG 2, S. 440. 31 Beck/Henning, Quellen, S. 105–106; Hintze, Entstehung, S. 277; Babel, Minister, Sp. 571–574.
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erst als Einheit manifestieren konnte.32 Er war nicht nur der Kopf der Behörde, die er steuerte und damit zu einem handlungsfähigen Ganzen verband.33 Nach der monokratischen Verwaltungslogik war der Minister das eigentliche Amt, während das Ministerium lediglich als administratives Hilfsorgan des Ministers fungierte. In diesem Sinne war es ein bloßes Werkzeug des Ministers, mithin nur Teilorgan des Amtes, während der Minister das Ganze des Amtes darstellte, ja im Prinzip die Behörde selbst war. Hier liegt ein ideeller Nukleus für die „Verpersönlichung“ der Ministerien und in der Folge auch der mittleren und unteren Behörden.34 Insofern existierte der ministerielle Doppelkörper in doppeltem Sinne: Auf der einen Seite bestand er aus dem natürlichen Körper des Amtsträgers und dem institutionellen Körper des Amtes. Auf der anderen Seite figurierte der Minister in institutioneller Hinsicht sowohl als Behördenleiter als auch als die Behörde selbst, die in ihrer verwaltungsorganisatorischen Verstetigung zu einem administrativen Körper sui generis erwuchs und sich dabei in der Person des Ministers symbolisch verdichtete und verselbstständigte. Durch das Ministerialsystem wurde auch die monarchische Herrschaft insgesamt von Grund auf umgeformt. Während das monarchische Selbstregierungsprinzip zusehends erodierte, verlagerte sich die Führung der Staatsgeschäfte immer weiter auf die verantwortliche Verwaltungsspitze der Minister. Der König konnte nicht mehr allein, sondern nur noch mit seinen Ministern und durch sie regieren. Obschon er Inhaber der obersten Staatsgewalt blieb, war der Monarch also in ihrer Ausübung an und durch seine Minister gebunden, die nunmehr die eigentliche, wenn auch monarchisch-verantwortliche Regierung des Staates bildeten: „aus dem autokratischen wurde der bürokratische Obrigkeitsstaat.“35 Die Herausbildung anstaltlicher Herrschaftsstrukturen bedingte einen enormen Machtgewinn der höheren Bürokratie. Nun begann sich eine „Amtsaristokratie“ auszuformen,36 in der die Minister zu einer Art Verwaltungsmonarchen aufstiegen, was das Prinzip der personalen Behördenlogik weiter stärkte. Dieses setzte sich nach der Konstitutionalisierung Preußens 1848/50 endgültig durch. Waren bis dahin auch die Ministerien selbst als handelnde Organe in Erscheinung getreten, so änderte sich dies nun immer deutlicher. Nach der bis zum Ende der Monarchie geltenden Verfassung konnte der König die vollziehende Gewalt nur noch durch „seine“ Minister ausüben, da jeder seiner Regierungsakte von einem verantwortlichen Minister gegenzuzeichnen war.37 Den Begriff des Ministeriums 32 Dass eine Behörde nach außen als Einheit mit einheitlichem Willen aufzutreten hat, ist bis
heute zentraler Verwaltungsgrundsatz; siehe etwa Hufeld, Vertretung, S. 30–32, 45–46 und passim; Fonk, Behörde, S. 131–134. 33 Wunder, Geschichte, S. 25. 34 Zur „Verpersönlichung“ der Mittelbehörden Gerth, Personen, S. 850; DVG 2, S. 440. 35 Nipperdey, Geschichte, S. 37 (Zitat); DVG 2, S. 140, 451. 36 DVG 2, S. 318. 37 Siehe die Verfassungen in: PrGS 1848, S. 375–391; PrGS 1850, S. 17–35. Die Texte und weitere Materialien sind abgedruckt bei Kotulla, Verfassungswerk. Siehe zur Ministerverantwortlichkeit Schambeck, Ministerverantwortlichkeit; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 65–68.
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(im Sinne eines Fachressorts) kannte die Verfassung dagegen nicht. Die Ministerien konnten also staatsrechtlich nur als administratives, aber konstitutionell gar nicht vorgesehenes Hilfsorgan des vom König beauftragten Amtsträgers gelten, in dessen Auftrag sie handelten. Auch wenn allgemein klar war, dass diese Hilfsorgane das alltägliche Verwaltungshandeln ausführten, leiteten und überwachten, wurde der Begriff des Ministeriums aus der Amtssprache zunehmend von dem des Ministers verdrängt. Wie die preußischen Gesetz- und Ministerialblätter zeigen, trat seit der zweiten Jahrhunderthälfte kaum noch das Ministerium als verantwortliche oder handelnde Instanz auf, sondern fast nur noch der Minister. Erlasse, Verfügungen und andere Amtshandlungen ergingen nun etwa unter der Firma „Der Minister des Innern“ oder „Der Finanzminister“. Dies galt – diese kommunikative Praxis vereindeutigte sich nach 1850 – auch für Fälle, in denen der Minister selbst gar nicht tätig wurde. Seine Untergebenen zeichneten auch als „Der Minister“, nun aber „In Vertretung“ oder „Im Auftrage“ desselben.38 Dies war die sprachlich konsequente Umsetzung der konstitutionellen Verwaltungslogik – eine Entwicklung, die sich in den folgenden Jahren weiter verstetigte: Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die personale Behördenbezeichnung die sachliche im amtlichen Schriftverkehr fast völlig verdrängt.
III. Die obersten Reichsbehörden als personale Institution 1871–1945 Infolge der Gründung des Deutschen Reiches 1871 kam es zum Aufbau einer Reichsverwaltung, die trotz aller Eigenständigkeit ideell, traditionell und personell eng mit der obersten preußischen Staatsadministration verflochten blieb. Die Reichsverwaltung wurde von oben aufgebaut, von der Staatsführung, deren Organisation die Reichsverfassung regelte. Als Exekutivorgan war zunächst die Vertretung der Einzelstaaten vorgesehen: der Bundesrat, der aus den eigentlichen Regierungsgeschäften jedoch bald verdrängt wurde.39 Eine kollegiale Reichsregierung aus gleichberechtigen Reichsministern sah die Verfassung dagegen nicht vor, beide Begriffe waren ihr fremd. Der Verfassungslogik nach war der Reichskanzler der einzige Reichsminister. Er saß dem Bundesrat vor, wurde vom Kaiser ernannt und hatte dessen Anordnungen und Verfügungen unter Verantwortlichkeit zu kontrasignieren.40 Als oberstem Leiter der Reichspolitik und Reichsverwaltung
38 Diese Praxis zeigt sich etwa im Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den
Königlich Preußischen Staaten (MBliV), in dem sich die Zeichnungspraxis nach 1850 vereinheitlichte, wobei die Zeichnungsformeln aber zunächst noch nicht an bestimmte Dienstränge gebunden waren. 39 DVG 3, S. 110. 40 Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs, 16.04.1871 in: RGBl. 1871, S. 63–85, hier Art. 15, 17. Zu den verschiedenen Reichsorganen und ihrer Stellung im Verfassungsgefüge Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 809–907; DVG 3, S. 109–120.
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unterstanden dem Reichskanzler sämtliche Reichsbeamten und Reichsbehörden, deren Größe und Zahl im Laufe der Jahre stetig zunahm.41 Bildung und Bezeichnung der obersten Reichsbehörden wurden in der Regel durch Allerhöchsten Erlass des Kaisers verfügt.42 Um den Begriff des Reichsministeriums zu vermeiden, erhielten die obersten Reichsbehörden die Bezeichnung „Reichsamt“. Geleitet wurden die Reichsämter von Staatssekretären, die an die Weisungen des Reichskanzlers gebunden und staatsrechtlich nicht verantwortlich waren. Die Reichsämter waren mithin „nur Organe des Kanzlers“, der Chef aller Behörden war.43 Da sich das ganz auf den Kanzler ausgerichtete System mit der starken Zunahme an Verwaltungsaufgaben als nicht mehr tragbar erwies, wurde 1878 das Stellvertretergesetz erlassen,44 das es den Staatssekretären als Leitern der obersten Reichsbehörden erlaubte, vertretungsweise die ministeriellen Befugnisse des Reichskanzlers wahrzunehmen. Damit bildete sich de facto eine Reichsregierung aus, für die sich aber, um die Bezeichnung „Reichsregierung“ zu vermeiden, der Ausdruck „Reichsleitung“ etablierte.45 Mit der Ausdifferenzierung der Reichsämter und dem Anwachsen des Apparats stellte sich auch immer deutlicher die Frage nach der Behördenbezeichnung. Als maßgeblichem Verfassungsarchitekten war Bismarck die Anonymität der Ämter offenkundig ein Dorn im Auge.46 Nachdem das „Reichsamt des Innern“ wiederholt als solches nach außen aufgetreten war, war es niemand Geringeres als der Reichskanzler selbst, der am 2. Februar 1881 untersagte, die „anonyme Firma eines Reichsamts“ zu verwenden. Bismarck begründete dies mit der verfassungsmäßigen persönlichen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und dessen berechtigter Stellvertreter. Diese dürfe nicht hinter einer anonymen Behördenbezeichnung verschwinden.47 Stattdessen hatten Amtshandlungen unter der Bezeichnung
41 Siehe zu den Reichsbehörden Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 822–823, 833–848; DVG 3,
S. 147–186; bis 1890 auch Morsey, Reichsverwaltung. 42 Siehe die Beispiele in: RGBl. 1879, S. 193; RGBl. 1879, S. 196; RGBl. 1879, S. 321; RGBl. 1880, S. 25; RGBl. 1907, S. 239; RGBl. 1917, S. 963. 43 Hue de Grais, Handbuch, S. 22–23, § 20. 44 Gesetz, betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers, 17.03.1878, in: RGBl. 1878, S. 7–8. 45 DVG 3, S. 110–111. Bismarck hatte die Verwendung des Begriffes „Reichsregierung“ in amtlichen Aktenstücken mit Erlass vom 01.09.1877 untersagt, da dieser auch den Bundesrat und seine Vollmachtgeber einschließe (abgedruckt in: Reichsamt des Innern, Zusammenstellung, Nr. 22). 46 Morsey, Reichsverwaltung, S. 294. 47 Reichskanzler Bismarck an Staatssekretär des Innern Boetticher, 02.02.1881, in: BArch, R 1501/114237, Bl. 161–164. Bereits zuvor hatte Bismarck ähnliche Anordnungen getroffen, die aber nicht durchgängig befolgt worden waren (siehe: Reichsamt des Innern, Zusammenstellung, Nr. 17, 24, 25). Auch vor dem Reichstag hatte Bismarck am 13.03.1877 die Wichtigkeit einer persönlichen Behördenfirmierung betont und erklärt, er „bekämpfe“ das „Neutrum“ des Begriffes „Ministerium“ (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 44, hier S. 128).
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des Behördenleiters zu ergehen. Das Reichsamt des Innern zum Beispiel firmierte nach außen nunmehr als „Der Staatssekretär des Innern“.48 Auch wenn die personale Behördenbezeichnung nun die amtliche Kommunikationspraxis dominierte, wurde die sachliche Variante nicht gänzlich aufgegeben. Zum einen entstand ein begrifflicher Mittelweg. Dieser betonte die herausgehobene Stellung des Reichskanzlers, der verfassungsrechtlich politisch allein verantwortlich war, verwies zum anderen aber auch sachlich auf die dem Reichskanzler zugeordnete Reichsbehörde. So lässt sich beispielsweise die Form „Der Reichskanzler (Reichsamt des Innern)“ finden, die insbesondere in der Kommunikation mit den anderen Verfassungsorganen des Reiches (Bundesrat und Reichstag) und den Bundesstaaten Anwendung fand.49 Eine Verfügung im Reichsamt des Innern vom 15. Februar 1881 legte beispielsweise fest, dass Schreiben an das Auswärtige Amt als „An den Herrn Reichskanzler (Auswärtiges Amt)“ zu adressieren seien.50 Zum anderen wurde auch die rein sachliche Behördenfirma weiterhin verwendet. Dies galt zunächst für Zeiten, in denen die Behördenleiterstelle vakant war und niemand als Staatssekretär oder dessen Vertreter zeichnen konnte.51 Aufgrund des stetig wachsenden Schriftverkehrs, der zunehmend von nachgeordneten Beamten abgewickelt und gezeichnet wurde, fand nach 1900 die sachliche Bezeichnung (zum Beispiel „Reichsamt des Innern“) auch in Normalfällen des Öfteren Anwendung. Für die Immediatberichte an den Kaiser wurde die sachliche Form im Reichsamt des Innern 1906 sogar ausdrücklich vorgeschrieben.52 Wie solche Anweisungen und die kommunikativen Praktiken zeigen, war die Bezeichnungsform auch abhängig von der Position des Unterzeichners und des Empfängers. Insgesamt dominierte aber die persönliche Form, die die Verantwortlichkeit markierte. Während sich die Bezeichnungspraktiken im administrativen Alltag immer weiter institutionalisierten, wurden sie in Phasen des Umbruchs und nach politischen Zäsuren neu verhandelt. Dies galt für die Jahre 1918/19, die für das Deutsche Reich das Ende der Monarchie und damit einen fundamentalen staatsorganisatorischen Wandel bedeuteten. Die im November 1918 einsetzende Übergangsphase, in der die obersten Reichsbehörden verschiedene Bezeichnungen führten,53 war 48 Hausverfügung Staatssekretär des Innern Boetticher, 09.02.1881, in: BArch, R 1501/114237,
Bl. 166. Dies galt auch für andere Behörden (siehe etwa „Der Staatssecretair des Reichs-Postamts“, in: BArch, R 1501/114237, Bl. 219). 49 Hoffmann, Bundesministerien, S. 13. 50 Verfügung StS Boetticher, 15.02.1881, in: BArch, R 1501/114237, Bl. 168. 51 Siehe etwa Verfügung StS Boetticher, 05.03.1881, in: BArch, R 1501/114237, Bl. 175. 52 Verfügung RAI, 12.09.1906, in: BArch, R 1501/114239, Bl. 109–110. 53 Laut Verfügung des Staatssekretärs des Innern vom 19.11.1918 (in: BArch, R 1501/114242, Bl. 262) sollte bei Schreiben an die Reichsbehörden die persönliche, bei Schreiben an Landesbehörden die sächliche Form verwendet und bei Schreiben an Privatperson die Form vom Inhalt abhängig gemacht werden.
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im Wesentlichen vorüber, als die Weimarer Nationalversammlung am 10. Februar 1919 eine vorläufige Reichsgewalt einsetzte. Die Reichsregierung wurde nun durch ein „Reichsministerium“ geführt, das sich aus den Reichsministern zusammensetzte, die der Nationalversammlung verantwortlich waren.54 Damit drängte sich die Frage der Traditionsnachfolge auf, war doch unklar, inwieweit die Verwaltungskultur und kommunikative Praxis der alten Reichsämter in den neuen Ressorts fortleben würde. Deutlich machte sich nun die Tendenz bemerkbar, eine sachliche Bezeichnung für die obersten Reichsbehörden („Das Reichsministerium“) zu wählen, besonders im Innenministerium, dem für das Verfassungs- und Verwaltungsrecht zuständigen Ressort. Ministerialdirektor Bruno Dammann ordnete am 14. Februar 1919 an, dass alle ausgehenden Schriftstücke an Reichs- und Landesbehörden sowie Privatpersonen fortan unter „Reichsministerium des Innern“ zu firmieren hätten.55 Angesichts der Republikanisierung des Reiches, also der Abschaffung der monarchischen Staatsspitze, war es verwaltungslogisch durchaus nicht fernliegend, auch die vollziehende Staatsgewalt sprachlich zu entpersonalisieren. Die sachliche Bezeichnungsform hatte allerdings nur provisorischen Charakter und wurde weder in der obersten Innenbehörde noch von den anderen Ressorts einheitlich angewandt.56 In einem Rundschreiben an „das Reichsministerium“ (also an das Ministerkollegium) unterstrich das Reichsministerium des Innern die Notwendigkeit, die Bezeichnung der obersten Reichszentralbehörden „einheitlich“ festzulegen. Unter Hinweis auf die eigene Regelung in der sachlichen Form bat es die übrigen Ressorts um Mitteilung, ob sie fortan an als „Das Reichsministerium“ oder „Der Reichsminister“ bezeichnet werden sollen. Danach werde man einen Vereinheitlichungsvorschlag unterbreiten.57 Die Reichskanzlei äußerte daraufhin Bedenken gegen die sachliche Form. Da auch das Kollegialorgan der Minister als „Reichsministerium“ firmierte, forderte man eine klare sprachliche Unterscheidung zwischen der Gesamtregierung und den Einzelressorts. Die Reichskanzlei votierte deshalb für die persönliche Form, zumal dies auch der „bisher in Preußen geübten Praxis entsprechen“ würde.58 Durch Erlass des Reichspräsidenten vom 21. März 1919 wurden die amtlichen Bezeichnungen der obersten Reichsbehörden festgelegt. Da den Reichsministern aber in Klammern auch ein Reichsministerium zugeordnet war, blieb unklar, unter welcher Bezeichnung die Behörden nach außen zu firmieren hatten.59 Lediglich das Außenressort erhielt eine (bis heute fortdauernde) Sonderstellung, indem es auch 54 Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, 10.02.1919, in: RGBl. 1919, S. 169–171. 55 Verfügung RMI, 14.02.1919, in: BArch, R 1501/114242, Bl. 305. 56 Diverse Beispiele in: BArch, R 1501/114242, Bl. 313 (Reichsmarineamt), 315 (Reichswehr-
minister). 57 RMI an das Reichsministerium, 19.02.1919, in: BArch, R 43-I/1488, Bl. 9. 58 Reichskanzlei an Ministerpräsident Scheidemann, 24.02.1919, in: BArch, R 43-I/1488, Bl. 10–12. 59 Erlaß, betreffend die Errichtung und Bezeichnung der obersten Reichsbehörden, 21.03.1919, in: RGBl. 1919, S. 327–328.
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weiterhin den Namen „Auswärtiges Amt“ führte.60 Da die Bezeichnungspraxis in der Folgezeit uneinheitlich blieb, führte das zuständige Innenressort Anfang Mai 1919 eine Umfrage durch. Die Mehrzahl der obersten Reichsbehörden verwandte demnach eine sachliche, einige aber eine persönliche Behördenbezeichnung.61 Dies änderte sich bald. Wie Staatssekretär Theodor Lewald am 12. Mai 1919 verfügte, hatte das Innenressort im Schriftverkehr nach außen fortan „ausschließlich“ als „Der Reichsminister des Innern“ aufzutreten.62 Rund zwei Wochen später bat der Reichminister Preuß seine Kabinettskollegen um eine einheitliche Handhabung der Behördenbezeichnung. Er schlug dabei die in seinem Haus bereits praktizierte persönliche Form vor, begründete diesen Vorschlag aber nicht weiter.63 Die anderen Reichsminister folgten diesem Vorschlag und übernahmen (mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes) die persönliche Behördenbezeichnung.64 Damit war die Entscheidung zugunsten der personalen Behördenbezeichnung gefallen. Dies entsprach auch der personalen Logik der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, laut der die parlamentarisch verantwortliche Reichsregierung aus dem Reichskanzler und den Reichsministern bestand.65 Durch die personale Bezeichnungsform wurde diese ministerielle Verantwortlichkeit auch amtssprachlich markiert. Eine dementsprechende Regelung wurde dann auch in die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien übernommen, deren allgemeiner Teil von 1926 unter anderem die Fassung von Briefköpfen und Anschriftsformen regelte.66 Die verwaltungslogische Personalisierung entsprach damit nicht nur den Begriffen der Verfassung, sondern war auch für die amtliche Kommunikation verbindlich geworden. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurde die Tendenz zur persönlichen Behördenbezeichnung noch einmal massiv verstärkt. Mit diversen Verordnungen und Erlassen wurden bestehende Behörden sprachlich personalisiert oder neue Behörden mit entsprechender Bezeichnungsform gebil60 Auf diese titulatorische Sonderstellung weist auch Conze, Amt, S. 6, an prominenter Stelle
hin. Siehe auch DVG 4, S. 151; Lassar, Verwaltung, S. 69, führt diese Bezeichnung auf einen besonderen und konservativen „Geist der Exklusivität“ im Auswärtigen Amt zurück. 61 Siehe die entsprechende Vorlage des RMI in: BArch, R 1501/114242, Bl. 337. 62 Verfügung RMI (StS Lewald), 12.05.1919, in: BArch, R 1501/114242, Bl. 338, siehe auch die handschriftlichen Verfügungen auf Bl. 337 („ausschließlich“). 63 RMI Preuß an sämtliche Herren Reichsminister, 27.05.1919, in: BArch, R 43-I/1488, Bl. 41. 64 Um dem Wunsch einiger Ressorts zu entsprechen, erklärte das RMI im Juli 1919, auch die sächliche Fassung sei „nach Ermessen“ zugelassen, obwohl die persönliche zu bevorzugen sei (RMI an sämtliche Herren Reichsminister, 05.07.1919, in: BArch, R 43-I/1488, Bl. 42). 65 Verfassung des Deutschen Reichs, 11.08.1919, in: RGBl. 1919, S. 1383–1418, bes. Art. 52–59. Zur Reichsverwaltung nach 1919 DVG 4, S. 138–307. 66 Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Allgemeiner Teil (GGO I). Hg. v. Reichsministerium des Innern. Berlin 1926, hier § 32 Abs. 2: „Die Anschrift bei Reichsministerien ist in der Regel persönlich zu fassen (z. B. ‚An den Herrn Reichsminister der Finanzen‘, nicht ‚An das Reichsfinanzministerium‘). Beim Auswärtigen Amt ist, außer in besonderen Fällen, die sachliche Bezeichnung üblich.“ Siehe auch §§ 31 (Briefkopf), 38 Abs. 1 (Ich-Stil).
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det. Als Hitler am 18. Oktober 1936 etwa Hermann Göring als Beauftragten für den Vierjahresplan einsetzte,67 schuf er damit ein neues Amt, das zwar umgangssprachlich Vierjahresplan-Behörde hieß, formal aber die Bezeichnung „Der Beauftragte für den Vierjahresplan“ trug.68 Eine entsprechende Entwicklung vollzog sich auch auf den anderen Verwaltungsebenen. Ein Erlass Hitlers vom 16. März 1937 hob die Behördenbezeichnung „Landesfinanzamt“ auf und ersetzte sie durch die „Der Oberfinanzpräsident“.69 Am 28. November 1938 wurde dann für die untere Stufe der allgemeinen und inneren Verwaltung reichseinheitlich die Bezeichnung „Der Landrat“ (an Stelle von „Bezirksamt“, „Kreisamt“ und diversen anderen Bezeichnungen) eingeführt.70 Die begriffliche Personalisierung der Behörden im Nationalsozialismus speiste sich im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Motiven. Zum einen bedingte die administrative Gleichschaltung eine verwaltungssprachliche Vereinheitlichung. Da es sich bei der Gleichschaltung im Prinzip um eine Verreichlichung der vormaligen Landesbehörden handelte, war es nur folgerichtig, der kommunikativen Praxis der Reichsverwaltung zu folgen, deren Symbolsprache wiederum aus der preußischen Behördenwelt hervorgegangen war. Das nationalsozialistische Bemühen, sich in einen preußischen Traditionskontext zu stellen,71 schlug insoweit auch in die Verwaltungssprache durch. Zum anderen wurde die personalisierte Behördenbezeichnung auch mit der NS-Ideologie begründet. Die begriffliche Reduktion der Behörden auf ihren Vorsteher spiegelte nach dieser Lesart nicht nur die monokratische Amtsstruktur wider, sondern auch das vom NS-Regime propagierte und in den Verwaltungsapparat eingeführte Führerprinzip.72 Mit einer solchen Argumentation operierte etwa die „Amtsgruppe Recht“ im 1933 geschaffenen Luftfahrtressort. Die Bezeichnung „Der Reichsminister der Luftfahrt“, so hieß es in einem Gutachten, sei Ausdruck der „autoritären Verwaltung“ im NS-Staat. Das Votum war eindeutig: Die „unpersönliche Bezeichnung ‚Reichsluftfahrtministerium‘“ stehe „dem Führerprinzip in der Verwaltung entgegen.“73
67 Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes, 18.10.1936, in: RGBl. I 1936, S. 887. 68 Siehe zu dieser Behörde Wedler, Vierjahresplanbehörde; Ambrosius, Staat, S. 167–169. 69 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Änderung von Behörden- und Amtsbezeich-
nungen in der Reichsfinanzverwaltung, 16.03.1937, in: RGBl. I 1937, S. 311. 70 Dritte Verordnung über den Neuaufbau des Reichs, 28.11.1938, in: RGBl. I 1938, S. 1675–1676. 71 Zum ambivalenten Verhältnis zwischen NS und Preußentum Wippermann, Nationalsozialismus; Mommsen, Preußentum. 72 Einschlägige und kommentierte Quellen dazu bei Hirsch, Recht, S. 153–169. 73 Gutachten Amtsgruppe Recht, 15.12.1943, in: BArch, RL 2-III/489, ohne Blattangabe (= o. Bl.).
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IV. Zwischen autoritärem Erbe und staatsrechtlicher Verantwortung: der personale Behördenbegriff in der Gründungsepoche der Bundesrepublik Der Zusammenbruch des NS-Regimes bedeutete in verwaltungsgeschichtlicher Hinsicht trotz aller Kontinuitäten einen Neubeginn.74 Während die Reichsbehörden untergegangen waren, ging die Bildung der Länder ab 1945 mit dem Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen einher. Angesichts der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus stellte sich in den Behörden die Frage, in welche Traditionskontexte sie sich stellen und welche Amtsverständnisse, Verwaltungsvorstellungen und Leitbilder dabei aufgegriffen werden sollten. Dies galt nicht zuletzt für die Frage, wie sich die vollziehende Staatsgewalt nach außen legitimierte und darstellte – und damit auch für die Frage der Behördenbezeichnung. Die süddeutschen Länder kehrten bald zur sachlichen Bezeichnungsform zurück, die dort vor der NSGleichschaltung dominiert hatte.75 In den norddeutschen Flächenländern ging die Rechtsnachfolge des preußischen Staates mit einer Anknüpfung an preußische Verwaltungstradition einher – und damit blieb auch das personalisierte Erscheinungsbild der Staatsbehörden zunächst bestehen. Die Bundesrepublik stand auch verwaltungsgeschichtlich in der Tradition des Reiches. Wie die Weimarer Verfassung kannte (und kennt) das Grundgesetz den Begriff des Ministeriums nicht. Die Bundesregierung besteht nach Art. 62 GG lediglich aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern, die nach Art. 65 GG ihren Geschäftsbereich selbstständig leiten. Auch der Wortlaut des Grundgesetzes folgt insoweit einem personalen Amtsverständnis. Schon bald nach Konstituierung der ersten Bundesregierung rückte die Frage der Bezeichnung der obersten Bundesbehörden in den Blick – eine Frage, über die in der Folge heftig gerungen wurde. Bereits in seiner vierten Sitzung am 23. September 1949 setzte sich das Bundeskabinett mit der Benennung der Bundesministerien auseinander. Obschon eine Entscheidung über die personale Bezeichnung hier noch nicht getroffen wurde, kam das Kabinett darin überein, den klassischen Ressorts76 die Genitivform (etwa „des Innern“) vorzubehalten, während den übrigen Bundesministerien die präpositionale Form (etwa „für Wirtschaft“) zufiel.77
74 Siehe eingehend zur westdeutschen Verwaltung nach: 1945 DVG 5. Kontinuitäten zur NS-
Zeit sind inzwischen für zahlreiche Behörden in den Blick genommen worden; siehe insbesondere Conze u. a., Amt; Görtemaker/Safferling, Akte Rosenburg; Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung. Siehe auch den (inzwischen nicht mehr ganz aktuellen) Überblick bei Mentel/Weise, Behörden. Konzis zur Frage der Kontinuität: Günther, Verfassung. 75 Innenministerium an die Regierungen, 12.09.1946, in: Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 18/1946, S. 2. 76 Zu den klassischen Ressorts, die sich bis heute sprachlich von den übrigen abheben, zählen: Inneres, Auswärtiges, Finanzen, Justiz und Krieg/Verteidigung. 77 TOP 3, 4. Sitzung des Bundeskabinetts, 23.09.1949, in: BArch, B 136/36087, o. Bl. Siehe in dieser Akte auch die Zusammenstellung der Kabinettsbeschlüsse sowie: Kabinettsprotokolle 1949, S. 78.
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In diesem Zusammenhang kam bald die Frage auf, ob die Bundesregierung die personale Behördenbezeichnung der obersten Reichsbehörden übernehmen würde. Am 13. Oktober 1949 übersandte der Bundesminister der Finanzen Fritz Schäffer dem für Verwaltungsrecht und -organisation zuständigen Bundesminister des Innern Gustav Heinemann eine Kabinettsvorlage, in der er für die persönliche Behördenbezeichnung warb. Schäffer argumentierte mit dem Grundgesetz, das allein die persönliche Form verwende. Überdies drücke die persönliche Form aus, dass „der Minister Chef seines Ressorts ist und als solcher die Verantwortung allein […] zu tragen“ habe. Auch lasse sich diese Form nicht als Ausdruck des NSFührerprinzips verstehen, da sie schon in der Weimarer Republik etabliert gewesen sei.78 In Schäfers Schreiben deuteten sich verschiedene Denk- und Lösungsansätze an: Man konnte rein verwaltungspragmatisch oder verfassungsrechtlich argumentieren, die Sache aber auch geschichtspolitisch sehen. Während die DDR auch amtssprachlich einen klaren Bruch mit dem Reich vollzog und ihre obersten Behörden konsequent in die sachliche Form „Ministerium für/des/der …“ brachte,79 war eine Regelung in der Bundesrepublik diffiziler, zumal in den obersten Bundesbehörden ein stärkeres Bemühen vorwaltete, bestehende Kontinuitätslinien nicht abreißen zu lassen. Damit drängte die Frage auf die Agenda, welche Verwaltungstraditionen man fortführen und an welche Symbolsprache man genau anknüpfen wollte. Dies betraf neben Amtsschildern, Dienstsiegeln, Wappen und anderen Hoheitszeichnen auch die Behördenbezeichnung selbst.80 Nachdem diese Frage im Kabinett mehrfach erörtert worden war, erfolgte eine erste Festlegung am 26. Oktober 1949, als Hans Globke, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramtes, die Bundesminister bat, für die Bezeichnung ihrer Ministerien die persönliche Form zu wählen.81 Auch wenn die Ressorts der Aufforderung aus dem Bundeskanzleramt nachkamen, war die Frage noch nicht entschieden, zumal es auch Befürworter der sachlichen Variante gab. Eine abschließende Regelung erfolgte dann im Februar 1950, da aufgrund eines Erlasses des Bundespräsidenten die Dienstsiegelform festzulegen war. Der zuständige Minister Heinemann bat seine Kollegen daher am 7. Fe-
78 BMF Schäffer an BMI Heinemann, 13.10.1949, in: BArch, B 106/311438, o. Bl. 79 Die Bezeichnung der Ministerien wurde noch am 07.10.1949, dem Gründungstag der DDR,
per Gesetz festgelegt (GBl. DDR I 1949, S. 2; siehe dort auch 1950, S. 1135–1136; 1952, S. 407–408). Einschlägige Aktentitel zur Bezeichnungsfrage ließen sich nicht ermitteln. Dass 1949 die sachliche Bezeichnungsform gewählt wurde, lässt sich zum einen mit der Anlehnung an sowjetische Vorbilder erklären, zum anderen mit dem dezidierten Traditionsbruch zu den Reichsbehörden (siehe für das Innenressort Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung; Günther, Verfassung). Allgemein zu den Zentralbehörden der DDR, den monokratische Struktur durch die Einrichtung von Kollegien etwas aufgeweicht wurde: DVG 5, S. 1232–1242). 80 Einen guten Überblick bietet Friedel, Staatssymbole. 81 Der Staatssekretär des Innern im Bundeskanzleramt an die Herren Bundesminister, 26.10.1949, in: BArch, B 106/4088, o. Bl. Auch in: BArch, B 141/77684, Bl. 25.
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bruar um Entscheidung, ob für die obersten Bundesbehörden eine persönliche oder sachliche Bezeichnung zu gelten habe.82 Obschon Heinemann für die sachliche Fassung plädiert hatte,83 blieben seine Kollegen mehrheitlich der preußischen Verwaltungstradition verhaftet. So beschloss das Bundeskabinett am 14. Februar 1950: „Im Hinblick auf die Terminologie des Grundgesetzes beschließt das Kabinett für die Bezeichnung der Obersten Bundesbehörden die persönliche Form (z. B. Der Bundesminister des Innern), nicht die sächliche (z. B. Bundesministerium des Innern) zu wählen.“84 Dieser Grundsatzentscheidung folgte auch die Gemeinsame Geschäftsordnung (GGO) der Bundesministerien, an der das Bundesministerium des Innern (BMI) seit 1949 arbeitete. Bereits die ersten Entwürfe von 1949, die an die Fassung von 1926 anknüpften, sahen nicht nur die personale Behördenbezeichnung vor, sondern auch den Gebrauch des Ich-Stils.85 Diese Grundsätze wurden von den Bundesministerien bereits befolgt, bevor sie Eingang in die 1958 vom Bundeskabinett beschlossene Endfassung der GGO I (Allgemeiner Teil) fanden.86 Durch diese personalisierenden Regelungen zur kommunikativen Praxis nährte auch die amtliche Geschäftsordnung der Bundesministerien die verwaltungssprachliche Fiktion, nach der es der Minister war, der nach außen hin handelte, und nicht die abstrakte Organisation eines Ministeriums. Die personalisierte Behördenbezeichnung konnte durchaus stimmig erscheinen, solange ein Mann das Ressort leitete. Dies änderte sich 1961, als erstmals eine Frau einen nationalen Ministerposten bekleidete: Der personalisierten Form entsprechend wurde Elisabeth Schwarzhaupt am 14. November 1961 als „Bundesminister für Gesundheitswesen“ vereidigt.87 Damit war ein neues Ressort geschaffen, das den Namen der Behördenleitung trug. Dass das Ministeramt aber nicht nur persönlich, sondern auch männlich konnotiert war, zeigte sich bereits bei der ersten Kabinettssitzung, als Adenauer auf Schwarzhaupts Protest gegen die Begrüßung der „Herren“ erwidert haben soll: „In diesem Kreis sind auch Sie ein Herr!“88 Schwarzhaupt verstand die Anrede als „Minister“ als Affront und erreichte, zumindest persönlich als „Ministerin“ angesprochen zu werden, obschon 82 BMI an Bundeskanzler, 07.02.1950, in: BArch, B 146/1241, Bl. 69. 83 Hintergrund war eine Vereinbarung mit dem Bundespräsidialamt, aus politischen Gründen
die Wappen und Siegel der Reichsbehörden aus der Weimarer Republik zu übernehmen. 84 TOP 5, 45. Sitzung des Bundeskabinetts, 14.02.1950, in: BArch, B 136/36089, o. Bl. Siehe auch: Kabinettsprotokolle 1950, S. 204, siehe auch S. 291 mit Anm. 41. 85 Siehe etwa §§ 51–53 des Entwurfes von 1949 in: BArch, B 106/4155, o. Bl. 86 Anders als in der Fassung von 1926 war die personale Behördenbezeichnung nun nicht mehr im Hauptteil geregelt, sondern in den Vordruckmustern und der Kanzleianweisung. Siehe GGO I (Allgemeiner Teil). Hg. v. BMI. Bonn 1958, hier S. 65–80. Sonderfälle bildeten das Auswärtige Amt, das bei seiner Bezeichnung blieb, und die sog. Privatdienstschreiben, die unter der sachlichen Bezeichnung des Ministeriums und dem Namen des Unterzeichners firmierten (ebd., Anlage K 4). Siehe zu den Arbeiten an der GGO BArch, B 106/4151–4169. 87 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 4/4, 14.11.1961, S. 14–15. 88 Drummer/Zwilling, Schwarzhaupt, S. 93.
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das „Frau Minister“ weder aus Politik noch aus Presse gänzlich verschwand.89 Auch in der Amtssprache blieb es bei der offiziellen Bezeichnung der Behörde, beim Bundesminister. Dienstschreiben wurden weiterhin und wie selbstverständlich „An den Herrn Bundesminister für Gesundheitswesen“ adressiert, während auf Briefköpfen, Dienststempeln und dergleichen „Der Bundesminister“ stand.90 In den Begründungen für die personale Behördenbezeichnung wurde meist auf die Begrifflichkeiten der verfassungsmäßigen Staatsorganisation verwiesen. Eine hinreichende Erklärung sind sie freilich nicht, zumal auch Behörden, die verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehen waren, personalisierte Bezeichnungen trugen. Vielmehr war es nicht zuletzt ein Fortwirken obrigkeitsstaatlicher Denkmuster, die die Autorität des Amtsleiters in der Behördenbezeichnung herauszustellen suchten. Diese in der Behördenwelt virulenten Denkmuster entsprachen einer Gesellschaft der 1950er Jahre, die im privaten wie im öffentlichen Leben noch stark von patriarchalischen Strukturen geprägt war, einer Gesellschaft von „konservativer Grundstimmung“,91 in der die Geltungsansprüche starker Führungspersönlichkeiten weithin Anklang fanden und mit paternalistisch-autoritären Formen des Regierens und Verwaltens einhergingen. Insoweit spiegelte sich die „Kanzlerdemokratie“92 der Ära Adenauer auf Bundesebene in einer „Ministerverwaltung“, in der die Ressortchefs das personale Bindeglied zwischen Kanzler und Regierungsbehörden bildeten, aber in ihrem Geschäftsbereich als Verwaltungsmonokraten einen außerordentlichen Respekt genossen. Dass auch die staatsorganisatorischen Grundlagen oft nur Ausdruck solcher Denkmuster waren, zeigte sich nicht zuletzt auf Länderebene, wo bereits bestehende Praktiken der Behördenbezeichnung in Gesetzesform gegossen wurden. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, wo die Minister schon vor der Verfassungsgebung persönlich firmiert hatten, bildete die personalisierte Behördenlogik einen Kern des Landesorganisationsgesetzes von 1962. Dieses legte fest: „Oberste Landesbehörden sind die Landesregierung, der Ministerpräsident und die Landesminister.“93 Damit war auch auf gesetzlichem Wege eine begriffliche Identität von Minister und Behörde geschaffen. Die begriffliche Identität zwischen Behörde und Behördenleiter existierte auch auf den anderen Verwaltungsebenen. Problematisiert wurde sie zunächst vor
89 Ebd. Ein Blick in Presseorgane (etwa Die Zeit oder Der Spiegel) oder Plenarprotokolle (etwa
des Deutschen Bundestages) zeigt, wie dominant die Anredeform „Frau Minister“ bis in die 1980er Jahre war und mitunter sogar in solchen Artikeln wie selbstverständlich verwendet wurde, die eine fehlende sprachliche Gleichberechtigung beklagten (Frauen wird der Titel unterschlagen, in: Die Zeit, Nr. 15/1967)! 90 Diverse Beispiele in BArch, B 189/11733 (Bl. 110, 187, 198 und öfter). 91 Schildt/Sywottek, Wiederaufbau, S. 31. 92 Doering-Manteuffel, Kanzlerdemokratie. 93 Landesorganisationsgesetz, 10.07.1962, in: GVBl. NRW 1962, S. 421–425, §§ 3–4.
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allem an der mittleren Verwaltungsebene,94 zumal sich hier in den 1960er Jahren ein buntscheckiges Begriffsfeld darbot: Während die Mittelbehörden in Bayern „Regierungen“ und in Baden-Württemberg „Regierungspräsidien“ hießen, folgten Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen mit „Der Regierungspräsident“ der personalen Form. Wie Friedrich Fonk 1967 in einer verwaltungswissenschaftlichen Arbeit über Die Behörde des Regierungspräsidenten darlegte, seien diese Bezeichnungen „aus ihrem Herkommen zu erklären und knüpfen insofern an die Behördenverfassung an, je nachdem, ob das kollegiale oder das monokratische Prinzip verwirklicht war.“ Fonk wies dabei auch auf Probleme der beiden Formen hin. Gegen die Bezeichnung „Regierungspräsidium“ spreche, dass sie eine kollegiale Behördenstruktur suggeriere, obwohl sämtliche Mittelbehörden inzwischen monokratisch organisiert seien. Gegen eine Bezeichnung nach dem Behördenleiter werde dagegen eingewandt, „daß sie nach heutiger Auffassung der institutionellen Bedeutung einer Behörde nicht mehr entspreche und außerdem die Unterscheidung zwischen Behörde und Behördenleiter nicht zutage treten lasse.“ Auch wenn Behörden offiziell und vor allem in der Amtssprache als Person firmierten, entsprach dies laut Fonk immer weniger dem tatsächlichen Sprachgebrauch: „Auch in den Ländern, in denen die Regierungen nach ihren Leitern benannt sind, ist die Neigung festzustellen, eine echte Behördenbezeichnung zu verwenden.“95
V.
Eine verwaltungssprachliche Zeitenwende? Die 1970er Jahre
Bereits bei Fonk klang eine Ablehnung der personalisierten Form durch, die er von einer „echten Behördenbezeichnung“ unterschied. Tatsächlich hatte sich zu diesem Zeitpunkt wiederholt Kritik bemerkbar gemacht, die sich aber weniger auf personale Bezeichnungen als solche bezog; vor allem Mischformen wie „Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde“ waren Gegenstand dieser Kritik und wurden in der Verwaltungsliteratur als „sprachliches Monstrum“ bezeichnet.96 Seit Ende der 1960er Jahre aber intensivierte sich die Diskussion. In der Hansestadt Hamburg wurde etwa 1967 die personalisierte Bezeichnung „Der Leitende Oberstaatsanwalt“ durch die sachliche Form „Staatsanwaltschaft“ ersetzt.97 Wie es in der Begründung hieß, sei die sachliche Variante vorzuziehen, da sie ein „Anklingen obrigkeitsstaatlicher Vorstellungen“ vermeide und „liberal-demokratischer Tradition“ entspreche.98 Unwidersprochen blieb dieser Standpunkt nicht. Eingewandt 94 Die Diskussion konzentrierte sich so sehr auf die mittlere Verwaltungsebene, dass Experten
wie Eberhard Laux irrig annahmen, dass es neben dem Regierungspräsidenten „sonst wohl keine Behörde mit einem personalisierten Namen“ gebe (Laux, Regierungspräsident, S. 827). 95 Alle Zitate Fonk, Behörde, S. 15, Anm. 1. 96 Siehe etwa Gerth, Personen, S. 851. 97 Gesetz zur Änderung des Hamburgischen Gesetzes zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes, 03.07.1967, in: HmbGVBl. 1967, Nr. 34, S. 246. 98 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, 06.06.1967, Drucksache 6/722.
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wurde etwa, die Stärkung von Verwaltungschefs, namentlich der Minister, entspreche durchaus demokratischen Grundsätzen, weil sie meist durch einen Prozess demokratischer Willensbildung in ihre Ämter gelangt und daher „demokratisch unmittelbarer legitimiert als die Untergebenen“ seien.99 Die verstärkte Problematisierung einer demokratischen Verwaltung hing mit einem grundlegenden Wandel des öffentlichen Dienstes ab den 1960er Jahren zusammen.100 Durch generationelle Umschichtungen und eine mentale Demokratisierung in den Behörden weichten hierarchisch-autoritäre Amtsauffassungen zunehmend auf, während sich die Beamtenschaft einem liberalen und pluralistischen Wertehorizont öffnete. Dieser verwaltungskulturelle Klimawandel formte bestehende Behördenbilder um und setzte dabei auch die kommunikativen Amtspraktiken kritischer Prüfung aus.101 Dennoch war es weniger die Verwaltung selbst, sondern eher die politische Sphäre, die die überkommenen Behördenbezeichnungen hinterfragte. Auf Bundesebene regte sich erstmals Anfang der 1970er Jahre größerer Widerspruch gegen den personalen Behördenbegriff. Ausgangspunkt war das Bundesministerium der Verteidigung, dessen Vorläufer im Vergleich zu den anderen Ressorts eher zur sachlichen Form tendiert hatten, obgleich sich der monokratische Behördenbegriff nicht zuletzt an militärischen Entscheidungsstrukturen orientiert hatte. Treibende Kraft war dabei Verteidigungsminister Helmut Schmidt. Dieser ordnete im März 1970 Vorbereitungen zur Einführung der sachlichen Form an, weil die personale Form irrig suggeriere, der Minister sei für alle unwesentlichen Details unmittelbar verantwortlich.102 In Schmidts Initiative spiegelt sich ein grundlegend gewandeltes, ein genuin politisches Amtsverständnis wider. War nach dem traditionellen Behördenbegriff ein Ministerium lediglich ein administrativer Hilfsapparat des in seinem Geschäftsbereich prinzipiell allzuständigen Ministers (und insoweit nur Teilorgan seines politischen Körpers), so sollte die Benennungspraxis nun das Ministerium klar vom Minister scheiden. Letzterer war nach dieser Logik weniger Behördenvorsteher als vielmehr Politiker, der zwar die Leitentscheidungen traf, sich aus der administrativen Praxis aber weitgehend heraushielt. Auch wenn ein derart behördliches Eigenleben längst der Realität entsprach, war das Ministerium staatsrechtlich gesehen 99 Dammann, Stäbe, S. 87–88 (mit Anm. 125). Gerade in dieser Hinsicht wurde auch auf den
Aspekt der (politischen) Verantwortung verwiesen. Da diese im demokratischen Rechtsstaat als zentrales Erfordernis an Verwaltungsorgane gilt (Seibel, Verwaltung, S. 18), werde sie, so das Argument, in der personalen Bezeichnung des Verwaltungsorgans am besten ausgedrückt. 100 Ruck, Beharrung, S. 90–95; Eschenburg, Regierung, S. 72–74. 101 Seit den frühen 1970er Jahren wurde vermehrt über Anredeformeln (etwa „Sehr geehrte Damen und Herren“ statt „Sehr geehrte Herren“) und Amtsbezeichnungen diskutiert. Letzteres galt etwa für die Ersetzung der Bezeichnungen „Hilfsreferent“ durch „Referent“ und „Referent“ durch „Referatsleiter“ (die aber erst am 24.04.1981 vollzogen wurde). Siehe diverse Vorgänge dazu in: BArch, B 106/110629, 110630, 110632–110634 sowie B 106/120473; B 136/31044. 102 Bereits mit dem „Blankeneser Erlass“ vom 21.03.1970 (in: BArch, BW 1/65806) hatte Schmidt für den Bereich der Generalinspekteure und Inspekteure die sachliche Ministerialbezeichnung eingeführt (III 2 a und V 2). Siehe darüber hinaus Hoffmann, Bundesministerien, S. 14.
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kein eigenes, vom Minister getrenntes Organ mit eigenen Kompetenzen. Genau dieser Eindruck könne aber, so warnten etwa Stimmen aus dem BMI, durch eine sachliche Bezeichnung erweckt werden.103 Angesichts dieser verschiedenen Auffassungen bildete Schmidts Vorstoß den Auftakt für ein „mehrjähriges Ringen“ um die ministerielle Bezeichnungsform.104 Involviert waren dabei das Gremium der beamteten Staatssekretäre, der interministerielle GGO-Ausschuss105 und das BMI, das als federführendes Ressort für allgemeine Verwaltungsangelegenheiten von Beginn an für die personale Form votierte und sich mit einer zunehmend ausgefeilteren staatsrechtlichen Begründung vorerst durchsetzen konnte.106 Erstmals breiter erörtert wurde Schmidts Umbenennungsaktion bei den Beratungen des GGO-Ausschusses am 5. Juni 1970, die ein helles Licht auf die Standpunkte und Argumente der Ressortvertreter werfen. Maßgebender Einfluss kam dort den leitenden Beamten der Unterabteilung „Verwaltung“ im BMI zu, die den Sitzungen des Ausschusses vorsaßen und dessen Geschäfte führten.107 Nachdem bereits die Vorlage des BMI Schmidts „Alleingang“ unterschwellig kritisiert hatte,108 sprach sich in der Sitzung eine deutliche Mehrheit für die personale Form aus. Die Argumente waren dabei durchaus verschieden. Während der Vorsitzende, Ministerialrat Egon Hölder, dafür plädierte, ein funktionierendes System nicht „ohne Not“ zu ändern, verwiesen andere Mitglieder auf die Vorzüge der personalen Form für den behördlichen Schriftverkehr.109 Zudem hielten es einige Beamte für fraglich, ob die neutrale Form verfassungsrechtlich überhaupt zulässig sei, da das Grundgesetz nur den Minister, nicht aber das Ministerium kenne. Dass die Mehrheit für die „monokratische Behördenbezeichnung“ eintrat, lag aber offenbar vor allem an zwei Gesichtspunkten. Zum einen wurde die „persönliche, auf den Menschen bezogene“ Bezeichnungsform als demokratisch „folgerichtig“ verstanden, da sie sich auf den entsprechend legitimierten Amtsvorsteher bezog. Zum anderen – und hier knüpften sie an die überkommene Vorstellung eines personalisierten Verwaltungskörpers an – entsprach sie auch der etablierten monokratischen Behördenlogik. Neutrale Bezeichnungen, so der Einwand, förderten die 103 Siehe die folgenden Quellen dieses Abschnitts sowie Hoffmann, Bundesministerien, S. 14. 104 Ebd. 105 Nach § 9 GGO I bildeten die Ministerialbürodirektoren und Organisationsreferenten der
Ressorts einen beratenden Ausschuss, der der Fortbildung der GGO dienen sollte. 106 Hoffmann, Bundesministerien, S. 14. 107 Zuständig im BMI war das Referat V II 1, seit Herbst 1970 das Referat V III 1. Eingebunden war zudem das Organisationsreferat Z I 6. Siehe dazu auch: BArch, B 106-ORG/40 und 41. 108 BMI an die Organisationsreferenten der obersten Bundesbehörden, 25.05.1970, in: BArch, B 106/110629, Anlage 3, o. Bl. Dennoch wog sie die Vor- und Nachteile beider Formen neutral gegeneinander ab. Die in den süddeutschen Ländern „seit eh und je“ gebräuchliche neutrale Bezeichnung unterscheide klar zwischen Minister und Dienststelle, während die personalisierte Form berücksichtige, dass Minister und Dienststelle „begrifflich häufig nicht zu trennen und zu unterscheiden“ seien, und zudem den Schriftverkehr erleichtere. 109 Ergebnisprotokoll über die Sitzung des Ausschusses für Organisationsfragen (§ 9 GGO I) am 05.06.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl.
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Tendenz zu Unterbezeichnungen und zur Sichtbarmachung der Entscheidungsfindung der Behörde. Dies aber bewirke deren „Atomisierung“, so warnte ein anderer Vertreter des BMI. Das Ministerium, darin war sich der Ausschuss einig, solle nach außen als Einheit in Erscheinung treten, die sich begrifflich in der Person des Ministers manifestiere. Daher votierten die Beamten dafür, dass „für den Minister gehandelt und gezeichnet“ werden soll.110 Angesichts des Ausschussvotums passte Verteidigungsminister Schmidt seine Position an, behielt aber die Entscheidung für die sachliche Form grundsätzlich bei.111 Das Gremium der beamteten Staatssekretäre beschloss daraufhin am 26. Oktober 1970, das BMI solle über den Weg des GGO-Ausschusses auch solche Lösungsmöglichkeiten erarbeiten, die von der personalen Behördenbezeichnung abweichen und die Wünsche des Verteidigungsressorts „soweit wie möglich“ berücksichtigen.112 Das BMI begann deshalb mit weiteren Prüfungen, die unter anderem eine Befragung der Länder umfassten.113 Doch noch bevor der Ausschuss wieder zusammentrat, kam es zu einer Umgliederung im BMI, bei der die Zuständigkeit für den Ausschuss auf ein anderes Referat überging. Das damit verbundene Revirement wirkte sich deutlich auf die einschlägigen Beratungen aus. In der neuen Ausschussvorlage erklärte sich der nunmehr zuständige Ministerialrat Harald Schottelius „aufgeschlossen“ gegenüber der Einführung der sachlichen Bezeichnungsform.114 Dass eine baldige Versachlichung der Behördenbezeichnung möglich war, schien sich bei der folgenden Sitzung des GGO-Ausschusses am 1. Dezember 1970 abzuzeichnen. In seiner Einleitung wertete der Vorsitzer Schottelius die personale Bezeichnungsform als Ausdruck einer hierarchisch-monokratischen Herrschaftslogik, ja als amtssprachliches Gewand des Obrigkeitsstaates. Das Kabinett habe 1950 den personalen Behördenbegriff gewählt, so vermutete der Ministerialrat, da man „eine Einbuße der staatlichen Autorität der noch jungen Bundesrepublik befürchtet“ habe. Dem stellte er die sachliche Form entgegen, die mit ihrer sprachlichen Unterscheidung zwischen Minister und Ministerium einer „langen demokratischen Tradition“ entspreche. Alle verfassungsrechtlichen und verwaltungspraktischen Be110 Alle Zitate ebd. 111 Schmidt hatte dem Bundeskanzler und den Ressorts am 18.10.1970 mitgeteilt, die personale
Bezeichnungsform nur noch in Schreiben zu verwenden, die von ihm selbst oder einem Staatssekretär unterzeichnet seien. Siehe BMI an die obersten Bundesbehörden, 17.11.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl., Anlage 2; zu den Regelungen im Einzelnen auch Hoffmann, Bundesministerien, S. 15, Anm. 22. 112 BMI an die obersten Bundesbehörden, 17.11.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl., Anlage 2. 113 Die Umfrage umfasste auch Aspekte wie den Ich-Stil oder die Zeichnungsformeln. Siehe: BMI an die Innenminister (Senatoren für Inneres) der Länder, 11.11.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl. Die Umfrage ergab, dass Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Rheinland-Pfalz durchweg die sachliche Behördenbezeichnung verwendeten, wobei in RheinlandPfalz die Wir-Form und in Bayern auch die Ich-Form benutzt wurde, während in Baden-Württemberg und Hamburg Schreiben in der dritten Person ergingen. 114 BMI an die obersten Bundesbehörden, 17.11.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl., Anlage 2.
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denken zurückweisend, erklärte Schottelius, dass „nunmehr dem Gesichtspunkt der organisatorischen Zweckmäßigkeit der Vorrang gegeben und die sachliche Bezeichnungsform verwendet werden“ solle, zumal eine „ausschließlich aus der Person des Ministers abgeleitete Außenvollmacht“ kaum mehr „in die heutige Zeit“ passe.115 Das in diesem Punkt mehrfach überarbeitete Protokoll lässt erahnen, wie heftig um diese Frage gerungen wurde. Nicht ohne Grund hatte der Ministerialrat Hecht vom Bundesministerium der Finanzen gefordert, die Diskussion „nicht zu ideologisieren“, sondern sich auf die praktischen Auswirkungen zu konzentrieren, etwa was die Änderung von Rechtsnormen, Dienstsiegeln, Briefvordrucken usw. betraf. Wie sich in den Beratungen wie unter einem Brennglas zeigt, überlappten sich hier unterschiedliche politisch-administrative Semantiken, Logiken und Amtsauffassungen mit verschiedenen Zweckmäßigkeitserwägungen und Standpunkten aus Verwaltungstradition, -praxis und -recht: und genau dies erschwerte die Änderung des amtssprachlichen Status quo.116 Insgesamt votierten neben den Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit (das unter weiblicher Leitung stand) auch die Ressorts für Bildung und für Städtebau für die sachliche Bezeichnungsform. Wenngleich die übrigen Teilnehmer sich laut Rundfrage nicht prinzipiell gegen die Einführung der sachlichen Form sperrten, war doch klar: Bei der Angelegenheit handelte es sich fraglos um eine Chefsache, die nur von den Ministern im Kabinett entschieden werden konnte. Daher wurde eine schriftliche, mit den jeweiligen Hausleitungen abgestimmte Stellungnahme vereinbart, die auch verwandte Fragen (etwa nach Zeichnungsformen) umfassen sollte.117 Infolgedessen bat das BMI die Ressorts am 17. April 1971 um Stellungnahme, wobei das Plädoyer für die personale Form zwar nicht explizit, aber dennoch klar hervortrat. Dem entsprach auch das Ergebnis, das ein deutliches Votum für die personale Bezeichnungsform war. Dass manche Behördenchefs eine andere Ansicht vertraten als die ihnen untergebenen Organisationsreferenten, war wohl auch Ausdruck institutioneller Eitelkeiten der namensgebenden Minister, erschwerte aber eine einheitliche Lösung.118 Das Ergebnis gab auch dem GGO-Ausschuss Anlass, die Frage erneut aufzugreifen. Dort leitete nun wieder der inzwischen zum 115 Auszug aus dem Ergebnisprotokoll über die Sitzung des Ausschusses für Organisationsfra-
gen (§ 9 GGO I) am 01.12.1970, in: BArch, B 106/110629, o. Bl., hier TOP 3. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Von den Bundesministerien hatten sich fünf eindeutig für die personale Form ausgesprochen. Zwei hatten sich noch nicht entschieden, doch schlugen die Vorlagen der Organisationsreferenten ebenfalls die personale Form vor. Drei Ministerien beabsichtigten keine Änderung der personalen Bezeichnung, erhoben aber auch keine Bedenken gegen die sachliche Form. Ein Ressort war mit der Einführung der sachlichen Form einverstanden, wenn dies einheitlich geschehe. Zwei Häuser votierten für die Mischform des Verteidigungsministeriums, nach der Minister und Vertreter persönlich, der Rest des Hauses sachlich firmieren sollte(n). Dass Auswärtige Amt schließlich hatte sich für die Beibehaltung seiner Bezeichnung ausgesprochen. Siehe die Stellungnahmen der Ressorts in: BArch, B 106/311441, o. Bl.
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Unterabteilungsleiter beförderte Hölder die Sitzung. Der nunmehrige Ministerialdirigent stellte das Ergebnis vor, trat dabei selbst für die personale Form ein und wischte unter anderem die Argumente seines Untergebenen Schottelius brüsk beiseite, indem er erklärte, dass „keine fundierten Gründe für eine Änderung sprächen und klare Vorteile nicht erkennbar seien.“119 Auch die Runde der Staatssekretäre befasste sich mit dem Rundfrage-Ergebnis, sah aber selbst von einer klaren Positionierung ab. Stattdessen bat das Gremium das BMI, eine Kabinettsentscheidung herbeizuführen. Das BMI erstellte daher nach weiteren rechtlichen Prüfungen im Juni 1972 den Entwurf für eine Kabinettsvorlage, doch wurde die Frage aufgrund der bevorstehenden Bundestagswahl vertagt.120 Abermals war es Helmut Schmidt, der Bewegung in die Sache brachte. Nachdem er das „Superministerium“ für Wirtschaft und Finanzen übernommen hatte, führte er dort im September 1972 die Regelungen aus dem Verteidigungsressort ein.121 Dieser Vorstoß rief abermals das BMI auf den Plan, das sich auch mit Blick auf die Verwaltungssprache als „Hüter der Ordnung“ verstand.122 Mit Schnellbrief des Staatssekretärs übersandte es den übrigen Bundesministerien „im Interesse der Geschlossenheit der Bundesregierung und nicht zuletzt auch wegen der zu erwartenden wirtschaftlichen Auswirkungen“ noch am 29. September den Entwurf einer einschlägigen Kabinettsvorlage. Der Entwurf sah die Beibehaltung der personalen Form vor, konzedierte aber die Möglichkeit zusätzlicher Angaben (etwa der Abteilung), um deutlich zu machen, dass nicht der Behördenleiter selbst handelte.123 Da die übrigen Ressorts diesem Entwurf in großer Mehrheit zustimmten, versuchte das BMI den Weg über das Kabinett zu umgehen und bat den Bundeskanzler im Februar 1973, den personalen Behördenbegriff mittels Organisationserlass verbindlich zu verfügen.124 Eine entsprechende Neuregelung kam vorerst aber weder auf diesem noch auf anderem Wege zustande. Nachdem das Bundeskanzleramt vom BMI eine Kabinettsvorlage erbeten hatte, wurde eine geringfügig geänderte Fassung aufgrund einer Entscheidung von Innenminister Genscher vom August 1973 nicht mehr eingebracht.125 Auch in der Folgezeit verfolgte das BMI den Plan, die personale Bezeichnung durch erneuten Kabinetts-
119 Ergebnisprotokoll über die Sitzung des Ausschusses für Organisationsfragen (§ 9 GGO I)
am 02.06.1971, in: BArch, B 106/110629, o. Bl., hier TOP 3. 120 Dazu und zum Folgenden Hoffmann, Bundesministerien, S. 15–16. 121 Die Regelungen wurden bekanntgegeben mit den Hausmitteilungen Nr. W 16/72 vom 01.09.1972 (in: BArch, B 102/140266) und Nr. F/42 vom 07.09.1972 (in: BArch, B 126/51383). 122 Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung. 123 BMI an die obersten Bundesbehörden, 29.09.1972, in: BArch, B 106/311438, o. Bl. 124 Aktenverfügung BMI, 23.02.1973, in: BArch, B 106/311438, o. Bl. Das BMI beabsichtigte mit diesem Vorstoß, jede weitere Beratung dieser Frage (eine „Quelle unrationeller Beschäftigung vieler Beamter“, die durch einen Erlass des Bundeskanzlers „endgültig verstopft“ werden könne, so Ministerialdirigent Hölder ebd.) zu verhindern. 125 Handvermerk Abteilungsleiter V, 13.08.1973, in: BArch, B 106/311438, o. Bl. Ebenso Hoffmann, Bundesministerien, S. 16.
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beschluss zu sichern, nicht weiter,126 zumal mit Helmut Schmidt inzwischen ein klarer Anhänger der sachlichen Behördenbezeichnung als Bundeskanzler amtierte. Anfang 1976 flammte die Diskussion dann noch einmal auf, als Pläne des Bundeskanzleramtes bekannt wurden, die Firma „Chef des Bundeskanzleramtes“ tatsächlich dem Chef vorzubehalten.127 Das BMI nahm dies im Februar 1976 zum Anlass, die Frage der Behördenbezeichnung vor die Runde der Staatssekretäre zu bringen und dort auf eine einheitliche Verwendung der personalisierten Form hinzuwirken. Das BMI verwandte dabei eine schriftliche Vorlage, die auf der (nicht eingebrachten) Kabinettsvorlage beruhte, aber die eigene Haltung nochmals stärker pointierte, da sie sich über die in der Kabinettsvorlage noch enthaltenen Kompromissvorschläge ausschwieg.128 Das BMI hatte mit seiner hartnäckigen Verteidigung der personalen Form vorerst Erfolg: Die Runde der Staatssekretäre votierte am 22. März 1976 erneut für die personale Form und stellte sich damit hinter das Innenressort. Obwohl kein formaler Beschluss mehr fiel, kam die Behandlung der Frage einer Entscheidung gleich: mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes kehrte 1979 mit dem Verteidigungsressort das letzte Ministerium zur personalen Form zurück129 – vorerst.
VI. Sprachliche Gleichberechtigung und Ende des personalen Behördenbegriffs Die Frage der Behördenbezeichnung wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder aufgegriffen – diesmal mit Folge der weitgehenden Abschaffung des personalen Begriffs. Im Unterschied zu früheren Diskussionen kam der entscheidende Impuls diesmal nicht aus der Staats- und Verwaltungssphäre selbst. Vielmehr war 126 Wie das BMI dem GGO-Ausschuss am 03.07.1975 mitteilte, sei eine Kabinettsentscheidung
über die personale Bezeichnungsform „seinerzeit wegen anderer Prioritäten zurückgestellt“ worden und „in absehbarer Zeit“ auch „nicht mehr geplant“, was der Ausschuss „zustimmend“ zur Kenntnis nahm (Protokoll in: BArch, B 106/110631, o. Bl., hier TOP 5c). Zuvor hatte sich der Ausschuss am 14.03.1974 auf Anregung des BMI, das hier Beratungen aus den 1960er Jahren aufgriff, dafür ausgesprochen, im Dienstverkehr zwischen den obersten Bundesbehörden auf den Zusatz „Herr“ zu verzichten, da Anschriften wie „An den Herrn Bundesminister“ bei einer weiblichen Behördenleitung eigentlich nur noch als Affront oder als verwaltungssprachliches Kuriosum gelesen werden konnten. Auf einen Wegfall des Artikels „Der“ aus der offiziellen Behördenbezeichnung konnte sich der Ausschuss dagegen nicht einigen (Vorlage des BMI vom 04.03.1974 und das Protokoll, in: BArch, B 106/110631, o. Bl.). Infolgedessen firmierten in den 1980er Jahren Ressorts auch bei weiblicher Leitung als „Der Bundesminister …“ (diverse Beispiele in: BArch, B 353/1466). 127 Dazu den Vorgang in: BArch, B 106/311438; ebenso Hoffmann, Bundesministerien, S. 16–17. 128 BMI an die obersten Bundesbehörden, 08.03.1976, in: BArch, B 106/311438. Zum Weiteren ebd. 129 Siehe den entsprechenden Vorgang: BArch, BW 1/310283; mit Blick auf die militärischen Führungsstäbe (hier: des Heeres) BArch, BH 1/6066.
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es die gesamtgesellschaftliche Debatte um die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die auch die Amts- und Rechtssprache umschloss und den Behörden nun – vor allem über den parlamentarischen Weg – einen wachsenden Veränderungsdruck auferlegte. Nachdem zu Beginn der 1980er Jahre erste Richtlinien zur Vermeidung eines sexistischen Sprachgebrauchs formuliert worden waren,130 diffundierten entsprechende Vorstellungen insbesondere auf Betreiben der Grünen auch in die staatliche und politische Sphäre, was bald dazu führte, sich erneut dem Problem der Behördenbezeichnung anzunehmen. Die ersten Reformimpulse in dieser Frage gingen von den Ländern aus, wo eine sukzessive Versachlichung des Behördenbegriffs ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einsetzte.131 Bis entsprechende Schritte auf Bundesebene erfolgten, vergingen noch einige Jahre. Den konkreten Ausgangspunkt der Debatte bildete ein Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom 31. März 1987, der zunächst die Prüfung aller Gesetze auf eine geschlechtergerechte Sprache vorsah und dem im Herbst ähnliche Anträge der Grünen, der CDU und der FDP folgten.132 Auch wenn diese Anträge unterschiedlich weitreichend waren, spiegelte sich in ihnen doch ein grundsätzlicher Reformkonsens. Wie sich dabei abzeichnete, würde sich der Diskurs nicht nur auf Gesetzestexte beschränken, sondern auch auf die Amtsund Gerichtssprache übergreifen.133 Die Bundesregierung hatte unterdessen im Herbst 1987 eine interministerielle Arbeitsgruppe „Rechtssprache“ eingesetzt, die diverse Sachverständige anhörte und ihren Bericht der Bundesregierung im April 1991 vorlegte.134 Der dem Bundestag im Juli 1991 zugeleitete Bericht thematisierte auch die Frage der Behördenbezeichnung eingehend und verwies dabei auf die verwaltungssprachliche Zwei130 Für den parlamentarischen Diskurs (siehe etwa: Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1041)
erwies sich als einflussreich: Guentherodt u. a., Richtlinien. Siehe zur Debatte mit zahlreichen Nachweisen Grabrucker, Vater Staat. 131 Den Anfang machte Hessen, wo der Landtag am 17.12.1986 für die geschlechtsneutrale Fassung auch von Organ- und Behördenbezeichnungen votierte (Plenarprotokoll 11/99, S. 5806– 5807), was von der Landesregierung am 02.07.1987 (GVBl. Hessen 1987, S. 95–118) umgesetzt wurde. Auch die übrigen Länder folgten. In NRW etwa wurde die personale Bezeichnungsform für die obersten (und anderer) Landesbehörden zuerst durch Verwaltungsvorschrift (MBl. NRW 1990, S. 974), danach auch gesetzlich (GVBl. NRW 1993, S. 987–989) in eine sachliche Form geändert. Zu den weiteren Ländern Hoffmann, Bundesministerien, S. 17, Anm. 34. 132 Deutscher Bundestag, Drucksachen 11/118 (SPD), 11/860 (Die Grünen), 11/1043 (CDU/ CSU und FDP). 133 Der Bundestag überwies die Anträge am 06.11.1987 dem Rechtsausschuss, dem Innenausschuss und dem Ausschuss für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Plenarprotokoll 11/37, S. 2502–2511). Die Beschlussempfehlung des federführenden Rechtsausschusses vom 18.04.1988 lautete, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP anzunehmen, der sich auf künftige Rechts- und Verwaltungsvorschriften beschränkte (Drucksache 11/2152). Die Beschlussempfehlung wurde am 11.05.1990 vom Bundestag angenommen (Plenarprotokoll 11/211, S. 16630). 134 Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1041. Obwohl der Bericht auf den 17.01.1990 datiert, wurde er der Bundesregierung erst im April 1991 vorgelegt. Dazu Hoffmann, Bundesministerien, S. 18.
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teilung Deutschlands: Anders als im sachlichen Süden bezeichne der maskuline Begriff des Ministers in der personalisierten Praxis preußischer Provenienz „die Organisationseinheiten ebenso wie die Person an der Spitze“ dieser Einheit. Gerade dies führe zu einer Reihe „von sprachlichen Stolpersteinen“, insbesondere wenn eine Frau als Ministerin amtiere, aber in der Amtssprache stets in maskuliner Form firmiere. Vor diesem Hintergrund empfahl der Bericht indirekt die sachliche Form. Sie unterscheide klar zwischen Behörde und Behördenleitung, sei daher unabhängig von der Behördenleitung stets korrekt und erleichtere insoweit den amtlichen Sprachgebrauch. Allein die personelle Verantwortlichkeit der Behördenleitung drohe durch die sachliche Form „verwischt“ zu werden. Solle deshalb die personalisierte Bezeichnung beibehalten werden, so sei dabei auf eine „zutreffende Amtssprache“ zu achten, die das Geschlecht der Behördenleitung berücksichtige.135 Während die Länder in der Versachlichung von Verwaltungslogik und -sprache dem Bund vorausgeeilt und auch auf parlamentarischer Ebene wirkliche Widerstände gegen eine Entpersonalisierung kaum zu vernehmen waren, tat sich die Bundesregierung mit einer entsprechenden Änderung schwerer. Das Bundeskabinett beschloss am 24. Juli 1991, sich nicht alle Aussagen des Arbeitsgruppenberichts zu eigen zu machen,136 womit die Frage der Behördenbezeichnung vorerst offenblieb. Innerhalb der Bundesregierung waren es nun vor allem die vier von Ministerinnen geleiteten Ressorts, die auf die Einführung der sachlichen Form drängten.137 Aufgrund einer Vereinbarung der Staatssekretärsrunde vom 22. Juli 1991 begann das BMI mit einer erneuten Prüfung der Frage. Nachdem verfassungspolitische, auf den Wortlaut des Grundgesetzes bezogene Bedenken durch Aussprache zwischen Innen- und Justizressort ausgeräumt werden konnten,138 übersandte das BMI am 12. Dezember 1991 den Entwurf einer Kabinettsvorlage, die sich erstmals für die Umstellung auf die sachliche Bezeichnungsform aussprach. Dass das BMI – zuvor energischer Verfechter des personalen Behördenbegriffs – nun aufs Tempo drückte, hing nicht zuletzt mit der Sorge zusammen, einige Häuser könnten die sachliche Form vorzeitig und eigenmächtig einführen.139 Auch wenn die Ressorts dem Entwurf zustimmten, schien informeller, offenbar auf individuelle 135 Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1041, S. 7, 24–27, 29 (Zitate). 136 Siehe die Stellungnahme der Bundesregierung vom 24.07.1991 in: Deutscher Bundestag,
Drucksache 12/1041, S. 3. Zuvor hatte sich die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Irmgard Adam-Schwaetzer, erfolglos bemüht, ein Votum für die sächliche Behördenbezeichnung in die Stellungnahme mitaufzunehmen. Siehe BArch, B 106/311439. 137 Dazu und zum Folgenden Hoffmann, Bundesministerien, S. 18–19. 138 Da das Grundgesetz nur den Begriff des „Bundesministers“ enthält, entwickelten das BMI und das BMJ drei verschiedene Bedeutungsebenen dieses Begriffes, der eine oberste Bundesbehörde, die Leitungsperson einer solchen Behörde und eine Person als Teilorgan der Bundesregierung bezeichnen konnte. Zu klären war, welche Bedeutung gemeint war, zum Beispiel wenn ein „Bundesminister“ zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigt war (Art. 80 GG). 139 Tatsächlich hatte das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ende 1991 die sachliche Bezeichnungsform eingeführt (Hausverfügung Nr. 10, 12.12.1991).
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Vorbehalte gegründeter Widerstand aus dem Bundeskanzleramt die Umstellung noch einmal zu vereiteln.140 Deutlich trat hier eine Schwerfälligkeit gegenüber der verwaltungssprachlichen Reform zutage, die die Länder inzwischen durchgeführt hatten. Wie sich immer deutlicher zeigte, war die Einführung der sachlichen Form auf Dauer aber nicht aufzuhalten. Nachdem der Staatssekretär des Bauressorts in der Runde seiner Kollegen die Frage am 10. August 1992 erneut aufwarf, legte das BMI abermals einen Entwurf für eine Kabinettsvorlage vor, der die Einführung der sachlichen Form vorsah.141 Indes scheiterte das Vorhaben, noch im September eine Entscheidung des Kabinetts herbeizuführen. Hintergrund waren diesmal etatmäßige Einwände des Verkehrsressorts. Nachdem mehrere Staatsekretäre auf eine baldige Kabinettsvorlage gedrungen und das BMI eine aktualisierte und auf 300.000 DM reduzierte Kostenschätzung vorgelegt hatte,142 war es nicht zuletzt der Bundestag, der den letzten Anstoß zur Änderung gab. Nachdem im Plenum die Änderung der Behördenbezeichnung als überfällig bezeichnet worden war und ein Beschluss die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert hatte,143 war es in der Kabinettssitzung am 20. Januar 1993 soweit. Ohne weitere Aussprache wurde folgender Beschluss angenommen: „Unter Aufhebung des Beschlusses vom 14. Februar 1950 beschließt das Kabinett, für die Bezeichnung der Bundesressorts die sächliche Form („Bundesministerium für/des/der …“) zu verwenden.“144 Mit dem Beschluss der Bundesregierung hatte sich der sachliche Behördenbegriff endgültig durchgesetzt, zumindest auf der oberen Verwaltungsebene. Der versachlichte Sprachgebrauch fand bald Eingang in die GGO der Bundesministerien145 und entsprach den Regelungen auf Länderebene. Ob eine Änderung allein aus der Behördensphäre heraus erfolgt wäre, muss offenbleiben. Entscheidend war verwaltungsexterner, vor allem parlamentarischer Druck, der aus dem Gleichberechtigungsdiskurs stammte und sich zunächst gar nicht auf verwaltungsorganisatorische Fragen richtete, aber trotzdem eine Verwaltungslogik samt 140 Wie das BMI in Erfahrung brachte, lehnte das Bundeskanzleramt die Kabinettvorlage ab,
ohne aber eine Stellungnahme abzugeben. Siehe Hoffmann, Bundesministerien, S. 19. 141 Siehe die entsprechenden Unterlagen in: BArch, B 106/311439 und 311440. Dazu und zum Folgenden auch Hoffmann, Bundesministerien, S. 19–20. 142 Die Umbenennungskosten wurden zunächst auf insgesamt 650.000 DM veranschlagt, wogegen das BMF aber keinen Widerspruch erhoben hatte. Auch der GGO-Ausschuss befasste sich in seiner Sitzung vom 25.11.1992 mit der Einführung der sachlichen Bezeichnungsform und schloss sich dabei den Vorschlägen des BMI an (Protokoll in: BArch, B 106/144153, hier TOP 11). 143 Am 15.01.1993 nahm der Bundestag eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend an (Plenarprotokoll 12/132, S. 11519–11525, zur Behördenbezeichnung S. 11522), der infolge des Berichts der Arbeitsgruppe „Rechtssprache“ (siehe oben) die Bundesregierung zu einer energischeren Umsetzung der Ausschussempfehlung aufforderte (Drucksache 11/2775). 144 Beschluss des Bundeskabinetts zur Einführung der sächlichen Bezeichnungsform für die Bundesministerien, 20.01.1993, in: GMBl. 1993, S. 46. 145 Die Anpassung der GGO I und II wurde durch Rundschreiben des BMI vom 10.08.1993 (in: GMBl. 1993, S. 576–578) bekannt gemacht.
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kommunikativer Praxis zu hinterfragen half, aus der noch stark die Autorität der (meist männlichen) Leitungsperson hervorschien. Auch wenn das monokratische Amtsverständnis in vielen (aber nicht allen) Behördenbezeichnungen heute nicht mehr sichtbar ist, existiert es nach wie vor. Die standardisierten Zeichnungsformeln etwa unterstreichen, dass der einzelne Beamte nicht für sich oder namens der Behörden handelt, sondern „In Vertretung“ oder „Im Auftrag“ der Person, die an der Behördenspitze steht.146 Die zentrale Bedeutung dieser Person für Wahrnehmung und Auftritt einer Behörde – und damit auch für deren Funktionsfähigkeit –, wird auch heute an vielen Stellen deutlich: Behördliche Webauftritte zum Beispiel enthalten fast immer eine Rubrik „Behördenleitung“, meist mit kurzer Vorstellung und Foto derselben. Insoweit scheinen Behörden wie Ministerien, ganz unabhängig von ihrer Bezeichnung, einer personellen Verkörperung zu bedürfen, einer Verkörperung, die diesem Amt ein Gesicht verleiht und somit menschlich erschließbar macht. Mit anderen Worten: Auch wenn sie sich aus der Behördenbezeichnung weitgehend verflüchtigt haben – die zwei Körper des Ministers existieren heute nach wie vor.
146 Siehe etwa die momentan gültige GGO der Bundesregierung von 2011, hier § 18.
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Dr. Niklas Lenhard-Schramm, Universität Hamburg ist seit Oktober 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Geschichte, Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg. Zuvor war er in gleicher Position an der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster beschäftigt gewesen. Dort promovierte er sich im Jahr 2016 mit einer Arbeit über die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Contergan-Skandal und dessen Folgen. Aktuell forscht er im Rahmen eines Habilitationsprojektes zur Kulturgeschichte der Luftfahrt im Nationalsozialismus. Publikationen: mit Dietz Rating u. Maike Rotzoll, Göttliche Krankheit, kirchliche Anstalt, weltliche Mittel. Arzneimittelprüfungen an Minderjährigen im Langzeitbereich der Stiftung Bethel in den Jahren 1949 bis 1975, erscheint 2021; mit Thomas Großbölting (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017; Das Land Nordrhein-Westfalen und der Contergan-Skandal. Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den „langen sechziger Jahren“. Göttingen 2016.
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BÜROKRATIEN ZWISCHEN PLAN UND MARKT – WIRTSCHAFT VERWALTEN
Anna Elbers
„DER GETREUE UNTERBAU?“ Die Zusammenarbeit des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Deutschen Industrieund Handelstag am Beispiel der Arbeiten zum Kammerrecht
I.
Einleitung
S
owohl der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) als auch die regionalen Industrie- und Handelskammern (IHK’n) unterlagen im Laufe ihrer Geschichte sehr häufig einem strukturellen und funktionalen Wandel. „Ihre Stellung zwischen dem Staat und seiner Verwaltungsbürokratie auf der einen Seite und den Kaufleuten und Industriellen des Kammerbezirks auf der anderen Seite bot im Laufe der wechselnden Epochen ständig Anlaß für Versuche der Vereinnahmung, des Mißbrauchs oder gar der Gleichschaltung.“1 Abhängig von den unterschiedlichen politischen Verhältnissen, veränderten sich nicht nur die rechtliche Gestalt und das Aufgabenspektrum des Industrie- und Handelstages und seiner Kammern, sondern auch deren Zusammenarbeit mit der staatlichen Verwaltung. „Standen sie im 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. noch im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft, so stellen sie heute ein Beispiel der vielfältigen Verflechtungen dieser beiden Größen dar.“2 Als Dachorganisation der IHK’n übernimmt der Industrie- und Handelstag einerseits Aufgaben für den Staat und reduziert somit dessen Verwaltungstätigkeit, andererseits vertritt er die Interessen der Kammern und damit die Belange ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat.3 Diesem wechselseitigen Verhältnis liegt eine spezifische Abhängigkeit zugrunde, welche das ständige Ausloten von Handlungsspielräumen impliziert. Mit jedem 1 Weise, Kammern in Not, S. 11. 2 Schmaltz, Die Industrie- und Handelskammern, S. 1. 3 Vgl. Schmaltz, Die Entwicklung der Industrie- und Handelskammern, S. 187.
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politischen System muss das Kammerwesen über das Abwägen von Kosten-Nutzen-Relationen zu einer Übereinkunft gelangen, wenn das eigene Weiterbestehen gesichert sein soll. Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft, im speziellen Falle zwischen staatlicher Wirtschaftsverwaltung und Industrie- und Handelstag, sind keinesfalls neuartig. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert lässt sich staatliches Handeln nur unzureichend als eine ausschließlich hoheitliche Tätigkeit beschreiben.4 In ihrer Gestalt können die Formen der Zusammenarbeit allerdings sehr vielseitig auftreten und können oftmals schwer identifiziert werden. Ernst-Hasso Ritter stellt in seinem Aufsatz zum kooperativen Staat bereits 1979 über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft fest, dass zwar „viele staatliche Willensäußerungen das klassische Gewand einseitig-hoheitlicher Regelung [tragen], tatsächlich aber sind sie ihrem Inhalt nach im Wege des Aushandelns und der zweiseitigen Abmachungen mit den Adressaten zustande gekommen“5. Ritter konstatiert ein Verhältnis des Staates zur Wirtschaft, welches in zunehmendem Maße von Zusammenarbeit geprägt sei. „Hier regiert nicht das Prinzip von Befehl und Gehorsam, sondern das Prinzip do- ut- des. Der Staat steigt vom hoheitlich-hoheitsvollen Podest des einseitig Anweisenden herab, er tritt auf die Ebene des Austausches von Informationen und Leistungen und der Verbindung zu abgestimmten Handeln.“6 Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass „die jeweils verschiedenen Bedingungen, die Akteure zu Verhandlungen miteinander veranlassen, das Verhalten in den Verhandlungsprozessen und damit auch deren Ergebnisse in sehr unterschiedlicher Weise beeinflussen“, woraus folgt, dass „kooperatives Handeln a priori weder positiv noch negativ eingeschätzt werden darf“.7 Dieses Prinzip der Zusammenarbeit oder sogar der Kooperation kann dabei einerseits auf der individuellen Ebene zwischen Verwaltung und dem einzelnen Unternehmen stattfinden, oder aber andererseits auf der kollektiven Ebene zwischen Staat und Interessengruppen.8 In den folgenden Ausführungen wird das Verhältnis des Industrie- und Handelstages zur staatlichen Wirtschaftsverwaltung am Beispiel der Gesetzesgenese zum Kammerrecht in der Bundesrepublik näher charakterisiert. Für die Betrachtung des Verhältnisses des Handelstages zum Bundeswirtschaftsministerium in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland sind die Arbeiten am Gesetz zur Regelung der rechtlichen Situation der Kammern unvermeidlich und bieten einen aufschlussreichen Einblick in die wechselseitige Zusammenarbeit.9 An den Arbeiten zu diesem Gesetz werden die aktive Rolle des DIHT und die passive Vgl. Benz, Kooperative Verwaltung, S. 13. Ritter, Der kooperative Staat, S. 393. Ebd. Benz, Kooperative Verwaltung, S. 18. Vgl. Ritter, Der kooperative Staat, S. 395 und Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 115–120. Gemeint ist das Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern. 4 5 6 7 8 9
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Haltung des Wirtschaftsministeriums deutlich. Immer wieder bat das Ministerium um Zurückhaltung für sich selbst und überließ die Initiative dem Handelstag, welcher immer häufiger den direkten Kontakt mit den Bundestagsabgeordneten der Mehrheitsfraktionen suchte. Da Wirtschaftsminister Ludwig Erhard in Verhandlungen mit den Gewerkschaften10 über die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung stand, zögerte er aus politischen Gründen bei der Regelung des Kammerrechts initiativ tätig zu werden und einen Regierungsentwurf vorzulegen, erklärte sich aber damit einverstanden, dass der DIHT selbst tätig werden konnte, sodass der Handelstag schließlich selbst mit den Fraktionen des Bundestages eine Verständigung herbeiführte.
II. Die Geschichte des DIHT unter besonderer Berücksichtigung seiner Nähe zu den politischen Instanzen Eine Nähe des Kammerwesens zur Politik bzw. ein von zu wenig Distanz geprägtes Verhältnis zum Staat wurde nicht erst in der Bundesrepublik registriert, der Vorwurf der „Politisierung des Kammerwesens“ wurde bereits in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit laut und zieht sich durch seine Geschichte.11 Dabei war dem Handelstag bereits hinsichtlich seiner Gründungsmotive eine politische Zielsetzung inhärent und eine gewisse Nähe zur Politik sehr früh unabweisbar. Die jährlich stattfindenden Vollversammlungen des Handelstages veränderten ihre Gestalt im Laufe der Jahre und offenbarten durch die Anwesenheit und Mitwirkung von Vertretern der Regierung und staatlicher Behörden recht früh die enge Verbindung zwischen der wirtschaftspolitischen Arbeit der Regierung oder staatlicher Verwaltung und der Tätigkeit des Handelstages. So verdeutlichen die Vollversammlungen in besonders prägnanter Weise die Entwicklung des Handelstages von einer am Anfang berufsständischen Vereinigung von Kaufleuten, die politische Interessen verfolgte, über einen wirtschaftlichen Interessenverband bis hin zur Spitzenorganisation der deutschen IHK’n. Der Erste Allgemeine Deutsche Handelstag konstituierte sich im Jahr 1861 als ein „Organ des gesamten deutschen Handels- und Fabrikantenstandes“12 und strebte regelmäßige Versammlungen an wechselnden Orten an. Die Aufgaben orientierten sich allein am Interesse der Wirtschaft und so standen die eigenen Mitglieder und ihre Themen im Mittelpunkt. Nahmen staatliche Vertreter an Versammlungen des Handelstages teil, unterstrich dies zwar die staatliche Akzeptanz, ihr Auftreten erfüllte jedoch hauptsächlich repräsentative Zwecke.13 10 Erst 1949 schlossen sich die 16 Einzelgewerkschaften zum Deutschen Gewerkschaftsbund
(DGB) zusammen. 11 Vgl. Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 13. 12 Zeugnisse der Zeit. 125 Jahre Deutscher Industrie- und Handelstag, S. 13. 13 Vgl. Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 19.
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Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war mit der Schaffung eines einheitlichen Währungs-, Maß- und Gewichtssystems ein entscheidendes Ziel des Handelstages erreicht. Eine Folge der Reichsgründung war die Einbindung des Handelstages in die Arbeit der Reichsregierung. Fortan agierte er als wichtiger Gesprächspartner, der die Regierung in wirtschaftlichen Themen beraten sollte.14 Die Einladungspraxis des Handelstages vergrößerte sich und vermehrt wirkten Mitglieder der Reichsregierung sowie staatlicher Behörden auf den Vollversammlungen mit, aber auch auf den Ausschuss- und Kommissionssitzungen des Handelstages.15 Anfang des 20. Jahrhunderts wichen die geladenen staatlichen Vertreter häufiger von den üblichen allgemeinen Ansprachen ab und schnitten bestimmte Sachfragen an.16 Seit 1906 wurde sogar der Reichskanzler eingeladen, sodass die Vollversammlungen des Handelstages im Laufe der Zeit die Verbindung zwischen Reichsregierung und Handelstag, folglich Politik und Wirtschaft offenlegten. Während der Weimarer Republik nahmen die direkten Kontakte zwischen Vertretern des DIHT und der Reichsregierung deutlich zu und Einflussnahmen wurden unmittelbar vorgenommen. So waren bei den Jahrestagungen des DIHT17 regelmäßig Vertreter der Reichsregierung anwesend und nutzten das Forum von Fachleuten gezielt, um für ihre Politik Unterstützung zu gewinnen.18 Der DIHT bot mit seiner Vollversammlung ein unverfängliches Podium, bei der der Reichskanzler nicht fürchten mußte – wie etwa im Reichstag –, in gefährliche Polemiken oder in noch gefährlichere Demonstrationen verwickelt zu werden.19
Die Jahreshauptversammlung eines wirtschaftlichen Dachverbandes war zu einem wichtigen politischen Forum geworden.20 Auch personell wurde die Nähe zum Staat deutlich.21 Die eigentliche Aufgabe als wirtschaftliche Interessenvertretung
Vgl. Zeugnisse der Zeit. 125 Jahre Deutscher Industrie- und Handelstag, S. 28. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 20. 1918 gab sich der Deutsche Handelstag auf seiner 40. Vollversammlung einen neuen Namen und nannte sich fortan Deutscher Industrie- und Handelstag. 18 Vgl. ebd., S. 35 und Vgl. Zeugnisse der Zeit. 125 Jahre Deutscher Industrie- und Handelstag, S. 63. 19 Vgl. ebd., S. 54. 20 Vgl. ebd., S. 70. 21 Als Beispiele seien Franz von Mendelssohn, Dr. Otto Frentzel und Eduard Hamm genannt. Franz von Mendelssohn (Bankier) war ab 1906 Mitglied im Deutschen Handelstag und von 1921 bis 1931 dessen Präsident. Von 1913 bis 1918 war er Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Dr. Otto Frentzel war von 1918–21 Präsident des DIHT und wurde 1918 zum Vizepräsidenten der verfassungsgebenden preußischen Nationalversammlung gewählt. Bevor Eduard Hamm von 1925 bis 1933 als geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des DIHT agierte, war er als Minister in Bayern, Staatssekretär in der Reichskanzlei und Reichswirtschaftsminister tätig. (Vgl. Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 30). 14 15 16 17
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rückte während der Weimarer Republik in den Hintergrund und die politische Funktion des DIHT wurde augenscheinlich. Anfang der 1930er Jahre führte die schlechte wirtschaftliche Lage zu großer Unsicherheit, was auch zu einem veränderten Auftreten des Handelstages führte und zu einer Abnahme des repräsentativen Charakters der Versammlungen des Handelstages.22 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erklärte der DIHT in einem Vorstandsprotokoll bereits im März 1933, dass dieser den Wunsch hege „auch der gegenwärtigen Regierung mit derselben Bereitwilligkeit wie der bisherigen zur Mitarbeit in gutachterlichen Fragen gegenüberzutreten“23. Ende April 1933 trat der Vorstand des DIHT zurück und regimetreue Gefolgsleute ergänzten das Präsidium.24 Dr. Theodor Adrian von Renteln, Reichsführer des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes, wurde neuer Präsident des Handelstages. Die 53. Vollversammlung am 22. Juni 1933 glich einer „Parteikundgebung des Dritten Reiches“25 und der Handelstag konnte keine eigenständige politische und wirtschaftliche Funktion mehr ausüben. Als der Handelstag im Januar 1935 in der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern in der Reichswirtschaftskammer aufging, verlor dieser schließlich seine organisatorische Selbstständigkeit. Während des Nationalsozialismus ist eine Kooperation der regionalen Kammern mit den staatlichen Institutionen erkennbar, mit der jedoch eine politische Instrumentalisierung einherging. Ralf Stremmel beschreibt das Verhalten der Kammern in dieser Zeit als eine „Kosten-Nutzen-Abwägung“26. So sei die Kammerarbeit weder von Konfrontation mit dem Staat noch der bedingungslosen Unterwerfung unter dessen Ziele gekennzeichnet. Mit der Einführung des Führerprinzips und der Unterstellung unter die Aufsicht des Reichswirtschaftsministers, begann einerseits eine Herabsetzung der selbstständigen Arbeit und die Kammern wurden in immer stärkerem Maße zum Vollzugsorgan staatlicher Wirtschaftspolitik, andererseits versuchten sie, ihre Vorhaben mit den neuen Instrumenten der Wirtschaftspolitik zu erreichen. Der Staat verfolgte während der NS-Zeit die Intention möglichst viele Verwaltungsaufgaben auf Selbstverwaltungskörperschaften zu übertragen und sich auf die Führungsaufgaben zu beschränken.27 Auch wenn die Mitarbeit der Kammern an Gesetzgebungsverfahren seit 1933 zurückging, gab es Ausnahmen. So beruhten beispielsweise die Stellungnahmen der Kammern in den Kontroversen um das Aktienrecht nicht auf Anfragen der Regierung oder der Partei, sondern auf Eigeninitiative.28 Im Falle des Aktienrechts korrespondierte 22 Vgl. ebd., S. 68. 23 Zit. nach Vorstandsprotokoll, 01.03.1933, in: Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag,
S. 69. 24 Vgl. DIHT, Zeugnisse der Zeit, S. 55. 25 Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 69. 26 Stremmel, Kammern der gewerblichen Wirtschaft im „Dritten Reich“, S. 578. 27 Vgl. 7.4.1943, in: Bundesarchiv (= BArch), R-8034-II-3897 und 25.[4].1943, in: BArch, R-11–28. 28 Vgl. Stremmel, Kammern der gewerblichen Wirtschaft im „Dritten Reich“, S. 328.
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die Auffassung der Kammern mit der Haltung des Reichswirtschaftsministeriums, sodass diese Interessenidentität zu einer Kooperation und einem entscheidenden Einfluss auf den Gesetzentwurf führte. Nach der Gründung des DIHT in der Bundesrepublik konnte der Handelstag wieder seiner eigenständigen Arbeit nachkommen und der Kontakt zu den politischen Instanzen wurde regelmäßig gesucht. Es kam zu zahlreichen öffentlichen und nicht öffentlichen Besprechungen zwischen Vertretern des Handelstages und Politikern oder behördlichen Mitarbeitern und zur mitunter aktiven Teilnahme dieses Personenkreises auf Versammlungen des Handelstages.29 So zog sich der Vorwurf, „[a]us der Tagung eines wirtschaftspolitischen Gremiums war eine Zusammenkunft von Parteipolitikern geworden“30 und der Handelstag sei ein „Propaganda- und Exekutivapparat des Bundeswirtschaftsministeriums“31 bis in die Bundesrepublik, als auf der öffentlichen Kundgebung im Vorfeld einer Vollversammlung im Jahre 1953 zahlreiche Bundespolitiker sprachen. In diesem Fall war die zeitliche Nähe zu der im September 1953 stattfindenden Bundestagswahl brisant, weswegen aufgrund zahlreicher Kritiken Konsequenzen gezogen wurden. Auch wenn trotzdem Bundespolitiker vertreten waren, fand die Volltagung im darauffolgenden Jahr weniger öffentlichkeitswirksam statt. Die Vollversammlungen verdeutlichen in knapper Form das lang gewachsene Verhältnis des Staates bzw. der staatlichen Verwaltung zur Spitzenorganisation der IHK’n. Daran wird deutlich, dass sich dieses Verhältnis nicht nur in der Gesetzesarbeit manifestiert, sondern auch außerhalb der Verwaltungstätigkeit deutlich wird.
III. Die Diskussionen zum Kammerrecht bis zum Bundeskammergesetz 1956 Ein bundeseinheitliches Kammerrecht gab es nach Kriegsende 1945 nicht. Die Kammern wurden in den Besatzungszonen in unterschiedlicher Gestalt reaktiviert.32 Die Diskussionen um die Gestaltung des Kammerrechts begannen noch
29 Beispielhaft seien genannt: Besprechung mit Herrn Rechtsanwalt Kattenstroth im BWMi,
20.6.1952; Telefonisches Gespräch mit Herrn Dr. Kattenstroth, 06.06.1952; Besprechung mit Herrn Oberregierungsrat Dr. Seibt, 8.5.1952; Besprechung mit Herrn Bundeswirtschaftsminister Erhard, 11.1.1952, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (= RWWA), 181-230-1. Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses des DIHT, 27.11.1951, in: RWWA, 181-2293-4. 30 Handelskammern im Dienst der Adenauer-Kampagne, in: Neuer Vorwärts, 3.7.1953, in: RWWA, 181-231-3. 31 Ebd. 32 In der französischen Besatzungszone wurden die Kammern als Körperschaften öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft wiedererrichtet. Im Gegensatz dazu waren die Kammern in der amerikanischen Zone privatrechtliche Vereinigungen mit freiwilliger Mitgliedschaft ohne hoheitliche Befugnisse. In der britischen Zone wurden die Kammern erst auf freiwilliger Basis aufgebaut. Doch bereits wenige Monate später war nur noch die Zwangsbeitreibung von Beiträgen untersagt und die Kammern wurden wie Körperschaften öffentlichen Rechts mit Pflichtmit-
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vor der Neuformierung des Handelstages in den Länderarbeitsgemeinschaften und in den einzelnen Kammern.33 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen die einzelnen IHK’n bereits sehr früh ihre Tätigkeit wieder auf. Auch wenn die Kammern von 1942 bis 1945 in ihrer eigentlichen Gestalt nicht existierten, bestanden ihre Netzwerke weiter und konnten nach Kriegsende meist auf Grundlage der Ländergesetze der Weimarer Republik wiedererrichtet werden.34 Erste Bestrebungen zum Errichten einer zonalen Vereinigung gab es in der britischen Besatzungszone. Schon im Juli 1945 fanden sich dort einige Kammern zusammen und im März 1946 wurde die „Vereinigung der Industrie- und Handelskammern der britischen Besatzungszone“ mit dem Kölner Kammerpräsidenten Robert Pferdmenges als ersten Vorsitzenden von der Militärregierung genehmigt.35 Nach Bildung der Bizone kam es im Dezember 1947 zur Gründung einer zonenübergreifenden Vereinigung, der „Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ mit den Kammern der britischen und amerikanischen Besatzungszone. Im Oktober 1949 wurden die Kammern der französischen Zone im bizonalen Spitzenverband aufgenommen und es kam schließlich zur Wiederrichtung des DIHT. Bei den Kontroversen zum zukünftigen Kammerrecht wurden zwei Positionen grundlegend diskutiert. Zum einen wurde darüber verhandelt, ob die Kammern, wie vor 1933, als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft reorganisiert werden sollen oder zum anderen, ob ein freiwilliger Zusammenschluss, wie er in der amerikanischen Besatzungszone realisiert wurde, die Basis der zukünftigen Kammerorganisation sein soll.36 Bei beiden Positionen spielte die Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach paritätisch besetzten gliedschaft behandelt. Die gesetzliche Grundlage fehlte, außer in Schleswig-Holstein (23.2.1954) und Hamburg (27.2.1956). (Vgl. Will, Selbstverwaltung, S. 353–363). 33 Am Anfang stand die Frage der Rechtsnachfolge im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, aber auch die Frage, ob das Handelskammerrecht der Länder- oder Bundesgesetzgebung zuzuordnen sei. Zahlreiche Gutachten wurden in Auftrag gegeben, um diese Streitsache zu klären. Die Auseinandersetzung wurde von Beginn an mit großem Engagement geführt und mit dem Einsatz aller Mittel. So gab die Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Vereinigten Wirtschaftsgebietes beispielsweise im Juni 1949 ein Gutachten bei Herrn Prof. Ipsen in Auftrag, welcher prüfen sollte, ob das Kammerrecht Landes- oder Bundesrecht sei. In diesem Auftrag wurde festgehalten, dass Prof. Ipsen im Falle eines positiven Gutachtens 3000,– DM Lohn erhalten würde. Im anderen Falle, falls „Prof. Ipsen nicht in der Lage ist, sich der Ansicht der Industrie- und Handelskammern anzuschließen, soll eine seinem Arbeitsaufwand angemessene Vergütung noch vereinbart werden.“ (Vgl. Vermerk, 13.6.1949, in: RWWA, 181-230-1). 34 Vgl. Gehlen, Die Industrie- und Handelskammern, S. 53. 35 Vgl. Schäfer, Der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 78. 36 Vgl. u. a. Notiz über Ergebnis der Besprechung mit Herrn Dr. Kattenstroth (BWM) und Herrn Dr. Beyer (DIHT) über die Frage des Kammerrechts, 28.11.1950, in: RWWA, 181-230-1. Nach Kriegsende agierten die Kammern als „wirtschaftspolitische Koordinationsgremien“, weshalb in der unmittelbaren Nachkriegszeit zusätzlich zu den zwei obengenannten Punkten diskutiert wurde, ob die Kammern als Organe der staatlichen Wirtschaftsverwaltung eingerichtet werden sollten. (Gehlen, Die Industrie- und Handelskammern, S. 53).
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Kammern eine entscheidende Rolle. Darüber herrschte zwischen dem Handelstag, den Gewerkschaften und den verschiedenen Parteien große Uneinigkeit. Aber auch die Kammern und der DIHT verfolgten zeitweise keine einheitliche Linie.37 Die Ablehnung jeglicher Arbeitnehmerbeteiligungen in den Kammern wurde von Anfang an deutlich gemacht. Frühzeitig setzten sich die einzelnen IHK’n, später die vereinigten Arbeitsgemeinschaften und schließlich ab 1949 der DIHT dafür ein, dass die Kammern reine Unternehmervertretungen bleiben sollten.38 In den frühen Entwürfen des Handelstages kamen bereits sowohl die Ablehnung jeglicher Arbeitnehmerbeteiligung als auch die Verteidigung der Pflichtmitgliedschaft zum Ausdruck. Die Vorarbeiten für die Gestaltung des Kammerrechts begannen bereits 1948, gerieten aber ins Stocken39, da mit dem Erlass eines Kammergesetzes durch den Wirtschafsrat nicht zu rechnen war. Kurz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland forderte der Handelstag von der Bundesregierung ein Bundesgesetz zur Regelung des Kammerrechts.40 Die Kammerrechtskommission des DIHT hatte bereits einen Entwurf zum Bundesrahmengesetz über die IHK’n ausgearbeitet, welcher als Grundlage für die Verhandlungen galt.41 Die Bundesregierung war jedoch „der Auffassung, dass die Regelung der Kammerfrage nicht ein Problem allererster Ordnung“42 sei. Während sich Wirtschaftsminister Ludwig Erhard anfänglich ebenso wie der DIHT ganz eindeutig gegen die Arbeitnehmerbeteiligung an den Kammern aussprach, versuchte die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer das Problem vorerst von sich zu weisen, indem Adenauer die Sozialpartner aufforderte, in der Frage der überbetrieblichen Mitbestimmung selbst eine Einigung zu erzielen, bevor der Gesetzgebungsprozess in den politischen Instanzen offiziell eingeleitet werden würde.43 Die Gewerkschaften waren der Meinung, die Kammern seien zu stark von Unternehmerinteressen geprägt und forderten daher paritätisch besetzte Kammern. Der DIHT positionierte sich strikt gegen paritätische Kammern und äußerte zu diesem Zeitpunkt den Kompromiss, dass er für den Erhalt reiner Unternehmerkammern auf die
37 Beispielsweise führte die IHK Bremen eine Zeit lang eine Diskussion mit dem Handelstag, in
der sie hinsichtlich des zukünftigen Kammerrechts die Einführung der freiwilligen Mitgliedschaft verteidigte. (Vgl. Brief IHK Bremen an DIHT: Entwurf eines Kammergesetzes, 11.8.1955, in: RWWA, 181-230-2). 38 Vgl. Vermerk über die Ergebnisse der Beratungen der Kammerrechtskommission des DIHT, 9.11./17.11.1949, in: RWWA, 181-230-2 39 Vgl. Vermerk, 13.6.1949, in: RWWA, 181-230-1. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Hauptausschusssitzung, 14.12.1949, in: ebd. 42 Niederschrift über die Sitzung der Kammerrechts-Kommission, 9.11.1949, in: RWWA, 181231-3. 43 Vgl. ebd. und 8.2.1950, in: RWWA, 181-2294-2. 1950 fanden die Hattenheimer Gespräche zwischen dem Bundesverband der Industrie (BDI), der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des DIHT mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) über die Mitbestimmung statt.
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Hoheitsfunktionen verzichten würde.44 Grundsätzlich vertrat der DIHT zwar die Meinung, dass „[d]er Arbeitnehmerschaft […] das gleiche Recht zur Begutachtung und Interessenwahrung in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten zu[stehe] wie der Unternehmerschaft“45. In diesem Sinne stand der DIHT einer gesetzlichen Verankerung gemeinsamer Beratungen der Unternehmer- und Arbeitnehmervertretungen positiv gegenüber, wollte jedoch eine Überschneidung der Aufgaben strikt vermeiden. Die Idee der paritätischen Zusammenarbeit der Sozialpartner wurde nur außerhalb der Kammern in Form von Bezirkswirtschaftsräten oder -ausschüssen, bestehend aus Vertretern der Kammern, der übrigen Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften, begrüßt. Wirtschaftsminister Erhard hielt „es [jedoch] für ausgeschlossen, den Industrie- und Handelskammern die öffentlichrechtlichen Eigenschaften und die Pflichtmitgliedschaft zu erhalten“46. Die Diskrepanzen zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem DIHT, aber auch zwischen dem DIHT und den einzelnen IHK’n, welche „ihre Interessen […] nicht in ihrem Sinne vertreten“47 sahen, wurden offensichtlich und schienen vorerst unüberwindbar, sodass der DIHT „[d]ie Zeit für die Bearbeitung der Öffentlichkeit, der Ministerien und der Parlamentarier [für] gekommen“48 ansah. Im Sommer 1950 wurde der DIHT selbst aktiv und initiierte den ErbslöhAusschuss unter dem Vorsitz des Präsidenten der IHK Wiesbaden Siegfried Erbslöh, der die Ausarbeitung eines Bundesrahmengesetzes für ein Kammerrecht „‚alten Stils‘“49 maßgeblich forcieren sollte.50 Die von der Kommission unter Präsident Erbslöh ausgearbeiteten Gesetzentwürfe zum Kammerrecht wurden am 15. November 1950 von der Vollversammlung des DIHT einstimmig genehmigt.51 Die Entwürfe sollten daran anschließend dem Bundeswirtschaftsministerium und zu gegebener Zeit den parlamentarischen Stellen sowie der Öffentlichkeit vorgelegt werden.52 Etwa zeitgleich, im November 1950, wurde entgegen des Willens des Bundeswirtschaftsministeriums ein veralteter Entwurf des Kammergesetzes veröffentlicht, welcher Anlass für eine Besprechung zwischen Ministerium und
Vgl. Juni 1950, in: ebd. Niederschrift über die Vollversammlung des DIHT, 28.11.1951, in: RWWA, 181-2293-4. 12.9.1950, in: RWWA, 181-2294-2. Ebd. Aus den Kammerkreisen wurde Kritik laut, dass es „der DIHT […] an Energie bei der Verfolgung der ‚Pflichtmitgliedschaft‘ fehlen lasse“. (Stellungnahme zum Schreiben der Handelskammer Bremen an den DIHT, 11.8.1955, in: RWWA, 181-230-2). 48 12.9.1950, in: RWWA, 181-2294-2. 49 RWWA, 181-230-2. 50 Vgl. Stellungnahme zum Schreiben der Handelskammer Bremen an den DIHT, 11.8.1955, in: ebd. 51 Der Ausschuss unter Siegfried Erbslöh arbeitete zwei Gesetzentwürfe aus. Entwurf A: Bundesrahmengesetz IHK’n und Entwurf B: Musterlandesgesetz über IHK’n zur Durchführung Bundesrahmengesetz. 52 Vgl. Brief DIHT an die Mitglieder des Gemeinschaftsausschusses, 21.11.1950 und Vgl. DIHT an die Mitgliedskammern, 28.11.1950, in: RWWA, 181-230-1. 44 45 46 47
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Handelstag war.53 In dieser Besprechung erklärte Ludwig Kattenstroth, Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums, dass die Regierung eine Wirtschaftsdemokratie ablehne und sich somit auch keine paritätischen Kammern wünsche. Das Ministerium plädiere für die Gestaltung der Kammern in Form von Vereinen. Im Gegensatz zu Erhard stand Kattenstroth der Pflichtmitgliedschaft nicht ablehnend gegenüber. Kattenstroth ließ verkünden, dass das Ministerium gewillt sei, Gespräche mit dem DIHT zum Kammerrecht aufzunehmen, wobei reine Unternehmerorganisationen auf Basis freiwilliger Mitgliedschaften die Grundlage der Verhandlungen bilden sollten. Bereits wenige Tage danach fand eine Besprechung zwischen dem DIHT-Vorstandsmitglied Paul Beyer und dem Hauptgeschäftsführer des DIHT Gerhard Frentzel mit dem Bundeswirtschaftsministerium über die weitere Behandlung der vom Handelstag beschlossenen Gesetzentwürfe zum Kammerrecht statt. Wiederholt wurde von Seiten des Wirtschaftsministeriums betont, dass „möglichst bald […] eine Erörterung mit dem DIHT über dessen Auffassung“54 stattfinden werde. Ebenso wurde der DIHT darauf hingewiesen, dass die Arbeiten am Gesetz noch nicht über Referentenentwürfe hinaus gekommen seien und das Ministerium sich „für reine Unternehmerorganisationen […] auf Grundlage freiwilliger Mitgliedschaft“55 ausspreche. Damit vertrat das Ministerium denselben Standpunkt, welchen die amerikanische Besatzungszone gegenüber der Gestaltung des Kammerrechts eingenommen hatte. Für die gesetzliche Verankerung der Pflichtmitgliedschaft ließ Erhard nach wie vor kein Diskussionsspielraum, da das Bundeswirtschaftsministerium alles vermeiden wollte was nach Lenkung aussah.56 Das Bundeswirtschaftsministerium und der DIHT standen in ständiger Verbindung, sodass der Handelstag in zahlreichen Besprechungen die Gelegenheit bekam, seine Gründe für die Pflichtmitgliedschaft vorzutragen. Im Laufe der Zeit entstand so der „Eindruck, dass das Schwergewicht dieser Gründe grundsätzlich anerkannt [wurde], dass für das Ministerium [jedoch] die politischen Schwierigkeiten für die Verwirklichung dieser Forderung stark im Vordergrund“57 standen. Ein Fortschritt konnte hinsichtlich der Zusammenarbeit der Sozialpartner in paritätischen Gremien verzeichnet werden. Ministerium und DIHT waren dahingehend einer Meinung, dass „paritätische Gremien außerhalb der IHK’n auf einer möglichst der Landesebene entsprechenden Plattform zu geschehen“58 habe, sodass das Ministerium dem eingereichten Gesetzentwurf in seinen Grundzügen zustimmte. 53 Vgl. Notiz über Ergebnis der Besprechung mit Herrn Dr. Kattenstroth vom Bundeswirt-
schaftsministerium, Bonn, über die Frage des Kammerrechts, 28.11.1950, in: ebd. 54 Notiz über Ergebnis der Besprechung mit Herrn Dr. Kattenstroth vom Bundeswirtschaftsministerium, Bonn, über die Frage des Kammerrechts, 28.11.1950, in: RWWA, 181-230-1. 55 Ebd. 56 Vgl. Niederschrift über die Referentenbesprechung des DIHT, 10.1.1951, in: RWWA, 1812294-2. 57 Vgl. Brief DIHT an die Mitgliedskammern, 1.2.1951, in: ebd. 58 Ebd.
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Nachdem lange Zeit keine Ergebnisse beim Kammerrecht erzielt werden konnten, forcierte der DIHT seine Aktivität auf Bundesebene, konkret die Fühlungnahme mit den Ministerien, als der hessischen Landesregierung von Seiten der Arbeitsgemeinschaft der hessischen Industrie- und Handelskammern ein Entwurf für ein Kammergesetz zugeleitet worden war, welcher in den hessischen Landtag eingebracht werden sollte. Zunächst wurde eine Unterhaltung mit Bundeskanzler Adenauer anberaumt, in welcher dieser seine konkreten Gründe für das langsame Vorgehen hinsichtlich des Kammerrechts darlegte.59 Adenauer ging zum einen davon aus, dass er die Gewerkschaften mit dem Zugeständnis eines Bundeswirtschaftsrates zufrieden stellen könne und zum anderen hoffte er, dass „die Frage des Kammerrechts zum mindesten bis zu einem Zeitpunkt hinausgeschoben werden könne, an dem er seine sonstigen speziell außenpolitischen Pläne würde unter Dach habe bringen können“60. Die gesetzlichen Bestrebungen in Hessen und die Verschärfung der Diskussion ließen ihn erkennen, dass sich engagierter dafür eingesetzt werden müsste ein Kammergesetz zu schaffen. Daraufhin wurde Staatssekretär Ludger Westrick im Bundeswirtschaftsministerium damit beauftragt, „sich nunmehr eingehend mit der Frage eines Kammergesetzentwurfs zu beschäftigen“61. Nach langen Diskussionen setzte Erhard durch, dass ein Gesetzentwurf ausgearbeitet werden sollte, welcher die rechtliche Situation der Kammern in der amerikanischen Besatzungszone als Grundlage haben sollte. Die Befürchtungen, dass sich die „Kammer alten Stils“ mit der vehement geforderten Pflichtmitgliedschaft und der Struktur reiner Unternehmerkammern nicht durchsetzen lassen würden, waren so groß, dass andere Lösungswege und neue Wege der Zusammenarbeit der Sozialpartner erörtert wurden. So schlug unter anderem die Erbslöh-Kommission die Schaffung einer Arbeitnehmerkammer als selbstständige Organisation zu den weiterhin bestehenden IHK’n vor. Erhard lehnte diesen Vorschlag im Gegensatz zu fast allen Diskussionsrednern ab, versprach jedoch, „dieses Problem sehr eingehend durchzuprüfen“62. Bundeskanzler Adenauer und einige ihm nahestehende Herren zeigten „sich für diesen Gedanken durchaus aufgeschlossen“63 und baten um nähere Informationen. Der Forderung der Kammern nach einer Besprechung mit Wirtschaftsminister Erhard kam dieser nach. Einen Tag vor der Vollversammlung fand am 27. November 1951 eine vertrauliche Sitzung des Hauptausschusses 59 Des Weiteren fanden Besprechungen im Kabinett zum Kammerrecht statt, die ein ähnliches
Meinungsbild wie die Fraktionen des Bundestages widerspiegelten. Während der Vizekanzler „durchaus Verständnis für die Frage der Kammer alten Stils mit Pflichtmitgliedschaft“ hatte, vertraten Vertreter der CDU/CSU die Meinung, dass „es die politische Situation nicht vertrage, mit einem Kammerproblem alten Stils belastet zu werden“. (Niederschrift über die Vollversammlung des DIHT, 28.11.1951, in: RWWA, 181-2293-4). 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd.
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des Handelstages mit Wirtschaftsminister Erhard sowie Ludwig Kattenstroth und Dankmar Seibt vom Bundeswirtschaftsministerium in Bonn statt, auf welcher die Verbindung des Wirtschaftsministeriums zum Deutschen Industrie- und Handelstag kurz charakterisiert wurde. Wir alle werden mit Dankbarkeit das heutige Zusammentreffen mit dem Herren Bundeswirtschaftsminister begrüßen, bei dem erstmals der stille, aber getreue Unterbau, der die Kammern seit Jahren für dies Ministerium ist für die Politik seines Leiters gewesen sind, in Erscheinung tritt, oft zu sehr nur der geheime Unterbau.64
Diskutiert wurde das Thema der Beibehaltung oder der Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft der Kammern, wobei sich der Handelstag auf die Seite der Pflichtmitgliedschaft schlug. Der Hauptausschuss des Handelstages verdeutlichte Erhard eindringlich die Forderung aller Kammern nach Pflichtmitgliedschaft und die Ablehnung paritätischer Kammern. Erhard betonte den Kammern gegenüber seine wohlgesonnene Haltung und „erklärte sich gewillt, die Kammern unter allen Umständen in ihrem alten Arbeitsbereich zu erhalten“65, wobei er nicht unerwähnt ließ, dass „bei einem selbstbewussten Unternehmertum, die freie Kammer vielleicht die Sympathischere sei“66, woraufhin der DIHT widersprach. Erhard hob während der Sitzung die gemeinsamen Standpunkte hervor und freute sich über das gemeinsame Ablehnen von paritätischen Bezirkswirtschaftskammern und betonte, dass alle zur Sitzung Anwesende die Kammern positiv beurteilen.67 Erhard vertrat die Meinung, dass den Kammern der öffentlich-rechtliche Status und damit die Pflichtmitgliedschaft nur zugestanden werden kann, wenn auf der anderen Seite Institutionen auf der Arbeitnehmerseite geschaffen werden. Erhard erkannte in solch einer Entwicklung große Gefahr und plädierte für die privatrechtliche Lösung. Wiederholt stellte er seinen großen Respekt für die Kammern heraus und verkündete seine Überzeugung, dass „die Bewährung der Industrieund Handelskammern so gross und ihre Existenz in der gewerblichen Wirtschaft so fest verankert ist, dass sie auch ohne den öffentlich-rechtlichen Charakter und ohne Pflichtmitgliedschaft bestehen könnten“68. Immer wieder warb er eindringlich für die Version der freien Kammern, versprach aber auch den Vorschlag „mit allem Ernst zu durchdenken und nach allen Richtungen zu prüfen“69 und legte dem DIHT nahe, dies auch zu tun. Nach Ansicht Erhards sei zuallererst die Frage zu beantworten, ob die Kammern hauptsächlich für die Regierung und den öffentlichen Sektor arbeiten oder die Kammern den Schwerpunkt ihrer Arbeit im
64 65 66 67 68 69
Hauptausschuss-Sitzung, 27.11.1951, in: RWWA, 181-2293-4. Niederschrift über die Vollversammlung des DIHT, 28.11.1951, in: ebd. Ebd. Vgl. Hauptausschuss-Sitzung, 27.11.1951, in: ebd. Ebd. Ebd.
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Dienst an der Wirtschaft selbst sehen.70 Im ersten Falle sehe Erhard „die Forderung der Gewerkschaften nach paritätischer Beteiligung gerechtfertigt“71. Dem DIHT wurde schließlich in den nächsten Monaten ein Gesetzentwurf über das Kammerrecht in Aussicht gestellt. Unerwähnt ließ der Hauptausschuss, dass der DIHT für den Erhalt der Unternehmerkammern „notfalls mit […] einer Konzeption der Kammer mit Vereinscharakter einverstanden“72 gewesen wäre und die Kammern auch die Ablehnung der Pflichtmitgliedschaft akzeptiert hätten. Im Dezember 1951 fand eine Besprechung zwischen Vizekanzler Franz Blücher und Hans Wellhausen (FDP) sowie den DIHT-Vertretern Paul Beyer und Gerhard Frentzel statt. In dem Gespräch wurde die „lückenhafte Kenntnis [des DIHT] über den Referenten-Entwurf des Bundeswirtschaftsministeriums“73 betont. Der Minister Blücher, welcher das Prinzip der Pflichtmitgliedschaft verteidigte, gab dem DIHT den Rat, den Versuch zu unternehmen „in ganz präziser und einfacher Sprache den Herrn Bundeskanzler für die Pflichtmitgliedschaft zu gewinnen“74. Im Januar 1952 folgte eine Besprechung zwischen Präsident Dieter Schäfer und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, in der Schäfer zugab, „als Anhänger einer freien, auf echtem Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft auch Anhänger einer freien Kammerkonstitution“75 zu sein, er jedoch den Zeitpunkt als zu früh erachte und eine erneute Erörterung in 10 bis 15 Jahren vorschlagen würde. Erhard wiederum bestätigte, dass sie im Endziel vollständig einig wären [und auch] er an der heutigen Kammerkonstitution nicht rücken würde, wenn er nicht der festen Überzeugung wäre, daß der Hauptansturm der Gewerkschaften und damit der Sozialdemokratie heute auf die Kammern gerichtet würde, um dadurch außerhalb der Parlamente ein Instrument zu schaffen, durch das sie die Wirtschaft steuern könnten.76
Er befürchtete eine „Majorität für die Linksbestrebungen“77 und vertrat die Meinung, dass „man Kammern mit Pflichtmitgliedschaft nur gründen könne, wenn es sich um öffentlich-rechtliche Körperschaften handelte“78. Präsident Schäfer argumentierte, dass die Kammern als Instrument benötigt werden, „um die großen vor ihm liegenden Wirtschaftsaufgaben durchzuziehen (Antikartellgesetz)“79. Erhard
70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. ebd. Hauptausschuss-Sitzung, 27.11.1951, in: RWWA, 181-2293-4. Ebd. Aktennotiz, 18.12.1951, in: RWWA, 181-230-1. Ebd. Aktennotiz, 11.1.1952, in: ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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sei von den „Ausführungen sichtlich sehr stark beeindruckt“80 gewesen und bestätigte, dass er die drei Entwürfe zum Kammergesetz, die sein Ministerium vor kurzem herausgegeben hatte, zurückgezogen habe. Er vertröstete den Präsidenten des DIHT und versicherte ihm, dass er hinsichtlich der Kammerfrage nichts aktiv unternehmen und den Handelstag stets auf dem Laufenden halten werde. Präsident Schäfer stehe ihm wiederum jederzeit für eine mündliche Besprechung zur Verfügung. Während die Arbeit auf kammerrechtlichem Gebiet im Bundeswirtschaftsministerium stagnierte, verstärkte der DIHT die Bemühungen um eine schnellstmögliche Regelung des Kammerrechts. Im Jahr 1952 wird in zahlreichen persönlichen Gesprächen zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem DIHT die Kammerrechtslage erörtert und in vielen Briefen an das Wirtschaftsministerium macht der DIHT darauf aufmerksam, dass es unbedingt erforderlich sei, gesetzgeberische Maßnahmen auf Bundesebene beschleunigt zu fördern.81 Erhards kammerrechtliche Konzeption unterlag keiner Veränderung und näherte sich nicht der Auffassung des Handelstages an. Erhard versprach während eines Gespräches mit Präsident Schäfer wiederholt, dass im Bundeswirtschaftsministerium keine Behandlung des Kammerrechts ohne vorherige persönliche Absprache mit Präsident Schäfer oder der Geschäftsleitung des DIHT erfolgen würde.82 Zurzeit erfolge jedoch keine Bearbeitung, sodass ein Kontakt nicht nötig sei. Da für Erhard die „Angelegenheit nicht eilbedürftig“83 war, wurde der Gesetzgebungsprozess regelmässig unterbrochen. Erst die immer konkreter werdenden Länderinitiativen hinsichtlich der Regelung des Kammerrechts ließen Erhard schließlich erkennen, dass gesetzgeberische Maßnahmen auf Bundesebene ergriffen werden mussten, vorausgesetzt eine breite Mehrheit unterstütze die Konzeption.84 Erhards eigenem Vorschlag der privatrechtlichen Kammern, welche vom Handelstag stets abgelehnt wurden, rechnete er die größtmögliche Chance auf Realisierung aus. Als Alternative schlug Erhard ein Übergangsgesetz im Sinne des Handelstages vor, distanzierte sich allerdings sofort davon, selbst die Initiative dafür zu ergreifen. In dieser stagnierenden Situation fand kurz vor der Bundestagswahl im September 1953 die jährliche Vollversammlung des Handelstages statt. Auf der im
80 Ebd. 81 Gespräch zwischen Oberregierungsrat Seibt und Dr. Paul Beyer, 8.5.1952; Gespräch zwischen
Präsident Schäfer und Bundeswirtschaftsminister Erhard, 28.5.1952; Telefongespräch zwischen Dr. Kattenstroth (BMWi) und Dr. Paul Beyer (DIHT), 6.6.1952, Gespräch Dr. Kattenstroth (BMWi) und Dr. Paul Beyer (DIHT), 20.6.1952; Brief DIHT an Erhard, 28.10.1952, in: RWWA, 181-230-1 und 181-2294-3. 82 Vgl. Niederschrift über die Volltagung des DIHT, 28.5.1952, in: ebd. 83 Aktennotiz über ein telefonisches Gespräch mit Herrn Dr. Kattenstroth, 6.6.1952, in: ebd. 84 Vgl. Brief Dr. Ludwig Erhard an Dr. Paul Beyer (DIHT), 22.1.1953, in: ebd.
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Vorfeld stattfindenden öffentlichen Kundgebung sprachen zahlreiche Politiker85, was die Presse als eine „offene […] Demonstration für die Regierungsparteien“86 wertete. „Aus der Tagung eines wirtschaftspolitischen Gremiums war eine Zusammenkunft von Parteipolitikern geworden.“87 In einem internen Schreiben wies der Handelstag selbst darauf hin, dass die wirtschaftspolitische Kundgebung „auch im Hinblick auf die damals bevorstehenden Wahlen zum Bundestag […] veranstaltet“88 wurde. Die Presse diffamierte den Handelstag als „Propagandaund Exekutivapparat des Bundeswirtschaftsministeriums“89 und sie registrierte eine „Politisierung des Kammerwesens“90. Um eine gesetzliche Verankerung der Pflichtmitgliedschaft zu erreichen, scheue der DIHT nicht davor, „der Regierung als Gegenleistung den eigenen Apparat zur Propagierung und Durchsetzung der derzeitigen Bundeswirtschaftspolitik zu offerieren“91. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob der DIHT mit seinen Kammern Diener der Wirtschaft oder Diener der Wirtschaftspolitik sei. Nach der Bundestagswahl am 6. September 1953 kam es zur Fortsetzung einer Koalition aus CDU/CSU, FDP und DP, obwohl Adenauer für eine Mehrheit nur einen Koalitionspartner benötigte. Erweitert wurde die Koalition schließlich noch um den Bund der Heimatvertriebenen & Entrechteten (BHE). Insgesamt konnte die Regierung unter Adenauer damit über eine 2/3 Mehrheit verfügen. Nach der Bundestagswahl wurde Ende September 1953 in einer Sitzung des Hauptausschusses das weitere Vorgehen des Handelstages besprochen. Der DIHT war um Einfluss bemüht, sodass er Adenauer und den Ressortministern einen Vorschlag für die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vorlegte, der beinhaltete, wie Adenauer bestimmte wirtschaftspolitische Probleme in der Regierungserklärung behandeln sollte.92 Für den Handelstag kam es nach der Wahl „sehr wesentlich darauf an, daß die Ausschüsse durch Männer besetzt werden, die die Sprache der Wirtschaft verstehen und die Nöte der Wirtschaft kennen“93. Der DIHT besprach bereits zu diesem Zeitpunkt eine Strategie, falls die CDU/CSU bei den nächsten 85 Es sprachen u. a. Minister Heinrich Hellwege (DP), Minister Ludwig Erhard (CDU) und der
Präsident des Deutschen Bundestages Hermann Ehlers (CDU). Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Adenauer ließen Grußworte verlesen. (Vgl. Niederschrift über die außerordentliche Volltagung des DIHT in Hannover, 8.6.1953 und Öffentliche Kundgebung zur Jahrestagung des DIHT, 9.6.1953, in: RWWA, 181-2293-3. 86 Handelskammern im Dienst der Adenauer-Kampagne, in: Neuer Vorwärts, 3.7.1953, in: RWWA, 181-231-3. 87 Ebd. 88 Brief DIHT an IHK’n, 15.2.1954, in: RWWA, 181-2293-3. 89 Handelskammern im Dienst der Adenauer-Kampagne, in: Neuer Vorwärts, 3.7.1953, in: RWWA, 181-231-3. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses des DIHT, 25.9.1953, in: RWWA, 181-2293-3. 93 Ebd.
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Wahlen an Stärke verlieren sollte und verdeutlichte aus diesem Grund die Relevanz auch mit anderen Parteien in Kontakt zu treten und einen Ausgleich zu finden.94 Nachdem die Arbeiten am Kammergesetz in den Jahren 1952 und 1953 zum Erliegen gekommen sind, sollte das Bemühen zur Schaffung einer rechtlichen Regelung wieder aufgenommen werden. Eine Annäherung war jedoch nicht abzusehen. Der DIHT wiedersprach weiterhin vehement Erhards Auffassung, das nur freie Kammern reine Unternehmerkammern bleiben können. Im Januar 1954 kam in der Hinsicht Bewegung in die Diskussion, dass sich Erhard nicht mehr der öffentlich-rechtlichen Kammerregelung verschloss.95 Die ursprünglich im Wirtschaftsministerium geäußerten Bedenken wurden nicht mehr in den Vordergrund gestellt. Allerdings stagnierte weiterhin das konkrete Handeln, denn Erhard konnte sich immer noch nicht durchringen, zu diesem Zeitpunkt ein Gesetz zum Kammerrecht zu verantworten. Er befürchtete ein Wiederaufleben der Diskussion um einen Bundeswirtschaftsrat und plädierte dafür, „dass mit der Einbringung eines Kammergesetzes noch einige Zeit gewartet werden sollte, bis sich neue Erfolge der Marktwirtschaft abzeichneten, so dass das Interesse für Mitbestimmungsfragen noch weiter in den Hintergrund trete“96. Handlungsbedarf für ein Übergangsgesetz sah er nur, wenn die Länder die Initiative ergreifen würden. Erst im September 1954 kam es in einer Besprechung zwischen Bundeswirtschaftsminister Erhard und Paul Beyer sowie Gerhard Frentzel vom Handelstag zu 94 Diese Aufgabe fiel dem Gemeinschaftsausschuss zu, dessen Mitglieder auch gleichzeitig Mit-
glieder des Zentralkuratoriums waren. Das Zentralkuratorium hat während des Wahlkampfes für die Bundestagswahl 1953 Einfluss auf die Tätigkeit der in allen Ländern gegründeten Fördergesellschaften genommen. Diese Fördergesellschaften haben wiederum in einer ganzen Reihe von anderen Ländern Wahlkämpfe zwischen den Parteien der Koalitionen verhindern können und haben Vereinbarungen ermöglicht, die dahin geführt haben, dass die Koalitionsparteien mehr Mandate bekommen haben, als es sonst der Fall gewesen wäre. (Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses des DIHT, 25.9.1953, in: RWWA, 181-2293-3). Das Zentralkuratorium der Fördergesellschaften mit Sitz in Köln entstand auf Initiative von CDU, FDP, DP und der Wirtschaft im Frühjahr 1952 auf Bundesebene und unterstützte die Regierungsparteien. Auf der Länderebene gab es einzelne Fördergesellschaften. Ihr Ziel war die Sicherung des wirtschaftspolitischen Kurses der Bundesregierung. 95 Vgl. Aktennotiz über eine Besprechung im BMWi, 14.1.1954, in: RWWA, 181-230-2 und Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses des DIHT, 5.2.1954, in: RWWA, 181-2293-3. 96 Aktennotiz über eine Besprechung im BMWi, 14.1.1954, in: RWWA, 181-230-2. Dr. Paul Beyer erinnerte Erhard an eine Besprechung im Sommer 1952, in der Erhard die Einbringung eines Gesetzentwurfs nach der Verabschiedung des EVG-Vertrages versprach. „Wegen der Frage der Gestaltung des Kammerrechts auf Bundesebene haben wir besprochen, das es zweckmässig erscheine, nach Inkrafttreten des Generalvertrages ein Gesetz herauszubringen, durch das die zu beseitigende Besatzungsgesetzgebung in umfassender Weise aufgehoben wird.“ (Vgl. Aktennotiz über eine Besprechung mit Herrn Rechtsanwalt Kattenstroth im BMWi, 20.6.1952, in: RWWA, 181-230-1) Nachdem Erhard daran erinnert wurde, bemerkte er erstmalig, „dass er nichts dagegen habe, dass den Kammern die Eigenschaft öffentlich rechtlicher Körperschaften wieder zugebilligt werde“ (Aktennotiz über eine Besprechung im BMWi, 14.1.1954, in: RWWA, 181-230-2). Allerdings vertröstete er wieder einmal mit dem Argument, dass der Zeitpunkt für die Durchsetzung dieser Regelung nicht günstig sei.
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neuen Ergebnissen. Erhard sah sich nach langer Zeit der ergebnislosen Diskussionen dazu bereit, ein Bundeskammergesetz innerhalb der laufenden Legislaturperiode zu erlassen, obwohl für ihn die Befürchtung, die Kammerrechtsfrage würde in die Auseinandersetzung über das überbetriebliche Mitbestimmungsrecht hineingezogen werden, weiterhin präsent blieb.97 Er erklärte, dass „der Wunsch der Kammern, die öffentlich-rechtliche Eigenschaft im Rahmen eines Bundesgesetzes wieder zu erhalten, für ihn keine so wichtige Angelegenheit sei, daß er deshalb mit den deutschen Kammern in einen Konflikt kommen wolle“98. Erhard war mittlerweile dazu bereit, „den Gedanken des Bundeswirtschaftsrates so ‚auszudiskutieren‘, daß er von der Bildfläche verschwinde[…]“99. Falls die Durchsetzung des Gesetzes scheitern würde, sei ein Kammergesetz auf Basis freiwilliger Mitgliedschaft in dieser Legislaturperiode einzubringen. Handelstag und Wirtschaftsministerium blieben bei der Meinung, dass eine Arbeitnehmerbeteiligung in jedem Fall zu verhindern sei.100 Erhard erklärte sich „damit einverstanden, daß der Deutsche Industrie- und Handelstag von sich aus mit den Fraktionen des Bundestages eine Verständigung über die Einbringung eines Initiativgesetzes“101 herbeiführe. Dieser Empfehlung kam der Handelstag nach und er versuchte sich „eine Plattform in den Fraktionen der Koalition [für die Durchsetzung des Gesetzes zu] schaffen“102. Erhard bat lediglich um regelmäßigen Kontakt des Handelstages zum Ministerium, sodass er über alle weiteren Schritte informiert war.103 Erhard wollte „sich aufgrund der angespannten sozialpolitischen Situation mit zusätzlichen Konfliktmöglichkeiten nicht belasten“104 und nannte dies als Grund sich nicht für eine bundeseinheitliche Neuregelung des Kammerrechts einzusetzen, sondern dem Handelstag weiterhin die aktive Rolle zu überlassen. Erhard wies darauf hin, dass „es dem Deutschen Industrie- und Handelstag nicht zu verwehren ist, seine Interessen in der ihm geeignet scheinenden Weise zu vertreten, und daß es erst recht jedem Abgeordneten des Bundestages unbenommen bleibt, sich für eine Neuregelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern einzusetzen“105. In der Folgezeit erklärten sich einige Abgeordnete der CDU, CSU und weiterer Koalitionsparteien unter Führung von Herrn Prof. Böhm (CDU) bereit, im Herbst einen Initiativantrag zur Regelung des Kammerrechts einzubringen.106 In 97 Brief DIHT an die IHK’n, 30.4.1955, in: RWWA, 181-230-2. 98 Ergebnis einer Besprechung mit Erhard, 25.9.1954, in: ebd. 99 Ebd. 100 Vgl. ebd. 101 Brief DIHT an IHK’n, 30.4.1955, in: ebd. 102 Ebd. 103 Brief Ludwig Erhard an Dr. Paul Beyer, 14.6.1955, in: ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 DIHT an Vorstandsmitglieder, 8.8.1955, in: ebd. Im Januar 1955 fand eine Besprechung zwi-
schen Dr. Paul Beyer sowie Dr. Gerhard Frentzel und den Bundestagesabgeordneten Naegel und Prof. Böhm statt. Staatssekretär Strauß und Dr. Beyer initiierten ein Treffen, da sie der Auffassung waren, dass „gerade diese Herren besonders geeignet seien, um sich für die Wünsche des
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ständiger Absprache mit dem Bundeswirtschaftsministerium erörterte der DIHT auf Grundlage des Entwurfs aus dem Jahre 1950 eine Neufassung, welche die Abgeordneten bei der Formulierung des Initiativantrages unterstützen sollte.107 Die Beteiligung des Wirtschaftsministeriums an den Arbeiten zum Gesetzentwurf mussten streng geheim gehalten werden und das Ministerium durfte erst nach dem Druck des Antrages offiziell an der Mitarbeit beteiligt werden.108 Erhard verbat sich, dass nach außen hin erkennbar wurde, dass die Bearbeitung des Gesetzentwurfs im gegenseitigen Einvernehmen erfolgte.109 Die Lage blieb angespannt. Im Verlaufe des Sommers 1955 und konkret nach dem Erscheinen einer Pressenotiz in der FAZ im Oktober desselben Jahres über die Einbringung eines Kammergesetzes auf Bundesebene wurde die Befürchtung laut, dass sich Erhard innerhalb der Fraktion gegen einen Initiativantrag stellen würde, „da ihm irgendwelche gegnerische Einstellung zu den Gewerkschaften im Augenblick unerwünscht erscheint“110. Paul Beyer, Vorstandsmitglied des DIHT, DIHT einzusetzen“. Die beiden Abgeordneten schlossen sich der Meinung des DIHT an und plädierten für eine zügige Regelung des Kammerrechts und für den öffentlich-rechtlichen Status der Kammern mit Pflichtmitgliedschaft. Sie waren der Meinung, dass sich „der überwiegende Teil ihrer Fraktion [ebenfalls] für die öffentlich-rechtlichen Kammern aussprechen würde“. Skepsis herrschte darüber, wie wohl der linke Flügel der CDU dazu stehen würde. Böhm und Naegel sprachen sich gegen eine Kontaktaufnahme des DIHT zum linken Flügel der CDU aus und wollten selbst diese Aufgabe übernehmen. Der DIHT wiederum sollte Kontakt zu einigen geeigneten Vertretern der CSU aufnehmen. (Vermerk über eine Besprechung, 13.1.1955, in: RWWA, 181-230-2). 107 Ergebnisprotokoll über die Sitzung der Kammerrechtskommission, 14.7.1955, in: ebd. Die Grundlage für eine Erörterung bildete der von der Kammerrechtskommission erarbeitete und auf der Volltagung des DIHT verabschiedete Entwurf vom 15.11.1950. Dieser Entwurf des DIHT beschränkte sich bewusst auf die grundsätzlichen Regelungen „keine Arbeitnehmerbeteiligung, gesetzlich angeordnete Pflichtzugehörigkeit aller Gewerbetreibenden“ und wollte den Ländern die einzelnen Bestimmungen überlassen. Das Bundeswirtschaftsministerium stimmte diesem Entwurf grundsätzlich zu, sah aber „eine etwas eingehendere Regelung“ als erforderlich an. (Vgl. ebd.). 108 Brief DIHT an Wilhelm Naegel, 7.12.1955, in: ebd. 109 Vgl. Besprechung DIHT mit Ludwig Erhard, 29.4.1955, in: BArch, 156–14. 110 Brief Dr. Paul Beyer an Otto Vogel (Präsident der IHK Augsburg), in: RWWA, 181-230-2. Erhard äußerte sich zwischenzeitlich widersprüchlich. Im Etzel-Ausschuss (Unterausschuss des Bundesausschusses für Wirtschaftspolitik der CDU betreffend überbetriebliches Mitbestimmungsrecht) erklärte er, dass er für freiberufliche Kammern plädiere und sich dazu entschließen würde, ein Rahmengesetz zu formulieren. In einem Telefonat dazu informierte Dr. Beyer den Präsidenten Zwick, dass bereits ein Initiativantrag abgegeben wurde, wovon Zwick allerdings nichts wusste. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Erhard nur aufgrund des eingebrachten Initiativantrages zu einem Rahmengesetz äußerte. Auch in einer Sitzung des Mittelstandsausschusses Mitte Dezember 1955 wurde Erhards Einstellung als recht positiv beschrieben. Der Abgeordnete Naegel zeigte ihm während der Debatte eine Kopie des Initiativantrages und Erhard zeigte sich interessiert. Er vergewisserte sich, ob der Inhalt mit „seinem Hause abgestimmt wäre“ (Brief Wilhelm Naegel an Dr. Frentzel, 19.12.1955, in: ebd.). Als Reaktion auf die Bitte um wohlwollende Unterstützung nickte er beifällig und widersprach nicht. Er bestellte Kattenstroth und Jäkel (BMWi) für den 20. Dezember 1955 zum Vortrag und schien „es für nötig zu halten, seiner-
„DER GETREUE UNTERBAU?“
hatte „den Eindruck, dass er [Erhard], wenn er auf der politischen Ebene darauf angesprochen wird, sich von dem Initiativantrag distanzieren würde“111. Er befürchtete sogar eine Zustimmung Erhards zu paritätischen Kammern in einigen Ländern, allein um den Gewerkschaften keine Angriffsfläche zu bieten. In einem Brief Beyers an den Präsidenten der IHK Augsburg, bat er diesen Erhard auf der bald anstehenden Jahrestagung in Augsburg „in unseren Sinne zu beeinflussen“112. In Briefen über das Kammerrecht sollten das Bundeswirtschaftsministerium und Erhard nicht erwähnt werden.113 Daraufhin bemühte sich der Handelstag verstärkt um eine beschleunigte parlamentarische Erörterung des Entwurfs. Die einzelnen Kammern wurden darum gebeten Kontakt zu den Abgeordneten ihres Bezirks aufzunehmen, bei ihnen für Unterstützung zu werben und diese davon zu überzeugen, dass die Regelung der Kammerfrage innerhalb der Unternehmerschaft auf weitgehendes Interesse gestoßen ist. Die Industrie- und Handelskammern bitten wir erneut, dafür Sorge zu tragen zu wollen, daß bei den Abgeordneten ihrer Bezirke das Interesse an dem Entwurf und seiner möglichst reibungslosen Erledigung geweckt und ständig aufrecht erhalten wird.114
Von den Abgeordneten Böhm (CDU), Hoogen (CDU), Leiske (CDU) sowie der CSU und FDP war dem Handelstag eine positive Reaktion auf die Einbringung des Initiativantrages sicher.115 Der Antrag wurde hauptsächlich von Abgeordneten der CDU/CSU, FDP und DP unterschrieben. Das Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern trat schließlich am 19. Dezember 1956 in Kraft und bestätigte den öffentlich-rechtlichen Status der Kammern, die Pflichtmitgliedschaft sowie ihre Gestalt als Unternehmerkammern. Damit orientierte sich das Gesetz inhaltlich hauptsächlich am IHK-Gesetz der Weimarer Republik.116
IV. Fazit Die Arbeiten am Gesetz über das Kammerrecht waren geprägt von einer klaren Rollenverteilung und einem Ausloten von Handlungsoptionen, wobei beide Institutionen klare Zielpräferenzen formulierten. Während der Handelstag aktiv um die Verwirklichung des Gesetzes kämpfte, veranlassten politische Gründe, vor alseits einen Regierungsentwurf zu machen“ (Vermerk: Gespräch mit Herrn Jäkel, 16.12.1955, in: ebd.). 111 Brief Dr. Paul Beyer an Otto Vogel (Präsident der IHK Augsburg), in: ebd. 112 Brief Dr. Paul Beyer an Otto Vogel (Präsident der IHK Augsburg), in: RWWA, 181-230-2. 113 Vgl. Aktenvermerk, 27.10.1955, in: ebd. 114 Brief DIHT an IHK’n, 20.12.1955, in: RWWA, 181-2299-1. 115 Ebenso sei bei der DP mit einer Zustimmung zu rechnen. (Vgl. Brief Dr. Gerhard Frentzel an Staatssekretär Dr. Walter Strauß, 18.8.1955, in: RWWA, 181-230-2). 116 Will, Selbstverwaltung, S. 371.
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lem die Verhandlungen mit den Gewerkschaften über die überbetriebliche Mitbestimmung, das Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard zur Zurückhaltung. Trotzdem kam es unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu einer Kooperation. Als das Wirtschaftsministerium die Initiative dem Handelstag überließ, suchte dieser die Nähe zu den Regierungsparteien. Im Falle des Kammerrechts verlagerte sich demzufolge die Entscheidungsfindung von der parlamentarischen in die administrative Arena und die Abstimmung im Parlament hatte nur noch legitimatorische Bedeutung.117 Inhaltliche Entscheidungen wurden in den Verhandlungen zwischen der gesetzesvorbereitenden Ministerialverwaltung, der Führung der Mehrheitsfraktionen und dem DIHT getroffen. Die Kooperationsbereitschaft und die wechselseitige Zusammenarbeit beider Akteure wurden im Laufe der Jahre zu einem strukturprägenden Merkmal. Die Kontinuität liegt hiernach in einem dem Verhältnis zugrundeliegenden „austauschlogischen strategischen Kalkül“118, welches eine spezifische Kooperation offenbart. Diesem Verhältnis liegt von Seiten des Staates die Sicherung seiner Handlungs- und Leistungsfähigkeit, die Verwirklichung seiner Wirtschaftspolitik, Reduzierung der Verwaltungstätigkeit, Informationsbeschaffung oder Herstellung von Konsens über eine angestrebte Regelung zugrunde und für die Dachorganisation die Sicherung des Fortbestehens der Kammern zur Optimierung der Wirtschaftsstruktur in den jeweiligen Kammerbezirken.119 Die Verflechtungen zwischen der Verwaltung und organisierten Interessen basieren folglich auf dem Interesse der Verwaltung, in Austauschprozessen notwendige Steuerungsressourcen zu gewinnen, die zum einen die eigene Autonomie sichern und die Steuerung der Umwelt erleichtern.120
117 Vgl. Benz, Kooperative Verwaltung, S. 32. 118 Vgl. Lehmbruch, Administrative Interessenvermittlung, S. 36 und Schuppert, Verwaltungs-
wissenschaft, S. 118. 119 Vgl. ebd., S. 33 und Benz, Kooperative Verwaltung, S. 22. 120 Vgl. Lehmbruch, Administrative Interessenvermittlung, S. 34 und 36.
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Literaturverzeichnis Benz, Arthur, Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, Baden-Baden 1994. Deutscher Industrie- und Handelstag (Hg.), Zeugnisse der Zeit. 125 Jahre Deutscher Industrieund Handelstag. Begleitbuch zur historischen Ausstellung des DIHT im Jubiläumsjahr 1986 (= DIHT-Materialien zur Geschichte), Bonn 1986. Gehlen, Boris, Die Industrie- und Handelskammern im Netzwerk der Kooperation von Wirtschaft und Staat, in: Hans-Günther Hockerts / Günther Schulz (Hg.), Der „rheinische Kapitalismus“ in der Ära Adenauer (= Rhöndorfer Gespräche, Bd. 26), Paderborn u. a. 2016, S. 51–74. Lehmbruch, Gerhard, Administrative Interessenvermittlung, in: Adrienne Windhoff-Héritier (Hg), Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein, Opladen 1987, S. 11–43. Ritter, Ernst-Hasso, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Jg. 104 (1979), H. 3, S. 389–413. Schäfer, Dieter, Der deutsche Industrie- und Handelstag als politisches Forum der Weimarer Republik, Hamburg 1966. Schmaltz, Jacqueline, Die Entwicklung der Industrie- und Handelskammern. Zwischen Pflicht und Kür (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 410), Frankfurt am Main u. a. 2010. Dies., Die Industrie- und Handelskammern. Beispiel der Verflechtungen zwischen Staat und Gesellschaft, Dissertation, Jena 2008. Schuppert, Gunnar Folke, Verwaltungswissenschaft, Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Baden-Baden 2000. Stremmel, Ralf, Kammern der gewerblichen Wirtschaft im „Dritten Reich“, Dortmund u. a. 2005. Weise, Jürgen, Kammern in Not – zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Die Stellung der Industrie- und Handelskammern in der Auseinandersetzung um eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung 1945–1956. Dargestellt am Beispiel rheinischer Kammern und ihren Vereinigungen auf Landes-, Zonen- und Bundesebene (= Wirtschafts- und Rechtsgeschichte, Bd. 14), Köln 1989. Will, Martin, Selbstverwaltung der Wirtschaft. Recht und Geschichte der Selbstverwaltung in den Industrie- und Handelskammern, Handwerksinnungen, Kreishandwerkerschaften, Handwerkskammern und Landwirtschaftskammern (= Jus publicum, Bd. 199), Tübingen 2010.
Anna Elbers, Universität Hamburg ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilbereich Wirtschaft des BKM-Projektes „Verwaltungslogik und kommunikative Praxis im und nach dem Nationalsozialismus 1930–1960“. Zuvor schloss sie den Master of Arts in Geschichte mit dem Schwerpunkt Neuere und Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ab. Publikationen: Die Rolle der Bergischen Industrie- und Handelskammer bei der „Arisierung“ jüdischer Firmen in Wuppertal am Beispiel der Wuppertaler Herrenkleiderfabrik Ganz & Sternberg, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte, Jg. 65 (2018), S. 165–192.
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Raphael Hennecke / Sebastian Teupe
NEUE WIRTSCHAFTSPOLITIK, ALTE RICHTER Wettbewerbsregulierung in der frühen Bundesrepublik aus Sicht der Rechtsprechung
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as Austarieren verschiedener Handlungslogiken, die sich potentiell widersprechen, ist ein wichtiges Kennzeichen von Verwaltungen. Unterscheiden lässt sich mit Blick auf das Thema dieses Sammelbandes zwischen einer „Logik der Konsequenz“ und einer „Logik der Angemessenheit“. In der „Logik der Konsequenz“ setzt eine Verwaltung im Sinne rationaler Zweckmäßigkeit politisch vorgegebene Maßnahmen und Gesetze um. In der „Logik der Angemessenheit“ sucht die Verwaltung nach sozialer Akzeptanz und Vertrauen. Sie achtet auf die Bedürfnisse der Verwalteten und passt ihr Handeln situativ an.1 Aus dieser Perspektive betrachtet lässt sich das konkrete Verwaltungshandeln weder als bloße Folge politischer Vorgaben noch als opportunistische Annäherung an einen zeitgenössischen „Mainstream“ verstehen und erklären. Der Analyserahmen einander potentiell widersprechender Logiken öffnet den Blick auf ein historisch wandelbares Spannungsfeld an der Schnittstelle zwischen Verwaltung, Verwalteten und politischen Rahmenbedingungen, deren Wechselverhältnis nicht determiniert und entsprechend historisch zu begründen ist. Der Beitrag analysiert dieses Spannungsfeld am Beispiel der deutschen Gerichte und des Problems der Wettbewerbsregulierung in der frühen Bundesrepublik. Es wird in einem ersten Schritt darum gehen, die Akteure zu benennen, die in diesem Kontext eine Rolle spielten: die Richter und ihre Rolle als Akteure der Verwaltung des Wettbewerbs im Kontext des komplexen institutionellen Gefüges des Wettbewerbsrechts in der Nachkriegszeit. Der Beitrag wird sich der Frage widmen, wie das Verwaltungshandeln der Gerichte im Sinne einer „Logik der Konsequenz“ in diesem Kontext hätte aussehen können. Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt diskutiert werden, ob das tatsächliche Handeln der Gerichte 1 Vgl. Seibel, Verwaltung verstehen, S. 142–151.
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dieser Logik folgte oder ob es sich tatsächlich nur im Kontext einer zeitgenössischen „Logik der Angemessenheit“ verstehen und erklären lässt. Als Fragestellung lässt sich dies wie folgt präzisieren: Arbeiteten die Gerichte den politischen Entscheidungsträgern – in diesem Fall also den Alliierten und ordoliberal eingestellten Politikern – entgegen oder berücksichtigten sie bei ihren Entscheidungen die Interessen der Verwalteten auch dann, wenn diese im Widerspruch zu den politischen Vorgaben standen? Die Fragestellung steht im Kontext einer längeren historiographischen Debatte zu den Brüchen und Kontinuitäten deutscher Wettbewerbsregulierung und ihren Ursachen. Sowohl die politische Geschichte der deutschen Wettbewerbsgesetzgebung als auch die traditionelle Einstellung des kartellfreundlichen deutschen Unternehmertums bilden seit den wegweisenden Studien der 1970er und 80er Jahre ein Schwerpunktfeld der deutschen Wirtschaftsgeschichte.2 Die Rolle der deutschen Gerichte, vor allem in der Zeit vor der Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), spielte bisher jedoch kaum eine Rolle. Damit ist auch die Rolle der wettbewerbspolitischen Verwaltungspraxis an der Schnittstelle zwischen Verwaltung, Verwalteten und politischen Rahmenbedingungen eine offene Frage geblieben. Wir werden die These vertreten, dass ein „Entgegenkommen“ der deutschen Gerichte durchaus erfolgte. Allerdings geschah dies nicht aus einem wahrgenommenen Druck heraus. Vielmehr entsprang die Ablehnung einer allzu eifrigen Umsetzung alliierter Vorgaben auch ihrem eigenen, über Jahrzehnte gewachsenen Verständnis deutscher Gerichtsbarkeit. Zugleich konnten die Gerichte die politischen Vorgaben auch nicht ignorieren. Das Recht beugen wollten und konnten sie nicht. Sie nutzten aber – und dehnten auch – die ihnen rechtlich gegebenen Spielräume aus, so dass die Verwaltungspraxis mit einer „Logik der Konsequenz“ ganz unzureichend beschrieben wäre. Historiografisch ist das relevant, denn der Wandel der Wettbewerbspraktiken in Deutschland ist meist als Folge eines Mentalitätswandels der deutschen Unternehmen beschrieben worden. Die Regulierungsbehörden erscheinen in diesem Narrativ wie eine statische Referenzgröße, der sich die deutsche Unternehmerschaft Stück für Stück anpasste. Der analytische Rahmen eines historisch wandelbaren Spannungsfelds erlaubt, dieses Schema zu hinterfragen und ein alternatives Narrativ zu entwerfen. Die Untersuchungsebene der in diesem Sammelband hervorgehobenen „kommunikativen Praxis“ erlaubt zudem, ein für die Geschichte der deutschen Gerichte signifikantes Quellenproblem zu umgehen. Der Beitrag fokussiert insbesondere auf Gerichtsurteile, die sicher die unmittelbarste Form der Kommunikation darstellen. Als sehr spezifische Formen der Kommunikation, bei denen die kommunikativen Handlungsspielräume besonders stark eingeschränkt sind, erfor2 Vgl. Ambrosius, Die Entwicklung des Wettbewerbs; Berghahn, Unternehmer und Politik; Hüt-
tenberger, Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik; Robert, Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik. Siehe auch den im Rahmen der Nassauer Gespräche entstandenen Sammelband: Pohl, Kartelle und Kartellgesetzgebung.
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dern sie zwar eine entsprechend angepasste Quellenkritik.3 Ihr Nutzen als historische Quelle dürfte allerdings mittlerweile auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft unbestritten sein.4 Zudem waren Richterinnen und Richter publizierend tätig. Nicht in offizieller Kapazität, aber doch nah genug an der Verwaltung, die sie repräsentierten, dass ihre Schriften als kommunikative Praxis in einem größeren Zusammenhang gewertet werden können. Das alternative Narrativ, das sich aus dem Studium dieser Quellen ergibt, ist eines der wechselseitigen Anpassung, des doppelten Wandels. In diesem mussten auch die deutschen Gerichte ihre Entscheidungsmöglichkeiten und die Bedeutung der Wettbewerbsgesetze angesichts neuer politischer Rahmenbedingungen zunächst einmal austesten. Die so entstehende Praxis der Rechtsprechung konnte durchaus widersprüchlich sein. Sie signalisierte also keinen verbindlichen Rechtsrahmen, spiegelte aber die durch das analytische Spannungsfeld umschriebene Unsicherheit des Verwaltungshandelns wider. Das „Austarieren“ zwischen den beiden Logiken, so die These des Beitrags, war nicht einfach Konfliktlösung, sondern ein dialektischer Motor der Geschichte der Wettbewerbsregulierung in Deutschland.
I.
Die Verwaltung des Wettbewerbs und die alliierten Kartellgesetze: Auf der Suche nach einer „Logik der Konsequenz“
Die Verwaltung des Wettbewerbs hat heute in der Bundesrepublik von ihrer rechtlichen Grundlage her zwei Referenzpunkte. Sie umfasst einerseits das Kartellrecht im engeren Sinne, das ausgehend vom Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) die illegale Absprache von Unternehmen sowie den illegalen Zusammenschluss verhindern soll. Sie umfasst andererseits die Bestimmung rechtlich legitimer Verhaltensweisen, die durch das 1896 verabschiedete Gesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb (UWG) zumindest lose definiert sind. Während das GWB auf die Bundesrepublik zurückgeht, hat das UWG die politischen Brüche des 20. Jahrhunderts überstanden, so dass die Gerichte der Nachkriegszeit in diesem Fall auf eine etablierte Rechtsprechung zurückblicken konnten, die durch die neue Wettbewerbsordnung zwar herausgefordert, aber nicht so eindeutig unterminiert war. Anders als im Fall des GWB bedarf es im Rahmen des UWG keiner staatlichen, mit der Durchsetzung des Rechts beauftragten Institution. Seine Wirksamkeit entfaltet das UWG allein dadurch, dass Unternehmen die durch das Recht definierten Spielregeln einklagen. Für die Verwaltung im engeren Sinne sind somit die Gerichte zuständig, welche die Fälle prüfen und das Recht auslegen müssen. Die Aufgabe, den Wettbewerb vor Kartellen und anderen Wettbewerbsverzerrungen zu schützen, liegt heute in der Bundesrepublik dagegen primär beim Bundeskartellamt. Dieses wurde jedoch erst 1958 gegründet, so dass die Verwal3 Vgl. Herget/Pahlow, Erwartungs(un)sicherheit. 4 Vgl. Zierenberg, Schiebern auf der Spur.
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tung des Wettbewerbs in der frühen Bundesrepublik von anderen Institutionen wahrgenommen werden musste. Ein Spezifikum der Kartellpolitik nach 1945 war, dass sie nicht nur den Verwalteten, sondern auch der Verwaltung selbst aufoktroyiert wurde. Und zwar nicht allein in Abkehr von rechtsstaats-feindlichen Entwicklungen seit der nationalsozialistischen Machtergreifung, sondern auch in Abkehr von einer älteren Tradition deutschen Regulierungsverständnisses. Zwar existierten seit der Kartellverordnung von 1923 ein Kartellreferat im Reichswirtschaftsministerium (RWM) sowie ein Kartellgericht beim Reichswirtschaftsgericht. Als Vorläufer des Bundeskartellamtes lassen sich diese Organisationen aber nicht beschreiben. So war die Kartellverordnung vor allem als Reaktion auf öffentliche Kritik an der Preispolitik der allgegenwärtigen Kartelle in den Wirren der Inflationszeit zustande gekommen. Folgerichtig hatte das Kartellreferat dann auch mehrere tausend Beschwerden wegen Schädigung des wirtschaftlichen Gemeinwohls zu bearbeiten, von denen es immerhin 200 bis 300 als berechtigt ansah. Diese Schlussfolgerung zog aber so gut wie keine relevanten Sanktionen nach sich und Kritiker spotteten, bei einer solchen Anzahl schädigender Kartellvereinbarungen müsse die Wirtschaft ja längst in Scherben liegen.5 Auch das in der Weimarer Republik geschaffene Kartellgericht beim Reichswirtschaftsgericht konnte keine Rechtsprechung entwickeln, in deren Zentrum eine das Gemeinwohl fördernde Wettbewerbspolitik gestanden hätte. De facto war es beinahe ausschließlich mit Vertragsstreitigkeiten zwischen Kartellmitgliedern befasst.6 In diesen Fällen bot die etablierte, einseitig auf die Vertragssicherheit ausgerichtete Rechtsprechungstradition kaum Vehikel, den laut Kartellverordnung eigentlich zu schützenden gesamtwirtschaftlichen Interessen gerecht zu werden. Das Kartellgericht fiel schließlich den Machtansprüchen des autoritär verformten NS-Korporatismus zum Opfer und wurde 1938 in das RWM eingegliedert.
1. Dekartellierungsgesetze und Institutionen der Besatzungsmächte Für die Geschichte des Kartellamts und des ihm übergeordneten Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWi) liegt mittlerweile eine umfassende Aufarbeitung vor.7 Für die Geschichte der wettbewerbspolitischen Institutionen vor 1958 trifft dies
5 Vgl. Pöting, Die Kartellgesetzgebung, S. 32. 6 Vgl. Neutz, Das Seifenkartell, S. 33. Ein gutes Fallbeispiel dazu ist der Rechtsstreit zwischen den
Rheinischen Linoleumwerken Bedburg und den Deutschen Linoleumwerken. Inhalt war hier ein Kartell, dessen Preisvereinbarungen zwischen die Räder der staatlichen Deflationspolitik geraten waren, auf deren Einhaltung die Bedburger aber erfolglos pochten, nachdem der Konkurrent den Kartellvertrag in Folge von Verhandlungen mit dem RWM aufgekündigt hatte. Rechtfertigung der Kündigung durch Deutsche Linoleumwerke und seine Anwälte gegenüber dem Kartellgericht, 8.12.1930, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (= RWWA), 58-49-5. 7 Vgl. Abelshauser, Das Bundeswirtschaftsministerium; Ortwein, Das Bundeskartellamt.
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nur sehr bedingt zu.8 Vor dem Inkrafttreten des GWB war die Situation unübersichtlich und auch in einer Art kontinuierlichem Fluss der Zuständigkeiten. Am Beginn dieser Geschichte stand die amerikanische Militärregierung und hier vor allem der Decartelization Branch. Dieser wurde im September 1945 zunächst als Division of Investigation of Cartels and External Assets under the general direction and supervision of the Legal Adviser (DICEA) gegründet und im Dezember selbigen Jahres als Decartelization Branch in die übergeordnete Struktur der amerikanischen Militärregierung integriert. Vor allem mit erfahrenen und überzeugten „Trustbustern“ aus der Antitrust-Division des amerikanischen Justizministeriums besetzt, war dieser Zweig der Militärregierung in der Theorie führend zuständig sowohl für die Entflechtung deutscher Trusts und Monopole (so etwa IG Farben oder die Vereinigten Stahlwerke) als auch für die Durchsetzung des generellen Kartellverbots, wie es im Februar 1947 parallel durch britische und amerikanische Besatzer verabschiedet worden war. Die in beiden Zonen verabschiedeten Kartellgesetze, Gesetz 56 (US) sowie Verordnung 78 (GB), waren dem Wortlaut nach identisch. Sie machten klare Vorgaben zur Rechtmäßigkeit bestimmter Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick eine scheinbar einfache Bestimmung der für die Besatzungszeit gültigen „Logik der Konsequenz“ erlauben. So wurden sowohl im amerikanischen Gesetz Nr. 56 als auch in der britischen Verordnung Nr. 78 zunächst „excessive concentrations of German economic power […] whatever their form or character“ per se verboten. Dies umfasste konkret „cartels, combines, syndicates, trusts associations or any other form of understanding or concerted undertaking“, mit dem Zweck der Einschränkung des Wettbewerbs. Als darunter fallende Tätigkeiten wurden u. a. „the fixing of prices or the terms or conditions in the purchase or sale of any product or thing“ sowie „the exclusion of any person from any territorial market or field of business activity, the allocation of customers, or the fixing of sales or purchase quotas“ definiert.9 Die alliierten Kartellgesetze lassen sich als so etwas wie eine beispielhaft konkretisierte Spiegelung der amerikanischen Antitrustgesetze verstehen, die einerseits eine klare Zielrichtung definierten, andererseits aber auch in der Auslegung mit konkreten Inhalten gefüllt werden mussten. Eine zeitgenössische „Logik der Konsequenz“ konnte sich daher nicht aus dem Wortlaut allein, sondern nur im Zusammenspiel mit den konkreten Zielen der Besatzer ergeben. Hätte die amerikanische Kartellabteilung hier die alleinige Deutungshoheit gehabt, hätte der Bruch mit der deutschen Kartelltradition kaum schärfer ausfallen können. De facto aber wies die amerikanische Militärverwaltung erhebliche polykratische Züge auf, so dass der Decartelization Branch nicht nur wichtige Zuständigkeiten etwa bei den Entflechtungen an andere Abteilungen abgeben musste, 8 Siehe v. a. Murach-Brand, Antitrust auf deutsch und Nörr, Die Republik der Wirtschaft. Teil 1. 9 Law No. 56, in: Amtsblatt der Militärregierung, Deutschland, Amerikanisches Kontrollgebiet,
Ausgabe C vom 1.4.1947, S. 2–6.
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sondern auch bei der Durchsetzung der ambitionierten eigenen Agenda regelmäßig gestoppt wurde. Besonders verheerend war der Konflikt mit der eigenen Wirtschaftsabteilung unter William Draper, im zivilen Leben Investmentbanker bei Dillon Read & Co und entschiedener Gegner tiefgreifender Eingriffe in die deutsche Wirtschaftsstruktur.10 Besonders pikant wurde diese Auseinandersetzung dadurch, dass der Decartelization Branch Drapers Wirtschaftsabteilung zunächst unterstellt war. Diesen Konflikten war es auch zu verdanken, dass die 1947 verabschiedeten Kartellgesetze zunächst kaum Durchschlagskraft entfalteten. Immerhin wurden parallel zu dieser Rechtssetzung die German Decartelization Agencies (GEDAG, meist mit Kartellauflösungsstellen oder Dekartellierungsstellen übersetzt) geschaffen, welche später den Landeswirtschaftsministerien zugeordnet wurden. Diese hatten aber keine eigene Verwaltungsmacht und dienten vor allem der Kommunikation mit den deutschen Unternehmen, welche die alliierten Stellen personell überfordert hätte und dies später auch tat. Erst unter dem neuen Hochkommissar John J. McCloy nahm das amerikanische Dekartellierungsprogramm Ende 1949 dann wieder an Fahrt auf. Im Dezember 1949 erfolgte dann die Gründung der trizonalen Decartelization and Industrial Deconcentration Group (DIDEG), nachdem Amerikaner und Briten trotz erheblicher Konflikte in der Sache ihre Kräfte bereits 1947 in der Bipartite Decartelization Commission (BIDEC) gebündelt und sich auf die Verabschiedung fast identisch formulierter Kartellgesetze geeinigt hatten. Die DIDEG war eine trilaterale Institution, die sich aus führenden Vertretern der als Nachfolger des amerikanischen Decartelization Branch mit neuem Personal gegründeten Decartelization and Deconcentration Division, des britischen Industrial Control & Decartelization Branch sowie der französischen Commision de Déconcentration de L’Economie Allemande zusammensetzte und in die Alliierte Hohe Kommission (AHK) eingeordnet war. Innerhalb dieser Organisation unterstand sie erstinstanzlich dem ebenfalls trilateralen Komitee für Wirtschaft, letztinstanzlich dem Rat der drei Hohen Kommissare. Die DIDEG war zentral zuständig für die Auslegung und Durchführung der alliierten Kartellgesetze.11 Das im BMWi angesiedelte Kartellreferat hatte zunächst nur unterstützende Funktion in der Kommunikation mit der deutschen Wirtschaft, wurde aber bedeutsamer, als die alliierte Besatzung sich ihrer Endphase zuneigte. Das Bundeskartellamt rekrutierte nach seiner Gründung seinen Präsidenten Eberhard Günther aus dem Kartellreferat des BMWi, wo er sich bereits intensiv mit der Rechtspraxis unter den alliierten Gesetzen hatte auseinandersetzen können. Die Franzosen hatten ihr eigenes Kartellgesetz für ihre Zone erlassen, welches allerdings äußerst vage formuliert war und auch von den Besatzern selbst unilateral so gut wie gar nicht durchgesetzt worden war. Vereinzelt wurde die Dekartellierung als Vorwand für Sequestrierungen deutscher Unternehmen genutzt, die 10 Vgl. Martin, All Honorable Men. 11 Terms of Reference of DIDEG, 7.11.1949, in: IfZArch OMGUS, 11/4–3/5.
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aber eher im Zusammenhang mit der Demontagepolitik zu sehen sind. Trotzdem beteiligten sich die Franzosen in der DIDEG durchaus gleichberechtigt an der Durchsetzung der beiden anglo-amerikanischen Gesetze und waren dort häufig entscheidend für die Mehrheitsfindung bei divergierenden Auffassungen zwischen britischen und amerikanischen Vertretern. Zudem urteilte der BGH nachträglich unter anderem unter Berufung auf den französischen Hohen Kommissar, dass die französische Verordnung 96 trotz abweichenden Wortlauts ebenso auszulegen sei wie die beiden anglo-amerikanischen Gesetze.12 Noch komplizierter wurde die Lage dadurch, dass die neue trizonale Institution amerikanische Alleingänge nicht final ausschloss. So ging die amerikanische Hochkommission, frustriert durch Auseinandersetzungen mit den in Kartellsachen deutlich konservativeren Briten sowie den bei der Schaffung eines eigenen Kartellgesetzes auf Zeit spielenden Deutschen, noch im Mai 1950 unter scharfem Protest der Briten und Franzosen dezidiert unilateral vor. Sie erließ einen harten Strafbefehl in Höhe von 140.000 DM gegen den Fachverband Schleifmittelindustrie sowie gegen mehrere involvierte Personen wegen Verletzung von Gesetz 56.13 Dieses Nebeneinander der eigenen Kartellexperten des amerikanischen Hohen Kommissars und der trizonal aufgestellten DIDEG blieb bis zum Ende des Besatzungsstatuts 1955 bestehen, wobei die nationalen Vertreter in der DIDEG meist primär die Interessen ihres jeweiligen Hochkommissars und letztendlich ihrer nationalen Regierung verfolgten, welche in Dekartellierungsfragen erhebliche Differenzen aufwiesen, was die trilaterale Beschlussfassung häufig erschwerte.
2.
Die Kompetenzen des Bundeswirtschaftsministeriums und die Rolle der deutschen Gerichte
Nachdem die alliierten Behörden bereits im Verlauf der frühen 1950er Jahre an Personal einbüßten, endete die institutionelle Hoheit der Alliierten über das deutsche Kartellrecht schließlich im Mai 1955 zusammen mit dem Besatzungsstatut, als die Kompetenzen der DIDEG auf Ludwig Erhards Bundeswirtschaftsministerium übergingen. Die DIDEG hatte diese Kompetenzübergabe ab Mitte 1953 bereits mehrmals angeboten, da sie bereits massive Personalverluste zu verkraften hatte. Das britische Element betrachtete die Tätigkeit der DIDEG zunehmend als Einmischung in deutsche Angelegenheiten und blockierte entsprechende Durchgriffe. Ludwig Erhard und Eberhard Günther, der für die Kartellpolitik des BMWi zentral zuständige Ministerialbeamte und spätere Präsident des Bundeskartellamts, hatten eine Übernahme der Kompetenzen aber aus politischen Gründen stets abgelehnt. Die alliierten Gesetze standen in der deutschen Öffentlichkeit noch zu sehr mit dem Odium des Morgenthau-Plans und seines Strafcharakters in Verbin12 Vgl. Urteil des BGH, 25.2.1958, I ZR 15/57, in: Monatsschrift für Deutsches Recht, Jg. 12
(1958), H. 7, S. 483. 13 Vgl. Gleiss, Das Verfahren, S. 546 f.
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dung. Ein solcher Schritt wurde deshalb mit Blick auf den langwierigen Kampf um das deutsche Kartellgesetz als kontraproduktiv gesehen. So äußerte sich Günther 1953 intern, eine Übertragung der alliierten Befugnisse in der Kartellpolitik an deutsche Stellen „wäre geeignet, das Fundament einer deutschen Regelung weiterhin zu erschüttern und die von meinem Ministerium geführte Kartellpolitik zu diskreditieren.“14 Die Gesetze selbst hingegen blieben bis Ende 1957 durchgehend in Kraft, ab Mai 1955 ausschließlich in der Hand deutscher Gerichte sowie des BMWi, welches die neuen Kompetenzen aus oben genannten Gründen zunächst äußerst zurückhaltend nutzte. Die taktische Zurückhaltung gab das BMWi nach der Verabschiedung des GWB Mitte 1957 aber auf, und es nutzte seine Kompetenzen in Verwaltungsverfahren in den letzten Monaten ‚vor Toresschluss‘ durchaus offensiv.15 Entscheidend für die Rolle der deutschen Gerichte bei der Umsetzung der alliierten Kartellgesetze war eine Entscheidung der Alliierten Hohen Kommission, die eigentlich gar nicht spezifisch auf das Kartellrecht zielte. So wurde durch Artikel 1, Buchstabe b des Gesetzes Nr. 17 des amerikanischen Hohen Kommissars vom 12. Januar 1951 die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit auf alle Verstöße gegen Rechtsvorschriften der Besatzungsbehörden ausgedehnt. Der britische Oberkommissar folgte mit einer äquivalenten Verordnung, und da die Dekartellierungsgesetze nirgendwo als Ausnahme aufgeführt waren, kamen mehrere Wirtschaftsministerien der deutschen Bundesländer zu dem Schluss, dass deutsche Gerichte nun zweifelsfrei für Verstöße gegen alliiertes Kartellrecht zuständig seien.16 Zudem hatten die deutschen Gerichte schon frühzeitig die alliierten Kartellgesetze in toto als Schutzgesetze ausgelegt, sodass private Schadensersatzklagen auf Basis mehrerer der äußerst allgemein und weitläufig formulierten Paragraphen möglich waren.17 Diese Auslegung war die Grundlage für hunderte zivilrechtliche Prozesse vor deutschen Gerichten basierend auf den allliierten Geset14 Schreiben Eberhard Günthers an ORR Meyer-Cording, 24.2.1953, in: Bundesarchiv (BArch),
B102/192483; Vermerk über eine Besprechung mit Vertretern der amerikanischen Hohen Kommission in Mehlem, 23.4.1953; Vermerk über eine Besprechung mit dem amerikanischen Hochkommissar Prof. Conant in Mehlem, 2.10.1953; Vermerk über eine Besprechung mit dem DIDEG-Mitglied M. Benard in Bonn, 6.11.1953, alle in: BArch, B102/17090. 15 Vgl. u. a. N. N., Verwaltungsverfahren, S. 1247 f.; N. N., Aufnahme, S. 1195; N. N., Eröffnung eines Verwaltungsverfahrens, S. 1161. 16 Vgl. Dörinkel, Deutsche Gerichtsbarkeit, S. 56. 17 Final bestätigt durch das Urteil des BGH vom 16.3.1954, I ZR 179/52, in: Wirtschaft und Wettbewerb (= WuW), Jg. 4 (1954), H. 6/7, S. 450–55; zuvor u. a. Urteil OLG Düsseldorf, 18.4.1950, 2 U 9/50, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (= GRUR) 1950, H. 8, S. 381–383. Private Schadensersatzklagen auf Grundlage des Kartellrechts hatte es bereits in der Weimarer Republik gegeben, allerdings erkannte das Reichsgericht lediglich § 9 der Kartellverordnung, welcher Boykotte durch Kartelle als Kampfmittel gegen Außenseiter zumindest einschränkte, als Schutzgesetz im Sinne von § 832 Abs. 2 BGB an. Siehe: Legner, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 60 f.
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zen. Die Prozesse kamen häufig dadurch zu Stande, dass eine Vertragspartei den ihr unangenehm gewordenen Vertrag mit Verweis auf kartellrechtlich unzulässige Vertragsinhalte zu Fall bringen wollte. Diese Rechtspraxis bildete letztlich den juristischen Erfahrungshorizont, auf der die Rechtsprechung nach Verabschiedung des deutschen Kartellgesetzes 1957 aufbauen konnte. In der Nachkriegszeit trugen die Gerichte also, wie es ein zeitgenössischer Beobachter ausdrückte, „ein erhebliches Maß wirtschaftspolitischer Verantwortung“18, während das BMWi diese Verantwortung erst mit der Zeit wahrnehmen konnte und wollte. Die Zuständigkeiten für ein selbst nach Meinung vieler Besatzer progressives Wettbewerbsrecht wurde den deutschen Gerichten, die 1897 in dem berühmten Reichsgerichts-Urteil Deutschland noch quasi offiziell zum „Land der Kartelle“ bestimmt hatten, ohne Frage aufoktroyiert. In Kaiserreich und Weimarer Republik hatten die Gerichte „selbstbewußt und rechtsgestaltend“19 eine fortlaufend kartellfreundliche Rechtsprechung betrieben. Wie selbstbewusst und rechtsgestaltend sie in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren auftreten würden, war zunächst völlig offen.
II. Deutsche Unternehmen, Richter und die „Logik der Angemessenheit“. Drei Fallstudien Unternehmenshistorische Fallstudien legen den Schluss nahe, dass sich mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zunächst weder an der Haltung der deutschen Unternehmen noch an ihren etablierten Praktiken viel änderte. In der Übergangszeit der späten 1940er und 1950er Jahre vertraten diese selbstbewusst ihre Interessen und hielten wo möglich zunächst an der gewohnten Absatzpolitik fest. Ein Umdenken fand vereinzelt, keineswegs aber flächendeckend statt.20 Gleichzeitig wäre es verfehlt, von einer homogenen Unternehmerschaft auszugehen, die bezüglich der an das Wettbewerbsrecht gerichteten Erfahrungen und Erwartungen keine Unterschiede zeigte. Zum einen bestanden völlig unterschiedliche Erfahrungswerte hinsichtlich alternativer Regulierungssysteme. Gerade für die großen
18 Rasch, Das Verbot, S. 151. Die Geschichte der Gerichte der Nachkriegszeit ist aus institutio-
neller Sicht nicht abschließend, aber doch in ersten Zügen gut erforscht, einschließlich des Nachweises wichtiger personeller Kontinuitätslinien. Siehe Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie; Steiner, Rechtsstaat im (Wieder-)Aufbau; Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten; von Miquel, Juristen; Diestelkamp, Kontinuität und Wandel. Allerdings steht diese Forschung vor erheblichen Quellenproblemen, da Nachlässe der Gerichte kaum vorhanden oder zugänglich sind. 19 Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts, S. XIX. 20 Vgl. Erker/Pierenkemper, Deutsche Unternehmer; Erker, Vom nationalen zum globalen Wettbewerb; Hilger, „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen; Hilger, Zur Genese des „German Model“; Hilger, Zwischen Demontage und Wiederaufbau; Berghahn, Unternehmer und Politik; Reindl, Wachstum und Wettbewerb; Teupe, Die Schaffung eines Marktes.
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international tätigen Konzerne wie Merck oder Carl Zeiss war das amerikanische Antitrust-Recht alles andere als ein Novum,21 während die kleineren und mittleren, vor allem innerhalb Deutschlands operierenden Unternehmen diese Erfahrung noch nicht gemacht hatten. Zum anderen zeigen die den Gerichtsurteilen zu Grunde liegenden Streitigkeiten, dass in Zeiten rechtlicher Unsicherheit auch gerade innerhalb der letzteren Gruppe vereinzelte Unternehmen gezielt versuchten, das alte Wettbewerbsrecht zu unterminieren. Eine allgemein geteilte „Wettbewerbsethik“ gab es in den späten 1940er und 50er Jahren auch hier nicht. Was die deutsche Öffentlichkeit betrifft, in deren Interesse der Gesetzgeber gerade im Wettbewerbsrecht handelt, so ist die Lage angesichts fehlender historischer Studien kaum zu bewerten. Das wird sich vermutlich schon deshalb kaum ändern, weil der methodische Zugang hier ungleich komplizierter ist. Auffallend ist, dass der vermeintlich direkteste Quellenzugang – die zeitgenössische Befragung der Menschen – historisch ein Instrument konservativer Akteure war, namentlich des Allensbacher Instituts für Demoskopie. Deren Befragungen – etwa dazu, was Menschen als „sittenwidrig“ im Marktkontext empfanden – dienten stets dazu, solche Marktpraktiken zu legitimieren, die der von den Besatzungsmächten gesetzten „Logik der Konsequenz“ widersprachen. Die öffentliche Meinung spiegelte daher zu weiten Teilen ein großes Verständnis für Maßnahmen wider, die einen ruinösen Preiswettbewerb verhindern sollten. Gleichwohl gab es durchaus Fälle, in denen die Gerichte im Kontext des UWG auf eine solche Umfrageforschung zurückgriffen. Die Fragen waren allerdings häufig äußerst suggestiv, so dass es sinnvoll ist, die Ergebnisse als Bestandteil einer für die Rechtspraxis nutzbaren kommunikativen Figur zu lesen und nicht als „Wille des Volkes“. 22 Nimmt man die Unternehmen als die „Verwalteten“ im engeren Sinne in den Blick, ließe sich die Frage so formulieren: Passten die Gerichte ihre Rechtsprechung den alliierten Forderungen nach einer strikten Umsetzung des Verbots vertikaler und horizontaler Hemmnisse an oder nahmen sie angesichts der langfristig gewachsenen Absatzpolitik deutscher Unternehmen eine „pragmatischere“ Haltung ein? Man kann hier analytisch eine kommunikative und eine materielle Dimension unterscheiden, die aber faktisch in der Rechtspraxis natürlich nicht so trennscharf war oder ist, denn ein widerwillig formuliertes Urteil eröffnet in der Zukunft immer Spielräume – kommunikativ wie materiell. Zudem wurde die Frage der Angemessenheit nicht allein durch die Bedürfnisse der Unternehmen definiert. Ein Aspekt erscheint hier neben der richterlichen „Tradition“ besonders wichtig: den Richtern war die in der Präambel des Besatzungsrechts formulierte Zielsetzung, das deutsche Wirtschaftspotential zu zerstören, nicht entgangen. Diese vermeintliche Hypothek ließ die deutschen Richter, wie Ernst-Joachim Mestmäcker bemerkte, neben der rechtlichen Unsicherheit auch am Rechtsgehalt 21 Vgl. Berge, Cartels, Challenge to a Free World, Washington D. C. 1944, S. 150 ff. u. S. 177. 22 Siehe bspw. Noelle-Neumann, Der Markenartikel, S. 519–521 und Noelle-Neumann, Umfra-
geforschung in der Rechtspraxis.
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des Gesetzes zweifeln, auch wenn in der Präambel zu Gesetz 56 gleichzeitig auf die „Grundlage für den Aufbau einer gesunden und demokratischen deutschen Wirtschaft“ verwiesen worden war.23 Fest steht, dass in der Rechtsgeschichte bzw. den Rechtswissenschaften gegensätzliche Einschätzungen zur Rolle der deutschen Rechtsprechung in den frühen 1950er Jahren bestehen. Während die Rechtswissenschaftler Hermann-Josef Bunte, Fabian Stancke, Meinrad Dreher oder Michael Kulka die Meinung vertreten, dass die deutschen Richter das Dekartellierungsrecht trotz aller Probleme entlang amerikanischer Vorstellungen anwandten, konnte Emmerich zufolge von einer „konsequenten Durchsetzung dieser Verbote“24 gerade nicht die Rede sein. Solche Einschätzungen stehen nicht nur vor dem Problem einer unzureichend hergeleiteten Bewertungsgrundlage – denn teilweise ist gar nicht klar, auf welche Gesetze sich die Autoren konkret bezogen –, sondern auch vor dem Problem der Eindimensionalität des Bewertungsmaßstabs. Dem lässt sich nur durch eine historische Rekonstruktion entgehen, welche auf Grundlage unterschiedlicher Fallstudien vor dem Versuch einer Synthese zunächst die Vielfalt der Wettbewerbsproblematik nachzeichnet.
1.
Die vertikale Preisbindung
Eine äußerst wechselhafte Geschichte unter dem alliierten Recht nahm die vertikale Preisbindung (vPb) von Markenartikeln, mitunter auch Preisbindung der zweiten Hand genannt. Unter dieser Regelung konnten Hersteller von Markenartikeln den Wiederverkaufspreis des Artikels für die folgenden Handelsstufen bspw. per Revers binden.25 Wurde diese Preisbindung vom Hersteller lückenlos durchgeführt, d. h. flächendeckend angewandt und auf Verstöße überwacht, so erwuchs dem Hersteller im Rechtszustand vor 1945 das Recht, Händler, die sich an diese Regelung nicht hielten, von der weiteren Belieferung auszuschließen und im Revers festgelegte Vertragsstrafen vor Gericht einzuklagen. Die Preisbindungsverordnung vom 23.11.1940 schränkte diese Praxis nur insofern ein, dass nun die Einwilligung des Reichskommissars für Preisbildung notwendig war.
23 Mestmäcker, Dekartellierung, S. 99–130. Zur Präambel, siehe: Law No. 56, in: Amtsblatt der
Militärregierung, Deutschland, Amerikanisches Kontrollgebiet, Ausgabe C vom 1.4.1947, S. 3. 24 Emmerich, Kartellrecht, S. 15; Bunte/Stancke, Kartellrecht; Dreher/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht. Siehe für eine Unterstützung der Sichtweise Emmerichs auch Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen und Nettesheim/Thomas, Entflechtung im deutschen Kartellrecht. 25 Die Definition, was ein ‚Markenartikel‘ ist, war nie klar und häufiger Streitpunkt. Im 1958 in Kraft getretenen GWB wurden sie definiert als „Erzeugnisse, deren Lieferung in gleichbleibender oder verbesserter Güte von dem preisbindenden Unternehmen gewährleistet wird, und die selbst oder deren für die Abgabe an den Verbraucher bestimmte Umhüllung oder Ausstattung oder deren Behältnisse, aus denen sie verkauft werden mit einem ihre Herkunft kennzeichnenden Merkmal (Firmen-, Wort-, oder Bildzeichen) versehen sind.“
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Von den alliierten Kartellgesetzen sahen sich viele Markenartikelhersteller zunächst nicht betroffen und setzten ihre Marktpraktiken nach Erlass der Dekartellierungsgesetze fort. Daraufhin stellte der Vorsitzende der amerikanischen Dekartellierungsbehörde, Richardson Bronson, am 21.6.1948 schriftlich klar, dass auch die vertikale Preisbindung vom Verbot betroffen war. Die britische Dekartellierungsbehörde sah die vertikale Preisbindung als nicht betroffen an, die Rechtspraxis in der britischen Zone indes blieb widersprüchlich. Auch innerhalb der BIDEC sowie der Rechtsabteilung des Bipartite Control Office erzielten Briten und Amerikaner in dieser Frage zu diesem Zeitpunkt keine Einigkeit.26 In der französischen Zone wurde die vPb praktisch weiterhin durchgeführt.27 Auch der deutsche Entwurf für ein Kartellgesetz sah bereits in einem recht frühen Stadium auf Druck des Markenverbandes hin eine Ausnahme für die vertikale Preisbindung vom Kartellverbot vor. Angesichts der uneinheitlichen Rechtslage sowie der in Aussicht stehenden Legalisierung der vPb durch das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) wandte sich Ludwig Erhard schließlich 1952 an den Vorsitzenden der US-Kartellabteilung und DIDEG-Vertreter Sidney Willner mit der Bitte, den Markenherstellern die Umstellung auf die Rechtslage nach dem GWB zu ermöglichen und die Uneinheitlichkeit in der rechtlichen Bewertung zu beseitigen. Dieser antwortete am 18.11.1952 im sogenannten WillnerBrief, der für die folgende Rechtspraxis noch äußerst entscheidend sein sollte. In diesem äußerte er sich, dass seiner Meinung nach die vertikale Preisbindung nach wie vor ein Verstoß gegen die alliierten Dekartellierungsgesetze darstelle und er auch keine grundsätzliche Befreiung für diese Praxis gewähren könne. Er und sein britischer Kollege seien aber dazu bereit, keine Verfahren gegen die Hersteller oder Verkäufer von preisgebundenen Markenwaren anhängig zu machen, solange sich diese im Rahmen des kommenden GWB bewegten: Unsere Behörde wird keine Verfahren gegen Hersteller oder Käufer von Markenartikeln anhängig machen, welche die Einhaltung von Wiederverkaufspreisen vereinbaren, vorausgesetzt, daß solche Vereinbarungen erlaubt wären, wenn das Bundesgesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen schon in Kraft wäre.28
Dieser Brief war wohl in Erwartung des baldigen Inkrafttretens des GWB als temporäres Zugeständnis an Erhard und die Markenartikelhersteller gedacht. De facto lieferte er aber für die nächsten 5 Jahre erheblichen Zündstoff bei der Auslegung der zivilrechtlichen Gültigkeit der vertikalen Preisbindung. Dies fing zunächst damit an, dass der Brief zwar in Aussicht stellte, auf straf- oder verwaltungsrechtliche Verfolgung der vPb zu verzichten, sich aber zu ihrer zivilrechtlichen 26 Memorandum about Price Fixing, N. N. to Mr. Barron and Mr. Heymann, 8.11.1949, in: IfZ-
Arch, OMGUS, 17/8250/18. 27 Gleiss/Deringer, Die Bindung, S. 659 f. 28 Willner, Wiederzulassung, S. 923 f.
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Gültigkeit nicht äußerte. Außerdem erteilte er auch keine offizielle Befreiung von den Dekartellierungsbestimmungen, sondern sah die vPb weiterhin als Verstoß an. Zudem wurde der Brief nie als öffentliche Verwaltungsanweisung publiziert, sondern fand lediglich über das BMWi und den Markenverband seinen Weg in die zeitgenössischen juristischen Fachzeitschriften. Diese Faktoren verkomplizierten die rechtliche Anwendung von Anfang an und waren Anlass für erhebliche juristische Kreativität bei der Auslegung. Zunächst war die Mehrzahl der Juristen davon ausgegangen, dass der WillnerBrief auch die zivilrechtliche Wirksamkeit der vPb beinhalten würde. Erste Zweifel daran wurden vom Münchener Rechtsanwalt Karl Heintz geweckt. Dieser gab zu Bedenken, dass die alliierten Gesetze noch beständen und durch den WillnerBrief nicht aufgehoben waren. Zudem seien bei zivilgerichtlichen Verfahren ausschließlich deutsche Gerichte zuständig, und wie diese urteilen würden, sei völlig offen, da die praktische Vorwegnahme eines noch nicht geltenden Gesetzes doch eine ungewöhnliche Rechtspraxis sei.29 Diesen Zweifeln stellte Alfred Gleiss in einer direkten Antwort seine Auslegung entgegen, der Willner-Brief sei als sogenannte railroad-clause nach amerikanischem Rechtsverständnis zu interpretieren. Durch dieses Mittel sei es den Kartellbehörden möglich, eine Praxis de facto zu legalisieren, die eigentlich nach wie vor einen Verstoß gegen die Kartellgesetze darstelle. Im Willner-Brief sei zwar keine „authentische Interpretation“ der Dekartellierungsgesetze zu sehen, da diesem als einfachem Brief kein gesetzlicher oder verwaltungsrechtlicher Charakter zukomme. Da die zivilrechtliche Gültigkeit aber erklärter Wille des Briefes sei, müsse nach einer Parallele im amerikanischen Antitrustrecht gesucht werden, die mit der railroad-clause gefunden sei.30 Der Begriff railroad-clause scheint dabei zu einem gewissen Grad eine Eigenkonstruktion von Gleiss gewesen zu sein. Zwar hatte deutsche Literatur über amerikanische Wettbewerbsrechtpraxis, die durch die alliierten Dekartellierungsgesetze einen erheblichen Aufschwung erfuhr, tatsächlich über einen railroad release als neuen Fachausdruck berichtet.31 Dieser terminus technicus bezeichnete dort eine Praxis im Zusammenhang mit den consent decrees, bei der Antitrustverfahren ohne einen Schuldspruch im Rahmen eines Deals zwischen der klagenden Antitrust Division und dem betroffenen Unternehmen eingestellt wurden. Der railroad release sollte den Ergebnissen dieser consent decrees letztlich über das konkrete Verfahren hinaus branchenweite Wirkung verschaffen. Da es im Falle der vPb allerdings nie zu einem alliierten Verfahren kam, war diese Rechtsinterpretation durch Gleiss wohl als fragwürdig einzuschätzen, wie auch die weitere Entwicklung bezüglich des Willner-Briefs verdeutlichen wird. Trotz ihrer Schwächen fand die Auslegung durch Gleiss in der Rechtsprechung zunächst durchaus Anklang. So urteilte das Kammergericht Berlin (West) im Fall 29 Vgl. Heintz/Gleiss, Zweifel, S. 607–609. 30 Vgl. ebd., S. 608. 31 Engelmann, Kampf, S. 170 f.
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der Klage von Beiersdorf gegen Preisbrecher beim Verkauf von Nivea-Creme in Anlehnung an Gleiss, der Willner-Brief sei als sogenannte railroad-clause nach amerikanischem Rechtsverständnis zu interpretieren.32 Bereits zuvor hatten sich deutsche Gerichte auf die amerikanische Rechtslage berufen. So verwies etwa das Amtsgericht Schwabach in seinem Urteil zur Gültigkeit der vPb explizit auf den amerikanischen Miller-Tydings Act von 1937, der die zuvor in den Gesetzen einzelner Bundesstaaten legalisierte vertikale Preisbindung auch auf Bundesebene genehmigte. Dabei bezog sich das Gericht explizit auf die Auslegung des BGH, der in einem anderen Sachverhalt der alliierten Kartellgesetze auf das amerikanische Recht als Ursprung verwiesen hatte.33 Auch wenn die formaljuristische Einordnung des Willner-Briefes umstritten blieb, glich sich die Rechtsprechung doch zunächst an und bejahte die zivilrechtliche Gültigkeit der vertikalen Preisbindung.34 In der Folge machten die Markenartikelhersteller von der Preisbindung reichlich Gebrauch. Kritiker sprachen bereits zu diesem Zeitpunkt von einer „Hochflut an Markenartikeln“, auch durch „nicht echte“ Markenartikel, die so weder von Erhard noch von der DIDEG beabsichtigt gewesen wäre, und sahen in dieser rapiden Verbreitung der vPb letztlich einen Ersatz für die verbotenen Kartelle.35 Die scheinbar durch den Willner-Brief geklärte Rechtssicherheit geriet bereits nach kurzer Zeit wieder ins Wanken. Anlass dafür war ironischerweise das Ende des Besatzungsstatuts und die Auflösung der AHK und DIDEG, die die Dekartellierungsgesetze geschaffen und durchgesetzt hatten. Adenauer hatte den Alliierten nämlich bei den Verhandlungen über die Pariser Verträge und das Ende des Besatzungsstatuts zugesichert, dass die alliierten Dekartellierungsgesetze bis zum Inkrafttreten des GWB in Kraft bleiben sollten. Dadurch wurden die alliierten Kartellgesetze am 5. Mai 1955 um 12 Uhr Bundesrecht.36 War dies auf den ersten Blick ein Zeichen für Kontinuität, so galt für die Rechtslage bei der vPb das Gegenteil. Durch die Ablösung der DIDEG und der amerikanischen Decartelization Division wurde nun nämlich die ohnehin zweifelhafte Rechtsform des Willner-Briefs weiter geschwächt, da die Behörden, die die vPb scheinbar von den Dekartellierungsgesetzen ausgenommen hatten, nun nicht mehr existierten. Der Willner-Brief war nie eine veröffentlichte Besatzungsnorm und wurde daher auch nicht auf deutsche Stellen übertragen.37 Auch die von Gleiss verbreitete Interpretation des Willner-Briefes als railroad-clause war zwar eine kreative Anwendung einer Rechtsfigur des amerikanischen Antitrustrechts auf deutsche Verhältnisse, offenbarte aber spätestens 1955 einen erheblichen Schönheitsfehler. Als der Autor 32 Vgl. Urteil des KG Berlin vom 17.11.1953,5 U 1840/53, in: WuW, Jg. 4 (1954), H. 3, S. 182–194. 33 Vgl. Urteil Amtsgericht Schwabach, o. D., Ds 56/52, in: WuW, Jg. 1–2, (1951/52), H. 12, S. 809;
Vgl. Lindenmaier, Die Rechtsprechung, S. 259–263. 34 Vgl. u. a. Urteil Landgericht Berlin vom 6.6.1953, 16 Q 42/53, in: WuW, Jg. 3 (1953), H. 10, S. 632 f. 35 Gabriel, Zur Preisbindung, S. 683–705; Büntig, Kartellersatz, S. 143–165. 36 Vgl. Gleiss/Fikentscher, Weitergeltung, S. 525–533. 37 Vgl. Spengler, Vertikale, S. 70–72.
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des Briefes, Sidney Willner, seine Position im Zuge des Personalabbaus bei der AHK bereits aufgegeben hatte, stellte das amerikanische Außenministerium am 21.2.1955 stellvertretend klar, dass es sich beim Willner-Brief lediglich um ein policy statement der amerikanischen Kartellabteilung handelte. In einem auf eine Anfrage des BMWi zurückgehenden Antwortschreiben hieß es: „As the terms of the letter (‚This office will not institute proceedings …‘) show, it contains merely what we call a policy statement, in other words, a statement of intention.“38 Damit schlossen die Amerikaner explizit aus, die Intention des Briefes sei gewesen, eine zivilrechtliche Legalisierung der vertikalen Preisbindung vor deutschen Gerichten zu präjudizieren oder der vertikalen Preisbindung eine flächendeckende Ausnahme von den Dekartellierungsgesetzen zu gewähren. Das BMWi, auf welches die Kompetenzen der DIDEG nun übergegangen waren, äußerte sich aber auch nach dem Erhalt des Briefes nicht entscheidend zu der Thematik. Alfred Gleiss, in seiner ursprünglichen Argumentation geschlagen, verteidigte die vertikale Preisbindung weiter, nun mit dem Hinweis, es sei trotzdem ein Gebot von Treu und Glauben seitens des Wirtschaftsministeriums, über die Grenzen des Willner-Briefes nicht hinauszugehen.39 Viele Gerichte hielten auch weiterhin mit anderen Begründungen an der Gültigkeit der vPb fest. So urteilte das OLG Hamburg, die vertikale Preisbindung sei in Folge ihrer mehrjährigen Gültigkeit sowie des Rechtszustands vor 1945 inzwischen zum Gewohnheitsrecht geworden.40 Das Landgericht München hingegen sah noch kein genügend starkes Gewohnheitsrecht erwachsen, schloss sich aber der Argumentation von Gleiss an und argumentierte außerdem mit der Einheitlichkeit des Rechtssystems.41 Zu einem anderen Schluss hingegen kam das OLG Stuttgart im Fall des Schokoladenherstellers Waldbaur. Das Gericht interpretierte die Verbindung der vertikalen Preisbindung im Sinne der Absatzbindung, d. h. der Festlegung des Absatzweges des Herstellers durch exklusive Limitierung etwa auf wenige Fachhändler. Diese sei durch den Willner-Brief nie legalisiert gewesen und nach Gesetz 56 klar rechtswidrig. Zudem habe der betroffene Straßenhändler, der mit Waldbaur im Rechtsstreit lag, glaubhaft deutlich gemacht, dass er durch die strikten Preis- und Absatzbindungen der Schokoladenhersteller Schwierigkeiten habe, vergleichbare Ware zu beziehen. Der vPb käme hier also eine monopolisierende Wirkung zu, die im Widerspruch zu Gesetz 56 stehe. Zudem sei der Willner-Brief lediglich eine einfache Verwaltungsanweisung gewesen, die durch das Ende der DIDEG jegliche Bedeutung verloren habe. Auch ein Gewohnheitsrecht sei keinesfalls entstanden:
38 Brief des amerikanischen Außenministeriums, 21.2.1955, zitiert in: Bramslöw, Amtliche Äuße-
rungen, S. 286 f. 39 Vgl. Spengler, Vertikale, S. 72. 40 Urteil des OLG Hamburg, 1.9.1955, 3 U 168/55, in: WuW, Jg. 6 (1956) H. 1, S. 75–77. 41 Urteil des LG München, 30.8.1955, 7 Q 45/55, in: ebd., S. 77 f.
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Zur Entstehung eines Gewohnheitsrechts gegen das gesetzte Recht genügt nicht, daß eine Interessentengruppe ihren Machtanspruch mit Überzeugung durchzusetzen versucht, während die Gemeinschaft zeitweise dies duldet.42
Der Senat des Gerichts argumentierte, er könne sich der „angeblich herrschenden Rechtsprechung der OLGs und der Mehrheit der einschlägigen Schriftsteller nicht anschließen“ und versagte der vertikalen Preisbindung die rechtliche Gültigkeit.43 Ähnlich argumentierte auch das LG Essen. Der Willner-Brief habe keine zivilrechtliche Gültigkeit, ein Gewohnheitsrecht sei nicht entstanden und die Preisbindung der zweiten Hand sei jedenfalls dann ungültig, wenn die Hersteller der betreffenden Branche durch gleichmäßiges Vorgehen eine marktbeherrschende Stellung oder einen bedeutsamen Einfluß auf die Marktlage erlangt haben, welche die Möglichkeit eines Preiswettbewerbes ausschließen.44
Das Gericht argumentierte auch, dass eine kontrollierende Instanz, wie sie im GWB durch das Bundeskartellamt vorgesehen sei, noch nicht existiere, sodass die Markenartikelhersteller in der Handhabung der Preisbindung völlig frei und unkontrolliert, die Verbraucher hingegen schutzlos wären.45 Dies war so nicht einmal vor 1945 der Fall gewesen. Auch hier war eine der beteiligten Parteien Hersteller von Markenschokolade.46 Sowohl das OLG Bamberg47 als auch das OLG Hamm48 schlossen sich der Rechtsprechung gegen die vPb an. Diese Urteile führten zu einer Neubewertung der Preisbindung innerhalb des Rechtswesens. So urteilte das OLG Hamburg, das noch 1955 für die Rechtmäßigkeit der vPb durch Gewohnheitsrecht geurteilt hatte, nun anders. Im Fall eines Herstellers von Kaffeefiltern gegen einen Einzelhändler kam das Gericht zu dem Schluss, dass die lückenlose Durchführung des Preisbindungssystems zur Zeit nicht möglich sei, da die widersprüchliche Rechtsprechung der verschiedenen OLG eine solche Lückenlosigkeit unmöglich mache. Da die Vollständigkeit nicht mehr gegeben sei, könne der nicht mehr vertraglich gebundene Händler für den Verkauf der Ware unter dem gebundenen Preis nach
42 Urteil des OLG Stuttgart, 17.11.1955, 5 U 169/54, in: WuW, Jg. 6 (1956) H. 4, S. 275–289, hier:
S. 287. 43 Urteil des OLG Stuttgart, 17.11.1955, 5 U 169/54, in: ebd., S. 275–289, hier: S. 288. 44 Urteil des LG Essen, 8.5.1956, 16 HO 31/56, in: WuW, Jg. 6 (1956) H. 10, S. 686–688, hier: S. 686. 45 Urteil des LG Essen, 8.5.1956, 16 HO 31/56, in: ebd., S. 686–688. 46 Diese Branche verteidigte ihren quasi kollektiv bei 1,30 DM pro Tafel Schokolade gebundenen Preis noch bis in die 1960er Jahre eisern, bis dieser schließlich 1964 durch das Bundeskartellamt zu Fall gebracht wurde. Siehe: Huttenlocher, Sprengel, S. 259–262. 47 Vgl. Urteil des OLG Bamberg, 23.4.1956, 1W 57/56, in: WuW, Jg. 6 (1956), H. 11, S. 740–742. 48 Vgl. Urteil des OLG Hamm, 13.9.1956, 4 U 145/56, in: WuW, Jg. 6 (1956), H. 12, S. 796–800; Urteil OLG Hamm, 18.10.1956, 4U 127/55, in: WuW, Jg. 7 (1957), H. 4, S. 267 f.
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Drittbezug der Ware nicht verurteilt werden.49 Zu einem ähnlichen Urteil kam auch das OLG Düsseldorf. Dieses hatte noch wenige Monate zuvor, ebenfalls auf Klage eines Schokoladenherstellers hin, für die Rechtmäßigkeit der vPb geurteilt.50 Grundsätzlich hielt das Gericht auch im folgenden Urteil an dieser Auslegung fest: Die vertikale Preisbindung sei nach der rule of reason, einem anderen amerikanischen Rechtsgrundsatz im Antitrust, vernünftig, da die vPb bereits seit Jahrzehnten durchgeführt würde und auch nach dem Entwurf des GWB wieder legal sei. Allerdings sei der Versuch des Schokoladenherstellers, den Händler auf einen bestimmten Verkaufspreis zu verpflichten, nicht legal, da in den Nachbarbezirken der OLG Hamm und Köln die Rechtmäßigkeit der vPb bekanntermaßen verneint worden wäre. Es sei zudem bekannt, dass ambulante Einzelhändler über die Rechtsprechung der OLG genau informiert seien. Da der Händler nah am Hammer Gerichtsbezirk wohne, könne er durch den Schokoladenhersteller nicht zur Einhaltung der Preisbindung verpflichtet werden.51 Hatten die Markenhersteller auf eine Klarstellung des BMWi gehofft, auf das die Kompetenzen der DIDEG ja übergegangen waren, so wurde diese Hoffnung enttäuscht. Auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion im Bundestag antwortete Erhard explizit, der Umstand, daß sich in letzter Zeit die Gerichtsentscheidungen mehren, welche Preisbindungsverträge als verboten und zivilrechtlich nichtig bezeichnen […], gibt der Bundesregierung keinen Anlaß, die Schaffung einer neuen Rechtsgrundlage für die Preisbindung zweiter Hand noch auf Grundlage der alliierten Dekartellierungsgesetze zu erwägen.
Zur Begründung gab Erhard an, der Sachverhalt werde im Entwurf des GWB erschöpfend geregelt und zudem sei es zweifelhaft, ob das BMWi nach geltendem Recht überhaupt befugt sei, der vertikalen Preisbindung durch eine allgemeine Genehmigung zu einer umfassenden Rechtswirksamkeit zu verhelfen.52 Hintergrund dieser Entscheidung war, dass das Bündnis zwischen Erhard und dem Markenverband, zur Zeit des Willner-Briefs noch intakt, inzwischen einige Risse bekommen hatte, da die Markenartikler sich bei allgemein steigendem Preisniveau weigerten, Erhards Preispolitik durch eigene Preissenkungen beizustehen.53 Das finale Wort zur vPb hatte letztlich der Bundesgerichtshof. Das zu konservativen Urteilen neigende, in jedem Senat mit mindestens einem Richter des 49 Vgl. Urteil des OLG Hamburg, 13.12.1956, 3 U 116/56, in: WuW Jg. 7 (1957), H. 3, S. 173 f. 50 Vgl. Urteil des OLG Düsseldorf, 9.10.1956, 2 U 110/56, in: WuW, Jg. 6 (1956), H. 12, S. 800 f.
Das Unternehmen hatte einem ambulanten Händler den Verkauf der Ware für 1 DM statt 1,30 DM untersagen wollen. 51 Vgl. Urteil des OLG Düsseldorf, 12.4.1957, 2 U 25/57, in: WuW, Jg. 7 (1957), H. 6, S. 395–398. 52 Antwort Ludwig Erhards auf die Kleine Anfrage 300 der SPD-Fraktion, 29.1.1957, Bundesdrucksache 2/2872; BMWi zur Rechtslage der Preisbindung der zweiten Hand, in: WuW, Jg. 7 (1957), S. 196 f. 53 Zu Erhards Preispolitik vgl. Zündorf, Preis.
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alten Reichsgerichts besetzte, höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit urteilte aber erst im Dezember 1957.54 Zu diesem Zeitpunkt war das GWB bereits verabschiedet und die alliierten Gesetze waren ohnehin nur noch für einen Monat gültiges Recht. Im Stuttgarter Schokoladenfall, der den Weg bis zum BGH gefunden hatte, revidierte der erste Zivilsenat, dessen Vorsitz dem BGH-Präsidenten und ehemaligen Richter am Reichsgericht Hermann Weinkauff wenn abkömmlich selbst oblag, das Urteil des Stuttgarter OLG.55 Die Verbindlichkeit der Preisbindung sei im Hinblick auf den Willner-Brief zu bejahen. Auch eine mit der Preisbindung verbundene Absatzbindung sei unter Umständen rechtens. Im Falle der Schokolade sei dies der Fall, da die Ware leicht verderblich und hitzeempfindlich sei, sodass die entsprechende Qualität bei Straßenhändlern nicht gewährt werden könne. Zudem sei die notwendige Lückenlosigkeit bei diesen Händlern kaum zu überwachen.56 Diese Auslegung der Angemessenheit der Absatzbindung stand allerdings im direkten Gegensatz zur Politik der DIDEG, wie sie noch wenige Jahre zuvor ausbuchstabiert worden war. So hatte sich diese unter ihrem damaligen Vorsitzenden William Blitz geäußert, das Schreiben Willners decke „keinesfalls Lieferbedingungen, nach denen der Wiederverkauf von einem Grosshändler zum anderen, oder eines Kleinhändlers an den anderen verboten ist.“57 Eine Absatzbindung sei ausschließlich dann berechtigt, wenn seitens des Herstellers ein berechtigtes Interesse an einem fachkundigen Händler bestehe, da der Kunde auf technische Beratung des Händlers angewiesen sei. Dies sei etwa bei Röntgenapparaten oder chirurgischen Geräten der Fall. Bei Artikeln des täglichen Gebrauchs wie Parfüm oder Seifen hingegen sei eine Absatzbindung nicht zulässig.58 Eine Absatzbindung bei Tafelschokolade zu rechtfertigen war gemessen an den Grundsätzen der DIDEG also äußerst zweifelhaft. Laut dem Urteil des BGH seien auch die vielfach geäußerten Bedenken bezüglich der Gültigkeit des Willner-Briefes nach dem Ende der DIDEG unbegründet, da der Willner-Brief entweder eine Befreiung gewähre oder zumindest klarmache, dass eine Befreiung im Einzelfall nicht gewährt werden müsse. Die Annahme, die Befreiung müsse sich auf einen konkreten Einzelfall beziehen, entstamme dem deutschen Rechtsdenken und treffe auf Entscheidungen der alliierten Dekartellierungsbehörde nicht zu. Auch eine Veröffentlichung im Amtsblatt sei nicht notwendig, da es sich um eine Auslegung von Gesetz 56 handle und nicht um eine Änderung. Der Zweck des Schreibens sei klar gewesen, den Rechtszustand nach dem GWB vorwegzunehmen, was nur bei zivilrechtlicher Gültigkeit 54 Vgl. Herbe, Hermann Weinkauff, S. 90. 55 Vgl. ebd., S. 93. 56 Vgl. Urteil des BGH, 10.12.1957, I ZR 175/56, in: Betriebs-Berater (= BB), Jg. 12 (1957),
H. 35/36, S. 1247. 57 Stellungnahme der Decartelization Division, Dr. William Blitz, zum Problem der Vertriebsbindung, 1.7.1953, in: BArch, B 102/5273. 58 Vgl. Stellungnahme der Decartelization Division, Dr. William Blitz, zum Problem der Vertriebsbindung, 1.7.1953, in: BArch, B 102/5273.
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der vPb möglich sei. Auch den Fakt, dass der gleiche Preis für die Waren mehrerer Hersteller horizontale Absprachen nahelege, sah das Gericht nicht als Grund für eine Nichtigkeit. So sei dies zwar eine Möglichkeit, allerdings könne der Preis sich auch im Wettbewerb für die verschiedenen Qualitätsstufen entsprechend gebildet haben. Lägen tatsächlich horizontale Absprachen vor, so sei es Aufgabe der Gegenpartei substantiierte Angaben zu machen und Beweisanträge zu stellen, die eine Nachprüfung eines etwaigen „kartellwidrigen“ [sic] Verhaltens der Hersteller nachwiesen. Zudem verwies das Gericht bei der Interessenabwägung zwischen Hersteller und Händler sogar auf Urteile des Reichsgerichts, in denen etabliert worden war, dass die notwendige Kontrolle der Lückenlosigkeit und Überwachung der Einhaltung bei ambulanten Händlern nicht möglich sei und dies einen Ausschluss dieser Händler vom Verkauf rechtfertige.59 Die Rechtsprechung des BGH nahm einen Rechtszustand vorweg, der durch das GWB bereits gesetzlich fundiert war und lediglich auf sein offizielles Inkrafttreten wartete. Dessen waren sich die Richter ohne Frage bewusst, so dass ein anderes Urteil kaum langfristig Bestand gehabt hätte und lediglich eine Art progressives Signal an den Gesetzgeber gesandt hätte. In der Rechtsprechung des BGH zeigte sich aber nicht nur materiell, sondern auch hinsichtlich der kommunikativen Praxis ganz klar die Tendenz, im Sinne einer „Logik der Angemessenheit“ für die durch das neue Kartellrecht eingeschränkten Unternehmen zu urteilen. Die Interessen wirtschaftlicher, in diesem Fall wohl auch sozialer Außenseiter, denen das Kartellrecht die Möglichkeit gegeben hatte, die Marktmacht der etablierten Markenhersteller zu durchbrechen, wurden nicht berücksichtigt. Dabei bedienten sich die Richter des BGH gern Rechtsfiguren, die schon im amerikanischen Kartellgesetz zur Einschränkung der Durchschlagskraft der entsprechenden Gesetze genutzt wurden. Auch vor einem direkten Rekurrieren auf Urteile des Reichsgerichts schreckte der BGH unter Weinkauff ebenso wenig zurück wie vor der Revision zahlreicher Urteile der Landes- und Oberlandesgerichte. Die alliierten Gesetze wurden zwar nicht gebrochen, aber in der Wirksamkeit deutlich eingeschränkt und durch Ausnahmen im Namen der rule of reason im Wirkungsbereich beschränkt. Dabei orientierten sich die Richter des BGH im Resultat und in der Kommunikation letztlich an der etablierten Rechtsprechung des Reichsgerichts, auch wenn der Weg zur Urteilsfindung nun ein anderer war. Das GWB legalisierte die vertikale Preisbindung für Markenwaren zwar wieder, die unter dem alliierten Rechtszustand ausgebrochene rechtliche Kritik verstummte jedoch nicht mehr. Nachdem die preisgebundenen Waren im Verlauf der 1960er Jahre auch wirtschaftlich etwa durch preisbrechende Discounter immer mehr an Boden verloren hatten, wurde die Preisbindung der zweiten Hand schließlich 1973 in einer Novelle des GWB verboten.60
59 Urteil des BGH, 10.12.1956, I ZR 175/56, in: WuW, Jg. 8 (1958), H. 3, S. 181–192. 60 Vgl. Banken, Schneller Strukturwandel; Schröter, Konsumpolitik.
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2.
Ausschließlichkeitsklauseln
Die Tendenz des BGH, alte Geschäftspraktiken gegen die alliierten Kartellgesetze zu verteidigen, zeigt sich auch im zweiten Fallbeispiel. Hier ging es um Geschäftsvereinbarungen, die juristisch meist unter dem Begriff „Ausschließlichkeitsklauseln“ zusammengefasst werden. Dabei verpflichtete sich der eine Vertragspartner im Tausch gegen eine wirtschaftliche Gegenleistung, etwa einen Kredit oder die Bereitstellung einer Immobilie, zum exklusiven Bezug einer Ware bei dem anderen Vertragspartner. Ähnliche Exklusiv- oder Ausschließlichkeitsklauseln waren vor 1945 bereits eines der wichtigsten Instrumente der Kartelle gewesen, damals häufig in Verbindung mit Boykottmaßnahmen.61 Auch in den 1950er Jahren war diese Art von vertraglicher Wettbewerbsbeschränkung noch ein zentraler Sachverhalt im Wettbewerbsrecht. So verfasste etwa der damals junge Jurist Kurt Biedenkopf, der später erster sächsischer Ministerpräsident nach der Wiedervereinigung wurde, 1958 seine Dissertation über diesen Sachverhalt.62 In der deutschen Rechtsprechung vor 1945 waren derartige Verträge nicht als Bestandteil des Wettbewerbsrechts verstanden worden und somit nicht anders als andere privatrechtliche Schuldverträge behandelt worden.63 Dies führte dazu, dass das Ausmaß der Beschränkung des Wettbewerbs durch derartige Ausschließlichkeitsverträge keine Richtschnur bei ihrer rechtlichen Bewertung war. Stattdessen wurden sie meist nur dann von den Gerichten als unzulässig bewertet, wenn die exzessive Bindung des einzelnen Vertragspartners als Verstoß gegen die im UWG angeführten „guten Sitten“ gewertet wurde, etwa wegen drückender Rückzahlungsbedingungen, überzogener Vertragsstrafen, schwerer Folgen im Falle eines Zahlungsverzugs sowie überlanger Vertragsdauer.64 Häufige Anwendungsgebiete dieser Art von Vertragskonstruktion im Untersuchungszeitraum waren etwa Verträge unabhängiger Tankstellenwarte mit Mineralölkonzernen, die dem Tankwart kostenlos die Zapfanlagen stellten, dafür aber vertraglich festlegten, dass der an dieser Tankstelle vertriebene Kraftstoff ausschließlich von dem entsprechenden Hersteller bezogen wurde. Ein anderes Fallbeispiel, welches seinen Weg durch die Instanzen bis zum BGH fand und hier kurz beleuchtet werden soll, war der Bierlieferungsvertrag. Hierbei gewährte die Brauerei dem Gastwirt einen Kredit, während dieser sich für die Vertragsdauer verpflichtete, sein Bier ausschließlich bei der kreditgewährenden Brauerei zu beziehen. Diese Geschäftspraktiken waren für deutsche Brauereien im Untersuchungszeitraum äußerst relevant. So stellte etwa allein die Dortmunder Union Brauerei trotz angespannter eigener Finanzlage ihren Wirten von der Währungs-
61 62 63 64
Vgl. Liefmann, Kartelle, Konzerne und Trusts, S. 369–378. Vgl. Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung. Vgl. ebd., S. 35 f. Ebd., S. 40.
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reform bis 1952 Darlehen in Höhe von 6,6 Millionen DM zur Verfügung.65 Der Deutsche Brauer-Bund schätzte die Gesamtzahl an Bierlieferungsverträgen mit Ausschließlichkeitsklauseln auf über 100.000 und verteidigte die Praktik verbissen gegen kartellrechtliche Vorbehalte aus den alliierten Gesetzen. Dabei orientierten sich die Brauereien vor allem an der überkommenen Rechtsprechung des Reichsgerichts. Die Bierlieferungsverträge unterlägen in ihrer Gesamtheit einer bis ins feinste entwickelten Rechtsprechung […], welche – am Maßstab der Sittenwidrigkeit gemessen – sehr strenge Grundsätze aufgestellt hat. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Dauerlieferungsvertrag und insbesondere zum Bierlieferungsvertrag füllt viele Bände und ist wissenschaftlich und praktisch geprüft und erprobt. Sie gewährleistet ein hohes Maß von Stabilität für die in Frage kommenden Vertrags- und Geschäftsbeziehungen.66
Diese angesprochene Stabilität in Vertrags- und Geschäftsbeziehungen fußte jedoch auf einer erheblichen Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit der durch diese Verträge gebundenen Gastwirte. Das Reichsgericht hatte diese Art von Ausschließlichkeitsklauseln in seinen Urteilen meist aufrechterhalten und die Vertragsfreiheit somit höher als die Wettbewerbsfreiheit gewichtet.67 Durch die alliierten Dekartellierungsgesetze hatte sich die Rechtslage aber nun erheblich geändert, da in Artikel V, Absatz 9c von Gesetz 56/Verordnung 78 „the exclusion of any person from any territorial market or field of business activity, the allocation of customers“ verboten war. Im Unterschied zum Fall der vertikalen Preisbindung allerdings, deren Gültigkeit erst im Nachhinein durch Verwaltungsanweisungen der DIDEG präzisiert werden musste, lieferte hier bereits der Gesetzestext den Gerichten interpretatorischen Spielraum bei der einschränkenden Auslegung des Gesetzes. Der entsprechende Artikel enthielt nämlich auch die Einschränkung: „except insofar as such arrangements are not designed to reduce competition and are merely bona fide marketing arrangements between a particular enterprise and its distributing agents with respect to its own products.“68 Diese Regelung war zwar durchaus präzise, brachte aber für die deutschen Juristen Auslegungsschwierigkeiten mit sich. Verwirrung stiftete dabei vor allem der Begriff der distributing agents, der in der deutschen Übersetzung des Gesetzes falsch mit „Großhandelsvertreter“ übersetzt war. Eine treffendere, wenn auch hölzerne Übersetzung wäre „Verteilungsagent“ gewesen.69 Fraglich war dabei, ob der distributing agent zwingend ein Angestellter des Unternehmens sein müsse, oder ob 65 Bodden, Business, S. 91 f. 66 Kurzmemorandum des Deutschen Brauer-Bundes, o. D., S. 2, in: BArch, B 102/192483. 67 Vgl. u. a. Urteil des Reichsgerichts, 11.05.1906, II 459/05, in: Entscheidungen des Reichsge-
richts in Zivilsachen (RGZ) 63, S. 297. 68 Law No. 56, in: Amtsblatt der Militärregierung, Deutschland, Amerikanisches Kontrollgebiet, Ausgabe C vom 1.4.1947, S. 5. 69 Jacobsohn, Die Ausschließlichkeitsklausel, S. 609–612.
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es sich auch um einen vertraglich gebundenen, unabhängigen Händler handeln könnte. Die amerikanische Dekartellierungsabteilung stellte sich dabei zunächst auf den ersteren Standpunkt. 1951 lockerte die DIDEG den alliierten Standpunkt dann aber insofern, als auch im zweitgenannten Fall eine kartellrechtliche Zulässigkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen wurde, sofern weder Zweck noch Wirkung des entsprechenden Vertrages eine Wettbewerbsbeschränkung darstellten.70 Die zunächst äußerst strikte Auslegung der Kartellgesetze durch die amerikanischen Besatzer war wohl auch dadurch inspiriert, dass der Supreme Court seine eigene Rechtsprechung zu diesem Sachverhalt zu Beginn der 1940er Jahre erheblich verschärft hatte.71 Der BGH hingegen, konkret der erste Zivilsenat, war auch hier bemüht, etablierte Geschäftspraktiken gegen eine als übereifrig wahrgenommene Rechtsprechung der unteren Instanzen zu schützen und nutzte dabei gezielt Rechtsfiguren aus dem amerikanischen Antitrustrecht. Der erste entsprechende Sachverhalt, der seinen Weg über das Düsseldorfer Landgericht und Oberlandesgericht bis zum BGH fand, war folgender: Die Kläger, ein Ehepaar aus zwei Düsseldorfer Gastwirten, hatte vom Beklagten, einem Großhändler von Mineralwasser und Bier, im Jahre 1934 für die Einrichtung einer Gastwirtschaft ein Darlehen über 10.000 RM erhalten. Bedingung in diesem Kreditvertrag war, dass im einzurichtenden Restaurant ausschließlich Bier, Mineralwasser, Limonaden und Kohlensäuren des Beklagten auszuschenken waren. Dieser ausschließliche Bezug war nicht vor der Abnahme von 2000 Hektoliter Bier und nicht vor dem 30.6.1939 einzustellen. Der Vertrag war durch Vertragsstrafen sowie Sicherheiten in Form von Hypotheken und einer Grundschuld zu Gunsten des beklagten Großhändlers abgesichert. Das Darlehen hatte die Kläger bereits 1941 restlos zurückgezahlt und die Gastwirtschaft wurde im Mai 1946 an einen anderen Gastwirt verpachtet, der die Bierbezugspflicht übernahm. Im entsprechenden Zeitraum waren aber erst etwa 1200–1300 hl Bier abgenommen worden, sodass der Großhändler sich weigerte, die Grundschuld vor Erfüllung der Bierbezugspflicht freizugeben. Die Gastwirte klagte auf Feststellung, dass diese übernommene Verpflichtung zum exklusiven Getränkebezug nichtig sei, da sie übermäßig schwer und lang sei. Das Düsseldorfer Landgericht hatte die Klage zunächst am 17. März 1949 abgewiesen, das OLG am gleichen Ort aber in der Berufung im Sinne der Kläger entschieden, dass die Bierbezugsverpflichtung nichtig sei. Der erste Zivilsenat des BGH unter Leitung von Fritz Lindenmaier hob dieses Urteil des Düsseldorfer Gerichts aber auf und kam selbst zu dem Urteil, dass der Vertrag, im Rahmen eines Darlehensabkommens den gesamten Bierbedarf bei einer Brauerei zu decken, nicht gegen die Dekartellierungsbestimmungen verstoße. Während die Vorinstanzen den Vertrag vor allem auf Sittenwidrigkeit gemäß dem UWG und anderer deutscher Gesetze 70 Vgl. Gleiss, Alleinvertriebsabkommen, S. 598; Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbe-
schränkung, S. 73. 71 Vgl. Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung, S. 54–57.
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durchleuchtet hatten, widmete sich der erste Zivilsenat unter Fritz Lindenmaier hier auch konkret einer Bewertung nach den alliierten Dekartellierungsgesetzen. Der vorliegende Vertrag falle allerdings nicht unter diese. Nach dem reinen Wortlaut des Gesetzes würde jeder Kaufvertrag den Wettbewerb einschränken, da die Wettbewerber des Verkäufers so vom Wettbewerb ausgeschlossen würden. Daher sei für eine sinnvolle Auslegung die Rechtsauffassung des Gesetzgebers zu untersuchen, welche sich im amerikanischen Antitrustrecht finde. Explizit beriefen sich die Bundesrichter hier auf den amerikanischen Clayton Act von 1914 und dessen Auslegung durch den Supreme Court. Nach dieser müsse eine vertragliche Bestimmung den Wettbewerb ungebührlich einschränken (unduly restrictive) und die Wettbewerbsbeschränkung wesentlich (substantial) sein, um ein Verbot zu rechtfertigen. Entfernt liegende (remote) und unwesentliche Verringerungen des Wettbewerbs in Nebenabreden seien hingegen nicht untersagt.72 Der Marktanteil des beklagten Händlers im Verhältnis zum Gesamtumsatz an Bier im Bundesgebiet oder auch nur in seiner Region sei gering. Die Bierabnahmepflicht stehe im inneren Zusammenhang mit der Gewährung des Darlehens, eine Wettbewerbsbeschränkung sei nicht das eigentliche Vertragsziel. Eine etwaige Beschränkung des Wettbewerbs erfolge nur in geringem Umfange und als mittelbare Folge des Vertrages. Daher bestünden keine Bedenken, den Vertrag nach den Dekartellierungsbestimmungen für zulässig zu erachten.73 Zu einem quasi identischen Urteil kam der zweite Zivilsenat des BGH in einem ähnlichen Fall. Hier hatte eine Gastwirtin, die ihr Bier seit Jahrzehnten von einer Brauerei bezog, in Betracht gezogen die Lieferbrauerei zu wechseln, da die Brauerei einer Anfrage über die Gewährung eines Darlehens für die Modernisierung der Schankanlage auswich. Daraufhin bemühte sich eine Münchener Brauerei, mit der Gastwirtin ins Gespräch zu kommen. Die Gastwirtin schloss schließlich mit dieser im Gegenzug für einen zinslosen Kredit von 2.000 DM einen Vertrag, der bis zur Tilgung zum exklusiven Bierbezug bei der Münchener Brauerei verpflichtete. Wenige Tage später widerrief die Beklagte allerdings ihren Vertrag, da ihre ursprüngliche Lieferbrauerei sich zur Gewährung eines entsprechenden Darlehens bereiterklärt hatte. Daraufhin wurde sie von der Münchener Brauerei verklagt, machte aber geltend, dass die Vereinbarung gegen Gesetz 56 verstoße. Die Münchener Brauerei als Klägerin verlangte die Zahlung von 2.250 DM. Das zuständige Landgericht wies die Klage ab, das OLG München gab der Berufung der Klägerin statt.74
72 Vgl. Urteil des BGH, 23.11.1951, I ZR 24/51, in: WuW, Jg. 1–2 (1951/52), H. 5, S. 354 f., sowie
Volltext unter: https://www.prinz.law/urteile/bgh/I_ZR__24-51, hier: S. 16 ff., zuletzt abgerufen am 22.09.2020. 73 Ebd., S. 19. 74 Urteil des BGH, 14.5.1952, II ZR 256/51, in: WuW Jg. 1–2 (1951/52), H. 9/10, S. 645 f., sowie Volltext unter: https://research.wolterskluwer-online.de/document/50c91ed8-d5b8-4383-9478-fa627eb6a65c, zuletzt abgerufen am 23.09.2020.
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Teilweise versuchten Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits, die durch unterschiedliche Urteile entstandene Rechtsunsicherheit strategisch zu nutzen. Als in juristischen Fachzeitschriften Artikel erschienen, welche die Ausschließlichkeitsklauseln in Bierbezugsverträgen mit Blick auf die Dekartellierungsgesetze anzweifelten, versandte ein Biergroßhändler an potenzielle Kunden eine Broschüre mit eben diesen Artikeln, obwohl der Sachverhalt juristisch noch nicht final geklärt war. Auf diese Weise wollte er die Gastwirte dazu anhalten, aus ihren alten Lieferungsverträgen auszusteigen und sie als neue Kunden zu gewinnen. Daraufhin verklagte ein Verband von Bierbrauereien den werbenden Großhändler erfolgreich in drei Instanzen wegen unlauterem Wettbewerb nach dem UWG.75 Die Revision der Beklagten im Fall der Münchener Brauerei beim BGH war aber schließlich erfolglos. Auch hier entschieden die Bundesrichter, die Beschränkung des Wettbewerbs sei unwesentlich und eine Konzentration von Wirtschaftskraft, wie sie im Gesetz 56 genannt wurde, käme nicht in Betracht.76 Durch das frühe Urteil des BGH blieb die Rechtsprechung bei den Exklusivklauseln in den Bierlieferungsverträgen im Gegensatz zum Fall der vertikalen Preisbindung konstant. So urteilte der BGH in einem ähnlichen Fall Ende 1956 erneut für die Aufrechterhaltung der Exklusivklauseln, wenn auch hier in Bezug auf das UWG.77 Auch in einem weiteren inhaltlich verwandten Sachverhalt hielt der BGH die Geschäftspraktiken der Brauereien und des Biergroßhandels im Umgang mit der Gastronomie aufrecht. Der Sachverhalt war hier, dass ein Bierverlag ein eigenes Depot hatte und von diesem aus seine Kundschaft belieferte. Dies war in Folge der Einwirkungen des Krieges aber zunehmend unmöglich geworden, sodass dieser Bierverlag die Belieferung einem Konkurrenten übertrug. In diesem Vertrag war der Schutz des Kundenstamms vereinbart worden, d. h. nach Kündigung des Vertrages, welche vierteljährlich erfolgen konnte, sollte der Vertragspartner den übernommenen Kundenstamm für einige Jahre nach Vertragsende nicht mehr beliefern. Der Bierverlag kündigte den Vertrag schließlich zum 1.7.1949, die Vertragspartnerin hielt sich aber nicht an die Vereinbarung und belieferte die übernommene Kundschaft trotzdem weiter. Daraufhin verklagte der Bierverlag die Vertragspartnerin. Die Beklagte berief sich darauf, dass die Kundenschutzklausel gegen Gesetz 56 verstoße und daher nichtig sei. Das Landgericht Karlsruhe indes sah sich nicht in der Lage, der Klage stattzugeben und dem in Frage stehenden Vertrag unter den Dekartellierungsgesetzen Rechtsgültigkeit zuzuerkennen. Zwar sei der Klägerin darin zuzustimmen, dass die Ausschaltung des freien Wettbewerbs nicht das ursprüngliche Vertragsziel war, jedoch käme es nicht auf die Absicht, sondern auf die Wirkung an, und die sei hier klar ein Ausschluss der Beklagten von Marktgebieten und Kundschaft, sowie eine Zuteilung von Kunden wie sie im
75 Vgl. Urteil des BGH, 13.11.1953, I ZR 79/52, in: BB, Jg. 9 (1954), H. 4, S. 114 f. 76 Vgl. Urteil des BGH, 14.5.1952, II ZR 256/51, in: WuW Jg. 1–2 (1951/52), H. 9/10, S. 645 f. 77 Vgl. Urteil des BGH, 16.10.1956, I ZR 2/55, in: BB, Jg. 11 (1956), H. 33, S. 1088 f.
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Wortlaut der Dekartellierungsgesetze explizit verboten worden war. Daher könne die entsprechende Klausel nicht wirksam sein.78 Auf die Revision der Klägerin hin kam hier aber bereits das OLG Stuttgart zu einer völlig anderen Rechtsauffassung. Das Gericht hob das Urteil der Vorinstanz auf und verurteilte die Beklagte. Die Richter argumentierten, das Abkommen verhindere nicht den lauteren Wettbewerb. Sie bezogen sich dabei auf die Präambel, laut derer das Gesetz dem Aufbau einer gesunden und demokratischen deutschen Wirtschaft ohne übermäßige Konzentration dienen sollte. Als solche könne nicht jedes Wettbewerbsverbot per se untersagt werden, weil das die freie Konkurrenz de facto einschränken würde. Das Gericht verwies dabei explizit auf die in Artikel V Abs. 9c2 genannten Ausnahmen (s. o.), nachdem das Verbot nicht zutreffe, wenn es sich um in gutem Glauben abgeschlossene Marktabreden zwischen einem Unternehmer und seinem Agenten bezüglich der eigenen Erzeugnisse handle, die nicht die Beschränkung des Wettbewerbs zum Ziel habe. Das Gericht bediente sich dabei auch des in der Fachliteratur besprochenen Konzepts der ancillary clause, nach dem eine wettbewerbsbeschränkende Klausel gültig sein könne, wenn diese lediglich eine Nebenabrede darstelle, die die Durchführung eines ansonsten nicht wettbewerbsbeschränkenden Vertrages in Treu und Glauben ermögliche.79 Diese Auslegung hatte unter anderem Bundesrichter Fritz Lindenmaier popularisiert, sowohl durch seine o. g. Urteile im ersten Zivilsenat, dessen Vorsitz er in Abwesenheit des Präsidenten Weinkauffs übernahm, sowie auch durch entsprechende Publikationen in juristischen Fachzeitschriften.80 Durch Lindenmaier war auch personell eine Kontinuität zum gleichen Senat beim Reichsgericht gewährt, dem er seit 1926 angehört hatte und ab 1937 bis zur Schließung des Gerichts 1945 als Präsident vorsaß.81 Wenig überraschend schloss sich dementsprechend dann auch der BGH auf Revision der Beklagten dem Urteil und der Argumentation des OLG an. Zwar verstoße die Klausel gegen den Wortlaut von Gesetz 56, jedoch sei dieser so weit gefasst, dass auf jeden Fall eine Auslegung durch deutsche Gerichte erforderlich sei. Das Gesetz wolle „seinem Sinn und Zweck nach nur echte Einschränkungen des Wettbewerbs verbieten.“ Die in diesem Fall zu behandelnde Kundenschutzklausel hingegen sollte lediglich die berechtigten Interessen der Klägerin im Falle der Beendigung des Vertrages sichern, sie war für die allgemeine Marktlage ohne Bedeutung. Sie geht auch nicht über das hinaus, was im öffentlichen Interesse tragbar ist, um die rechtlichen Belange der
78 79 80 81
Vgl. Urteil des LG Karlsruhe, 18.8.1950, I O 58/50, in: BB, Jg. 5 (1950), H. 25, S. 631. Vgl. Urteil des OLG Stuttgart, 14.3.1951, 2 U 167/50, in: BB, Jg. 6 (1951), H. 11, S. 264 f. Vgl. Lindenmaier, Wettbewerbsverbote, S. 877–879. Vgl. Pahlow, Fritz Lindenmaier.
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Klägerin zu schützen. Sie ist, wie aus einer sinngemäßen Auslegung des Gesetzes folgt, nicht verboten.82
Eine Kundenschutzklausel verstoße dann nicht gegen Gesetz Nr. 56, wenn sie als untergeordnete Nebenverpflichtung (ancillary clause) nur dessen faire, Treu und Glauben entsprechende Durchführung sichern solle, und die Beschränkung der geschäftlichen Tätigkeiten nicht geeignet sei, die allgemeine Marktlage zu beeinflussen.83 Diese Einschätzung blieb auch zeitgenössisch nicht von Kritik verschont. So kritisierte etwa der ordoliberale Jurist und Experte für Wettbewerbsrecht, ErnstJoachim Mestmäcker, die Auslegung des BGH in diesem Entscheidungskomplex. Im Falle der Bierlieferungsverträge sichere nicht die Ausschließlichkeitsklausel das Darlehen, sondern das Darlehen würde lediglich gewährt, um einen gesicherten, durch die Ausschließlichkeitsverträge garantierten Absatz zu erzielen. Daher entfalle die Argumentation einer ancillary clause im Sinne der rule of reason, da von einer untergeordneten Nebenverpflichtung nicht gesprochen werden könne.84 Auch die ebenfalls bezüglich der Ausschließlichkeitsverträge geäußerte Einschätzung des BGH, ein branchenüblicher Vertrag sei per se auch reasonable, beruhe auf einer Fehlinterpretation eines Urteils des Supreme Court von 1923. Dieser Fall stütze die Argumentation des BGH nicht.85 Auch Kurt Biedenkopf kritisierte die Rechtsprechung der deutschen Gerichte zu den Ausschließlichkeitsklauseln unter den alliierten Kartellgesetzen. Die eigentliche Wettbewerbsverhinderung, die diesen Verträgen zu Grunde liege, nämlich der Marktausschluss durch eine Vielzahl gleichartiger Verträge, werde nicht berücksichtigt.86 Die Argumentation des BGH zeigt eine eindeutige Bereitschaft, die für einzelne Unternehmen durchaus tiefgreifenden Auswirkungen wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen durch den Blick auf die „allgemeine Marktlage“ zu verwässern. Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass die Tendenz, bestehende Vertrags- und Geschäftspraktiken im Sinne einer „Logik der Angemessenheit“ aus Sicht der Verwalteten aufrechtzuerhalten, noch weiter ging. Sie tangierte auch Wirtschaftsbereiche, in denen die Beschränkungen des Wettbewerbs die „allgemeine Marktlage“ ohne Frage beeinflussten und wo die Wettbewerbssituation vor 1945 im krassen Gegensatz zum Geist der alliierten Kartellgesetzgebung gestanden hatte.
82 Urteil des BGH, 8.2.1952, I ZR 63/51, in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsa-
chen (BGHZ) 5, S. 71–76, hier: S. 74 f. 83 Vgl. Urteil des BGH, 8.2.1952, I ZR 63/51, in: WuW, Jg. 1–2 (1951/52), H. 6/7, S. 420–422. 84 Vgl. Mestmäcker, Ausschließlichkeitsverträge, Kopplungsverträge und offene Märkte, in: Juristenzeitung, Jg. 9 (1954), H. 20, S. 621–625, hier: S. 623. 85 Vgl. ebd., S. 622 f. 86 Vgl. Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung, S. 85.
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3.
Syndikate
In folgendem, ebenfalls letztlich vom BGH entschiedenen Streitfall traf die Eigentümerin eines für die Gewinnung von Kalisalzen genutzten Grundstücks als Klägerin auf ein für die Gewinnung dieser Salze gegründetes Unternehmen als Beklagte. Dabei ging es um die Frage der Gültigkeit von Verträgen, die Zahlungsverpflichtungen beinhalteten, aber lange vor dem Inkrafttreten der alliierten Kartellgesetze vereinbart worden waren. Grundlage der Rechtsauseinandersetzung war das Deutsche Kalisyndikat, ein Musterbeispiel der staatlich gestützten deutschen Kartellwirtschaft ab den 1870er Jahren. Der Kalibergbau war von Beginn an staatlich geprägt, die ersten beiden deutschen Kalibergwerke waren im Besitz der Staaten Anhalt und Preußen.87 Die Branche blieb aber nicht lange ausschließlich in staatlicher Hand, schon in den 1870er entstanden privatwirtschaftliche Konkurrenzunternehmen. Bei der ersten Kartellgründung in der Branche 1879 war vor allem die preußische Regierung die treibende Kraft. Ausschlaggebend dafür war lediglich die „privatwirtschaftliche“ Gewinnsicherung für das preußische Bergwerk gewesen. In der Folgezeit entstanden durch den wirtschaftlichen Erfolg des Kalikartells mehrere neue Werke, die wiederum jeweils in neue Kartellverträge integriert werden mussten. Da die Neugründungen nicht selten zu Überkapazitäten auf dem kartellierten Markt führten, waren diese Kartellverhandlungen nicht immer unproblematisch. So musste etwa 1883 die Festsetzung der Preise und die Verteilung des Absatzes aus dem eigentlichen Kartellvertrag ausgenommen und separat in einem Sondervertrag der beiden staatlichen Werke geregelt werden. 88 Aus den gleichen Gründen entstand 1888 ein deutsches Kalisyndikat aus sieben separaten Einzelverträgen, die nur in ihrer Gesamtheit äquivalent zu einem Syndikatsvertrag waren. Das erste eigentliche Vollsyndikat, mit Regelung von Produktionsquoten sowie Preisen und einer gemeinsamen Verkaufsstelle und in Tausendsteln gemessenen Beteiligungsziffern, entstand 1898.89 Dieser Syndikatsvertrag beinhaltete auch die Einrichtung eines internen Schiedsgerichts zur Lösung von Rechtsstreitigkeiten, während der Rechtsweg explizit ausgeschlossen war.90 Das Syndikat konnte jedoch die Problematik der Überproduktion durch die Aufnahme immer neuer Werke nicht lösen. Die älteren Bergwerke plädierten für eine gemäßigtere Preispolitik, während die Neuzugänge dies nicht hinnehmen wollten. An diesem Streit zerbrach das Syndikat schließlich. Am 30. Juni 1909 lief der Syndikatsvertrag nach langem Streit ohne Einigung aus.91 Ein Nachfolgesyndikat blieb zunächst nur Stückwerk, da die leistungsfähigsten Betriebe außerhalb 87 88 89 90 91
Vgl. Girisch, Das deutsche Kalisyndikat, S. 17. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 30–32. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 38 f.
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blieben und das Kaliwerk Aschersleben seine Förderung auf Jahre deutlich unter den Syndikatspreisen in die USA absetzte, während in Deutschland erhebliche Kapazitäten brachlagen.92 Angesichts des in dieser Situation drohenden Preiskampfes griff schließlich die Reichsregierung gesetzgeberisch ein und erließ das Reichsgesetz über den Absatz von Kalisalzen. Nach Widerstand im Reichstag wurde zwar davon abgesehen, direkt ein Zwangssyndikat zu verordnen. Die Regelungen machten eine erneute Syndizierung für die Unternehmen im Grunde aber alternativlos.93 Das Gesetz konnte aber das größte Problem des Syndikats, die ständigen Neugründungen, nicht verhindern. So wurden zwischen 1911 und 1913 88 neue Schächte geteuft und 96 Werke gegründet, bis 1917 45 weitere.94 Oft waren diese Anlagen nie dazu bestimmt, jemals die Förderung aufzunehmen, sondern gleich nach der Eröffnung stillgelegt zu werden, sodass mehrere hundert Millionen Goldmark in unproduktive Investitionen verschwendet wurden.95 1919 wurde ein neues Kaliwirtschaftsgesetz erlassen, das eine Vertretung von Arbeitnehmern und Konsumenten im neu eingerichteten Reichskalirat verordnete sowie Neugründungen eine geringere Beteiligungsziffer zuteilte und das Übertragen der Beteiligungsziffer an andere Betriebe ermöglichte, um die Einschränkung oder Stilllegung unrentabler Betriebe wirtschaftlich reizvoller zu machen. An den wirtschaftlichen Grundlagen des Syndikats änderte sich jedoch wenig.96 Bedeutend und auch für den nachfolgenden Rechtsstreit maßgeblich war jedoch die Stilllegungsnovelle vom 22.10.1921. Durch diese Verordnung war es unrentablen Bergwerken möglich, bis zum 31.12.1953 eine unveränderliche Beteiligungsziffer zu erhalten und damit weiter von den Gewinnen des Syndikats zu profitieren, wenn sie sich bis zum 1.4.1923 bei der Kaliprüfungsstelle unwiderruflich dazu bereiterklärten, ihr Werk freiwillig stillzulegen. Der genaue Stilllegungszeitpunkt wurde dann durch die Reichskalistelle festgelegt.97 Diese Novelle war für die weitere Entwicklung der Kaliindustrie äußerst bedeutsam, führte sie doch zu einem rapiden Konzentrationsprozess. Die Anzahl der fördernden Anlagen reduzierte sich zwischen 1921 und 1933 von 155 auf 36. Rechnet man die bereits zuvor stillgelegten oder nie in Betrieb genommenen Anlagen des Syndikats hinzu, bestanden sogar über 220 Werke.98 Die Inhalte dieser Stilllegungsnovelle wurden auch wesentlich in das nationalsozialistische Kaliwirtschaftsgesetz von 1933 übernommen, welches den Reichskalirat mit seinen Vertretern der Arbeitnehmerschaft und der Konsumenten beseitigte, das Syndikat aber kaum veränderte.99 92 93 94 95 96 97 98 99
Vgl. ebd., S. 41; Schröter, Die internationale Kaliwirtschaft, S. 9. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. Emons, Die Kaliindustrie, S. 19. Vgl. Schröter, Die internationale Kaliwirtschaft, S. 10. Vgl. Girisch, Das deutsche Kalisyndikat, S. 50–53. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. Schröter, Die internationale Kaliwirtschaft, S. 16. Vgl. Girisch, Das deutsche Kalisyndikat, S. 73–75.
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Bereits in der Zwischenkriegszeit führten die weitreichenden Vertragskonstruktionen des Kalisyndikats zu rechtlichen Unsicherheiten. Mit den amerikanischen Antitrustgesetzen geriet das Syndikat in Konflikt, als es zusammen mit seinem französischen Kooperationspartner 1927 vom amerikanischen Justizministerium unter Berufung auf den Sherman Act verklagt wurde.100 1939 erfolgte eine weitere Anklage auf Basis des Sherman Acts, aus der das deutsche Syndikat aber wegen des Krieges herausgenommen wurde, während die nun ebenfalls angeklagten amerikanischen Produzenten sich im Zuge eines Vergleichs mit dem Justizministerium einigten. Innerhalb Deutschlands führte insbesondere die Stilllegungsnovelle von 1921 zu rechtlichen Unsicherheiten. Grund dafür war die problematische Auslegung von sogenannten Abbauverträgen, die die Bergwerksbetreiber mit den Grundeigentümern geschlossen hatten. Diese Verträge enthielten meist ein Wartegeld sowie einen Förderzins, d. h. der Unternehmer zahlte bis zur Aufnahme der Förderung eine gewisse jährliche Summe an den Grundstückseigentümer, das Wartegeld. Wurde die Förderung dann aufgenommen erhielt der Grundeigentümer für jede geförderte Tonne eine festgelegte Summe, den Förderzins. Wurde ein Werk stillgelegt, so fiel die Grundlage der Abbauverträge weg, weswegen die Unternehmer eine vollkommene Neuregelung der Verträge verlangten, während die Grundeigentümer auf Erfüllung der Verträge oder bei Nichtförderung auf die Zahlung einer vertraglich festgesetzten Strafe bestanden.101 Auf einen solchen Vertrag ging auch das folgende Verfahren zurück. Zwar war das Kalisyndikat bereits vor dem Erlass der Dekartellierungsgesetze im Mai 1945 auf Beschluss des Alliierten Kontrollrats aufgelöst worden. Das juristische Schicksal der Abbauverträge zwischen Grundeigentümern und Bergwerkwerksbetreibern war zunächst jedoch unklar. Auf Basis des ursprünglichen Vertrages war die Beklagte, also das Bergwerksunternehmen, berechtigt, gegen einen Jahresbetrag auf den Grundstücken der Klägerin nach Kalisalzen zu schürfen und diese bergmännisch auszubeuten. In einem Vergleich, der sich auf den o. g. Rechtsstreit bezog, wurde 1930 die Stilllegung der Anlage bis 1953 beschlossen und der von dem beklagten Bergwerksunternehmen zu zahlende Jahresbetrag zugleich an den Gesamtabsatz des Kalisyndikats gebunden. Die Beklagte überließ das Bergwerk zu Beginn des 2. Weltkriegs der Wehrmacht zur Munitionslagerung, aus diesem Grunde wurde es von der britischen Besatzungsmacht requiriert. Im September 1945 ereignete sich zudem eine Explosion in dem Bergwerk. Die Beklagte sah sowohl den ursprünglichen Kalisalzvertrag als auch den Vergleich von 1930 auf Grund des Verbots von Syndikaten durch Verordnung 78 als erloschen an und erklärte deshalb 1949 explizit die Kündigung. Die Klägerin hingegen verlangte die 100 Das Urteil fiel jedoch nur auf dem Papier hart aus, da sich das internationale Kartell mit dem
Justizministerium einigte, sodass die niederländischen Gesellschaften von dem Urteil ausgenommen waren. Dies war insofern bedeutsam, als der gesamte globale Kaliexport in die USA über eine niederländische Tochterfirma des internationalen Kartells abgewickelt wurde. Siehe: Schröter, Die internationale Kaliwirtschaft, S. 64 f. 101 Vgl. Girisch, Das deutsche Kalisyndikat, S. 65 f.
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Zahlung eines Teils des Jahresbetrages von 1949. Das zuständige Landgericht gab der Klage statt, das OLG Celle wies die Klage hingegen ab. Auf die Revision der Klägerin hin hob der 5. Zivilsenat des BGH das Urteil des OLG auf und verwies den Fall zurück.102 Interessant ist hierbei die Argumentation der Bundesrichter. Zwar stimmten sie mit dem OLG darin überein, dass die Syndikatswirtschaft verboten war und damit auch die Geschäftsgrundlage des ursprünglichen Vertrages sowie des Vergleichs von 1930 wegfiel. Darin sahen sie aber nicht per se einen Kündigungsgrund, sondern sahen es als Aufgabe des OLG an, zu prüfen, ob der Beklagten nicht eine Fortsetzung des Vertrages etwa bei verringerter Zahlungsverpflichtung zugemutet werden könne. Die Explosion wurde als Kündigungsgrund nicht anerkannt, da die Beklagte 1946 bis 1948 zunächst die Zahlungen fortsetzte, wohl um sich Optionen bei einer Wiederentstehung des Syndikats offenzuhalten. Das BGH stimmte mit dem OLG darin überein, dass die Syndikatswirtschaft nicht bestehe und es auch, trotz Unsicherheit über die zukünftige Wirtschaftsform des Kalibergbaus, nicht zu erwarten sei, dass sie bis zum Vertragsende 1953 wieder entstehe. Die Bundesrichter waren aber der Meinung, dass ein solcher Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht notwendigerweise zu einer völligen Befreiung der Beklagten führen müsse, sofern der Beklagten eine Fortführung des Vertrages zugemutet werden könne. Da die Klägerin nur einen Teilbetrag forderte, müsse überprüft werden, ob dies nicht zumutbar sei. Dabei spiele es auch keine Rolle, dass kein tatsächlicher Kaliabbau erfolge, da die Anlage immerhin der Konkurrenz entzogen sei und als Reserveanlage zur Verfügung stehe. Bei der Urteilsbegründung beriefen sich die Richter konkret auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts über die Geschäftsgrundlage von Verträgen sowie zu Treu und Glauben. In der Urteilsfindung ebenfalls zitierte neuere Auslegungen wurden gezielt nicht berücksichtigt, „denn der Sachverhalt, um den es sich handelt, wird durch die in der Rspr. des RG entwickelte Formel gedeckt.“103 Diese Argumentation verdeutlicht eine Tendenz der Bundesrichter, die Vertragsverhältnisse und Geschäftspraktiken der kartellierten Wirtschaft selbst dann zu schützen, wenn die Kartelle gar nicht mehr existierten, auch wenn die Aufrechterhaltung des alten Vertrages in diesem konkreten Sachverhalt sogar zum Nachteil des syndizierten Unternehmens ausfiel. Dass die Kalisyndikatsverträge im Wesentlichen staatlich getragen waren und in drei politischen Systemen bestanden hatten, mag zusätzlich zur Entscheidung der Richter beigetragen haben, diese Verträge auch bei völligem Wegfall der wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlage so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Durch solche Urteile war ein Vehikel gegeben, die Machtasymmetrien der kartellierten Wirtschaft in die Verhältnisse der jungen Bundesrepublik zu übertragen. 102 Vgl. Urteil des BGH, 15.6.1951, V ZR 86/50, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 4
(1951), H. 21, S. 836 f. 103 Ebd., S. 837.
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Dabei rekurrierten die Richter gezielt auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts, die einer durchkartellierten Wirtschaft zum Durchbruch verholfen hatte. Die Tendenz, geschlossene Verträge trotz erheblicher Wettbewerbsbeschränkungen auch für Dritte als sakrosankt zu behandeln, wie sie sich auch in diesem Urteil zeigt, hatte die allgegenwärtigen Kartelle ja erst ermöglicht. Diese Auslegung legten die Bundesrichter unter den alliierten Kartellgesetzen nicht ab, auch dann nicht, wenn statt auf die Rechtsprechung des alten Reichsgerichts auf Rechtsfiguren aus dem amerikanischen Antitrust-Recht zurückgegriffen wurde.
III. Fazit Die Frage, ob und inwieweit die Gerichte den politischen Entscheidungsträgern entgegenkamen oder ob sie auch die Interessen der Verwalteten berücksichtigten, kann im Lichte der Gerichtsquellen im Sinne eines „Austarierens“ beantwortet werden. Das Verbot von horizontalen Preisabsprachen lieferte einen klar formulierten Anspruch der Entscheidungsträger, den die Gerichte nicht einfach ignorieren konnten. Offensichtliche „per-se Verstöße“, wie etwa das Festlegen von Preisen durch Verbände, wurden auch vom BGH als Verstoß gegen die Kartellgesetze ausgelegt und durch Bußgelder geahndet.104 Gleichzeitig nutzte insbesondere der BGH die interpretatorischen Spielräume der allgemein gehaltenen Formulierungen im Sinne einer Abmilderung des Wettbewerbsrechts aus. In unterschiedlichem Maße galt dies auch für die Oberlandes- und Landesgerichte, wobei die zahlreichen unterschiedlichen Urteile und Revisionen divergente Interpretationen der alliierten Gesetze nahelegen. Wo die Gerichte aber im Sinne einer Abmilderung der allgemein als scharf wahrgenommenen Antikartellgesetze urteilten, passten sie ihre argumentativen Strategien der jeweiligen Situation des Falles an. Diese Strategien reichten von Verweisen auf die geringen Auswirkungen individueller Wettbewerbsbeschränkungen über Anlehnungen an das amerikanische Antitrustrecht bis hin zu Verweisen auf etablierte Rechtstraditionen in Deutschland. Insbesondere die immer wieder zu beobachtende Revision schärferer Urteile durch den BGH zeigt aber auch die prinzipielle Offenheit der Urteilsfindung. Dass die Gerichte dabei primär die Wünsche der politischen Entscheidungsträger berücksichtigt hätten, lässt sich nicht feststellen. Ob sie umgekehrt die Wünsche der Verwalteten in ihre Entscheidungen mit einbezogen, ist ebenfalls fraglich. Denn die hier diskutierten Konflikte vor Gericht erscheinen nicht als Konflikte zwischen Unternehmen und Regulierungsbehörden, wie dies im Kontext des Bundeskartellamtes oder in der direkten Auseinandersetzung zwischen Dekartellierungsbehörden und Unternehmen der Fall war. Sie erscheinen vielmehr als Konflikte zwischen den Verwalteten selbst, so dass ein Entgegenkommen gegenüber der einen Partei automatisch den Interessen der anderen Partei zuwider104 Vgl. Urteil des BGH, 10.4.1956, 1 StR 526/55, in: WuW, Jg. 6 (1956), H. 7/8, S. 516–519.
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laufen musste. „Angemessen“ war diese Auslegung also eher in den Augen der etablierten Wirtschaftsakteure, die schon von der kartellierten Wirtschaft profitiert hatten. Wirtschaftliche Außenseiter hingegen, die sich oft schon vorher an einer restriktiv vermachten Wirtschaft gestört hatten und in dem neuen Wettbewerbsrecht ein Vehikel sahen, alte Verträge zu Fall zu bringen, werden die restriktive und konservierende Auslegungspraxis der Bundesrichter eher nicht als dem neuen Kartellrecht angemessen beurteilt haben. Auch bemühten sich die Gerichte in ihrer kommunikativen Praxis kaum darum, soziale Akzeptanz von Seiten der Verwalteten im engeren Sinne zu erhalten. Die Begründung der Urteile ließ dafür freilich kaum Spielraum. Auffällig ist aber durchaus der Versuch, die Kontinuität deutscher Rechtsprechung auf der Grundlage eines radikal geänderten Wettbewerbsrechts sicherzustellen. Von Vorteil dabei war, dass traditionelle Richtschnüre der Rechtsfindung im Antitrust, wie „wesentliche Beschränkung des Wettbewerbs“ oder „übermäßige Konzentration von Wirtschaftskraft“ letztlich subjektiv auslegbare Definitionen sind und den Richtern somit einen Spielraum gab, der sie vor dem Vorwurf einer Rechtsbeugung bewahrte. Indem sich die Richter häufig auf Urteile und Auslegungsgrundsätze des Reichsgerichts beriefen, zeigten sie aber, dass sich ihre grundsätzlichen wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen selbst unter der völlig neuen Rechtslage wenig verändert hatten und sie nicht bereit waren, sich von alten Rechtstraditionen konsequent zu lösen. Überraschend mag dies nicht sein, spiegelt es doch lediglich den für die deutsche Unternehmerschaft etablierten Befund einer den Systembruch überdauernden Kontinuität. Allerdings bildeten weder die deutsche Unternehmerschaft noch die deutschen Gerichte einen homogenen Block des traditionellen Widerstands gegen das aufoktroyierte Wettbewerbsgesetz. Schließich hing die Gestaltungsfähigkeit der Gerichte im Wettbewerbsrecht maßgeblich von den unternehmerischen Wettbewerbspraktiken ab, die schließlich zu den beobachteten Verfahren führten. Hätte ein Teil der deutschen Unternehmen die privatrechtlichen Möglichkeiten und die neuen Handlungsspielräume der Dekartellierungsgesetze nicht so konsequent genutzt, hätten sich die deutschen Gerichte gar nicht mit diesen Fragen auseinandersetzen können und müssen. Indem sie dies nun aber taten, wurden sie in hohem Maße rechtsgestaltend tätig. Dieser Umstand war zunächst einfach eine Folge der auf richterliche Klärung angewiesenen amerikanischen Rechtstradition, die mit den Dekartellierungsgesetzen nach Deutschland transferiert worden war. Sie ermöglichte den deutschen Gerichten nicht nur die Anwendung der oben genannten Strategien bei der Urteilsfindung, sondern führte auch zu einer bisher kaum untersuchten Wechseldynamik aus unternehmerischen Handlungen, Gerichtsurteilen, Verwaltungsakten und politischer Gesetzesfindung. Das GWB, dessen lange Genese von der historischen Forschung ausführlich gewürdigt worden ist, war nur einer der Referenzpunkte für Gerichte und Verwaltung, und seine Entwicklung stand selbst im Kontext der Auslegung bestehender Dekartellierungsgesetze durch die Gerichte. Insofern lassen sich die Dekartellierungsgesetze zwar als Traditionsbruch, kaum aber als statische
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Referenzgröße auffassen. Vielmehr lag in der wechselseitigen Anpassung von unternehmerischen Handlungen und Gerichtsurteilen unterschiedlicher Instanzen die eigentliche Dynamik der Wettbewerbsregulierung in Deutschland, die mit der Verabschiedung des GWB eher einen Kulminationspunkt als den „Beginn“ einer genuin deutschen Wettbewerbspolitik erreichte.
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Raphael Hennecke, Universität Bayreuth ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Drittmittelprojekt „Wettbewerbsregulierung im Wirtschaftswunder. Die Kartellrechtspraxis der Bundesrepublik vor dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1948/49–1958“. Hierin untersucht er die Kartellrechtspraxis der jungen Bundesrepublik im Wechselspiel von rechtlichen Bestimmungen und unternehmerischen Praktiken vor dem Hintergrund der wettbewerbspolitischen Zäsur der alliierten Gesetzgebung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Publikation: Ein Erziehungskartell zur ‚Heilung der Geister‘? Ludwig Erhards Bundeswirtschaftsministerium und die gescheiterte Wettbewerbsordnung der Konsumseifenindustrie von 1954/55, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Jg. 64 (2019), H. 2, S. 187–216.
Prof. Dr. Sebastian Teupe, Universität Bayreuth ist seit 2016 Juniorprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth. Zuvor war er u. a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen und im Arbeitsbereich Wirtschaftsgeschichte der Universität Bielefeld. 2015 wurde er für seine Dissertation zur Geschichte des Marktes für Fernsehgeräte in der BRD und den USA mit dem Preis für Unternehmensgeschichte ausgezeichnet. Publikationen: Wirtschaftsgeschichte: Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft, Frankfurt am Main 22019; Inflation and the negotiation of wages. Comparative responses to monetary changes in Germany and the United States during the Gold Standard Era, 1876–1926, in: Labor History, Jg. 62 (2021), H. 1, S. 1–22; Keynes, inflation and the public debt: How to Pay for the War as a policy prescription for financial repression?, in: Financial History Review, Jg. 27 (2020), H. 2, S. 187–209; Breaking the rules: Schumpeterian entrepreneurship and legal institutional change in the case of ‚Blue Laws‘, 1950s–1980s, in: Management & Organizational History, Jg. 14 (2019), H. 4, S. 382–407; Die Schaffung eines Marktes. Preispolitik, Wettbewerb und Fernsehgerätehandel in der BRD und den USA 1945–1985, Berlin 2016.
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DER AUFBAU DER WIRTSCHAFTSVERWALTUNG IN DER SBZ / DDR Kontinuitäten und Brüche
B
ei der Verortung der DDR-Planwirtschaft in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert fallen auf den ersten Blick nur strukturelle und personelle Brüche auf. Die SED hatte es stets als größte Errungenschaft angesehen, dass in der DDR mit dem Aufbau der Zentralverwaltungswirtschaft der kapitalistische Markt mit seinen negativen Auswüchsen (vor allem der Massenarbeitslosigkeit) beseitigt worden war. Damit verminderte sich aber zugleich die Geltungskraft von Kriterien der wirtschaftlichen Effizienz in entscheidender Hinsicht – ein Problem, das die SED-Planungsexperten durchaus erkannten und z. B. mit den Wirtschaftsreformen in den 1960er Jahren zu lösen versuchten.1 Die Errichtung der Planwirtschaft erfolgte zweifellos nach sowjetischem Vorbild. Die Sowjetunion hatte bereits in den 1920er Jahren damit begonnen, eine Zentralverwaltungswirtschaft aufzubauen. Doch erst mit dem Fünfjahrplan von 1928 war die zentrale Planung und Steuerung der gesamten Volkswirtschaft in der 1922 gegründeten UdSSR vorgesehen.2 Historische Vorbilder gab es aber auch in Deutschland selber: Im Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Führung versucht, den Ressourceneinsatz für die Kriegsführung zu optimieren. So sollte das Vaterländische Hilfsdienstgesetz vom 5. Dezember 1916 die zentrale Steuerung des Arbeitsmarktes erleichtern. Als Wladimir I. Lenin wiederum seine spezifischen Vorstellungen von Planwirtschaft entwickelte, diente das Konzept der deutschen Kriegswirtschaft als Anregung.3 Walther Rathenau – dem „erfolgreiche[n] Organisator von Kriegs1 Vgl. Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform. 2 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, S. 368–377. 3 Vgl. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S. 471.
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wirtschaft“ – war im Übrigen schon 1915 bewusst gewesen, dass seine Vorstellungen eine inhaltliche Schnittmenge mit dem kommunistischen Modell aufwiesen.4 Auch wenn die Sowjetunion beim Aufbau der Planwirtschaft in der DDR Pate stand, wird der Begriff ‚Sowjetisierung‘ der Komplexität dieses Prozesses nicht gerecht. Zweifellos bestimmte Moskau die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland durch die verhängten Demontagen und die angeordneten Reparationszahlungen.5 Darüber hinaus orientierten sich die ostdeutschen Planungsexperten an einzelnen, wichtigen Bestandteilen der sowjetischen Planwirtschaft, etwa in formaler Hinsicht beim Zyklus der Fünfjahrpläne bzw. des Siebenjahrplanes. Des Weiteren gab es in der DDR-Wirtschaftsverwaltung sowjetische Berater, deren Einfluss aufgrund der Quellenproblematik aber erst ansatzweise beleuchtet werden konnte.6 Bei näherer Betrachtung fallen einfache und generalisierende Antworten schwer. Das ostdeutsche Verhältnis zur Hegemonialmacht Sowjetunion lässt sich nicht pauschal auf den Begriff der Fremdbestimmung oder auf die holzschnittartige Formel reduzieren, der Kreml habe „in Wirklichkeit […] von Anfang bis Ende“ Regie geführt.7 Die SED grenzte sich wirtschaftspolitisch nicht nur von der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus ab, sondern auch von der Bundesrepublik. Markt versus Plan – so ließe sich diese Auseinandersetzung um das vermeintlich bessere Wirtschaftssystem auf den Punkt bringen. In der DDR sollte der Plan die Grundlage für die Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden; er legte die Wirtschaftsziele, die Investitionsschwerpunkte und letztlich den Ressourceneinsatz fest. Die Verteilung der knappen Güter hatte zentral von oben zu erfolgen. Um die Schattenseiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verhindern, musste nach den Vorstellungen der SED-Wirtschaftsexperten das private Eigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft werden. Die Enteignung der sogenannten Kapitalisten, die Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Schutz vor den Marktkräften waren in der DDR-Bevölkerung durchaus populär und fanden auch Anhänger in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland. Trotz aller Brüche lassen sich auch Kontinuitätslinien, vor allem zur Weimarer Republik feststellen. Bei aller berechtigter Warnung vor einer verkürzten Darstellung komplexer historischer Prozesse, die einen allzu geradlinigen Weg von den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der KPD vor 1933 hin zur SED nach 1946 beschreibt, wurde das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung im Allgemeinen und der deutschen Kommunisten im Besonderen sehr stark von den Erfahrungen der Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre und der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er bzw. Anfang der 1930er Jahre geprägt. Insofern kann die Planwirtschaft auch als kommunistische Antwort auf das Versagen der kapitalisti4 5 6 7
Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 468. Vgl. Karlsch, Allein bezahlt?; Laufer/Karlsch, Sowjetische Demontagen. Vgl. Steiner, Sowjetische Berater, S. 100–117. Wettig, Die Stalin-Note, S. 174.
DER AUFBAU DER WIRTSCHAFTSVERWALTUNG IN DER SBZ / DDR
schen Wirtschaftsordnung in der Zwischenkriegszeit verstanden werden. Der vor diesem Hintergrund ausgebildete Erfahrungsraum der Zeitgenossen beeinflusste den Erwartungshorizont und damit indirekt auch die wirtschaftspolitischen Ziele der SED in der DDR nachhaltig. Damit rücken Perzeptionen und Traditionen der kommunistischen Arbeiterbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des Interesses, die bislang noch nicht systematisch untersucht worden sind. Für die SED-Führung sollten Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot und allgemeine Nahrungsmittelknappheit endgültig der Vergangenheit angehören. Das fand teilweise Eingang in die DDR-Verfassung von 1949. An dieser Stelle sollte aber nicht verschwiegen werden, dass die SED damit auch radikale Eingriffe in die Eigentumsstruktur Ostdeutschlands legitimierte und zahlreiche Unternehmer und Selbstständige zur Flucht in die Bundesrepublik zwang. Mit der Errichtung der Planwirtschaft erfolgte in der DDR der Aufbau völlig neuartiger Institutionen, die in der deutschen Verwaltungstradition beispiellos waren. Eine zentrale Rolle übernahm die am 8. November 1950 gebildete Staatliche Plankommission (SPK). Deren Gründung bildete den vorläufigen Abschluss eines Zentralisierungsprozesses, der 1948 mit der Übernahme von Planungskompetenzen durch die schon ein Jahr zuvor entstandene Hauptabteilung Wirtschaftsplanung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) begonnen hatte. Mit der Umstrukturierung der DDR-Regierung Ende 1950 übernahm die SPK gleichzeitig den Aufgabenbereich des bisherigen Ministeriums für Planung, „erhielt jedoch immer mehr Kompetenzen zugewiesen, die bis dahin im Zuständigkeitsbereich einzelner Fachministerien gelegen hatten“.8 Der organisatorische Aufbau der SPK und die personelle Besetzung der Leitungspositionen und Fachabteilungen war Anfang der 1950er Jahre noch keineswegs abgeschlossen, sondern zog sich über einen längeren Zeitraum hin.9 Während die SPK mit dem Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1951 weitere Grundsatzaufgaben erhielt, bekam sie durch eine fast zeitgleich erlassene Direktive eine koordinierende Funktion gegenüber den Branchenministerien zugewiesen.10 Damit erfolgte ein qualitativer Wandel, der eine Verlagerung der Einflussmöglichkeiten zugunsten der SPK bedeutete. Nachdem nämlich das Ministerium für Planung noch ein Ressort unter anderen gewesen war, fungierte die Plankommission als besonderes Organ des Ministerrates. Die administrative Aufwertung schlug sich auch im Leitungsgremium der DDR-Regierung nieder, denn der SPK-Vorsitzende war automatisch einer der drei (später fünf) Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Der Aufbau der Planwirtschaft zog also die Neuordnung der Verwaltung nach sich. Die Gründung der SPK verursachte Kompetenzüberschneidungen mit anderen Ministerien, die vor allem in der Staatsgründungsphase nicht ohne weiteres bereit waren, Zuständigkeiten und Arbeitsfelder an die oberste Planungsbehörde 8 Hoffmann/Schwartz, Politische Rahmenbedingungen, S. 41. 9 Vgl. Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 17–132. 10 Vgl. Boyer, Bürohelden?, S. 257.
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abzugeben. Der Anspruch der SPK, sämtliche Wirtschaftsbereiche planen und steuern zu können, musste erst noch durchgesetzt werden. Als weiterer Hemmschuh erwies sich auch der Umstand, dass die SPK ihr Arbeitsprofil erst entwickeln musste, und zwar in Abstimmung mit der SED-Führung. Dabei konnte zwar auf Vorbilder in der NS-Kriegswirtschaft11 und mehr noch in der Sowjetunion zurückgegriffen werden. Doch angesichts der deutschen Verwaltungstraditionen ließ sich das sowjetische Modell nicht ohne weiteres kopieren. Stattdessen überwog beim Aufbau der zentralen Wirtschaftsverwaltung Anfang der 1950er Jahre zunächst eine komplexe Mischung aus alten und neuen Elementen, wobei die alten Traditionsbestände im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren. Unter der Leitung von Bruno Leuschner, der von 1952 bis 1961 als Vorsitzender der SPK amtierte, entwickelte sich diese zum zentralen Steuerungsinstrument der ostdeutschen Wirtschaft, was sich vor allem in der massiven Erweiterung des Verwaltungsapparates und der Zunahme der Aufgabenfelder niederschlug. Dennoch hatte es die SPK auf staatlicher Ebene immer wieder mit konkurrierenden Akteuren zu tun, so etwa mit dem Finanzministerium oder mit dem 1961 gebildeten Volkswirtschaftsrat. Für SED-Chef Walter Ulbricht war die SPK von zentraler Bedeutung. Auf einer Tagung des Zentralkomitees (ZK) 1967 bezeichnete er diese als „ökonomische[n] Generalstab für den Ministerrat“.12 Die DDR könne auf dem Gebiet der Wirtschaft ohne ein solches Organ nicht auskommen. Gegenüber den versammelten ZK-Mitgliedern warf er sogar die Frage auf, „ob nicht für andere wichtige Bereiche der staatlichen Führungstätigkeit ähnliche Stabsorgane geschaffen werden sollten“. Die SPK war ein äußerst wichtiger, aber keineswegs der zentrale Akteur im wirtschaftspolitischen Institutionengefüge. Der Staats- und Parteiapparat in der DDR darf nicht als monolithischer Block verstanden werden; die Kennzeichnung der DDR als SED-Staat greift zu kurz.13 Das politische Kräftefeld der einzelnen Akteure war keineswegs statisch, sondern vielmehr dynamisch angelegt. Dafür sorgten allein schon die zahlreichen strukturellen Veränderungen im Verwaltungsapparat, die auf Geheiß der SED-Führung zwischen 1950 und 1989 durchgeführt wurden. In der Forschung hat sich das Bild von einer Zentralverwaltungswirtschaft durchgesetzt, die streng hierarchisch organisiert war und aus zwei „in ihren Kompetenzen ineinandergreifenden, mitunter gegeneinander arbeitenden und in der Spitze personell verflochtenen Säulen“14 bestand: der staatlichen Wirtschaftsbürokratie und dem zuständigen SED-Parteiapparat. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die SPK. Dabei wird eine dreistufige Vorgehensweise gewählt: Da die SED beim Aufbau der Verwaltungen in der SBZ/DDR den Elitenwechsel und damit den Bruch zum Nationalsozialis11 12 13 14
Vgl. Fremdling, Wirtschaftsstatistik und der Aufbau der Planwirtschaft, S. 217–248. Neues Deutschland vom 8.7.1967, S. 5. Vgl. Schroeder, Der SED-Staat. Steiner, Von Plan zu Plan, S. 10 f.
DER AUFBAU DER WIRTSCHAFTSVERWALTUNG IN DER SBZ / DDR
mus, aber auch zur Weimarer Republik sehr stark betonte, kam der Personalpolitik eine zentrale Rolle zu. Dieser Funktionszusammenhang war nicht nur Bestandteil der Außendarstellung, sondern auch der Binnenkommunikation. Es geht daher im Folgenden erstens um die intern wahrgenommene NS-Belastung und um den Umgang mit der NS-Belastung. Der Aufbau der zentralen Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR war zudem von einem erstaunlichen Pragmatismus geprägt, den die SED-Führung auch gar nicht zu kaschieren versuchte. Am Beispiel der Erwerbsbiographien von drei Planungsexperten lässt sich zweitens die Anpassungselastizität kommunistischer Kaderpolitik im Fall der Staatlichen Plankommission beleuchten, die überraschende Karriereverläufe ermöglichte. Abschließend soll drittens ein kurzes Resümee gezogen werden.
I.
Die Staatliche Plankommission: Personalpolitik und Entnazifizierung
Die Staatliche Plankommission gehörte zu den Institutionen der zentralen Wirtschaftsverwaltung in der DDR, die personalmäßig am stärksten expandierten.15 Zwischen 1951 und 1960 verfünffachte sich die Gesamtzahl der Mitarbeiter und lag schließlich bei knapp 2.000. In den ersten Jahren war der Personalbedarf besonders hoch und konnte oftmals nicht gedeckt werden; bis April 1952 waren nur 527 von 619 Planstellen besetzt worden.16 Auf der mittleren und oberen Leitungsebene fehlten 43 Hauptabteilungs-, Abteilungs- bzw. Gruppenleiter. Über 50 Prozent des Personals war zwischen 1946 und 1949 in der DWK oder in den Landesverwaltungen eingestellt worden. Neueinstellungen erfolgten in der Regel über die 1952 aufgelösten SED-Landesvorstände. Die Leitungspositionen der SPK waren mehrheitlich von Männern besetzt: Im Juli 1951 lag der Frauenanteil bei dem Gesamtpersonal zwar bei knapp 28 Prozent.17 Doch nur drei Frauen waren als Gruppenleiterin, Personalleiterin bzw. Abteilungsleiterin eingesetzt; das Gros der weiblichen Beschäftigten war dagegen als Sachbearbeiterinnen oder Sekretärinnen tätig. Die fachliche Qualifikation der leitenden Mitarbeiter ließ auch aus Sicht der SED-Führung zu wünschen übrig. So konnten 1951 nur 18 Prozent des Leitungspersonals (d. h. vom Referenten aufwärts) eine weiterführende Ausbildung oder einen Studienabschluss vorweisen,18 der häufig während der NS-Zeit erworben worden war. Der Mangel an Fachkräften führte zunächst dazu, dass zahlreiche Mitarbeiter ohne jegliche Fachkenntnisse in leitende Positionen gelangten. Im Rückblick beschrieb Rudolf Czerwonka seine Berufung zum Leiter der Haupt15 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen eines bereits publizierten Bei-
trags: Hoffmann, Lasten der Vergangenheit?, S. 112–119. 16 Zu den Zahlen: Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 62. 17 Vgl. ebd., S. 65. 18 Vgl. ebd., S. 64.
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abteilung Finanzen ungeschminkt: „Nach meiner Einstellung im Oktober 1951 wurde mir als erste Aufgabe die Aufstellung einer Bilanz der Geldeinnahmen und -ausgaben der Bevölkerung übertragen. Ich hatte vorher noch nie etwas von der Existenz einer derartigen Bilanz gehört.“19 Ab Mitte der 1950er Jahre ist eine Professionalisierung bei der Ausbildung der Mitarbeiter unübersehbar: Der Anteil der Hochschulabsolventen stieg von 25 Prozent (1955) auf 42 Prozent (1957); 1960 hatten 377 von insgesamt 506 Fachkräften einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften.20 In der Staatlichen Plankommission war die Personallage angespannt, da die einzelnen Akteure in der zentralen Wirtschaftsverwaltung – neben der Plankommission, die Industrieministerien, die ZK-Abteilungen der SED und einzelne Betriebe – um die wenigen Fachkräfte konkurrierten. Deshalb blieb die Fluktuationsrate in der Anfangszeit relativ hoch. Die ohnehin schwierige Personallage wurde dadurch noch zugespitzt, dass bürgerliche Experten ab Mitte 1952 ins Visier der SED-Kaderabteilung gerieten. Die personelle Säuberung, die im Zuge des Slánský-Prozesses in Prag ein neues Ausmaß erreichte und erst durch den Tod Stalins im März 1953 gestoppt wurde, richtete sich nun auch gegen Verwaltungsangestellte, die 1945 aus westlicher Kriegsgefangenschaft in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt waren21 und denen vorgeworfen wurde, eingeschleuste Agenten des imperialistischen Westens und ein Sicherheitsrisiko für die DDR zu sein. Im Zuge der Personalüberprüfungen sank die Mitarbeiterzahl der Plankommission 1952/53 von 527 auf 442. Allein im Juni/Juli 1952 wurden 69 Mitarbeiter aus politischen Gründen entlassen.22 Von dieser Säuberungswelle konnte sich die Plankommission nur langsam erholen. Dagegen war die Personalabteilung der Plankommission von Anfang an fest in den Händen von besonders linientreuen Kommunisten, die dafür sorgen sollten, die kaderpolitischen Ziele der SED umzusetzen. Aufgrund der zentralen Rolle, die die SPK in der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft einnahm, versuchte die SED-Führung immer wieder, den Anteil der SED-Mitglieder unter den Mitarbeitern zu erhöhen. Während ihr Anteil an der Gesamtbelegschaft der DWK im Mai 1948 noch unter 50 Prozent gelegen hatte, konnte er bis zur Eingliederung der DWK-Hauptverwaltungen in den DDRRegierungsapparat im Oktober 1949 um fast zehn Prozent erhöht werden. 1955 lag der entsprechende Prozentsatzwert bereits bei 66,7 und verlangsamte sich dann bis 1960 (68,9 Prozent).23 Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten war vor 1933 parteipolitisch nicht organisiert gewesen; lediglich zwölf Prozent hatten der
19 Zitiert nach: ebd. 20 Ebd., S. 69 (Tabelle 10). 21 Zur Anzahl von SPK-Beschäftigten, die sich in westlicher Kriegsgefangenschaft befunden
hatten: Boyer, Kaderpolitik, S. 22. 22 Vgl. Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 66. 23 Vgl. ebd., S. 71 (Tabelle 13).
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KPD bzw. der SPD angehört. Die Mitgliedschaft in den Blockparteien CDU, LDP, NDPD und DBD spielte in der Staatlichen Plankommission so gut wie keine Rolle. Die Entnazifizierung hatte keine unmittelbaren Folgen für die SPK, was primär mit der späten Gründung der Behörde zusammenhing. In den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte sich die Entnazifizierung auf Schlüsselbereiche wie Justiz, Polizei, Verwaltung und Schule. Da der Aufbau der Planwirtschaft allerdings erst 1948 an Fahrt zunahm, existierte auch noch keine entsprechende Verwaltungsstruktur. Die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, die eng mit der Durchsetzung des kommunistischen Machtanspruchs gekoppelt war, stellte zwar einen zentralen Bestandteil der sowjetischen Besatzungspolitik in der SBZ dar, endete aber offiziell schon 1948. Anschließend ging die Strafverfolgung von NS-Verbrechen auf ostdeutsche Gerichte über. Mit der DDR-Staatsgründung 1949 propagierte die SED-Führung „den Kurs einer pragmatisch nach vorne gerichteten Wiederaufbaugesellschaft“. 24 Dabei sollte die konkrete Auseinandersetzung mit der individuellen NS-Vergangenheit nicht im Wege stehen. Im Zusammenhang mit der Konsolidierung der SED-Herrschaft spielte die Personalüberprüfung in Staat und Partei nach wie vor eine wichtige Rolle, wobei die NS-Belastung als Kriterium an Bedeutung verlor. Stattdessen entwickelte sich eine spezifische Form der kommunistischen Kaderpolitik, die das Personal des Staatsapparates in Form von regelmäßigen Befragungen durchleuchtete. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Kalten Krieges gerieten die Biografien von ehemaligen Sozialdemokraten, Mitgliedern der bürgerlichen Parteien, aber auch Kommunisten mit Westkontakten ins Fadenkreuz des ostdeutschen Polizei- und Sicherheitsapparates. Die darauf folgende politische Säuberung, die Anfang der 1950er Jahre einen Höhepunkt erreichte, diente der Herrschaftsstabilisierung und forcierte den Elitenwechsel. Sie führte unter anderem auch zur Verdrängung des privaten Unternehmertums in der DDR. Dagegen hatte die Entnazifizierungspolitik nur geringe Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Betriebsleitungen.25 In den Personalfragebögen der staatlichen Verwaltung wurde die NS-Vergangenheit auch nach der DDR-Gründung weiter abgefragt; im Mittelpunkt stand die formale Zugehörigkeit zur NSDAP, zu NS-Organisationen, zur SS sowie zur Wehrmacht. In der SPK war Mitte der 1950er Jahre der Anteil unter den Mitarbeitern, die vor 1945 Mitglied in der NSDAP gewesen waren, mit 2,8 Prozent relativ gering.26 Mit der Auflösung der Industrieministerien 1958 und der Übernahme eines Teils des Personals nahm der Anteil in der Staatlichen Plankommission leicht zu und erreichte seinen höchsten Wert im September 1958 mit 5,3 Prozent. Einen Schwerpunkt der NS-Belastung – festgemacht an der NSDAP-Mitgliedschaft – bil-
24 Vollnhals, Die Entnazifizierung, S. 325. 25 Vgl. Boldorf, Governance in der Planwirtschaft. 26 Vgl. Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 71 (Tabelle 15).
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dete das Ministerium für Kohle und Energie:27 Im Sektor Kohle betrug der Anteil 20,3 Prozent, im Sektor Energie immerhin noch 12,3 Prozent. Im Ministerium für Kohle und Energie hatten 1957 15,3 Prozent der Mitarbeiter in der mittleren Leitungsebene das Parteibuch der NSDAP besessen. Dieser Personenkreis war aber nur teilweise in verschiedenen staatlichen Dienststellen vor 1945 tätig gewesen und nach 1945 von der Deutschen Wirtschaftskommission übernommen worden. Offenbar mussten die politisch Verantwortlichen in Ost-Berlin in diesem für die Sicherung der Energieversorgung sensiblen Bereich auf NS-belastete Experten zurückgreifen, da es an personellen Alternativen mangelte. Im Laufe der Zeit traten ehemalige NSDAP-Mitglieder mit ausdrücklicher Billigung der SED-Führung in die ostdeutsche Staatspartei ein: 1958 gehörten 61,2 Prozent der Beschäftigten in den Abteilungen Grundstoffindustrie, Maschinenbau und Leichtindustrie, die ursprünglich eine NSDAP-Mitgliedschaft aufwiesen, der SED an.28 Ehemalige NSDAP-Mitglieder schafften es zwischen 1951 und 1989 nur vereinzelt in die Spitze der Plankommission: Von den insgesamt 73 stellvertretenden Vorsitzenden, die es in den vier Jahrzehnten der DDR gegeben hat, hatten vier das Parteibuch der NSDAP besessen. Deren Amtszeit betrug allerdings – von einer Ausnahme abgesehen – nur ein bis zwei Jahre. Unter den Abteilungsleitern war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder gering; zwischen 1950 und 1989 waren es nachweislich fünf.29 Der Anteil ehemaliger Offiziere und Feldwebel der Wehrmacht unter den Beschäftigten der SPK lag in den 1950er Jahren bei etwa sieben Prozent, wobei auch hier der Anteil im Sektor Schwermaschinenbau überdurchschnittlich hoch war und 11,2 Prozent betrug.30 Wurde die NS-Belastung in der zentralen Wirtschaftsverwaltung von Ost-Berlin überhaupt als Problem wahrgenommen und wie gingen die politisch Verantwortlichen damit um? Die Kaderabteilung der Staatlichen Plankommission zeigte sich in diesem Punkt relativ gelassen.31 Sie betrachtete die frühere Mitgliedschaft in der NSDAP zwar als kaderpolitischen Makel, der jedoch durch loyale Mitwirkung am „demokratischen Aufbau“ in der DDR ausgeglichen werden konnte. Damit folgte die Kaderabteilung im Wesentlichen der Vorgabe der SED-Führung. Wegen ausgewiesener Fachkompetenz stand die NSDAP-Zugehörigkeit einer Karriere in der obersten Planungsbehörde grundsätzlich nicht im Wege. Damit konnte auch das nachträgliche Glätten der eigenen Biographie gerechtfertigt werden. So hatte der stellvertretende Vorsitzende der Plankommission Werner Winkler gegenüber 27 Vgl. ebd., S. 72. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd., S. 73. Damit war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter den Abteilungs-
leitern deutlich niedriger als im DDR-Innenministerium, wo er 1950 bei ca. 6 Prozent und 1955 bei rund 11 Prozent lag. Kuschel/Maeke, Konsolidierung und Wandel, S. 251. 30 Vgl. Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 72. 31 Trotz des offiziell proklamierten Antifaschismus herrschte anfangs auch im DDR-Innenministerium ein gewisser personalpolitischer Pragmatismus. Bösch/Wirsching, Die deutschen Innenministerien, S. 747.
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der SED-Kaderabteilung angegeben, im Dezember 1933 der NSDAP beigetreten zu sein. Der Parteieintritt war allerdings schon zwei Jahre früher erfolgt, nämlich im Dezember 1931. Obwohl frühzeitig Zweifel an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage auftauchten, notierte der zuständige ZK-Referent: „Unserer Meinung nach liegt kein Grund vor, Genossen Winkler aus seiner Funktion abzuziehen.“32 Von entscheidender Bedeutung war vermutlich, dass der promovierte Chemiker zu den ganz wenigen Mitgliedern in der Spitze der Planungsbehörde zählte, die vor 1945 studiert hatten und Berufserfahrung in der Leitung eines Industriebetriebes vorweisen konnten. Ein ähnliches Urteil fällte die ZK-Kaderabteilung 1963 im Fall des stellvertretenden Vorsitzenden Bruno Lietz, der im April 1943 der NSDAP beigetreten war, dies in seinem Lebenslauf jedoch nicht angegeben hatte: „Für das Verschweigen einiger Fakten aus seiner Vergangenheit sollte ihm eine Missbilligung ausgesprochen werden. Andere Maßnahmen halten wir nicht für erforderlich.“33 Die ZK-Kaderabteilung hielt an Lietz fest, da er zwei Anforderungen erfüllte: Expertenwissen – er konnte einen Diplomabschluss als Agraringenieur vorweisen – und absolute Parteiloyalität.
II. Personalrekrutierung und Karriereverläufe in der Staatlichen Plankommission: Drei Fallbeispiele Mit Hilfe von drei Biografien sollen nun Mechanismen der Personalrekrutierung und Karriereverläufe von Experten in der zentralen Wirtschaftsverwaltung der SBZ/DDR zu drei verschiedenen Zeitpunkten etwas anschaulich gemacht werden. Auf diese Weise können Aussagen über die Kriterien der SED-Kaderpolitik und die sich daraus ergebenden individuellen Karrierechancen getroffen werden – wenn auch ohne Anspruch auf Repräsentativität der Ergebnisse. Alle drei Personen können in Anlehnung an das Modell der politischen Generationen von Detlev Peukert34 zur so genannten überflüssigen Generation der Anfang des 20. Jahrhunderts Geborenen bzw. zu der Generation gezählt werden, die während des Ersten Weltkrieges geboren wurde. Der zugrunde gelegte Generationenbegriff hebt das Verbindende zwischen einzelnen Geburtenjahrgängen hervor. Dabei erscheint „die Verwandlung des individuellen Erlebnisses in kollektive Erfahrung“35 als zentraler Bezugspunkt der Analyse. Insofern stellen politische Generationen keine nach objektiven Kriterien klar voneinander abgrenzbare Einheiten, sondern vielmehr idealtypische Konstruktionen dar. Das erste Beispiel ist in der Zeit vor der DDR-Gründung angesiedelt. Es geht um die Person von Rolf Wagenführ, Jahrgang 1905, der den Aufbau des Statisti32 33 34 35
Zitiert nach: Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 73. Ebd. Vgl. Peukert, Die Weimarer Republik, S. 25 ff. Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, S. 114.
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schen Zentralamtes in der Sowjetischen Besatzungszone leitete, das von Anfang an Teil der sich im Aufbau befindlichen Wirtschaftsverwaltung war.36 Der studierte Ökonom, der 1928 von Wilhelm Röpke mit einer Arbeit über „Geschichte und Theorie der Konjunktur in Rußland“ promoviert worden war, hatte während des Zweiten Weltkrieges die Statistikabteilung im Rüstungsministerium und die Industrieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geleitet. Obwohl beide Einrichtungen mit ihren Erhebungen wichtige Unterlagen für die nationalsozialistische Kriegsführung geliefert hatten, zeigte nach 1945 auch die sowjetische Besatzungsmacht großes Interesse an den statistischen Unterlagen des NS-Wirtschaftsapparates und der Expertise seiner Mitarbeiter. Wagenführ, der am 20. Februar 1940 in die NSDAP eingetreten war, konnte seine Karriere nach Kriegsende nahezu bruchlos fortsetzen.37 Zunächst half er den Machthabern in Ost-Berlin beim Aufbau des Statistischen Zentralamtes, bevor er dann in den Westen ging. Im Juli 1946 wurde er Hauptabteilungsleiter im Statistischen Amt der britischen Zone und schließlich 1958 erster Generaldirektor des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften (später Eurostat). An seiner Person lässt sich die zentrale Bedeutung einer hochgradig professionalisierten Statistik für die Funktionsweise moderner Industriestaaten ablesen, und zwar unabhängig von den politischen Systemunterschieden. In der DDR stellte bekanntlich der Industriezensus von 1936 lange Zeit die wichtigste Basis und Bezugsgröße für die ostdeutschen Planungsexperten dar. Weitgehend unbekannt ist, dass nicht nur die SED-Führung und die sowjetische Militäradministration um die Vergangenheit Wagenführs wussten, sondern sich beim Aufbau der ostdeutschen Wirtschaftsstatistik ganz dezidiert an der methodischen Arbeit Wagenführs orientierten.38 Während von einer personellen Kontinuität nur bedingt die Rede sein kann – Wagenführ verließ spätestens im Sommer 1946 die sowjetische Besatzungszone – sind inhaltliche Kontinuitätslinien zwischen der NS- und DDR-Wirtschaftsstatistik nicht zu übersehen. Zweites Beispiel ist die führende DDR-Konsumpolitikerin in den 1950er Jahren, Margarete Wittkowski, Jahrgang 1910. Die Tochter eines jüdischen Kaufmanns studierte Nationalökonomie in Berlin, trat 1932 der KPD bei, emigrierte kurz nach dem Machtantritt Adolf Hitlers in die Schweiz und wurde im Februar 1934 mit einer Studie über „Großbanken und Industrie in Deutschland, 1924–1931“ in Basel promoviert.39 Wittkowski veröffentlichte 1942 zusammen mit Jürgen Kuczynski eine englischsprachige Studie über die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik („The Economics of Barbarism. Hitler’s New Economic Order in Europe“). Im Frühjahr 1939 emigrierte sie nach England, wo sie sich bis zum Kriegsende aufhielt und in der dortigen Exil-KPD engagierte. Nach ihrer Rückkehr 1946 arbeitete Wittkowski zunächst als Wirtschaftsjournalistin. Mit Kuczynski gründete sie 36 37 38 39
Zum Folgenden: Fremdling, Wirtschaftsstatistik und der Aufbau der Planwirtschaft, S. 221. Vgl. Tooze, Statistics and the German State, S. 284 ff. Vgl. Fremdling, Wirtschaftsstatistik und der Aufbau der Planwirtschaft, S. 221, 229 ff. und 234. Hoffmann, Lebensstandard und Konsumpolitik, S. 457.
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die Wochenzeitung ‚Die Wirtschaft‘ und leitete für einige Zeit das Wirtschaftsressort des SED-Zentralorgans ‚Neues Deutschland‘. Obwohl sie 1948 zur stellvertretenden Leiterin der DWK-Hauptabteilung Planung ernannt worden war, verhinderte ihre Westemigration zwei Jahre später die weitere berufliche Karriere im ostdeutschen Staatsapparat. Die geplante Berufung an die Spitze des neu gebildeten Ministeriums für Leichtindustrie scheiterte Ende 1950, da sie in einer parteiinternen Untersuchung der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) „mit Agenten der anglo-amerikanischen Besatzungsmacht in Verbindung“ gebracht wurde.40 Stattdessen wurde sie zum Verband Deutscher Konsumgenossenschaften strafversetzt, den sie von 1951 bis 1954 als Vorsitzende leitete und im Sinne der SED schlagkräftig machte. Anfang 1954 durfte sie die Vertretung des Ministers für Handel und Versorgung übernehmen. Kurze Zeit später erfolgte der lang geplante Wechsel in die SPK, in der sie als 1. Stellvertreterin des Vorsitzenden rasch die Zuständigkeit für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern erhielt. Wittkowski war damit die einzige Frau in einer Spitzenposition in der SPK. Nachdem sie 1958 des „Managertums“ bezichtigt worden war,41 begann der langsame Abstieg im Nomenklaturkadersystem zu Beginn der 1960er Jahre: 1961 wurde sie stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates und 1967 wechselte sie zur Deutschen Notenbank bzw. Staatsbank. Die Brüche in Wittkowskis Karriereverlauf zeigen nicht nur den unnachgiebigen Umgang der SED-Führung mit den kommunistischen Westemigranten in den 1950er Jahren,42 sondern verweisen auch auf den Antisemitismus in der ostdeutschen Staatspartei.43 Wittkowski hatte sich in den 1920er Jahren einer zionistischen Jugendorganisation angeschlossen, trennte sich aber eigenen Angaben zufolge 1931 vom Zionismus. Obwohl die sowjetische Besatzungsmacht über diesen Teil der Biografie von Anfang an informiert war, richtete sich ihr Augenmerk erst im Zuge der von Stalin initiierten Antisemitismus-Kampagne 1950 gegen führende Persönlichkeiten jüdischer Herkunft in Staat und Partei. Vermutlich verursachte die negative Beurteilung eines Referenten der Sowjetischen Kontrollkommission den Karriereknick von Wittkowski.44 Das Beispiel von Margarete Wittkowski verweist im Übrigen auf eine strukturelle Auffälligkeit in den ostdeutschen Funktionseliten: die fehlende Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen von Parteien, Staat und Massenorganisationen. Wittkowski war bis zum Mauerfall die einzige Frau in der Führungsriege der SPK. Dieser Befund korrespondiert mit Ergebnissen, die sich bei der Untersuchung anderer Bereiche des Partei- und Staatsapparates der SED bzw. der DDR ergeben. 40 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, DY 30/
IV 2/11 v.1820, Bl. 87, SED-Hausmitteilung Ulbrichts an den Leiter der ZPKK Hermann Matern vom 1.11.1950. Vgl. zur Funktion der ZPKK: Klein, Für die Einheit. 41 Hartewig, Zurückgekehrt, S. 221. 42 Einschlägig dazu: Mählert, Die Partei, S. 384–391; Weber, Schauprozessvorbereitungen in der DDR, S. 459–485; Malycha, Die SED, S. 409–415; Keßler, Westemigranten, S. 297–341. 43 Vgl. dazu Keßler, Verdrängung der Geschichte, S. 34–47. 44 Vgl. Malycha, Die Staatliche Plankommission, S. 33.
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Obwohl Anfang der 1980er Jahre 33,7 Prozent aller SED-Mitglieder Frauen waren, befanden sich im ZK nur 12 Prozent weibliche Mitglieder; im Politbüro hatten es einzelne Frauen nur zum Kandidatenstatus, nie aber zum Mitglied gebracht.45 Im ZK-Apparat waren Anfang der 1950er Jahre zwar etwas mehr Frauen vertreten: Der Frauenanteil unter den politischen Mitarbeitern war von knapp 14 Prozent (Frühjahr 1950) zunächst auf 24,8 Prozent (1. Februar 1953) gestiegen, um anschließend wieder deutlich zu sinken, und zwar auf 16,9 Prozent (1958).46 In der Forschung wird der zentrale Parteiapparat daher in weiten Teilen als eine „Männerwelt“ beschrieben.47 Das gilt im Übrigen auch für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Hier sank der Anteil weiblicher Beschäftigter von 25 Prozent (1954) auf 16,3 Prozent (1965), wobei traditionell weibliche Berufsrollen überwogen (Sekretärin, Schreibkraft, Küchenpersonal).48 Die Zahl der Frauen, die es in der DDR in den Ministerrat geschafft hatten, war ebenfalls überschaubar. Nicht nur für den SED-Parteiapparat gilt die allgemeine Feststellung: Mit steigender Bedeutung der jeweiligen Gremien sank der Frauenanteil.49 Die Partizipation von Frauen im politischen System war in der DDR zwar lange Zeit besser als in der Bundesrepublik. Sie widersprach jedoch der von der SED oft proklamierten gesamtgesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frauen und korrespondierte nicht mit der hohen Frauenerwerbsquote von etwa 90 Prozent, die im europäischen Vergleich „den Extremfall dieser Form der Integration in die Arbeitsgesellschaft“50 darstellte und die primär dem chronischen Arbeitskräftemangel geschuldet war. Die dritte Biografie beleuchtet die SED-Personalpolitik Anfang der 1960er Jahre. Es geht um Erich Apel,51 Jahrgang 1917, der von Anfang 1963 bis zu seinem Freitod52 Ende 1965 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und führend an der Ausarbeitung der Wirtschaftsreform beteiligt war – dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL). Der ausgebildete Schlosser und Maschinenbauingenieur war erst seit 1954 Kandidat und seit 1957 Mitglied der SED. Ein Jahr später wurde er bereits Leiter der wichtigen Wirtschaftskommission beim Politbüro. Seine beispiellose Karriere im zentralen Wirtschaftsapparat überrascht angesichts seiner beruflichen Laufbahn vor 1945. Apel war Ende 1939 zur Heeresversuchsstelle in Peenemünde abkommandiert worden; 1943 wurde er Leiter der dortigen Forschungsabteilung. Anfang 1945 übernahm er als technischer Leiter eine Firma in Kleinbodungen bei Nordhausen, die von den Linke-Hoffmann-Werken im Zuge der Betriebsverlagerungen wähZitiert nach: Schwartz, Emanzipation zur sozialen Nützlichkeit, S. 64 ff. Vgl. Bergien, Im Generalstab, S. 132 ff. Ebd., S. 354. Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, S. 267. Vgl. Ross, Verhinderter Aufstieg?, S. 149. Schwartz, Frauenpolitik im doppelten Deutschland, S. 40. Zu den biografischen Daten: Müller-Enbergs/Wielgohs/Hoffmann, Wer war wer in der DDR?, S. 25 ff. 52 Vgl. Karlsch/Tandler, Ein verzweifelter Wirtschaftsfunktionär?, S. 50–65. 45 46 47 48 49 50 51
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rend des alliierten Bombenkrieges gegründet worden war, die wiederum für die Produktion der A-4-Raketen (d. h. V-2-Raketen) zuständig war. Nach 1945 präsentierte er sich als versierter Techniker, der sich während der NS-Herrschaft politisch nicht betätigt habe. Dieses Bild ist mittlerweile zu korrigieren. So war er zwar nie NSDAP-Mitglied; dafür engagierte er sich aber im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, in den er während seines Studiums eintrat. Gravierender ist jedoch die Tatsache, dass er den Einsatz von KZ-Häftlingen für die Raketenproduktion offenbar bewusst in Kauf nahm.53 Wie lässt sich nun Apels Aufstieg in der zentralen Wirtschaftsverwaltung der DDR Ende der 1950er Jahre erklären? Apel hatte zwei Joker im Ärmel: Zum einen in der Person von Walter Ulbricht, der nach dem Mauerbau ausgewiesene Fachleute in die Spitze der Planungsbürokratie holen und dadurch bürokratische Verkrustungen aufbrechen wollte. Zum anderen in Gestalt der sowjetischen Besatzungsmacht, die Apel nach dem Krieg als Spezialisten für das sowjetische Raketenprogramm verpflichtet hatte. Beides machte die Position von Apel nahezu unangreifbar, der relativ spät in die SED eintrat und dort über keine eigene Hausmacht verfügte.
III. Fazit Obwohl die SED den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhob54 und nicht müde wurde, der Bundesrepublik in aufwendigen Kampagnen und sogenannten Braunbüchern einen allzu laxen Umgang mit NS-belasteten Personen vorzuwerfen,55 praktizierte Ost-Berlin de facto einen weitgehend pragmatischen Umgang mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in den eigenen Reihen. Das erklärt den – wenn auch vergleichsweise geringen – Anteil von Personen in der zentralen Wirtschaftsverwaltung, die vor 1945 das Parteibuch der NSDAP besessen hatten. Berufliche Expertise und die Duldung durch die sowjetische Besatzungsmacht boten somit durchaus Aufstiegsmöglichkeiten in der Staatlichen Plankommission. Dabei war die formale Mitgliedschaft in der NSDAP für die SED offenbar von entscheidender Bedeutung. Die Zugehörigkeit zu anderen NS-Organisationen und zur Wehrmacht wurde zwar ebenfalls systematisch abgefragt, allerdings nur auf der Grundlage der Selbstangaben in den Personalfragebögen. Ergaben sich bei stichprobenartigen Ermittlungen Differenzen, zeigte die zuständige Kaderabteilung mitunter Verständnis für die Befragten. In der zentralen Wirtschaftsverwaltung wurde die Mitwirkung Einzelner im NS-Herrschaftsapparat – jenseits der formalen Mitgliedschaft – so gut wie gar nicht sanktioniert. Dagegen dürfte die Mitgliedschaft in der SS ein Hinderungsgrund für die Beschäftigung in der ostdeutschen
53 Vgl. Palm, Karrieremuster eines Technokraten, S. 14. 54 Vgl. Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungsmythos?, S. 31–46. 55 Vgl. Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland.
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Wirtschaftsverwaltung gewesen sein; ein entsprechender Fall ist jedenfalls nicht bekannt. In der SPK lag der Anteil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bei unter sechs Prozent, wobei es deutliche Unterschiede zwischen Zentrale und Peripherie gab.56 Während der prozentuale Anteil in der Führungsetage der SPK unter dem Durchschnittswert lag, war er insbesondere im Bergbau- und Energiebereich sehr viel höher. Von dort gelang einigen Fachleuten der Einstieg in die zentrale Wirtschaftsverwaltung, in Einzelfällen sogar bis in die Leitungsebene. Sowohl die sowjetische Besatzungsmacht als auch die SED-Führung behandelten die NS-Belastung ostdeutscher Verwaltungsangestellten und Führungskadern mit erstaunlich großer Nachsicht. Das galt nicht nur für die formative Phase der SBZ/DDR, sondern auch für die 1960er Jahre, als Ost-Berlin versuchte, den westdeutschen Staat mit „antifaschistischen“ Kampagnen vor der Weltöffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Um die Glaubwürdigkeit ihrer Angriffe nicht selber zu torpedieren, verzichtete die SED jedoch 1967 darauf, den Staatssekretär für Forschung und Technik, Herbert Weiz, zum Minister zu ernennen.57 Im Zuge der Ernennung von Weiz zum Kandidaten des SED-Politbüros war erst 1967 bekannt geworden, dass dieser von 1942 bis 1945 Mitglied in der NSDAP gewesen war. Nach einer siebenjährigen Wartezeit war Weiz 1974 offenbar wieder präsentabel und wurde Nachfolger des farblosen Günter Prey. In Einzelfällen waren mit den personellen auch inhaltliche Kontinuitätslinien verbunden, wie das Beispiel von Rolf Wagenführ anschaulich zeigt. In der Wirtschaftsstatistik wurde nach 1945 offenbar auch in der SBZ fachliche Expertise dringend benötigt. Generell lässt sich auch hier sagen, dass in modernen Industriestaaten mitunter auf bereits vorhandenes Wissen zurückgegriffen wurde. Für diesen Befund gibt es einen weiteren Beleg auch in der Ernährungsverwaltung, die in der 1945 gebildeten Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung integriert war, die 1947 in der DWK aufging. Deren 2. Vizepräsident war zeitweise Wilhelm Ziegelmayer, der von 1946 bis 1950 als Professor an der Humboldt-Universität, danach an der TU in West-Berlin lehrte. In Berlin-Dahlem leitete er schließlich das Institut für Ernährung und Verpflegungswissenschaft. Während des Zweiten Weltkrieges war Ziegelmayer Ernährungsexperte für das Oberkommando der Wehrmacht gewesen und hatte wissenschaftliche Gutachten für die systematische Aushungerung Leningrads erstellt.58 Sein 1936 erschienenes Hauptwerk „Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung“ wurde 1947 in der SBZ unter leicht geändertem Titel neu aufgelegt, allerdings gekürzt um den in die Auflage von 1941 aufgenommenen „Ausblick auf die Großraumwirtschaft“. 56 Vgl. Boyer, Wirtschaftsfunktionäre, S. 109–125. 57 Vgl. Bähr, Entwicklung und Blockaden des Planungssystems für Forschung und Technik,
S. 416. 58 Vgl. Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 383; Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad 1941–1944, S. 44. In einer jüngst erschienen Gesamtdarstellung findet Ziegelmayer erstaunlicherweise gar keine Beachtung. Vgl. Möller, Agrarpolitik im 20. Jahrhundert.
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Die Frage nach den personellen Kontinuitäten zur NS-Herrschaft wird in der Forschung häufig mit der Fremd- und Selbstbeschreibung des vermeintlich unpolitischen Beamten verknüpft. Damit scheint die Kontinuitätslinie fast zwangsläufig auf die Bundesrepublik zu verweisen, denn die Führungskräfte in der ostdeutschen Wirtschaftsverwaltung verfügten über keine eigene Verwaltungserfahrung vor 1945. Darüber hinaus unternahm die DDR alles, um den Bruch mit den deutschen Verwaltungstraditionen zu unterstreichen, denn sie schlug beim Aufbau des Staatsapparates in vielerlei Hinsicht einen anderen Weg ein. So wurde der Beamtenstatus mit seiner arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sonderstellung schon vor der DDR-Gründung weitgehend beseitigt. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wurden den anderen sogenannten Werktätigen durch einen neu geschaffenen Tarifvertrag und durch eine rasch erlassene Arbeitsordnung gleichgestellt.59 Dahinter standen Rationalisierungsbestrebungen der kommunistischen Machthaber in Ost-Berlin, die das Leistungsprinzip auch in diesem Bereich durchsetzen wollten. Schließlich sorgte die SED dafür, dass die Personalpolitik bürgerlicher Prägung durch eine kommunistische Kaderpolitik ersetzt wurde, mit der die Parteiführung die Personalrekrutierung in ihrem Sinne steuern konnte. Diese tief greifenden Brüche dürfen allerdings nicht den Blick dafür versperren, dass KPD-Funktionäre organisatorische Erfahrungen im kommunistischen Parteiapparat mitbrachten und somit im weitesten Sinne Verwaltungskenntnisse besaßen. Des Weiteren ist die Prägung der KPD-Funktionäre durch gemeinsame Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit nochmals zu betonen: die Erfahrung von materieller Not, von der Gewaltförmigkeit politischer Auseinandersetzung und von der Abgrenzung des eigenen Milieus. All das hatte vermutlich eine identitätsstiftende Funktion, die einen generationellen Charakter trug.60 Bei der Betrachtung der Entwicklung der Verwaltungseliten im doppelten Deutschland nach 1945 sind also noch andere Fragestellungen stärker zu akzentuieren. Der Fokus bei der Beantwortung der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen sollte also nicht mehr ausschließlich auf der NS-Zeit, sondern gerade auch auf der Zeit der Weimarer Republik liegen. Eng damit verknüpft sind etwa Fragen nach der politischen Sozialisation vor 1933, nach Netzwerken vor 1933 und 1945 sowie nach der jeweiligen Rolle in Exil und Widerstand während der NS-Herrschaft. Darüber hinaus sollte es auch darum gehen, die Bedeutung von langanhaltenden kulturellen und mentalen Prägungen zu untersuchen.
59 Vgl. Garner, Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit?, S. 658 ff. 60 Vgl. Sabrow, Erich Honecker, S. 504.
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Prof. Dr. Dierk Hoffmann, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin ist aktuell stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Zudem lehrt er als außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Er war Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und seiner Vorgängerinstitutionen und sowie des Steuerungsgremiums der Forschungsgruppe zur Geschichte der Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin. Publikationen: mit Ulf Brunnbauer (Hg.), Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren, Berlin 2020; Transformation einer Volkswirtschaft. Neue Forschungen zur Geschichte der Treuhandanstalt, Berlin 2020; mit Elke Seefried (Hg.), Plan und Planung. Deutsch-deutsche Vorgriffe auf die Zukunft, München 2018; Die zentrale Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR. Akteure, Strukturen, Verwaltungspraxis (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990, Bd. 3), Berlin 2016.
Michael C. Schneider
WIRTSCHAFT VERWALTEN – KOMMENTAR
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ie drei Beiträge dieser Sektion behandeln auf den ersten Blick weit voneinander entfernte Themen: Von der Debatte über die neu zu formulierende gesetzliche Grundlage für die Industrie- und Handelskammern in den frühen 1950er Jahren über wettbewerbseinschränkende Absprachen zwischen Handelspartnern und die entsprechende Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zum Aufbau einer perspektivisch staatsozialistischen Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR reichen die bearbeiteten Gegenstände. Das Rahmenthema „Bürokratien zwischen Plan und Markt – Wirtschaft verwalten“ fasst zwar alle diese Aspekte unter sich, ist aber ebenfalls noch denkbar allgemein gefasst. Ein möglicher indirekter gemeinsamer Bezugspunkt lässt sich aber zumindest für die beiden auf Westdeutschland bezogenen Beiträge in der erstmals 1942, in überarbeiteter Fassung 1944 erschienenen Studie Franz L. Neumanns „Behemoth“ finden: Sein hier entworfenes Bild von der auf mehreren Säulen aufruhenden Herrschaftsstruktur des „Dritten Reiches“ prägte sowohl die Anklageformulierung in den Nürnberger Nachfolgeprozessen mit1 als auch spätere theoretische Deutungen des Nationalsozialismus, insofern er den Blick auf dessen Herrschaftsstrukturen lenkte.2 In der Tat spielen sowohl die Industrie- und Handelskammern als auch Kartelle – und damit die Themen der ersten beiden Beiträge dieser Sektion – in seiner Analyse der deutschen Wirtschaftsorganisation eine wichtige Rolle.3 Freilich stieß aber auch schon die zeitgenössische Wirkungsmacht von Neumanns Analysen auf Grenzen: Die Besatzungsverwaltungen in den westlichen Besatzungszonen etwa haben die IHKn nicht so sehr mit Neumann als eine Organisationsform der „totalitären Monopolwirtschaft“ wahrgenommen, sondern eher als „ein Element einer demokratischen Wirtschaftsverfassung“, nicht zuletzt deshalb, weil sie dezentral 1 Neumann, Behemoth; Priemel, Story of Betrayal, S. 80–82. 2 Vgl. Wildt, Franz Neumann. 3 Vgl. Neumann, Behemoth, S. 295–299; 320–327.
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organisiert waren.4 Es wäre daher insbesondere bei der sich in Vorbereitung befindlichen umfassenderen Studie von Anna Elbers zu den IHKn zwischen 1930 und 1960 interessant zu sehen, ob und inwieweit die Analysen Neumanns auch die späteren Diskussionen über die Frage beeinflusst haben, ob die IHKn als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft oder als privatrechtliche Organisationen ohne einen solchen Zwang zu organisieren seien, inwieweit sie also auf den traditionellen Pfad ihrer Verfasstheit einschwenken sollten. Allen drei Beiträgen ist gemeinsam, dass sie sich auf die spätere Periode des Untersuchungszeitraums des Bandes (der sich auf die Zeit zwischen 1930 und 1960 erstreckt) fokussieren, insbesondere auf die Veränderungen in den Wirtschaftssystemen und der Wirtschaftsrechtsprechung nach 1945. Der Untersuchungszeitraum der beiden Beiträge zu Westdeutschland erstreckt sich bis zur Mitte der 1950er Jahre und damit auf eine Zeit, als die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik zwar schon grundsätzlich auf eine liberale Marktwirtschaft ausgerichtet war, aber in vieler Hinsicht, was die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen, der Sozialpolitik und eben auch der Institutionenordnung der Wirtschaft anging, noch im Fluss war.5 Es geht allen drei Beiträgen aber auch um Kontinuitätslinien, die nicht nur in die NS-Zeit, sondern auch in die Weimarer Republik zurückreichen – indirekt lassen sich die Kontinuitätslinien manchmal auch noch weiter zurückverfolgen, bis zur US-amerikanischen Antitrustgesetzgebung seit 1890 oder der deutschen Kartellrechtstradition, die ebenfalls bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichte. Und natürlich sind auch biographische Kontinuitätslinien zu verzeichnen, am deutlichsten im Beitrag von Dierk Hoffmann, der u. a. am Beispiel der Wirtschaftsstatistik die immer wieder frappierende Bruchlosigkeit beleuchten kann, mit der Experten zumindest in bestimmten Feldern ihre Expertise ganz unterschiedlichen politischen Systemen zur Verfügung stellen konnten. Anna Elbers behandelt mit den Industrie- und Handelskammern und vor allem ihrer Dachorganisation, dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT), einen der ältesten Zweige der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, der in manchen Fällen, so in Düsseldorf, schon in wenigen Jahren sein zweihundertstes Jubiläum feiern kann. Konkret fragt sie in ihrem Beitrag nach dem Verhältnis zwischen DIHT, also der Dachorganisation der regionalen IHKn, zur staatlichen Wirtschaftsverwaltung, letztlich zum Bundeswirtschaftsministerium. In erster Linie geht es in ihrem Text um die Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Industrie- und Handelskammern von 1956, also nicht so sehr um Verwaltungspraxis im eigentlichen Sinn, sondern um das Zustandekommen der gesetzlichen Grundlage ebendieser Praxis. Gleichwohl spielt auch schon hier die Grundfrage des gesamten Projekts eine Rolle, nämlich die Frage nach Aushandlungsprozessen, nach sich allmählich herausbildenden Handlungsroutinen, nach der Praxis von Verhandlungen. Das bedeutet auch, dass Institutionen nicht als etwas Feststehendes zu 4 Schulze, Unternehmerische Interessenvertretung, S. 292. 5 Vgl. Nützenadel, Interessenvertretung, S. 229 f.
WIRTSCHAFT VERWALTEN – KOMMENTAR
begreifen sind, sondern bis zu einem gewissen Grad und in bestimmten Perioden als etwas Fluides, deren Form, aber auch deren Existenz nicht durchgängig als gesichert begriffen werden kann. Im konkreten Fall ging es aus Sicht des DIHT insbesondere darum – so Elbers –, eine Konstruktion der IHKn zu vermeiden, die Vertreter der Arbeiterschaft mit in die regionale Interessenvertretung der Wirtschaft aufgenommen hätte und damit ein zentrales Element der „Mitbestimmung“ in den IHKn verankert hätte.6 Die Diskussionslage war allerdings unübersichtlich, da sich diese Frage mit anderen überschnitt, etwa der Frage der Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen in der jeweiligen IHK, oder auch der Frage, inwieweit eine solche Pflichtmitgliedschaft sowie damit verbundene hoheitliche Aufgaben nicht auch eine Vertretung der Arbeiterschaft erforderten.7 Damit fügte sich diese Auseinandersetzung in übergreifende Debatten ein, als in der frühen Bundesrepublik auch die Einrichtung eines „Bundeswirtschaftsrates“ diskutiert wurde: Im Rahmen dieser Diskussion spielte ebenfalls die Frage der „Mitbestimmung“ eine wichtige Rolle, mit ganz ähnlichen Frontstellungen wie bei der Diskussion um ein IHK-Gesetz.8 Interessant wäre es vor diesem Hintergrund, auch Näheres zum Widerstand des DIHT gegen das geplante Kartellverbot im Zusammenhang mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu erfahren und damit seine Haltung zu den Debatten, die im Hintergrund des Beitrags von Hennecke/Teupe stehen.9 Von Interesse wäre dabei nicht so sehr die bloße Stellungnahme, sondern auch die möglicherweise unterschiedliche kommunikative Praxis, die bei einem Ministerium als Verhandlungspartner eventuell anders ausgesehen hat als gegenüber den IHKn, als deren Dachorganisation der DIHT fungierte. Es fällt auf, dass sowohl der Beitrag von Elbers als auch der von Hennecke und Teupe, wenn es um die nähere Fassung der kommunikativen Praxis geht, zu Begriffen wie dem „Ausloten“ von wechselseitigen Handlungsspielräumen greifen, zum Begriff des „Abwägens“ oder zum „Austarieren“, wenn es um das Handeln von Entscheidungsinstanzen gegenüber anderen Akteuren wie zum Beispiel Unternehmen geht, und damit um das Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken. Beide Beiträge nehmen jedoch nicht routinemäßiges Verwalten in den Blick, sondern im ersten Fall die Lobbytätigkeit des DIHT bei der Ausgestaltung eines für ihn selbst zentralen Gesetzgebungsvorhabens, im zweiten Fall die Rechtsprechung zur Frage von wettbewerbseinschränkenden Absprachen. Die Frage stellt sich – noch einmal mit Bezug auf das Projekt von Elbers –, ob die Begriffe des „Abwägens“ und „Austarierens“ auch beim entsprechenden Verwaltungshandeln im engeren Sinn angemessen wäre – also beispielsweise, was die Rolle der IHKn bei der Bearbeitung von Restitutionsansprüchen bei frühe-
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Vgl. zu den IHKn auch Gehlen, Industrie- und Handelskammern. Vgl. ebd., S. 54–57. Vgl. Nützenadel, Interessenvertretung, S. 241–249. Vgl. Hardach, Wettbewerbspolitik, S. 220.
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ren „Arisierungs“-Fällen10 oder bei allgemein gutachterlicher Tätigkeit betrifft. Gerade weil sich dieses Projekt über einen größeren Zeitraum erstreckt, sind interessante Ergebnisse aus dem intertemporalen Vergleich zu erwarten, zumal wenn man danach fragt, wie Interessen formuliert und Entscheidungen kommuniziert wurden – freilich wäre für den Nationalsozialismus dann angesichts der vielen Institutionen, mit denen die IHKn zu tun hatten, danach zu fragen, wie sie sich gegenüber auch ganz neuen Machtblöcken der Wirtschaftspolitik wie insbesondere gegenüber der Vierjahresplanbehörde oder den Gauwirtschaftsberatern verhielten, zumal wenn es um „Arisierungen“ ging oder, während des Krieges, um die Kooperation mit den Rüstungskommandos und den Arbeitsämtern?11 Gerade was die Zusammenarbeit mit den Institutionen anging, die auch nach 1945 weiterbestanden, stellt sich natürlich die Frage, ob man hier auch von einer Kontinuität der Verwaltungspraxis sprechen kann, oder ob die fundamentale Veränderung der Rahmenbedingungen nicht auch zu einer Veränderung der kommunikativen Praxis führte. Eine weitere Bemerkung bezieht sich auf die Frage der personellen Kontinuität, die in den großen Ministeriumsstudien ja auch immer mit im Zentrum stand und die auch im Münsteraner Projektverbund thematisiert wird. Hier scheint das Bild bei den IHKn uneinheitlich: Während in Frankfurt am Main die amerikanische Besatzungsmacht darauf achtete, dass das Führungspersonal der IHK untadelig war und auch die Beschäftigten der IHK weitgehend von NS-belasteten Personen gesäubert wurden,12 deuten andere Hinweise auf überwiegende personelle Kontinuität hin – eine Kontinuität, die nicht zuletzt auch die Funktionsfähigkeit der Kammern sicherstellte.13 Auch hier darf man auf die Ergebnisse des dem Beitrag zugrundeliegenden Projektes gespannt sein. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen von Hennecke und Teupe auch insofern sehr interessant, weil sie die (wenn auch nicht biographischen) Kontinuitätslinien sehr weit zurückziehen, bis ins späte Kaiserreich mit den bekannten Reichsgerichtsentscheidungen in den 1890er Jahren, mit denen Kartelle rechtlich abgesichert worden waren.14 Über den Umweg der US-amerikanischen Besatzungsverwaltung reichten die Kontinuitätslinien aber auch in die Vereinigten Staaten zurück, und letztlich ebenfalls in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, freilich mit den Antitrust-Gesetzen in die gegenteilige Rechtsauffassung, wonach Kartelle, aber auch andere wettbewerbsbehindernde Absprachen zwischen Unternehmen, zunächst einmal illegal waren. Dass die deutsche Industrie nach 1945 mit diesem den eigenen Rechtsauffassungen widersprechenden Rechtssystem kon10 Vgl. zur IHK Frankfurt am Main Plumpe, Zwischen Kriegsende und Wirtschaftswunder,
S. 261 f. 11 Vgl. zur Rolle der IHK Chemnitz Schumann, Kooperation und Effizienz, S. 51–58 und passim. 12 Plumpe, Zwischen Kriegsende und Wirtschaftswunder, S. 256. 13 Gehlen, Industrie- und Handelskammern, S. 54. 14 Vgl. als Überblick über die bundesdeutsche Kartellgesetzgebung mit Rückgriffen auf die Jahrzehnte zuvor Hesse, Abkehr vom Kartelldenken?
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frontiert war, war allerdings auch nicht das erste Mal: Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde zumindest die Aktivität mancher Branchen der deutschen Industrie in den USA (besonders die chemische Industrie war hiervon betroffen) als „Verschwörung“ zu Lasten der US-Konsumenten wahrgenommen; die Enteignung ihres Besitzes in den USA nach 1917/18 stand auch vor diesem Hintergrund.15 Internationale Kartelle wie das Kali-Syndikat, so verdeutlichen die Autoren, hatten in den 1920er Jahren ebenfalls direkte Erfahrungen mit der US-amerikanischen Justiz gemacht.16 Insofern wird für die deutschen Industriellen die Haltung der amerikanischen Besatzungsmacht nach 1945 nicht so überraschend gewesen sein, nicht zuletzt natürlich auch aufgrund der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse und jener Nachfolgeprozesse, in deren Zentrum Industrielle standen.17 Die beiden Autoren interessieren sich aber nicht so sehr für die Unternehmensseite, sondern vielmehr für die Gerichtsentscheidungen, die sich auf das Wettbewerbsrecht bezogen und dabei sowohl die neue Rechtslage in Rechnung stellen mussten, also die Sicherstellung des Wettbewerbs, als auch die Interessen von Unternehmen und ihre eingespielten Praktiken, die auch als Einschränkung des Wettbewerbs verstanden werden konnten, wie es die vorgestellten Fälle der Preisbindungen oder der Ausschließlichkeitsverträge zeigten. In verwaltungshistorischer Perspektive bezieht der Beitrag seine produktive Spannung aus Polen der „Logik der Konsequenz“ des Verwaltungshandelns (unter das hier auch Gerichtsentscheidungen gefasst werden) auf der einen Seite, der „Logik der Angemessenheit“ auf der anderen Seite.18 Die „Logik der Angemessenheit“ steht hier für ein pragmatisches Verwaltungshandeln, das auf brauchbare Ergebnisse abzielt, nicht so sehr auf „perfekte“ Ergebnisse, die bei strenger Befolgung einer „Logik der Konsequenz“ vielleicht zustande kommen würden.19 Dem Wortlaut der alliierten Gesetze zufolge hätte die „Logik der Konsequenz“ dann darin bestanden, jegliche wettbewerbshemmende Absprache zu untersagen, während die historischen Fallstudien zeigten, dass in der Realität der Rechtsprechung eine „Logik der Angemessenheit“ obwaltete – der Maßstab für die Angemessenheit bestand, so die Autoren, neben der kartellfreundlicheren deutschen Rechtstradition beispielsweise in dem Bestreben, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft aufrecht zu erhalten.20
15 Vgl. Reimer, Bayer & Company in the United States, sowie Steen, American Synthetic Orga-
nic Chemicals Industry. 16 Vgl. den Beitrag in diesem Band Teupe/Hennecke, Neue Wirtschaftspolitik. 17 Die Literatur hierzu ist umfangreich; an dieser Stelle nur Priemel, The Betrayal, mit weiterführender Literatur. 18 Die Autoren beziehen sich hier auf Seibel, Verwaltung verstehen, S. 146–151, der wiederum diese Unterscheidung auf Soziologen wie Herbert A. Simon und letztlich den amerikanischen Pragmatismus zurückführt. 19 Vgl. Seibel, Verwaltung verstehen, S. 148. 20 Vgl. den Beitrag in diesem Band Teupe/Hennecke, Neue Wirtschaftspolitik, S. 154 f.
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Daneben ist der Blick auf die Rechtslage und die Rechtsprechung vor Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in den späten 40er und frühen 50er Jahren natürlich auch insofern wichtig, als er einen nicht eindeutig abgegrenzten Kommunikationsraum offenlegt: Ein inoffizieller Brief des Vorsitzenden der Decartelization and Industrial Concentration Group erklärte die Praxis der Preisbindung als mit den alliierten Kartellgesetzen als unvereinbar, kündigte aber andererseits auch an, das entsprechende Bundesgesetz abwarten zu wollen. Und wie die Autoren zeigen, hatte ein solcher Brief, obwohl nicht Teil eines Gesetzgebungsverfahrens, durchaus Wirkung auf die Rechtsprechung. Eine gewisse Diffusion oder Unschärfe des Kommunikationsraums wird zudem dadurch erkennbar, dass sich im Fall der „Ausschließlichkeitsklauseln“ die deutschen Gerichte auf Urteile amerikanischer Gerichte auch aus den 1920er und 1930er Jahren bezogen, die im Gefolge der Antitrustgesetze verschiedene Fälle zu klären hatten. Der Umstand, dass die Antitrustgesetze ja ebenfalls nicht so eindeutig waren wie von den Initiatoren erhofft, und die in der US-Wirtschaft lange verbreitete Unklarheit darüber, was eigentlich erlaubt und was verboten war21, wurde auf diesem Weg offenkundig in die deutsche Rechtsprechung hineinkommuniziert. Die Autoren stützen sich in Ermangelung von Quellen, die die gesamte juristische Auseinandersetzung offenlegen würden, gezwungenermaßen auf die überlieferten Gerichtsurteile als die entscheidenden kommunikativen Akte. Freilich ist ein solches Urteil immer nur die letzte (manchmal auch nur vorläufig letzte) Stufe einer ganzen Sequenz von Kommunikationen und Entscheidungen, z. B. auch zwischen Unternehmen und Anwaltskanzleien. Ideal wäre es daher, zu den aufschlussreichen Fallbeispielen, die die Autoren aus der Perspektive der Gerichtsurteile rekonstruieren, jeweils noch aussagekräftige Gegenüberlieferung aus Unternehmensarchiven zu erhalten (die dann auch im Idealfall Informationen zu den unternehmensinternen strategischen Überlegungen enthielten) – auch wenn eine solche zusätzliche Quellengrundlage in den meisten Fällen wohl eine Wunschvorstellung bleiben muss. Gleichwohl ließe sich so der untersuchte Kommunikationsraum deutlich ausweiten, und es ließe sich aufklären, in welchem Ausmaß beispielsweise die geschilderten Prozesse von Unternehmen verwandter Branchen beobachtet wurden – oder auch, wie die untersuchten Gerichtsentscheidungen in die unternehmensinterne Kommunikation und Entscheidungsfindung eingingen. Letztlich würden also die Auswirkungen der Verwaltungskommunikation auf die Unternehmenskommunikation beobachtbar. Vielleicht kann dies immerhin eine Perspektive für weitere Forschungen sein. Der Beitrag von Dierk Hoffmann schließlich fragt mit Blick auf die Wirtschaftsverwaltung in der SBZ und vor allem auf die Staatliche Plankommission (SPK) nach Kontinuitätslinien zurück sowohl in die Geschichte der deutschen als auch der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung, was natürlich insofern eine besondere Herausforderung darstellt, als die sozialistische Planwirtschaft einen scharfen 21 Vgl. Lamoreaux, The great merger movement.
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Bruch mit deutschen Traditionen der Wirtschaftsverwaltung vor 1933 darstellte, nicht zuletzt aufgrund der mittelfristig durchgesetzten Aufhebung des Privateigentums an Unternehmen.22 Vordergründig könnte man angesichts der weitreichenden Planung vor allem in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft sogar von einer Kontinuität in dieser Hinsicht der Wirtschaftsverwaltung ausgehen; das würde aber auf eine Überbewertung der kriegsbedingten Wirtschaftsplanung hinauslaufen, die den grundsätzlich privatwirtschaftlichen Charakter auch der NSWirtschaftsordnung eben nicht beseitigt hatte.23 Hoffmann betont aber zu Recht auch die Kontinuitätslinien zurück in die Weimarer Republik. Und sei es auch nur der immer noch präsente Erfahrungsraum24 einer kollabierenden liberalen Wirtschaftsordnung nach 1929: Solche Kontinuitätslinien können in der Tat wichtige Hinweise für die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaftsverwaltung nach 1945 in der SBZ liefern. Im Unterschied insbesondere zum Beitrag von Anna Elbers behandelt Dierk Hoffmann mit der SPK eine ganz neue Organisation, bei der sich die Frage nach Kontinuitätslinien anders stellt als beispielsweise auch bei den großen Ministeriumsuntersuchungen. Hier wurde nicht einfach eine Organisationsform von der UdSSR übernommen, sondern es bildete sich eine Mischform aus deutschen und sowjetischen Verwaltungstraditionen heraus, wie Hoffmann betont. Zumindest insoweit, als die Umstellung auf eine umfassende Planwirtschaft, die Belastung durch die Reparationslieferungen an die Sowjetunion und auch die Unterbrechung der innerdeutschen Handelsströme die Wirtschaft in der SBZ und frühen DDR nicht völlig zusammenbrechen ließ, hat diese neue Behörde auch funktioniert.25 Dies kann nicht zuletzt vor dem Hintergrund erstaunen, dass ein überwiegend ganz neu eingearbeitetes Personal, dem zunächst wirtschaftliche Kompetenz fehlte, nun für Wirtschaftsplanung zuständig war.26 Insofern wäre das erklärungsbedürftige Phänomen möglicherweise eher in diesem Umstand zu suchen, dass eine neue Behörde mit neu rekrutiertem und neu eingearbeitetem Personal überhaupt dazu in der Lage war, eine ganze Volkswirtschaft auf ein neues planwirtschaftliches Wirtschaftssystem und auf neue Güterströme auszurichten. Wahrscheinlich hat dabei die Rekrutierung von Experten wie die des Statistikers Rolf Wagenführ geholfen: Seine geschmeidigen Wechsel von der Reichsstatistik
22 Vgl. allgemein Steiner, Von Plan zu Plan, sowie die verschiedenen Beiträge in Hoffmann, Die
zentrale Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR. 23 Das Privateigentum an Unternehmen wurde – mit der rassistisch motivierten Ausnahme der „Arisierungen“ und einigen weiteren Einzelfällen – nicht aufgehoben, vgl. Ritschl, Der späte Fluch des Dritten Reichs, S. 165. Vgl. zur deutschen Kriegswirtschaft sowie zum NS-Wirtschaftssystem den aktuellen Forschungsstand zusammenfassend Spoerer/Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 101–207. 24 Koselleck, Reinhart, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. 25 Vgl. zur Wirtschaftsentwicklung der SBZ und frühen DDR Steiner, Von Plan zu Plan, S. 51– 122. 26 Vgl. neben dem Beitrag von Hoffmann in diesem Band mit Bezug auf die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) auch Malycha, Staatliche Plankommission (SPK), S. 22.
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zum Aufbau der SBZ-Wirtschaftsstatistik, dann sein Wechsel in die Bundesrepublik und schließlich zu Eurostat werden in dem Beitrag deutlich. Offenbar war die amtliche Statistik ein Verwaltungszweig, der seine Praxis in den verschiedenen politischen Systemen kaum geändert hat und sich ganz bruchlos – auch biographisch bruchlos – in den unterschiedlichsten Systemen zurechtfand und seine Dienste anbieten konnte.27 Dass die SPK und das planwirtschaftliche System insgesamt aber schon mittelfristig nicht mehr imstande waren, Lebensstandardsteigerungen vergleichbar mit jenen in westeuropäischen Ländern zu erreichen, steht dabei außer Frage. Alle drei Beiträge werfen somit – so unterschiedlich sie von den konkreten Themen her auch sind – aufschlussreiche Schlaglichter auf Brüche, mehr aber noch auf Kontinuitäten in der wirtschaftsbezogenen Verwaltungsgeschichte. Über die Einbeziehung auch der alliierten Perspektive, sei es die USamerikanische, britische oder sowjetische, werden auch weitere Traditionslinien erkennbar, die im amerikanischen Fall weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen und damit die Notwendigkeit unterstreichen, den Untersuchungszeitraum über den Bruch der Jahren 1945/49 hinaus auszudehnen.
27 Ähnliche Beobachtungen finden sich auch schon für frühere Perioden; vgl. hier nur Tooze,
Statistics and the German State, Lee, Official Statistics.
WIRTSCHAFT VERWALTEN – KOMMENTAR
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PD Dr. Michael C. Schneider, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist aktuell akademischer Oberrat a. Z. an der Universität Düsseldorf, nachdem er dort von 2013– 2018 Universitätsprofessor a. Z. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (HSP II) war. Zuvor war er u. a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen: Wissenschaft und kapitalistische Wirtschaft, in: Jan-Otmar Hesse u. a. (Hg.), Moderner Kapitalismus. Wirtschafts- und unternehmenshistorische Beiträge, Tübingen 2019, S. 89–105; mit Louis Pahlow, Global flows of knowledge: Expectations towards transnational regulatory aspects of intellectual property rights in the 20th century chemical industry, in: Management & Organizational History, Jg. 14 (2019), H. 4, S. 350–365; mit Nicolas Bilo und Stefan Haas (Hg.), Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 2019; Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt am Main 2013.
DIE TRANSZENDENZ IM WELTLICHEN STAAT – RELIGION VERWALTEN
Benedikt Brunner
VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS ZWISCHEN DIKTATUR UND DEMOKRATIE, 1930–1960 I.
Einleitung
E
ine kirchliche Verwaltungsgeschichte gibt es bislang kaum. Neben instruktiven und wichtigen Studien zu einzelnen Landeskirchen oder auch zur Entstehung und Entwicklung der EKD, gibt es kaum Arbeiten, die sich mit den normativen Vorstellungen darüber, was Verwaltung in der Kirche ist und mit welchen Aufgaben sie versehen wird, beschäftigen.1 Dabei soll im Folgenden nicht konkretes Verwaltungshandeln untersucht werden, so wichtig und reizvoll die Bearbeitung der zahlreichen Forschungsdesiderata aus diesem Bereich wäre.2 In diesem Beitrag sollen hingegen exemplarisch öffentliche Diskussionen und Positionsbestimmungen über kirchliche Verwaltung von protestantischen Stimmen in den Mittelpunkt gestellt werden. Dabei wird ein Beispiel aus der Zeit des Nationalsozialismus vorgestellt und ein anderes aus den frühen 1960er Jahren; beide werden in ihre historischen Kontexte eingebettet. Weitere Forschungen müssten dann auf die konkreten Verwaltungsbereiche und auf das kirchliche Verwaltungshandeln selbst eingehen, was hier nicht geschehen kann.3 Erkenntnisleitend ist die 1 Vgl. zu den Arbeiten, die sich mit verwaltungsgeschichtlich relevanten Themen auseinander-
gesetzt haben z. B. die beiden Aufsätze von Scholz-Curtius, 50 Jahre Kirchenverwaltung, S. 167– 191; ders., Die Stellung, S. 119–130. Zur EKD-Gründung vgl. Smith-von Osten, Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. 2 Vgl. die gelungene Studie von Marahrens, Praktizierte Staatskirchenhoheit. 3 Der Tübinger Kirchenhistoriker Jürgen Kampmann hat verschiedentlich in diese Richtung geforscht, wobei seine Arbeiten wohl eher einer kirchlichen Verfassungsgeschichte zuzuordnen sind, vgl. Kampmann, Von der altpreußischen Provinzial- zur westfälischen Landeskirche.
214 Benedikt Brunner
Frage, ob sich die von Wolfang Seibel beschriebenen Verwaltungslogiken, namentlich die der „Angemessenheit“ und die der „Konsequenz“, auch in den Diskussionen evangelischer kirchenleitender Persönlichkeiten und Verwaltungsexperten finden lassen und möglicherweise für eine bestimmte Form protestantischer Verwaltungskultur bestimmend wurden.4 Zur heuristischen Eingrenzung orientiert sich die Arbeit an der „Volkskirche“, einem evangelischen Grundbegriff des 20. Jahrhunderts. Aufgrund seiner semantischen Prägung eignet er sich in besonderer Weise für eine Analyse der Normen kirchlicher Verwaltung. Denn zu einer Volkskirche gehört das Bestreben sowohl hinsichtlich des Staates als auch der Gesellschaft Einfluss geltend machen zu können. Um religionspolitische Intentionen effektiv verfolgen zu können braucht es eine kirchliche Verwaltung, die mit ihrer juristischen Expertise und aufgrund ihrer vielfältigen Erfahrungen mit den staatlichen Verwaltungen, unverzichtbar sind. Gleiches gilt für die Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein. Die bis auf die Ebene der Parochien hinunterreichende Verwaltung ermöglichte es überhaupt erst, dem volkskirchlichen Anspruch, möglichst alle Menschen einer Gesellschaft in irgendeiner Form zu erreichen, zumindest nahe zu kommen. Mit seiner Verwendung wurde mit unterschiedlichen Akzentsetzungen ein bestimmtes Verhältnis der evangelischen Kirche(n) zum Staat und zur gesellschaftlichen Umwelt zum Ausdruck gebracht. Er hatte zudem auch eine zentrale Rolle in den binnenkirchlichen Auseinandersetzungen.5 Trotz der kirchenhistorischen Vernachlässigung der Verwaltung ist man sich andernorts ihrer Bedeutung bewusst. Der Praktische Theologe Jan Hermelink beispielsweise unterstreicht in seiner Kirchentheorie den „[p]rägenden Einfluss“ der Verwaltung.6 Das besondere Gewicht der Verwaltung leitet er davon ab, dass sie neben dem Pfarramt das älteste Leitungsorgan darstelle: „Evangelische Kirchenleitung wird seit der Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem durch Behörden vollzogen.“7 Er unterstreicht zudem, dass der Kirchenverwaltung auch ein religiöser Charakter zuzuschreiben sei, da ihre Gegenstände „Finanz- und Bausachen, ‚Ämterwesen‘, Planung und Außenvertretung“ allesamt von großem Gewicht für die Kirche seien. Nicht zuletzt sei kirchliche Verwaltung von staatlicher zu unterscheiden, denn die „formale Legalität […] einer kirchlich-amtlichen Entscheidung ist zwar schon als solche religiös bedeutsam; deren letztes Kriterium besteht aber darin, ‚in diesen Bindungen und notfalls gegen sie‘ die Eigenart des Glaubens und seiner sozialen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen.“8 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es gewissermaßen einen doppelten Verwaltungsbegriff im Raum der Kirche gibt, worauf Axel von Campenhausen hingewiesen hat. „Kirchenverwaltung hat wesentlich 4 Vgl. Seibel, Verwaltung verstehen, S. 86–92 sowie die Einleitung zu diesem Band S. 16 f. In eine
ähnliche Richtung argumentiert Stein, Zweckmäßig arbeiten. 5 Vgl. Brunner, Volkskirche. 6 Hermelink, Kirchliche Organisation, S. 236. 7 Ebd., S. 237. 8 Ebd., S. 240.
VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS
die Aufgabe, die äußeren Mittel und Voraussetzungen bereitzustellen, damit das Wort Gottes gepredigt und die Sakramente verwaltet werden können. Dabei ist die Ordnung des Kirchenwesens so zu gestalten, daß das Kirchenregiment, der geistliche Vollzug von Wort und Sakrament also, möglichst wenig behindert wird.“9 Im Folgenden soll anhand von zwei Probebohrungen der Wert einer verwaltungsgeschichtlichen Perspektive vorgestellt werden, die sich auf von Campenhausens so bezeichneten Rahmen, den die kirchliche Verwaltung darstellt, konzentriert.10 In einem ersten Schritt wird zunächst in einem kurzen Rückblick auf die Bedeutung der Revolution von 1918 eingegangen und der sich hieraus ergebenden Verabschiedung neuer kirchlicher Verfassungen in der Mitte der 1920er Jahre. Ohne die Weimarer Jahre ist das Folgende nicht hinreichend zu verstehen, zumal hier auch für die kirchlichen Verwaltungen eine ganze Reihe von Grundsatzentscheidungen getroffen worden sind, auf die es kurz einzugehen gilt (II.). Hierauf folgt der bereits angekündigte Zweischritt: Zunächst werden die Debatten über die Normen kirchlicher Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus untersucht, während ein zweiter Schritt sich bis an die großen Debatten über die Kirchenreform in den 1960er Jahren herantastet, diese selbst aber nicht mitberücksichtigen kann (II.1-II.2). Dabei steht der Beitrag vor der Herausforderung, dass bis zum Anfang der 1960er Jahre kaum systematische Ausführungen über die Bedeutung der kirchlichen Verwaltung publiziert worden sind.
II. Kirchliche Verwaltung als ethische Herausforderung und ihre Grundlegung in der Zwischenkriegszeit Die Grundlagen für die Verwaltungsdiskussionen ab den 1930er Jahren waren zu Beginn der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gerade alt. Die meisten der 28 evangelischen Landeskirchen im Deutschen Reich hatten sich zu Anfang, spätestens aber Mitte der 1920er Jahre neue Verfassungen gegeben.11 Auf breiter Flur wurde in der Zwischenkriegszeit die Frage nach der richtigen Verfassung und Verfasstheit der evangelischen Kirchen diskutiert. Dabei standen oftmals ekklesiologische Grundsatzdebatten im Zentrum.12 Besonders prominent wurde dabei über die Volkskirchlichkeit der evangelischen Kirchen diskutiert und wie man dieses Erbe adäquat in die neue Zeit hinüberretten könne. Was aber war damit gemeint? 9 Vgl. Campenhausen/Wießner, Kirchenrecht – Religionswissenschaft, S. 27. Von Campenhausen
bezieht sich hier auf den siebten Artikel der Confessio Augustana von 1530. 10 Aufgrund des Zuschnitts des Bandes wird die Hochzeit der Debatten über die Kirchenreformen ab Mitte der 1960er Jahre, in denen kirchliche Verwaltungsstrukturen massiv kritisiert worden sind, nicht weiter berücksichtigt. Es handelt sich bei diesem Beitrag folglich um einen Baustein zur Vorgeschichte dieser Entwicklungen. Vgl. aber Brunner, Kirche für andere. 11 Vgl. zu den Hintergründen und Entwicklungen Brunner, Von der Staats- zur Volkskirche. 12 Vgl. Brunner, Volkskirche, S. 66–80; Pertiet, Das Ringen, S. 37–61.
215
216 Benedikt Brunner
In den Anfangsjahren der Weimarer Republik verwendete man den Begriff „Volkskirche“, um zeitgleich den Anspruch einer Wirksamkeit und Bezogenheit auf das gesamte Volk beizubehalten, ohne sich positiv auf die demokratische Republik beziehen zu müssen, der man in weiten Teilen sehr kritisch gegenüberstand.13 Man sah sich selbst als sittlicher Zement, ohne den kein Staat zu machen sei. Ohne Kirche, so die Überzeugung vieler protestantischer Theologen und kirchenleitender Persönlichkeiten, sei kein Staat zu machen.14 Trotz keiner sehr günstigen Vorzeichen hinsichtlich der Demokratiefähigkeit im deutschen Protestantismus, gaben sich die 28 Landeskirchen sehr demokratisch organisierte neue Verfassungen bis zur Mitte der 1920er Jahre. Die Ursache war allerdings kein plötzlicher prodemokratischer Gesinnungswandel, sondern vielmehr eine pragmatische Notwendigkeit sowie ein vorsichtiges Adaptieren.15 De facto nahmen die Kirchenleitungen und die in ihnen tätigen Persönlichkeiten ein großes Gewicht ein. Unter ihnen herrschte die Überzeugung vor, dass die Wahrung der Rechtskontinuität über die Revolution hinaus von ganz entscheidender Bedeutung sei. Einen Einblick in die Verwaltungswirklichkeit der Weimarer Zeit bieten die autobiografischen Erinnerungen Gerhard Thümmels (1895–1971), der zunächst im Berliner Konsistorium, dann dem Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin und später in der westfälischen Provinzial-, bzw. seit 1947 Landeskirche tätig war. Er berichtet über seine unterschiedlichen Aufgabengebiete, die vor allem finanzieller und rechtlicher Natur waren, etwa hinsichtlich der diversen Patronatsrechte innerhalb der preußischen Landeskirche. Von seinem Konsistorialpräsidenten habe er gelernt, „daß man als Verwaltungsbeamter nicht nur die einzelne Frage entscheiden, sondern auch ihre spätere Entwicklung vorausschauend beachten solle.“16 Dafür sei es nötig, bestimmte Verhaltensweisen einzuhalten, die für eine funktionierende Verwaltung erforderlich seien: Fristen müssten notiert, kurze Vermerke gemacht werden, aus denen der Gesamtverlauf auch für spätere Bearbeiter erkenntlich werde. Nicht zuletzt habe er ein Verständnis dafür gewonnen, wie viele Einzeldezernate zu einem Gesamtdezernat zusammenarbeiten könnten. „Dazu braucht es Abschriften der wichtigsten Einzelentscheidungen. Das Gleiche gilt für alle Dezernate im Verhältnis zum allgemeinen Statistik-Dezernat. […] Diese Zusammenhänge sind für die Gesamtheit der Verwaltung entscheidend. Werden sie nicht beachtet, so erlahmt und zerbricht die Verwaltung.“17 1927 wurde Thümmel in den Evangelischen Oberkirchenrat abgeordnet. Im Rahmen dieser neuen Wirkungsstätte geriet die Frage nach der theologischen Angemessenheit des Verwaltungshandelns stärker in seinen Blick. Thümmel selbst war für die Vermögensverwaltung, Besoldung und Steuerfragen zuständig. Gerade 13 Vgl. Tanner, Protestantische Demokratiekritik, S. 23–36 sowie unlängst Dreier, Kirche ohne
König. 14 Vgl. Brunner, Volkskirche, S. 64 f. mit weiteren Belegen. 15 Vgl. Dienst, Synode – Konsistorium – Demokratie, S. 105–128. 16 Steinberg, Gerhard Thümmel, S. 17. 17 Ebd., S. 17 f.
VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS
die Teilnahme am Kirchensenat, der die Leitung der altpreußischen Kirche inne hatte, sei für die jungen Kirchenbeamten lehrreich gewesen: Nicht nur, daß der damalige Präses der Generalsynode, der frühere Landrat von Naumburg, Dr. Winckler, sie gut leitete, und wir viel von ihm lernen konnten, sondern auch sonst. Nach der Verfassungsurkunde waren im Kirchensenat nur die Sachen zu verhandeln, die für die gesamte altpreußische Union wichtig waren. Ferner waren diese durch den EO [Evangelischen Oberkirchenrat, BB], also durch Fachleute, gut vorbereitet. Endlich waren im Kirchensenat die obersten Vertreter aller altpreußischer Kirchenprovinzen zur Entscheidung berufen. Derartige Maßstäbe kann man bei den heutigen, verhältnismäßig kleinen Kirchen nicht mehr anlegen.18
Thümmel hebt auch die persönlichen Beziehungen zwischen Juristen und Theologen in der Verwaltung hervor. Eine freundschaftliche Verbindung habe sich z. B. mit dem westfälischen Präses Karl Koch entwickelt, die auch die Zeit des Nationalsozialismus überdauert habe.19 Insgesamt sind Thümmels autobiografische Ausführungen sehr zurückhaltend hinsichtlich theologischer oder kirchenpolitischer Äußerungen. Deutlich wird aber, dass die kirchliche Verwaltung selbstverständlich im Dienst der Kirche stehen müsse und ihre Interessen auf breiter Ebene, vor allem aber im Umgang mit der staatlichen Verwaltung, zu übernehmen habe. Da in der Weimarer Zeit staatliche Aufsichtsrechte erneuert wurden, war diese Aufgabe von großer Bedeutung.20 Der Kirchenjurist Karl Wagenmann, der Anfang der 1960er Jahre ein grundlegendes Werk über die Kirchenverwaltung publizieren würde, befasste sich schon in einer 1930 veröffentlichten Arbeit mit ähnlichen Themen. Konkret ging es ihm um die Frage, wer als die Träger der Kirchengewalt in der hannoverschen Landeskirche anzusehen seien. Dieses Problem war mit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments im Zuge der Revolution und den damit verbundenen Fürstenabdankungen virulent geworden. En passant geht er immer wieder auf die Rolle der kirchlichen Verwaltung in der Gemengelage von Kompetenzen und Zuständigkeiten ein. So sei es „nicht ganz unbedenklich, das Landeskirchenamt als Verwaltungsbehörde und den Kirchensenat im Gegensatz dazu als Kirchenregierung zu bezeichnen. Auch das Landeskirchenamt ist Kirchenregierung.“21 Auch wenn die Mitglieder des Landeskirchenamtes vom Kirchensenat ernannt würden, so trete Ersteres doch nach außen unmittelbar für das Ganze der Kirche auf. In der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers verteile sich die Kirchengewalt auf drei Schultern: dem Landeskirchentag (also der Synode), dem Kirchensenat sowie dem Landeskirchenamt. Letzteres verantworte den Hauptteil 18 19 20 21
Ebd., S. 19. Vgl. Hey, Die Kirchenprovinz. Vgl. Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 201 f. Wagenmann, Träger der Kirchengewalt, S. 10.
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218 Benedikt Brunner
der Verwaltung und führe diese in großen Teilen. Solche Ausführungen wie jene Wagenmanns scheinen in der Zwischenkriegszeit noch relativ selten gewesen zu sein, zumindest in ihrer starken Deutung von kirchlicher Verwaltung als Ausdruck von genuiner Kirchlichkeit.22 Was für die Weimarer Republik als politisches System gilt, kann ebenfalls in Bezug auf die evangelischen Landeskirchen gesagt werden: demokratische Strukturen machen noch keine Demokraten. Der Ruf nach einem Reichsbischof 1933 beispielsweise war durch die Einführung des Bischofsamtes in einer ganzen Reihe von Kirchen schon geistig vorbereitet worden, trotz heftiger Diskussionen um seine Einführung.23 Unabhängig von den Ursachen, die dazu führten, dass das Gros der Protestanten und ihre Kirchen 1933 mit einiger Euphorie die nationalsozialistische Machtergreifung begrüßten und mit den „Deutschen Christen“ der Versuch unternommen wurde, deren Gestaltungsprinzipien in den Raum der Kirche zu übertragen: die Verwaltungen waren jedenfalls keine Stolpersteine für einen solchen Umbau. Es fehlte nicht nur in der Theologie und Kirchenleitung an ethischen Prämissen, die ein Festhalten an demokratischen Prinzipien möglich gemacht hätten, sondern gleichsam auch innerhalb der Verwaltungseliten. Das protestantische Demokratiedefizit fand auch hier einen verhängnisvollen Ausdruck.24
1.
Volkskirchliche Verwaltungsvorstellungen in der Zeit der Reichskirchenausschüsse (1935–1937)
Zwischen 1933 und 1935 hatte sich der deutsche Protestantismus in unterschiedliche Gruppierungen aufgesplittert, die sich ungeachtet aller weiteren Binnendifferenzierungen grob in „Deutsche Christen“ und „Bekennende Kirche“ aufteilen lassen. Hinzu kam, während des gesamten Zeitraums, eine große Gruppe vor allem an Pfarrern, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen wollte.25 Die Entwicklung bis zur Einführung der Reichskirchenausschüsse kann hier nur kurz skizziert werden. Im Kontext der Gründung einer Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) forderten die „Deutschen Christen“, allen voran ihr Vorsitzender Joachim Hossenfelder (1899–1976), dass diese Kirche lediglich „arische“ Christen
22 Vgl. aber Priebe, Kirchliches Handbuch, S. 123–140. 23 Vgl. Brunner, Von der Staats- zur Volkskirche, S. 264–266; Grundmann, Der Lutherische
Weltbund, S. 97–102; Stein, Das Bischofsamt, S. 117–134. Zum Verhältnis zwischen Bischof und Verwaltungsorganen vgl. Tempel, Bischofsamt und Kirchenleitung, S. 137–164. 24 Damit ist freilich nicht gesagt, dass es nicht auch überzeugte Demokrat:innen innerhalb des Protestantismus gegeben hat zu dieser Zeit, genauso wie heftigen Widerspruch gegen die deutschchristlichen Umgestaltungsversuche. Zu ersterem vgl. z. B. Wolfes, Die Demokratiefähigkeit; ders., Vernunftrepublikanismus. 25 Zu dieser Mittelpartei vgl. die wichtige territorialkirchengeschichtliche Studie von Rabe, Zwischen den Fronten.
VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS
berücksichtigen solle.26 Bei den Kirchenwahlen im Sommer 1933 erzielten die „Deutschen Christen“ mit Ausnahme der bayerischen, württembergischen und hannoverschen Landeskirche überragende Ergebnisse. Als die neugewählten Synodalen zu konstituierenden Sitzungen zusammentraten, sprach man von „braunen Synoden“, so beispielsweise in Preußen. Hier beschloss man im September 1933 die Einführung des „Arierparagraphen“ für kirchliche Beamte.27 Als Reaktion hierauf rief Martin Niemöller (1892–1984) am 12. September 1933 zur Gründung des Pfarrernotbundes auf, der zur Keimzelle der späteren „Bekennenden Kirche“ wurde. Der sich hier entwickelnde Widerstand richtete sich wohlgemerkt nicht gegen den Nationalsozialismus per se, sondern vielmehr gegen den staatlichen Eingriff in den Raum der Kirche. Auf der ersten deutschen Nationalsynode Ende September 1933 traten die Synodalen der DEK zusammen und akklamierten den Wehrpfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof. Auf dieser Ebene versuchte man den „Arierparagraphen“ reichsweit für alle Mitgliedskirchen einzuführen. Gegner dieser Maßnahmen bezeichneten diese Gesetzesmaßnahmen der „Reichskirche“ als „eine elementare Verletzung grundlegender Bekenntnisinhalte der evangelischen Kirche“. 28 Allerdings waren es zunächst nicht die Bemühungen einer innerkirchlichen Opposition, die die Stellung Müllers und der „Deutschen Christen“ ins Wanken brachten. Spannungen innerhalb der Bewegung selbst führten zu Konflikten, die zu ihrer Spaltung und Schwächung führten. Im November kam es auf einer Tagung der „Deutschen Christen“ in Berlin zum sogenannten „Sportpalast-Skandal“ durch ein dezidiert rassistisches Hauptreferat des Gauobmanns Reinhold Krause, der u. a. „für die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, [und für die] Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten […]“29 warb. Nachdem Ludwig Müller Ende 1933 eigenmächtig die Eingliederung der Evangelischen Jugend in die Hitler-Jugend verordnet hatte, war seine Position nachhaltig geschwächt. Über ihn war die nicht zuletzt auch von den Nationalsozialisten beabsichtige Gleichschaltung der Landeskirchen nicht zu erreichen. Dies änderte sich auch nicht durch die Berufung von August Jäger (1887–1949) zum „Rechtsverwalter der DEK“, der in Personalunion auch Leiter der neu errichteten Kirchenkanzlei des Reichsbischofs war.30 Seine rücksichtslosen Gleichschaltungsbemühungen waren es u. a., die zur Einberufung der beiden Bekenntnissynoden im Mai und Oktober 1934 in Barmen und Dahlem führten. In Dahlem entwickelte man die Idee eines kirchlichen Notrechts als einer neuen, durch die aktuelle Lage 26 Zu Hossenfelder vgl. Selbmann, Aufstieg und Fall, S. 259–294; vgl. ferner zu diesen Entwick-
lungen Kater, Die Deutsche Evangelische Kirche. 27 Vgl. Strohm, Die Kirchen, S. 35. Olaf Blaschke hat treffend von einer „Überanpassung im Protestantismus“ gesprochen, vgl. Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 98–109. 28 Strohm, Die Kirchen, S. 36f; Krumwiede, Reichsverfassung und Reichskirche. 29 Zitiert nach Brunner, Volkskirche, S. 126. 30 Vgl. ebd., S. 127 f.
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220 Benedikt Brunner
erzwungene Rechtsordnung.31 Parallel dazu versuchten die Vertreter der „Bekennenden Kirche“ alternative Leitungsgremien zu erschaffen. Die „intakten“ Landeskirchen, also Württemberg, Bayern und Hannover, hielten diese Initiativen zunächst nicht für erforderlich; in der Etablierung der „Vorläufigen Kirchenleitung der DEK“ gelang zu diesem Zeitpunkt indes noch ein Kompromiss. Diese wurde auf der dritten reichsweiten Bekenntnissynode in Augsburg, die im Juni 1935 tagte, nochmals bestätigt. Das Jahr 1935 brachte durch die Bildung des Reichskirchenministeriums unter Hanns Kerrl einen neuen Kurswechsel der nationalsozialistischen Kirchenpolitik mit sich.32 Mit dem Ziel der Entmachtung des Reichsbischofs sowie der Auflösung der „Bekennenden Kirche“ setzte Kerrl einen Reichskirchenausschuss ein, dem bald weitere Provinzialkirchenausschüsse folgten. All dies führte zu einer weiteren Fragmentierung sowohl der „Deutschen Christen“ als auch der bekenntniskirchlichen Gruppen sowie der „intakten“ Landeskirchen, die alle eigene Interessen vertraten.33 Wenn man im Hinblick auf den NS-Staat von polykratischen Strukturen gesprochen hat, so wäre diese Bezeichnung auch in Bezug auf die evangelischen Landeskirchen überlegenswert.34 Welche Rolle spielte in diesen Zusammenhängen die kirchliche Verwaltung und wie schlug sich das Spannungsfeld von Angemessenheit und Konsequent in diesen Diskussionen nieder? Der Glaube in das zu verwaltende volkskirchliche Erbe, der zu Weimarer Zeiten große Blüten getragen hatte, wurde in der Mitte der 1930er Jahre außerhalb der deutschchristlichen Gruppierungen sehr viel zurückhaltender expliziert. Eduard Thurneysen, der Basler Fakultätskollege Barths in der Praktischen Theologie, hielt zunächst fest, dass mit der Bezeichnung der bekennenden Kirche kein Gegensatz zu recht verstandener Volkskirche sein könne. Definitorisch meine Volkskirche in seinem Verständnis nichts anderes als eine auf die Allgemeinheit bezogene, sich zu Jesus Christus bekennende Kirche.35 Die Deckungsgleichheit von Volks- und Kirchenzugehörigkeit sei allerdings fraglich geworden: „Oder mehr als fraglich: sie ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie ist eine reine Fiktion. Wir sind kein geschlossen christliches Volk mehr.“36 Aber gerade darum sei es wichtig, sich abzugrenzen von dem, was nicht zur Kirche gehöre, ohne darüber zur Sekte zu werden.37
31 Vgl. Luther, Notrecht. 32 Vgl. Kreutzer, Das Reichskirchenministerium; Buss, Das Reichskirchenministerium. 33 Vgl. ausführlich Meier, Der evangelische Kirchenkampf. Instruktiv ist auch der zeitgenössi-
sche Beitrag von Künneth, Gefahren. 34 Vgl. Reichardt/Seibel, Radikalität und Stabilität, S. 7–27. 35 Vgl. Thurneysen, Lebendige Gemeinde, S. 28 f. Zu dieser Debatte vgl. Brunner, Volkskirche, 176–192. 36 Thurneysen, Lebendige Gemeinde, S. 28. Vgl. außerdem Diem, Die Substanz der Kirche. 37 Vgl. z. B. Jacob, Kirche oder Sekte. Es gab allerdings immer auch den mit Verve vorgetragenen Bezug auf die Volkskirche, vgl. in diesem Sinne Generalsuperintendent D. [Johannes] Eger an die Amtsbrüder. Wiedergabe seiner Rede über die Ziele der Kirchenausschüsse vom 22. Januar 1936, in: Schmidt, Dokumente. Erster Teil, S. 324–330, vor allem S. 327.
VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS
In der „Jungen Kirche“, dem Publikationsorgan der bekenntnisorientierten Gruppen, veröffentlichte der Jurist Hermann Ehlers eine Replik zu einem staatskirchenrechtlichen Beitrag von Werner Weber.38 Die vom Reichskirchenministerium angestoßenen Bestrebungen, die Streitigkeiten in der Kirche zu beseitigen, sieht Ehlers als defizitär an. Äußere und innere Ordnung der Kirche müssten nämlich aufeinander in der richtigen Weise bezogen werden: „Die Kirche hat in den letzten zwei Jahren erfahren, daß das Eindringen der Irrlehre in die Kirche zugleich eine völlige Zerschlagung der Ordnung zur Folge gehabt hat und daß die Zerstörung der Ordnung zutiefst in die Wortverkündigung der Kirche eingegriffen hat.“39 Jede Verwaltungstätigkeit der Kirche solle indes „die Voraussetzungen für eine möglichst ungehemmte und möglichst wirkungsvolle geistliche Arbeit der Kirche“40 schaffen. Hier wird also ein enger Zusammenhang zwischen der Verwaltung und den vorgeschalteten theologischen Zielvorgaben gezeichnet. Ähnlich hielt eine Kundgebung des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser und des Landeskirchenrates fest: Echtes Kirchenregiment ist […] von der Kirche selbst berufen. Die Kirche aber ist an das Bekenntnis gebunden […]. Deshalb stehen alle Einrichtungen und Maßnahmen des Kirchenregiments in innerer Beziehung zum Bekenntnis der Kirche. Demgemäß kann eine Scheidung zwischen dem Gebiet der kirchlichen Gesetzgebung und Verwaltung und dem Gebiet der Obsorge für die bekenntnismäßige Lehre und Verkündigung innerhalb des an das Bekenntnis gebundenen Kirchenregiments nur zum Zwecke der Arbeitsteilung durchgeführt werden.41
Damit sollten Eingriffe von außerhalb der eigenen Landeskirche in das Verwaltungshandeln enge Grenzen gesetzt werden.42 August Marahrens, der Landesbischof der hannoverschen Landeskirche, äußerte 1936 die Befürchtung, dass die Arbeit des Reichskirchenausschusses die Gefahr einer „Bürokratisierung aller freien Arbeit der Kirche“ mit sich bringen könne. Auf eine „gründliche und unerbittliche theologische Besinnung“43 dürfte darum keinesfalls verzichtet werden. Eine solche Gefahr könne nur überwunden werden,
38 Zu Weber vgl. Schmidt-Aßmann, Werner Weber. Beim Aufsatz, auf den sich Ehlers bezog,
handelt es sich um: Weber, Die Entwicklung. 39 Ehlers, Der Weg der Kirche im Staat, S. 152–157, hier S. 155. Zu Ehlers vgl. Meier, Hermann Ehlers. 40 Ehlers, Der Weg der Kirche im Staat, S. 155. 41 Kundgebung des bayerischen Landesbischofs und Landeskirchenrats, 10.2.1936, in: Schmidt, Dokumente. Erster Teil, S. 347–358. Ausführlicher schon zu dieser Frage Meiser, Das Kirchenregiment; Breit, Bekenntnisgebundenes Kirchenregiment sowie Schott, Kirchenleitung. 42 Vgl. Wolf, Zur rechtlichen Neugestaltung. 43 Beide Zitate bei Klück, Zur Lage der Kirche, S. 458.
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wenn wir uns alle der Wahrheit des Evangeliums unterstellen. Diese Forderung hat ihr besonderes Recht, wenn öffentliche […] Auslassungen z. B. deutschgläubige und christliche Gedanken vermengen oder als auf einander abgestimmt behandeln. Es ist mir verständlich, dass solche Lage die Überlegung, ob Volkskirche noch möglich ist, ausserordentlich befruchtet. […] Von mir nahestehender Seite ist gesagt worden, dass die Volkskirche schon seit längerem keine Wirklichkeit mehr sei. Auf der anderen Seite haben viele immer aufs Neue und mit grosser Dringlichkeit die Erhaltung der Volkskirche oder, wie man auch sagt, die Vermeidung der Freikirche auf ihr Panier geschrieben.44
Marahrens macht deutlich, wie wichtig sowohl die Rückgebundenheit des kirchlichen Handelns an das Evangelium als auch die Pflege des volkskirchlichen Erbes zur Mitte der 1930er Jahre waren. Vermittelt durch seine Wochenbriefe, die er an die Pfarrer seiner Landeskirche schickte, blieb dieses Verständnis virulent. Womöglich werde die Frage nach der Volkskirche deshalb so ernst gestellt, weil man vor den zahlreichen Notständen, denen sich die Kirche gegenübersähe, erschrecke. Deutlich wird an dieser Stelle auch, wie stark die Erwartungen an die Verwaltung mit den kirchenpolitischen Intentionen der Autoren zusammenhängen. Der Düsseldorfer Oberkonsistorialrat Otto Jung veröffentlichte 1937 im „Archiv für evangelisches Kirchenrecht“ seine praxisorientierten Ausführungen über Aufgaben und Grenzen kirchlicher Verwaltung.45 Seine Ausführungen stellt er darum unter die folgende Einschränkung, aufgrund ihrer praktischen Orientierung „darf an sie nicht der Maßstab theologischer Erkenntnis angelegt werden, um hier oder da einen Irrtum festzustellen, sondern sie müssen genommen werden als das, was sie allein sein sollen, nämlich die Gesichtspunkte eines praktischen Verwaltungsbeamten, unter denen er das kirchliche Verwaltungsproblem in der Wirklichkeit der Jahre 1936/37 sieht.“46 In der gegenwärtigen Lage müsse an die Verwaltung andere Maßstäbe angelegt werden als in ruhigen Zeiten. Zugleich müsse sich die Verwaltung „stets […] der Möglichkeiten und Grenzen bewußt“ halten, „die ihr durch die ihr im Organismus der Kirche zugewiesene Stellung“ gesetzt sei.47 Noch weniger als staatliche Verwaltung könne sich die kirchliche darauf zurückziehen, nur in einem technischen Sinne Verwaltung zu sein.
44 Ebd., S. 458 f. 45 Zu Jung vgl. Hey, Die Kirchenprovinz, S. 92, 98, 190 f. Die rheinische Provinzialkirche gehörte
zu den „zerstörten“ Landeskirchen, vgl. Rauthe, Die rheinische Provinzialkirche. Jung gehörte zu den „Neutralen“ und war zunächst Leiter der Finanzabteilung. Zum 1.3.1936 übernahm er kommissarisch die Aufgaben des Konsistorialpräsidenten und fand zunächst auch auf Seiten der Vertreter der „Bekennenden Kirche“ Akzeptanz. Zu einer wirklichen Beilegung der Streitigkeiten gelang er aber nicht (vgl. ebd., S. 76–80). Zu den Auseinandersetzungen in der rheinischen Kirche insgesamt vgl. die Beiträge in Norden, Kirchenkampf im Rheinland. 46 Jung, Aufgaben, S. 161–168, hier S. 161. 47 Beide Zitate ebd.
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Ihrem Inhalt und damit ihren eigentlichen Zweck erhält die kirchliche Verwaltung allein von der Aufgabe, die der Kirche als solcher in dieser Welt und in dieser Zeit gestellt ist; denn wie eine Organisation niemals Selbstzweck sein kann, so kann auch die Aufgabe der Verwaltung in der Kirche nur gemessen werden an dem Auftrag, den auszurichten der Kirche für alle Zeiten befohlen ist.48
Die Aufgabe der Verwaltung bestehe Jung zufolge also darin die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sowohl in materieller als auch in rechtlicher Hinsicht die Kirche allen Menschen das Wort Gottes verkündige. Die an dieser Stelle konstatierte Ausrichtung an alle Menschen ist wiederum ein volkskirchliches Motiv. Daraus ergäben sich für die kirchliche Verwaltung besondere Bedingungen, die sie wiederum von ihrem staatlichen Pendant unterscheiden. Zum Erhalt der Ordnung in der kirchlichen Organisation könne in ihr nicht ganz auf Zwang verzichtet werden. Glaubens- und Bekenntnisfragen dürften allerdings nicht durch von außen kommende Maßnahmen den Kirchen auferlegt werden. Jung spricht in seinem Beitrag ebenfalls vor dem Hintergrund der vom Staat eingeführten Reichskirchenausschüsse und mit der Problematik des „Kirchenstreits“ im Blick. Für den Kirchenjuristen im Speziellen bestehe die dienstliche Pflicht, „als äußere Ordnung alles das anzusehen und aufrechtzuerhalten, was in der staatlicherseits anerkannten Gesetzgebung der Kirche einen rechtsverbindlichen Ausdruck gefunden hat.“49 Die Mittel, mit denen innerhalb der Kirche Zwang ausgeübt werden dürfte, müssten dem Wesen der Kirche angepasst werden. Polizeiliche Maßnahmen und die Einschaltung von Gerichten sollten nur dann erfolgen, wenn auch die staatliche Rechtsordnung von dem Fehlverhalten betroffen sei. Es sei jedoch zu konzedieren, dass sich mit solchen drastischen Mitteln auf Dauer keine Autorität in der Kirche erhalten lasse. Eine kirchliche Verwaltung könne „nur dann im Segen ihres Amtes walten, wenn sie auch eine ausreichende Vertrauensbasis besitzt. […] Deshalb muß eine Kirchenbehörde in erster Linie bestrebt sein, neben der äußeren auch ihre innere Autorität zu stärken.“50 Was kirchliche Verwaltung nicht leisten könne, sei die Formulierung von genuin kirchlichen Zielen, die Fortentwicklung der Gesetzgebung sowie die „Verwirklichung neuer Aufgaben“. 51 Ihre Grenzen seien durch die Kompetenzen der „Führung“ gesetzt. Trotz Überschneidungen, etwa in Personalsachen, sei an der grundlegenden Unterscheidung zwischen Kirchenleitung und Kirchenverwaltung nicht zu rütteln. Als Bürokratie – im guten Sinne gemeint – ist die Verwaltung ihrem ganzen Wesen nach nicht dazu geschaffen, Führung auszuüben und gestaltend und wegweisend in den Lauf
48 49 50 51
Ebd. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd.
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des kirchlichen Geschehens einzugreifen. Deshalb war es falsch, daß von den Verwaltungsbehörden die Behandlung zahlreicher im Kirchenstreit aufgetretener Fragen rechtlicher, personeller und dogmatischer Natur verlangt wurde, deren Lösung, wenn überhaupt, nur der Kirchenleitung möglich ist.52
Jung vertritt die Überzeugung, dass die Verwaltung nichts zur Klärung der grundlegenden theologischen Fragen, die die Gemüter im Kirchenstreit bewegten, beitragen könne.53 Folglich sei es falsch gewesen, dass ab 1933 solche Anforderungen in die kirchliche Verwaltung hineingetragen worden seien. Jung plädiert dafür, dass diese sich um ihrer selbst willen aus dem Kampf der Gruppen fernhalten müsse. Allerdings „ohne damit zum Verzicht auf eine nach der bekenntnismäßigen Grundlage der Kirche ausgerichtete Handhabung der bestehenden rechtlichen Ordnung genötigt zu sein.“54 Im Hintergrund steht hierbei implizit das Prinzip der Angemessenheit, welches für die Verwaltung leitend sein soll, wenn Jung fordert, dass sie sich ihrer Grenzen innerhalb des „Organismus der Kirche“55 bewusst sein müsse. Dahinter steckt sicherlich auch die Motivation für seinen kirchenpolitischen Kurs, der für eine Billigung der Arbeit der Kirchenausschüsse plädiert, Zustimmung zu gewinnen. In einem weiteren Abschnitt lehnt Jung die Anerkennung neuer Rechtsformen, wie sie durch die „Bekennende Kirche“ in Form eines kirchlichen Notrechts etabliert wurden, dezidiert ab.56 Stattdessen sei seiner Ansicht nach allein das vom Staat gesetzte Recht maßgeblich; Jung vertritt einen dezidierten Rechtspositivismus, in dem theologische Bedenken keine entscheidende Rolle spielen dürften, da sie für die staatlichen Gerichte ebenfalls irrelevant seien: Deshalb kann es für den, der in einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, wie dies die Kirche doch ist, praktische Verwaltungsaufgaben zu lösen hat, nicht gleichgültig sein, wie die für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften unter staatsrechtlichem oder bürgerlichrechtlichem Gesichtspunkt beurteilt werden, natürlich immer unter der Voraussetzung, unter der alle Verwaltungstätigkeit innerhalb der Kirche zu stehen hat, daß die zu ziehenden rechtlichen Folgerungen nicht dem Wesen der Kirche widersprechen oder die Ausrichtung ihrer Aufgabe, das Evangelium zu verkünden, hindern.57
52 Ebd., S. 164. 53 Ebd.: „Der kirchliche Verwaltungsapparat als solcher konnte und kann von sich aus nichts
dazu tun, daß die grundsätzlichen Fragen, die Gegenstand der kirchlichen Auseinandersetzung sind, ihre Bereinigung finden. Die Klärung dieser Fragen muß allein der provinzial- oder gesamtkirchlichen Leitung vorbehalten bleiben.“ 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Zum kirchlichen Notrecht vgl. Luther, Notrecht sowie Kersting, Kirchenordnung und Widerstand. 57 Jung, Aufgaben, S. 166.
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Es bleibt jedoch unklar, inwieweit diese Rahmensetzung Anwendung finden konnte. Die Aussage laviert zwischen einer Konzession an die Rechtsvorstellungen der „Bekennenden Kirche“ und der Initiative der Kirchenausschüsse. Am Ende seines Beitrages formuliert er einen unverhohlenen Machtanspruch. In einer Zeit von derart grundsätzlichen und scharfen Auseinandersetzungen sei es die Aufgabe der kirchlichen Verwaltung, „ohne Rücksicht auf diesen Streit die Ordnung der Kirche in die Hand zu nehmen und sie, so gut es geht, durch die Krise durchzuhalten.“58 Die Aufgabe der kirchlichen Verwaltung liege also vor allem in der Bestandswahrung und kontinuierlichen Rechtsanwendung. Die Problematik, die der nationalsozialistische staatskirchenrechtliche Kontext bedeutete, wurde von Jung indes sehr viel weniger problematisiert als die Implikationen der zeitgenössischen theologischen Richtungsstreitigkeiten.59 Die in diesem Abschnitt angerissenen Fragen nach der spezifischen Rolle kirchlicher Verwaltung wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder aufgenommen. Die konfligierenden Positionen des „Kirchenkampfes“ trafen nunmehr wieder in scharfer Weise aufeinander. Dabei handelte es sich in der Nachkriegszeit um einen Binnendiskurs, in dem es „um Selbstreflexion, also Selbstvergewisserung und Selbstkritik, ebenso aber auch um Selbstdarstellung nach außen“60 gehen sollte.
2.
Reflexionen über Volkskirchlichkeit und kirchliche Verwaltung um 1960
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann für die westdeutschen Landeskirchen, auf die sich dieser Abschnitt beschränkt, eine Zeit des privilegierten Neubeginns, den die Kirchenleitungen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen verstanden.61 Die institutionellen Entwicklungen bewegten sich im Spannungsfeld von „Restauration“ und Neuanfang. Im Westen blieben die evangelischen Landeskirchen auf den Staat bezogen, von dem sie massiv gefördert wurden und auch als ethisch-moralische Instanzen gewünscht waren. Dabei war die Absicht tragend, aus den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu lernen.62 Abgesehen von besonders prominenten Vertretern deutschchristlicher und nationalsozialistischer Positionen waren die „Reinigungsbemühungen“ innerhalb der Landeskir-
58 Ebd., S. 168, dort weiter: „Deshalb können theologische Meinungen, ohne Rücksicht darauf,
welche programmatische Bedeutung sie haben, seitens der Verwaltung nicht berücksichtigt werden, solange sie in der kirchlichen Gesetzgebung keinen rechtsverbindlichen Ausdruck gefunden haben.“ 59 Vgl. zu den Rahmenbedingungen Link, Kirchenrechtliche Spielräume. 60 Vgl. den wichtigen Beitrag von Fischer-Hupe, Der Kirchenkampfdiskurs, das Zitat ebd., S. 461. 61 Vgl. Oelke, Der äußere und innere Wiederaufbau, zum privilegierten Neubeginn vgl. ebd., S. 270–272. Vgl. ferner Ringshausen, Erneuerung und Neuordnung; Risch, Zwischen Restauration und Neuanfang. 62 Vgl. Arnim, Kirche im Aufbau; Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse; Wehrhahn, Kirchenrechtliche Vorfragen; Schlink, Der Ertrag.
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chen eher von durchwachsenem Erfolg.63 Sowohl auf der übergeordneten Ebene als auch innerhalb der einzelnen Landeskirchen konnten Spaltungen verhindert werden, wie beispielsweise die Verabschiedung der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1948 in Eisenach belegt. Allerdings war der landeskirchlich organisierte Protestantismus nie eine konfliktarme Angelegenheit; es gelang aber, ihn in großen Teilen als „Konfliktgemeinschaft“ kirchlich zu gestalten.64 Leitend war dabei die Vorstellung weiterhin und nunmehr in verstärktem Maße Volkskirche zu sein, die sich an das ganze Volk richte, politisch und gesellschaftliche Verantwortung übernehme und alle Menschen mit der Botschaft des Evangeliums konfrontiere.65 Zwei Beispiele mögen genügen. Der spätere Tübinger und Zürcher Theologieprofessor Gerhard Ebeling veröffentlichte 1947 eine Schrift zur Kirchenzucht, in der er seine Erfahrungen als Pfarrer der „Bekennenden Kirche“ verarbeitete.66 Kirchenzucht bezeichnet die Möglichkeit der christlichen Gemeinde, Mitglieder von der Abendmahlsgemeinschaft aufgrund schwerwiegender ethischer Verfehlungen oder lehrmäßiger Verirrungen auszustoßen. Ebeling steigt sehr kritisch ein, indem er der in der „Praxis der uneingeschränkten Kindertaufe“67 einen fortgesetzten Ungehorsam gegen den Taufbefehl Jesu zu erkennen meint und hält fest, daß die Abnahme des Konfirmationsgelübdes im Rahmen der Volkskirche diesen Ungehorsam mit einer fortgesetzten Lüge zu decken sucht, daß die fehlende Abendmahlszucht das Sakrament weithin nur den religiösen Bedürfnissen anonymer, zu nichts verpflichteter Individuen dienen läßt statt der Erbauung der Gemeinde, daß die Verwaltung des Schlüsselamts zur Form der allgemeinen und darum unkonkreten und unpersönlichen Beichte und Absolution verkümmert ist […].68
Die Ordnung der Kirche, so Ebeling weiter unten in seiner Schrift, sei nicht indifferent gegenüber dem Bekenntnis: „Die Ordnung der Kirche ist vielmehr ein Akt des Bekenntnisses.“69 Die Wahrung der kirchlichen Ordnung sei ebenfalls Aufgabe der Kirchenzucht. Die Grenzen der Kirche, so Ebeling an anderer Stelle, setze der dreieinige Gott. Vgl. Vollnhals, Evangelische Kirche. Vgl. Hauschild, Konfliktgemeinschaft Kirche, S. 297–411. Vgl. Brunner, Volkskirche, S. 235–325. Die Arbeit war ursprünglich ein Referat gewesen, das Ebeling 1943 vor der Theologischen Gesellschaft in Berlin gehalten hatte und das er 1946 auf einer Arbeitstagung der Kirchlichtheologischen Sozietät nochmals hielt. Die Arbeit erschien im Januar 1947 im Druck. Vgl. Ebeling, Kirchenzucht, S. 7. Zu Ebeling vgl. die große Arbeit von Beutel, Gerhard Ebeling; zu seiner Kirchenlehre vgl. Lange, Kirche, S. 72–87. 67 Ebeling, Kirchenzucht, S. 11. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 45. 63 64 65 66
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Damit ist die Meinung abgewehrt, als könne die Kirche nach eigenem Ermessen und aus eigener Kraft sich selbst ihre Grenzen setzen, sei es, daß sie mit missionarischem Eifer und evangelistischem Elan die Welt für Christus erobern will, bis sich eben die Grenzen der Kirche möglichst mit den Grenzen der Welt decken, sei es, daß sie in volkskirchlicher Großzügigkeit auf Kosten ihrer Substanz ihre Grenze identifiziert mit der Reichweite eines gewissen pädagogischen und kulturellen Einflußes, sei es, daß sie aufgrund trüber Erfahrungen oder unter Ausweichen vor dem sich ihr entgegenstellenden Widerstand sich in pharisäischer Selbstgenügsamkeit auf die engen Grenzen einer angeblich wahren Gemeinschaft der Heiligen zurückzieht.70
Diese scharfe Abrechnung mit dem Begriff der „Volkskirche“ ist ein typischer Duktus für Theologen, die in der „Bekennenden Kirche“ aktiv waren. Denn deute man den Begriff der Volkskirche schließlich dahin, daß man in der Hoffnung, möglichst viele Glieder des Volkes zu Gliedern der Kirche zu erziehen, proleptisch schon möglichst alle durch die Kindertaufe zu Gliedern der Kirche macht, dann erforderte doch eine solche Handlungsweise zumindest, daß man dem Vorhandensein getaufter aber sich nicht zur Versammlung unter Wort und Sakrament haltender Massen keinen konstitutiven Einfluß auf Verkündigung und Ordnung der Kirche einräumt, also die von uns herausgearbeitete Zughörigkeit der Kirche mit aller Schärfe zur Anwendung bringt, also in ihrem Rahmen Kirchenzucht übt.71
Ebeling ist so realistisch, dass mit dem Wort die Sache selbst noch nicht aus der Welt gebracht sei. Kleinere Reparaturarbeiten im volkskirchlichen Gefüge, sei es an der Konfirmation oder an der Kindertaufe, würden jedenfalls nicht genügen, wolle man „unsere verfahrene volkskirchliche Situation in die rechte Ordnung bringen.“72 Und das bedeutet ja im Umkehrschluss wohl auch, Volkskirche ist eben nicht rechte Ordnung. Solche kritischen Stimmen waren allerdings keineswegs in der Mehrheit. Hermann Diem sah die Volkskirche 1951 zwar auch in einem Auflösungsprozess; zugleich gab er in seinen Ausführungen auch den Vorzügen des staatlichen privilegier-
70 Ebd., S. 20. 71 Ebd., S. 47. Vgl. dort weiter: „Der Begriff der Volkskirche sollte schon allein wegen seiner das
Problem des Kirchenbegriffs verschleiernden Unklarheit, um deretwillen er ja zur Rechtfertigung der bestehenden kirchlichen Verhältnisse so beliebt ist, grundsätzlich aus der theologischen Sprache verbannt werden und als der typische Begriff einer Irrlehre über das Wesen der Kirche seine öffentliche Verurteilung erfahren. Will er nur besagen, dass sich die Verkündigung des Wortes Gottes durch die Kirche an alles Volk wendet, so ist er jedenfalls eine romantische Verengung des sachgemäßen Begriffs ‚katholische Kirche‘. Soll aber mit dem Begriff die Behauptung ausgesprochen sein, daß das ganze Volk christlich, d. h. Kirche ist, so ist er der Ausdruck einer ketzerischen Illusion, über deren Widerlegung kein Wort zu verlieren ist.“ 72 Ebd., S. 48. Ähnlich auch noch Locher, Quo vadis, ecclesia?, Sp. 35–38, 53–58, vor allem Sp. 56, wo der Verfasser eine volkskirchliche Scheinexistenz diagnostiziert.
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ten Status quo breiten Raum.73 Im Verlauf der 1950er Jahre gerieten die Zweifel am eigenen Status als Volkskirche sowie der damit verbundenen theologischen Schwierigkeiten immer weiter in den Hintergrund. Die Landeskirchen schienen gut zu funktionieren, auch wenn sich die mit Verve vorgetragenen Rechristianisierungshoffnungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre nicht erfüllten.74 Wenig deutet daraufhin, dass das Kriegsende und die institutionellen Neuaufbrüche für die kirchlichen Verwaltungen eine Zäsur, geschweige denn eine „Stunde Null“ bedeutet hätten.75 Der reformierte Theologe Wilhelm Niesel kritisierte die „Verwaltungsmaschinerie“ 1950 in aller Entschiedenheit und verband sie mit einem von ihm abgelehnten Staatskirchentum. Zwar sei Verwaltung nötig, aber in Holland oder Schottland könnten Kirchen auch ohne riesige Verwaltungsapparate funktionieren. Unterschiedliche Phänomene stehen bei seiner negativen Sicht solcher Apparate im Hintergrund. Zum einen seine ekklesiologischen Prämisse, die davon ausgeht, dass Kirche von unten, von den Gemeinden her aufgebaut wird, ohne das ihr von oben per Verwaltungsdekret etwas übergestülpt werden dürfe. Es klingt ein Verständnis von Volkskirche an, dass nicht die Größe und Reichweit der Kirche zum Ausgangspunkt nimmt, sondern ihren auf den Menschen ausgerichteten Dienst. Nichtsdestotrotz konstatiert Niesel bereits zu diesem Zeitpunkt einen großen Reformbedarf.76 Um das Jahr 1960 und in den folgenden Jahren dann in verschärfter Weise ging den kirchenleitenden und theologisch reflektierenden Persönlichkeiten innerhalb des landeskirchlich organisierten Protestantismus einiges an dieser frühen Selbstsicherheit verloren. Man begann sich zunehmend selbst in Frage zu stellen, was durch die langsam lauter werdenden Stimmen der „Kirchenkritik“, dann im Verlauf der langen 1960er Jahre noch weiter befeuert wurde.77 Der Hamburger Missionswissenschaftler Hans Jochen Margull forderte 1959 dazu auf, sich mit einem Zerbröckeln der Volkskirche auseinanderzusetzen.78 Wilhelm Maurer hatte schon 1955 den Wandel des Landeskirchentums beobachtet.79 Und 1961 schließlich erschien Erik Wolfs großes Kirchenrecht unter dem bezeichnenden Titel „Ordnung der Kirche“.80
73 Vgl. Diem, Lutherische Volkskirche in West und Ost; ders., Lebensordnung oder Kirchen-
zucht. 74 Vgl. Großbölting, Der verlorene Himmel, S. 22–26; Greschat, Die evangelische Christenheit, S. 310–314. 75 Vgl. auch die nüchterne Beschreibung bei Steinberg, Gerhard Thümmel, S. 41–51; ferner Wendebourg, Der lange Schatten. 76 Vgl. Niesel, Wohin steuert die Kirche?, S. 15–18. 77 Vgl. Großbölting, Der verlorene Himmel, S. 97–103; mit Blick auf die bayerische Landeskirche z. B. Blendinger, Aufbruch der Kirche in die Moderne, S. 224–254. 78 Vgl. Margull, Angenommen; Hübner, Sendung und Einheit. 79 Maurer, Lutherische Kirche. 80 Vgl. Erik Wolf, Ordnung der Kirche.
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Vor dem Hintergrund dieser Diskussion kam es nun auch vermehrt zu einem expliziten Nachdenken über die Zukunft und Ausgestaltung der kirchlichen Verwaltung. Karl Wagenmann, seit 1952 Präsident des Landeskirchenamtes in Hannover, prägte in einem Akademiereferat den Ausdruck der „verantwortlichen Verwaltung“. Seine Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt ebenfalls bei der Volkskirche, von der er klassisch den öffentlichen Auftrag der Kirche ableitet.81 Für die Kirche sei nun wichtiger als die klassische Gewaltenteilung eine sinnvolle Teilung der Funktionen. Verantwortliche Verwaltung beziehe sich folglich auf das gesamte Handeln in der Kirche, das nicht Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung sei. An ihr seien also nicht nur die Verwaltungsbeamten und -angestellten beteiligt, sondern auch die Synoden und die Kirchenregierung.82 Als Fundamentalsatz gelte für die Verwaltung, dass sie niemals Selbstzweck sei. Diesen Satz einzuhalten, sei aber gerade in der kirchlichen Verwaltung nicht unproblematisch: Zwischen den eigentlichen Aufgaben der Kirche und der Verwaltung besteht eine Spannung, und wenn diese Spannung nicht gelöst werden kann, dann ergeben sich Schwierigkeiten, dann geschieht Ungutes in der Kirche, dann ist die kirchliche Verwaltung nicht mehr korrekt. Verwaltung im eigentlichen Sinn ist die Anwendung der Gesetze; sie ist an die Gesetze gebunden. Die Anwendung der bestehenden Bestimmungen darf aber nicht sinnlos geschehen, sonst wird die Verwaltung zur Paragraphenreiterei.83
Im Vergleich zu den Ausführungen Otto Jungs wird deutlich, wie sehr die Erfahrungen kirchlichen Verwaltungshandelns während der NS-Zeit intensiv verarbeitet worden sind. Möglicherweise wurde die Logik der Angemessenheit immer wichtiger, beziehungsweise war zumindest der Logik der Konsequenz übergeordnet. Eine verantwortliche Verwaltung müsse jedenfalls so modern und gleichzeitig so sparsam wie möglich sein, nicht zuletzt, weil ihr die Verwaltung der kirchlichen Vermögen obliege. Jede Verwaltung lebt in der Bindung an eine Sache, „der kirchliche Verwaltungsmann also in der Bindung an die Sache der Kirche und damit in der Bindung an Gott.“84 Daraus leitet Wagenmann überdies ein besonders an-
81 Wagenmann, Verantwortliche Verwaltung, S. 57–59, hier S. 57: „Mit der Volkskirche ist ein
Anspruch und ein Auftrag and die Öffentlichkeit verbunden, den die Öffentlichkeit, insbesondere auch der Staat und die politischen Gemeinden, nicht übersehen können. Sie hat dadurch die Legitimation, zu allgemeinen Fragen öffentlich Stellung zu nehmen.“ Vgl. außerdem Niemann, Kirchliche Selbstverwaltung. 82 Vgl. Wagenmann, Verantwortliche Verwaltung, S. 58: „Besonders aber liegt natürlich die Verwaltung den Kirchenbehörden ob, also den Landeskirchenämtern, den Kreiskirchenvorständen, aber auch den Superintendenten und den Pfarrern und ihren Gehilfen, die ihnen für diesen Zweck beigeordnet sind.“ 83 Ebd. 84 Ebd., S. 59.
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spruchsvolles ethisches Anforderungsprofil an den kirchlichen Verwaltungsmann ab.85 1963 publizierte Wagenmann eine relativ schmale Gesamtdarstellung zur kirchlichen Verwaltung, die erste ihrer Art, die in der „Handbücherei für Gemeindearbeit“ erschien. Nach einem Vorwort und einer Einleitung beschreibt der Hannoveraner Kirchenjurist in sechs Kapiteln diverse Aspekte der kirchlichen Verwaltung vom kirchenrechtlichen Rahmen bis zum Menschen in ihr. Einige wenige Punkte sollen im Folgenden hervorgehoben werden. Programmatisch stellt Wagenmann Ausführungen über die Kirche an den Anfang seiner Schrift als normierende Norm und Orientierungspunkt für jegliches Verwaltungshandeln in ihr. Drei Eigenschaften der Kirche hebt er eingangs hervor. Zunächst ihren seit 1919 verbrieften Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts.86 Zweitens sind die Kirchen in Deutschland als Territorialkirchen organisiert, „das heißt, ihr Gebiet ist auf ein bestimmtes Territorium begrenzt; innerhalb dieses Territoriums umfassen sie im Grundsatz alle evangelischen Christen, die nicht aus der Kirche ausgetreten sind“.87 Drittens schließlich ist die Kirche als Volkskirche zu bezeichnen, was zunächst auf den Unterschied zur Freiwilligkeitskirche abzielt. Damit verbunden sind dann aber eine ganze Reihe von Einflussmöglichkeiten der Kirche, die diese nicht ohne Weiteres aufgeben dürfe. Zwar gäbe es keine Garantie, dass sie immer Volkskirche bleiben würde, aber „sie [die Kirchen, BB] haben keinen Grund, von sich aus auf eine Einschränkung, Auflösung oder Abschaffung ihres volkskirchlichen Charakters hinzuarbeiten, sondern müssen, wenn sie ihren Auftrag recht erfüllen wollen, alle Möglichkeiten wahrnehmen, die ihnen ihr Charakter als Volkskirche läßt.“88 Wie steht es nun um die Aufgaben und Grenzen der kirchlichen Verwaltung vor diesem Hintergrund? Nach einer Abgrenzung von staatlichen Verwaltungsvorstellungen, die sich nicht ohne Weiteres auf die Kirche übertragen ließen, hält Wagenmann fest, dass kirchliche Verwaltung auf allen kirchlichen Ebenen stattfinde, nicht nur in einer Zentralinstanz. Ihre Aufgaben seien so vielfältig wie die der Kirche selbst, insbesondere, wenn sie sich als Volkskirche gestalte. Er hält abschließend fest: Die kirchliche Verwaltung umfaßt alles Handeln in der Kirche, das nicht eigentliche geistliche Leitung, Wortverkündigung und Vollzug der Amtshandlungen einschließlich Seelsorge und Unterricht ist. Auch Akte der kirchlichen Rechtsetzung, ja sogar der kirchlichen Gesetzgebung fallen unter den weiten Begriff der kirchlichen Verwaltung, ebenso die kirchli85 Die Bedeutung von Frauen in der kirchlichen Verwaltung wird nicht weiter reflektiert. Zur
Beamtenethik vgl. ebd.: „Was in den weltlichen Verwaltungen nicht korrekt ist, kann auch in der Kirche niemals korrekt sein, und vieles, was in der weltlichen Verwaltung gerade noch als korrekt oder tragbar durchgehen kann, ist in einer kirchlichen Verwaltung nicht mehr korrekt und nicht tragbar.“ Zum Kirchenbeamte vgl. Wolf, Ordnung der Kirche, S. 667–670. 86 Vgl. Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 199f; Weichlein, Von der Staatskirche. 87 Wagenmann, Die kirchliche Verwaltung, S. 7. 88 Ebd., S. 9. Ähnlich auch Elliger, Grundfragen, S. 148–165, vor allem S. 155.
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che Gerichtsbarkeit. Aber es gibt eine Teilung der Funktionen und damit Zuständigkeitsgrenzen! Es ist eine Frage der Ordnung und Verfassung der einzelnen Kirche, welchem Organ die einzelnen Funktionen zugewiesen sind.89
Wagenmann stellt dann in einem weiteren Kapitel idealtypisch den Aufbau und die Organisation kirchlicher Verwaltungen dar, ausgehend von der örtlichen Kirchengemeinde als kleinster Verwaltungseinheit. Ein weiteres Kapitel schildert dann das Phänomen der Selbstverwaltung der Kirchengemeinden eingedenk ihrer Einschränkungen.90 Dass die Schrift zur Verwendung in den Gemeinden abzielte, unterstreicht das Kapitel über die Praxis der kirchlichen Verwaltung. Wagenmann führt hier die schon geschilderten Grundsätze aus seinem bereits diskutierten Referat ausführlicher aus. Die Techniken der Verwaltung nehmen darüber hinaus ebenfalls einigen Raum ein, vom zweckmäßigen Verwaltungsgebäude bis zu technischen Geräten werden die materiellen Aspekte diskutiert. Im letzten Kapitel referiert Wagenmann über ein Thema, das ihm besonders wichtig zu sein scheint: der Mensch in der kirchlichen Verwaltung. Kirchliche Beamte und Angestellte unterliegen in besonderer Weise einem ethischen Anspruch, der noch dadurch verstärkt wird, dass sie im Sendungsauftrag der Kirche mitwirken. Jeder Verwaltungsbeamter müsse wissen, „daß es für ihn gilt, dem Pfarrer zu helfen, daß er wirklich Pfarrer sein kann, und ebenso durch seinen Rat auch der Gemeinde zu helfen, daß sie wirklich christliche Gemeinde sein kann.“91 Seiner Überzeugung nach ist kirchliches Verwaltungshandeln gleichbedeutend mit kirchlichem Handeln und steht damit unter einem besonderen Anspruch, aber auch unter einer besonderen Verheißung.92 Der Kirchenjurist Albert Stein brachte diesen Ansatz später auf die Bezeichnung der kirchenleitenden Verwaltung, die in spezifischen Spannungsfeldern theologischer und rechtlicher Art zu verorten sei.93
Wagenmann, Die kirchliche Verwaltung, S. 21. Vgl. auch einige Jahre später Karl Wagenmann, Zur Selbstverwaltung. Wagenmann, Die kirchliche Verwaltung, S. 78. Vgl. in diese Richtung auch Maurer, Verwaltung und Kirchenleitung sowie später noch Campenhausen, Kirchenleitung, S. 11–34, hier S. 11: „Kirchenregiment und Kirchenverwaltung sind beides ‚Kirchenleitung‘ in modernem Verständnis.“ 93 Vgl. Stein, Kirchenleitende Verwaltung. 89 90 91 92
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III. Logiken kirchlichen Verwaltungshandeln bis zum Vorabend der Kirchenreformdebatten Welche Beobachtungen lassen sich durch diese Schlaglichter zur kirchlichen Verwaltungsgeschichte machen? Stefan Fisch hat Verwaltungskulturen treffend als „geronnene Geschichte[n]“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um „ein Set von Handlungsmustern und Leitvorstellungen von eigenem Tun in Verwaltungen“, „der als Teil von Kultur nicht angeboren ist, sondern sozial vermittelt erlernt und geübt wird.“94 Als kulturgeschichtlich konturierter Forschungsansatz stehen dabei u. a. die „Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungsmuster, Selbstdeutungen und Weltbilder“95 im Blick, was auch für die Auswahl der hier dargestellten Ausführungen leitend war. Auffällig ist, wie intensiv die Logik der Angemessenheit und Konsequenz zeitgenössisch diskutiert worden sind, auch wenn dies häufig nur implizit geschah. Kirchliche Verwaltung in diesem Untersuchungszeitraum sieht sich in einer unterstützenden Situation, die das Handeln der Kirche ermöglichen und fördern soll. Gerade als Verwaltung einer Volkskirche übernimmt sie aufgrund des weiten und facettenreichen Aufgabenportfolios eine wichtige Rolle. In einer Zeit erheblicher ideologischer Verwerfungen und kirchenpolitischer Konflikte wie während des Nationalsozialismus scheint es ihr aber schwer gefallen zu sein, ein eigenständiges Profil zu entwickeln, dass in kritischer Distanz zu Vereinnahmungen hätte bestehen können Das Demokratiedefizit spielt im in diesem Beitrag betrachteten Zeitraum keine wichtige Rolle. Bürokratisierung und Demokratisierung wurden dann erst nach 1960 zu Programmbegriffen der Kirchenreform.96 Als Grundlage für diese Debatten kann aber die nach 1945 in Reaktion auf die problematische Entwicklung der kirchlichen Verwaltung während der NS-Zeit entwickelte Ethik der Verwaltung angesehen werden. Als Verwaltungsbeamte in der Kirche gelten für die Person höchste ethische Ansprüche. Verwaltung ist Kirche und an die Werte und das Bekenntnis der Kirche rückgebunden. Vom kirchlichen Bekenntnis ausgehend muss das Verwaltungshandeln konsequenterweise abgeleitet werden. Die praktischen Probleme, die diese Vorstellung mit sich brachte, gilt es noch in weiteren Studien näher zu eruieren. Gerade für die Kirchenverwaltung kam es darauf an, die Organisation nicht nur nach einer Logik der Konsequenz weiterzuentwickeln, sondern zugleich eine „Angemessenheit“ dieser Verwaltung sicherzustellen, die sich an dem kirchlichen Bekenntnis zu orientieren hatte. Im Hinblick auf die Gegenwart ist die Geschichte der kirchlichen Verwaltung – und der Diskussion ihrer Aufgaben – von erheblicher Bedeutung, gerade 94 Fisch, Verwaltungskulturen. 95 Daniel, Clio unter Kulturschock, S. 195–218, 259–278, hier S. 200, zitiert nach Fisch, Verwal-
tungskulturen – geronnene Geschichte?, S. 303–323, hier S. 303. 96 Vgl. Rau, Demokratisierung und Bürokratisierung; Scholz, Kirchenreform.
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wenn das volkskirchliche Erbe zunehmend zu schwinden scheint, mit allen Implikationen, die das wiederum mit sich bringt. Verwaltungshandeln für eine postvolkskirchliche Zukunft lässt sich nur durch eine gründliche Erforschung seiner historischen Genese und ihrer Rahmenbedingungen entwickeln.
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VERWALTUNG DES VOLKSKIRCHLICHEN ERBES IM DEUTSCHEN PROTESTANTISMUS
Dr. Benedikt Brunner, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Zuvor war er von 2015– 2018 Assistent an der Professur für Neuere Kirchengeschichte, insbesondere Reformationsgeschichte, der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und von 2013–2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster für „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Publikationen: Volkskirche. Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs, 1918–1960 (= Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, Bd. 77), Göttingen 2020; Von der Staats- zur Volkskirche. Reorganisation des kirchlichen Protestantismus in Weimar, 1918–1925, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Jg. 65 (2020), S. 249–273; Kirche für andere – Kirche für die Welt. Hunger und Armut als Katalysatoren des Wandels westdeutscher Kirchenkonzepte, in: Andreas Holzem (Hg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1800) (= Bedrohte Ordnungen, Bd. 6), Tübingen 2017, S. 255–273.
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Sascha Hinkel
„EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN DÜRFTE WOHL EBENSO ZEITRAUBEND WIE UNFRUCHTBAR UND ERGEBNISLOS SEIN.“ Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ in der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und kirchlicher Verwaltung
„E
ine weitere Diskussion über diese und ähnliche Fragen dürfte wohl ebenso zeitraubend wie unfruchtbar und ergebnislos sein.“1 Mit diesen Worten beendete Reichskirchenminister Hanns Kerrl am 1. Juni 1937 einen Schriftwechsel mit dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, dem Breslauer Erzbischof Adolf Kardinal Bertram, über Papst Pius‘ XI. Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937. Dieses Lehrschreiben stellt einen der Höhepunkte der Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem NS-Regime dar. Der Papst kritisierte darin die christentumsfeindliche nationalsozialistische Ideologie. Der verpflichtende NS-„Anschauungsunterricht […] enthüllt“, so der Papst, „Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf“ gegen die Kirchen.2 Mit dieser Attacke traf das Oberhaupt
1 Kerrl an Bertram vom 1.6.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 379, S. 231 f., hier 231.
Mein Dank gilt Elisabeth-Marie Richter und Hendrik Neumann für die intensiven Diskussionen über die Konzeption des Beitrags sowie Hendrik Neumann für die Zusammenstellung der Korrespondenzlisten Bertrams und für das Erstellen der Grafiken. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmerinnen der Tagung gilt mein Dank für die gewinnbringenden Diskussionen sowohl im Rahmen des offiziellen Programms als auch außerhalb. 2 Der verpflichtende NS-„Anschauungsunterricht […] enthüllt“, so der Papst, „Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf“. Pius XI., Enzyklika
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der katholischen Kirche das Regime empfindlich, wurde doch deutlich, dass es seinen totalitären Anspruch noch nicht hatte durchsetzen können. Die Enzyklika hat seit Jahrzehnten das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Es geht im Folgenden allerdings nicht um die kontrovers diskutierte Frage, ob die Enzyklika ein wirklicher Wendepunkt der kirchlichen Kampftaktik gegen das NS-Regime oder lediglich ein Strohfeuer darstellte.3 Vielmehr soll die Auseinandersetzung zwischen Kerrl und Bertram im Nachgang der Enzyklika mit Blick auf die Fragestellung nach der kommunikativen Praxis im Nationalsozialismus untersucht werden. Der Schriftwechsel Kerrl-Bertram steht damit beispielhaft für die Frage, wer eigentlich mit wem in welcher Art und Weise über Kirchenpolitik verhandelte. Darüber hinaus soll nach Kontinuitätslinien und Brüchen in der Verwaltungspraxis gegenüber der katholischen Kirche vor, im und nach dem Nationalsozialismus gefragt werden. Heike Kreutzer verweist in ihrer Arbeit zum Reichskirchenministerium im Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft auf solche Kontinuitätslinien zwischen der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“. Sie sieht dabei drei Ebenen, auf die zurückzukommen sein wird: 1. eine kirchenpolitisch-ideologiegeschichtliche Ebene, 2. eine verwaltungsgeschichtliche und 3. vor allem eine personelle Ebene.4 Weiterhin soll gefragt werden, ob das Reichskirchenministerium, der bekannten Dichotomie Ernst Fraenkels folgend, dem Normenoder dem Maßnahmenstaat zuzuordnen ist.5 Und letztlich: Folgte es in seinem Handeln einer „Logik der Konsequenz“ oder einer „Logik der Angemessenheit“?6 Zu Beginn wird der Blick auf die Akteure und Verwaltungen in Staat und Kirche gerichtet und damit der Rahmen für die Kommunikation zwischen Staat und Kirche abgesteckt. Anschließend wird am Beispiel von Bertram in einem quantitativen Ansatz der Frage nachgegangen, mit welchen staatlichen Stellen er eigentlich zwischen 1933 und 1945 in Kontakt stand. Danach wird als qualitatives Beispiel der Schriftwechsel zwischen Kerrl und Bertram um die Enzyklika analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst.
I.
Akteure und Verwaltungen in Kirche und Staat
Auf staatlicher Seite war Hitler der entscheidende Akteur, wenngleich er häufig gar nicht selbst in Erscheinung trat. In der Öffentlichkeit gab er sich den Kirchen konziliant gegenüber, nur im Kreis seiner engsten Vertrauten zeigte er seine
„Mit brennender Sorge“, URL: https://w2.vatican.va/content/pius-xi/de/encyclicals/documents/ hf_p-xi_enc_14031937_mit-brennender-sorge.html (letzter Zugriff: 12.9.2019). 3 Wolf, Wechsel; Brechenmacher, Enzyklika; Bouthillon/Levant, Pape. 4 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 324. 5 Fraenkel, Doppelstaat. 6 Seibel, Verwaltung, S. 142–151.
EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN
wahre Gesinnung. Seine wechselhafte Kirchenpolitik folgte häufig changierenden innen- und außenpolitischen Erwägungen, denen er eine deutlich höhere Priorität beimaß als der Auseinandersetzung mit den Kirchen, die er auf die Zeit nach dem gewonnenen Krieg verschob. Um den Konflikt in der evangelischen Kirche zwischen Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche zu befrieden, gründete er am 16. Juli 1935 das Reichskirchenministerium mit dem Deutschen Christen Hanns Kerrl an der Spitze. Der Aufstieg Kerrls zum Reichskirchenminister bedeutete weniger einen Karrieresprung als vielmehr eine Versorgungsmöglichkeit für einen „alten Kämpfer“. Der Protestant Kerrl war bereits 1923 in die NSDAP eingetreten, hatte die Partei im preußischen Landtag und im Reichstag vertreten und war – als mittlerer Justizbeamter – für ein gutes Jahr preußischer Justizminister gewesen. Trotz seiner langen Parteizugehörigkeit durchschaute er die Doppelstrategie Hitlers nicht: Auf der einen Seite gewährte der Führer den weltanschaulichen Gegnern des Christentums in der NSDAP wie dem NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, dem Chef des Stabes des Stellvertreters des Führers und späteren Chef der Partei-Kanzlei der NSDAP Martin Bormann, dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamts Joseph Heydrich und dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels freie Hand; und auf der anderen Seite beförderte Hitler einen Mann wie Kerrl, der an die Synthese von Nationalsozialismus und Christentum glaubte, in das Amt des Reichskirchenministers.7 Dieser weltanschauliche Gegensatz innerhalb der Führungsriege der NSDAP, der sich wie ein roter Faden durch die Kirchenpolitik des Regimes zog, kommt in einem Tagebucheintrag Goebbels vom Februar 1937 prägnant zum Ausdruck: „Er [Kerrl] will die Kirche konservieren, wir wollen sie liquidieren. Es sind nicht taktische, sondern grundsätzliche Unterschiede, die uns trennen.“8 Kerrl gehörte zu der Gruppe von Nationalsozialisten, die den Kirchen auch langfristig eine zwar eingeschränkte, aber eben doch öffentliche Rolle in der nationalsozialistischen Gesellschaft zusprechen wollten. Mit dieser Position stand er in der Riege der für Kirchenpolitik zuständigen Nationalsozialisten der Anfangsjahre des Regimes nicht alleine. Eine ähnliche Linie verfolgte etwa der Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium Rudolf Buttmann, der ab April 1933 die dortige Kulturabteilung leitete und somit für die Beziehungen zu den Kirchen zuständig war. Buttmann, bürgerlich sozialisiert und den revolutionären Nationalsozialisten fernstehend, versuchte zwischen Oktober 1933 und Juni 1935 in der umstrittenen Frage der Auslegung des Artikels 31 des Reichskonkordats zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Sein eigener Vorschlag, die Frage, welche der katholischen Verbände und Organisationen unter den Schutz des Reichskonkordats fallen sollten und damit de jure nicht gleichgeschaltet werden durften, auf Verhandlungen nach Abschluss des Vertrags zu verschieben, hatte dessen Unterzeichnung erst möglich gemacht. In diesen Verhandlungen scheiterte der „bürgerliche“ 7 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 110. 8 Tagebucheintrag Goebbels vom 15.2.1937, in: Fröhlich (Hg.), Tagebücher, Teil 1, Bd. 3/II, S. 375.
243
244 Sascha Hinkel
Nationalsozialist Buttmann allerdings mit seiner Linie, der katholischen Kirche eine, wenn auch dem NS-Staat klar untergeordnete, aber dennoch teilautonome Rolle sichern zu wollen. So bezeichnete er das Ende seiner Verhandlungen in Rom im Juni 1935 folgerichtig als „enttäuschend und enttäuscht“.9 Buttmann zog sich danach aus der Politik zurück und übernahm die Leitung der Bayerischen Staatsbibliothek in München.10 Der Rückzug Buttmanns aus dem Reichsinnenministerium und die Gründung des Reichskirchenministeriums trennen nur wenige Wochen. Kerrl hatte massive Probleme in der Leitung seines neuen Ressorts, wofür sowohl persönliche als auch strukturelle Ursachen ausgemacht werden können. Der Minister führte einen zeitweise ausschweifend neofeudalen Lebenswandel, was massive gesundheitliche Probleme mit sich brachte. Im Mai 1936 erlitt er einen Herzinfarkt, in dessen Folge er das Ministerium über mehrere Monate hinweg von seiner Berliner Villa aus leitete. Zwar erstatteten ihm hier führende Vertreter seines Ministeriums regelmäßig Bericht,11 dennoch schaffte es Kerrl auch nach seiner Genesung nicht, das Ministerium nach seinen Vorstellungen zu führen. Schließlich musste er seine Abteilungsleiter im Dezember 1936 daran erinnern, „daß die Politik meines Ministeriums von mir allein bestimmt und auch von mir vertreten wird“.12 Diese Mahnung wiederholte Kerrl, der immer wieder zur Kur gehen musste, in den nächsten Jahren mehrfach, was darauf schließen lässt, dass er das Ministerium nicht im Griff hatte. Die Neugründung des Reichskirchenministeriums im Frühjahr 1935 brachte strukturelle Probleme mit sich. Unter anderem war das Personalgefüge äußert heterogen, denn im Ministerium waren Anhänger der unterschiedlichen Auffassungen über die NS-Kirchenpolitik vertreten. Dabei verlief die ausgeprägte Fraktionsbildung innerhalb des Beamtenkörpers nicht zuletzt auch entlang der Konfessionsgrenzen.13 In der katholischen Abteilung des neuen Ressorts betreuten die katholischen Ministerialräte Johannes Schlüter14 und Felix Theegarten,15 die bereits vorher im preußischen Kultusministerium in diesen Positionen tätig gewesen waren, die entsprechenden Referate.16 Kerrl entzog dem als kirchennah geltenden Schlüter – im Gegensatz zu Theegarten, der sich offenbar besser an seinen neuen Vorgesetzen anpasste – allerdings umgehend alle eigenständigen Aufgaben. Zu
9 Buttmann an seine Frau vom 17.6.1935, in: Brechenmacher, Unveröffentlichte Dokumente,
Nr. 29, S. 276–280, hier 277. 10 Ebd., S. 153–162. Weiterhin grundlegend Volk, Reichskonkordat. 11 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 118–120. 12 Zitiert nach ebd., S. 124. 13 Ebd., S. 132. 14 Ebd., S. 150 f.; Johannes Schlüter, in: Pacelli-Edition, Biographie Nr. 14038, URL: www.pacelliedition.de/Biographie/14038 (letzter Zugriff am 10.2.2020). 15 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 151 f. 16 Ebd., S. 89.
EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN
ihnen gesellte sich im August 1935 mit dem Studienrat Joseph Roth17 ein katholischer Priester, der bereits im April 1936 zum Generalreferenten, also faktisch zum Leiter der katholischen Abteilung aufstieg und später zum Ministerialdirektor befördert wurde. Roth starb im Juli 1941, im Amt folgte ihm Julius Stahn,18 der bis dahin in der evangelischen Abteilung des Ministeriums tätig gewesen war. Ab Februar vertrat Theegarten den erkrankten Spahn als Abteilungsleiter. Die katholische Abteilung unterstand ebenso wie die evangelische dem Staatssekretär Hermann Muhs, einem überzeugten Nationalsozialisten, der für eine Trennung von Kirche und Staat eintrat.19 Als Kerrl am 14. Dezember 1941 starb, besetzte Hitler das Amt des Reichskirchenministers nicht neu, wodurch der geringe Einfluss der Behörde augenscheinlich wurde. Offenbar war sie dem Führer jedoch so wichtig, dass er sie nicht auflöste, sondern Staatssekretär Muhs mit der Führung der Geschäfte beauftragte. Schaut man genauer auf das in der katholischen Abteilung tätige Personal, fallen neben den Laufbahnjuristen Schlüter und Theegarten vor allem die beiden katholischen „braunen Priester“ Sebastian Schröcker20 und Joseph Roth ins Auge.21 Schröcker hatte sowohl in den Rechtswissenschaften als auch in der katholischen Theologie promoviert. Er war katholischer Priester des Erzbistums München und Freising, ließ sich jedoch 1938 laisieren, nachdem der Münchener Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber ihm die Dozentur für Kirchenrecht an der Universität München verweigert hatte. Anschließend kam Schröcker durch die Unterstützung Roths ins Reichskirchenministerium, wo er in der katholischen Abteilung für Fragen des Finanz-, Vermögens- und Staatskirchenrechts sowie in Stiftungs- und Schulangelegenheiten tätig war. Schröcker gilt als engster Mitarbeiter Roths, doch seine genauere Tätigkeit im Reichskirchenministerium ist „bislang nicht untersucht“. 22 Roth hatte als Kriegsfreiwilliger und in Freikorps bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik gekämpft, anschließend Theologie studiert und war 1922 zum Priester der Erzdiözese München und Freising geweiht worden. Er war 17 Josef Roth, in: Faulhaber-Edition, URL: www.faulhaber-edition.de/kurzbiografien.html?idno
=01424 (letzter Zugriff am 4.2.2020); Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 161–181; Forstner, Priester, S. 436–439; Brandl, Roth. 18 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 146–148. 19 Ebd., S. 133–142; Buss, Reichskirchenministerium. 20 Sebastian Schröcker, in: Faulhaber-Edition, URL: www.faulhaber-edition.de/kurzbiografien. html?idno=23670 (letzter Zugriff am 4.2.2020); Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 182–185; Forstner, Priester, S. 439–442. 21 Lediglich 0,12 Prozent der katholischen Priester im Deutschen Reich waren Mitglied in der NSDAP, insgesamt können 0,35 Prozent der Priester als „braune Priester“ bezeichnet werden, die sich offen zur nationalsozialistischen Weltanschauung bekannten. In der Erzdiözese München und Freising, zu der Schröcker und Roth gehörten, gab es 17 „braune Priester“. Forstner, Priester, S. 419–455; ders., Braune Priester; Spicer, Hitler’s Priests; Röw, Militärseelsorge, S. 301– 310. 22 Forstner, Priester, S. 441.
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zehn Jahre Kaplan in München-Schwabing und danach Studienrat in München gewesen, bevor er 1935 auf Empfehlung Alfred Rosenbergs ins Reichskirchenministerium wechselte. Bereits zu Studienzeiten hatte Roth, der sich der Frontkämpfergeneration verbunden fühlte, enge Kontakte zur völkischen Bewegung in München geknüpft.23 Er hatte die Heilige Messe auf den Parteitagen der NSDAP vor 1933 gefeiert und regelmäßig für den Völkischen Beobachter geschrieben. Der Partei trat er allerdings nie bei. Schröcker und Roth waren damit keine Anhänger eines Rechtskatholizismus,24 sondern sie gehörten zu den katholischen Priestern, die in den Worten Thomas Forstners „aktive Kollaboration“ in Führungspositionen des Dritten Reichs betrieben.25 Mit dem Abteilungsleiter „Politische Kirchen“ beim Sicherheitsdienst, dem 1934 vom Priesteramt suspendierten Albert Hartl,26 war Roth eng befreundet. Er diente auch als Spion des SD im Reichskirchenministerium, wodurch Himmler frühzeitig über Initiativen seines Konkurrenten Kerrl informiert war, die er dann konterkarieren konnte.27 Roths Verhältnis zu seinem Diözesanbischof Michael Kardinal von Faulhaber war angespannt. Der Erzbischof erteilte ihm zwar das „Nihil obstat“ für die Anstellung im Reichskirchenministerium, um Kerrl nicht umgehend nach der Gründung des Ministeriums vor den Kopf zu stoßen.28 Allerdings verweigerte der Erzbischof dem streitbaren Priester ein Jahr später das erneute „Nihil obstat“ anlässlich seiner Beförderung zum Ministerialrat. Somit erhielt Roth das notwendige Celebret nicht, das einem katholischen Priester erlaubte, geistliche Handlungen in einer fremden Diözese vorzunehmen. In Konsequenz durfte Roth lediglich in seiner Heimatdiözese München und Freising geistliche Handlungen vollziehen, also die Heilige Messe lesen oder Beichte hören, nicht aber an seinem Dienstort Berlin. Wenngleich Faulhaber ihn intern als „Überläufer“ und „Fahnenflüchtling“ bezeichnete,29 vermied er auch dann noch den Bruch mit seinem Priester, als klar war, dass dieser nicht die erhoffte „kirchliche Lobbyarbeit“ im Reichskirchenministerium leistete.30 Letztlich wurde Roth „nie laisiert, suspendiert oder exkommuniziert“31.
23 Zu den katholischen Ursprüngen des Nationalsozialismus in München siehe Hastings, Catho-
licism. 24 Hübner, Rechtskatholiken. 25 Forstner, Priester, S. 429–455. 26 Ebd., S. 442–445. 27 Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 96–118, 370, 408, 415, 464 f.; Forstner, Priester, S. 442– 445. 28 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 177. 29 Faulhaber an Bertram vom 20.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten Faulhabers II, Nr. 632, S. 326– 331, hier 330. 30 Forstner, Priester, S. 439. 31 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 179.
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Roth war ein bekennender Antisemit. Er warf der katholischen Kirche eine „geistige Verjudung“ vor, der sie im Kampf gegen das Judentum „impotent“ mache.32 Er setzte sich vehement für eine strikte Trennung von Kirche und Staat ein. Die Rolle der Kirche im Staat sollte nach seiner Überzeugung auf den Status einer Religionsgemeinschaft zurückgestuft werden. Allerdings garantierten die Weimarer Reichsverfassung und das Reichskonkordat der katholischen Kirchen die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Nicht erst als Mitarbeiter im Reichskirchenministerium versuchte Roth deshalb, das Reichskonkordat zu Fall zu bringen.33 In der Aufbauphase des Reichskirchenministeriums brachte sich Roth geschickt als der maßgebliche Protagonist für katholische Fragen in Stellung. Er war der „Ideengeber und die treibende Kraft“34 bei allen Initiativen des Reichskirchenministeriums zur Abschaffung des Reichskonkordats. So verfasste er ein Themenpapier über die kirchenpolitischen Fragen und eine Denkschrift über das Reichskonkordat, das zur Vorbereitung eines Treffens zwischen Hitler und Kerrl im November 1936 dienen sollte. Darin schlug er vor, das Reichskonkordat durch ein Reichsgesetz abzulösen. Dieses könne anschließend nach und nach ausgehöhlt werden, denn das Konkordat behindere den Ausbau des totalitären Systems. Aus den Dokumenten Roths wird auch deutlich, dass die bisherige Kirchenpolitik des Regimes am Reichskirchenministerium vorbeigelaufen war und Roth nun versuchte, über den direkten Zugang Kerrls zu Hitler, mehr Einfluss für sich selbst und das Ministerium zu gewinnen. Allerdings konnte Roth die Dokumente seinem Minister vor dessen Treffen mit Hitler nicht übergeben, sondern musste sie anschließend zu den Akten legen. Heike Kreutzer vermutet, dass der Minister vor dem Treffen mit Hitler krankheitsbedingt zu selten persönlich im Ministerium anwesend gewesen war und Roth ihm seine Dokumente deshalb nicht übergeben konnte.35 Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, dass die Binnenkommunikation innerhalb des Ressorts für den Fall der Abwesenheit des Ministers nicht ausreichend geregelt war, was auf mangelnde Verwaltungsabläufe schließen lassen würde. Hinzu kommt allerdings, dass Kerrl die Positionen Roths, die auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat hinausliefen, absichtlich ignorierte, weil er sie nicht teilte. Schließlich hatte der Minister den Bemühungen Roths um einen Gesetzesentwurf zur Auflösung des Artikels 15 des Reichskonkordats vom Sommer 1936 bereits seine Unterstützung versagt.36 Darüber hinaus lassen sich auch Kerrls wiederholte Mahnungen an seine Abteilungsleiter, dass die Leitung des Ressorts ausschließlich bei ihm und nicht bei den
32 Zitiert nach ebd., S. 175, Anm. 331. 33 „Der Kampf gegen das Reichskonkordat zog sich leitmotivartig durch sein ganzes Leben und
bestimmte stark sein politisches Handeln und publizistisches Wirken.“ Ebd., S. 175. 34 Ebd., S. 216. 35 Ebd., S. 219–225. 36 Ebd., S. 227.
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Abteilungsleitern liege, dahingehend deuten, dass es maßgebliche Spannungen zwischen Kerrl und Roth gab.37 Roth glaubte sich selbst auf einer kirchenpolitischen Linie mit Hitler. Das entsprach teilweise den Tatsachen; Kreutzer kann seinen Einfluss auf die Pläne des Führers um die Auflösung des Reichskonkordats vom September 1937 nachweisen.38 Doch Hitler änderte seine Marschrichtung kurz darauf wieder. Dessen Doppelstrategie der Verdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Raum auf der einen und dem gleichzeitigen Arrangement mit ihr auf der anderen Seite erkannte Roth nicht.39 Insgesamt stellt es sich als schwierig heraus, den Einfluss Kerrls sowie den der Katholiken Schröcker und Roth auf die Entscheidungsfindungsprozesse und die Verwaltungspraxis innerhalb des Reichskirchenministeriums präzise zu beschreiben. Dabei muss beachtet werden, dass es sich beim Reichskirchenministerium um ein im Aufbau befindliches Ministerium mit einem kleinen Beamtenstab handelte. 1939 erreichte das RKM offiziell eine Mitarbeiterzahl von 80 Personen, von denen allerdings 23 bereits eingezogen waren, weshalb nur 57 tatsächlich vor Ort arbeiteten – bis 1944 schrumpfte die Mitarbeiterzahl auf 24 Personen. Das Reichsfinanzministerium war fünfmal, das Propagandaministerium siebenmal so groß, weshalb man das Reichskirchenministerium zu Recht als ein „Zwergministerium“ bezeichnen kann.40 Ludwig Volk sieht im Reichskirchenministerium eine „ad-hoc Konstruktion ohne das Ansehen der klassischen Ressorts“, „ein synthetisches Gebilde, kein gewachsenes Verwaltungsinstrument. Die Autorität des Kirchenministeriums ruhte auf abgezweigten Kompetenzen, so daß eine unverhältnismäßig starke Abhängigkeit bestehen blieb. Da ihm der pyramidale Unterbau eines Vollzugsapparates fehlte, verfügte es nur über geringes Eigengewicht.“41 Insgesamt nahm Kerrls Ressort die „schwächste Position in der Reihe der Staats- bzw. Parteistellen“ ein, die Kirchenpolitik betrieben, was auch daran lag, dass Kerrl den Rückhalt bei Hitler verlor. Dennoch löste der Reichskanzler das Ministerium nicht auf.42 Mit einem formal für die Kirchenpolitik zuständigen Reichskirchenministerium wurden der Polyzentrismus des Regimes und das Kompetenzchaos allerdings „nicht verringert, sondern vergrößert“.43 Katholische Kirchenpolitik war nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch davor und danach immer auch auswärtige Politik. Schließlich war der Papst in Rom ein entscheidender Akteur, der sich allerdings außerhalb des direkten Einflussbereichs der nationalen staatlichen Verwaltung befand. Für die Diplomatie 37 38 39 40 41 42 43
Kreutzer hingegen spricht Roth einen großen Einfluss im Ministerium zu. Ebd., S. 219. Ebd., S. 232. Ebd., S. 229. Ebd., S. 96. Volk, Bischofskonferenz von Hitlers Machtergreifung, S. 59. Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 322. Ebd., S. 318; Vergleiche auch Nowak, Kirchen, S. 214.
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war das Auswärtige Amt zuständig, das den deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl in äußerst scharfem Ton gegen die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ protestieren ließ.44 Der Papst und der Heilige Stuhl bilden die Spitze der hierarchisch organisierten kirchlichen Akteure. 1937 gab es im Deutschen Reich 25 Diözesen bzw. Verwaltungseinheiten.45 Die einzelnen Bischöfe waren wichtige Ansprechpartner der staatlichen Verwaltung – und sie sprachen nicht immer mit einer Stimme. Seit dem 19. Jahrhundert gab es in Deutschland die Fuldaer Bischofskonferenz, in der sich die preußischen, ab 1933 dann auch die bayerischen Bischöfe versammelten.46 Die Bischofskonferenz verfügte erst ab 1937 über ein Kommissariat, also über ein eigenes Büro, das sich als Ansprech- und Verhandlungspartner für die staatliche Verwaltung noch etablieren musste. Dessen Leiter, der bisherige Berliner Caritasdirektor Heinrich Wienken, führte seine Arbeit auch in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, dann als Bischof von Meißen, fort.47 In den westdeutschen Zonen und der frühen BRD installierte der Nachfolger Bertrams als Vorsitzender der Bischofskonferenz, der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings, einen eigenen Vertrauensmann. Über den Kölner Domkapitular Prälat Wilhelm Böhler stand Frings in regelmäßigem Kontakt mit den unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen.48 Daraus entwickelte sich das Katholische Büro in Bonn, heute Berlin.49 Die Fuldaer Bischofskonferenz verfügte damit in den 1930er Jahre über keinen eigenen Verwaltungsapparat. Kirchenrechtlich war sie bedeutungslos, da die Bischöfe nicht daran gebunden waren, die in Fulda gefällten Entscheidungen in ihren Diözesen auch umzusetzen. Die Einheit der Bischöfe war dennoch ein theologisches Grundprinzip, das nicht durchbrochen werden sollte. Wie diese Einheit allerdings verfahrensrechtlich hergestellt werden sollte, war nicht geregelt. Gerade in der konferenzfreien Zeit fiel dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz eine entscheidende Rolle zu. Er dominierte den Entscheidungsfindungsprozess, indem er in seinem Sinne vorformulierte „Entscheidungshilfen“ per Rundschreiben an seine Mitbrüder sandte. Damit konnte er die Diskussionsrichtung bestimmen und Entscheidungen präjudizieren.50 Der Fuldaer Bischofskonferenz stand mit dem Breslauer Erzbischof Kardinal Bertram seit 1920 ein Vorsitzender als Sprachrohr vor, der auf enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat setzte, die nach seiner Überzeugung in gottge44 Albrecht (Bearb.), Notenwechsel, Nr. 1–2, S. 1–15. 45 Zumholz/Hirschfeld, Politik und Seelsorge. 46 Fuldaer Bischofskonferenz, in: Pacelli-Edition, Schlagwort Nr. 6037, URL: www.pacelli-edi-
tion.de/Schlagwort/6037 (letzter Zugriff am 18.9.2019). 47 Höllen, Wienken. 48 Buchna, Klerikales Jahrzehnt? 49 Kommissariat der Deutschen Bischöfe. Katholisches Büro in Berlin, URL: https://www.kathbuero.de/ (letzter Zugriff am 18.9.2019). 50 Hinkel, Bertram, S. 112–115.
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wollter Harmonie miteinander kooperieren sollten. Dies gelang im Kaiserreich und in der Weimarer Republik recht gut51 – so gut, dass Bertram in Rom nicht zu Unrecht als Staatsbischof galt.52 Dem Nationalsozialismus trat Bertram mit einer sogenannten Eingabenpolitik entgegen. Er erhob quasi gegen jeden Übergriff auf die katholische Kirche schriftlichen Protest bei den unterschiedlichsten staatlichen Stellen.53 Dagegen ließ er sich auf persönliche Verhandlungen mit führenden Nationalsozialisten eigentlich nicht ein. Kurz nach der Gründung des Reichskirchenministeriums kam er allerdings der Bitte Kerrls um ein persönliches Treffen nach, wobei es sich dabei wahrscheinlich um das „einzige tête-à-tête überhaupt“ handelte, das der Kardinal „mit einem nationalsozialistischen Unterhändler im Ministerrang“ wahrnahm.54 Es fand im Nachgang der Fuldaer Bischofskonferenz auf der Rückfahrt Bertrams nach Breslau bei einem Zwischenstopp in Erfurt am 23. August 1935 statt. Der Konferenzvorsitzende berichtete Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli am folgenden Tag, dass „eine prinzipielle Ausräumung der Gegensätze“ zwischen Kerrl und ihm erwartungsgemäß nicht stattgefunden habe. Gewisse Hoffnungen schien der Vorsitzender der Bischofskonferenz dennoch in das neu geschaffene Ministerium sowie in den konziliant erscheinenden Kerrl gesetzt zu haben: „Vielleicht ist eine allmählich sich anbahnende partielle Wendung in der Kirchenpolitik der Reichsregierung im Anzuge, die zu begrüßen ist, ohne optimistisch zu sein.“55
II. Die Eingabenpolitik Bertrams – ein quantitativer Ansatz Bertram griff fortan wieder auf das ihm vertraute Mittel der schriftlichen Verhandlungsführung zurück. Diese Eingabenpolitik soll in einem quantitativen Ansatz betrachtet und damit der Blick auf die staatliche und kirchliche Verwaltungspraxis gelenkt werden. Eine umfassende Antwort auf die Frage, wer eigentlich mit wem und wie über welche Themen der Kirchenpolitik verhandelte, kann in diesem Rahmen selbstverständlich nicht gegeben werden. Wesentliche Faktoren wurden eingeschränkt. Mit der Konzentration auf Bertram als dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz wird ein zentraler Akteur auf kirchlicher Seite in den Blick genommen. Als Quellenbasis dient die sechsbändige Edition der Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche von 1933 bis 1945.56 Es ist davon auszugehen, dass keine wesentlichen Dokumente fehlen und die absehbaren Tendenzen zumindest in die richtige Richtung weisen.
51 52 53 54 55 56
Ebd., S. 282–290. Wolf/Unterburger, Pacelli, S. 91. Hinkel, Gefangen. Volk, Bischofskonferenz von Hitlers Machtergreifung, S. 58. Bertram an Pacelli vom 24.8.1935, in: Volk (Bearb.), Akten Faulhaber II, S. 60 f., Anm. 1. Stasiewski (Bearb.), Akten I–III; Volk (Bearb.), Akten IV–VI.
EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN
Die Edition enthält 266 Schreiben Bertrams an unterschiedliche staatliche Stellen und 113 Antworten. In diesen Zahlen scheint sich die Erfolglosigkeit von Bertrams Eingabenpolitik zu manifestieren, der häufig keine Antwort bekam. Bei der Frage, an wen sich Bertram wandte, ist zu beachten, dass er einige Schreiben an mehrere Stellen sandte, etwa an die Reichskanzlei, das Innen- sowie das Propagandaministerium.57
Abb. 1: Schreiben Bertrams an staatliche Stellen 1933–1945 eigene Darstellung
Abbildung 1 zeigt, dass 26 Prozent der zwischen Februar 1933 und Mai 1945 verfassten – und edierten – Schreiben Bertrams an das erst 1935 errichtete Reichskirchenministerium adressiert waren, 20 Prozent an das Reichsinnenministerium58 und 19 Prozent an das Reichserziehungsministerium59. Etwas abgeschlagen folgt die Reichskanzlei60 mit 13 Prozent. Auf die anderen Stellen zusammen fällt knapp ein Viertel der Korrespondenz. Die Verteilung der Schreiben entspricht den behandelten Themen, die in den Aufgabenbereich der Ministerien gehörten: die Um-
57 Bertram an Hitler, Frick und Goebbels vom 5.5.1935, in: Stasiewski (Bearb.), Akten II,
Nr. 214, S. 172–176. 58 Lehnstaedt, Reichsministerium des Innern; Süß, Volkskörper; Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung; Jasch, Stuckart. 59 Nagel, Hitlers Bildungsreformer. 60 Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler.
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setzung des 1933 geschlossenen Reichskonkordats, das religiöse Leben und dessen Beeinträchtigung sowie Schule und Religionsunterricht.
Abb. 2: Schreiben Bertrams an staatliche Stellen, jahrgangsweise 1933–1945 eigene Darstellung
Abbildung 2 sortiert die Schreiben Bertrams an staatliche Stellen nach Jahrgängen. Der Kontakt zwischen Bertram und dem Innenministerium macht bis zur Gründung des Reichskirchenministeriums 1935 den größten Teil aus. Danach geht er deutlich zurück. Hier wäre zu vermuten, dass zum einen die Verhandlungen über die Auslegung des Reichskonkordats weitestgehend abgeschlossen waren, und dass zum anderen das Kirchenministerium Zuständigkeiten aus dem Innenministerium übernahm. Die Frequenz der Korrespondenz mit dem Erziehungsministerium bleibt hingegen bis zum Kriegsausbruch hoch. Das Kirchenministerium bleibt auch während des Kriegs der häufigste Korrespondenzpartner Bertrams, auch wenn die Reichskanzlei zunehmend an Bedeutung gewinnt. Unter dieser Korrespondenz befinden sich auch Bertrams äußerst umstrittene Glückwunschschreiben an Hitler zum Geburtstag, die er ihm alljährlich sandte, in der Hoffnung, dass seine Beschwerden auf diesem Weg Hitler erreichen würden, der die Missstände dann abstellen würde.61
61 Leugers, Mauer, S. 83–106; Volk, Bischofskonferenz von der Enzyklika.
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Diese knappe quantitative Analyse der Schreiben Bertrams an staatliche Stellen muss selbstverständlich durch eine qualitative Analyse ergänzt werden. Das soll beispielhaft auf der Basis des Schriftwechsels Kerrl-Bertram zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ geschehen.
III. Schriftwechsel Bertram – Kerrl zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ Am 23. März, also einen Tag nach der Verlesung der Enzyklika, erging ein Erlass des Reichskirchenministers an den deutschen Episkopat, in dem Kerrl – mit Verweis auf den angeblichen Bruch des im Reichskonkordat festgeschriebenen Treueeids der Bischöfe gegenüber dem Staat – „Druck, Vervielfältigung und Vertreibung des [päpstlichen] Rundschreibens in jeder Form“ untersagte. Kerrl führte vier Gründe dafür auf und gab damit den Rahmen für den kommenden Schriftwechsel vor: 1. die Verletzung des Reichskonkordats, 2. die Herabsetzung der Autorität der Reichsregierung, 3. die Schädigung des deutschen Staatswesens nach außen und 4. die der „Volksgemeinschaft“ nach innen.62 Bertram protestierte umgehend im „Bewußtsein des Einverständnisses“ mit seinen Bischofskollegen. Hier befand er sich auf seinem Terrain der Eingabenpolitik. Nicht der Heilige Stuhl kämpfe gegen das Deutsche Reich, sondern dort werde „mehr und mehr von maßgebenden Stellen und weiten einflußreichen Kreisen ein vielfältiger verdeckter und offener Kampf […] insbesondere gegen die katholische Kirche geführt“. Dieser Kampf gefährde „den inneren Frieden der Deutschen Volksgemeinschaft“, dieser Kampf bedrohe „das Wohl und die Interessen des deutschen Staatswesens“, dieser Kampf setze die „Autorität der Reichsregierung“ herab, sollte diese ihm keinen Einhalt gebieten, und dieser Kampf stehe in „unlösbarem Widerspruch mit dem Sinn, Geist und Wortlaut“ des Reichskonkordats. Gegen diesen Kampf richte sich die Enzyklika. Bertram wies den Vorwurf, die Verbreitung der Enzyklika verstoße gegen die Treuepflicht der Bischöfe, „mit aller Entschiedenheit zurück“. Der Kardinal, der die Enzyklika nicht gewollt hatte, verteidigte sie nun vehement und drehte in seinem Schreiben den Spieß um: Aus dem Angegriffenen wurde der Angreifer.63 Kerrl reagierte äußerst gereizt und schrieb an die Reichskanzlei:
62 Das päpstliche Schreiben stelle „eine schwere Verletzung der im Reichskonkordat festgestell-
ten Vereinbarungen dar.“ Es enthalte darüber hinaus „schwere Angriffe auf das Wohl und Interesse des deutschen Staatswesens. Es versucht die Autorität der Reichsregierung herabzusetzen, das Wohl des deutschen Staatswesens nach außen zu schädigen und vor allem […] den inneren Frieden der Volksgemeinschaft zu gefährden.“ Erlass des Reichskirchenministers an den Deutschen Episkopat vom 23.3.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, S. 187, Anm. 1. Siehe auch das aus der Feder Muhs stammende Konzept bei Grünziger/Nicolaisen (Berab.), Dokumente, Bd. 4, S. 24. 63 Bertram an Kerrl vom 26.3.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 363, S. 187–189.
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Das Schreiben des Erzbischofs ist meines Erachtens noch unerhörter, als das päpstliche Rundschreiben […], denn es ist von einem deutschen Staatsbürger geschrieben, der augenscheinlich seiner Pflichten gegenüber dem Führer und dem Volk sich in keiner Weise mehr bewußt ist. Ich halte es für dringend notwendig, daß der Führer von dem Schreiben Kenntnis erhält.64
Hitler ließ jedoch lediglich mitteilen, dass er Kerrl die Fassung des Antwortschreibens überlasse.65 Dessen Antwort an Bertram datiert noch vom gleichen Tag. Darin wiederholte er seine Kritikpunkte und versicherte, „daß keinerlei Vernichtungskampf von Seiten des Staates geführt werden solle, sondern daß […] die Befriedung aller Streitigkeiten mit der katholischen Kirche“ sein Ziel sei.66 Kerrl ging seinerseits zum Angriff über und wies auf die Vielzahl der Devisen- und Sittlichkeitsverbrechen hin, gegen die die katholische Kirche nichts unternehme. Dabei handelte es sich um tatsächliche und angebliche Verstöße beim internationalen Geldverkehr etwa bei Missionsgemeinschaften sowie um Fälle sexuellen Missbrauchs, welche die NS-Propaganda entsprechend medial in Szene setzte. Wiederholt nutzte Kerrl die direkte Ansprache als Stilmittel: „Ich verstehe nicht, wie […] Sie, Herr Kardinal, den Mut haben, gegen das päpstliche Rundschreiben kein Wort der Kritik zu finden“. Abschließend machte der Kirchenminister ex negativo deutlich, was er eigentlich von den Bischöfen erwartete: „Sie, Herr Kardinal, werden es […] verstehen müssen, daß ich […] nicht mehr die Überzeugung aufzubringen vermag, daß der deutsche Episkopat die Sorge um das Wohl und die Interessen des deutschen Staatswesens jemals über die vermeintlichen Interessen seiner Kirche stellt.“67 Da Bertram den Gesamtepiskopat aufforderte, zum Schreiben Kerrls Stellung zu beziehen,68 datiert seine ausführliche Antwort erst auf den 27. April. Er wies darin alle Vorwürfe Kerrls zurück: Die Enzyklika sei ein den religiösen Interessen dienendes Lehrschreiben und kein politisches Dokument. Allerdings könne die katholische Kirche den von staatlicher Seite geduldeten Repressionen der Parteiorganisationen „nicht schweigend zusehen“.69 Zu den Devisenvergehen verwies
64 Kerrl an Lammers vom 6.4.1937, in: Ebd., S. 189, Anm. 4; siehe auch Grünziger/Nicolaisen (Be-
arb.), Dokumente, Bd. 4, S. 25. 65 Lammers an Kerrl vom 7.4.1937, in: Ebd., S. 25 f. 66 Kerrl an Bertram vom 7.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 367, S. 198–201, hier 200; Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (= ADAP), Serie D, Bd. 1, Nr. 643, S. 769–772. 67 Kerrl an Bertram vom 7.4.1937, in: Volk, Ludwig (Bearb.), Akten IV, Nr. 367, S. 198–201, hier 201; ADAP, Serie D, Bd. 1, Nr. 643, S. 769–772. 68 Bertram an den deutschen Episkopat vom 23.3.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, S. 201 f., Anm. 8. 69 Bertram an Kerrl vom 27.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 372, S. 213–221, hier 216.
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Bertram auf die Stellungnahme des Episkopats vom Juni 1935, in der die Bischöfe diese „auf das ernsteste verurteilt“ hatten.70 Bei Sittlichkeitsverstößen71 hätten die kirchlichen Behörden „soweit mir bekannt, in jedem Einzelfalle, der zu ihrer Kenntnis kam, nach bestem Können ihre Aufsichtspflicht“ erfüllt, so Bertram.72 Wo im Klerus und in Ordensgemeinschaften Sittlichkeitsverbrechen vorgekommen sind, sind die Täter durchweg aus ihren Stellungen entfernt, und ist dies vor den Kreisen, denen das Geschehene zum Ärgernis geworden war, nicht geheim gehalten; ingleichen sind in dergleichen Fällen Ordenspersonen sofort mit Ausschließung aus der Genossenschaft bestraft.73
Vor dem Hintergrund des aktuellen Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ist es ein dringendes Forschungsdesiderat, die historische Dimension solcher Missbrauchsfälle, die auch die Opferperspektive berücksichtigt, kritisch auszuarbeiten. Abschließend verwies Bertram auf die anhaltende Staatstreue des Episkopats: „Jeden Vorwurf einer Verfehlung gegen den Treueid weisen alle Bischöfe mit flammender Entrüstung zurück.“74 Auch Kerrl ließ sich nun mit der Beantwortung bis zum 1. Juni Zeit. „Um nicht die Meinung, als bedeute Schweigen Zustimmung, aufkommen zu lassen, darf ich […] erwidern, daß die Ausführungen Eurer Eminenz […] meine Auffassungen […] in keiner Weise erschüttern oder korrigieren konnten.“75 Kerrl schloss mit dem bereits eingangs zitierten Satz: Eine weitere Diskussion über diese und ähnliche Fragen dürfte wohl ebenso zeitraubend wie unfruchtbar und ergebnislos sein. Ich möchte deshalb die Diskussion schließen, nicht ohne nochmals mein Bedauern darüber auszusprechen, daß mein Streben nach Befriedung im religiösen Leben des nationalsozialistischen deutschen Volkes gerade auch von deutschen katholischen Bischöfen so wenig verstanden und so wenig gewürdigt wurde.76
Auf dieses Schreiben antwortete Bertram nicht mehr.77 Die Diskussion zu diesem Thema war damit beendet. 70 „Es wird festgestellt, daß die Verfehlungen gegen den Staat und die Volksgemeinschaft auch
von kirchlicher Seite auf das ernsteste verurteilt werden. Diese Mißbilligung wird hier nochmals ohne jede Einschränkung wiederholt.“ Bertram an Kerrl vom 27.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 372, S. 213–221, hier 219. 71 Hockerts, Sittlichkeitsprozesse. 72 Bertram an Kerrl vom 27.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 372, S. 213–221, hier 217. 73 Ebd., S. 220. 74 Ebd., S. 221. 75 Kerrl an Bertram vom 1.6.1937, in: Ebd., Nr. 379, S. 231 f., hier 231. 76 Ebd., S. 231 f. 77 Jedoch protestierte er gegen die Beschlagnahmung des Vermögens der Druckereien, welche die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gedruckt hatten, mit ähnlichen Argumenten – und ge-
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IV. Konklusion Die eingangs genannten Ebenen der „Kontinuitätslinien“, die Kreutzer mit Blick auf das Reichskirchenministerium „von der Weimarer Republik über das Dritte Reich in die deutsche Nachkriegsgesellschaft“ seien kurz in Erinnerung gerufen: 1. eine kirchenpolitisch-ideologiegeschichtliche Ebene, 2. eine verwaltungsgeschichtliche und 3. eine personelle Ebene.78 Inwiefern korrespondieren die Ergebnisse Kreutzers mit der Analyse der Auseinandersetzung Kerrl-Bertram um die Enzyklika „Mit brennender Sorge“? Auf der kirchenpolitisch-ideologiegeschichtlichen Ebene verweist Kreutzer auf die beiderseitige Kooperationsbereitschaft. Auf staatlicher Seite äußerte sich diese etwa im Abschluss des Reichskonkordats 1933 oder in seiner Fortgeltung bis heute. Wenngleich Hitlers Ziel tatsächlich der in der Enzyklika angeprangerte „Vernichtungskampf“ gegen die Kirchen war, so stellte er diesen doch aus innenund außenpolitischen Rücksichten immer wieder zurück. Auch Kerrl betonte in seinen Schreiben – trotz aller Attacken – wiederholt den Friedenswillen des Staates. Allerdings verstand er unter Frieden die Unterordnung der katholischen Kirche unter die staatlichen Interessen. Auf bischöflicher Seite war die Staatsloyalität letztlich seit dem Ende des Kulturkampfs ungebrochen. So wurde Bertram nicht müde, die Staatstreue der Bischöfe – meistens an prominenter Stelle am Anfang oder Ende seiner Schreiben – zu betonen. Indem er bis zu seinem Tod kurz nach Kriegsende 1945 eine Trennung von tendenziell kirchenfreundlichem Staat und kirchenfeindlichen Parteikreisen vornahm, vermied er einen Bruch mit dieser Konstante. Der Preis dafür „war teilweise die Stärkung der Legitimität des NS-Regimes und die dauernde formale loyale Bindung an dessen Ordnung“.79 In den Kriegsjahren versuchte Bertram mittels seiner Glückwunschschreiben direkt mit Hitler in der Reichskanzlei – also mit der legitimen staatlichen Obrigkeit – in Kontakt zu treten. An die Parteikanzlei, also an die kirchenfeindliche Bewegung, wandte er sich nicht. Diese Versuche weisen darauf hin, dass Bertram das Scheitern seiner Eingabenpolitik durchaus erkannte, aber durch seine Staatsloyalität daran gehindert wurde, sie grundlegend zu ändern. Auf kirchlicher Seite zeigt sich die verwaltungsgeschichtliche Kontinuität in der Gründung des Kommissariats der Fuldaer Bischofskonferenz, in dessen Fortführung in der DDR sowie in der Gründung des Katholischen Büros Bonn in der BRD. Auf staatlicher Seite führt sie nach Kreutzer „von der Geistlichen Abteilung des Preußischen Kultusministeriums über die Weimarer Republik ins Dritte Reich“. Sie lässt sich „für den Osten Deutschlands bis zur Hauptabteilung nauso erfolglos – bei Reichsinnenminister Frick. Bertram an Frick vom 11.7.1937, in: Ebd., Nr. 385, S. 237–239. 78 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 324. 79 Ebd., S. 320.
EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN
Verbindung zu den Kirchen in der Regierungskanzlei der DDR fortsetzen. In der Bundesrepublik fanden sie keine Entsprechung.“80 Dadurch, dass die Geistliche Abteilung des preußischen Kultusministeriums „als Ganzes, d. h. mit Struktur, Personal und Akten zum organisatorischen Grundgerüst für das Reichskirchenministerium wurde, führte das neu geschaffene Ressort die preußische Verwaltungstradition fort.“ Das neue Ressort erhielt somit „eine staatliche Legitimierung, […] über die der notwendige Konsens mit den Kirchen hergestellt werden“ sollte.81 Diese verwaltungsgeschichtliche Kontinuität sicherte die soziale Akzeptanz des Reichskirchenministeriums, gerade bei Bertram.82 Der Kardinal vertraute auf eine Kontinuität der Verwaltungslogik, wie es sie im Kaiserreich und der Weimarer Republik trotz aller Meinungsunterschiede gegeben hatte. Damit lag er einerseits richtig, denn die Verwaltung im NS-Staat funktionierte ja trotz aller Divergenzen weiter – nicht nur im Reichskirchenministerium.83 Andererseits lag er mit seiner Einschätzung aber auch falsch. Schließlich erkannte selbst der vergleichsweise konziliante Kerrl nicht an, dass die Verwalteten berechtigte eigene Interessen vertraten – er sprach von „vermeintlichen Interessen“ der Kirche. Für Kerrl zählten einzig „das Wohl und die Interessen des deutschen Staatswesens“84 – also letztlich die NS-Ideologie, die der Verwaltungspraxis wie in anderen Ministerien vorgeschaltet war.85 Aus der quantitativen Analyse der Quellen ergibt sich, dass der Kardinal seine Eingaben auch dann noch ans Reichskirchenministerium sandte, als Kerrl nach 1937 seinen Einfluss in der Kirchenpolitik fast gänzlich verloren hatte. Auch sein Tod 1941 scheint keine Auswirkungen auf Bertrams Vorgehen gehabt zu haben. Personelle Kontinuitäten bestanden staatlicherseits bei Ministerialbeamten, die in der Geistlichen Abteilung des preußischen Kultusministeriums tätig waren und 1935 ins Reichskirchenministerium übernommen wurden. Andere wechselten später in die Regierungskanzlei der DDR oder ins nordrhein-westfälische Kul-
Ebd., S. 326. Ebd., S. 318. Ebd., S. 320. Die neuere Forschung hat gezeigt, „wie nachhaltig sich die Dynamik des Regimes aus dem Zusammenspiel zwischen etablierten Bürokratien, Sonderverwaltungen und Parteiorganisationen speiste“, und dass „der Einfluss der Reichsministerien größer war als bisher vermutet“, so Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung, S. 13–26, hier 16. Nach Reichardt/Seibel, Herrschen, S. 17 präsentierte sich die nationalsozialistische Verwaltung „zum einen als stark differenziert, ja fragmentiert und zerklüftet, zum anderen aber als hochgradig vernetzt und dadurch immer wieder auf effektive Weise re-integriert.“ Zu den Grundtendenzen des Organisationsverhaltens zwischen Differenzierung und Integration, deren Mechanismen Personalisierung, Informalisierung und Ideologisierung waren, siehe ebd., S. 18–21. 84 Kerrl an Bertram vom 7.4.1937, in: Volk (Bearb.), Akten IV, Nr. 367, S. 198–201, hier 201. 85 Kuller, Bürokratie, S. 427 hat mit Blick auf die antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im NS-Deutschland herausgearbeitet, dass die scheinbar unpolitische Steuergesetzgebung durch eine solche „vorgeschaltete Generalklausel“ ideologisch instrumentalisiert wurde. 80 81 82 83
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tusministerium.86 Heinrich Wienken führte die Aufgaben des Kommissariats der Fuldaer Bischofskonferenz in der DDR weiter. Bertram starb kurz nach Kriegsende im Juli 1945 und der Kölner Kardinal Josef Frings übernahm den Vorsitz der Fuldaer Bischofskonferenz, wodurch es einen Bruch an der Spitze des Episkopats gab. Nichtsdestotrotz können die Ergebnisse Kreutzers über die Kontinuitätslinien durchaus bestätigt werden. Richtet man im Fall der Auseinandersetzung Kerrl-Bertram den Blick auf die kommunikative Praxis, so fällt der aggressive Ton der Schreiben Kerrls auf. Bertram versuchte, diese Angriffe zu parieren und selbst Attacken zu setzen. Indem er wiederholt seine Loyalität dem Staat gegenüber betonte, versuchte er, keine weiteren Angriffsflächen zu bieten. Als die Argumente ausgetauscht waren und keiner der Kontrahenten nachgegeben hatte, beendete Kerrl die Diskussion und ließ sie nicht – wie so oft – einfach im Sande verlaufen. Das führte jedoch zu keinem generellen Abbruch der Verhandlungen. Im Gegenteil: Bertram reagierte auf den nächsten Konflikt mit einer neuen Eingabe. Abschließend ist Ludwig Volk zuzustimmen, dass Kerrl und das Reichskirchenministerium „als Paravent, Prellbock und Registrator kirchlicher Beschwerden“ von Hitler „weidlich ausgenutzt“ wurden.87 Schließlich, so Kreutzer, oblag es „Kerrl immer allein, die Beschwerden der Kirchen entgegenzunehmen. Nach außen trug er die Verantwortung, nach innen besaß er keinen Handlungsspielraum.“88 Für Hitler bedeutete „es schon eine Entlastung,“ so wieder Volk, „wenn die Proteste nicht mehr bis in die Reichskanzlei vordrangen, sondern von einem dafür eingesetzten Kirchenminister aufgefangen und bearbeitet wurden.“89 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass es sich beim Reichskirchenministerium im Sinne Ernst Fraenkels um ein Instrument des Maßnahmen- und nicht des Normenstaats handelte. Da ihm die NS-Ideologie vorgeschaltet war, handelte es nach deren „Logik der Konsequenz“ und nicht nach einer „Logik der Angemessenheit“, die auch die Interessen der Verwalteten beachtet hätte.
86 Kurt Grünbaum übernahm 1950 die Geschäfte des Hauptabteilungsleiters in der Regierungs-
kanzlei der DDR. Felix Theegarten und Werner Haugg wechselten ins nordrhein-westfälische Kultusministerium. Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 324. 87 Volk, Hitlers Kirchenminister, S. 348. 88 Kreutzer, Reichskirchenministerium, S. 322. 89 Volk, Hitlers Kirchenminister, S. 348.
EINE WEITERE DISKUSSION ÜBER DIESE UND ÄHNLICHE FRAGEN
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Dr. Sascha Hinkel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster ist seit 2020 im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ sowie im Projekt „Pius XII. und die Juden“ am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster tätig. Er ist langjähriger Projektkoordinator in den DFG-Langzeitprojekten „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911–1952)“ und „Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte von Eugenio Pacelli (1917– 1929)“ in Münster. Publikationen: Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Paderborn u. a. 2010, „Ihrem Wagemut … danken wir es, daß wir heute nicht an einem Grabe stehen, sondern freudig Auferstehung feiern“. Eugenio Pacelli und die Domfeier 1928 in Mainz, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Jg. 72 (2020), S. 325–342; Benedict XV and the German Episcopate, in: Alberto Melloni/Giovanni Cavagnini/ Giulia Grossi (Hg.), Benedict XV. A Pope in the World of the ‚Useless Slaughter‘ (1914–1918), Turnhout 2020, S. 1025–1039.
Jan H. Wille
WIE SELBSTVERSTÄNDLICH EINHALTEN Normensetzende Verwaltungspraktiken beim Reichskonkordat nach 1945 I.
Einleitung1 Aus besonderem Anlaß bin ich gezwungen, Ew. Eminenz um die Zusendung von Abschriften folgender Schreiben zu bitten. Es handelt sich um Briefe, Stellungnahmen und Eingaben, Hirtenbriefe und andere Veröffentlichungen, die seit der Kapitulation 1945 bis 1951 von Ew. Eminenz oder Ihrem Ordinariat an staatliche Organe der Länder oder des Bundes gerichtet wurden und in denen Forderungen, Vorstellungen oder Proteste enthalten sind, die […] sich dabei auf das Reichskonkordat berufen oder es wenigstens erwähnen. Auch Schreiben, die in gleichem Sinne sich auf das Reichskonkordat beziehen und an Besatzungsstellen gerichtet wurden, sind hier einzuschließen.2
M
it diesem drängenden Gesuch hinsichtlich der verwaltungspraktischen Anwendung des Reichskonkordates wandte sich der Apostolische Nuntius von Deutschland, der gebürtige Amerikaner und Bischof von Fargo Aloysius Muench, am 5. August 1954 auf dem Postweg an seinen Kölner Amtskollegen Kardinal Frings. Weiter heißt es in dem Dokument, dass zwar eine gewisse Reihe dieser Verwendungsbelege vorläge, dennoch werde zeitnah ein „genaues 1 Der Beitrag basiert auf einem am 15.11.2019 gehaltenen gleichnamigen Vortrag beim 13. Nas-
sauer Gespräch auf Gut Siggen. Eine erweiterte Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes erfolgt in der Dissertationsschrift des Autors. 2 Aloysius Muench an Josef Frings, 5.8.1954, in: Historisches Archiv des Erzbistums Köln (= AEK), Cabinetts-Registratur II, 1.17a,3 (Hervorhebung im Original unterstrichen). Auch die übrigen deutschen Bistümer erhielten diese Anfrage, wobei die Resonanz deutlich divergierte. Einige Diözesen konnten eine ganze Reihe an Belegen liefern, einige wurden in ihren Akten überhaupt nicht fündig. Vgl. dazu die Korrespondenz in: Archivio Apostolico Vaticano (= AAV), Arch. Nunz. Berlino, B. 159, fasc. 43, fol. 748–992.
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Verzeichnis solcher Akten unter Angabe von Datum, Absender und Anschrift“3 benötigt. Der dringliche Anlass war seinerzeit ein drohendes neues Schulgesetz in Niedersachsen, welches wenige Tage später im Landesparlament in Hannover verabschiedet werden sollte und die Bekenntnisschulen, also die konfessionell homogenen Primar- und Volksschulen, in ihrer traditionellen Form beschränken würde. Das Anliegen des Nuntius löste im Kölner Erzbistum rege Betriebsamkeit aus. Innerhalb der kirchlichen Verwaltungsinstanzen wurde eifrig daran gearbeitet, die geforderten Belege zusammenzutragen, um dem päpstlichen Gesandten schnellstmöglich eine Aufstellung der offiziellen Dokumente mit Anwendungsbezügen des Reichskonkordates zusenden zu können. Unglücklicherweise weilten die zu befragenden Sachbearbeiter im Sommermonat August allesamt im Urlaub, ein häufig unbeachteter Einflussfaktor praktischen Verwaltungshandelns, weshalb Kardinal Frings mit großem Bedauern und erst mit einiger zeitlicher Verzögerung am 15. September 1954 eine Antwort übermitteln konnte – da war das Schulgesetz aber gerade einen Tag zuvor im niedersächsischen Parlament verabschiedet worden.4 In der Anlage seiner Auskunft versandte Frings die Fotokopien von insgesamt 17 Dokumenten mit Bezugnahmen auf das Reichskonkordat, drei zum Nominationsrecht (Art. 14), sechs zum Bekenntnisschulwesen (Art. 23), fünf zum kirchlichen Voraustrauungsverbot (Art. 26) und drei zur Regelung des Gebetes für das Wohlergehen des deutschen Volkes (Art. 30). Ergänzend dazu stellte er fest: „Aus diesen Stücken ergibt sich, dass Minister, Regierungspräsidenten, Oberstaatsanwälte und Standesamtsbeamte das Konkordat als geltendes Recht behandeln“5 – soweit der juristische Kausalschluss des Theologen. Wer nun diesen Briefwechsel in den Akten wiederentdeckt, steht unweigerlich vor der Frage, was der Nuntius eigentlich mit einem Verzeichnis bezüglich der verwaltungspraktischen Anwendung des Reichskonkordates bezwecken wollte. Welchen Einfluss sollten diese ‚verstaubten‘ bürokratischen Konkordatsbezüge auf das politische Tagesgeschäft schon haben? Dieser Beitrag wird nicht nur eine Antwort auf diese Frage liefern, sondern darüber hinaus den Spuren einer unmittelbar nach Kriegsende einsetzenden kurialen wie staatlichen Strategie nachgehen, bei der durch die Kreation und Etablierung von Verwaltungspraktiken der 3 Aloysius Muench an Josef Frings, 5.8.1954, in: AEK, Cabinetts-Registratur II, 1.17a,3. 4 An diesem Schulgesetz entzündete sich schlussendlich ein bereits seit 1945 schwelender Streit
um die Gültigkeit des Reichskonkordates im neuen deutschen Staat. Nach nicht nur in der Politik, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit ausgetragenen Debatten bat die Bundesregierung unter Konrad Adenauer schließlich die Karlsruher Bundesverfassungsrichter am 12.3.1955 per Antrag, sie mögen feststellen, dass das Konkordat „unverändert fortgeltendes Recht“ sei und das niedersächsische Schulgesetz vom 14.9.1954 das „Recht des Bundes auf Respektierung der für ihn verbindlichen internationalen Verträge“ verletze. Dem gut zwei Jahre andauernden Prozess schlossen sich auf der Seite Niedersachsens die Länder Bremen und Hessen an. Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. I, S. 20. Als Einstieg in die Thematik Repgen, Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre, S. 201–245; Hense, Sechzig Jahre Konkordatsurteil, S. 357–392; Ruff, The battle for the Catholic past in Germany, S. 80–85 und Ruff, Die katholische Kirche, S. 231–236. 5 Josef Frings an Aloysius Muench, 15.9.1954, in: AEK, Cabinetts-Registratur II, 1.17a,3.
WIE SELBSTVERSTÄNDLICH EINHALTEN
politisch-kirchliche Wille (oder auch Unwille) der Fortgeltung des Reichskonkordates manifestiert werden sollte. Die bisherige Forschung fokussierte primär die hinlänglich, aber vermutlich nie abschließend diskutierte moralische Legitimität und die weltpolitischen Konsequenzen des Vertragsabschlusses des Heiligen Stuhls mit den Nationalsozialisten in deren Konsolidierungsphase im Jahr 1933, prominent ist in diesem Kontext besonders die Repgen-Scholder-Kontroverse der 1970er Jahre.6 Dahingegen will dieser Beitrag offenlegen, wie nach Kriegsende in den Amtsstuben darum gerungen wurde, die Fortgeltung oder Hinfälligkeit des auch heute noch gültigen Reichskonkordates durch den Aufbau von Verwaltungspraktiken zu präformieren.
II. Das Fortgeltungs-Dogma im staatskirchenrechtlichen Vakuum nach 1945 Doch gilt es zunächst einen Blick auf die Bedingungen der Nachkriegszeit zu richten. Die unmittelbaren Monate und Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren sowohl in gesellschaftlicher und politischer als auch in juristischer Hinsicht eine Epoche beispiellos tiefgreifender Transformationsprozesse. Das ubiquitäre Unsicherheitsgefühl der deutschen Bevölkerung in der „Zusammenbruchgesellschaft“7 war nach der Desillusionierung des Nationalsozialismus nicht nur durch den täglichen Existenzkampf im kriegszerstörten Alltag, sondern auch vom Blick in die rechtsunsichere Zukunft geprägt. Welche Gesetze in Deutschland zu diesem Zeitpunkt gelten, so hieß es in einer kurialen Zwischenbilanz noch im Frühjahr 1948, „das weiß im einzelnen auch der beste Jurist nicht zu sagen.“8 Führte diese im Mindesten unübersichtliche, zumeist chaotische Gemengelage im Kleinen bereits zu schwerwiegenden Problemen, betrat auch die Diplomatie ungewohntes Terrain. Zwar war der staatspolitische Untergang des ‚Dritten Reiches‘ militärisch besiegelt worden, gleichwohl stand auf juristischer Ebene nicht eindeutig fest, wie mit der Rechtsperson des Deutschen Reiches zukünftig verfahren werden sollte, geschweige denn, wie und ob die nationalsozialistischen ‚Altverträge‘ ihre Gültigkeit behalten würden. Da das Konkordat in dieser Hinsicht zwangsläufig die grundsätzliche Frage vom „Recht im Unrecht“9 (Michael Stolleis) aufwerfen würde, konnte der Heilige Stuhl nicht von einer problemlosen Fortgeltung des Vertrages ausgehen. Dass die Kurie notgedrungen auf den Kollaps des vertraglichen Gegenübers 6 Vgl. Kretschmann, Eine Partie für Pacelli? Die Scholder-Repgen-Debatte, S. 13–14; Ruff, The
battle for the Catholic past in Germany, S. 217–242; Wolf, Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz?, S. 169–200 und Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 116–125. 7 Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, S. 37. Vgl. zudem Gehler, Deutschland, S. 24–30 und Hüttenberger, Deutsche Gesellschaft 1945, S. 316–330. 8 Bericht Ivo Zeiger über die kirchenpolitische Lage in Deutschland und rechtliche Stellung der Päpstlichen Vertretung in Kronberg, 27.4.1948, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, III Miss. Pont., B. 8, fasc. 36, fol. 43. 9 Vgl. Stolleis, Recht im Unrecht.
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reagieren musste, war auch dem erfahrenen Diplomaten auf dem Apostolischen Stuhl nicht verborgen geblieben. Noch vor Einstellung der offiziellen Kampfhandlungen wandte sich Pius XII. daher über seine diplomatischen Kanäle an die Alliierten Behörden, um sich für die Fortgeltung des von ihm als Nuntius verhandelten Vertrages einzusetzen – und dies mit Erfolg: „Die drei westlichen Alliierten“, so teilte es ein enger Vertrauter des Papstes, der Jesuitenpater Ivo Zeiger, dem deutschen Episkopat am 8. September 1945 mit, „haben durch ihre Botschafter beim Hl. Stuhl erklären lassen, sie würden das Konkordat nicht antasten.“10 Geeinigt wurde sich zwischen den westlichen Kontrollratsmitgliedern – auch unbeeindruckt der Nichtigkeitsbestrebungen in der Sowjetischen Besatzungszone – auf die Formel der ‚technischen Verbindlichkeit‘ („technically binding“11) und damit aus kirchlicher Perspektive wohl auf das Maximum dessen, was angesichts der politischen Realität der Zeit erreicht werden konnte.12 Tatsächlich fand dieser Kompromiss aber nur bei den amerikanischen Behörden zumindest zu einem gewissen Grad Beachtung, während Briten und Franzosen das Konkordat in der Praxis entweder als zeitweilig annulliert klassifizierten oder es lediglich im Rahmen des Möglichen umzusetzen versuchten. Trotz dieser offensichtlichen Makel war eine pauschale Demontage des Vertrages durch die Besatzer nicht eingetreten. Im Wissen um die Fragilität dieses kurzweiligen Triumphs und um nicht vom zukünftigen Wohlwollen der politischen Führung abhängig zu sein, initiierte der Heilige Stuhl darauf aufbauend ein Strategem, dessen Konsequenzen noch bis in die späten 1950er Jahre nachwirkten. Um dieses umzusetzen, galt es zunächst allerdings einen fruchtbaren Kontakt zu den staatlichen wie kirchlichen Instanzen ‚vor Ort‘ (wieder-)herzustellen.
10 Josef Frings an die Bischöfe der britischen Besatzungszone, 10.9.1945, in: AEK, Cabinetts-
Registratur II, 30.5,1. 11 A Brief Survey The Church in Germany 1947 by His Excellency Aloisius J. Muench, in: The American Catholic History Research Center and University Archives Washington D. C. (= ACUA), National Catholic Welfare Conference, Box 38, Folder 4. 12 Trotz knapp zweijähriger Behandlung durch zahlreiche Gremien, Ausschüsse und Komitees konnte sich der Alliierte Kontrollrat auf keine einheitliche Stellungnahme zur Gültigkeit des Reichskonkordates verständigen. Letztendlich durchgesetzt hatte sich die bereits am 10.5.1945 durch das U. S.-State Department formulierte Haltung, das Reichskonkordat als suspendiert zu erklären und die (Nicht-)Umsetzung einzelner Bestimmungen in die Hände der Militärgouverneure der Zonen zu legen. Dies war insofern die einzig praktikable Lösung, weil kein förmlicher Beschluss der obersten Kontrollratsgremien von Nöten war, welcher aufgrund des alliierten Unanimitätsprinzips und der diametralen Positionen beinahe ausgeschlossen war. Vgl. Department of State an Robert Murphy, 10.5.1945, in: National Archives in College Park (Maryland), Record Group 59, Box 4014A. Das Schreiben ist ebenfalls abgedruckt bei Boyens, Kirchenpolitik, Dokument 3, S. 65–66. Zum Konfliktfall des Reichskonkordates vor dem Alliierten Kontrollrat vgl. im Einzelnen Vollnhals, Das Reichskonkordat, S. 677–706 und Brennan, The Politics of Religion, S. 207–209.
WIE SELBSTVERSTÄNDLICH EINHALTEN
In Anbetracht der Schließung der Nuntiatur in Berlin, dessen umstrittener Leiter Cesare Orsenigo war am 8. Februar 1945 gegen den Willen des Papstes vor der vorrückenden sowjetischen Armee aus Berlin nach Eichstätt geflohen,13 und in Folge der „radikale[n] Tilgung selbst der sekundären Attribute deutscher Eigenstaatlichkeit“14 war die konventionelle Form des In-Beziehung-Setzens zwischen Heiligem Stuhl und deutschem Staat nach Kriegsende faktisch nicht möglich. Nach der ersten Informationsreise durch die Gebiete nördlich der Alpen im Herbst 1945 riet der bereits erwähnte Jesuitenpater Zeiger nach Absprache mit dem Münchner Erzbischof Kardinal Faulhaber, der Heilige Stuhl solle eigens einen ‚Delegato Apostolico di Assistenza Pontificia‘ entsenden, der aufgrund seines diplomatischen Charakters „als unmittelbarer Vertreter seiner Heiligkeit den etwas ablehnenden alliierten Behörden gegenübertreten kann und die Gegenwart des Papstes in eindeutiger Weise vor allen dokumentiert“15. Die Wahl für diesen Posten fiel auf den eingangs zitierten Amerikaner Aloysius Muench16, dem es als zeitgleichem Leiter der ‚Dritten Vatikanmission‘17 nun oblag, die Balance in diesem diplomatischen wie rechtlichen Drahtseilakt zu halten. Schließlich agierte er ohne eine tragende juristische Grundlage, da sich die Rechtsbefugnisse seiner Stelle anfangs ausschließlich aus der Attachierung bei der ‚Displaced Persons Division‘ der amerikanischen Militärregierung in Frankfurt generierten, womit die beabsichtigte Kontaktaufnahme und Koordination mit dem deutschen Episkopat zu einem im Grunde illegalen Vorgang wurden. Dennoch entwickelte sich die von den Amerikanern zur Verfügung gestellte Villa Grosch unterhalb der kronbergischen Burg trotz ihres zunächst provisorischen Charakters im Verlauf 13 Vgl. Zeiger, Kirchliche Zwischenbilanz 1945, S. 312 und Barry, American Nuncio, S. 67. Mit
dem Tod Orsenigos am 1.4.1946 und dem seines Stellvertreters Carlo Colli am 1.2.1947 war auch die in Eichstätt befindliche provisorische Nuntiatur diplomatisch handlungsunfähig. 14 Volk, Der Heilige Stuhl, S. 144. Ebenso Gotto, Die katholische Kirche, S. 88. 15 Zeiger, Kirchliche Zwischenbilanz 1945, S. 309. 16 Nach seiner Ordination zum Priester und seelsorgerischen Aufgaben studierte Muench in Fribourg (Schweiz) Sozialwissenschaften und schloss seine Promotion im Jahre 1921 erfolgreich ab. Zwei Jahre darauf wurde er zum Professor für Dogmatik in seiner Heimatdiözese und 1929 zum Regens des dortigen Priesterseminars berufen, bevor er am 10.8.1935 zum Bischof von Fargo (North Dakota) ernannt wurde. Nach seiner Tätigkeit als Apostolischer Visitator in Deutschland wurde er schließlich dort auch Nuntius und entwickelte sich nicht nur deshalb zu einem der prägendsten Charaktere der vatikanischen Deutschlandpolitik nach 1945. Vgl. Barry, American Nuncio, S. 3–50 und Brown-Fleming, The Holocaust and Catholic conscience, S. 23–43. 17 Bereits im Mai 1945 hatte der Papst die sogenannte ‚Erste Vatikanmission‘ entsandt, um einen ersten Eindruck vom kriegszerstörten Deutschland zu erhalten. Nach dem Bericht dieser ersten Erkundungsfahrt wurde noch im November desselben Jahres die ‚Zweite Vatikanmission‘ in Marsch gesetzt, welche besonders mit der Koordination von Hilfsmaßnahmen betraut war, aber auch im engen Kontakt mit den amerikanischen Alliierten stand. Dieser Mission wohnte auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes hin auch der Jesuitenpater Ivo Zeiger bei, welcher sich schon bei den Konkordatsverhandlungen des vormaligen Kardinalstaatssekretärs Pacelli verdient gemacht hatte. Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 144–148; Barry, American Nuncio, S. 53 f. und Alsheimer, Der Vatikan in Kronberg, S. 125–129.
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der Monate zu „so etwas wie einen Brückenarm, der über das staatsrechtliche Vakuum der bedingungslosen Kapitulation hinwegreichte“.18 Überdies war damit im Taunus ein Ankerpunkt geschaffen worden, von dem aus der Heilige Stuhl sowohl als diplomatischer Akteur auftreten als auch seine Reichskonkordats-Agenda der Nachkriegszeit vorantreiben konnte. In dieser Hinsicht hatte der Visitator Muench bereits im Zuge seiner Amtseinführung nachspüren können, welchen Angelegenheiten das päpstliche Hauptaugenmerk in den kommenden Monaten galt. Neben der karitativen wie seelsorgerischen Betreuung der Notleidenden in seiner ‚zweiten Heimat‘19 rückte Pius XII. während der auf Deutsch geführten Privataudienz am 12. Juli 1946 besonders den „freedom of church-concordats“20 in den Vordergrund. Das Kernstück des päpstlichen Auftrags für die Nachkriegsjahre lautete dementsprechend, die Länder- und besonders das Reichskonkordat um jeden Preis über das rechtliche Chaos nach der Aufhebung der deutschen Regierungsgewalt und das staatskirchenrechtliche Vakuum21 nach der bedingungslosen Kapitulation hinwegzuretten. Eine Preisgabe der Konkordate war für Pius XII. undenkbar.22 Diese Devise hatte Zeiger bereits im September 1945 dem deutschen Episkopat kundgetan, als er den sichtlich überraschten Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings, wissen ließ: „Der Heilige Vater betrachtet sowohl das Reichskonkordat vom Jahre 33 wie die einzelnen Länderkonkordate als weiter zu Recht bestehend.“23 Gleichzeitig scheute die Kurie aber im Angesicht der Rechtsdiversität der Nachkriegsjahre eine offizielle, umfassende Klärung der Konkordatsfrage, galt doch allein das Wort Konkordat bei Briten und Amerikanern als stark belastet und brachten die Besatzer zusätzlich vor dem Hintergrund des Staat-Kirche-Verhältnisses in ihren Heimatländern kaum Verständnis für den konkordatären ‚deutschen Sonderweg‘ mit.24 In einem kurialen Bericht über die kirchenpolitische Lage in Deutschland aus dem Jahr 1948 wurde schließlich bilanziert, die Frage nach der Verbindlichkeit der Konkordate werde entsprechend der individuellen politischen Haltung oder gemäß der weltanschaulichen Überzeugungen in Politik wie Gesellschaft „bejaht, bezweifelt, 18 Volk, Der Heilige Stuhl, S. 151. 19 Dass sich Pius XII. auch nach seiner Zeit als Nuntius noch stark mit Deutschland verbunden
fühlte, ist allgemein bekannt. Nicht ohne Grund wurde er auch ‚il papa tedesco‘ genannt. Von römischen Kollegen hört Muench in dieser Hinsicht „Holy Father [has] no faults, except that he loves the Germans too much“. Darüber hinaus notierte er wenige Monate später „love of Pope for German people“ in seinen persönlichen Unterlagen. Tagebucheinträge Muench, 12.7. und 10.11.1946, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 4 und 5. 20 Tagebucheintrag Muench, 12.7.1946, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 4. 21 Vgl. Weber, Die Gegenwartslage, S. 178. 22 Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 158 und Spotts, Kirchen und Politik, S. 183. 23 Josef Frings an die Bischöfe der britischen Besatzungszone, 10.9.1945, in: AEK, CabinettsRegistratur II, 30.5,1. 24 „Concordat-word objectionable to Americans + English“, ließ Muench den Papst bei einer Audienz im Frühjahr 1947 wissen. Tagebucheintrag Muench, 18.2.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 5.
WIE SELBSTVERSTÄNDLICH EINHALTEN
abgelehnt“25. In juristisch ohnehin uneindeutigen Tagen ließ sich der Heilige Stuhl folglich nicht dazu hinreißen, von einer reibungslosen Fortgeltung der Verträge auszugehen. Doch wie konnte verfahren werden, um die Wahrscheinlichkeit der Fortgeltung des Reichskonkordates zu erhöhen? Vermutlich auf Anraten des Jesuitenpaters verständigten sich die kurialen Protagonisten Pius XII., Muench und Zeiger am Tiber auf das filigrane Strategem, die bis zum Kriegsende rechtsverbindlichen Konkordatsbestimmungen „mit einer Selbstverständlichkeit [einzuhalten], als ob alles in Ordnung sei.“26 Als Grundsatz hatte Pius XII. festgelegt, dass „die juristisch sehr unübersichtliche Lage in Deutschland eigentlich nur eine Methode des Handelns nahelegt: nämlich möglichst viele rechtserhebliche Tatsachen setzen.“27 Ungeachtet der Implosion des deutschen Staatswesens sollten möglichst viele Bestimmungen des im rechtlichen Binnenraum zwischen Staat und Kirche befindlichen Konkordates eingehalten werden, um durch die Realisation der einzelnen Artikel letztlich die Validität des gesamten Vertrages zu belegen. Eine Unterbrechung der Konkordatspraxis galt es nach Maßgabe Roms mit allen Mitteln zu verhindern. Auch wenn der Staat seine Verpflichtungen beispielsweise bei den finanziellen Leistungen einstellen sollte, sei dies kein Grund, „auch unsererseits konkordatäre Verpflichtungen gegenüber den [sic] Staat zu vernachlässigen“28. Vielmehr sei dies „als ein Aufschub, nicht als endgültige Aufkündigung“29 zu verstehen. Auch seien Meldungen von Personen, die kirchliche Ämter bekleiden sollen, nicht etwa an die Besatzungsautoritäten, sondern dezidiert an die „deutschen Oberbehörden“30 als dem vertraglichen Gegenüber zur richten. Aber auch darüber hinaus sollte „bei jeder nur möglichen Gelegenheit den Regierungsstellen gegenüber auf dem einfachen Weg der Tatsachen“31 begegnet werden. Mit einem in den Worten des Papstes „mutigen Handeln“32 sollte die „Fortexistenz der Konkordate durch möglichst viel rechtserhebliche Tatsachen“33 garantiert werden.
25 Bericht Ivo Zeiger über die kirchenpolitische Lage in Deutschland und rechtliche Stellung
der Päpstlichen Vertretung in Kronberg, 27.4.1948, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, III Miss. Pont., B. 8, fasc. 36, fol. 44. 26 Bericht von Pater Ivo Zeiger über seine Romreise, 7.–21.6.1949, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, III Miss. Pont., B. 5, fasc. 27, fol. 100. Ebenfalls archiviert in: ACUA, Nachlass Muench, Box 23, Folder 16. 27 Ebd. 28 Josef Frings an die Bischöfe der britischen Besatzungszone, 10.9.1945, in: AEK, CabinettsRegistratur II, 30.5,1. 29 Ebd. 30 Ebd. Hervorhebung im Original unterstrichen. 31 Bericht von Pater Ivo Zeiger über seine Romreise, 7.–21.6.1949, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, III Miss. Pont., B. 5, fasc. 27, fol. 104. 32 Ebd. fol. 100. 33 Ebd. fol. 104.
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III. Die kuriale Generierung von rechtserheblichen Tatsachen in der Besatzungszeit 1.
Sedisvakanz an Aa und Lahn. Der bischöfliche Treueid (Art. 16)
Zum Ende des Jahres 1947 bot sich für den Heiligen Stuhl eine erste aussichtsreiche Chance, die Anwendbarkeit des päpstlichen Dogmas der Fortführung der reichskonkordatären Praxis einer ernsthaften Belastungsprobe zu unterziehen. In Münster und Limburg waren die Bischofsstühle verwaist und ermöglichten es daher, Bestimmungen des Reichskonkordates zur Anwendung zu bringen. Die beiden Inthronisationen stechen zudem insofern hervor, als dass mit ihnen erstmalig nach Kriegsende Bischofsstühle neu besetzt wurden,34 und zum anderen, weil die Handhabung der Sedisvakanz an Aa und Lahn prototypisch für die ge- und misslungene Umsetzung der skizzierten kurialen Agenda gelten kann. Die im Jahre 1933 verhandelte vertragsrechtliche Norm sah bei der Findung eines bischöflichen Amtsnachfolgers vor, dass der Kirche zwar das grundsätzlich freie Besetzungsrecht für all ihre Ämter zustand, doch konnte gemäß den Bestimmungen aus Art. 14 Abs. 2 des Vertragstextes die entsprechende Ordinations-Bulle erst ausgestellt werden, wenn sichergestellt worden war, dass der Name des zukünftigen Oberhirten „dem Reichsstatthalter in dem zuständigen Lande mitgeteilt [wurde] und festgestellt ist, daß gegen ihn Bedenken allgemein politischer Natur nicht bestehen.“35 Die sogenannte ‚politische Klausel‘36 ermöglichte es dem Staat damit, eine Ernennung des kirchlich gewünschten Nachfolgers aus rein politischen Gründen – eine durchaus interpretationsoffene Formel – zu verhindern, verpflichtete ihn zeitgleich aber auch dazu, zum bevorstehenden, eigentlich kircheninternen Verwaltungsakt Stellung zu beziehen. Zusätzlich waren die Bischöfe vor der Be34 Die ebenfalls in der Besatzungszeit vorgenommenen Ernennungen des Eichstätter Bischofs
Joseph Schröffer am 16.9.1948, des Würzburger Bischofs Julius Döpfner am 5.10.1948, des Freiburger Bischofs Wendelin Rauch am 23.10.1948, des Rottenburger Bischofs Carl Joseph Leiprecht am 5.9.1949 und des Augsburger Bischofs Joseph Freundorfer am 17.9.1949 werden aufgrund des begrenzten Umfangs im Zuge des Beitrags keine Beachtung finden. Auch hier wurde im Sinne des Papstes die Praxis der Eidesleistung nach Art. 16 des Reichskonkordates fortgeführt, wenngleich neben den jeweiligen Ländern mal das Deutsche Reich (Schröffer, Döpfner), mal das Deutsche Vaterland (Rauch) und mal die Bundesrepublik Deutschland (Leiprecht, Freundorfer) als Referenzpunkt beschworen wurde. Eidesformel von Bischof Schröffer am 16.9.1948, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, B. 160, fasc. 44, fol. 36; Protokoll über die Vereidigung Bischof Döpfners am 5.10.1948, in: Diözesanarchiv Würzburg, BM Döpfner, 2; Protokoll über die Eidesleistung des Erzbischofs Dr. Wendelin Rauch, 29.10.1948, in: Erzbischöfliches Archiv Freiburg, Erzbischöfliches Ordinariat Freiburg, B2–1945/143; Protokoll über die Eidesleistung des Bischofs von Rottenburg Dr. h. c. Leiprecht am 5.9.1949, in: Diözesanarchiv Rottenburg, G 1.1, A 1.1b, ebenfalls gedruckt in: Kopf, Die Bischofswahl 1949, S. 189 und Protokoll über die Vereidigung seiner Exzellenz des Ernannten Bischofs von Augsburg Dr. Josef Freundorfer am 17.9.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 42, Folder 26. 35 Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, Bd. I, S. 20. 36 Vgl. Kaiser, Die politische Klausel.
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sitzergreifung ihrer Diözese nach Art. 16 des Reichskonkordates dazu verpflichtet, einen Treueid „in die Hand des Reichsstatthalters in dem zuständigen Lande bzw. des Reichspräsidenten“37 nach entsprechender Formel abzulegen.38 Soweit die vertragsrechtlichen Grundlagen der bischöflichen Ordination, deren Rechtskraft es 15 Jahre nach dem Konkordatsabschluss allerdings erst unter Beweis zu stellen galt.39 In Westfalen war derweilen Michael Keller von Pius XII. am 19. August 1947 als Nachfolger des verstorbenen Kardinals von Galen bestimmt worden.40 Wenige Wochen zuvor hatte bereits der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Karl Arnold (CDU), welcher einer Koalition aus Zentrum, SPD und KPD vorstand, umstandslos dem Kandidaten die politische Unbedenklichkeit ausgesprochen und war zudem auch willens, den Treueid des neuen Münsteraner Oberhirten entgegen zu nehmen. Dass der Eid überhaupt bei den Planungen der Konsekration Kellers auf die Agenda rückte, war der Initiative des zukünftigen Bischofs zuzuschreiben. Ganz ohne externen Hinweis – aus kurialer Perspektive also vorbildlich – fragte in seinem Auftrag der Münsteraner Dompropst am 4. September 1947 bei Aloysius Muench an, ob überhaupt ein Schwur erbracht werden müsse und „[w]enn diese Frage bejaht wird: Bei welcher Behörde ist dieser Eid zu leisten, da wir keine Reichsregierung haben?“41 Der Visitator verwies in seinem Antwortschreiben auf den festen Wunsch des Papstes, die Fortexistenz der Konkordate zu sichern, und mahnte daher an, auch die möglicherweise hinfälligen Konkordatsbestimmungen einzuhalten. Trotz persönlicher Zweifel an der formalrechtlichen Durchführbarkeit des Schwurs lautete die Empfehlung Muenchs, „daß von kirchlicher Seite wenigstens alles getan werden soll [,] um auch die Erfüllung des in Frage stehenden Artikels anzubieten“42. Sollte allerdings der staatliche Vertragspartner „auf die Entgegennahme des Treueides keinen Wert legen,“ so der päpstliche Gesandte weiter, „dann kann man den Fall als erledigt erachten.“43 Dass er mit dieser konzilianten Haltung in Konkordatsfragen bei seinem resoluten Vorgesetzten noch einmal in Bredouille geraten würde, zeigte sich erst später. Obgleich hinsichtlich
37 Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, Bd. I, S. 21. 38 Zu den staatskirchenrechtlichen Hintergründen der Besetzung von Bischofstühlen und der
Ableistung des Treueides auch im internationalen Vergleich vgl. exemplarisch Hollerbach, Zur Problematik, S. 193–201; Listl, Die Besetzung, S. 29–68; Hollerbach, Staat und Bischofsamt, S. 52– 61 und Dahl-Keller, Der Treueid. 39 Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 159–161. 40 Vgl. Kapitularvikar Vorwerk, Ernennung des neuen Bischofs, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster, 20.8.1947. 41 Clemens Echelmeyer an Aloysius Muench, 4.9.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 43, Folder 22. 42 Aloysius Muench an Michael Keller, 19.9.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 43, Folder 22. 43 Ebd.
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der Besitzergreifung der Diözese immer noch nicht „alle Dubia“44 geklärt waren, leitete Keller die entsprechenden Schritte zur Ableistung seines Schwurs in die Wege und wartete nunmehr auf eine Rückmeldung der Landesregierung. Hier wurde noch über die exakte Formulierung des Eides diskutiert, als diskussionsbedürftig wurden die Begriffe ‚Deutsches Reich‘, ‚Land Nordrhein-Westfalen‘, ‚verfassungsmäßig gebildete Regierung‘ und ‚deutsches Staatswesen‘ klassifiziert, doch verständigte sich das Düsseldorfer Kabinett letztlich auf den im Konkordatstext vorgesehenen Wortlaut. Am 24. Oktober 1947 leistete Bischof Keller im Dienstzimmer des Ministerpräsidenten den nachfolgenden Eid: Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande Nordrhein-Westfalen Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmässig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmässigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.45
An diesem Verwaltungsakt besonders erstaunlich ist der Umstand, dass knapp zweieinhalb Jahre nach dem militärpolitischen Untergang des Nationalsozialismus Michael Keller nicht etwa auf das Deutsche Vaterland oder Volk schwor, sondern vielmehr – wohlgemerkt mit Zustimmung der anwesenden Politiker – das Deutsche Reich revitalisierte. Zwar existierte noch keine nordrhein-westfälische Landesverfassung, auf die er sich hätte berufen können, dennoch überrascht der vorbehaltlose Bezug auf das Deutsche Reich an dieser Stelle. Aus der Perspektive des Heiligen Stuhls konnte hingegen mit der Ableistung der ‚originalen 1933er-Eidesformel‘ in der Rheinmetropole ein gewichtiger Präzedenzfall geschaffen werden, erwies sich das Fortgeltungs-Dogma des Papstes doch scheinbar als praktikabel. Der Vorgang in Düsseldorf war darüber hinaus in einer zweiten Hinsicht für den Heiligen Stuhl von Bedeutung, wurde doch offensichtlich, dass er bei der Ausführung seines Faktensetzens von der tatkräftigen Unterstützung der ‚deutschen Mitarbeiter vor Ort‘ abhängig war und sich erst im Nachgang deren Loyalität vergewissern konnte.46 Während Pater Zeiger beim Münsteraner Eid bereits von einer impliziten Anerkennung der Gültigkeit des Reichskonkordates durch die Regierung sprach,47 44 Michael Keller an Aloysius Muench, 18.9.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 43, Fol-
der 22. 45 Eidesformel bei der Vereidigung des neuen Bischofs v. Münster am 24.10.1947, in: Bistumsarchiv Münster (= BAM), Generalvikariat, 101–135. 46 Vor diesem Hintergrund ist auch das große kuriale Interesse an der Schwurabnahme zu verstehen. Noch am Tag der Vereidigung wandte sich Ivo Zeiger an den neuen Bischof von Münster: „aus verständlichen Gründen“, so der Jesuitenpater in dem Schreiben, „würde unsere Dienststelle zu gegebener Zeit gerne erfahren, wie die Frage der Ablegung des Treue-Eides ausgegangen ist.“ Ivo Zeiger an Michael Keller, 24.10.1947, in: BAM, Generalvikariat, 101–135. 47 Ivo Zeiger an Robert Leiber, 10.11.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 24, Folder 44.
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wurde an der Kurie dieses ‚positive Faktum‘ sicherlich mit etwas mehr Zurückhaltung zur Kenntnis genommen. Doch nicht nur in Münster, auch in Limburg war mit dem Tod Antonius Hilfrichs der bischöfliche Stuhl vakant geworden. Auf dessen am 24. September 1947 berufenen Nachfolger Ferdinand Dirichs ruhten nun die kurialen Hoffnungen, erneut den Art. 16 des Reichskonkordates zur positiven verwaltungspraktischen Anwendung zu bringen. Zwar war mit Blick auf den Münsteraner Musterfall vom Limburger Domkapitel an die Landesregierung in Wiesbaden „sehr schlau einfach eine Copie des eingehenden Düsseldorfer Protokolls eingesandt“48 worden, doch waren in Hessen die politischen Kräfte anders gelagert. Als Ministerpräsident einer sozial- und christdemokratischen Regierungskoalition hatte Christian Stock (SPD) nicht nur bei der Ausstellung der Unbedenklichkeitsbescheinigung gezögert, vermutlich um seine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Konkordatsmaterie zum Ausdruck zu bringen, sondern darüber hinaus betont, dass er sich nicht als Reichsstatthalter Hessens verstehe. Zum anderen wollte Stock wohl der Gefahr aus dem Weg gehen, dass durch eine unüberlegte Entgegennahme des Schwures die Mutmaßung erwachsen könnte, das Land Hessen betrachte den gesamten Reichskonkordatstext als gültig, welcher allerdings gerade mit den Schulbestimmungen der noch jungen hessischen Landesverfassung inhaltlich kollidierte. Erst als einige CDU-Minister mit der Niederlegung ihres Regierungsmandates drohten, verständigten sich die Konfliktparteien darauf, dem designierten Bischof einen Diensteid abzunehmen, wenngleich parallel festgehalten wurde, dass die Regierung damit das Reichskonkordat nicht anerkenne.49 Um daneben juristische Kompetenzstreitigkeiten mit den Besatzungsmächten zu vermeiden,50 musste die Eidesformel modifiziert werden, wozu sich die kirchlichen Unterhändler nach einigem Hader bereit erklärt hatten. Im Gegensatz zu den Vereinbarungen im Reichskonkordatstext schwor Bischof Dirichs am 19. November 1948: Vor Gott und auf die Heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem deutschen Volk und dem Lande Hessen Treue. Ich schwöre und verspreche die Verfassung des Landes Hessen zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens
48 Ebd. 49 Vgl. Dirichs an Pius XII., 13.12.1947, in: Helbach (Bearb.), Akten, Bd. II, Nr. 405, S. 1394. 50 Sowohl in Münster als auch in Limburg wurde sich mit der Frage nach der Vorlage des Vor-
gangs bei den Besatzungsmächten befasst. Während es die amerikanischen Besatzungsstatuten der hessischen Landesregierung verboten, die Auflösung, Wiederaufnahme und Anwendung von völkerrechtlichen Verpflichtungen eigenständig durchzuführen, womit eine Annahme der Eidesformel von 1933 ausgeschlossen war und die skizzierte Modifizierung vorgenommen wurde, wog auch der Ministerpräsident Arnold in Nordrhein-Westfalen ab, ob er den britischen Gouverneur in Kenntnis setzen sollte, entschied schlussendlich aber, „daß die Engländer sich wohl nicht darum kümmern werden.“ Generalvikariat Münster an Joseph Kaiser, 16./17.2.1948, in: BAM, Generalvikariat, 101–135.
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werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.51
Damit war vom Limburger Bischof nicht nur ein von den Konkordatsbestimmungen abweichender Treueid vollzogen worden, er verlagerte mit dem Verweis auf die hessische Verfassung zudem den Bezugspunkt der bischöflichen Treue von der Reichs-/Bundes- auf die Landesebene und unterstrich damit explizit die hessische Zuständigkeit in Konkordatsfragen. Hinzu kam, dass er mit seiner Eidesleistung auch noch die heiklen Artikel der Verfassung hinsichtlich des Erziehungssektors bestätigt hatte, wie er dem Papst reumütig beichten musste: „Leider hat die hessische Verfassung, deren Achtung ich in meinem Treueid beschwören mußte, unglückliche Schulbestimmungen, insofern, als die Gemeinschaftsschule zur Regelschule erklärt worden ist.“52 Im Verlauf der folgenden Jahre geriet die Affäre um die divergierende Formulierung des Treueides dennoch beinahe in Vergessenheit. Erst während des Bundesverfassungsgerichtsprozesses hinsichtlich der Gültigkeit des Reichskonkordates in den 1950er Jahren kamen die sich widersprechenden Verwaltungspraktiken erneut zur Sprache. Denn in Karlsruhe beriefen sich sowohl Verfechter als auch Gegner der Fortgeltung des Konkordates auf diese je nach Perspektive konsistente oder inkonsistente Anwendung des Art. 16. Diente den Befürwortern die Verwaltungskontinuität im Münsteraner Schwur als Beleg für die positive Umsetzung der reichskonkordatären Rechtsnorm,53 folgerte die Opposition aus dem Verwaltungsbruch im Limburger Eid die Hinfälligkeit der Konkordatsbestimmungen, nicht zuletzt, da der Landesverfassung der Vorrang vor dem Konkordatstext eingeräumt worden sei.54 Ob Pius XII. diesen juristischen Bumerang bereits erahnte, ist retrospektiv kaum auszumachen, doch nahm er aus Formgründen im Herbst 1949 höchstpersönlich an dem vollzogenen Verwaltungsakt Anstoß. Nach dem plötzlichen Unfalltod seines Vorgängers hatte nämlich Bischof Wilhelm Kempf in Limburg am 23. Juli 1949 erneut einen angepassten Eid geleistet.55 Trotz des vorherigen Austausches offensichtlich erst im Anschluss vollends ins päpstliche Blickfeld geraten, 51 Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. III, S. 1428 f. 52 Dirichs an Pius XII., 13.12.1947, in: Helbach (Bearb.), Akten, Bd. II, Nr. 405, S. 1394. 53 Die Bundesregierung verwies etwa in ihrem Schriftsatz vom 29.9.1955 auf den Münsteraner
Eid, durch den das Land Niedersachsen die Gültigkeit des Konkordates anerkannt hätte, da bei der Zeremonie der damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Hinrich Wilhelm Kopf, zugegen war. Vgl. Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. I, S. 263 f. 54 Am dritten mündlichen Verhandlungstag in Karlsruhe, dem 6.6.1956, wurde vom SPD-Abgeordneten und ‚Kronjuristen‘ der Antragsgegner, Adolf Arndt, die Vereidigung des Limburger Bischofs eingebracht. Er betonte dabei, dass es zu einer Vereidigung des Bischofs gekommen sei, „die nicht auf dem Reichskonkordat beruhte. So ist es in Hessen bis zum heutigen Tage gehandhabt worden.“ Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. III, S. 1428. 55 Vgl. Protokoll der Vereidigung von Bischof Kempf, 23.7.1949, in: Diözesanarchiv Limburg, 2 G. Die detailreiche Korrespondenz zwischen dem Limburger Ordinariat und der Hessischen
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wehrte sich Pius XII. vehement dagegen, dass ohne Rücksprache mit dem Heiligen Stuhl an den inhaltlichen Bestimmungen der Konkordatsartikel auch nur die geringste Kleinigkeit geändert werde. Da er mit seiner wachsweichen Haltung in Fragen der Umsetzung des Treueides an dieser Misere nicht unschuldig war, musste Muench daraufhin den Verdruss des Pontifex in einer rund einstündigen Audienz am 25. Oktober 1949 erdulden. Hier machte der Papst unmissverständlich deutlich, dass er sich unilaterale Anpassungen wie beim Limburger Schwur verbat.56 Letztendlich sah Pius XII. aber vom Versand einer offiziellen Protestnote nach Wiesbaden ab – sehr zur Erleichterung des Visitators57 – und begnügte sich mit einer geharnischten Klarstellung, wohl in der (letztlich unerfüllten) Hoffnung, dass dieser verwaltungspraktische Formfehler ohne größere Konsequenzen ‚verjähren‘ würde.58 Derweilen wird der Treueid gemäß Art. 16 des Reichskonkordates entgegen aller Wegfallbestrebungen und Überkommenheitserklärungen auch heute noch, zwar nicht in der gesamten Bundesrepublik, aber dennoch in zahlreichen Bistümern umgesetzt. Passenderweise wurde der Schwur erst jüngst in der Wiesbadener Staatskanzlei praktiziert, wo zweiundsiebzig Jahre nach der folgenschweren Vereidigung von Bischof Dirichs der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier
Staatskanzlei ist in diesem Bestand überliefert. Vgl. daneben Tagebucheintrag Muench, 15.7.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 10. 56 „Oath Bsp. Limburg: changes made by Canon (Kapitelvikar) Lamay unauthorized – ‚unilateral‘ action of Hesse Government ‚not according to the facts‘ – wants a written statement sent to Hesse Government clarifying situation: Holy See alone competent to authorize changes“, notierte Muench am Tag der Audienz in sein Tagebuch. Tagebucheintrag Muench, 25.10.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 11 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 57 „not longer a note of protest, I could not have sent such a note“, ist dem Tagebuch Muench zu entnehmen. Tagebucheintrag Muench, 25.10.1949, in: ebd. 58 Durchaus unerwarteter innerkirchlicher Widerstand erhob sich dagegen im Süden des Landes, wo sich die bayerischen Bischöfe bereits bei der Beerdigung des Würzburger Bischofs Matthias Ehrenfried am 30.5.1948 unter der Regie Kardinal Faulhabers darauf verständigten, die bayerischen Oberhirten ausschließlich nach dem Bayern-Konkordat zu ernennen, welches jedoch keinen Treueid vorsieht. Während des nationalsozialistischen Regimes waren die Bischöfe von Passau und Eichstätt zwar nach dem Reichskonkordat vereidigt worden, doch sei dieses Verfahren „wie andere Gesetze und Gebräuche der Nazizeit abzulehnen“, so Faulhaber am 9.6.1948. Wenige Wochen später musste er seinen episkopalen Eigensinn nach Intervention des Papstes allerdings zurücknehmen und – wie er in einem Schreiben an den bayerischen Ministerpräsidenten Hans Erhard einräumte – auf römische Linie einlenken. Protokoll zur Unterredung E., Prälat Böhler, Prälat Zinkel, 8.6.1949, in: Archiv des Erzbistums München (= AEM), Kardinal-FaulhaberArchiv, 7309/2, ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 266, S. 473 f.; Aufzeichnung Michael Faulhabers, 9.6.1948, in: AEM, Kardinal-Faulhaber-Archiv, 4124, ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 206, S. 375 f. und Michael Faulhaber an Hans Ehard, 13.9.1948, in: AEM, Kardinal-Faulhaber-Archiv, 4124, ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 225, S. 404. Vgl. daneben Volk, Der Heilige Stuhl, S. 161.
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(CDU) den Treueid von Michael Gerber am 20. März 2019 entgegennahm.59 Ein Grund für diese verwaltungspraktische Kontinuität ist sicher in dem skizzierten Fortgeltungs-Dogma des Papstes nach 1945 zu finden.
2.
Ein Kardinalfehler? Joseph Frings und der CDU-Beitritt (Art. 32)
„Kardinal Frings wird also in Zukunft nicht nur im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, sondern auch im Namen der CDU sprechen“60, spottete die Hannoversche Presse in einem mit ‚Ein Kardinalfehler‘ titulierten Artikel am 20. November 1948. Doch was verleitete die Zeitung zu diesem spitzen Kommentar? Nach den Bestimmungen des Art. 32 des Reichskonkordates war den deutschen Geistlichen seit 1933 „die Mitgliedschaft in politischen Parteien und die Tätigkeit für solche Parteien“61 eigentlich verboten. Da jedoch die konfessionell paritätische Umsetzung des Artikels – wie im Schlussprotokoll mit den Nationalsozialisten vereinbart62 – ausgeblieben war, hatte auch der Heilige Stuhl die entsprechenden Ausführungsbestimmungen für seinen Klerus nie erlassen. Tatsächlich stand es also um die Legitimität des Konkordatsartikels nach 1945 nicht derart eindeutig, wie es zunächst den Anschein haben mag. Die Frage, ob die anvisierte freiheitlich-demokratische Grundordnung des zukünftigen Staates überhaupt mit dem politischen Betätigungsverbot in Einklang zu bringen sei, mehrte auch im deutschen Episkopat nach Kriegsende die Zweifel, ob der Bestimmung noch Folge zu leisten sei.63 Doch ließ das Fortgeltungs-Dogma des Papstes auch in dieser Hinsicht keine Unzweideutigkeiten zu. Ungeachtet der vielen kirchenpolitischen Grenzgänger während der Landtagswahlen der Nachkriegsjahre wurde die Einhaltung des Art. 32 erst mit dem Eintritt des Kölner Erzbischofs Kardinal Josef Frings in die CDU zum Jahresaus59 Vgl. Pressestelle Hessische Staatskanzlei, Michael Gerber legt Treueid in Hessischer Staats-
kanzlei ab, URL: https://www.hessen.de/presse/pressemitteilung/kuenftiger-fuldaer-bischof-drmichael-gerber-legt-treueid-hessischer-staatskanzlei-ab (letzter Zugriff am 7.1.2020). In neueren Staatskirchenverträgen wird auf den Eid ausdrücklich verzichtet. Exemplarisch verwiesen sei auf den Vertrag des Heiligen Stuhls zur Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg vom 22.9.1994 (Art. 7) und den Kontrakt mit dem Freistaat Sachsen vom 2.7.1996 (Schlussprotokoll zu Art. 12 Abs. 3). Vgl. Halm, Die Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg durch Vertrag vom 22.9.1994, S. 220–225 und Sächsische Staatskanzlei, Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2.7.1996, URL: https://www.revosax.sachsen.de/ vorschrift/5487-Vertrag-Heiliger-Stuhl-Freistaat-Sachsen (letzter Zugriff am 7.1.2020). 60 N. N., Ein Kardinalfehler, in: Hannoversche Presse, 20.11.1948. 61 Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, Bd. I, S. 28 f. 62 Vgl. Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, Bd. I, S. 32. 63 Bereits ein halbes Jahr nach Kriegsende fragte der Trierer Bischof Rudolf Bornewasser am 13.10.1945 bei Cesare Orsenigo an, ob „der Artikel 32 des Reichskonkordates noch zurecht besteht und ob in der dort behandelten Angelegenheit eine Weisung des Hl. Stuhles zu erwarten ist.“ In seiner Antwort verwies der protokollarische Nuntius von Deutschland auf die Richtschnur des Papstes, auch die strittigen Konkordatsartikel einzuhalten. Bornewasser an Orsenigo, 13.10.1945, in: Helbach (Bearb.), Akten, Bd. I, Nr. 56, S. 278.
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klang 1948 zum Problem.64 Ein Vorgang, über den Frings später sagen wird, er habe wegen seines Parteiengagements aus Rom einen ‚Rüffel‘ bekommen.65 Vorangegangen war diesem Entschluss nicht nur ein Buhlen der christdemokratischen Partei (und auch des Zentrums) um eine parteipolitisch eindeutigere Positionierung des Klerus, die klar mit dem Kalkül der Gewinnung katholischer Wählerstimmen zusammenhing, sondern auch das beinahe dreijährige persönliche Bemühen Konrad Adenauers, den Kölner Erzbischof zur CDU-Mitgliedschaft zu bewegen.66 Abweichend von der päpstlichen Satzung folgte Frings letztlich dem „Adenauerschen Hinterhalt“67, so die damalige Presse, und teilte dem späteren Bundeskanzler am 2. November 1948 mit: Sie wissen, wie sehr ich den Riss innerhalb des katholischen Volksteils bedauere und alles versucht habe, ihn zu schließen. […] Der in Düsseldorf geltend gemachte Standpunkt, daß eine große führende christliche Partei vorhanden sein müsse […] scheint mir berechtigt. Ich bitte, mich persönlich als Mitglied der CDU zu führen.68
Das parteipolitische Statement des ‚Staatsbürgers Frings‘ wurde allerdings nicht überall – wie verständlicherweise in der CDU – mit großer Freude zur Kenntnis genommen. Denn in Politik wie Gesellschaft wurde der (nicht unbegründete) Vorwurf laut, die katholische Kirche fordere zwar eine Fortgeltung des Reichskonkordates, fühle sich selbst aber nicht an die Rechtsnormen gebunden.69 Gerade angesichts der zeitgleich schwebenden Diskussionen des Parlamentarischen Rates um die Implementation des Reichskonkordates im Grundgesetz70 waren 64 Zum CDU-Beitritt von Kardinal Frings siehe aus verschiedenen Perspektiven Buchna, Ein
klerikales Jahrzehnt?, S. 216 f.; Schewick, Die katholische Kirche, S. 82 f.; Volk, Der Heilige Stuhl, S. 169–172; Spotts, Kirchen und Politik, S. 184; Ruff, Clarifying present and past, S. 261; Trippen, Josef Kardinal Frings. Bd. 1, S. 344–353; Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 593 und Trippen, Kardinal Frings und Konrad Adenauer, S. 69–72. 65 „I myself once joined the CDU (Christian Democratic Union) and got quite a reprimand, as far as I know directly from Rome, pointing out that this step was against the regulations of the concordat. […] [The rebuke] came from papal quarters, from the Vatican“, sagte Frings in einem Interview mit dem Muench-Biographen Colman Barry vom 21.11.1963. Interview Colman Barry mit Josef Frings, 21.11.1963, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 60, Folder 5. 66 Vgl. Konrad Adenauer an Josef Frings, 7.1.1948, in: AEK, Generalia II, 23.23a,18. Vgl. auch Trippen, Kardinal Frings und Konrad Adenauer, S. 65–69; Trippen, Josef Kardinal Frings. Bd. 1, S. 338–353 und Morsey, Adenauer und Kardinal Frings, S. 483–494. 67 N. N., Luxus. Unsere Wähler würden weglaufen, in: Der Spiegel, Nr. 50, 11.12.1948, S. 4. 68 Josef Frings an Konrad Adenauer, 2.11.1948, in: AEK, Cabinetts-Registratur II, 16.10,4 (Hervorhebung im Original unterstrichen). Ebenfalls abgedruckt in: Mertens (Bearb.), Akten WBZ 1948/49, Nr. 117, S. 350 f. 69 Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 169 f. 70 „Wenn Herr Kardinal Frings der CDU beigetreten ist und auf der anderen Seite betont, daß das Reichskonkordat noch zu beachten ist, so hat er bereits durch seinen Beitritt zur CDU gegen diese kirchliche Verpflichtung verstoßen“, äußerte der SPD-Abgeordnete und bekannte Konkordatskritiker Georg-August Zinn in der 46. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentari-
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diese Debatten nur zusätzliches Wasser auf den Mühlen der Konkordatskritiker. Und damit vollzog sich eben jenes Schreckensszenario, vor dem Pius XII. nicht nur eindringlich gewarnt, sondern welches er mit seinem kompromisslosen Fortgeltungs-Dogma auch so entschieden zu verhindern versucht hatte. Dass der Papst diesen ‚episkopalen Ungehorsam‘ nicht unkommentiert lassen würde, war zu erwarten. Bereits im Januar 1949 erreichte Muench ein römisches Schreiben, in dem Pius XII. den Rücktritt vom Eintritt Kardinal Frings‘ forderte. „Wir Deutsche sind anderer Meinung, aber der Heilige Vater will die Sache in Ordnung bringen“71, war von Zeiger als Reaktion zu hören. Die Mitarbeiter ‚vor Ort‘ fürchteten – vermutlich nicht zu Unrecht – die Folgen einer Distanzierung des Episkopatsvorsitzenden von der CDU auf dem Höhepunkt der Bonner Grundgesetzverhandlungen und hielten daher den Brief drei Monate lang zurück.72 Als Frings schließlich von Muench mündlich über die Anweisung des Papstes informiert wurde,73 sah er scheinbar keine andere Wahl, als den merklich gekränkten Adenauer am 7. Mai 1949 zu bitten, „mich nicht weiter als Mitglied der CDU zu führen.“74 schen Rates am 20.1.1949. Zitiert nach Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen, S. 400. Das Reichskonkordat wurde letztendlich nicht explizit in das Grundgesetz aufgenommen. Allerdings zielt der Art. 123 Abs. 2 der bundesrepublikanischen Verfassung auf die – unter Vorbehalt – prinzipielle Fortgeltung der vom Deutschen Reich abgeschlossenen Staatsverträge ab, unter die auch das Konkordat fällt. Zum Einstieg in die Thematik und den Einfluss der katholischen Kirche auf die Arbeit des Parlamentarischen Rates vgl. Sörgel, Konsensus und Interessen, S. 184–188; Volk, Der Heilige Stuhl, S. 162–170; Schewick, Die katholische Kirche, S. 65–127; Gotto, Die katholische Kirche, S. 88–108; Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt?, S. 145–194 und Morsey/Repgen, Christen und Grundgesetz. 71 Protokoll zur Unterredung E., Prälat Böhler, Prälat Zinkel, 8.6.1949, in: AEM, Kardinal-Faulhaber-Archiv, 7309/2. Ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 266, S. 474. 72 Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 170 f. 73 Vgl. Aloysius Muench an Domenico Tardini, 9.5.1949, in: Archivio Storico della Segreteria di Stato, AA.EE.SS., Pio XII, Parte Prima, Germania, Pos. 967, fol. 322r–323r. 74 Josef Frings an Konrad Adenauer, 7.5.1949, in: AEK, Generalia II, 32.7,1. Ebenfalls abgedruckt in: Mertens (Bearb.), Akten WBZ 1948/49, Nr. 236, S. 622. Vgl. zudem Morsey, Adenauer und Kardinal Frings, S. 499 f. Gänzlich unbeeindruckt von dieser Posse zeigten sich wiederum die bayerischen Diözesen, wo mindestens drei geistliche Mandatsträger im Landtag saßen. Kardinal Faulhaber war zudem erst am 3.6.1949 von einer mehrwöchigen Romreise zurückgekehrt und konnte daher erst im Nachgang über die Geschehnisse in Köln informiert werden. Überrascht über die Entwicklung protestierte er im Namen der bayerischen Diözesen entschieden gegen das politische Betätigungsverbot. Nicht nur in einer internen Besprechung mit dem späteren Leiter des Katholischen Büros in Bonn, Wilhelm Böhler, sondern auch in einem Schreiben an den bayerischen Episkopat nahm er „von einer sofortigen, befehlsmäßigen Einhaltung des Art. 32 Abstand“. In dieser Position bekräftigt fühlte er sich zudem durch den Umstand, dass Pius XII. ihn während seines Aufenthaltes im Verlauf von drei Audienzen nicht auf den ‚Kölner Zwischenfall‘ angesprochen hätte. Protokoll zur Unterredung E., Prälat Böhler, Prälat Zinkel, 8.6.1949, in: AEM, Kardinal-Faulhaber-Archiv, 7309/2, ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 266, S. 474 und Kardinal Faulhaber an die bayerischen Bischöfe, 9.6.1949, in: AEM, Kardinal-Faulhaber-Archiv, 4303/2. Ein ‚Abzug für Köln‘ ist zu finden in AEK, Generalia II, 32.7,1, ebenfalls abgedruckt in: Hürten (Bearb.), Akten Faulhabers, Bd. III, Nr. 267, S. 475.
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Was lässt sich nunmehr an diesem Vorgang ableiten? Erneut lässt sich erkennen, dass der Papst mitnichten von seiner Konkordatsstrategie abzurücken gedachte, die Vergangenheit durch verwaltungspraktische Kontinuitäten bruchlos mit der Gegenwart zu verbinden.75 Am Tiber löste die „leidige Angelegenheit“76 der Parteimitgliedschaft gerade aufgrund der Austragung in der breiten Öffentlichkeit einige Verwunderung aus. Dennoch kam für den Papst ein genereller Kurswechsel nicht in Frage, er wünschte vielmehr „möglichst aus dem Spiel zu bleiben, besonders jetzt in der aufgeregten Wahlperiode.“77 Im retrospektiven Blick auf dieses Geschehen ist es nunmehr durchaus bemerkenswert, dass Pius XII. die Strategie des Faktenschaffens auch bei einem Artikel forcierte, dessen Gültigkeit mehr als in Frage stand, der zudem staatlicherseits vermutlich nicht bis ins Kleinste eingefordert worden wäre. Gleichzeitig zeigt dies aber auch die unbändige päpstliche Entschlossenheit auf, die Fortexistenz des Reichskonkordates mit Hilfe von möglichst vielen rechtserheblichen Tatsachen zu sichern. Wie sehr seine Mitarbeiter in Deutschland an dieser Rigorosität zweifelten, wenn nicht gar verzweifelten, belegt die Aussage von Ivo Zeiger vom 31. Januar 1949: Es kommt noch dazu, daß unser höchster Chef, der ja der Schöpfer all dieser Konkordate ist, auch nicht im entferntesten den Gedanken hören will, die K[onkordate] könnten in ihrem Bestand auch nur angezweifelt werden. Trotz aller Informationen kann er sich eben doch nicht mehr in die Lage von heute denken, sondern hat immer noch jene Zeit vor Augen, in der er hier wirkte.78
Die große Verbundenheit des Papstes zu Deutschland, „He thinks that he is still Nuncio of Germany“79, hörte Muench seinerzeit von römischen Kollegen, gilt es bei der Betrachtung der historischen Geschehnisse sicher als Einflussfaktor mit zu berücksichtigen. Doch notierte Muench in seinem Tagebuch auch, wie beratungsresistent („impervious to criticism“80) und selbstsicher („determined – selfwilled“81) sich der Papst in Konkordatsfragen zeigte. Noch im Herbst 1949 ließ dieser Muench wissen, er werde die Umsetzung des Konkordates zukünftig bis auf den i-Punkt überwachen.82
75 Vgl. Volk, Der Heilige Stuhl, S. 172. 76 Bericht von Pater Ivo Zeiger über seine Romreise, 7.–21.6.1949, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino,
III Miss. Pont., B. 5, fasc. 27, fol. 104. Ebenfalls archiviert in: ACUA, Nachlass Muench, Box 23, Folder 16. 77 Ebd. 78 Ivo Zeiger an Wilhelm Böhler, 31.1.1949, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 4. 79 Tagebucheintrag Muench, 12.7.1946, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 4. 80 Tagebucheintrag Muench, 1.1.1947, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 5. 81 Ebd. 82 „Holy Father answers to have Concordat observed down to the jolting of the i“, teilte Kardinalstaatssekretär Domenico Tardini mit. Tagebucheintrag Muench, 31.10.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 11.
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Demgegenüber war in Kronberg nicht erst seit dem ‚Kölner Zwischenfall‘ die Einsicht gereift, durchaus Teilrevisionen von Konkordatsbestimmungen in Betracht zu ziehen, um der gewandelten Staatsrealität Rechnung zu tragen. Darauf angesprochen, sah sich Pius XII. durchaus dazu bereit, Anpassungen des Konkordates in Erwägung zu ziehen, wenngleich diese nur auf ausdrücklichen Wunsch des staatlichen Vertragspartners hin und ohne substanzielle Veränderungen am Text vollzogen werden könnten.83 Dass dieses Entgegenkommen nicht als grundsätzliche Aufgabe der mit Kalkül betriebenen „faktensetzende[n] Fortführung der Konkordatspraxis“84 missverstanden werden darf, belegt wiederum eine Aussage Zeigers, welcher nach seinem Romaufenthalt im Juni 1949 festhielt, dass Pius XII., „um auf jeden Fall auch den Schein einer geringsten Konkordatsverletzung zu vermeiden, zu jedem rechtlichen und diplomatischen Opfer bereit“85 sei.86
83 Nach einer Privataudienz beim Papst notierte Muench in sein Tagebuch „no objections to
revisions, but not at art of essential concessions“, bevor ihm Tardini wenige Tage später mitteilte „Modifications: initiative from Government. no essential changes“. Tagebucheinträge Muench, 25. und 31.10.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 1, Folder 11. 84 Volk, Der Heilige Stuhl, S. 158. 85 Bericht von Pater Ivo Zeiger über seine Romreise, 7.–21.6.1949, in: AAV, Arch. Nunz. Berlino, III Miss. Pont., B. 5, fasc. 27, fol. 105. 86 Dass die (öffentliche) Forderung des Heiligen Stuhls nach der (Nicht-)Einhaltung von Konkordatsartikeln ein Balanceakt blieb, belegt auch der Umstand, dass die Kurie stets die Kosten und Nutzen nicht nur innerhalb der West-, sondern auch zwischen West- und Ostdiözesen abzuwägen hatte. Denn auch in den östlichen Besatzungszonen und der späteren DDR waren die hier exemplarisch vorgestellten Art. 16 und Art. 32 des Reichskonkordates Reizpunkte im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. Bezüglich des politischen Betätigungsverbotes führte dies gar zur Paradoxie, dass dieser Artikel im Westen leidig, im Osten als Instrument der parteipolitischen Distanzierung den Klerikern von Nutzen sein konnte. Auch bei der Ableistung des Treueides wurde im Osten anders verfahren: Die DDR verzichtete beispielsweise beim Berliner Bischof Wilhelm Weskamm am 15.7.1951 und dem Bischof von Meißen Heinrich Wienken am 24.11.1951 darauf, den Eid abzunehmen, und begnügte sich mit einer schriftlichen Anzeige der Amtsübernahme. Kirchlicherseits wurde daraufhin absichtlich hervorgehoben, dass „der Heilige Stuhl Wert darauf legt, daß die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik nicht eines Tages wegen der Nichtleistung des Eides eine Konkordatsverletzung geltend macht.“ Aufzeichnungen Liebhaus über die Eidesleistung Bischof Wienkens, 26.11.1951, in: Kösters (Bearb.), Akten DDR, Nr. 16, S. 96–98; Weskamm an Muench, 15.7.1951, in: Kösters (Bearb.), Akten DDR, Nr. 1, S. 66–68; Kösters (Bearb.), Akten DDR, S. 19 f.; Dahl-Keller, Der Treueid, S. 184–197 und Spotts, Kirchen und Politik, S. 187 f.
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IV. Die staatliche Kreation von Verwaltungskontinuitäten in der jungen Bundesrepublik 1.
Formlose Anfrage an den Bundeskanzler. Die deutschen Ordensniederlassungen (Art. 15 Abs. 3)
Doch nicht nur der Heilige Stuhl, sondern auch der junge deutsche Staat machte sich die bereits skizzierte Strategie zu eigen, durch den Aufbau von verwaltungspraktischen Verbindlichkeiten dem weiterhin ungeklärten Status des Reichskonkordates ein tragfähiges Rechtsfundament entgegenzusetzen.87 Der in den Worten des Historikers Konrad Repgen „von kaum unterbietbar nebensächlicher Bedeutung, ohne jede politische Brisanz“88 dastehende Art. 15 Abs. 3 des Konkordates wurde zu Beginn der 1950er Jahre dafür herangezogen. Gemäß dieser eher zweitrangigen Bestimmung konnten deutsche Ordensniederlassungen im Einvernehmen mit der Reichsregierung – jetzt also der Bundesregierung – von dem Regelfall befreit werden, der eine Unterstellung unter ausländische Obere verbot. „[W]o die geringe Zahl der Niederlassungen die Bildung einer deutschen Provinz untunlich macht“89, bestand nach vorherigem Antrag die Möglichkeit, sich als deutsche Abtei in eine fremdstaatliche Provinzorganisation einzugliedern. In dieser Hinsicht hatte der Kölner Prälat und Mitinitiator des Katholischen Büros90 in Bonn, Wilhelm Böhler, nach Verhandlungen in Rom bereits im Februar 1950 in einer Denkschrift zur praktischen Durchführung des Reichskonkordates festgehalten: „Der Artikel 15 gibt der Bundesregierung jetzt schon die Gelegenheit, praktisch Rechtsakte zu vollziehen, die eine Anerkennung des Reichskonkordates in sich schliessen.“91 Zeitnah nach dieser Feststellung wurden die entsprechenden Verhandlungen mit der Bundesregierung eingeleitet, da auch deren höchste Repräsentanten, Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein späterer Kanzleramtschef Hans Globke, „möglichst bald den Schwebezustand hinsichtlich der Geltung des Reichskonkordates beseitigen“92 wollten. Wurde zunächst von der Prämisse ausgegangen, für die Umsetzung der Bestimmung eigens ein ausländisches Kloster zur Gründung einer Niederlassung in der Bundesrepublik anwerben zu müssen, ein wahrlich erstaunlicher Vorgang,93 konnten nach Rücksprache mit den lokaZur Behandlung des Reichskonkordates im Grundgesetz siehe Anmerkung 70. Repgen, Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre, S. 223. Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, S. 21. Die Geschichte des Katholischen Büros Bonn ist im konfessionellen Vergleich aufwendig aufgearbeitet bei Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt?, S. 315–347. 91 Vgl. Denkschrift Wilhelm Böhler zum Reichskonkordat, 11.2.1950, in: AEK, CabinettsRegistratur II, 1.17a,2. Ebenfalls abgedruckt in: Mertens (Bearb.), Akten BRD 1950–1955, Nr. 8, S. 76–84. 92 Aktennotiz Ferdinand Fischer für Wilhelm Böhler, 2.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 93 „Ich habe Sie [Adenauer und Globke] daran erinnert, daß ein ausländisches Kloster möglichst bald innerhalb der Bundesrepublik eine Niederlassung gründen sollte. Herr Präsident 87 88 89 90
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len Kircheninstanzen doch noch einige in Frage kommende, größtenteils weibliche Ordensgemeinschaften ausgemacht werden.94 Auch wenn Böhler bereits am 24. Juni 1950 an Globke meldete, „dass die Aktion betr. Durchführung des Art. 15 des Reichskonkordates läuft“95, waren noch letzte bürokratische Verfahrensfragen zu klären, damit die Verwaltungspraxis des Artikels auch als rechtlich belastbar gelten konnte: Erstens war unklar, ob der Bund ohne Mitwirkung der Länder diese Ausnahmebewilligung auszustellen ermächtigt war. Zwar gingen Adenauer und Globke erst freimütig davon aus, dass für den Konkordatsartikel „der Bund allein zuständig ist und mit den Ländern nicht zu verhandeln braucht“96, doch mussten sie diese Haltung nach Rücksprache mit den juristischen Sachkennern in Bonn revidieren. „Da die Konkordatsbestimmungen Gegenstände regeln, die zum Bereich des autonomen Wirkungskreises der Länder gehören,“ teilte Globke im Sommer 1951 dem Bundesinnenminister mit, „gilt das Reichskonkordat nicht als Bundesrecht, sondern als Landesrecht fort.“97 Daher müsse vor der Erklärung der Ausnahmebewilligung, die ausschließlich der Bundesregierung obläge, zuvor das Einvernehmen der zuständigen Landesregierungen eingeholt werden. Daneben war zweitens die Frage zu beantworten, ob der Heilige Stuhl als Vertragspartner um die Unterstellung der deutschen Gemeinschaften unter ausländische Provinzialobere bitten musste oder ob dies den entsprechenden Orden auch eigenständig möglich war.98 Am Rhein wurde gerade dieses juristische Bedenken um den Jahreswechsel 1950/51 laut. In der damaligen Bundeshauptstadt war von einigen Herren nämlich der Standpunkt vertreten worden, „die Anträge müssten über Rom laufen. Wir wollten das gerade verhindern, um die Sache nichtso [sic] auffällig zu machen und sie hier geschäftsmässig erledigen zu können“99, hieß es im Katholischen Büro zu dieser Problematik. Globke schloss sich grundsätzlich dem Votum des Katholischen Büros an, Rom nicht miteinzubeziehen, wollte „aber genügend Gründe haben, um die vorhandenen Bedenken zerstreuen zu können.“100 Diese konnten ihm nach einer Beratung von Böhler, Muench und Zeiger in Kronberg Mitte Januar 1951 auch geliefert werden: So sei es etablierte Praxis, dass „nicht die Hohen Vertragsschliessenden selbst jedesmal aktiv werden, wenn der Vertrag durchgeführt wird, sondern die Stellen, die es angeht“101; also die OrdensgemeinGlobke wäre Ihnen sehr dankbar, wenn diese ganze Aktion beschleunigt durchgeführt werden könnte“, hieß es 1950 in einem Vermerk des Katholischen Büros. Ebd. 94 Vgl. exemplarisch Wilhelm Böhler an Heinrich von Meurers, 26.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 95 Wilhelm Böhler an Hans Globke, 24.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 96 Aktennotiz Wilhelm Böhler für Ferdinand Fischer, 14.10.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 97 Hans Globke an Robert Lehr, 13.6.1951, in: Bundesarchiv (= BArch), B 106/51644. 98 Vgl. Aktennotiz Ferdinand Fischer für Wilhelm Böhler, 29.12.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 99 Aktennotiz Wilhelm Böhler, 5.1.1951, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 100 Ebd. 101 Aktennotiz Wilhelm Böhler, 16.1.1951, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84.
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schaften und die Regierung. Darüber hinaus sei im Lateinischen das Wort ‚curare‘ verwendet worden, womit impliziert wäre, dass die Kurie nicht selbst in der Verantwortung stünde, sondern lediglich die Sorge dafür trage. „In Wirklichkeit ist hier eine Überreichungspflicht des Heiligen Stuhls ausgesprochen“102, wurde in Kronberg versucht, die Zweifel zu entkräften. Dass bereits im Herbst 1950, noch bevor all diese juristischen und verwaltungstechnischen Vollzugsfragen überhaupt geklärt waren, die ersten Anträge auf dem Schreibtisch des Bundeskanzlers landeten, belegt nur einmal mehr die Umtriebigkeit der Kirche, aber auch der noch jungen deutschen Zentralgewalt, die Bestimmungen des Reichskonkordates positiv praktisch durchzuführen. Doch existierte hierfür – wie gesehen – kein bekanntes Formblatt oder Verfahren, vielmehr musste kurzerhand improvisiert werden, wie der Genehmigungsvorgang der antragsstellenden Franziskanerinnen vom hl. Josef mit ihrer Niederlassung Aegidienberg in Bad Honnef belegt. Schon vor Fertigstellung der erwähnten Denkschrift zum Reichskonkordat hatte sich Prälat Böhler Ende Dezember 1949 an zahlreiche Ordensgemeinschaften mit den besten Neujahrswünschen und der Anfrage gewandt, welchen ‚Mutterhäusern‘ sie unterstehen würden.103 Die erwähnten Franziskanerinnen meldeten am 4. Januar 1950 zurück, dass ihre Gemeinschaft und auch die Niederlassung in Grevenbroich-Elsen seit jeher direkt dem Institut St. Josef Valkenburg-Houthem in den Niederlanden unterständen, ohne dass ein eigenes deutsches Provinzialat bestünde.104 Unterbrochen durch die Beratungen der Landesverfassung Nordrhein-Westfalens kam Böhler allerdings erst im Sommer 1950 dazu, auf das eingegangene Schreiben zu antworten und die Umsetzung des Art. 15 Abs. 3 weiter zu forcieren. Seinem Hinweis auf die Bestimmung des Reichskonkordatstextes fügte er zeitgleich einen informellen Entwurf eines Anschreibens an den Bundeskanzler bei, mit welchem die Gemeinschaft um die Ausnahmegenehmigung bitten sollte, den es jedoch ausgefüllt erst an das Katholische Büro zurückzusenden galt.105 Nach Prüfung wurde das Schriftstück dann, auf Veranlassung Globkes „ohne Anschreiben von uns“106, an das Bundeskanzleramt weitergeleitet. Doch waren die Franziskanerinnen aus Bad Honnef nicht die erste Ordensgemeinschaft, die eine solche Eingabe an den Kanzler gerichtet hatte. Bereits zuvor waren Oberinnen dazu veranlasst worden, den Ausschluss vom fremdstaatlichen Unterstellungsverbot zu beantragen.107 Dabei wurde den ersten An102 Ebd. 103 Vgl. exemplarisch Wilhelm Böhler an die Oberin der Schwestern der Töchter des göttlichen
Heilandes, 29.12.1949, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 104 Oberin Beatrix an Wilhelm Böhler, 4.1.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 105 Vgl. exemplarisch Wilhelm Böhler an Oberin Berolda, 24.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 106 Aktennotiz Ferdinand Fischer für Wilhelm Böhler, 13.7.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 107 In einer Auflistung des Katholischen Büros vom 16.4.1958 wird als chronologisch erster der Antrag der Töchter des göttlichen Heilandes (Roisdorf) vom 6.7.1950 geführt, die mit ihren wei-
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trägen dieser Art durchaus der Charakter eines ‚Probelaufs‘ zugesprochen, wie Böhler in einem Schreiben an das Trierer Generalvikariat vom 26. Juni 1950 zugab. Falls auch in diesem Bistum Klöster in Frage kämen, könnten auch diese zu gegebener Zeit den gleichen Antrag stellen, „es ist aber sicherlich praktisch, zunächst abzuwarten, wie die Anfragen, die jetzt von hier aus laufen, behandelt und zur Erledigung gebracht werden, ehe weitere Anträge gestellt werden.“108 Die Bearbeitung beim staatlichen Vertragspartner verzögerte sich nunmehr aufgrund der aufgezeigten formaljuristischen und verwaltungspraktischen Bedenken. Dafür zog man es in Bonn aber vor, direkt drei Anträge zu einem Bündel zu vereinen und gesammelt zu bearbeiten, darunter auch das Gesuch der Franziskanerinnen aus Bad Honnef.109 Am 13. Juni 1951 beauftragte Ministerialdirektor Hans Globke den Bundesminister des Innern damit, das Einvernehmen der Kultusminister von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz einzuholen, in deren Territorien die drei Ordensgemeinschaften ihre Niederlassungen hatten.110 Nachdem diese zum Monatsende vorlagen,111 konnte der zuständige Referent Carl Gussone im Innenministerium am 2. Juli 1951 schließlich vermelden: Es kann also nunmehr gemäß Artikel 15 des Reichskonkordats durch die Bundesregierung gegenüber dem Hl. Stuhl das Einverständnis mit der seit längerem bestehenden Unterstellung der in den Anträgen genannten Niederlassungen unter ausländische Provinzialobere zum Ausdruck gebracht werden.112
Die Genehmigung der Ausnahme teilte Bundeskanzler Adenauer dem Repräsentanten des Heiligen Stuhls in Deutschland, Aloysius Muench, schließlich knapp ein Jahr nach Antragsstellung am 14. Juli 1951 offiziell mit und übernahm in seinem Schreiben sogar die Formulierung des BMI-Referenten, dass die Bundesregierung „mit der schon seit längerem bestehenden Unterstellung der genannten Ordensteren Niederlassungen dem Mutterhaus in Wien unterstellt werden wollten (genehmigt am 21.6.1956). Zusammenstellung der Anträge auf Genehmigung eines Unterstellungsverhältnisses unter ausländische Ordensobere, erarbeitet von Kupper, 16.4.1958, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 108 Wilhelm Böhler an Heinrich von Meurers, 26.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 109 Daneben wurde der Antrag der Karmeliten aus Mainz (Mutterhaus in Nimwegen) vom 14.7.1950 und der Hospitalschwestern der hl. Elisabeth mit ihrer Niederlassung unter anderem in Knappsack bei Köln (Mutterhaus in Luxemburg) vom 9.9.1950 bearbeitet. Augustinus Nolte, Prior der Karmeliten, an Konrad Adenauer, 14.7.1950, in: BArch, B 106/51644 und Annunziata Hettinger, Oberin der Hospitalschwestern in Knappsack, an Konrad Adenauer, 9.9.1950, in: BArch, B 106/51644. 110 Hans Globke an Robert Lehr, 13.6.1951, in: BArch, B 106/51644. 111 Am 27.6.1951 sprachen der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und am 29.6.1951 die Kultusministerin von NRW ihr Einvernehmen aus. Brief Peter Altmeier an Ritter von Lex, 27.6.1951 BArch, B106/51644 sowie Christine Teusch an den Bundesminister des Innern, 29.6.1951, in: BArch, B106/51644. 112 Carl Gussone an Hans Globke, 2.7.1951, in: BArch, B 106/51644.
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niederlassungen unter ausländische Obere einverstanden ist.“113 Der nunmehrige Apostolische Nuntius nahm den Abschluss dieses Vorgangs mit „Genugtuung“114 zur Kenntnis.115 Was wurde nun mit diesem Verwaltungsakt erreicht? Es liegt auf der Hand, dass bei der Umsetzung des eigentlich unerheblichen Konkordatsartikels nicht etwa die reellen Konsequenzen für die Klöster im Vordergrund standen, sondern der Vollzug der konkordatären Norm unter Beweis gestellt werden sollte. Die Ordensgemeinschaften wurden nicht nur auf die ihnen zuvor unbekannte Konkordatsbestimmung hingewiesen, sondern auch dazu bewogen, wenn nicht gar gedrängt, mit Hilfe eines formlosen Schreibens an den Bundeskanzler um die rechtliche Bestätigung dessen zu bitten, was sie ohnehin schon waren. Wie auch schon der Historiker Konrad Repgen treffend festgestellt hat, war nicht die Unterstellung der deutschen Klöster unter ausländische Provinzialobere bei diesem Vorgang von Bedeutung, sondern die konkludente Anwendung des Konkordates.116 Nach einem maßgeblich von Böhler und Globke entworfenen Strickmuster war der ausschließliche Zweck dieses Verwaltungsaktes, eine rückwirkende staatliche Genehmigung für einen ‚seit längerem bestehenden‘ Status quo auszusprechen, welche als Beweis der positiv rechtspraktischen Anwendung und der „de facto“117 Anerkennung des Vertrages gelten konnte. Dass dies mit einer buchstäblich am Reißbrett kreierten, nicht organisch gewachsenen, sondern künstlich implementierten Verwaltungspraxis bezweckt wurde, ist zum einen auf das Fortgeltungs-Dogma von Pius XII. zurückzuführen und liegt zum anderen in der tatkräftigen Aufnahme dieser Vorgehensweise durch Adenauer und Globke begründet.118
113 Konrad Adenauer an Aloysius Muench, 14.7.1951, in: BArch, B 136/5843. 114 Aloysius Muench an Konrad Adenauer, 18.7.1951, in: BArch, B 136/5843. 115 Widerstand gegen dieses Vorgehen erhob sich erneut in Bayern, wo der Staatsminister für
Unterricht und Kultus durchaus pikiert auf die Anfrage des Prälaten Böhler hinsichtlich der Unterstellung der Töchter des göttlichen Heilandes aus Willanzheim bei Kitzingen unter deren Mutterhaus in Wien reagierte und mitteilte: „Die Beziehungen zwischen den Orden und religiösen Genossenschaften und dem Staat sind im bayerischen Konkordat umfassend und erschöpfend geregelt.“ Der Rechtsauffassung, dass das Reichskonkordat hier zu Rate gezogen werden müsste oder gar das Einvernehmen der Bundesregierung erforderlich sei, wurde in München nicht geteilt. Erst nach weiteren Besprechungen zwischen dem Bundesinnenministerium, dem Auswärtigen Amt und dem Land Bayern konnte im Zuge einer Verbalnote knapp sechs Jahre nach der ersten Antragstellung überhaupt die Genehmigung am 21.6.1956 ausgesprochen werden. Josef Schwalber an Wilhelm Böhler, 21.6.1952, in: BArch, B 106/51644 (Hervorhebung im Original unterstrichen); Carl Gussone an das Auswärtige Amt, 6.4.1956, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84 und Verbalnote des Auswärtigen Amtes, 21.6.1956, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 116 Vgl. Repgen, Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre, S. 224. 117 Wilhelm Böhler an Heinrich von Meurers, 26.6.1950, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 118 Einmal etabliert, wurde die Unterstellungspraxis von deutschen Ordensgemeinschaften unter ausländische Provinzialobere auch über die 1950er Jahre hinaus durchgeführt. Vgl. dazu die zahlreichen Korrespondenzen in AEK, Cabinetts Registratur II 1.17a,5 und 18.24,10.
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2.
Liturgisches Verwaltungshandeln. Das Gebet für das Wohlergehen des deutschen Volkes (Art. 30)
Anhand einer letzten, beinahe skurrilen Miniatur wird abschließend noch einmal der gesamte Facettenreichtum des in der Besatzungszeit und der jungen Bundesrepublik betriebenen Faktensetzens aufgezeigt. Gemäß der Konkordatsbestimmung aus Art. 30 sollte an allen Sonn- und Feiertagen ein „Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes“119 gesprochen werden. Am 2. September 1955 erkundigte sich der Apostolische Nuntius bei allen deutschen Ordinariaten nach der Durchführung eben dieses Artikels und wünschte dazu einen kurzen Bericht. „Von besonderem Wert wäre die Beifügung von Belegen, wie z. B. Verfügungen im Amtsblatt u. ä., da bestimmte Vorwürfe über Nichteinhaltung der Konkordatsvorschriften damit entkräftet werden können“,120 hieß es in dem Schreiben weiter. Bereits zuvor hatte sich Bundeskanzler Adenauer nach dem Besuch eines Hochamtes unter der Hand bei Böhler darüber beschwert, dass das entsprechende Gebet während des von ihm besuchten Gottesdienstes nicht verrichtet worden war.121 Daraufhin sah sich der Prälat dazu gezwungen, nicht nur die deutschen Bistümer zur Räson zu rufen, sondern auch offiziell im Kirchlichen Anzeiger zweimalig die Verpflichtung der Pfarr-, Filial- und Klosterkirchen zur Abhaltung des Gebetes nachdrücklich in Erinnerung zu rufen.122 In seiner Antwort auf die Anfrage Muenchs konnte das Kölner Generalvikariat daher auf diese Verlautbarungen verweisen und fügte zudem als Beleg der Einhaltung des Art. 30 an: In der Bischofskirche, dem Kölner Dom, wurde die vorgeschriebene lateinische Oration regelmäßig nach dem Hochamt an Sonn- und Feiertagen gesungen, und zwar solange als bei den fortschreitenden Zerstörungen der Kapitelsgottesdienst möglich war (bis Juni 1943), und dann wieder seit dem Domjubiläum (15. August 1948) und ist seitdem ununterbrochen bis heute in Übung, und zwar bei gegebenen Anlässen, z. B. an hohen Festtagen mit besonderer Feierlichkeit.123
Neben dem Nuntius erhielt auch der staatliche Vertragspartner eine Belegliste des rituellen Verwaltungshandelns. „Sie erinnern sich, dass wir neulich darüber sprachen, in welchen Diözesen das Gebet für Volk und Vaterland gemäss Art. 30 des Reichskonkordates verrichtet wird“124, leitete Böhler sein Schreiben an Globke Weber, Die deutschen Konkordate der Gegenwart, S. 27 f. Aloysius Muench an die Hochwürdigsten Ordinarien, 2.9.1955, in: AEK, Generalia II, 3.5,1. Vgl. Aktennotiz Joseph Teusch, 15.9.1954, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. Vgl. Abschrift aus dem Kirchlichen Anzeiger Köln (Stück 24), 1.11.1949, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84 und Abschrift aus dem Kirchlichen Anzeiger Köln (Stück 24), 1.11.1951, in: AEK, Katholisches Büro Bonn I, 84. 123 Joseph Teusch an Aloysius Muench, 7.9.1955, in: AEK, Generalia II, 3.5,1. 124 Wilhelm Böhler an Hans Globke, 7.2.1956, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Nachlass Hans Globke, 018/2. 119 120 121 122
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vom 7. Februar 1956 ein. In der Mitteilung wurde weiter eine zweiteilige Liste aufbereitet, in welcher minutiös diejenigen Bistümer benannt wurden, die nachweislich regelmäßig das Gebet abgehalten hatten, aber auch die Diözesen angeführt wurden, die „das Gebet vorübergehend ohne besondere Absicht übersehen“125 hatten. Ohne nunmehr die liturgische Empfindsamkeit des Bundeskanzlers und seiner politischen Berater in Abrede stellen zu wollen, liegt es vor dem Hintergrund des im Beitrag Dargestellten dennoch nahe, dass auch hinsichtlich des Gebetes für das Wohlergehen des deutschen Volkes nicht etwa die transzendentale Bedeutung der Glaubenspraxis die Triebfeder der staatlichen Eingabe war, sondern vielmehr ein weiterer Verwaltungsakt die Rechtswirksamkeit des Reichskonkordates über 1945 hinaus zementieren sollte.
V.
Die normierende Kraft von Verwaltungspraktiken
Wie selbstverständlich einhalten – so lautet nicht nur der Titel dieses Beitrags, sondern dieses Credo beschreibt auch die nach 1945 maßgeblich vom Heiligen Stuhl initiierte und von der Bundesregierung aufgegriffene Strategie verwaltungspraktisch Fakten zu schaffen, um so die Fortexistenz des Reichskonkordates zu sichern. Wie anhand der aufgezeigten Dichotomie aus der Generierung von rechtserheblichen Tatsachen in der Besatzungszeit und der Kreation von Verwaltungskontinuitäten in der jungen Bundesrepublik deutlich wird, standen bei der Umsetzung der hier exemplarisch illustrierten Konkordatsartikel nicht etwa die tatsächlichen Auswirkungen auf die Lebensrealität der Gläubigen und ihrer Hirten im Vordergrund. Im Angesicht der bereits existenten wie zu erwartenden juristischen Fortgeltungskomplikationen sollten die reichskonkordatären Verwaltungspraktiken vielmehr in Anlehnung an die berühmte Formel des Staatsrechtlers Georg Jellinek die ‚normative Kraft des Faktischen‘ entfalten.126 Die verwaltungspraktischen Verbindlichkeiten sollten demnach dem Schwebezustand des Reichskonkordates ein tragfähiges, rechtspositivistisches Fundament entgegensetzen, damit der Faktenlosigkeit in Konkordatsfragen mit rechtsrelevanten Tatsachen begegnet werden konnte. Dabei ist das Festhalten am Reichskonkordat sicher nur eines von vielen Beispielen, bei dem im rechtlichen Chaos nach 1945 nicht etwa aus Verlegenheit, sondern mit wohlüberlegtem Kalkül Verwaltungshandeln instrumentalisiert wurde, um Pfandabhängigkeiten zu konstruieren, die später zur juristischen Legitimation desselbigen herangezogen werden konnten. Im Fall des Konkordates war das Vorhaben, die staatskirchenrechtliche Vergangenheit mit Hilfe der normierenden Kraft von Verwaltungspraktiken fortzuführen, auf ein vielschichtiges Konglomerat an Motiven zurückzuführen, welches 125 Ebd. 126 Vgl. Boldt, Staat, Recht und Politik bei Georg Jellinek, S. 13–31.
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hier nur grob skizziert werden kann. Für die Bundesregierung brachte besonders die Wiederherstellung internationaler Vertragsglaubwürdigkeit, die Gewinnung katholischer Wählerstimmen und der Selbstbehauptungskampf gegen die kulturpolitischen Autonomiebestrebungen der Länder das Reichskonkordat auf die tagespolitische Agenda. Demgegenüber war es dem Heiligen Stuhl primär ein Anliegen, mit dem Festhalten am Konkordat die darin verbrieften, weitreichenden staatlichen Zugeständnisse im Erziehungssektor auch im neuen deutschen Staat garantiert zu wissen, woneben es die nicht zu überreizende individualpsychologische Bindung des Papstes als nimmermüder Wächter ‚seines‘ Vertrages als Faktor sicherlich miteinzubeziehen gilt. Bei allen staatskirchenrechtlichen Positionskämpfen betreffend die Causa ‚Reichskonkordat‘ sticht dabei deren funktionale Ausrichtung ins Auge. So war den beteiligten Akteuren bereits während der Besatzungszeit bewusst, dass eine juristische Auseinandersetzung um die Gültigkeit des Vertrages höchstwahrscheinlich, vermutlich sogar unumgänglich ist. Als „heißes unberührbares Eisen“127 galt der Vertrag nämlich schon seinerzeit. Die betriebene Normsetzung durch Verwaltungshandeln war demnach weniger von der Hoffnung einer unmittelbar schleichenden Lösung der Gültigkeitsfrage getragen, als vielmehr von dem Kalkül bewegt, in einem juristischen Verfahren auf die bereits etablierte und rechtskräftige Umsetzung des Vertrages verweisen zu können. Vor genau diesem Hintergrund lässt sich damit auch die eingangs skizzierte Anfrage des Apostolischen Nuntius an die deutschen Bistümer nach einem Katalog der verwaltungspraktischen Anwendung des Reichskonkordates verstehen. Dass dessen Zusammenstellung auf die Verabschiedung des strittigen Schulgesetzes in Niedersachsen keine Auswirkung hatte, wurde bereits beschrieben. Doch wurden das Wissen um die Verwaltungs(dis-)kontinuitäten und ihre normative Kraft beim Karlsruher Bundesverfassungsgerichtsprozess von 1954 bis 1957 herangezogen, um die rechts(un-) wirksame Umsetzung des Reichskonkordates zu belegen.128 Dessen 88-schreibmaschinenseitenlanges Urteil vom 26. März 1957 blieb indessen ein erfolgloser Versuch, die politisch-moralischen Kontroversen um die Fortgeltung des Reichskonkordates in die Sprache der Juristen zu übersetzen und damit zu beenden.129
127 Bericht Ivo Zeiger für Aloysius Muench über Stand der Beratungen des Parlamentarischen
Rates in Bonn hinsichtlich des Reichskonkordates, 24.1.1949, in: ACUA, Nachlass Muench, Box 42, Folder 19. 128 Auf die hier vorgestellten Konkordatsartikel und deren verwaltungspraktische (Nicht-)Anwendung wurde in zahlreichen Momenten des Konkordatsprozesses zurückgegriffen. Ein Zugriff auf die entsprechenden Stellen kann am ehesten durch das Register der umfänglichen Edition zum Prozess erfolgen. Vgl. Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. III, S. 1753–1755. 129 Die ‚Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik‘ haben von Ende 1957 bis Anfang 1959 den Konkordatsprozess mit insgesamt zwölf Lieferungen (heute in drei Bänden zusammengefasst), den Text der Schriftsätze der Streitparteien, die fünfzehn Rechtsgutachten, die Transkripte der mündlichen Verhandlungen (nahezu 31 Stunden) und das Urteil vom 26.3.1957 auf 1780 Seiten ediert. Giese/Heydte, Der Konkordatsprozess, Bd. I–III.
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Denn auch nach dem Gerichtsentscheid gab es zum Verhandlungsgegenstand mindestens ebenso viele Meinungen wie Urteilsseiten. Heute zieht die Juristin Julia Lutz-Bachmann das Reichskonkordat zugleich als Positiv- und Negativbeispiel für die „nahezu unverwüstliche faktische Bestandskraft von Kirchenverträgen“130 heran. Dass dies nicht ohne die nach Kriegsende betriebenen Versuche gesehen werden kann, die Resistenz des Reichskonkordates gegen die juristischen Aufkündigungsbestrebungen durch die normierende Kraft von Verwaltungspraktiken zu potenzieren, konnten die dargelegten Ausführungen zur tatsachenschaffenden Fortführung der konkordatären Praxis belegen.
130 Lutz-Bachmann, Mater rixarum?, S. 59.
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Jan H. Wille, Universität Hamburg ist seit 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg tätig. Zuvor arbeitete er in gleicher Position an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Seit 2018 promoviert er im Teilbereich Religion des BKM-Projektes „Verwaltungslogik und kommunikative Praxis im und nach dem Nationalsozialismus 1930– 1960“ zum Thema „Das Reichskonkordat (1933–1957). Ein Abkommen im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche.“ Publikationen: Was glaubten die Deutschen 1933–1945? Eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Religion und Politik im Nationalsozialismus, 6.12.2018– 7.12.2018 Tagungsbericht Münster, in: H-Soz-Kult, URL: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8109 (letzter Zugriff am 21.6.2021).
Christiane Kuller
RELIGION VERWALTEN – KOMMENTAR
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eligion verwalten – das klingt zunächst nach einem Sonderfall von Verwaltung. Denn es geht hier um einen Verwaltungsbereich, dessen Zweck sich der politischen Steuerung zu entziehen scheint. Glaube ist definitionsgemäß ausgerichtet an einer unhinterfragbaren Wahrheit. Der Zweck der Religionsverwaltung ist somit im Kern transzendental definiert und nicht verhandelbar. Zuständig für eine Auslegung der Transzendentalbezüge sind letztlich auch nur Religionsexperten. Bei genauerer Betrachtung ist diese Konstellation allerdings kein Einzelfall. Auch andere Verwaltungsfelder, wie z. B. die Gesundheitsverwaltung, nehmen für sich in Anspruch, dass sich ihre Zwecke der politischen Debatte entziehen. Im Fall der Gesundheit handelt es sich beispielsweise um wissenschaftlich definierte Zwecke. Welche Spannungen sich daraus ergeben können, erleben wir aktuell gerade im Hinblick auf den Umgang mit der SARS-CoV-2-Pandemie, wenn kritisch gefragt wird, inwieweit Virologen diktieren, wie die Pandemie verwaltet werden soll. Ähnlich stellt sich auch bei der Religionsverwaltung die grundsätzliche Frage: Wer ist hier wem untergeordnet? Ist die staatliche Verwaltung „nur“ ausführender Arm der Religionsgemeinschaften (z. B. beim Religionsunterricht in Schulen)? Oder sind religiöse Einrichtungen im anderen Extremfall „nur“ Ausführungsinstitutionen staatlicher Aufgaben (wie es etwa bei der karitativen Arbeit im Sozialstaat erscheinen mag)? Damit ist eine leitende Perspektive der Untersuchung von Religionsverwaltung angesprochen, die auch die Beiträge in dieser Sektion aufgreifen, nämlich wie Religionsgemeinschaften und staatliche Behörden bei der Verwaltung von Religionsfragen interagieren und kooperieren – in Zeiten gleichlaufender Interessen, aber auch in Zeiten, in denen die weltliche und die religiöse Seite unterschiedliche Ziele verfolgen. Grundsätzlich arbeiten in der Verwaltung von Religion in Deutschland zwei Bereiche eng zusammen: Einmal werden religiöse Aufgaben von Institutionen der Religionsgemeinschaften selbst verwaltet. Dies zielt etwa bei christlichen Kirchenverwaltungen darauf, die Rahmenbedingungen bereitzustellen, damit die Verkün-
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digung der christlichen Botschaft und das Spenden von Sakramenten möglichst gut praktiziert werden können.1 Zahlreiche kirchliche Einrichtungen, wie etwa Kindergärten und Krankenhäuser, werden ebenfalls von den Religionsgemeinschaften verwaltet. Zur Verwaltung von Religion gehört in Deutschland aber auch traditionell die Tätigkeit staatlicher Behörden, sofern sie religiöse Handlungsfelder betrifft – anders als etwa in den USA oder Frankreich, wo sich der Staat zu einer weitgehenderen Distanz gegenüber den Religionen verpflichtet hat. Hier kommen öffentliche Verwaltungen unterschiedlicher Bereiche in den Blick, von Kultur und Bildung über den Sozialstaat bis hin zu Finanzen. Es geht um den Religionsunterricht an Schulen und die theologischen Fakultäten an Universitäten sowie eigene theologische Hochschulen, es geht um Diakonie und Caritas als zentrale Akteure des deutschen Sozialstaats, die wichtige staatliche Aufgaben übernehmen, es geht um Fragen der Militärseelsorge und um die Mitwirkung in Rundfunk- und Fernsehmedien, es geht um das Kirchensteuersystem und um die Frage, wie (und von wem) die Kirchensteuer eingetrieben wird, es geht aber auch darum, wie Priester eingesetzt werden und was sie politisch tun sollen (und was nicht).2 Dies alles sind Bereiche, in denen sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis Staat und Religionsgemeinschaften zueinander stehen sollen und in welchem Umfang und auf welche Weise Religionsgemeinschaften in die Gesellschaft und umgekehrt öffentliche Verwaltungen in Religionsgemeinschaften hineinwirken. Für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften sind unterschiedliche Modelle möglich. Während in Frankreich oder auch in den USA eine strikte Trennung gilt, stehen etwa England und Dänemark, wo es Staatskirchen gibt, für das entgegengesetzte Ende der Skala. In Deutschland findet sich ein drittes Modell: das sogenannte Kooperationsmodell. Staat und Religionsgemeinschaften sind hier zwar getrennt, arbeiten aber in vielen Bereichen zusammen. Dabei ist die Art und Weise der Kooperation das Ergebnis spezifischer historischer Konstellationen, unterschiedlicher Interessenlagen, wechselnder Machtverhältnisse und sich wandelnder Gesellschaften.3 Die Beiträge in dieser Sektion richten den Blick auf eine wichtige Formationsphase dieses Kooperationsmodells in den 1920er bis 1960er Jahren. Das StaatKirchen-Verhältnis, wie wir es bis heute in Deutschland kennen, war ein Kind der Weimarer Republik, das sich schon wenig später in der NS-Zeit zunehmend einem staatlichen Zugriff bzw. Angriff ausgesetzt sah, als das NS-Regime versuchte die religiösen Handlungsfelder einem politischen Primat zu unterwerfen.4 Die Rechristianisierungsbewegung nach dem Ende der NS-Herrschaft, die vor allem die 1 Vgl. den Beitrag in diesem Band Brunner, Verwaltung des volkskirchlichen Erbes, S. 215 mit
Bezug auf Axel von Campenhausen und Gernot Wießner. 2 Großbölting, Der verlorene Himmel, S. 51 f. 3 Großbölting, Geschichte und Gegenwart, S. 30 f. 4 Die Beiträge der Sektion konzentrieren sich auf die beiden großen christlichen Konfessionen der katholischen und der evangelischen Kirche. Vor allem die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Kultusgemeinden lässt sich kaum in die Analysekategorien einordnen.
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Entwicklung in der frühen Bundesrepublik prägte, erwies sich schließlich nicht als eine schlichte Restauration, sondern als ambivalenter Prozess, der auch davon geprägt war, dass sich die Bedeutung der christlichen Religionsgemeinschaften für die Gesellschaft veränderte: Als das Kooperationsmodell nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden war, hatten sich die christlichen Kirchen noch als „Volkskirchen“ verstanden und den Anspruch erhoben, für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung zu sein. Noch 1945, nach der Niederwerfung des ‚Dritten Reiches‘, waren rund 96 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Mitglied einer christlichen Kirche. Aber spätestens in den 1960er Jahren wurde Glaube zur „Option“, 5 die ehemals relativ geschlossene christliche Lebenswelt zerfiel zunehmend, ein Prozess, der auch Folgen für das Staats-Kirchen-Verhältnis hatte. Denn der christliche Glaube war nun nicht mehr selbstverständlicher Referenzpunkt für gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Für die Verwaltung von Religion spielen rechtliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Nach der idealtypischen Beschreibung von Max Weber bilden die rechtlichen Regelungen einen zentralen Faktor für eine bürokratische Herrschaft. Deren Legitimität beruht nach Webers Darstellung vor allem darauf, dass Verwaltung durch allgemeine Gesetze geregelt ist und alle Beteiligten einen entsprechend regelgebundenen Verwaltungsablauf anerkennen.6 Das gilt auch für das Verhältnis von Staat und Kirche sowie für die Verwaltung von Religion. Der Zeitraum von den 1920er Jahren bis in die 1960er Jahre bildet hier einen besonders interessanten Untersuchungsbereich, weil sich in dieser Zeit die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in Deutschland stark verändert haben.7 Mit der Weimarer Verfassung vom August 1919 fand das landesherrliche Kirchenregiment, das in deutschen Gebieten bis dahin von einem spezifischen, durch konfessionelle Pluralität geprägten „Reformationsfolgenrecht“ geregelt gewesen war,8 ein Ende. Eine elementare Veränderung bedeutete das vor allem für die evangelische Seite. Denn mit der Aufhebung des landesherrlichen Kirchenregiments musste sie neue Verfassungen schaffen, und sie musste dies unter demokratischen Vorzeichen tun. Benedikt Brunner diskutiert in seinem Beitrag u. a. die Auseinandersetzung auf evangelischer Seite mit demokratischen Prinzipien während der Weimarer Republik.9 Er zeigt, dass die demokratischen Strukturen, die die evangelischen Landeskirchen in ihren neuen Verfassungen der 1920er Jahre niederschrieben, keineswegs ein Garant für eine demokratische kirchliche Verwaltungspraxis waren. Die rechtlichen Rahmenbedingungen ließen vielmehr viel Spielraum für autoritative 5 Joas, Glaube als Option. 6 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 562–566. 7 Gleichzeitig gibt es in formaler Hinsicht eine erstaunliche Kontinuität, denn das bundesrepu-
blikanische Grundgesetz hat die Formulierungen der Weimarer Verfassung nahezu unverändert übernommen. 8 Walter, Reformationsfolgen, S. 395–414. 9 Vgl. den Beitrag in diesem Band Brunner, Verwaltung des volkskirchlichen Erbes.
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Praktiken. Zudem erlaubte der Bezug auf das Selbstbild als „Volkskirche“ eine Identifikation mit dem „Volk“, ohne sich positiv auf die zeitgenössische demokratische Staatsform beziehen zu müssen. Der Beitrag von Brunner legt erhellend dar, dass der Bezug auf die „Volkskirche“ also viel mehr implizierte, als so etwas wie einen hohen Anteil von Kirchenmitgliedern in der Gesellschaft. Der Begriff formte vielmehr Wahrnehmungsweise und Deutungsmuster, die das Handeln kirchlicher Akteure grundlegend prägten, nicht zuletzt in Bezug auf die Kooperation mit staatlichen Verwaltungsakteuren in der ersten deutschen Republik. In den Blick kommen hier auch Handlungsspielräume der Verwaltungsmitarbeiter. Solche Handlungs- und Ermessensspielräume verweisen nicht zuletzt auf die Bedeutung der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster einzelner Akteure. Wie jede andere Verwaltung, so war auch die Religionsverwaltung kein mechanistisches System, in dem die verschiedenen Bereiche wie Zahnräder ineinandergriffen und durch eine institutionelle Verfassung vollständig vorherprogrammiert waren. Erhellend ist vielmehr die Untersuchung, was die Beteiligten antrieb, wie sie agierten, und wie sie ihr Handeln deuteten und rechtfertigten. Nach der Abschaffung des Staatskirchentums ging die Weimarer Republik nicht den laizistischen Weg der strikten Verdrängung religiöser Aktivitäten aus dem öffentlichen Leben. Ergebnis der Umgestaltung in Deutschland war vielmehr ein „origineller Kompromiss“, der zeitgenössisch vorbildlos war und daher in vieler Hinsicht erst ausgestaltet und erprobt werden musste: das erwähnte Kooperationsmodell.10 Anders als in laizistischen Staaten war Religion in Deutschland nicht nur Privatsache, sondern Religionsgemeinschaften prägten auch öffentliche Angelegenheiten. Sie wurden dafür verfassungsrechtlich privilegiert und zur Kooperation mit dem Staat eingeladen. Der Rechtshistoriker Ulrich Stutz hat dies zeitgenössisch mit einer vielzitierten Formulierung als „hinkende Trennung“ bezeichnet.11 Der Begriff ist allerdings missverständlich, denn tatsächlich wurden Staat und Kirche institutionell vollständig getrennt und die Kooperationen erst danach in einer Reihe von Staatskirchenverträgen geregelt. Diese betrafen zunächst die Landesebene. Das Konkordat mit der katholischen Kirche auf Reichsebene ist erst kurz nach Beginn der NS-Herrschaft zustande gekommen. Im ‚Dritten Reich‘ wurden die Artikel der Weimarer Verfassung zur Trennung zwischen Staat und Kirche formal ebenso wenig aufgehoben wie die StaatsKirchen-Verträge für ihre Kooperation. Allerdings veränderte sich die rechtliche Basis des Kooperationsmodells zunehmend durch die Erosion des Rechtssystems und die Politisierung staatlicher Verwaltungsentscheidungen. Hierbei spielten vor allem drei Charakteristika der Rechtsentwicklung im ‚Dritten Reich‘ eine Rolle. Zum ersten vervielfältigten sich die Rechtsquellen: Insbesondere trat neben die traditionelle Rechtsschöpfung durch parlamentarische Gesetzgebung zunehmend das von Hitler persönlich verfügte „Führerrecht“, das geltende Regelungen außer 10 Vgl. zum Folgenden Heinig, Staat und Religion, S. 16. 11 Stutz, Die päpstliche Diplomatie, S. 54.
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Kraft setzte.12 Die staatliche Legislative wurde hingegen marginalisiert. Zweitens wurden vermeintlich neutrale rechtliche Regelungen durch vorgeschaltete ideologische Orientierungsformeln bzw. ideologische Auslegungsprinzipien politisiert. Drittens schließlich entwickelten sich wachsende Zonen von Willkürhandeln, die neben dem Rechtsstaat einen „Maßnahmenstaat“ (Ernst Fraenkel) entstehen ließen, in dem es keine allgemein geregelten Verfahren gab und das Handeln der Verwaltungsinstanzen unkalkulierbar war.13 Man kann nun fragen, was diese Veränderungen für das Kooperationsmodell zwischen Staat und Kirchen bedeuteten. Erhebliche Aufmerksamkeit in der Forschung hat in diesem Zusammenhang das Reichskonkordat zwischen NS-Staat und katholischer Kirche gefunden. Inwiefern, so wurde gefragt, war es ein „völkerrechtliches Bollwerk“ (Brechenmacher/Oelke), um sich gegen Übergriffe des nationalsozialistischen Staates zu wappnen,14 bzw. inwieweit verlor es diese Funktion angesichts der rechtsstaatlichen Erosion? Die Auseinandersetzungen über die Umsetzung des Reichskonkordates, über die Beeinträchtigung des religiösen Lebens und über Fragen des Religionsunterrichtes zwischen der Fuldaer Bischofskonferenz bzw. ihrem Vorsitzenden Kardinal Bertram und den Verwaltungszentralen des NS-Staates (v. a. Reichskirchenministerium, Innenministerium, Reichserziehungsministerium und Reichskanzlei) ist in der Forschung schon intensiv aus politischer Perspektive diskutiert worden. Sascha Hinkel nähert sich dem Thema in seinem Beitrag in dieser Sektion hingegen aus einer verwaltungsgeschichtlichen Perspektive.15 Dabei arbeitet er u. a. heraus, wie staatliche und katholische Interessen zunehmend auseinandertraten und in einen Machtkampf mündeten, der sich an der Frage nach dem Primat von (laizistischer und kirchenfeindlicher) Politik gegenüber der Religion entzündete. Wie Hinkel zeigt, forderte Reichskirchenminister Kerrl eine Unterordnung der katholischen Kirche unter staatliche Interessen bei gleichzeitiger Marginalisierung religiöser Praktiken, während der Heilige Stuhl für sich in Anspruch nahm, die Maximen der Religions-Verwaltung und deren Einflussbereich selbst zu bestimmen. Hinkel interessiert sich aber auch für die in diesem Konflikt aufscheinenden gedanklichen Konstruktionen von Kooperation. So wurde auf staatlicher Seite der Wunsch nach einem friedlichen Auskommen stets betont. Und auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz Kardinal Bertram hielt an seiner loyalen Position hinsichtlich der Kooperation zwischen Staat und Kirche fest, konnte dies aber nur, indem er zwischen kirchenfreundlichem Staat und kirchenfeindlichen NSDAP-Vertretern unterschied. Die langfristige Bedeutung insbesondere von Bertrams Interpretation erwies sich, als die katholische Kirche die Kooperation mit den staatlichen Verwaltungen trotz der hohen personellen, verwaltungsorgani12 13 14 15
Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Fraenkel, Doppelstaat. Im englischen Original ‚The Dual State‘ aus dem Jahr 1941. Brechenmacher/Oelke, Kirchen und NS-Verbrechen, S. 9. Vgl. den Beitrag in diesem Band Hinkel, Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“.
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satorischen wie kirchenpolitischen Kontinuität in den Behörden16 fortsetzte, nachdem das NS-Regime untergegangen war. Auch auf evangelischer Seite wurde Anfang der 1930er Jahre ein Reichskirchenvertrag als Pendant zum Reichskonkordat erwartet, der aber nicht zustande kam. Vielmehr versuchte das NS-Regime nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit der Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche unter Leitung eines Reichsbischofs eine evangelische Staatskirche zu etablieren. Das Vorhaben ist bekanntlich gescheitert, weil Teile der Kirchenvertreter unter Berufung auf ihr Bekenntnis diese einheitliche Reichskirche nicht anerkannten. Auf evangelischer Seite war die Entwicklung im ‚Dritten Reich‘ theologisch wie verwaltungsorganisatorisch vielmehr durch Zerfall in mehrere Teilgruppen gekennzeichnet, die sich gegenseitig die Legitimität absprachen.17 Der Beitrag von Benedikt Brunner zeichnet nach, wie sich die Aufsplitterung in „Deutsche Christen“, „Bekennende Kirche“ und die sog. „Intakten Kirchen“ organisatorisch niederschlug und regt an, den Begriff der Polykratie, der für die staatliche Verwaltung schon seit langem diskutiert wurde, auch auf die kirchlichen Einrichtungen anzuwenden. Gleichzeitig wäre dann aber auch wichtig, die Modifikationen, die das Polykratiemodell für die Analyse der Staatsverwaltung erfahren hat, zu berücksichtigen. So betont die Forschung die Prozesse, die die Zersplitterung überwölbten, vor allem personelle Netzwerke und Personalunionen.18 Aufgrund seiner Quellenbasis, die sich auf zeitgenössische Einzelbeobachtungen stützt, kann der Beitrag von Brunner hierzu allerdings keine Aussage machen. Sehr gut eignet sich dieser Zugang hingegen, um aufzuzeigen, wie die Beobachter die Entwicklung in ihr jeweiliges zeitgenössisches Bild von Religionsverwaltung zwischen Normalität und Ausnahme sowie zwischen Chance und Gefährdung einordneten. Die Frage nach der Entwicklung des Kooperationsmodells im ‚Dritten Reich‘ muss man auch im Hinblick auf die Verbrechensdimension der NS-Herrschaft stellen. Generell gilt Religion als kultureller Speicher und Quelle normativer Vorstellungen über das Gute und Richtige. Die Verwaltung religiöser Praktiken untersteht nicht nur den Verwaltungsmaximen der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (auch wenn auch diese theologisch hergeleitet werden können)19, sondern soll auch eine im christlichen Sinne gute Ordnung in der Gesellschaft sichtbar machen. Aus christlicher Ethik heraus, so wäre zu erwarten, mussten sich christliche Einrichtungen rassistischen Leitprinzipien in der staatlichen Verwaltung und der Ermordung, Folterung, Erniedrigung und Ächtung von Menschen entgegenstel-
16 Darauf verweist Kreutzer, Das Reichskirchenministerium. 17 Vgl. zur evangelischen Entwicklung auch Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1,
S. 360 f. 18 Vgl. Reichardt/Seibel, Herrschen und Verwalten S. 16 f. und Hachtmann/Süß, Hitlers Kommissare. 19 Stein, Zweckmäßig arbeiten, S. 13–15.
RELIGION VERWALTEN – KOMMENTAR
len.20 Demzufolge ist zu fragen, wie sich das deutsche „Kooperationsmodell“ im tagtäglichen Verwaltungsalltag eines Verbrechensregimes wie der NS-Herrschaft entwickelte. Winfried Süß hat dies am Beispiel der Stellung und Funktion der katholischen Gesundheitsfürsorge im nationalsozialistischen Gesundheitswesen untersucht und dafür das konkrete Handeln in kirchlichen Gesundheitseinrichtungen analysiert. Die handlungsbezogene Perspektive fragt – wie das Münsteraner Forschungsprojekt formuliert – danach, „auf welche Weise Verwaltung die von der Politik zugewiesenen Aufgaben für sich definierte, deren Bearbeitung intern organisierte, diese dann praktisch vollzog und extern legitimierend gegenüber den Verwalteten, vor allem aber gegenüber direkt betroffenen und einbezogenen Interessengruppen kommunizierte“. 21 Winfried Süß hat für den Gesundheitsbereich den Begriff der „antagonistischen Kooperation“ geprägt.22 Denn auf der einen Seite haben katholische Einrichtungen die Kooperation nicht grundsätzlich aufgekündigt und damit letztlich auch eine soziale Normalität stabilisiert, ohne die das diktatorische NS-Regime kaum funktionieren hätte können. Auf der anderen Seite gewann die Kooperation antagonistische Züge, da katholische Akteure die rassistischen Denkmuster der NS-Ideologie nicht freiwillig übernahmen – im Unterschied etwa Einrichtungen der Inneren Mission.23 Vielmehr gab es in katholischen Einrichtungen wirkmächtigen Widerstand gegen die NS-Euthanasiepolitik. Waren während der NS-Zeit staatliche und kirchliche Vorstellungen über die Kooperation auseinandergetreten, so änderte sich das mit dem Untergang der NSHerrschaft 1945. Nun liefen die leitenden Prinzipien beider Gruppen, zumindest in Westdeutschland, wieder parallel und verstärkten sich gegenseitig. Und beide Seiten waren offensichtlich an einer Restabilisierung des Kooperationsmodells interessiert, wie Jan H. Wille in seinem Beitrag für die katholische Seite herausarbeitet.24 Nach dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ hatten staatliche wie kirchliche Stellen ein großes Interesse daran, das Reichskonkordat fortzusetzen und eine Unterbrechung der Konkordatspraxis zu verhindern. Juristisch gesehen war die Fortgeltung des Reichskonkordats alles andere als klar, weil das Deutsche Reich als Rechtspartner nach Kriegsende nicht mehr weiterbestand. Letztlich 20 Zu den Herausforderungen und Überforderungen, die das etwa für die zeitgenössische evan-
gelische Ethik mit sich brachte vgl. Anselm, Die Verbrechen des NS-Staates, S. 31–46. 21 So die Leitfrage des Forschungsprojektes „Verwaltungslogik und kommunikative Praxis im und nach dem Nationalsozialismus: Wirtschaft, Religion und Gesundheit im Zugriff zentraler Behörden 1930–1960“ unter Leitung von Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht, URL: https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Forschen/Projekte/projekte-verwaltungslogikundkommunikativepraxisimundnachdemnationalsozialismus.html (letzter Zugriff am 10.5.2021). 22 Süß, Antagonistische Kooperationen, S. 317–342. 23 Vgl. für einen Überblick über beide Konfessionen die Beiträge von Friedrich, Zwangssterilisation; Kaminsky, Zwangsarbeiter; Kißener, Die deutschen Bischöfe und Hermle, Die antijüdische NS-Politik. 24 Vgl. den Beitrag in diesem Band Wille, Wie selbstverständlich einhalten.
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zielte vor allem die Strategie der römischen Kurie darauf, die Kooperationspraxis zu instrumentalisieren, um Pfadabhängigkeiten zu konstruieren, die später zur Legitimation ebendieser Kooperationsform herangezogen werden konnten. In einer Zeit rechtlicher Unsicherheit und Transformation hat sich die Verwaltungspraxis als mächtiger Hebel erwiesen, um die Kontinuität des Kooperationsmodells in Westdeutschland zumindest kurzfristig zu sichern. In dieser Phase politischer und gesellschaftlicher Transformation war nicht die Verwaltung ausführender Arm von politischen Entscheidungen, sondern Verwaltungsakte präformierten künftige politische Entscheidungen. Jan H. Wille erkennt bei den Akteuren ein starkes Vertrauen in die Wirkungsmacht von etablierten Verwaltungsroutinen. Die Mitarbeiter in Kirchen und staatlichen Verwaltungen griffen hier auf etablierte Verfahren zurück, die ihnen „normal“ erschienen im Hinblick auf eine Rechtsordnung, die es zum Zeitpunkt ihrer Aktivitäten in der Transformationsphase gar nicht gab. Es wäre weiterführend auch interessant, das jeweilige Vertrauen nicht nur aus dem Verhalten der Akteure zu schließen, sondern auch genauer zu untersuchen, ob und ggf. auf welche Weise die Quellen über dieses Vertrauen Auskunft geben. Dies würde einen genaueren Einblick in die damaligen Deutungsmuster von Verwaltungshandeln eröffnen, der über eine Plausibilitätsvermutung aus heutiger Perspektive hinausgeht. Die große Wertschätzung staatlicher Institutionen gegenüber den Kirchen, die Jan H. Wille darlegt, bestätigt sich auch beim Blick auf die Landesverfassungen, die bis 1949 in den Westzonen entstanden. Die neuen Regelungen gingen sogar noch über die Weimarer Verfassung hinaus, indem sie die christlichen Kirchen auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften hervorhoben.25 Im Grundgesetz konnte 1949 allerdings lediglich ein Formelkompromiss geschlossen werden, der die Regelungen von Weimar übernahm.26 Vor allem der Religionsunterricht in der Schule blieb ein Streitthema zwischen staatlicher Bildungsverwaltung und katholischer Kirche, das in den 1950er Jahren bis vor das Bundesverfassungsgericht gebracht wurde.27 Während sich das katholische Staats-Kirchen-Verhältnis also, anders als es die Ergebnisse von Jan H. Wille für die Frühzeit der Bundesrepublik nahelegen mögen, nur langsam stabilisierte, kam es ab den 1950er Jahre zu einer Reihe von evangelischen Staats-Kirchen-Verträgen auf Landes- und Bundesebene. Die evangelische Seite entwickelte sich somit zum Schrittmacher im Gebiet des Vertragsrechts und hat es maßgeblich gefestigt.28 Ein kurzer Ausblick sei hier auch auf die Situation im Osten Deutschlands gerichtet. In den Länderverfassungen der SBZ und in der Verfassung der DDR 1949 kamen Staatskirchenverträge nicht vor. Sie wurden auch weder formal anHeinig, „Göttinger“ Wissenschaft, S. 432 f. Hollerbach, Grundlagen, S. 258. Vgl. Urteil BVerfGE 6, 309 vom 26.3.1957, das die Streitigkeiten jedoch nicht beendete. Vgl. Heinig, „Göttinger“ Wissenschaft, S. 435 mit Verweis auf Link und Hollerbach, Grundlagen, S. 259. 25 26 27 28
RELIGION VERWALTEN – KOMMENTAR
erkannt noch aufgehoben, sondern befanden sich in einer Art Schwebezustand durch Nichtanwendung.29 Da die DDR sich dezidiert nicht als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches verstand, fehlte eine wesentliche Grundlage für eine rechtliche Kontinuität. Und die marxistisch-leninistische Weltanschauung ließ für eine Fortführung des vorherigen Kooperationsmodells keinen Raum. Wie sich das Kooperationsmodell angesichts der sehr unterschiedlichen Entwicklung in der Zeit der deutschen Teilung nach der Wiedervereinigung weiterentwickelte, ist eine vieldiskutierte Frage, die aber nicht mehr zum Themenfeld dieses Bandes gehört.
29 So die Formulierung bei Hollerbach, Grundlagen, S. 263.
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RELIGION VERWALTEN – KOMMENTAR
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Prof. Dr. Christiane Kuller, Universität Erfurt ist seit 2013 Professorin für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Erfurt. Zuvor vertrat sie im akademischen Jahr 2011/12 zunächst den Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte Europas an der Universität Erfurt und 2012/13 den Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Publikationen: mit Christian Albrecht/ Reiner Anselm/Andreas Busch u. a. (Hg.), In Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen, Tübingen 2019; Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland (= Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus, Bd. 1), München 2013; Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 160), München 2008.
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VON BÜRGERN UND PATIENTEN – GESUNDHEIT VERWALTEN
Franziska Kuschel
GESUNDHEIT ALS UMSTRITTENE BUNDESAUFGABE Politische Gestaltungsansätze des Bundesministeriums für Gesundheitswesen in den 1960er Jahren
D
er Umgang mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu Beginn des Jahres 2020 hat gezeigt: Das Spannungsverhältnis zwischen Bund und Ländern ist in der Gesundheitspolitik allgegenwärtig.1 Denn im föderal organisierten Gesundheitssystem der Bundesrepublik stellt sich seit jeher die Frage, wie weitreichend das Gesundheitsministerium auf Bundesebene tätig werden kann und welche Handlungsräume beim Krisenmanagement gegeben sind. Während der Bundesgesundheitsminister gerade zu Beginn der Pandemie in Pressekonferenzen zwar omnipräsent war und beständig die Lage analysierte, blieb es zunächst bei Empfehlungen und Appellen der Bundesebene. Ausgeführt wurden die Maßnahmen auf der Ebene der Länder und Kommunen, die konkrete Entscheidungen etwa über die Absage von Veranstaltungen treffen mussten. So hatten ein Landrat und lokale Gesundheitsämter mehr Entscheidungsmacht inne als der Bundesgesundheitsminister. In der Folge ergab sich das Bild eines Flickenteppichs: Die Praktiken zur Eindämmung der schnell ansteigenden Infiziertenzahlen – wie auch die Umsetzung der Lockerungen von Maßnahmen – waren regional verschieden.2 In der Krise forderten Vertreter von Bund und Ländern immer wieder mehr Einheitlichkeit im Vorgehen. Ebenso kam die Frage einer möglichen Grundgesetz1 Für kritische Anmerkungen und Hinweise danke ich den Herausgebern sowie Malte Thießen
und Niklas Lenhard-Schramm. 2 Vgl. u. a. Constanze von Bullion/Detlef Esslinger: Wer in der Coronavirus-Krise was zu sagen hat, in: Süddeutsche Zeitung (= SZ), 10.3.2020; Boris Herrmann: Ein Flickenteppich, in: SZ, 21.4.2020, S. 5.
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änderung für das Gesundheitswesen sowie die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die dem Bund weitreichende Vollmachten geben sollten, auf die Tagesordnung.3 Trotzdem das heutige Bundesministerium für Gesundheit weitreichendere Zuständigkeiten als in früheren Jahrzehnten innehat und niemand mehr – anders als noch bis in die 1960er Jahre in der Bundesrepublik – die Notwendigkeit eines Bundesgesundheitsministeriums in Frage stellt, sind die teils beschränkten Gestaltungs- und Handlungsräume mit ihren historisch gewachsenen Aufgabenverteilungen und Abgrenzungen im föderalen Staat Kern der Gesundheitspolitik und bestimmen die Verwaltungslogiken. Vorstöße und ein (zu) weitgehendes Handeln seitens der Bundesebene stießen in der Geschichte reflexhaft auf Abwehr. Die Steuerung von Gesundheit auf zentraler Ebene in Deutschland war mithin seit jeher eine politisch hoch umstrittene Frage, wie es sich bereits im Zuge der Einrichtung einer Zentralbehörde im Feld des Gesundheitswesens zeigte. Sie war seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand zahlreicher Debatten, in denen sich Befürworter und Gegner erbittert gegenüberstanden. Der vorliegende Beitrag möchte die Gründungs- und Frühgeschichte des Bundesministeriums für Gesundheitswesen (BMGes) in den Mittelpunkt der Analyse stellen und so der Frage der Institutionalisierung von Gesundheitspolitik auf Bundesebene und der Aushandlung von Kompetenzen nachgehen. An die Gründung des Ressorts waren einerseits hohe Erwartungen aus der Bevölkerung geknüpft, andererseits mangelte es an politischer Unterstützung seitens des Kanzlers, der Fraktion und einiger Kabinettskollegen. Die Lage des Ministeriums blieb somit prekär und die Verwaltung konnte die Erwartungen nur bedingt einlösen. Im Folgenden sollen mit Blick auf die historisch gewachsenen Traditionen erstens die Gründe für die späte Errichtung einer eigenen Zentralbehörde in der Bundesrepublik erörtert werden. Zweitens wird danach gefragt, wie Gesundheitspolitik zu Beginn der 1960er Jahre neu definiert und organisiert wurde. Welche Inhalte und Zuständigkeiten erhielt das neue Ressort, wie war es organisiert und welche Kommunikationsstrukturen etablierten sich in der Aufbauphase? Schließlich soll drittens die Außenkommunikation und Berichterstattung analysiert werden, da auch nach der Errichtung der Zentralbehörde deren Existenz nicht unwidersprochen blieb.
I.
Späte Gründung
Die Gesundheitspolitik bekam nach 1945 bzw. 1949 in der Bundesrepublik erst spät – nämlich 1961/62 – eine ministerielle Heimat auf Bundesebene. Dabei war die Frage, ob in der Bundesrepublik ein eigenständiges Gesundheitsressort gebildet werden sollte, bereits vor der Gründung der Bundesrepublik diskutiert wor3 Vgl. u. a. Bundestag erwägt Grundgesetzänderung, in: Der Spiegel, 16.3.2020; Florian Meinel/
Christoph Möllers: Eine Pandemie ist kein Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (= FAZ), 20.3.2020; Wolfgang Janisch: Vollmacht für den starken Mann, in: SZ, 25.3.2020, S. 5.
GESUNDHEIT ALS UMSTRITTENE BUNDESAUFGABE
den. Doch im ersten Kabinett Adenauer hatte die Regierung mit dem Bundesgesundheitsamt (BGA) 1952 allein eine Bundesoberbehörde geschaffen;4 das Thema Gesundheit auf ministerieller Ebene war in einer Abteilung im Bundesministerium des Innern (BMI) angesiedelt. Die Zuständigkeit für die Belange der Sozialversicherungen und somit auch der Krankenkassen erhielt hingegen das Arbeitsministerium. Es waren vor allem Standesvertreter und Berufsverbände gewesen, die die Gründung eines Ministeriums vehement eingefordert hatten und dies in den Folgejahren taten.5 Auch im Deutschen Bundestag gab es Befürworter. So hatte etwa der niedersächsische CDU-Abgeordnete Wilhelm Brese 1951 das „Endziel“ formuliert, ein Bundesgesundheitsministerium aufzubauen.6 Ebenso fand sich in der Bevölkerung in den 1950er Jahren eine große Mehrheit, die ein Bundesgesundheitsressort für wichtig erachtete. Eine Meinungsumfrage hatte im Oktober 1953 ergeben: Der
Abb. 1: Quelle: Noelle/Neumann, Jahrbuch 1947–1955, S. 183 | Eigene Darstellung.
4 Vgl. Gesetz über die Errichtung eines Bundesgesundheitsamtes, 27.2.1952, in: BGBl. I, 1952,
Nr. 9, S. 121. 5 Vgl. u. a. die Petition des Verbandes der Ärzte Deutschlands, Bundestag, Drucksache Nr. 848, 17.4.1950. 6 Brese (CDU) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der 134. Sitzung, 12.4.1951, S. 5230. Vgl. auch Woelk, Gesundheit als politisches Problem?, S. 443. Weitere Forderung etwa von Herbert Schneider (DP) 1957. Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht der 4. Sitzung, 5.11.1957, S. 70.
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Wunsch nach einem Gesundheitsministerium auf Bundesebene stand bei den Bürgerinnen und Bürgern an erster Stelle; über vier Fünftel der Befragten hielt ein solches für notwendig (82 Prozent). Bundesministerien etwa für Gesamtdeutsche Fragen, für Vertriebene oder für Familie folgten mit 69, 66 bzw. 37 Prozent.7 Es ist erklärungsbedürftig, dass das Thema Gesundheit dennoch weder mit Gründung der Bundesrepublik 1949 noch in den 1950er Jahren den Stellenwert erhielt, der die Errichtung eines eigenständigen Bundesministeriums rechtfertigte und den Zustand der organisatorischen Zersplitterung auf Bundesebene überwand. Diese Entscheidung bedarf umso mehr einer Erklärung, als die junge Bundesrepublik auch im Hinblick auf die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern alleinstand. So hatten etwa England und Polen bereits 1919 bzw. Frankreich und Finnland 1920 eigenständige Gesundheitsministerien errichtet; andere Staaten wie die Niederlande oder Italien hatten dies Anfang der 1950er Jahre nachgeholt. Auch im deutsch-deutschen Vergleich stand die Bundesrepublik allein. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 die Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen gegründet worden, die den Aufbau zentral lenkte.8 Mit der Gründung der DDR 1949 waren die Fragen des Gesundheitswesens dann zunächst im Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen angesiedelt. Ein Jahr später, 1950, erlangte das Gesundheitsministerium in der DDR seine Eigenständigkeit und der bisherige Minister für Arbeit und Gesundheitswesen, Luitpold Steidle, wurde zum neuen Gesundheitsminister ernannt.9 In der frühen Bundesrepublik – wie auch später in den Debatten der 1960er Jahre – war es jedoch gerade diese Entwicklung in der SBZ und DDR, die Widerstände gegen jede zentralstaatliche Lösung im Gesundheitswesen bestärkte. Die Entwicklungen im Osten Deutschlands wurden genau beobachtet und in der politischen Diskussion nach Belieben mit Warnungen vor Zentralismus oder gar Staatssozialismus im medizinischen Bereich verknüpft, um vor einer weitergehenden Verlagerung von Kompetenzen auf die Bundesebene zu warnen. Doch die Sonderrolle der Bundesrepublik auf dem Feld der Gesundheitsverwaltung war mitnichten allein das Ergebnis des Kalten Kriegs und der politischen Instrumentalisierung der gesundheitspolitischen Diskussion in dieser Zeit. Die Auseinandersetzung über eine Zentralbehörde und deren Zuständigkeiten reicht historisch weit zurück. Bereits im 19. Jahrhundert standen sich Befürworter und Gegner in Deutschland erbittert gegenüber. Die Bruchlinie verlief hierbei in erster Linie zwischen Reich und Einzelstaaten. Während der Reichskanzler 1872 die Errichtung einer zentralen medizinischen Behörde befürwortete, sprachen sich die 7 Noelle/Neumann, Jahrbuch 1947–1955, S. 183. 8 Vgl. z. B. Volksgesundheitswesen im Aufbau, in: Neue Zeit, 23.11.1945, S. 4. 9 Vgl. Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl vor den Abgeordneten
der Volkskammer in Berlin am 15.11.1950, in: Neues Deutschland, 16.11.1950, S. 5. Vgl. zum Ministerium für Gesundheitswesen der DDR künftig die Studie von Jutta Braun (ZZF Potsdam).
GESUNDHEIT ALS UMSTRITTENE BUNDESAUFGABE
Mitglieder der preußischen Medizinaldisputation gegen die Gründung aus. Die Zentralbehörde wurde zum „Spielball erbittert ausgetragener Streitigkeiten“.10 Nachdem schließlich 1876 ein Kaiserliches Gesundheitsamt errichtet worden war, konnte dieses seine materielle und personelle Situation über die Jahre verbessern und Kompetenzen und Arbeitsbereiche hinzugewinnen. Mit der Novemberrevolution und der Ausrufung der parlamentarischen Demokratie 1918 mehrten sich jedoch die Forderungen, ein eigenständiges Reichsministerium für Volksgesundheit zu bilden.11 Die Befürworter kritisierten vor allem die „Organisationslosigkeit“ und Zersplitterung des Gesundheitswesens und mahnten gerade vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und eines desolaten Gesundheitszustands der Deutschen zum schnellen Handeln.12 Hinzu kamen in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die erst jüngst gemachten Erfahrungen mit der sogenannten Spanischen Grippe. Im Zuge der Pandemie waren Entscheidungen über Maßnahmen den Lokalverwaltungen überlassen worden, wobei sich die Behörden – von der lokalen bis zur nationalen Ebene – angesichts der angespannten Stimmungslage in der Bevölkerung gerade während der zweiten Infektionswelle im Herbst 1918 scheuten, umfassend zu intervenieren und die Pandemie marginalisierten. So fürchtete etwa der Reichsgesundheitsrat, der die Reichsregierung beriet, dass die wirtschaftlichen Nachteile von Maßnahmen wie etwa Versammlungsverbote und Schulschließungen zu Unruhe in der Bevölkerung führen würden.13 Neben dem föderalen Staatsaufbau trug auch die Trennung des deutschen Gesundheitswesens in die Bereiche Sozialversicherung und öffentlicher Gesundheitsdienst zur Zersplitterung bei. Die Weichen hierfür waren am Ende des 19. Jahrhunderts gestellt worden. Auf Reichsebene war so zum einen das Innenministerium zuständig. Zum anderen erhielt auch das nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Arbeitsministerium mit der Kompetenz für die Krankenversicherung eine starke Stellung im Bereich Gesundheit.14 Die Verantwortung des Innenministeriums verweist auf eine weitere Besonderheit staatlicher Organisation im Gesundheitswesen, die die Debatte bis in die 1950er und 1960er Jahre beeinflusste: Die öffentliche Gesundheitssicherung war im 19. Jahrhundert zunächst stark von einer polizeilichen Logik geprägt. So konnte der Staat zwar im Sinne der Gefahrenabwehr tätig werden, jedoch blieben viele medizinischen Bereiche einer staat-
10 Vgl. Hüntelmann, Hygiene, S. 54, 71–74, Zitat S. 72. 11 Vgl. ders., S. 134 f.; Nemitz, Bemühungen, S. 424–431. Vgl. im Folgenden auch Protokolle der
Nationalversammlung, 101. Sitzung, 17.10.1919; Protokolle des Reichstags, 86. Sitzung, 16.3.1921, 204. Sitzung, 6.4.1922 und 304. Sitzung, 21.2.1923. 12 Kunert (USPD) vor der Nationalversammlung, Protokoll, 101. Sitzung, 17.10.1919, S. 3221. 13 Vgl. Michels, Die Spanische Grippe, S. 19–24. Vgl. auch Rengeling, Vom geduldigen Ausharren, S. 55–57. 14 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 40–42.
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lichen Aufsicht entzogen und nicht-staatlichen Akteuren wie etwa den Ärzten überlassen.15 Angesichts des umfänglichen Zuständigkeitsbereichs des Reichsministeriums des Innern bemängelten die Kritiker zu Beginn der 1920er Jahre, dass Fragen der Gesundheit dort nur als ein „untergeordneter Nebenzweig eines Ministeriums“ behandelt würden, wie es der Reichstagsabgeordnete und Arzt Dr. Julius Moses (USPD) 1921 vor dem Reichstag kritisierte.16 Moses, der in der Diskussion um die Einrichtung eines Reichsgesundheitsministeriums eine herausragende Stellung einnahm,17 forderte, dass das Gesundheitswesen nicht länger ein „Anhängsel irgendeines Ministeriums, ein Aschenbrödel“ sein dürfe, sondern plädierte wiederholt für ein eigenständiges Reichsministerium. Die Befürworter verwiesen zudem immer wieder auf die Gründung von zentralen Gesundheitsministerien in anderen europäischen Ländern; vor allem England galt ihnen als Vorbild. Reichsinnenminister Erich Koch-Weser (DDP) lehnte bereits in der Nationalversammlung 1919 und erneut 1921 die Vorstöße mit Blick auf den föderalen Staatsaufbau als aussichtslos ab und verwies darauf, dass die Reichsebene „auf dem Gebiet des Gesundheitswesens fast nichts wie eine Gesetzgebungsmaschine“ sei.18 Die Ausführungsmaßnahmen hingegen seien Angelegenheit der Länder und die Durchführung läge in ihrer Verwaltungshoheit. Durch eine Vermehrung der Ministerien auf Reichsebene sah er die Gefahr von Reibungspunkten zu Lasten des Gesundheitswesens.19 Sein Nachfolger Adolf Köster (SPD) war dagegen ein gutes Jahr später, 1922, überzeugt, dass „wir zu einem solchen Reichsgesundheitsministerium kommen“, wenn auch an eine „sofortige Inangriffnahme dieser Aufgabe nicht zu denken“ sei.20 Allein diese Ankündigung löste auf Seiten der Deutschnationalen Volkspartei, ebenso wie bei der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), deutlichen Widerspruch aus; statt ein neues Reichsministerium zu planen, warnten sie vor Experimenten und lobten die Arbeit des Reichsgesundheitsamts, das im November 1918 aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt hervorgegangen war.21 Wie in den 1920er Jahren war es auch nach dem Zweiten Weltkrieg in den Beratungen des Parlamentarischen Rats lange umstritten, ob Gesundheit eine Angelegenheit des Bundes oder doch vielmehr der Länder sein sollte. Mit der 15 Vgl. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 88–100. Zum Ideal der Mediziner
im 19. Jahrhundert vgl. besonders Weidner, Die unpolitische Profession. Weidner zeigt, dass sich das Gesundheitswesen seit den 1860er Jahren reformierte und eine sich auf die „Medizinalpolizei“ fokussierte Gesundheitsverwaltung zunehmend ablöste. Vgl. Weidner, Die unpolitische Profession, S. 216–250. 16 So Dr. Moses im Reichstag, Protokolle, 86. Sitzung, 16.3.1921, S. 3032. Folgendes Zitat ebd. 17 Vgl. zu den zahlreichen Initiativen Moses‘ im Details Nemitz, Bemühungen. 18 So Reichsminister des Innern Koch im Reichstag, Protokoll, 86. Sitzung, 16.3.1921, S. 3034. 19 Vgl. Reichsminister des Innern Koch vor der Nationalversammlung, Protokoll, 101. Sitzung, 17.10.1919, S. 3222. 20 So Reichsminister des Innern Köster im Reichstag, Protokoll, 201. Sitzung, 3.4.1922, S. 6814. 21 Vgl. D. Mumm im Reichstag, Protokoll, 201. Sitzung, 3.4.1922, S. 6823 sowie Pachnicke, ebd., 203. Sitzung, 5.4.1922, S. 6873.
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Entscheidung gegen die Eigenständigkeit und für eine Gesundheitsabteilung im Bundesinnenministerium stärkte der Rat somit die historisch gewachsenen Länderkompetenzen und eine insgesamt begrenzte Verantwortung des Staates für das Gesundheitswesen. Keine eigene Institution zu schaffen, verdeutlicht mithin, welche Wertung die Gesundheitspolitik Ende der 1940er und in den 1950er Jahren erfuhr. Sie nicht prominent im ministeriellen Gefüge zu platzieren, zeigt, dass Fragen der Gesundheit zu diesem Zeitpunkt politisch nicht aufgeladen waren. So hatten etwa mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 gesundheitspolitische Themen und vor allem der Seuchenschutz an Dramatik verloren und stellten nicht mehr ein so großes politisches Problem dar, wie es dies in der Nachkriegszeit gewesen war. Stattdessen stand der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau im Fokus der Politik.22 Die historisch gewachsenen gesundheitspolitischen Traditionen lebten in der Bundesrepublik mithin fort. Dabei waren auch nach 1949 die überkommenen Strukturen – Gesundheit als Teil des Bundesinnenministeriums zu begreifen – ein gewichtiges Argument gegen die Eigenständigkeit der Gesundheitsabteilung. So hatte Innenminister Robert Lehr (CDU) 1952 gegenüber dem Bundeskanzleramt die Auffassung vertreten, es könne nur ein „Gesundheitsministerium im eingeschränkten Sinne“ geben, das dem Umfang in etwa der BMI-Gesundheitsabteilung entspräche, was aus seiner Sicht letztlich gegen eine Ausgliederung sprach.23 Mitte der 1950er Jahre gab es zudem Stimmen, die in der Vermehrung von Bundesressorts eine Gefahr erkannten. So hatte der CDU-Abgeordnete Dr. Bernhard Bergmeyer, ein promovierter Jurist, sich gegen die „Sonderwünsche von Interessengruppen“ wie etwa den Ärzten nach einem Gesundheitsministerium ausgesprochen.24 Vielmehr gehe es darum, so Bergmeyer, diesen „luxuriösen Verwaltungsaufbau“ durch Vereinfachung und Ausgabensenkung zu beenden.25 Schließlich muss auch das Erbe des NS-Gesundheitswesens mit betrachtet werden. Denn die Entscheidung gegen ein eigenständiges Ministerium erklärte sich aus mehr als fiskalischen Vorbehalten oder dem Anknüpfen an organisatorische Traditionen. Die Gesundheitspolitiker als wichtige Akteure ihrer Zeit waren in der übergroßen Mehrheit von ihrer positiven oder zumindest doch unpolitischen Rolle im Nationalsozialismus überzeugt.26 Ebenso positiv gedeutet wurde von ihnen die Neuordnung des Gesundheitswesens unter den Nationalsozialisten; ein Problembewusstsein für das Erbe des NS-Gesundheitswesens existierte bei 22 Vgl. Woelk/Halling, Konrad Adenauer, S. 88; Woelk, Gesundheit als politisches Problem?,
S. 455. Vgl. auch Ellerbrock, Healing Democracy. 23 Lehr an Staatssekretär (= StS) des Bundeskanzleramts (= BKAmt), 10.2.1952, in: Bundesarchiv (= BArch), B 142/773. Vgl. auch Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 42. 24 Bergmeyer (CDU) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der 110. Sitzung, 28.10.1955, S. 5982. 25 ebd., S. 5980. 26 Vgl. exemplarisch für diese Sichtweise den Vortrag von Franz Redeker, dem ersten Leiter der Gesundheitsabteilung im BMI, aus dem Jahr 1949: Redeker, Magister in Physica.
313
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ihnen nicht oder das Thema wurde beschwiegen.27 Obgleich sie vielfach Träger des nationalsozialistischen Systems gewesen waren, ermöglichte es die Deutung als unbelastete Fachexperten, dass Ärzte und andere naturwissenschaftlich-technische Spezialisten an ihre Karrieren nach Kriegsende anknüpfen konnten. So blieb unhinterfragt, welche Verantwortung etwa Amtsärzte in den staatlichen Gesundheitsämtern für nationalsozialistische Verbrechen trugen.28 Im Falle des langjährigen Abteilungsleiters im Bundesgesundheitsministerium Dr. Josef Stralau nahm die Staatsanwaltsanwaltschaft Dortmund erst im Jahr 1989 Ermittlungen auf, um seiner Rolle bei der Tötung von mindestens sieben Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren durch Bedienstete der Heil- und Pflegeanstalt St. Vincenzhaus in Oberhausen im Jahr 1941 nachzugehen.29 Das Schweigen und eine positive Deutung der jüngsten Vergangenheit wurde durch die Entscheidung gegen ein Gesundheitsressort auf Bundesebene in den 1950er Jahren erleichtert. Mit ihr wurde das Thema Gesundheit eben gerade nicht politisch aufgeladen, sondern es lief mehr oder minder unter dem Radar des Bundesinnenministeriums. Letztlich kann diese Entscheidung so als indirekte Antwort auf das Erbe des NS-Gesundheitswesens interpretiert werden, das im Dienste der nationalsozialistischen Politik für Medizinverbrechen – von den Zwangssterilisationen über Menschenversuche bis hin zum Krankenmord – verantwortlich zeichnete. Insgesamt betrachtet, gibt es mithin nicht eine Erklärung für die späte Gründung des Ressorts auf Seiten der Bundesrepublik, sondern es müssen die historisch gewachsenen Traditionen ebenso in den Blick genommen werden wie die sich verstärkende Kritik an der dezentralen Organisation und der Zersplitterung des Gesundheitswesens. Schließlich zeigt sich, dass die Gründung einer Zentralverwaltung zugleich nicht allein zweckrational aus sachlichen Notwendigkeiten heraus entschieden wurde, sondern weitere Umstände diese Entscheidung bedingten.
II. Verwaltungsalltag in der Gründungszeit Was den Befürwortern eines eigenständigen Ministeriums 1949 und in den 1950er Jahren nicht gelang, schien zunächst auch nach der Bundestagswahl 1961 nicht von Erfolg gekrönt. Die Koalitionsverhandlungen waren weitgehend abgeschlossen 27 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 43 f. 28 Vgl. zu Experten im NS u. a.: Raphael, Radikales Ordnungsdenken; für die Phase des Wieder-
aufbaus vgl. Palm/Stange, Vergangenheiten und Prägungen des Personals des Bundesinnenministeriums, S. 164 f., 171. 29 Der Vorgang wurde ein Jahr später allerdings eingestellt. Vgl. Archiv des IfZ, Die Verfolgung von NS-Verbrechen durch deutsche Justizbehörden seit 1945. Datenbank aller Strafverfahren und Inventar der Verfahrensakten, hier Zentralstelle Dortmund, 15.6.1990, AZ: 45 Js 34/90 (45 Ws 1/89), Einstellungsverfügung vom 15.6.1990 sowie Karteikarte Stralau Bundesarchiv Ludwigsburg. Vgl. auch Richter, Von Seilschaften und Netzwerken, S. 566 sowie künftig die Forschungen von Lutz Kreller (IfZ München–Berlin) zu diesem Fall.
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und die Ministerposten verteilt, als in letzter Minute doch die Entscheidung zur Errichtung eines Bundesgesundheitsministeriums fiel. Erst der Protest der weiblichen CDU-Bundestagsabgeordneten, die mit einer Art Sitzstreik im Bundeskanzleramt Adenauer an sein Versprechen erinnerten, eine Frau ins Kabinett zu berufen, gab den finalen Anstoß zur Gründung.30 Angesichts der späten Kehrtwende in den Koalitionsverhandlungen verwundert es wenig, dass sich Kritiker des Ressorts unmittelbar zu Wort meldeten. Sie hoben zum einen auf die Personalfrage ab – mit Dr. Elisabeth Schwarzhaupt hatte schließlich erstmals in der bundesdeutschen Geschichte 1961 eine Frau das Amt eines Bundesministers übernommen.31 Entsprechend wurde das BMGes als „Verlegenheitsbehörde zur Befriedigung der Frauenwünsche“ kritisiert, wie Der Spiegel schrieb.32 Zum anderen warnten Kritiker vor einer „Verstaatlichung“. Der Spiegel zitierte den neuen Justizminister Wolfgang Stammberger (FDP), der vier Jahre lang den Vorsitz des Bundestagsausschusses für Gesundheitswesen innegehabt hatte, mit den Worten: „So ein Gesundheitsministerium führt doch am Ende zu nichts anderem als zu einer Verstaatlichung der Gesundheitspflege; von der Wiege bis zur Bahre wird der Bürger immer mehr verwaltet.“33 Bereits diese kritischen Stimmen zeigen, dass das neu gegründete Ressort und die neue Bundesministerin vor besonderen Herausforderungen standen und sich in den kommenden Jahren stetig zu beweisen hatten. Angesichts dieser späten Gründung eines Bundesministeriums lässt sich nach den Besonderheiten in der Verwaltungsarbeit und den kommunikativen Praxen fragen. Das Bundesgesundheitsministerium eignet sich so als Fallstudie für eine Zeit, als sich in der Bundesrepublik das Gefüge der zentralen Bundesministerien bereits etabliert hatte. Zwar durchliefen (und durchlaufen) grundsätzlich alle Verwaltungen permanente Anpassungsprozesse und auch Bundestagswahlen und Ministerwechsel führten zu Phasen des kurzen Stillstands und des Innehaltens, die eine Neujustierung ministerieller Hierarchien und Kommunikationswege mit sich brachten (und bringen).34 Eine Neugründung hingegen bedeutete im Verwaltungsalltag nicht nur die Neuausrichtung und Anpassung an einen neuen Minister oder eine Ministerin an der Spitze, sondern eine grundsätzliche Offenheit – hinsichtlich der Inhalte, der Kommunikationsstrukturen und des Personals. Ebenjene Offenheit in der Gründungsphase von Verwaltungen betonten bereits die Bielefelder Soziologen Stucke, Glagow und Schimank Mitte der 1980er Jahre, als sie am Beispiel des ebenso 1961 neu entstandenen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) einige theoretische Überlegungen zur Aufbauphase politischer Verwaltungen veröffentlichten.35 30 Vgl. Woelk/Halling, Konrad Adenauer, S. 86 f.; Bösch, Die Adenauer-CDU, S. 304. 31 „Bundesminister“ war dabei die offizielle Bezeichnung für die neue Bundesministerin, die
sich auch im Schriftverkehr an die Ministerin findet. 32 Bis zur Bahre, in: Der Spiegel, Nr. 48, 22.11.1961. 33 Ebd. 34 Vgl. hierzu Luhmann, Der neue Chef. 35 Vgl. Stucke/Glagow/Schimank, Regelgenerierung in der Aufbauphase politischer Verwaltungen.
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Um handlungsfähig zu werden, musste das neue Ressort seinen Platz im ministeriellen und föderalen Gefüge erst finden. Wie die Zuständigkeiten, Kompetenzen und die personelle Zusammensetzung am Schluss aber im Konkreten aussahen, war in der Frühphase ungeklärt. Selbst nachdem mit dem Erlass des Bundeskanzlers 1962 die Kompetenzabgrenzungen festgeschrieben wurden und die formale Gründungsphase abgeschlossen worden war,36 schlossen sich langanhaltende Verhandlungen über die Zuständigkeitsverteilungen, die Frage der Federführung und vor allem über die Finanzmittel in den 1960er Jahren an. Diese zeigen, dass der Widerstand anderer Ressorts, aber schließlich vor allem der Länder gegenüber dem neuen Ministerium stark war. Den Rahmen für das neue Ministerium hatte die Regierungserklärung vom 29. November 1961 gegeben. Verlesen im Bundestag von Ludwig Erhard (CDU) hatte dieser die Einrichtung des neuen Ressorts wie folgt begründet: Angesichts der großen Bedeutung, die die Erhaltung der Gesundheit für den einzelnen und für unser Volk hat, hat sich die Bundesregierung entschlossen, ein Bundesministerium für Gesundheitswesen einzurichten. Zu dessen vordringlichen Aufgaben wird es gehören, sich der Fragen der Reinhaltung des Wassers und der Luft […] sowie der Bekämpfung des Lärms anzunehmen.37
Als zentrale Aufgaben definierte die Bundesregierung mithin die Felder Wasser, Luft und Lärm und stellte sie an die erste Stelle noch vor Themen wie die Verbesserung der Krankenhäuser, die Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind oder die Reform des Lebensmittelrechts, die Erhard im Folgenden aufzählte. Wenngleich die Abteilung I „Humanmedizin“ etwa mit den Themen Arzneimittel- und Apothekenwesen – aus dem Bundesinnenministerium kommend – den Kern des neuen Gesundheitsministeriums bildete und den Großteil des Gründungspersonals stellte, erhielt das BMGes weitere Politikfelder. Die Frage nach den Kompetenzen verdeutlicht, wie die Bundesregierung und im Einzelnen anschließend die Ministerialverwaltung Gesundheitspolitik Anfang der 1960er Jahre neu zu definieren versuchte. Mit der Neugründung des Ressorts fasste sie – anders als in den zurückliegenden Legislaturperioden in den 1950er Jahren – den Verantwortungsbereich des Staates im Gesundheitswesen weiter. Deutlich wird dies durch die neuen Handlungsfelder, die sich in der Regierungserklärung andeuteten. Das neue Ressort besetzte zum einen das Thema Wasserwirtschaft – eine Zuständigkeit, die vom Bundesatomministerium abgegeben wurde und die mit Luft- und Lärmfragen zu einer eigenständigen Abteilung III „Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung“ verschmolzen 36 Vgl. Erlass des Bundeskanzlers, 29.1.1962, in: BArch, B 142/5082, Bl. 19–21. 37 Regierungserklärung Konrad Adenauers zur 4. Legislaturperiode, verlesen von Vize-Kanzler
Ludwig Erhard. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht der 5. Sitzung, 29.11.1961, S. 24 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch BArch, B 142/2993.
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wurde.38 Ziel staatlicher Regulierung und Kontrollen war es, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger vor industriellen Umweltgefahren zu schützen, wie sie sich etwa durch verunreinigtes Wasser und verschmutzte Luft sowie Straßenlärm ergaben. Eine der ersten Amtshandlungen galt daher angesichts von Schaumbergen auf den Flüssen der Reinhaltung von Wasser von bestimmten Detergentien in Wasch- und Reinigungsmitteln und dem unzureichend geklärten Trinkwasser.39 Ein zweiter wichtiger Bereich wurde mit der im Juni 1963 gegründeten Abteilung II („Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin“) der Schutz vor potentiellen Gesundheitsgefährdungen im Lebensmittelbereich. Angesichts der zunehmend industriellen Herstellung von Lebensmitteln und einer Internationalisierung der Warenmärkte (mit langen Transportwegen) wurden staatliche Aufgaben im Bereich Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin ausgeweitet. Der gesundheitliche Verbraucherschutz umfasste vor allem neue oder verschärfte Regeln zur Kontrolle und Überwachung von Lebensmitteln und ihre Verschönerung und Konservierung durch Fremdstoffe. Dieser verstärkte staatliche Eingriff zugunsten der Gesundheit beziehungsweise gegen mögliche Gesundheitsgefahren stand zunächst im Gegensatz zum Rückbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes, wie er für die Bundesrepublik maßgeblich war. Während auf der einen Seite Kompetenzen zunahmen, waren auf der anderen Seite die Grenzen des staatlichen Eingreifens in den als persönlich definierten Bereich der Bürger sehr eng. Umstritten blieb die Gewichtung zwischen individueller Verantwortung des Einzelnen und dem berechtigten Interesse des Staates zur Regulierung. Ebenso kam das Ressort in Konflikt mit den Ländern, die um ihre Kompetenzen fürchteten und aus grundsätzlichen Erwägungen heraus Gesetzesinitiativen verhinderten. Das betraf vor allem den Bereich der gesundheitlichen Fürsorge und Prävention, wobei das bekannteste Beispiel die Auseinandersetzung über das sogenannte Bundesjugendzahnpflegegesetz war. Das BMGes argumentierte, dass zur öffentlichen Fürsorge nicht nur die Armenfürsorge, sondern auch andere Fürsorgezweige wie der Schutz der Mutterschaft, die Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge gehöre und damit auch Leistungen der vorbeugenden und nachgehenden Gesundheitshilfe – wie eben die Jugendzahnpflege.40 Die Länder hingegen befanden mehrheitlich, dass das Grundgesetz anders als die Weimarer Reichsverfassung diese Kompetenz nicht habe und lehnten das Gesetz 1964 ab.
38 Die Abteilung firmierte seit dem 14.6.1962 als Abteilung II unter dem Namen „Wasser, Luft,
Lärm“, bevor sie am 8.11.1962 in „Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung“ umbenannt wurde (Hausmitteilung 16/62). Mit der Schaffung der Abteilung II („Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin“) am 10.6.1963 wurde sie zur Abteilung III (Hausmitteilung 11/63). 39 Vgl. zur Arbeit der Abteilung erste Ansätze u. a. Vierhaus, Umweltbewußtsein von oben, S. 101 f.; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 108–115. 40 Vgl. Woelk, Gesundheit als politisches Problem?, S. 486–512.
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Angesichts der Blockadehaltung der Länder befürchtete die Bundesgesundheitsministerin Schwarzhaupt, dass, sollten diese Gründe für die Ablehnung unwidersprochen bleiben, der Bund aus einem wichtigen Bereich der Gesundheitspolitik verdrängt werde.41 Die Ablehnung im Bundesrat beflügelte schließlich die Debatte um eine Grundgesetzänderung Mitte/Ende der 1960er Jahre, im Zuge derer nicht zuletzt ein großer Teil der deutschen Ärzteschaft der Bundesregierung ein „zentralistisches Einheitskonzept“ vorwarf und in den Vorschlägen eine „Bankrotterklärung der föderativen Gesundheitspolitik“ sah.42 Doch nicht nur nach außen – gegenüber anderen Ministerien sowie den Ländern –, auch innerhalb des BMGes gestaltete sich die Strukturbildung schwierig und zog sich über Monate, wenn nicht Jahre, hin. Dabei war in der Gründungsphase die Frage der personellen Besetzung von Leitungspositionen zentraler Bestandteil des Verwaltungsaufbaus. Im Vergleich zum ebenfalls neu gegründeten BMZ unterschied sich die Personalkonstellation allerdings fundamental: Gab es im Bereich der Entwicklungspolitik zum Gründungszeitpunkt keine etablierte Gruppe von Experten – zumal mit Verwaltungserfahrung in der Ministerialbürokratie –,43 war diese mit der Ärzteschaft im Gesundheitsbereich vorhanden und forderte vehe-
Abb. 2: Eigene Auswertung anhand der Strukturpläne und Personalakten. Angaben in Prozent.
41 Schwarzhaupt an StS BKAmt, 12.3.1964, in: BArch, B 189/724, Bl. 321–324. 42 Bankrotterklärung föderativer Gesundheitspolitik?, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 65 (1968),
H. 18, 4.5.1968, in: BArch, B 189/799, Bl. 409. 43 Vgl. Stucke/Glagow/Schimank, Regelgenerierung in der Aufbauphase politischer Verwaltungen.
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ment eine Führungsrolle im neuen Ressort. Angesichts der neuen Kompetenzzuteilungen gehörten neben den Medizinern weitere Expertengruppen zum Personalbestand. Bis Anfang der 1970er Jahre waren dies insgesamt betrachtet auf den Leitungsebenen (ab Referatsleiter aufwärts) ein gutes Drittel Juristen, ein knappes Viertel Mediziner, aber auch Ingenieure (9 Prozent), Veterinärmediziner (7 Prozent), Chemiker (6 Prozent) und Apotheker (4 Prozent).44 Diese Expertengruppen rangen in der Frühzeit um Einfluss innerhalb des Ressorts. Das betraf zunächst die politisch hoch umstrittene Frage der Besetzung des Staatssekretärspostens und damit des höchsten Beamten und Amtschefs. Nachdem bereits mit der Berufung von Elisabeth Schwarzhaupt die Ministeriumsleitung 1961 an eine promovierte Juristin vergeben worden war, berührte im Folgenden die Besetzung des Staatssekretärspostens das Selbstverständnis der Ärzteschaft um so stärker und war nicht nur symbolischer Art. Da mit der Neugründung des Ressorts die Besetzung zugleich auch die Koalitionsarithmetik zwischen CDU und FDP aus dem Gleichgewicht zu werfen drohte, zog sich die Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit mehr als ein Jahr lang hin.45 Die Bundesärztekammer hatte gleich nach Ressortgründung in einem Schreiben an Bundeskanzler Konrad Adenauer ihre Forderung nach einem Mediziner mit konkreten, aus ihrer Sicht geeigneten Personalvorschlägen untermauert und etwa den Leiter der Gesundheitsabteilung im BMI Dr. Josef Stralau, Dr. med. Klaus Dehler, Mitglied des Bayrischen Landtags (und Neffe des Bundestagsvizepräsidenten Thomas Dehler, FDP) oder Dr. med. Rolf Schlögell, den Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ins Gespräch gebracht.46 Die FDP ihrerseits schlug zunächst den gesundheitspolitischen Sprecher der Berliner FDP, den Arzt Gerhart Habenicht vor. Auch der Präsident der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, der frühere Präsident des Bundesgesundheitsamts und zwischenzeitliche Leiter der Gesundheitsabteilung im BMI Franz Klose brachte gegenüber dem Bundeskanzleramt weitere Mediziner als Kandidaten ins Spiel.47 Die neue Ministerin befand hingegen, dass es zwar gut sei, wenn der Staatssekretär Arzt wäre. Jedoch machte sie daraus keine Bedingung, da „seine Aufgabe […] nicht eine ärztliche“ sei, sondern „die Verwaltung dieses Hauses in die Hand zu bekommen und zu leiten.“48 Entsprechend lehnte die Ministerin einige Kandidaten wegen fehlender Verwaltungserfahrung ab; andere verzichteten von selbst.49 Dass nach langer Suche mit Walter Bargatzky schließlich ein Jurist und Experte 44 Der Anteil sonstiger Berufe war mit 14 Prozent relativ hoch. Hierzu zählten etwa Politologen,
Journalisten oder Volkswirte. Vgl. eigene Auswertung anhand der Strukturpläne und Personalakten. 45 Vgl. zu den Absprachen im Zuge der Koalitionsverhandlungen Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 49–51. 46 Vgl. Fromm an Adenauer, 9.12.1961, in: BArch, B 136/4705. 47 Vgl. Klose an Globke, 14.12.1962, in: BArch, B 136/4705. 48 Schwarzhaupt auf der Pressekonferenz, 27.9.1962, in: BArch, B 145 I F/146 (Fiche 126). 49 Vgl. Woelk, Gesundheit als politisches Problem?, S. 456; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, 51.
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für Öffentliche Sicherheit für die ersten Jahre berufen wurde und damit nach der Ministerin ein zweiter Jurist in der höchsten Leitungsebene wirkte, stand ganz in der Tradition einer Gesundheitsverwaltung, die eng mit gesundheitspolizeilichen Fragen der Gefahrenabwehr verbunden war, stieß aber unter Medizinern auf harsche Kritik. Die Auseinandersetzung über die fachliche Besetzung der Leitung der Zentralbehörde im Gesundheitswesen hatte eine lange historische Tradition und Mediziner standen Juristen und Verwaltungsbeamten misstrauisch gegenüber. Bereits im Reichstag war zu Beginn der 1920er Jahre die Frage der Stellenbesetzung leidenschaftlich debattiert worden. Die Ärzteschaft, unterstützt durch USPD, später SPD, plädierte dafür, dass ein „Fachmann an der Spitze“ eines neuen Reichsgesundheitsministeriums stehen solle.50 Dieser Fachmann konnte aus dieser Perspektive nur ein Arzt sein. Der Abgeordnete Dr. Julius Moses führte weiter aus: „Ein Jurist und Verwaltungsbeamter ist nach meiner Überzeugung gar nicht in der Lage, auf diesem […] Gebiete der Volksgesundheit irgendwie eine Initiative aus eigenem heraus zu ergreifen“. Mehr noch warnte er vor den Gefahren, die es mit sich brächte, das „Juristenmonopol auch auf Fragen der Gesundung und Gesunderhaltung unseres Volkes auszudehnen respektive aufrechtzuerhalten“, weshalb ausschließlich ein Arzt geeignet sei, diese Aufgabe zu übernehmen. Mit anderen Worten, im Kern aber mit den gleichen Argumenten, kritisierten Mediziner die Besetzung der Führungspositionen zu Beginn der 1960er Jahre, obgleich der Blick auf die Zahlen zeigte, dass von einem Juristenmonopol unter dem Leitungspersonal zu keiner Zeit gesprochen werden konnte. Der Abteilungsleiter Humanmedizin im Bundesgesundheitsministerium Josef Stralau stimmte in seiner Kritik mit den Vertretern der Fachverbände überein, die in einem Nicht-Mediziner als Staatssekretär eine „nicht gerechtfertigte Kränkung und Zurückstellung“ sahen.51 Heinz Reuter, Präsident der Akademie für Staatsmedizin in Düsseldorf und späterer Leiter der Gesundheitsabteilung in Nordrhein-Westfalen, brachte es mit Blick auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der sämtliche leitende Stellen mit Ärzten besetzt seien, nochmals deutlicher auf den Punkt, als er angesichts der Personalentscheidung im BMGes fragte, warum „unter 80.000 Ärzten in der Bundesrepublik kein einziger Arzt als geeignet angesehen wurde, den Posten eines Gesundheitsministers oder eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium zu bekleiden“. 52 Der Disput fand auch in der Presse Widerhall: Die Welt hatte angesichts der Personalie Bargatzky in einem Leitartikel bemerkt, dass über dem Eingang zum neuen Ministerium wohl die unsichtbaren Buchstaben „Off limits für Ärzte“ prang-
50 So Dr. Moses im Reichstag, Protokoll, 1. LP 1920/1922, 86. Sitzung, 16.3.1921, S. 3033. Folgende
Zitate ebd. 51 Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege, 4.1.1963, in: BArch, B 136/4705. 52 Heinz Reuter, 1964, zit.n. Woelk, Gesundheit als politisches Problem?, S. 457.
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ten.53 Dass zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1963, im Ministerium insgesamt ein knappes Drittel der leitenden Stellen, in der Abteilung Humanmedizin sogar über 70 Prozent, mit Medizinern besetzt war, spielte angesichts des Streits, wer den Staatssekretär stellen sollte, keine Rolle.
Abb. 3: Eigene Auswertung anhand der Strukturpläne und Personalakten.
Diese klare Dominanz von Medizinern auf den Leitungspositionen in der Abteilung I (Humanmedizin) blieb bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre bestehen, wie die statistische Auswertung zeigt. Noch 1968 waren dort immerhin rund zwei Drittel (67 Prozent) Mediziner in leitender Position; zugleich war der Anteil der Juristen auf 22 Prozent gestiegen. Erst bis 1972 fiel der Anteil der Ärzte deutlich und Mediziner und Juristen stellten in der Abteilung mit jeweils rund 43 Prozent gleich große Gruppen des Leitungspersonals. Doch es griffe zu kurz, den Disput allein auf den Gegensatz Juristen versus Mediziner zurückzuführen. Mit dem Beginn der Großen Koalition 1966 wechselte die Leitung des Bundesgesundheitsministeriums; fortan war es nicht mehr CDU-, sondern SPD-geführt. Die neue Ministerin Käte Strobel berief mit Prof. Dr. Ludwig von Manger-Koenig einen Arzt zum Staatssekretär, einen Experten auf dem 53 So berichtete es die DDR-Zeitung Neue Zeit, die den Disput wiederum für die eigene Kam-
pagne gegen die bundesdeutsche Gesundheitspolitik nutzte. Siehe „Mythos“ und „Sachfremdheit“, in: Neue Zeit, 15.2.1963, S. 2.
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Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens. Aus diesem Grund blieb auch diese Personalie hoch umstritten. Manger-Koenig stand aus Sicht der niedergelassenen Ärzte unter Sozialismusverdacht und die Standesvertreter der freien Ärzteschaft beschworen die Gefahr, dass die neue Ministeriumsspitze einen „Staatsgesundheitsdienst“ errichtete.54 Doch was bedeutete die spezifische Personalzusammensetzung für die alltägliche Verwaltungsarbeit? Zunächst ist festzuhalten, dass leitende Beamtinnen und Beamte über große Expertise auf ihrem jeweiligen Fachgebiet verfügten. Doch wie es die erste Ministerin bereits angesichts der Personalfrage bezüglich des Staatssekretärs angedeutet hatte, benötigte das reibungslose Funktionieren einer Ministerialverwaltung zweierlei: Fachwissen und Verwaltungskenntnisse. Dass die Fachexperten über ersteres verfügten, unterstrich Schwarzhaupt in einer Stellungnahme für das Bundeskanzleramt 1963. Dagegen bemängelte die Ministerin, dass es an der Umsetzung des Wissens in Gesetzesentwürfe fehlte: „Es wird viel untersucht und beraten, aber nur wenig geregelt.“55 Die Ministerin hielt manche Beamte, die das Ministerium hatte übernehmen müssen, für die Arbeit in einer Bundesverwaltung für teils unzureichend geeignet. Der Versuch, dieses Manko auszugleichen, lässt sich an der Personalpolitik der 1960er Jahre ablesen. Um die Verwaltung zu professionalisieren und ein Gleichgewicht zwischen Fachexpertise und Verwaltungskenntnissen zu schaffen, stieg der Anteil an Juristinnen und Juristen in Leitungspositionen überproportional an, wie die Abbildung 3 exemplarisch zeigt. In der alltäglichen Verwaltungsarbeit brachte die personelle Besetzung der Anfangszeit zudem eine, wie Schwarzhaupt bemängelte, „schlechte Optik im täglichen Geschäftsverkehr“. 56 Das zeigte sich etwa in der Korrespondenz der eigenen Ministerialbeamten. Briefentwürfe waren häufig mangelhaft und mussten durch die Abteilungsleiter, den Staatssekretär oder gar die Ministerin selbst redigiert werden. Die fehlende verwaltungsfachliche Eignung war allerdings nur eine Seite der Medaille. Die andere war die anfangs nur unzureichende personelle Ausstattung. So waren im ersten Jahr nur knapp zwei Drittel der Stellen besetzt. Die personellen Lücken der Anfangszeit führten im Alltag dazu, dass Beamtinnen und Beamte neben dem eigenen Referat auch weitere vertretungsweise zu leiten hatten. Nicht zuletzt war mancher Referatsleiter angesichts der Gesetzgebungs- und Gremienarbeit sowie der umfangreichen Korrespondenz überfordert; einige Referentinnen und Referenten verbrachten zudem angesichts internationaler Verhandlungen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Viertel ihrer Dienstzeit im Ausland.57 54 Ein Arzt verärgert die Ärzte, in: SZ, 13.12.1968. Vgl. auch Woelk, Gesundheit als politisches
Problem?, S. 458. 55 Über die Lage des Bundesministeriums für Gesundheitswesen, März 1963, in: BArch, B 136/4705. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd.
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Wie die Führungspersonalfragen waren auch organisatorische Entscheidungen nicht weniger umstritten. Zum einen betraf dies in der Gründungsphase den Zuschnitt des Ressorts und somit die Frage, welche Zuständigkeiten das BMGes von anderen Bundesministerien übernehmen sollte. Zum anderen war die strukturelle Frage, welche Bereiche durch die Bildung von eigenständigen Abteilungen besonderes Gewicht erhalten sollten, ebenfalls umstritten und über längere Zeit ungelöst. Diese Frage betraf vor allem jene Organisationsstrukturen, die das BMGes aus dem Bundesinnenministerium übernommen hatte, also die Bereiche Humanmedizin und das Lebensmittel- und Veterinärwesen. Letzteres war 1949 durch einen Kabinettsbeschluss im BMI angesiedelt worden; die Entscheidung wurde flankiert von einem Gentlemen’s Agreement zwischen dem Bundeslandwirtschaftsminister und dem BMI-Staatssekretär Ritter von Lex (CSU), das die Ansiedelung der Kompetenzen im Innenministerium einvernehmlich klärte.58 Beide Bereiche – Humanmedizin und Veterinärwesen – waren über die 1950er Jahre hinweg zunächst in einer gemeinsamen Abteilung zusammengefasst, wobei das Schwergewicht auf der Unterabteilung Humanmedizin lag. Interessengruppen wie etwa die Deutsche Tierärzteschaft votierten daher bereits frühzeitig dafür, das Veterinärwesen in einer eigenständigen Abteilung zu organisieren.59 Zu Beginn der 1960er Jahre sah angesichts des Neuaufbaus des Gesundheitsressorts nun auch das Leitungspersonal im Lebensmittelbereich die Chance gekommen, Veränderungen zu bewirken. Prof. Dr. Werner Gabel, Referatsleiter und in diesem Falle ein Chemiker, der zuvor im BMI tätig gewesen war, übte harsche Kritik an der, wie er es ausdrückte, nunmehr „12jährigen unfruchtbaren Tiefstapelei“, die sich aus seiner Sicht im neuen Ressort fortsetze.60 Er forderte gegenüber dem Unterabteilungsleiter Edmund Forschbach einen vehementen Einsatz für die Aufwertung des Lebensmittelwesens zu einer selbständigen Abteilung. Andernfalls sah der Chemiker die Gefahr, dass andere, wendigere Stellen im neuen Ministerium „irreversible Organisationsentwicklungen“ anbahnten und betonte: „Was wir jetzt nicht erreichen, erreichen wir nie mehr.“61 Der Streit über Organisationsfragen zeigte zudem, dass die Frontstellung zwischen den Expertengruppen im neuen Ressort nicht nur Ärzte und Juristen, sondern auch Chemiker, Veterinärmediziner und andere Professionen betraf. Die Vehemenz der Forderung seitens des Chemikers brachte Erfolg und eine selbständige Abteilung, die sich fortan vornehmlich der Lebensmittelhygiene, der gesundheitlichen Ernährungsberatung und dem gesundheitlichen Verbraucherschutz widmete. Schließlich war 1964 die Phase der Strukturbildung abgeschlossen. Die gefundene Verwaltungsstruktur blieb bis zur Bildung der sozial-liberalen Koalition 1969 weitgehend bestehen: Die drei Abteilungen waren verbunden über 58 59 60 61
Vgl. BMI Referat IV B 4 an Abteilungsleiter IV, 4.9.1961, in: BArch, B 142/5082, Bl. 3–5. Vgl. ebd. Gabel an Referenten B 1/1, 6.2.1962, in: BArch, B 142/5082, Bl. 47 f. Ebd.
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das gemeinsame Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Über dieses allgemeine Ziel hinaus, war die Ministerialbürokratie aber zerklüftet. Zum einen waren die Abteilungen hinsichtlich der Verteilung der Professionen stark fragmentiert; zum anderen war der Austausch zwischen den Abteilungen gering. In der alltäglichen Verwaltungsarbeit erscheint das Ressort in der Tat weniger wie ein, sondern eher wie drei Ministerien. Dies erklärt sich einerseits durch das Misstrauen seitens der Fachexperten gegenüber einem (vermeintlich) zu großen Einfluss anderer Professionen im Haus, wie es sich bei der Haltung der Mediziner gegenüber der Einstellung von Juristen gezeigt hatte. Andererseits verstärkte sich die Situation durch die räumliche Verteilung der Verwaltung auf zwischenzeitlich sechs verschiedene Standorte:62 Anfang der 1960er Jahre erhielt das BMGes seinen Hauptsitz im neu errichteten Gebäude in der Deutschherrenstraße in Bad Godesberg. Hier bezog die Ministerin mit der Leitungsebene neue Räume und es beherbergte mit der Abteilung I ebenso die Humanmedizin. Die weiteren Abteilungen Wasser, Luft und Lärm (später „Umwelt“) sowie der Verbraucherschutz waren jedoch weiterhin je separat untergebracht. Hatte der Soziologe Horst Bosetzky in den 1970er und 1980er Jahren bereits Kämpfe etwa um „Statussymbole wie Räume, Teppiche, Gardinen, Schreibtische, Lampen, um bessere Arbeit und Arbeitsbedingungen“ für Verwaltungen als kennzeichnend beschrieben,63 so kann dies für die Raumverteilung und die Standorte in gleichem, vielleicht sogar noch in größerem Maße gelten. Nach der Gründung war das BMGes zunächst provisorisch im Bundesinnenministerium untergebracht worden, was bedeutete, dass in der Anfangszeit eine große Raumknappheit herrschte, die zu Konflikten mit dem BMI führte. So sah sich Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) selbst dazu genötigt, auf einer Abteilungsleiterbesprechung im BMI einen Kompromiss zur Raumverteilung anzumahnen.64 Erst mit dem Umzug des BMGes 1964 entspannte sich dieser Konflikt. Vor allem für die Abteilung I versprach die räumliche Nähe zur Ministerin und der Ministeriumsleitung Zugang zur Macht und erleichterte es, Gehör zu finden. Doch auch mit Blick auf die alltägliche Verwaltungsarbeit und die Kommunikationsstrukturen im Haus schuf die räumliche Trennung Probleme. Dies wird beispielhaft etwa bei der Organisation von Kurierdiensten zwischen den Häusern und den Umlaufmappen deutlich. Um die Verteilung der Hauspost oder auch externer Dienstschreiben zu gewährleisten, waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Fahrten des Kurierwagens zwischen den verschiedenen Standorten angewiesen. Doch gerade in der Frühzeit war die Abteilung Z, die im Ministerium zentrale Steuerungs- und Dienstleistungsaufgaben innehatte, regelmäßig damit beschäftigt, den jeweils aktuellen Fahrplan des Kurierwagens dem gesamten Personal bekanntzumachen, das sich mitunter über unbekannte Zeiten beschwert hatte. Um dennoch wich62 Vgl. Hausmitteilung Nr. 17/63, 14.6.1963, in: BArch, B 142/2861. 63 Bosetzky, Mikropolitik, S. 2. 64 Vgl. BMI, Abteilungsleiterbesprechung, 12.02.1962, in: BArch, N 1407/141.
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tige Dienstpost aufzugeben, schilderte ein Referatsleiter seine Bemühungen, verbunden mit deutlicher Kritik: Er sei zwar „gern bereit, weiterhin den Ablauf der nötigsten Dienstgeschäfte durch groschenweise frische Briefmarkenopfer zu unterstützen, aber für richtig kann ich das System nicht halten.“65 Andere Verwaltungsprobleme der Aufbauzeit stellten die gebräuchlichen Umlaufmappen dar. Auch über ein Jahr nach Gründung verwendete das Bundesgesundheitsministerium weiterhin Umlaufmappen des BMI, was zu Dopplungen in den Referatsbezeichnungen und Irrläufern führte. Um dies zu verhindern, sah sich die Abteilung Z genötigt, die Beschriftung der Mappen per Hausmitteilung dahingehend zu regeln, dass bei Referatsbezeichnungen fortan der Vermerk „BMGes“ zu ergänzen war.66 Diese Herausforderungen der Anfangszeit, eine neue Ministerialverwaltung aufzubauen, Zuständigkeiten abzugrenzen und die täglichen Verwaltungsabläufe zu organisieren, waren das Eine. Das Andere war die Kommunikation nach außen. Denn das neue Ressort sah sich von Beginn an Krisen und Skandalen gegenüber. Diese machten die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu einem wichtigen Teil der Verwaltungsarbeit, die im dritten Teil untersucht werden soll.
III. „Zu wenig Propaganda“ für die Gesundheit? Außendarstellung und Berichterstattung Rückblickend hatte die erste Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt resümiert, sie habe „zu wenig Öffentlichkeitsarbeit, d. h. Propaganda für die Arbeit des Ministeriums getrieben.“67 Die Frage der Propaganda beziehungsweise Öffentlichkeitsarbeit für die Gesundheit und damit der Außendarstellung des Ressorts soll im Folgenden untersucht werden. Zunächst wird aber ein Blick auf die Berichterstattung in der Gründungs- und Aufbauzeit des Ressorts geworfen, der die Rahmenbedingungen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verdeutlicht. Bereits die Ministeriumsgründung 1961 hatte, wie gesehen, zahlreiche und ganz unterschiedliche Reaktionen in der Öffentlichkeit beziehungsweise Fachöffentlichkeit hervorgebracht, wobei einige die Entscheidung für das neue Ressort kritisierten. Doch auch jenseits der Kritik zeigte die Berichterstattung, dass der neuen Behörde besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Anders als dies bei der früheren Gesundheitsabteilung im BMI oder der Gruppe Wasserwirtschaft im Bundesministerium für Atomfragen der Fall war, gelangte ein selbstständiges Ministerium stärker in das öffentliche Blickfeld.68 Ursächlich hierfür war zum eiSchreiben Gabel, 29.8.1962, in: BArch, B 142/2860. Vgl. Hausmitteilung Nr. 4/62, 2.5.1962, in: BArch, B 142/2860, Bl. 163 RS. Schwarzhaupt, Mein Leben, S. 8, in: BArch, N 1177/37. Vgl. auch: Über die Lage des Bundesministeriums für Gesundheitswesen, März 1963, BArch, B 136/4705. 65 66 67 68
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nen, dass das neu gegründete Gesundheitsressort an sich noch unbekannt war und Aufmerksamkeit erregte. Zum anderen sicherte es der neuen Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt mediales Interesse, dass sie die erste Frau war, die in das Amt eines Bundesministers in der Bundesrepublik berufen worden war. Einige kritische Stimmen zu dieser Personalentscheidung konnten sich durch einen Satz bestätigt fühlen, der Bundeskanzler Adenauer angesichts der Forderung, eine Frau zu berufen, zugeschrieben wurde: „Was sollen wir mit einer Frau im Kabinett?“69 Die Genderfrage hatte Schwarzhaupt selbst bei ihrem ersten Auftritt vor der Bundespressekonferenz am 20. Dezember 1961 angesprochen, bei der sie sich eingangs für die „freundliche und überwiegend wohlwollende Aufmerksamkeit“ bedankte, die ihr „als die einzige Frau im Kabinett“ zuteilwurde.70 Sie äußerte zugleich den Wunsch, dass sich dies „so bald wie möglich legt, nämlich daß ich selbstverständlich angenommen werde als jemand, der mit den Männern im Kabinett zusammenarbeitet und insofern gar keine besondere Aufmerksamkeit mehr braucht“. Vielmehr hoffte sie auf das Wohlwollen gegenüber der Arbeit im Bereich der Gesundheitspolitik, gleichwohl mit dem Hinweis: „Denn hier haben wir Frauen zu beweisen, daß diese selbstverständliche Mitarbeit, um die wir uns bemühen, gelingt und ihren Sinn hat.“71 Die Frage des Geschlechts wurde somit nicht nur von außen thematisiert, sondern die erste Ministerin nahm hierzu wiederholt selbst Stellung. Was sich Schwarzhaupt mit Amtsantritt 1961 optimistisch für die Zukunft wünschte, ließ sie rückblickend mit Blick auf die Kommunikationspraxen kritisch resümieren: „Als Frau habe ich oft in einem Kreis von Männern das Gefühl, man spreche eine Fremdsprache, eine Sprache, die ich gelernt habe, die ich verstehe und spreche, aber eben nicht ganz meine eigene.“72 Angesichts dessen formulierte sie ein Gefühl des Fremdseins in einer von Männern dominierten Bundesrepublik der 1960er Jahre. Wie sehr die Personalie Schwarzhaupt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregte, zeigt auch die Berichterstattung der UFA-Wochenschauen.73 Besonders ein Bericht über das Ministerium in der Gründungszeit in der Wochenschau vom 22. November 1961 veranschaulicht dies. Ausgehend von einem Beitrag über den fortschreitenden Ausbau der Berliner Mauer nahm die Wochenschau den Besuch der ersten Ministerin an der Grenze in West-Berlin zum Anlass, die neue Ministerin näher vorzustellen. Der Nachrichtenwert betraf dabei zunächst nicht das Gesundheitsressort als solches, sondern den Umstand, dass Schwarzhaupt die erste weibliche Ministerin der Bundesrepublik war und zudem die erste Vertreterin der neuen Bundesregie69 Zit.n. Bis zur Bahre, in: Der Spiegel, Nr. 48, 22.11.1961. Vgl. auch Körner, In der Männerrepu-
blik, S. 45. 70 Schwarzhaupt vor der Bundespressekonferenz, 20.12.1961, in: BArch, B 145 I F/140. Folgendes Zitat ebd. 71 Ebd. 72 Interview 1982, in: BArch, N 1177/60. 73 Vgl. auch Schwarz, Wochenschau, bes. S. 378–380.
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rung, die die geteilte Stadt Berlin mit den Grenzanlagen besuchte. Nach kurzen Einstellungen der Ministerin an den Grenzanlagen folgte ein Kurzporträt über sie an ihrem Wohnort Frankfurt am Main.74 Der UFA-Bericht verband Privates mit der neuen Ministerrolle: Gedreht wurde im privaten Wohnzimmer der Ministerin; der Kommentar im Off hob die „gemütliche Sitzecke“ hervor und im Bild war das Kaffeeservice in Großaufnahme zu sehen.75 Schwarzhaupt nutzte die Gelegenheit, das neue Ressort und ihr Anliegen in knappen Sätzen vorzustellen. Sie erklärte die Gesundheitspolitik zu ihrer Herzensangelegenheit und rückte den „lebendigen Menschen“ in den Mittelpunkt ihres Handelns. Sie warb für das Ressort und für ein neues Problembewusstsein zu drängenden Fragen wie Umweltthemen und dem gesundheitlichen Verbraucherschutz, die sie als „Zivilisationsschäden“ erwähnte. Schwarzhaupt wusste sich hier mit einem großen Teil der Bevölkerung in Übereinstimmung, denn diese Handlungsfelder wurden auch in der Bevölkerung als dringlich erachtet, wie zeitgenössische Umfragen belegen. Auf der Skala der Wünsche der Öffentlichkeit standen demnach ganz oben: die Reinhaltung der Luft und die Lärmbekämpfung.76 Während Schwarzhaupt hier wie auch vor der Bundespressekonferenz die Gelegenheit zur Werbung nutzte, blieb ein großer Teil der Außenkommunikation jedoch reaktiv, wofür mehrere Gründe ursächlich waren. Zunächst ließ ein langfristiges Gesundheitsprogramm aufgrund anhaltender Debatten um Zuständigkeiten auf sich warten.77 Das vom Ressort schließlich 1963 im Auftrag des Bundeskanzlers erarbeitete Programm, das die Grundzüge der künftigen Gesundheitspolitik darlegte, traf wiederum auf finanzielle und politische Vorbehalte anderer Ressorts.78 Im Programm selbst warnte das Gesundheitsministerium vor allem vor der steigenden Zahl der Herz- und Kreislauferkrankungen, der Zunahme von Krebserkrankungen, einer schlechteren Zahngesundheit sowie vor Umweltgefahren, auch wenn die gesundheitliche Entwicklung vordergründig ein gutes Bild zeichnete und es etwa seit Jahren keine größeren Seuchen und Epidemien gegeben hatte. Gerade im Bereich der Gesundheitsprävention und -aufklärung sah es jedoch Handlungsbedarf.79 Doch nachdem das Programm am 17. Juli 1963 im Kabinett erstmals beraten worden war und Änderungswünsche der Kabinettskollegen Eingang gefunden hatten, blieben Meinungsverschiedenheiten mit dem 74 Vgl. zu Schwarzhaupts Besuch in West-Berlin auch: Spiegel, Nr. 48, 22.11.1961 sowie Foto von
Gert Schütz, 16.11.1961, in: LA Berlin, Nr. 5878. 75 UFA-Wochenschau 278/1961, 22.11.1961, URL: https://www.filmothek.bundesarchiv.de/video/ 584468 (letzter Zugriff am 24.04.2021). 76 Weiterhin genannt wird u. a. der Neubau von Krankenhäusern. Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1958–1964, S. 466. Vgl. auch Allensbach-Umfrage vor Landtagswahl in Nordrhein-Westphalen, o. D. (Dezember 1961), in: BArch, B 136/4705. 77 Vgl. u. a. Schwarzhaupt vor der Bundespressekonferenz, 20.12.1961, in: BArch, B 145 I F/140. 78 Vgl. Bargatzky an Globke, 25.6.1963, in: BArch, B 136/5251. 79 Vgl. Grundzüge der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Entwurf, 8.7.1963, in: BArch, B 136/5251.
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Bundesfinanzminister bestehen.80 Er befürchtete negative Auswirkungen auf den Bundeshaushalt und stimmte der erneuten Vorlage nicht zu.81 Die Gesundheitsministerin zog daher schließlich das Gesundheitsprogramm zurück. Das negative Signal, das damit in der Öffentlichkeit ankam, fasste ein Pressebericht zusammen: „Bonn hat kein Geld für die Gesundheit“.82 Angesichts der undurchsichtigen Kompetenzverteilungen und des Eindrucks der Untätigkeit der Bundesebene blieb Kritik auch in den Folgejahren an der Tagesordnung. Unter dieser heraus ragte eine Fernsehsendung in der ARD, in der die Autoren mit der Gesundheitspolitik des Bundes und vor allem der neuen Ministerin abrechneten. Die Sendung „Ernst – aber nicht hoffnungslos“ vom 2. Februar 1965 entwickelte sich zum Streitpunkt zwischen dem Hessischen Rundfunk und dem Bundesgesundheitsministerium über die Berichterstattung. Streitthema war nach der Ausstrahlung der Sendung hierbei unter anderem die Darstellung der Zusammenarbeit mit den Ländern und der Einflussnahme des Bundes. So wurde die Ministerin mit den Worten zitiert, dass „ein großer Teil der gesundheitspolitischen Zuständigkeiten bei den Ländern“ liege und man im Bundesministerium „sozusagen immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm“ arbeite, um nicht in Kompetenzen der Länder einzugreifen.83 Schwarzhaupt kritisierte den entstellenden Zusammenschnitt des Zitats im Beitrag, der eine „Wahlkampfsendung für die SPD“ sei und eine Reihe „bewusster Verdrehungen“ enthalte.84 Die Ministerin sprach der Sendung jede „Objektivität und Fairness“ ab und fühlte sich von den Redakteuren „hinters Licht geführt“.85 Gerade die Berichterstattung über die Frage der gesundheitspolitischen Kompetenzen suggerierte, dass die Ministerin die Verantwortung für die organisatorischen Defizite trage.86 Die Auseinandersetzung gipfelte in einen offiziellen Protest der Bundesregierung, die das Thema im Kabinett beraten hatte.87 Auf der Bundespressekonferenz am 3. Februar 1965 hatte der Leiter des Bundespresseamts seitens der Bundesregierung den „unsachlichen und den Zuschauer irreführenden Inhalt der Sendung“ beklagt, da die 80 Vgl. 84. Kabinettssitzung am 17.7.1963 TOP 5 (‚Kabinettsprotokolle der Bundesregierung‘ on-
line). 81 Vgl. BMGes an StS im Bundeskanzleramt, 25.7.1963; Bundesminister der Finanzen an StS im Bundeskanzleramt, 30.7.1963, in: BArch, B 136/5251. Vgl. auch 86. Kabinettssitzung am 31.7.1963 TOP 5 (‚Kabinettsprotokolle der Bundesregierung‘ online). 82 Bonn hat kein Geld für die Gesundheit, in: Neue Rhein Ruhr Zeitung, 19.9.1963. Vgl. auch: Frau Schwarzhaupt zieht Gesundheitsprogramm zurück, in: FAZ, 19.9.1963, in: BArch, B 136/5251. 83 Hoffnungslos – aber auch ernst. Über die Praktiken einer Fernsehsendung, in: BArch, B 142/2993, Bl. 40. 84 Schwarzhaupt an Intendanten des HR Hess, 3.2.1965, in: BArch, B 142/2993, Bl. 18. 85 Schwarzhaupt an Intendanten des HR Hess, 5.2.1965, in: BArch, B 142/2993, Bl. 26–28, Zitat Bl. 26. 86 Vgl. z. B. Friedrich Deich: Im Gestrüpp der Kompetenzen, in: SZ, 15.2.1965, in: BArch, B 142/2993, Bl. 212. 87 Vgl. 151. Kabinettssitzung am 3.2.1965 TOP B (‚Kabinettsprotokolle der Bundesregierung‘ online).
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„Volksgesundheit“ ein Thema sei, „das einer sehr ernsten und ausgewogenen Behandlung ganz besonders“ bedürfe.88 Der Fernsehbericht stand einerseits beispielhaft für zahlreiche Kritik an der Arbeitsbilanz des Ministeriums. Andererseits spiegelte er den grundsätzlichen Wandel in der Problemwahrnehmung wider: Neben Fragen des Krankenhauswesens, der Mütter- und Säuglingssterblichkeit behandelte er auch Fragen der Gesundheitsgefährdung durch Umwelteinflüsse. So hatte bereits im Wahlkampf 1961 gerade die SPD mit umweltpolitischen Anliegen die Agenda bestimmt. Besonders die Problematik der Luftverschmutzung, die Willy Brandt unter dem Slogan „Blauer Himmel über der Ruhr“ aufgegriffen hatte, fand in der Bevölkerung breiten Widerhall.89 Die Aufmerksamkeit, die die Themen Gesundheit und Umweltbelastungen in der Öffentlichkeit und innerhalb des Gesundheitsressorts erlangten, stand allerdings in einem starken Gegensatz zur CDU-internen Deutung. Schwarzhaupt hatte gegenüber Kanzler Adenauer 1964 eine „Mauer des Desinteresses“ in der eigenen Partei beklagt.90 So nahm die Diskussion von gesundheitspolitischen Sachverhalten innerhalb der Partei nur wenig Raum ein. Das hatte auch der CDUBundesparteitag 1964 gezeigt, der das Thema Gesundheitspolitik und vor allem das von Schwarzhaupt vorgelegte Aktionsprogramm vernachlässigt hatte, das den Vorrang von gesundheitspolitischen Erfordernissen vor wirtschaftlichen Interessen festschreiben sollte.91 Das gewandelte Problembewusstsein in der Öffentlichkeit hingegen sowie die besondere Aufmerksamkeit, die die Arbeit des Ressorts bei Medienvertretern bekam, hatten eine weitere Ursache: den Contergan-Skandal. Es war nicht zuletzt dieser Arzneimittelskandal, der zu einer Politisierung der Öffentlichkeit führte und auch weitere gesundheitspolitische Themenbereiche wie etwa die Lebensmittelsicherheit zu einem brisanten politischen Problem werden ließ.92 Der ConterganSkandal war dabei das seit Ressortgründung zunächst bestimmende Thema; das teils hilflose Agieren des Ressorts ist inzwischen gut erforscht, wobei sich zeigte, dass Schwarzhaupt gerade aufgrund ihres Geschlechts besonders kritisch beäugt wurde.93 Allerdings zeigt sich beim Blick auf die Berichterstattung über das Gesundheitsministerium im Weiteren: In den 1960er Jahren erzeugten zahlreiche Lebensmittelskandale Handlungsdruck. Entsprechend waren die Pressestelle und die Fachabteilungen im Ministerium in den 1960er Jahren fast dauerhaft mit Krisenkommunikation beschäftigt. Vor allem die Pressestelle wurde dabei häufig mit Von Hase auf der Pressekonferenz, 3.2.1965, in: BArch, B 145 I-F/169. Vgl. u. a. Hünemörder, Frühgeschichte, S. 62–64, 95. Schwarzhaupt an Adenauer, Juli 1964, in: BArch, N 1177/23. Vgl. z. B. Otte B. Roegele: Gesundheit weniger wichtig?, in: Rheinischer Merkur, 2.4.1964, in: BArch, B 136/5251. 92 Vgl. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 197. 93 Vgl. Crumbach, Sprechen über Contergan, S. 198–223; Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, Kap. 2; Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 223. 88 89 90 91
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Anfragen überhäuft. Der Pressereferent selbst hielt die „über 200 Bonner Korrespondenten gelegentlich [für] einen sehr unangenehmen Störungsfaktor“, wie er in einem Memorandum 1967 betonte.94 Anlass konnten konkrete Missstände sein oder auch nur vermeintliche Versäumnisse, die allerdings vielfach in dem Vorwurf des völligen Versagens des Ministeriums gipfelten. Beispielhaft hierfür stehen Presseberichte über falsche argentinische Hasen, den Rindermastskandal oder über eine mangelhafte Milchqualität, die allesamt wirkliche oder vermeintliche Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung bedeuteten.95 Stellvertretend für eine Vielzahl an kritischen Beiträgen kam etwa eine Kreiszeitung 1967 zum Schluss, dass es herbe Versäumnisse hinsichtlich der Lebensmittelsicherheit gäbe. Zusammen mit konstatierten Missständen wurde zugleich die Existenzberechtigung des Bundesgesundheitsministeriums in Frage gestellt und diesem ein grundsätzliches Versagen bescheinigt.96 Derartige Urteile in Presseberichten ließen auch kritische Zuschriften aus der Bevölkerung an das Ministerium ansteigen, die beispielsweise kommentierten: „So eine Blamage: Wozu haben wir ein Gesundheitsministerium in Bonn?“97 Das junge Bundesministerium hatte sich so stetig zu beweisen und seine Existenz zu legitimieren. Die Erwartungen der Öffentlichkeit, mahnende Berichte und Vorhalte über mangelnde Aktivität bestimmten die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BMGes. Schwarzhaupt hielt eine große Sorgfalt in der Kommunikation nach außen für wichtig, da sie eine „große Empfindlichkeit der Bevölkerung auf gesundheitspolitischem Gebiet“ ausmachte.98 Was die Ministerin mit „Empfindlichkeit“ umschrieb, war eben jene erhöhte Sensibilität der Bevölkerung in Fragen der Gesundheit und des gesundheitlichen Verbraucherschutzes, die angesichts von Lebensmittelskandalen und vor allem dem Contergan-Skandal nicht verwundern mochte. Gerade der Contergan-Skandal hatte gezeigt, dass Kompetenzen unzureichend geregelt waren und so klare Entscheidungsstrukturen fehlten.99 Schließlich bedingten sich beide Faktoren gegenseitig: Zwar hatte das Ressort die besondere Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit im BMGes frühzeitig erkannt.100 Doch die ungenügende Krisenkommunikation hatte ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Bevölkerung empfindsamer reagierte und diese Fragen aufmerksam verfolgte. Mit der anhal94 Vgl. Pressereferent Michaelis an Frau Minister, Pressearbeit des Hauses, 07.02.1967, in: BArch,
PERS 101/81449, Bl. 73. 95 Vgl. z. B. Gottfried Wolff: Ohnmacht unserer Gesundheitspolitik? Lehren aus dem MTURindermastskandal, in: Deutsches Tierärzteblatt 10/1968, S. 404–406, in: BArch, B 189/1406, Bl. 251 f. 96 Vgl. z. B. Michael Carss: Kranke Milch?, in: Waiblinger Kreiszeitung Nr. 59, 11.3.1967, in: BArch, B 142/2343, Bl. 576. 97 Zuschrift aus Esslingen, 21.3.1967, ebd., Bl. 665. 98 Über die Lage des Bundesministeriums für Gesundheitswesen, März 1963, in: BArch, B 136/ 4705. 99 Vgl. Lenhard-Schramm, Ein Lifestyle-Medikament, S. 225–255; Crumbach, Sprechen über Contergan, S. 116. 100 Vgl. BMGes, Z1, Vermerk, 12.07.1962, in: BArch, PERS 101/81449, Bl. 12.
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tenden Krisenkommunikation befasste sich auch das Bundeskanzleramt. Hier sah man 1963 die Gefahr, die durch Neugründung des Gesundheitsministeriums in der Öffentlichkeit geweckten Erwartungen zu enttäuschen.101 Auch Schwarzhaupt suchte im Bundeskanzleramt um Unterstützung für ihre Politik nach. So bat sie Bundeskanzler Ludwig Erhard nach der Bundestagswahl 1965 um ein Gespräch. Schwarzhaupt befürchtete, dass die Gesundheitspolitik und das Bundesgesundheitsministerium nicht „vor der Öffentlichkeit […] bestehen“ könnten.102 Sie sah darin gleichwohl weniger eigenes Verschulden, als weiterhin beschränkte Handlungsräume angesichts der föderalen Organisation des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik. Verstärkt durch Krisen und Skandale fiel zudem die Bilanz in der Opposition kritisch aus. So hatte gerade Elinor Hubert, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion und approbierte Ärztin, 1965 im Vorfeld des Wahlkampfs massiv die Gesundheitspolitik der Bundesregierung kritisiert und den fehlenden Ansatz für eine vorausschauende Politik bemängelt.103 Ebenso fiel die Bilanz in der gesundheitspolitischen Generaldebatte 1968 über die ersten Jahre der Ressortarbeit schlecht aus, da die mit der Errichtung 1961 geschürten Erwartungen nicht erfüllt worden seien.104 Neben der Kritik an der mangelnden Initiative wurde das Ressort in Gänze in den 1960er Jahren mehrfach in Frage gestellt. Das betraf, wie gesehen, zum einen kritische Stimmen in der Öffentlichkeit, zum anderen aber auch etwa Planungen zum Bürokratieabbau und einer Reduzierung der Ressortanzahl vor allem anlässlich von anstehenden Kabinettsumbildungen. So war etwa der Bundesverband der Deutschen Zahnärzte 1965 beunruhigt durch Nachrichten, die den Eindruck erweckten, dass die Selbstständigkeit des BMGes durch die neue Kabinettsbildung angetastet werden solle, weshalb er sich direkt an Bundeskanzler Erhard wandte.105 Auch mit dem Ausscheiden von Gesundheitsministerin Schwarzhaupt ein Jahr später war der Fortbestand nicht gesichert und die scheidende Ministerin setzte sich für den Erhalt des Ressorts ein.106
101 Vgl. Stolzhäuser an Adenauer, 23.04.1963, in: BArch, B 136/4705. 102 Schwarzhaupt an Erhard, 19.11.1965, in: BArch, B 142/2007, Bl. 236–238 (Zitat Bl. 236). 103 Vgl. Dr. Elinor Hubert (SPD) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der
167. Sitzung, 24.2.1965, S. 8333. 104 Vgl. Dr. Schmidt (SPD) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der 183. Sitzung, 26.6.1968, S. 9922. 105 Vgl. Bundesverband der Deutschen Zahnärzte e.V. an Erhard, 28.9.1965, in: BArch, B 142/ 3614, Bl. 404. 106 Vgl. Schwarzhaupt an Erhard, 26.9.1966, in: BArch, N 1177/23.
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IV. Fazit – Ministerium unter Vorbehalt Die Gesundheitspolitik erhielt, insgesamt betrachtet, seit Anfang der 1960er in der Öffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit. Gerade die zahlreichen Krisen und Skandale hatten das Bewusstsein in der Bevölkerung verändert. Nicht zuletzt wurde der Stellenwert durch die Institutionalisierung der Gesundheitspolitik auf Bundesebene in einem selbständigen Ministerium selbst mitbefördert, dessen Errichtung große Hoffnungen geweckt hatte. Doch das Ministerium blieb trotz des Bedeutungszuwachses der Gesundheitspolitik vergleichsweise schwach und seine Stellung in den 1960er Jahren unsicher. Die prekäre Situation der Ministerialbürokratie umfasste lange Zeit die Ausstattung mit Personal, mit Finanzen und die ungelöste Kompetenzfrage. Auch grundsätzlich stand das Gesundheitsministerium immer wieder zur Disposition; es erscheint so zwischenzeitlich wie eine Behörde auf Abruf. Nicht zuletzt angesichts der Skandale schaffte es das Gesundheitsressort nicht, seine Kritiker von seiner Daseinsberechtigung restlos zu überzeugen. Die insgesamt wechselhafte Bilanz der Aufbauzeit zeigte sich in den verschiedenen Themenfeldern, die das neue Ressort besetzte: Einerseits wurde im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen und umweltpolitischen Themen in der Öffentlichkeit vielfach der Ruf nach dem Bundesgesundheitsministerium laut. So gab es auch von Kritikern Zustimmung für Maßnahmen vor allem im Bereich der Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie der Lärmbekämpfung; hier war auch die Bereitschaft, dem Bund mehr Kompetenzen zu übertragen, vergleichsweise groß.107 Andererseits trafen jedoch gerade im Bereich der Prävention und Gesundheitsvorsorge Initiativen des Bundes auf Widerstand, vor allem der Länder. Selbst angesichts der „Hongkong-Grippe“, jener Grippe-Pandemie der Jahre 1968 bis 1970, blieb die bundesstaatliche Ebene blass.108 Sie verfügte über keine Zahlen zur Ausbreitung, da die Erkrankungen in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht erfasst wurden, wie der Staatssekretär Ludwig von Manger-Koenig im Februar 1968 im Bundestag auf entsprechende Nachfragen antwortete.109 Empfehlungen, etwa für Impfungen, lagen in der Zuständigkeit der obersten Gesundheitsbehörden der Länder, die sich auf keine bundeseinheitliche Regelung einigen konnten.110 Der Staatssekretär selbst beließ es dabei, als Vorbeugung eine „gesunde Lebensführung“ zu empfehlen. Auch das Tragen eines sogenannten Mund-Nasenschutzes könne vor Ansteckung helfen, wobei Manger-
107 Vgl. etwa Dr. Heuser (FDP) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der
183. Sitzung, 26.6.1968, S. 9927. 108 Vgl. auch Rengeling, Vom geduldigen Ausharren, S. 215. 109 Vgl. StS Manger-Koenig (SPD) vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der 155. Sitzung, 13.2.1968, S. 7935 f. 110 Vgl. auch Thießen, Immunisierte Gesellschaft, S. 273.
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Koenig einschränkte, dass sich Schutzmasken zwar in asiatischen Ländern, jedoch nicht in Europa durchgesetzt hätten.111 Die Kritik an zu zögerlichem Handeln (und einer schwerfälligen Bearbeitung drängender Themen) mischte sich immer wieder mit Erwartungen an das Ressort, welche dieses ob seiner Kompetenzen im föderalen Staat und der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern nicht erfüllen konnte. Wie ein roter Faden zog sich daher durch die Außendarstellung das Bemühen, zunächst überhaupt über die Möglichkeiten eines Bundesgesundheitsministeriums aufzuklären. Auch wenn das Budget von Jahr zu Jahr stieg, blieb Gesundheitspolitik als Bundesaufgabe ein umstrittenes Feld. Während das Problembewusstsein und die Erwartungen in der Öffentlichkeit immer weiter stiegen, fehlte es gerade in den 1960er Jahren an Sensibilität für die neuen Handlungsfelder etwa in der CDUFraktion. Gegenwind auch von Standesvertretern, die eine weitere Zentralisierung fürchteten, ließ die ministeriellen Akteure der ersten Stunde rückblickend resignieren. Auf den Punkt bringt es ein Zitat des ersten Staatssekretärs Walter Bargatzky. Er resümierte 1980 rückblickend die politischen Gestaltungsspielräume in einem Brief an seine frühere Ministerin: „[W]äre nicht die Ärzteschaft gewesen und – in gewisser Hinsicht – die Fraktion, wir hätten unter Ihnen die Welt aus den Angeln gehoben und der Gesundheitspolitik des Bundes eine Wende gegeben, nach der sie noch immer verlangt.“112 Die politisch-organisatorische Selbstbehauptung gelang Ende der 1960er Jahre schließlich nur teilweise. Mit dem Beginn der sozial-liberalen Koalition erfolgte 1969 eine Reorganisation und die Verschmelzung mit dem Familienministerium. Seine Eigenständigkeit erlangte das Gesundheitsressort auf Bundesebene erst nach der Wiedervereinigung 1991 zurück.
111 StS Manger-Koenig vor dem Deutschen Bundestag, Stenographischer Bericht der 155. Sit-
zung, 13.2.1968, S. 7935. Vgl. auch Rengeling, Vom geduldigen Ausharren, S. 194–212. 112 Bargatzky an Schwarzhaupt, 17.4.1980, in: BArch, N 1177/42.
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Dr. Franziska Kuschel, Bundesstiftung Aufarbeitung ist seit Juni 2020 Leiterin des Arbeitsbereichs Wissenschaft der Bundesstiftung Aufarbeitung. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) sowie am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) tätig. Dort forschte sie zu dem Thema: „Kontinuitäten und Neuanfänge nach dem Nationalsozialismus: Das Bundesministerium für Gesundheitswesen“. Publikationen: Sicherheit als Versprechen. Verkehrsregulierung und Unfallprävention in der DDR, Göttingen 2020; Erweiterte Sicherheit. Das MdI und die öffentliche Ordnung, in: Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 635–680; Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien, Göttingen 2016.
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Benedikt Kemper
EIN GANZES SYSTEM AUF DER ANKLAGEBANK Öffentliche Unsicherheitswahrnehmung als Katalysator ministerialen Verwaltungshandelns
I.
Einleitung
A
m 26. Juni 1950 stellte die Deutsche Partei unter ihrem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hans Mühlenfeld im Bundestag folgenden Antrag an die von ihr selbst mitgetragene Bundesregierung:
Die Bundesregierung wird ersucht, dem Bundestag schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die vorläufige und endgültige Unterbringung angeblich geisteskranker Personen gegen ihren Willen in einer Heil- und Pflegeanstalt gesetzlich geregelt und die Zuständigkeit polizeilicher Dienststellen auf diesem Gebiet stark eingeschränkt und genau abgegrenzt wird.1
Der Antrag war das politische Echo einer zu Beginn der 1950er Jahre aus zwei Gründen intensiv geführten Debatte über die rechtlichen Grundlagen psychiatrischer (Zwangs-) Einweisungen. Erstens machte das im Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz die legislative Neuregelung der bestehenden Einweisungsvoraussetzungen nötig, da Artikel 104 GG formal den richterlichen Vorbehalt bei allen freiheitsentziehenden Maßnahmen einführte. Genaueres sollte ein Ausführungsgesetz regeln, welches jedoch erst 1956 mit dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen verabschiedet werden konnte und sich daher 1950 noch in der
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ministerialen Ausarbeitung befand.2 Zweitens stand die Psychiatrie als solche in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Kreuzfeuer der gesellschaftlichen wie medialen Betrachtung. Schwerpunkte der Debatte waren die zeitgenössischen psychiatrischen Behandlungsmethoden, die Gefahr durch nicht therapierte Kranke und vor allem die empfundene Bedrohung, als ‚Gesunder‘ ins ‚Irrenhaus‘ zwangseingewiesen zu werden. Mediale Großereignisse, wie der auch in Deutschland sehr erfolgreiche, US-amerikanische Film Die Schlangengrube sowie spektakuläre, in der Presse breit diskutierte Einzelfälle hoben dieses Risiko wiederholt ins öffentliche Bewusstsein. Insbesondere der Gerichtsprozess gegen den Hamburger Arzt Martin-Heinrich Corten befeuerte die gesellschaftliche Unsicherheit in Bezug auf die noch immer als „terra incognita“ betrachtete psychiatrische Wissenschaft.3 An seinem Exempel wurden wie unter einem Brennglas gesellschaftliche Ängste und Ansprüche verhandelt, die die Debatte schon seit der Gründung der Psychiatrie prägten und bis heute formen. Der vorliegende Artikel wird daher zunächst das Beispiel des ‚Falls Corten‘ anhand von der Forschung bisher unbeachteten Archivmaterials neu beleuchten, um anschließend die Leitgedanken seiner medialen Rezeption und deren Auswirkungen auf die psychiatriebezogene, öffentliche Unsicherheit nachzuzeichnen.4 Zuletzt werden diese Überlegungen zur Analyse von Wahrnehmung und Einfluss der konstatierten Unsicherheit auf ministeriales Verwaltungshandeln im Kontext der Erstellung eines Ausführungsgesetzes zu Art. 104 GG herangezogen und ihr katalysierender Effekt vor der Folie einer Logik der Angemessenheit herausgestellt.
II. Nur ein Einzelschicksal? – Der ‚Fall Corten‘ 1.
Der Sachverhalt
Der ‚Fall Corten‘, „das herausragende Psychiatrie-Ereignis Anfang der fünfziger Jahre“, elektrisierte Öffentlichkeit wie Medien und verband lange kultivierte Ängste mit einem individuellen Nachkriegsschicksal von hohem Identifikations2 Vgl. Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29.06.1956, in:
BGBl. I, S. 599. 3 Vgl. Marein, Josef, Die Angst vor der Schlangengrube. Lehren aus dem Prozeß Dr. Corten, in: Die Zeit vom 23.11.1950, S. 11. 4 Durch die breite mediale Rezeption des Gerichtsprozesses ist der ‚Fall Corten‘ in der Psychiatrieforschung schon verschiedentlich auf Grundlage der überlieferten Presseartikel beleuchtet worden. So zieht Thorsten Noack diesen und andere Fälle der unmittelbaren Nachkriegszeit heran, um „mögliche Gründe, Lösungsansätze und Folgen der ‚Vertrauenskrise der Psychiatrie‘“ nach Kriegsende zu analysieren. (Vgl. Noack, Kaninchen, S. 311–340.) Cornelia Brink zeichnet auch am Beispiel Cortens das Ringen der Nachkriegsgesellschaft um „Schwellen, Schranken und Grenzen“ zwischen ‚Irren‘ und ‚Normalen‘ nach. (Vgl. Brink, Zwangseinweisung, S. 467.) Und Ursula Büttner beschreibt den Fall in ihrer Biografie des Vorsitzenden Richters Fritz Valentin, auch auf Grundlage der Presseberichterstattung und in der Bewertung deutlich dem Angeklagten zugeneigt, als Valentins „spektakulärste[n] Prozess“. (Vgl. Büttner, Fritz Valentin, hier S. 131.)
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potential.5 Protagonist des ‚Falls‘ sowie Angeklagter vor dem Hamburger Landgericht war der Arzt Martin-Heinrich Corten. Der am 22. Dezember 1889 in Hamburg geborene Protestant mit jüdischen Wurzeln hatte in Heidelberg und München Medizin studiert und stieg nach mehreren beruflichen Stationen im Jahr 1943 zum Leiter des Israelitischen Krankenhauses Hamburg auf, trotz Diskriminierung als angeblicher ‚Volljude‘ und Verfolgung im Nationalsozialismus.6 Im Jahr 1925 heiratete er in zweiter Ehe die damals 23-jährige Magdalena Aigner. 1940 wurde die gemeinsame Tochter Beatrice (‚Beate‘) geboren.7 In der nach den Erkenntnissen des Prozesses zunächst intakten, sogar glücklichen Ehe, zeigten sich ab dem Jahr 1933 erste Risse. Anlass waren teils abenteuerliche Fluchtpläne, welche Magdalena Corten im Angesicht des sich mit den neuen Machthabern Bahn brechenden Antisemitismus schmiedete. Ihr Mann lehnte eine Flucht jedoch vehement ab.8 Die ersten Kriegsjahre verbrachte die Familie daher zunächst in Hamburg, bevor Magdalena Corten die Stadt im Jahr 1942 mit ihrer Tochter verließ, zunächst zu Verwandten in Bayern. Später kehrte sie kurz zurück, bevor sie ins Hamburger Umland zog. Offiziell begründete Martin-Heinrich Corten im später geführten 5 Zitat: Noack, Kaninchen, S. 318. Schon während des Prozesses beschrieb die Hamburger Freie
Presse den Fall als „dramatisches Nachkriegsschicksal“ (N. N., Dr. Corten beschuldigt seine Frau, in: Frankfurter Freie Presse vom 1.11.1950.). Cornelia Brink verweist darauf, „daß der Prozess […] manchem erlaubte, sich selbst als Opfer zu sehen: Frauen etwa erkannten sich in der Lage der verlassenen Magdalena Corten wieder.“ (Brink, Zwangseinweisungen, S. 475.) 6 Martin-Heinrich Cortens Mutter sowie seine Schwester wurden 1942 in Theresienstadt ermordet, der Vater war 1937 eines natürlichen Todes gestorben. Er selbst entging der Deportation durch seine unfreiwillige, exponierte Stellung im System (1943 wurde er vom Reichssicherheitshauptamt zum Leiter der ‚Reichsvereinigung der Juden‘ bestimmt) sowie durch seine, nach nationalsozialistischer Ideologie als ‚privilegierte Mischehe‘ klassifizierte Verbindung zu Magdalena Corten, welche die gesamte Zeit der Diktatur hindurch an der Beziehung festhielt. All diese Faktoren sollten sowohl im Prozess als auch in der Berichterstattung noch eine erhebliche Rolle spielen. Zur Biografie Martin-Heinrich Cortens, vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 1–3. 7 Vgl. ebd. sowie Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 3. 8 Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 68. Die Diagnose Ursula Büttners, die auf Grundlage der Presseberichte zum Prozess folgert, Magdalena Corten sei der nationalsozialistischen Verfolgung „psychisch nicht gewachsen“ gewesen, erscheint mangels Quellen aus der Kriegszeit zwar aus heutiger Perspektive nachvollziehbar, bleibt aber eine Hypothese. Büttners Schlussfolgerungen, Corten hätte ab 1933 daher „psychosomatische Krankheiten“ („schwere Herzattacken“) oder gar eine „schwere Depression“ entwickelt, bestätigen die Prozessquellen nicht. (Zitate: Büttner, Fritz Valentin, S. 134.) Vielmehr litt Magdalena Corten, laut Urteil, schon „seit ihrem 18. Lebensjahr an einer Herzkrankheit (paroxysmaler Tachykardie)“. (Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 4.) Eine darüberhinausgehende, rückwirkende Diagnose der vermeintlich von Magdalena Corten entwickelten psychischen Krankheiten war, so betonte das Gericht bereits im Urteil, schon 1950 nicht mehr seriös möglich und erscheint aus heutiger Perspektive auf Grundlage von Presseberichten noch weniger belegbar.
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Gerichtsprozess die Abreise von Frau und Kindern mit den zunehmenden Bombenangriffen auf Hamburg, das Urteil erwähnt außerdem, dass sich die körperliche Gesundheit Frau Cortens verschlechterte und „sie dem Angeklagten zuviel [sic] querulierte“.9 In ihrer Abwesenheit begann Martin-Heinrich Corten eine Affäre mit der 32 Jahre jüngeren Freundin der Familie, Felicitas Rudolfi, wodurch sich nach der Rückkehr seiner Frau in die gemeinsame Wohnung nach Kriegsende die eheinternen Spannungen noch verschärften, insbesondere nachdem Frau Rudolfi, selbst ausgebombt, ins gleiche Haus gezogen war.10 In den letzten Kriegsjahren verschlimmerten sich zudem sukzessive die angeborenen Herzbeschwerden Magdalena Cortens. Im August 1945 erlitt sie einen Herzanfall, welcher von ihrem Mann zunächst zu Hause mit Strophanthin behandelt wurde, bevor sie Aufnahme im Israelitischen Krankenhaus fand.11 Von September 1945 bis Februar 1947 wurde Magdalena Corten dann in verschiedenen Krankenhäusern in und um Hamburg wegen ihrer Herzbeschwerden behandelt. Zwischen den Aufenthalten kam sie regelmäßig für kurze Zeit nach Hause, wo die Konflikte zwischen den Eheleuten noch einmal zunahmen, nachdem Martin-Heinrich Corten im Jahr 1946 als Leiter des Israelitischen Krankenhauses entlassen worden war und dafür Intrigen seiner Frau verantwortlich machte.12
9 Ebd. Magdalena Cortens Herzleiden erschwerte es ihr zum Beispiel, vor Bombenangriffen in
den Keller zu flüchten. 10 Felicitas Rudolfi stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie. Ihr Vater war mit MartinHeinrich Corten bekannt und hatte ihn kurz vor seiner Deportation gebeten, für die Tochter zu sorgen. (Vgl. ebd.) Die Umstände der Affäre spielten sowohl im Prozess als auch in der medialen Rezeption eine Rolle. (Vgl. ebd., S. 1–3 sowie Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950.) Ob sich, wie Ursula Büttner schreibt, die Affäre über die „Zusammenarbeit in der Klinik, das gleichartige Verfolgtenschicksal und die gemeinsame Fürsorge für das Baby des Ehepaars Corten“ entzündete, bleibt eine Spekulation und ist auf Grundlage der Prozessquellen nicht belegbar. Büttner, Fritz Valentin, S. 134. 11 Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 8. Anders, als von Thorsten Noack auf Grundlage der Presseberichte überliefert, konstruierte sich der später gegen Martin-Heinrich Corten erhobene Vorwurf des Mordversuchs nicht aus dieser Episode. (Vgl. Noack, Kaninchen, S. 318.) Zwar erwähnte die Anzeigeerstatterin Marie Ratke die Strophanthinbehandlung, jedoch brachte sie diese maximal indirekt mit dem später angeblich geplanten, für die Anzeige entscheidenden Mordkomplott, das jedoch nicht ausgeführt wurde, in Verbindung (s. u.). Zur Anzeige von Marie Ratke vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Anzeige von Marie Ratke vom 23.07.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242. 12 Tatsächlicher Hintergrund der Entlassung war wohl ein interner Konflikt mit einem ehemaligen Mitarbeiter, den Martin-Heinrich Corten kurz nach Kriegsende wegen Unregelmäßigkeiten entlassen hatte und welcher im Gegenzug Vorwürfe gegen Corten im Kuratorium des Israelitischen Krankenhauses erhob, die zu dessen Entlassung führten. Der anschließende Versuch Cortens, seine Stellung mit Hilfe der englischen Besatzungsbehörden zurückzuerlangen, scheiterte schließlich am Hamburger Gesundheitssenator. Vgl. Dettmann, Friedrich, Der Fall Corten, in: Hamburger Volkszeitung vom 25.11.1950 sowie Urteil des Landgerichts Hamburg in der Straf-
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Kurz darauf kam Magdalena Corten dann erstmals mit der Psychiatrie in Kontakt. Am 04. Februar 1947 wurde sie zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf überwiesen. Zuvor hatte sie im Krankenhaus Bergedorf über Erschöpfung geklagt, für die sich jedoch keine körperlichen Ursachen finden ließen. Die Überweisung beruhte formell auf Freiwilligkeit, war nach Erkenntnis des Gerichts aber „durch den Angeklagten telefonisch veranlasst worden“.13 Wenige Tage später fuhr Martin-Heinrich Corten zudem selbst in die Klinik, um dem leitenden Oberarzt Dr. Jacob Auskunft über die Krankengeschichte seiner Frau zu geben.14 In Eppendorf wurde Magdalena Corten durch den Chefarzt der Abteilung, Hans Bürger-Prinz, begutachtet, der eine Schizophrenie mit ungünstiger Prognose diagnostizierte und sie von einer offenen in eine geschlossene Abteilung verlegte.15 Als Antwort auf die Frage, warum sie, sich selbst für psychisch gesund haltend, nicht gegen Diagnose und Verlegung protestiert hatte, vermerkt das Urteil: Sie meint, sie wisse überhaupt nicht, wie ein gesunder Mensch sich in einer Anstalt verhalten solle. Füge man sich, sei man schizophren, begehre man auf, sei man manisch-depressiv. Ihre Zurückhaltung sei auch darin begründet gewesen, daß sie in einer ausserordentlichen [sic] Angst vor einer Schockbehandlung gelebt habe, deren Wirkung auf bewusstlos in den Krankensaal zurückgebrachte Mitpatientinnen sie oft beobachtet habe.16
Auch im Prozess hielt Hans Bürger-Prinz unter großem Zuschauerinteresse an der Diagnose ‚Schizophrenie‘ fest, die von den übrigen Zeugen aus dem Ärzte- und Pflegepersonal des Klinikums Hamburg-Eppendorf unterstützt wurde.17 sache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 9. 13 Ebd., S. 15. 14 Unter anderem aus solchen Kontakten konstruierte sich im Prozess der Vorwurf der Freiheitsberaubung, schließlich war Martin-Heinrich Corten formell an keiner der Überweisungen seiner Frau in die Psychiatrie beteiligt. Zudem handelte es sich formell in jedem Fall um eine freiwillige Einweisung (s. u.). 15 Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 15. 16 Vgl. ebd., S. 46. Diese Erklärung Magdalena Cortens wurde in unterschiedlichem Wortlaut auch in mehreren Presseberichten aus dem Gerichtssaal wiedergegeben. So zitierte zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung: „Ich protestierte zwar gegen die Freiheitsberaubung, wurde aber gepackt und mit Gewalt auf die neue Station gebracht. Hätte ich aufgetrumpft, hielt man mich für manisch. Wenn ich weinte, glaubte man, es seien Depressionen. Wie sich ein Gesunder auf einer solchen Station verhalten soll, weiß ich selbst nicht.“ Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 3. Ähnlich außerdem in: Fischer, Hans Erasmus, Widersprüche um die Corten-Akte, in: Hamburger Abendblatt vom 8.11.1950, S. 3. 17 Vgl. N. N., Dr. Cortens Kronzeuge sagt aus, in: Hamburger Echo vom 14.11.1950 sowie Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 44.
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Im Juli 1947 wurde Magdalena Corten zur weiteren Behandlung von Eppendorf in die private Heil- und Pflegeanstalt Ilten bei Hannover verlegt. Dort brachte man sie erneut in einer geschlossenen Station unter, die sie später jedoch eigenständig verlassen konnte.18 Trotz einer sechsmonatigen Beobachtungszeit bestätigten die behandelnden Ärzte in Ilten die Schizophrenie-Diagnose nicht. Sie gingen stattdessen von einer ‚schizoiden Psychopathie‘ aus, welche nicht in einer Anstalt behandelt werden müsse. Bereits Ende Juli unterrichtete der zuständige Arzt Dr. Maas darüber auch ihren Ehemann.19 Es entspann sich ein längerer Schriftwechsel zwischen dem späteren Angeklagten und dem Krankenhaus, in welchem Corten die Entlassung seiner Frau vehement ablehnte, längere Krankengeschichten nachreichte und ihren Aufenthalt in der heimischen Wohnung als „völlig unmöglich“ bezeichnete.20 Als Magdalena Corten am 20. Dezember 1947 trotz seiner Einwände nach Hause entlassen wurde, bemühte sich ihr Mann prompt im Gespräch mit Hans Bürger-Prinz um ihre erneute Einweisung ins Klinikum Eppendorf, die bereits am kommenden Morgen umgesetzt wurde.21 Dort blieb sie wiederum rund drei Monate. Im März 1948 wurde Magdalena Corten zum zweiten Mal aus der Psychiatrie entlassen und begab sich zu ihrer bayrischen Verwandtschaft, bevor sie Ende Juni zurück nach Hamburg reiste. In der Stadt fand sie, mit Unterstützung ihres Stiefsohnes und zunächst ohne das Wissen ihres Mannes, Unterkunft bei einer Bekannten. Nach einer zufälligen Begegnung des Ehepaars auf der Straße kehrte sie jedoch in die gemeinsame Wohnung zurück.22 Martin-Heinrich Corten kontaktierte von dort unverzüglich erneut Hans Bürger-Prinz, der zwar grundsätzlich die inzwischen dritte Einweisung Magdalena Cortens befürwortete, jedoch die Unterbringung in seiner Klinik ablehnte. Stattdessen schlug er die psychiatrische Klinik im Hamburger Stadtteil Langenhorn als
18 Zum Aufnahmeprozess vermerkt das Urteil: „Anfangs weigerte sie sich, die Anmeldung zu
unterschreiben, tat das schließlich aber doch, wobei sie weinte.“ ebd., S. 17. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd., S. 17–21 hier S. 18. Die Weigerung Martin-Heinrich Cortens, seine Frau wieder in die heimische Wohnung aufzunehmen, wurde in der Presse als besonders verwerflich wahrgenommen. Ebenso verurteilten die medialen Beobachter seine Weigerung, seine Frau in Ilten zu besuchen, die er unter anderem damit begründete, dass ihm eine wertvolle Geige gestohlen worden sei, deren Wiederbeschaffung ihn stark in Anspruch genommen hätte. Vgl. N. N., Personalien, Martin Heinrich Corten, in: Der Spiegel vom 08.11.1950 sowie N. N., Frau Cortens Stationen, in: Die Welt vom 02.11.1950. 21 Das Urteil hebt hervor, dass Martin-Heinrich Corten im Gespräch mit Hans Bürger-Prinz die Zweifel der Iltener Ärzte an der Schizophrenie-Diagnose sowie den Umstand, dass Magdalena Corten ordnungsgemäß aus Ilten entlassen worden war, verschwieg. Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 22. 22 Martin-Heinrich Cortens Sohn aus erster Ehe, Max, stand während der ganzen Zeit auf der Seite seiner Stiefmutter und belastete seinen Vater auch während des Prozesses schwer (s. u.). Vgl. ebd., S. 27.
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Behandlungsort vor.23 Auch dort wurde die Patientin wiederholt intensiv untersucht. Die behandelnden Ärzte kamen, wie schon die Kollegen aus Ilten, zu dem Ergebnis, dass Bürger-Prinz‘ Diagnose ‚Schizophrenie‘ zwar abzulehnen sei, waren aber nicht in der Lage, sich auf ein alternatives Krankheitsbild festzulegen. Sie mussten zugeben, dass „Frau Corten derartig zurückhaltend gewesen ist, daß man von vornherein darauf hat verzichten müssen, einen Zugang zu ihr zu finden.“24 Anstaltsbedürftig sei sie aber keinesfalls. Am 30. August 1948 wurde Magdalena Corten nach sechs Monaten endgültig aus dem Klinikum Langenhorn entlassen. Da ihr Mann erneut ihren Wiedereinzug in die gemeinsame Wohnung abgelehnt hatte, zog sie zu ihrer Cousine. Insgesamt wurde Magdalena Corten so zwischen Februar 1947 und August 1948 über rund 18 Monate in drei psychiatrischen Anstalten behandelt. Widerspruch gegen die Einweisung, sei es von ihr, sei es von ihrem Stiefsohn, wurde entweder von Martin-Heinrich Corten oder den behandelnden Ärzten nachweislich wiederholt übergangen.25 Auf den Protest Max Cortens, der die psychische Erkrankung seiner Stiefmutter von Beginn an bezweifelte und seinen Vater in den späteren Justizermittlungen schwer belasten sollte, reagierte dieser mit einer Überweisung seines Sohnes ins Klinikum Hamburg-Eppendorf.26 Dort konnte 23 Ebenso lehnte er es ab, selbst die Einweisungspapiere auszustellen, weshalb Corten einen
jungen praktischen Arzt, der bisher mit der Patientin unbekannt war, erfolgreich um Unterstützung bat. Der Arzt Dr. Klinghammer, der erst im Vorjahr sein Staatsexamen abgelegt hatte und der, laut Aussage eines Freundes, die so auch ins Urteil übernommen wurde, auf eine lukrative Ferienvertretung in der Privatpraxis Martin-Heinrich Cortens spekulierte, schloss sich nach einem zwanzigminütigen Gespräch mit Magdalena Corten der Schizophrenie-Diagnose an und bestätigte eine dringende Anstaltsbedürftigkeit. (Vgl. ebd., S. 29 sowie Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Hansgeorg Voss vom 18.07.1949, in: Staatsarchiv Hamburg: 331–1 II, Nr. 10242.) Der Umstand, dass Martin-Heinrich Corten einen jungen Kollegen mit der Ausfertigung des Einweisungsscheins beauftragte, wurde auch in der Presse kritisch aufgenommen (Vgl. N. N., Ist Dr. Corten geistig normal?, in: Hamburger Echo vom 11.11.1950.) In der Süddeutschen Zeitung wird gar ein Gutachter mit den Worten zitiert: „Als Arzt muss ich es bedauern, daß ein Arzt solch ein Attest ausstellt, ich kann es nur mit seiner Jugend entschuldigen.“ Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 3. 24 Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 45–46. Im Prozess kam schließlich sogar noch eine vierte Diagnose hinzu. Der Gerichtsgutachter Dr. Frommer meinte bei Magdalena Corten eine manisch-depressive Erkrankung zu erkennen. Vgl. ebd. 25 Mehrfach wird im Urteil von einer zwischenzeitlichen Weigerung Magdalena Cortens bei der Einweisung berichtet. („Frau Corten protestierte gegen diese Verlegung, sagte, das sei Freiheitsberaubung, drückte sich in eine Ecke und wollte sich nicht anfassen lassen, wurde aber doch mit Gewalt auf die andere Station verbracht.“ Ebd., S. 14. Weitere Schilderungen aktiven Widerspruchs Magdalena Cortens ebd. S. 13, 17, 23.). Mit Blick auf eine kritische Kontextualisierung dieser Aussagen muss jedoch betont werden, dass im Prozess zu keinem Zeitpunkt die Gesetzmäßigkeit des ärztlichen Handelns bezweifelt wurde. 26 Vgl. ebd. Außerdem zeigte Martin-Heinrich Corten seinen Sohn wegen Lebensmitteldiebstahls bei der Polizei an. Vgl. N. N., Dr. Corten auch von seinem Sohn belastet, in: Hamburger
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Hans Bürger-Prinz allerdings keine Anstaltsbedürftigkeit Max Cortens erkennen und ordnete nach drei Tagen dessen sofortige Entlassung an.27 Außerdem beantragte Martin-Heinrich Corten, noch während seine Frau noch in Langenhorn in Behandlung war, beim Amtsgericht Hamburg ihre Entmündigung, da sie zuvor mehrfach versucht habe, das gemeinsame Kind zu entführen, wie er eidesstattlich versicherte. Der Antrag wurde später zurückgenommen, die Vorwürfe entsprachen nicht der Wahrheit.28 Rund einen Monat später, Magdalena Corten war bereits aus der Klinik entlassen, reichte er zudem die Scheidung ein. Als Scheidungsgründe gab er zum einen ‚Geisteskrankheit‘ (§ 44 Ehegesetz), zum anderen wiederholte ‚Falschbeschuldigungen‘ (§ 43 Ehegesetz) an.29
2.
Der Prozess
Die endgültige Entlassung Magdalena Cortens aus der Klinik in Langenhorn im August 1948 setzte einen vorläufigen Schlusspunkt unter diesen vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen psychiatrischen Einweisungspraxis nicht untypischen Einzelfall.30 Seine hohe Relevanz für die historische Forschung ergibt sich gleichwohl aus seinen erheblichen Nachwirkungen, namentlich dem Gerichtsprozess und dessen medialer wie öffentlicher Rezeption. Den Anstoß zur juristischen Aufarbeitung des Falls gab die Anzeige der Hauswartin und Nachbarin der Familie Corten in der Böttgerstraße 5, Marie Ratke. Diese zeigte am 23. Juli 1948, also noch während Magdalena Cortens letzten Psychiatrieaufenthalts, deren Ehemann bei der Hamburger Polizei wegen Freiheitsberaubung an und behauptete – noch deutlich gravierender – von einem unbelegten Plan Cortens zur Ermordung
Freie Presse vom 10.11.1950 sowie N. N., Krach zwischen Vater und Sohn, in: Hamburger Echo vom 10.11.1950. 27 Vgl. Brief von Hans Bürger-Prinz an das Polizeiamt Hamburg – Kriminalamt vom 9.08.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242. 28 Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 32. Auf diese Behauptung Cortens im Entmündigungsantrag stützte sich im späteren Prozess der Vorwurf der falschen eidesstattlichen Versicherung. Vgl. ebd., S. 34. 29 Vgl. ebd., S. 32. Schon bei seiner Aussage vor der Mordkommission hatte Martin-Heinrich Corten letztlich für alle Eheprobleme die vermeintliche psychische Erkrankung seiner Frau verantwortlich gemacht. (Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von MartinHeinrich Cortens vom 29.07.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242.) Dass Corten eine Scheidung ablehnte, da „er sich seiner Frau wegen der Aufrechterhaltung ihrer Ehe im ‚Dritten Reich‘ verpflichtet fühlte“, wie Ursula Büttner auf Grundlage der Berichterstattung des Hamburger Abendblattes überliefert, ist nicht korrekt. Büttner, Fritz Valentin, S. 135. 30 In einer umfangreichen Studie zur Einweisungspraxis zwischen 1941 und 1963 verweist Stefanie Coché auf eine „Grauzone von Freiwilligkeit und Zwang“, die vielen nicht von staatlicher Seite angeordneten Einweisungsvorgängen zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik/ DDR zu eigen war. Der ‚Fall Corten‘ ist ein weiterer Beleg für eben eine solche „Grauzone“. Vgl. Coché, Psychiatrie und Gesellschaft, S. 101.
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seiner Frau mit Gift, Kenntnis erhalten zu haben.31 Sie stützte ihren Vorwurf auf angeblich angehörte Gespräche verschiedener Untergebener Cortens aus dem Israelitischen Krankenhaus Hamburg, die in die Pläne involviert gewesen seien.32 Marie Ratkes Anzeige brachte intensive Ermittlungen der Hamburger Mordkommission ins Rollen. Zwar ließen sich aus den Aussagen einer ganzen Reihe Zeugen keine justiziablen Belege für den Vorwurf eines Mordversuchs extrahieren, sodass dieser fallen gelassen wurde.33 Trotz des für die Generalstaatsanwaltschaft „nicht unzweifelhaften“ Sachverhalts bot der Fall insgesamt jedoch, aus Sicht dieser sowie der Hamburger Senatskommission, nach über einem Jahr Ermittlungen ausreichend Anhaltspunkte für eine Anklage.34 Der Prozess vor dem Landgericht Hamburg gegen Martin-Heinrich Corten begann am 31. Oktober 1950. Im Urteil rekapitulierte das Gericht die Anklageschrift:
31 Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Anzeige von Marie Ratke vom 23.07.1948,
in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242. 32 Sie behauptete, Corten habe einen Mitarbeiter des Krankenhauses, Otto Kulp, über seine Geliebte, Felicitas Rudolphi, beauftragt, mit Hilfe der Oberschwester Lisa Schlüter Gift zur Ermordung seiner Frau zu besorgen. Die Vorwürfe bestätigte sie auch noch einmal in einer zweiten Aussage über ein Jahr später. (Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Anzeige von Marie Ratke vom 23.07.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242 sowie Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Marie Ratke vom 26.09.1949, in: ebd.) Den von Thorsten Noack als Anzeigegrund angegebenen Vorgang rund um die Gabe einer Spritze Strophanthin durch Martin-Heinrich Corten während eines akuten Herzanfalls seiner Frau erwähnte Marie Ratke zwar, die Vorwürfe stützten sich jedoch explizit nicht auf diesen. In der zweiten Vernehmung spielte die Strophanthinspritze zudem keine Rolle mehr. Ebenso lassen sich in den Aussagen Ratkes die von Noack zitierten Vorwürfe, Corten habe seine Frau hungern lassen, nicht wiederfinden. Auch leitete die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe nicht aus dieser Episode ab. (Vgl. Noack, Kaninchen, S. 319.) Die als Mitwisser angegebenen Zeugen Kulp und Schlüter leugneten in ihren Zeugenaussagen jegliche Giftmordpläne. Otto Kulp beschrieb die Vorwürfe Ratkes als „gemeine[n] Racheakt“, wenngleich er das vermeintliche Motiv für einen solchen im Dunkeln ließ. (Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Otto Kulps vom 27.07.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242 sowie Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Lisa Schlüters vom 27.07.1948, in: ebd.) Die Aussagen Ratkes allerdings pauschal als die einer „klatschsüchtigen Hausmeisterin“ (Büttner, Fritz Valentin, S. 135.) zu bewerten, ist angesichts weiterer Zeugenaussagen, die ebenfalls die Vorwürfe gegen MartinHeinrich Corten, wenn auch in der Regel nicht den des versuchten Giftmordes stützen, zu einfach. (Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Marie Horsches vom 22.07.1949, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242 sowie Schreiben der Staatsanwaltschaft Hamburg an das Kriminalamt Magdeburg vom 17.03.1949, in: ebd.) 33 Vermerk der Mordkommission Hamburg des ermittelnden Polizisten Instinskes vom 29.07.1948, in: ebd. 34 Zitat: Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht an die Senatskommission für die Justizverwaltung vom 15.03.1950, in: ebd. Zur Stellungnahme der Senatskommission vgl. Vermerk der Senatskommission für die Justizverwaltung zum Strafverfahren gegen den Arzt Dr. Corten vom 21.03.1950, in: ebd.
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Die Anklage wirft dem Angeklagten vor, durch drei selbständige Handlungen (Eppendorf I und Ilten, Eppendorf II, Langenhorn) vorsätzlich und rechtswidrig seine Frau durch Veranlassung ihrer Einweisung in geschlossene Abteilungen der in Frage kommenden Krankenanstalten des Gebrauchs ihrer persönlichen Freiheit beraubt zu haben, und zwar in jedem Fall länger als eine Woche (Verbrechen gegen §§ 239 Abs. 1, 2, 74 [sic] StGB). Dabei geht die Anklage davon aus, daß der Angeklagte die für die Einweisung verantwortlichen Ärzte durch bewusst falsche Angaben über das Verhalten und die angeblichen Krankheitssymptome seiner Frau getäuscht und dadurch in ihnen die Annahme ihrer Anstaltsbedürftigkeit hervorgerufen habe (mittelbare Täterschaft). Die Anklage nimmt weiter an, der Angeklagte habe sich seiner Frau entledigen wollen, um mit Frau Rudolphi, mit der er ein Liebesverhältnis unterhalte, ungestört leben zu können. In der Hauptverhandlung hat die Staatsanwaltschaft die Anklage auf – tateinheitlich mit den jeweiligen Freiheitsberaubungen begangene – fahrlässige Körperverletzung in zwei Fällen (Eppendorf II und Langenhorn), verursacht durch die von dem Angeklagten zu verantwortenden seelischen Leiden seiner Frau in den genannten Anstalten, und – tateinheitlich mit der Freiheitsberaubung im Falle Langenhorn begangene – vorsätzliche Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung im Entmündigungsantrag, erweitert.35
Martin-Heinrich Corten und sein Verteidiger Percy Barber bestritten dagegen durchgehend alle Vorwürfe. So habe Corten niemals die behandelnden Ärzte getäuscht und sei erst durch die Diagnose von Hans Bürger-Prinz über die psychische Erkrankung seiner Frau informiert worden. Zudem hätten stets andere Ärzte letztendlich die Entscheidung über „Aufnahme, Unterbringung und Behandlung“ getroffen. Auch habe Cortens Beziehung zu Felicitas Rudolfi, bei der es sich explizit nicht um ein „Liebesverhältnis“ gehandelt habe, sein Vorgehen in diesem Fall nicht beeinflusst. 36 In der über vier Wochen andauernden Hauptverhandlung sagten nacheinander alle Protagonisten wie Nebenfiguren des Falls aus. Inhaltlich ermittelte das 35 Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48]
vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 34. Die Anklage beschränkte sich auf die Zeiten, in denen Magdalena Corten in geschlossenen Abteilungen untergebracht war, da sie die offenen Abteilungen formal jederzeit verlassen konnte. (Vgl. Vermerk der Senatskommission für die Justizverwaltung zum Strafverfahren gegen den Arzt Dr. Corten vom 21.03.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242.) Für den Prozess entscheidend ist der Vorwurf der „Veranlassung“ der Einweisung, da Martin-Heinrich Corten formell für keine Einweisung seiner Frau selbst verantwortlich war (zum Beispiel durch Verfassen des für die Einweisung nötigen ärztlichen Attestes). Hier ist Thorsten Noacks Fallbeschreibung unpräzise. Vgl. Noack, Kaninchen, S. 319. 36 Zitate: Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 34–35. Diese Position hatte Martin-Heinrich Corten schon in der ersten Vernehmung vertreten, mit dem Unterschied, dass er in dieser noch jegliche Beziehung zu Felicitas Rudolfi grundsätzlich geleugnet hatte. Vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Martin-Heinrich Cortens vom 29.07.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242.
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Gericht dabei nicht allein die Vorgänge rund um die Einweisungen Magdalena Cortens, sondern leuchtete auch intensiv das Privatleben des Ehepaares und insbesondere die Affäre Martin-Heinrich Cortens mit Felicitas Rudolfi aus.37 Ganz besonders im Zentrum standen Fragen der Anstaltsbedürftigkeit und damit die Aussagen der behandelnden Ärzte, allen voran des mehrfach an den Einweisungen beteiligten Eppendorfer Chefarztes Hans Bürger-Prinz. Letzterer erregte mit einem selbstbewussten Auftritt vor Gericht und seinem nachdrücklichen Beharren auf der Richtigkeit seiner ursprünglichen Diagnose auch medial besonderes Aufsehen.38 Ebenso hielten die übrigen ärztlichen Zeugen an ihren sich gegenseitig widersprechenden Diagnosen fest.39 Der Korrespondent der Zeitung Die Welt bemerkte dazu: „Man hatte zuweilen leider das peinliche Gefühl, daß die medizinischen Zeugen und Sachverständigen mehr auf die Wahrung des Standesansehens achteten, als für die Klärung der Angelegenheit gut war.“40 Er zitierte außerdem einen Zuschauer des Prozesses mit den Worten: „Das ist ein Ringverein. Die halten zusammen.“41 Auch das Gericht äußerte deutliche Zweifel an den psychiatrischen Diagnosen der behandelnden Ärzte, vor allem ob ihrer Unterschiedlichkeit. Nichtsdestotrotz stellte das Urteil aber fest, dass mit rund drei Jahren Abstand keine validen Aussage mehr über die geistige Gesundheit Magdalena Cortens zum Zeitpunkt der Einweisungen getätigt werden könne, wenngleich berechtigte Zweifel an ihrer „geistig intakte[n] Persönlichkeit“ angebracht seien.42 Aus dem gleichen Grund sei auch die Frage der Anstaltsbedürftigkeit nicht rückblickend beurteilbar.43 Trotzdem sah Staatsanwalt Karl Christians in seinem Abschlussplädoyer den Verdacht der Freiheitsberaubung bestätigt und beantragte eine Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren. Insbesondere die wiederholte Weigerung Cortens, seine Frau wieder in die gemeinsame Wohnung einziehen zu lassen, hätte deren Aufenthalt in der Psychiatrie mehrfach unrechtmäßig verlängert und 37 Die ausgebreiteten intimen Details der Affäre trugen sicherlich erheblich zum öffentlichen
Interesse an der gesamten Verhandlung bei. Thorsten Noack benennt diese „Lüsternheit eines prüden Publikums“ als eine von mehreren wichtigen Motivationen der Berichterstattung. (Noack, Kaninchen, S. 320.) Die Befragungen nahmen teils skurrile Züge an, zum Beispiel als eine Zeugin berichtete, sie habe in der Wohnung Cortens „einmal morgens einen Gegenstand liegen sehen, den sie für ein Präservativ hielt“. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 39 38 Zur medialen Rezeption von Bürger-Prinz‘ Auftritt, siehe unten. 39 Vgl. N. N., Ist Frau Corten tatsächlich krank?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 2 sowie N. N., Frau Corten nicht geisteskrank, in: Süddeutsche Zeitung vom 18./19.11.1950, S. 2. 40 Holm, P. C., Lücke im Ordnungssystem, in: Die Welt vom 7.12.1950, S. 6. 41 Ebd. 42 Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 51. 43 Im Urteil heißt es dazu: „Das Bild, das Frau Corten in geistiger Beziehung heute bietet und die Tatsache, daß sie sich, wenn sie in Freiheit gewesen ist, unauffällig und ungefährlich verhalten hat, sind, rückschauend betrachtet, nicht unbedingt beweiskräftige Indizien gegen ihre Anstaltsbedürftigkeit.“ (Hervorhebung entspricht dem Original.) Ebd., S. 56.
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sei daher als Freiheitsberaubung durch Unterlassen zu bewerten. Ebenso habe er sich aktiv bemüht, Zweifel von Ärzten am Krankheitszustand seiner Frau zu zerstreuen. Verteidiger Percy Barber betonte dagegen die Autonomie der Ärzte, die eine Einflussnahme seines Mandanten nicht zugelassen habe.44 Das Urteil sprach Martin-Heinrich Corten letztlich vom Vorwurf der Freiheitsberaubung sowie der fahrlässigen Körperverletzung frei. Das Verfahren wegen Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung wurde, gemäß § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 31. Dezember 1949, eingestellt.45 In der rechtlichen Würdigung stellte das Gericht zunächst fest, dass der Angeklagte mehrfach versucht habe, auf die behandelnden Ärzte einzuwirken. Der Verdacht, er habe seine Frau als psychisch Kranke in verschiedenen Kliniken unter Verschluss halten wollen, um ihre Heimkehr zu verhindern, hätte in keinem Einweisungsfall vollständig ausgeräumt werden können. Letztlich hätten die Beweise jedoch nicht für den Nachweis strafrechtlicher Relevanz ausgereicht.46 In allen Fällen seien für die Einweisung, bzw. Verlegung auf die geschlossene Station nicht die Einlassungen des Ehemanns, sondern die eigenständigen Entscheidungen der behandelnden Ärzte ausschlaggebend gewesen.47 Hinsichtlich des Vorwurfs der fahrlässigen Körperverletzung stellte das Gericht fest, dass seelische Leiden strafrechtlich nicht erfasst seien und körperliche Verletzungen Magdalena Cortens nicht nachgewiesen werden konnten.48 Eine falsche eidesstattliche Versicherung Cortens im Entmündigungsverfahren sei zwar nachweisbar, jedoch wäre hierfür eine Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten verhängt worden, weshalb diese unter das Amnestiegesetz falle.49 Martin-Heinrich Corten verließ das Gericht also als freier Mann. Unabhängig von dieser rechtlichen Beurteilung formulierte das Gericht unmittelbar im Anschluss jedoch harsche Kritik an Cortens Verhalten in den „Bemerkungen zur moralischen Bewertung“, welche der Vorsitzende Richter Fritz 44 Zu den Plädoyers vgl. N. N., Zwischen Gefängnis und Freispruch, in: Hamburger Echo vom
28.11.1950 sowie N. N., Gefängnis für Dr. Corten beantragt, in: Die Welt vom 28.11.1950. 45 § 3 Abs 1 amnestierte vor dem 15.09.1949 begangene Straftaten, für die eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten zu erwarten gewesen wäre. Vgl. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31.12.1949, in: BGBl. I, S. 37–38. 46 Das Urteil behandelt die Fälle, in denen Magdalena Corten in eine geschlossene Station eingewiesen wurde einzeln, kommt aber in allen Fällen zum gleichen Ergebnis. Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 71, S. 78, S. 86. 47 Zwar gaben im Ermittlungsverfahren einzelne Ärzte zu, sich bei Einweisung auf Schilderungen Martin-Heinrich Cortens zum Gesundheitszustand seiner Frau gestützt zu haben (vgl. Protokoll der Mordkommission Hamburg der Aussage von Heinz Herwart Klinghammers vom 13.09.1948, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242.), im Prozess betonten jedoch alle behandelnden Ärzte ihre Autonomie. 48 Vgl. Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6 Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 88. 49 Vgl. ebd., S. 89–90.
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Valentin sowie die Beisitzer Wartemann und Schleusener auf Grund des hohen öffentlichen Interesses am Prozess an die rechtliche Würdigung des Sachverhalts anhängten.50 Darin schlussfolgerten sie: Das Gericht ist sich darüber klar, daß seiner Aufgabe mit der tatbestandsmässigen Rechtsfindung strenge Grenzen gezogen sind, und es daher im allgemeinen nicht seine Sache sein kann, moralische Werturteile zu fällen. Wie vieles, was nicht rechtens ist, moralisch nicht unbedingt zu verurteilen ist, so ist umgekehrt vieles, was moralisch zu verurteilen ist, nach dem Recht nicht strafbar. Wenn das Gericht in der vorliegenden Sache von seiner sonst geübten Zurückhaltung in moralischen Werturteilen eine Ausnahme macht, so geschieht es deswegen, weil in dem Prozess gegen den Angeklagten, der die Öffentlichkeit in einem seltenen Masse erregt hat, eine besonders auffällige Diskrepanz zwischen Recht und Sittlichkeit in Erscheinung getreten ist. Es erscheint daher nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die Freisprechung des Angeklagten von der Anklage der Freiheitsberaubung nicht dahin ausgelegt werden darf, daß das Gericht das Verhalten des Angeklagten in irgendeinem Zeitpunkt auch als moralisch gerechtfertigt ansieht.51
Zwar hielt das Gericht Martin-Heinrich Corten die Erlebnisse der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, insbesondere den Verlust seiner engsten Angehörigen zugute, stellte aber auch fest: Aber dieser Umstand kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß der Angeklagte es gegenüber seiner Frau, mit der er 15 Jahre lang in einer harmonischen Ehe gelebt hatte, und die, selbst Nichtjüdin, in seiner schwersten Zeit treu zu ihm und seinen Angehörigen gehalten hatte, an jeder Fürsorge hat fehlen lassen, als sie sich in den verschiedenen Krankenhäusern und Anstalten befand, oder wenn sie zu kurzen Zwischenaufenthalten in die eheliche Wohnung zurückkehrte, und bei allen diesen Gelegenheiten eine beispiellose Lieblosigkeit an den Tag gelegt hat.52
Auch in der mündlichen Urteilsbegründung betonte Valentin diesen Umstand. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte den Vorsitzenden Richter mit der Aussage: „Wenn es im Strafgesetzbuch eine Strafe wegen lieblosen Verhaltens gebe, […] hätten wir es nicht nötig gehabt, uns vier Wochen mit diesem Prozeß herumzuschlagen und schließlich sogar noch eine Woche lang zu beraten. Dann wären wir sehr schnell zu einem Urteil gekommen.“53 Das in der Gesamtschau stark 50 Vgl. ebd., S. 87–88. 51 Ebd., S. 87. Dabei war schon die Beschreibung des Angeklagten in den übrigen Abschnitten
des Urteils deutlich negativ konnotiert. So hob das Gericht Cortens „Neigung zu Selbsttäuschungen, Übertreibungen und Überspitzungen“ hervor, die auf „Minderwertigkeitskomplexe[n]“ eines „im Charakter widerspruchsvollen Menschen“ basierten. Ebd., S. 35–36. 52 Ebd., S. 87–88. Seine Mutter und seine Schwester waren im Holocaust ermordet worden. 53 N. N., Corten in Hamburg freigesprochen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.12.1950, S. 3.
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moralisierende Urteil des Gerichts entsprach damit der öffentlichen Meinung, die Magdalena Corten als Opfer zuneigte und einem Freispruch ihres Mannes ablehnend gegenüberstand.54 Die Staatsanwaltschaft beantragte unmittelbar nach Prozessende die Revision.55 Nach dem Erhalt der schriftlichen Urteilsbegründung zog sie diese allerdings mit Verweis auf fehlende Rechtsmängel und daher ohne Erfolgsaussichten zurück.56 Das Urteil des Landgerichts setzte damit einen Schlusspunkt unter die juristische Aufarbeitung der Psychiatrieaufenthalte Magdalena Cortens. Trotzdem traf sich das Ehepaar das Jahr darauf noch einmal vor Gericht und stritt, erneut unter großer öffentlicher Anteilnahme, um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter, welches schlussendlich Martin-Heinrich Corten zugesprochen wurde.57
III. Der Corten Prozess als Triebfeder öffentlicher Unsicherheit Nur vor dem Hintergrund dieser Prozessdetails ist letztlich das außergewöhnliche Ausmaß der zugehörigen Presseberichterstattung nachvollziehbar. Der CortenProzess wurde von Beginn an in der Öffentlichkeit breit diskutiert.58 Insbesondere die Lokalpresse berichtete intensiv von den einzelnen Verhandlungstagen, aber auch überregionale Zeitungen griffen die Ereignisse und die am Beispiel des Einzelfalls verhandelten Fragen auf.59 Selbst das Gericht stellte in der schriftlichen 54 Vgl. N. N., Amnestiert und freigesprochen, in: Hamburger Echo vom 7.12.1950. 55 Vgl. Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht an
die Senatskommission für die Justizverwaltung vom 12.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 241–1 II, Nr. 2865. 56 Vgl. Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht an die Landesjustizverwaltung vom 11.04.1951, in: ebd. 57 Vgl. N. N., Lena Corten kämpft um Beate, in: Hamburger Freie Presse vom 20.09.1951; Fischer, Hans Erasmus, Entscheidung um Beate Corten, in: Hamburger Abendblatt vom 19.09.1951; N. N., Streit um Beate Corten, in: Hamburger Freie Presse vom 12.04.1951; N. N., Um Beate Corten, in: Nachtausgabe vom 12.04.1951; N. N., Das Sorgerecht für Beate Corten, in: Hamburger Freie Presse vom 11.04.1951 sowie N. N., Wer sorgt für Beate Corten?, in: Hamburger Abendblatt vom 11.04.1951. 58 In der Zeit berichtete ein Journalist, „daß man nicht Straßenbahn, nicht Eisenbahn fahren kann, ohne aus den Gesprächen ringsum die Worte zu hören: ‚Dr. Corten … Dr. Corten …‘“. Marein, Josef, Die Angst vor der Schlangengrube. Lehren aus dem Prozeß Dr. Corten, in: Die Zeit vom 23.11.1950, S. 11. 59 Thorsten Noack benennt in seinem Überblick über die Presseberichterstattung allein 85 Artikel aus lokalen wie überregionalen Zeitungen. (Vgl. Noack, Kaninchen, S. 311–340.) Zur Beantwortung der Fragestellung dieses Beitrags wurden zum Teil bisher unbeachtete Artikel aus den Medien: Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Welt, Stern, Der Spiegel, Nachtausgabe, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hamburger Abendblatt, Hamburger Morgenpost und Hamburger Freie Presse ausgewertet. Unter einer anderen Fragestellung ebenso spannend wäre die Analyse der von Thorsten Noack und Ursula Büttner angeführten Berichterstattung in den zeitgenössischen Frauenzeitschriften. Vgl. Noack, Kaninchen, S. 321 sowie Büttner, Fritz Valentin, S. 131.
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Urteilsbegründung fest, dass der Prozess „die Öffentlichkeit in einem seltenen Maße erregt“ habe.60 Auch ist ein durchweg hohes Publikumsinteresse überliefert, so waren die Zuschauerränge des Gerichtssaals regelmäßig voll besetzt.61 Darüber hinaus nahm das Publikum emotional großen Anteil an der Verhandlung, immer wieder wird in den Quellen von spontanen Unmutsäußerungen oder lautstarker Zustimmung berichtet.62 Die Wahrnehmung des Prozesses war von mehreren Topoi geprägt. Zentrales Motiv der Presseberichterstattung bildete erstens das Bild der hilflosen Ehefrau, die allein gegen einen bösartigen Ehemann und ein unmenschliches System um ihre Freiheit kämpft.63 So bot der Prozess insbesondere für Frauen ein hohes Identifikationspotential.64 Das ungleiche Geschlechterverhältnis der Nachkriegsgesellschaft, ein starker Kontrast zu der während der Kriegsjahre vielfach verschobenen Rollenverteilung, führte gerade in den späten 40er und frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zu teils massiven familiären Konflikten, der vorherrschende ‚Männermangel‘ verschärfte diese Spannungen noch.65 Ein Hintergrund, vor dem sich das Opfer Magdalena ‚Lena‘ Corten zur Projektionsfläche entwickelte, da sie quasi repräsentativ unter der patriarchalen Ungerechtigkeit litt, die vielen Frauen in ähnlicher Form bekannt gewesen sein dürfte.66 Auch die Wahrnehmung Magdalena Cortens als „kleine, schlichte Frau“, die mit der „elegante[n], gutaussehende[n] junge[n] Dame“ Felicitas Rudolfi als Nebenbuhlerin konfron-
60 Zitat: Urteil des Landgerichts Hamburg in der Strafsache gegen Dr. Corten [(32) 75/50–6
Js 885/48] vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10243, S. 87. 61 Von einem außergewöhnlich großen Publikumsandrang berichten zum Beispiel: N. N., Dr. Corten im Verhör, in: Die Welt vom 1.11.1950; N. N., Dr. Cortens Kronzeuge sagt aus, in: Hamburger Echo vom 14.11.1950 sowie N. N., Nach dem Gesetz freigesprochen, in: Hamburger Abendblatt vom 7.12.1950. 62 Vgl. N. N., Sollen die Zeitungen schweigen?, in: Hamburger Echo vom 16.11.1950; N. N., Frau Cortens Stationen, in: Die Welt vom 2.11.1950; WE-Meldung der Mordkommission Hamburg vom 6.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 331–1 II, Nr. 10242. 63 Die Anteilnahme am Schicksal der Ehefrau zog sich besonders in Folge von Cortens Aussage im Prozess durch die Berichterstattung der Hamburger Lokalpresse. Vgl. N. N., Dr. Corten beschuldigt seine Frau, in: Frankfurter Freie Presse vom 1.11.1950; N. N., Zerrüttete Ehen, in: Hamburger Morgenpost vom 1.11.1950, S. 1 f.; N. N., Tausend Gründe gegen die Frau, in: Hamburger Echo vom 2.11.1950; Fischer, Hans Erasmus, Widersprüche um die Corten-Akte, in: Hamburger Abendblatt vom 8.11.1950, S. 3; N. N., Lena Cortens erschütterndes Erlebnis, in: Hamburger Morgenpost vom 8.11.1950; N. N., Weihnachten unter Geisteskranken, in: Hamburger Freie Presse vom 9.11.1950 sowie N. N., Um die Befreiung der Frau Lena, in: Hamburger Echo vom 15.11.1950. 64 Vgl. Brink, Zwangseinweisung, S. 475. 65 Insbesondere die Rolle des Mannes als Familienernährer -oberhaupt war durch die Kriegserfahrungen unter Druck geraten, was sich, wie eine Leserin der Zeit in einem Leserbrief im Kontext des Corten-Prozesses bemerkte, in innerfamiliären Konflikten niederschlug. Vgl. Noack, Kaninchen, S. 320. 66 Auch Ursula Büttner stellt fest: „Frauen identifizierten sich in besonderer Weise mit dem vermeintlichen Opfer des Arztes, weil sie selbst oft unter frustrierenden Erfahrungen litten.“ Büttner, Fritz Valentin, S. 132.
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tiert war, trug gewiss zum Identifikationspotential bei.67 Nicht zuletzt entwickelte der Prozess durch solch boulevardeske Geschichten auch einen hohen Unterhaltungsfaktor.68 Besonders aufmerksam kommentiert wurden in diesem Kontext skurrile Geschichten wie die einer gestohlenen Geige, die Martin-Heinrich Corten nach eigener Aussage von einem Krankenbesuch bei seiner Ehefrau abhielt.69 Zweitens drängten die Verbrechen des Nationalsozialismus von Beginn an in die Rezeption des Prozesses hinein. Der Medizinhistoriker Thorsten Noack analysiert: Durch die Identifikation des Publikums mit Lena Corten (die im ‚Dritten Reich‘ in ‚privilegierter Mischehe‘ mit ihrem Mann gelebt hatte) kehrte sich die seit Kriegsende von den Alliierten propagierte Täter-Opfer-Konstellation um. Der Prozeß fügte sich damit in das vergangenheitspolitische Klima der frühen Bundesrepublik ein. Auf der juristischen und moralischen Anklagebank saßen nun zwei ‚Juden‘ – wobei im Laufe der Verhandlung immer mehr Felicitas Rudolfi, die in der NS-Terminologie ebenfalls ‚jüdisch‘ gewesen war, als treibende Kraft hinter der Psychiatrisierung Lena Cortens angesehen wurde.70
Der noch immer weite Teile der Gesellschaft durchdringende Antisemitismus nivellierte alle Grautöne dieses menschlich wie rechtlich hoch komplexen Falls. Die Abwehrreflexe der Tätergesellschaft ließen die vor Gericht durchaus differenzierte Betrachtung des Sachverhalts verschwimmen und förderten in der medialen Berichterstattung die Identifikation mit dem ‚nicht-jüdischen Opfer‘.71 Und drittens schloss der ‚Fall Corten‘ thematisch unmittelbar an die in der Nachkriegszeit virulente gesellschaftliche Debatte über Höhe und Ausgestaltung der „Schwelle zur Anstalt“ an.72 Ausgelöst wurde die Diskussion durch mehrere mediale Ereignisse, die sich um die Umstände von Einweisung und Behandlung 67 Zitate: N. N., Frau Rudolfi als Zeugin, in: Die Welt, Bd. 258, 1950. Zitate: N. N., Frau Rudolfi als
Zeugin. Das Identifikationspotential des Spannungsfeldes zwischen Ehefrau und Affäre wurde auch in der Presse diskutiert. Vgl. Noack, Kaninchen, S. 320. 68 Gerade in der Hamburger Lokalpresse erscheint der Prozess immer wieder als spannendes, über mehrere Wochen fortgesetztes Theaterstück. So schreibt zum Beispiel das Hamburger Abendblatt: „Heute wird das Schicksalsdrama einen seiner Höhepunkte erreichen, denn Frau Rudolfi und Frau Lena Corten treten als Zeuginnen auf.“ (Fischer, Hans Erasmus, Dr. Corten im Kreuzfeuer der Fragen, in: Hamburger Abendblatt vom 2.11.1950, S. 6.) Und die Hamburger Morgenpost berichtete unter der Überschrift „Ein Höhepunkt im Corten-Drama“ von „einer Szene von wahrhaft dramatischer Wirkung“, der letzten Aussage Martin-Heinrich Cortens im Prozess. N. N., Ein Höhepunkt im Corten-Drama, in: Hamburger Morgenpost vom 3.11.1950. 69 Vgl. N. N., Frau Cortens Stationen, in: Die Welt vom 2.11.1950 sowie N. N., Personalien, Martin Heinrich Corten, in: Der Spiegel vom 8.11.1950. 70 Noack, Kaninchen, S. 322. 71 Cornelia Brink stellt fest: „Keine der Zeitungen fragte danach, wie der Angeklagte Corten mit seiner Familie die NS-Zeit überlebt hatte.“ Brink, Zwangseinweisung, S. 475. 72 Mit der auf die Überlegungen Robert Castels zurückgehenden Metapher erfasst Cornelia Brink die Grenze zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘, zwischen ‚draußen‘ und ‚drinnen‘. Ihre ‚Höhe‘ war dabei nicht nur historisch flexibel, sondern abhängig von einer ganzen Reihe Faktoren, wie
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(vermeintlich) Kranker in zeitgenössische Psychiatrien drehten.73 In der Presse wurde der Corten-Prozess folgerichtig mit einer Reihe anderer Ereignisse ähnlicher thematischer Ausrichtung verknüpft. Die Welt verwies zum Beispiel auf vergleichbare Rechtsfälle, wie die Entmündigung des Hamburger Kaffeehausbesitzers Robert Hirte, der ebenfalls die unberechtigte Einweisung eigentlich ‚Gesunder‘ in den Fokus rückte.74 Den bedeutendsten Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein in dieser Frage hatte aber sicherlich der Hollywoodfilm Die Schlangengrube (eng. The Snake Pit), welcher mit Oscargewinnerin Olivia de Havilland als Patientin einer amerikanischen geschlossenen Anstalt den Zuschauern die Torturen zeitgenössischer Psychiatriebehandlung zwischen Elektroschock- und Hypnosetherapie vor Augen führte.75 Wichtiger noch, der Erfolg von Buch und Film etablierte den im Titel verwendeten und kulturhistorisch negativ aufgeladenen Begriff der ‚Schlangengrube‘ als Metapher für die Psychiatrie als Ort der Schrecken und Qualen.76 In der Berichterstattung des Prozesses verwendete Überschriften, wie „Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?“ oder „Die Angst vor der Schlangengrube“,
Status, Familiensituation oder Einweisungsgrund. Zur Schwelle der Anstalt vgl. Brink, Grenzen, S. 9–35. 73 Auch der Prozess gegen Martin-Heinrich Corten und insbesondere sein Freispruch rekurrierte auf genau solche Fragen. Der damalige Hamburger Senator der Gesundheitsbehörde, Friedrich ‚Fiete‘ Dettmann, stellte nach der Urteilsverkündung fest: „Durch den Freispruch entsteht unter der Bevölkerung das dringende Verlangen nach Schutz vor Fehldiagnosen der Psychiater und vor allem nach Schutz vor Freiheitsberaubung.“ Dettmann, Friedrich, Der Fall Corten, in: Hamburger Volkszeitung vom 25.11.1950. 74 Vgl. Holm, P. C., Lücke im Ordnungssystem, in: Die Welt vom 7.12.1950, S. 6. Der 73-jährige Robert Hirte war, gemäß der zeitgenössischen Presse, auf Betreiben des Betriebsrats seines Unternehmens sowie einiger Angehöriger gegen seinen Willen entmündigt und mit Gewalt in eine Heilanstalt eingewiesen worden. Die Einweisung wurde erst nachträglich vom Amtsgericht bestätigt und bereits einen Monat später vom Landgericht wieder aufgehoben. Der Fall erregte einiges Aufsehen, verwies er doch, ebenso wie der ‚Fall Corten‘, auf die Gefahr unberechtigter Zwangseinweisungen. „Allzu leicht“, warnte schließlich der Stern, „könnten sonst übelwollende Angehörige sich eines zählebigen Erbonkels entledigen, und letzten Endes wäre niemand von uns sicher“. N. N., Warte, warte nur ein Weilchen, in: Stern vom 8.10.1950. S. 30. 75 Vgl. Litvak, Anatole, The Snake Pit, USA 1948 sowie Ward, The Snake Pit. Zur Publizität des Films vgl. ebenfalls Brink, Grenzen, S. 372–379; Dies., Zwangseinweisungen; Noack, Kaninchen, S. 311–340 sowie Condreau, Film und Psychiatrie, S. 886–926. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb zum Beispiel in ihrer Kritik zum gerade angelaufenen Film: „Der Film rührt ein Problem an, mehr als eines – daß man der Psychotherapie mehr Augenmerk widmen sollte, so wie es in Amerika geschieht –, und bringt die Menschen ins Gespräch über Dinge, vor denen sie gern die Augen schließen.“ Lüth, Paul, Freud in der Schlangengrube, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.06.1950, S. 7. 76 Die Semantik der ‚Schlangengrube‘ war so wirkmächtig, dass sich zum Beispiel Frankfurter Psychiater mit einer Transparenzoffensive gegen derartige Zuschreibungen zu wehren versuchten. Vgl. N. N., In Frankfurt gibt es keine ‚Schlangengrube‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.07.1950, S. 9.
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verknüpften die Erlebnisse Magdalena Cortens unmittelbar mit solchen Schreckensvisionen.77 Vor dem Hintergrund einer bereits aufgeheizten öffentlichen Debatte verhandelte der Corten-Prozess in den Augen der Zeitgenossen damit Fragen, die weit über die eigentliche Bedeutung des Einzelfalls hinaus gingen. „Ein schwerer, breiter Schatten lagert seit dem ersten Verhandlungstag über dem Corten-Prozeß“, unkte das Hamburger Echo.78 Und das Hamburger Abendblatt sekundierte: „Die Öffentlichkeit hat den Prozeß nicht nur mit Sensationslust, sondern auch aus der echten Besorgnis verfolgt, die in der Furcht begründet ist, daß von den Psychiatern her die Freiheit der Menschen bedroht sein könnte.“79 Auch die Zeit beobachtete bedeutungsschwer: „Es sitzt dem Publikum nicht bloß die Sensation, es sitzt ihm die Angst im Nacken, die ohnehin schon durch moderne Filme und Romane genährte Angst vor der snake pit, der ‚Schlangengrube‘, dem Irrenhaus“, schließlich stünde „[e]twas anderes, etwas Wichtigeres […] auf dem Spiel“.80 Konkret verknüpften gerade die überregionalen Zeitungen die Ereignisse des Prozesses mit der Frage nach den gesetzlichen Sicherungen, die ‚Gesunde‘ vor der fälschlichen Einweisung als ‚Kranke‘ schützen sollten. So schrieb die Süddeutsche Zeitung: „Der gegenwärtig in Hamburg abrollende Strafprozess gegen den praktischen Arzt Heinrich [sic] Corten, […] hat in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt. Ist es möglich, daß Gesunde widerrechtlich in Heil- und Pflegeanstalten gebracht und dort festgehalten werden?“81 Und in einem späteren Artikel forderte die gleiche Zeitung sogar ganz direkt: „Der vor einem Hamburger Gericht in diesen Tagen zur Entscheidung gereifte ‚Fall Corten‘ […] verlangt gebieterisch eine grundsätzliche Antwort auf die Frage, ob genügend Sicherungen bestehen, um heute nicht jeden von uns […] hinter die Mauern eines Irrenhauses zu bringen.“82 Auch das Prozesspublikum trieben derartige Fragen um. So berichtete ebenfalls die Süddeutsche Zeitung: „Ein kritischer Besucher des Prozesses sprach resigniert vom ‚Totalitarismus der Irrenärzte‘ als einer praktisch schier unbeschränkten Herrschaft dieser sehr unterschiedlich fähigen Fachleute über Freiheit und Schicksal 77 Vgl. Marein, Josef, Die Angst vor der Schlangengrube. Lehren aus dem Prozeß Dr. Corten, in:
Die Zeit vom 23.11.1950, S. 11 sowie Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 3. 78 N. N., Ist Dr. Corten geistig normal?, in: Hamburger Echo vom 11.11.1950. 79 N. N., Zuerst der Mensch!, in: Hamburger Abendblatt vom 7.12.1950, S. 1. Das hohe Interesse der Öffentlichkeit belegt auch der starke Zuschauerandrang, insbesondere zur Aussage der Schlüsselfigur des Falls, des bekannten Psychiaters Hans Bürger-Prinz, vgl. N. N., Dr. Cortens Kronzeuge sagt aus, in: Hamburger Echo vom 14.11.1950. 80 Marein, Josef, Die Angst vor der Schlangengrube. Lehren aus dem Prozeß Dr. Corten, in: Die Zeit vom 23.11.1950, S. 11. Hervorhebung entspricht dem Original. 81 Müller-Meiningen jr., Ernst, Der Fall Corten – eine ‚Schlangengrube‘?, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1950, S. 3. 82 Müller-Meiningen jr., Ernst, Allmacht der Psychiater?, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.12.1950, S. 3. Ähnliche Fragen stellte auch das Hamburger Echo, in: N. N., Amnestiert und freigesprochen, in: Hamburger Echo vom 7.12.1950.
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ihrer Pflegebefohlenen.“83 Und der Vorsitzende der Strafkammer, Fritz Valentin, berichtete in der mündlichen Urteilsbegründung von Zuschriften an das Gericht, nach denen „echte Furcht vor der Bedrohung der menschlichen Freiheit die Anteilnahme der gesamten deutschen Öffentlichkeit an dem Prozess hervorgerufen habe“.84 Die sehr auf Standesinteressen bedachten Auftritte der Psychiater vor Gericht trugen dabei nicht zur Beruhigung der Öffentlichkeit bei.85 So musste auch Fritz Valentin feststellen, eigentlich habe nicht nur Martin-Heinrich Corten, sondern der „Fall der Psychiatrie“ als solcher vor Gericht gestanden.86 Dies beobachtete auch die Welt, die „ein ganzes System auf der Anklagebank“ sitzen sah.87 In der Folge diskutierte vor allem die überregionale Presse die Reform gesetzlicher Sicherungen gegen ungerechtfertigte Einweisungen. Hoch im Kurs stand die Forderung eines richterlichen Vorbehalts bei allen (Zwangs-) Einweisungen. Zum Beispiel verwies die Zeit auf die vermeintliche Schlechterstellung der Patienten im Vergleich zu Strafgefangenen, deren Freiheitsentziehung von einer solchen autonomen richterlichen Entscheidung abhängig sei.88 Auch in der Süddeutschen Zeitung und der Welt verlangten Journalisten Ähnliches.89 Allen medial publizierten Ansätzen gemein war dabei, dass sie die große Bandbreite unterschiedlicher Einweisungsformen ignorierten. Sie alle sahen die psychiatrische Anstalt, sicherlich in Tradition der durchweg negativ geprägten Sicht auf die ‚Schlangengrube‘, als Ort des erzwungenen Freiheitsentzugs, nicht als Ort der freiwilligen Behandlung. Dabei machten (und machen) ‚freiwillige‘ Einweisungen die überwiegende Mehrzahl aller Fälle aus: Diese wären von der Einführung eines richterlichen Vorbehalts zu keinem Zeitpunkt berührt gewesen. Eine Differenzierung, die besonders mit Blick auf den Corten-Prozess von Bedeutung war. Schließlich war Magdalena Corten 83 Müller-Meiningen jr., Ernst, Allmacht der Psychiater?, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.12.1950,
S. 3. 84 N. N., Corten in Hamburg freigesprochen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.12.1950, S. 3. 85 Hans Bürger-Prinz ging in seinem Beharren auf der Autonomie der Psychiater so weit, dass er jegliche Kontrolle seines Standes durch fachfremde Organisationen oder Individuen ablehnte. Vgl. N. N., Dr. Cortens Kronzeuge sagt aus, in: Hamburger Echo vom 14.11.1950. 86 N. N., Corten in Hamburg freigesprochen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.12.1950, S. 3. 87 N. N., Der Corten-Prozeß und seine Lehren, in: Die Welt vom 7.12.1950, S. 9. Ähnlich urteilte die Zeit: „Erlebt man dabei die Reaktion des dichtgedrängten Publikums im Gerichtssaal, so scheint es zuweilen, als seien auch sie die Professoren, und nicht nur Dr. Corten, angeklagt. Das spürt man deutlich.“ Marein, Josef, Die Angst vor der Schlangengrube. Lehren aus dem Prozeß Dr. Corten, in: Die Zeit vom 23.11.1950, S. 11. 88 Josef Marein schreibt dazu: „Man braucht nur einen Schritt zu tun: nämlich dem Menschen, der einer Geisteskrankheit verdächtig ist, dieselben Rechte einzuräumen, die dem zukommen, der eines Mordes verdächtig ist. […] Aber er sollte innerhalb einer festgesetzten Frist einem Richter vorgeführt werden, der über Aufhebung oder Fortdauer der Freiheitsbeschränkung entscheidet.“ Ebd. 89 Vgl. Müller-Meiningen jr., Ernst, Allmacht der Psychiater?, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.12.1950, S. 3 sowie Holm, P. C., Lücke im Ordnungssystem, in: Die Welt vom 7.12.1950, S. 6.
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formal stets freiwillig aufgenommen worden, sodass schärfere Gesetze ihre Einweisung, zumindest zunächst, gar nicht verhindert hätten.90 Die Existenz des Art. 104 GG, der die Ansprüche der Kommentatoren eigentlich bereits erfüllte, nahm in der Diskussion zudem erstaunlicherweise keine prominente Rolle ein. Doch auch Stimmen aus der Ärzteschaft fanden in der Öffentlichkeit Gehör. Viele Standesvertreter beklagten sich hier über „anti-psychiatrische Hetze“, die insbesondere in Folge des Corten-Prozesses über den Berufsstand hereingebrochen sei.91 Besonders kritisierten sie die begleitende Presseberichterstattung. Nicht nur würde durch diese unnötigerweise das Vertrauen zwischen Patient und Arzt zerstört, schließlich sei die Angst vor ungerechtfertigter Einweisung in der Praxis unbegründet.92 Darüber hinaus sei medizinischer Fortschritt letztlich nur bei maximaler Autonomie des Berufsstandes möglich.93 Nur einzelne Ärzte bemühten sich in Reaktion auf die auf sie einprasselnde Kritik um Transparenz. So hatten sich schon die Kliniken Eppendorf und Langenhorn während des Prozesses für eine Besichtigung durch die Prozessbeteiligten, aber auch durch die Presse geöffnet.94 Auch die Gütersloher Anstalt stellte dem durch Film und Prozess geförderten Interesse an der Psychiatrie öffentliche Führungen entgegen.95
IV. Unsicherheit und Verwaltungshandeln 1.
Das Konzept der ‚Unsicherheit‘
Sowohl solche Transparenzangebote als auch die geschilderten Abwehrreflexe belegen das Bestreben der Ärzteschaft, auf die durch die mediale Berichterstattung neu geweckte Unsicherheit der Öffentlichkeit hinsichtlich des ‚Systems Psychiatrie‘ zu reagieren, welche in den zahlreichen angeführten Presseberichten überliefert ist. Auch staatliche Organe, sei es auf regionaler, sei es auf zentraler Ebene, sahen sich gerade im Angesicht öffentlicher Rufe nach gesetzlichen Reformen 90 Hierauf weist auch Thorsten Noack hin, wenn er schreibt, dass der „der Fall Corten eigentlich
der ‚falsche Anlass‘“ für eine Debatte des Einweisungsrechts war. (Vgl. Noack, Kaninchen, S. 324). Dass die hypothetischen Gesetze allerdings zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel bei den nachweislich gegen Magdalena Cortens Willen stattfindenden Verlegungen auf die geschlossenen Stationen verschiedener Anstalten, gegriffen hätten, ist zumindest möglich. 91 Zitat: Müller-Meiningen jr., Ernst, Psychiatrie und Justiz, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.04.1951, S. 3. 92 Vgl. N. N., Sollen die Zeitungen schweigen?, in: Hamburger Echo vom 16.11.1950 sowie Parow, Die Hamburger Ärztekammer rechtfertigt sich, in: Hamburger Echo vom 2.12.1950. 93 Dies äußerte Hans Bürger-Prinz bei einer Aussprache zwischen Journalisten und Ärzten im Hamburger Presse-Klub. Vgl. N. N., Nachklang zum Corten-Prozeß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.12.1950, S. 2. 94 Vgl. N. N., Corten-Gericht besucht Heilanstalten, in: Die Welt vom 23.11.1950. 95 Vgl. Brink, Zwangseinweisungen, S. 473. Cornelia Brink beschäftigt sich eingehend mit den ärztlichen Abwehrbemühungen.
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zunehmend gezwungen, sich zum Komplex der psychiatrischen Einweisung zu positionieren. Dabei zeigten sich grundlegende Differenzen in der Unsicherheitswahrnehmung der einzelnen Akteure bezüglich des Einweisungsprozesses. Deren Analyse sind jedoch einige theoretische Überlegungen zum Konzept der ‚Unsicherheit‘ voranzustellen. Unsicherheit, so definiert Niklas Luhmann, entwickelt sich aus der Differenz zwischen „Wissen und Nicht-Wissen“ zu einem gegebenen Zeitpunkt und ist als solche in allen Handlungskontexten zu finden.96 Fehlende Kenntnis der Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Umwelten, gepaart mit Gewissheit hinsichtlich der Möglichkeit negativer Entwicklungen, erschwert in diesem Fall das Treffen unmittelbar anstehender Entscheidungen.97 Der Zustand der Unsicherheit ist damit letztlich Ausweis der Offenheit zukünftiger Umwelten, ein Zustand, der sowohl negativ, als Dilemma, als auch positiv, als Raum für Chancen, wahrgenommen werden kann.98 Vollständig zu beseitigen ist Unsicherheit aufgrund dieser der Zukunft inhärenten Offenheit nie. Sie kann maximal reduziert werden, zum Beispiel durch Entscheidungen, die die Anzahl möglicher künftiger Umwelten eingrenzen.99 Auch die Sammlung zusätzlicher Informationen kann zwar spezifische Unsicherheiten verringern, gleichzeitig öffnen diese aber auch den Blick auf bisher unbeachtete Fragen.100 Moderne Forderungen nach umfassender ‚Sicherheit‘ sind daher letztlich unerfüllbar.101 Externe Umweltereignisse, in diesem Fall mediale Begebenheiten, wie der Film Die Schlangengrube oder der Corten-Prozess, beeinflussen die Unsicherheitswahrnehmung der Akteure, können sie verstärken oder verringern. Jedoch ist das Empfinden von Unsicherheit keine direkte Konsequenz dieser Ereignisse, sondern folgt vielmehr aus der „internen Problematisierung“ der externen Umweltwahrnehmung, ist also darüber hinaus von einer ganzen Reihe Determinanten abhängig.102 Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Unsicherheitswahrnehmung unterschiedlicher Individuen bezüglich der gleichen Umweltzustände massiv differieren kann. Jüngere Theorien unterscheiden bei der Beschreibung von Unsicher96 Zitat: Luhmann, Organisation, S. 184. Zur „Unsicherheit als Handlungsbedingung“ vgl. auch
Wiesenthal, Unsicherheit, S. 21. Zur Definition des Begriffs der ‚Unsicherheit‘ vgl. Seidel, Ungewissheit, S. 37. 97 Wolfgang Bonß fasst zusammen: „Wer unsicher ist, weiß nicht, was die Zukunft bringt, wohl aber, dass sie Unterschiedliches bringen kann.“ Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 38. 98 Vgl. Apelt/Senge, Organisation, S. 1; Luhmann, Organisation, S. 186 sowie Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 48. 99 Dabei ist festzustellen, dass Entscheidungen Unsicherheit nicht nur verringern können, sondern sie zugleich stets transformieren. Schließlich schließt jede Entscheidung zwar Handlungsalternativen aus, zeigt zugleich aber auch neue, bisher nicht mögliche Entscheidungsoptionen auf. Vgl. Wiesenthal, Unsicherheit, S. 26 sowie Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 48. 100 Vgl. Luhmann, Organisation, S. 167. 101 Wolfgang Bonß definiert die Erzeugung von Sicherheit daher als ‚Risikoproblem‘. Vgl. Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 48. 102 Zitat: Seidel, Ungewissheit, S. 36. Vgl. dazu außerdem: Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 38.
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heit drei Abstufungen: Risiko, Ungewissheit und fundamentale Unsicherheit.103 Als Risiken werden in dieser Differenzierung Zukunftsvorstellungen beschrieben, in welchen den Akteuren sowohl alle möglichen Entscheidungsfolgen als auch deren Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind. Dagegen ist Ungewissheit durch Ahnungslosigkeit hinsichtlich eben dieser Wahrscheinlichkeiten gekennzeichnet. Und fundamentale Unsicherheit erfasst die völlige Unkenntnis der Akteure hinsichtlich künftiger Umweltzustände. Ob Unsicherheit als fundamental oder lediglich als kalkulierbares Risiko wahrgenommen wird, ist daher von verschiedenen Faktoren abhängig, wie dem Informationsstand, dem Status und letztlich auch der Macht der Akteure.104 Psychiatrische Anstalten als solche sind Institutionen, die die Kontrolle und Reduktion von Unsicherheit zum Ziel haben. Sie trennen, gerade in historischer Perspektive, das ‚Abnormale‘ vom ‚Normalen‘, scheiden den ‚Wahnsinn‘ von der ‚Vernunft‘.105 Ihre Aufgabe war (und ist) es damit auch, die von psychisch Kranken (vermeintlich) ausgehende fundamentale Unsicherheit in ein, aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft, kalkulierbares Risiko zu verwandeln. Nicht nur in der Vormoderne war hierfür die andauernde Inhaftierung der Patienten das Mittel der Wahl. Erst in jüngerer Vergangenheit kam die Heilung der Kranken und ihre erneute Integration in die Gesellschaft als Ziel hinzu, das sich aus dem Anspruch der Moderne entwickelte, natürliche Abweichungen mit wissenschaftlichen Methoden in normierte Bahnen lenken zu können.106 Mit der Reduktion des Unsicherheitsempfindens hinsichtlich des von psychisch Kranken ausgehenden Risikos durch Unterbringung dieser in Anstalten ist jedoch unweigerlich die Entstehung, bzw. Vergrößerung der Ungewissheit ‚Gesunder‘ hinsichtlich der Gefahr einer unberechtigten Einsperrung in eben solchen Orte der gesellschaftlichen Abgrenzung verbunden. Die in der Vergangenheit hohe soziale Stigmatisierung von Psychiatrieaufenthalten, die teils rabiaten Behandlungsmethoden sowie die bei Zwangseinweisung fehlenden Möglichkeiten, sich derartigen Behandlungen zu verweigern, machten den Anstaltsaufenthalt historisch zu einer in mehrerlei Hinsicht zu beachtenden Bedrohung.107 Die intensive Rezeption fiktiver wie realer Geschichten unberechtigter Zwangseinweisungen, häufig verbunden mit medial geäußerten 103 So zum Beispiel in: Apelt/Senge, Organisation, S. 2–3 sowie Stadelbacher, Organisation,
S. 70–71. 104 Insbesondere Niklas Luhmann verknüpft Unsicherheit und Macht miteinander, wenn er feststellt, „dass Macht nur dort entstehen kann, wo ein Entscheider über Unsicherheit anderer in Bezug auf seine eigene Entscheidung disponieren kann.“ Luhmann, Organisation, S. 212. Hervorhebung entspricht dem Original. 105 Diese These geht zurück auf Michel Foucault. (Vgl. Foucault, Wahnsinn.) Die historische Entwicklung der (Anstalts-)Psychiatrie arbeitet zum Beispiel Cornelia Brink auf. Vgl. Brink, Grenzen, S. 11–14. 106 Vgl. Böhle/Busch, Beseitigung, S. 14. 107 Rudolf Forster verweist auf die Besonderheit psychiatrischer Behandlung, die, anders als körperliche Behandlungen, mit Ausnahme von Maßnahmen des Seuchenschutzes, oftmals nicht auf Freiwilligkeit beruht. Vgl. Forster, Psychiatrische Macht, S. 35.
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Sympathiebekundungen für die Opfer, ist deutlicher Ausdruck dieser Ungewissheit. So lässt sich die heftige Kritik aus der Ärzteschaft an derartiger Berichterstattung, auch im Kontext des Corten-Prozesses, aus einem differierenden Unsicherheitsverständnis erklären. Schließlich hatten die Experten durch ihre Kenntnisse der Einweisungsverfahren einen Informationsvorsprung, der ihnen in der eigenen Wahrnehmung die Kalkulation, nicht nur der Folgen einer Einweisungsentscheidung, sondern ebenso der Wahrscheinlichkeit einer solchen erlaubte. Die Gefahr einer fälschlichen (Zwangs-) Einweisung musste ihnen daher als durchaus berechenbares Risiko erscheinen, durch ärztlichen Sachverstand größtmöglich verringert und zum Schutz der Mehrheitsgesellschaft notwendig. Eben deren Wahrnehmung war dagegen von Skandalen um ungerechtfertigte Freiheitsentziehungen geprägt, die eine ständig drohende Gefahr suggerierten, welche jederzeit unverschuldet über die Opfer hereinbrechen könnte. Die daraus resultierende Ungewissheit beförderte nach jedem Skandal oder öffentlich diskutierten Fall die Debatte um gesetzliche Normen zum Schutz der ‚Gesunden‘; Regelungen, die die Ärzteschaft im Gegenzug als völlig ausreichend betrachtete.
2.
Unsicherheitswahrnehmung in der Ministerialverwaltung
Der Corten-Prozess zementierte diese Konfliktlinien und befeuerte massiv die gesellschaftliche Unsicherheitswahrnehmung, wie die vorangegangene Analyse der öffentlichen wie medialen Rezeption belegt. Dies erzeugte nicht nur einen hohen Rechtfertigungsdruck der an Einweisungen beteiligten Ärzteschaft, sondern strahlte bis in die politische Sphäre aus, sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Die existierenden Normen der Einweisungsgesetzgebung spielten für die Reaktion der Akteure dabei nur eine untergeordnete Rolle, da die subjektive öffentliche Unsicherheitswahrnehmung selbst von Politik und Verwaltung bereits als Handlungsaufforderung interpretiert wurde.108 Die Logik der Angemessenheit zwang Exekutive wie Legislative, sich den sozialen Erwartungen anzupassen und den bisherigen rechtlichen Rahmen im Angesicht seines Versagens vor dem Auge einer kritischen Öffentlichkeit möglichst zügig zu reformieren.109 Am Prozessort stellte daher bereits Mitte Dezember des Jahres 1950, nur rund eine Woche nach Verkündung des Urteils im ‚Fall Corten‘, der Abgeordnete Harald Abatz (FDP) in der Hamburgischen Bürgerschaft eine Anfrage zum Thema und hielt fest:
108 Zu dem dieser Analyse zugrunde liegenden Konzept der Definition der Situation vgl. Kro-
neberg, Erklärung, insb. S. 62–88. 109 Die Theorie der Logik der Angemessenheit, als Gegenstück zur Logik der Konsequenz, geht zurück auf March/Olsen, Rediscovering Institutions, insb. S. 21–26. Zur Einordnung der Theorie in der modernen Verwaltungswissenschaft vgl. Seibel, Verwaltung verstehen, insb. S. 38.
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Zwei Fälle haben die Öffentlichkeit in berechtigte Unruhe versetzt. Es sind die Fälle Hirte und Dr. Corten. Die Öffentlichkeit steht unter dem Eindruck, dass niemand davor geschützt ist, seiner persönlichen Freiheit beraubt zu werden, wenn es interessierten Kreisen nur gelingt, einflussreiche Kapazitäten für sich zu gewinnen.110
Abatz fragte aus diesem Grund, welche Maßnahmen in Hamburg zur Verhinderung unberechtigter Einweisung ergriffen würden, ob widerrechtlich einweisende Psychiater mit Entziehung der Approbation bestraft werden könnten und ob eine Senatskommission zur Untersuchung etwaiger Missstände eingesetzt werden könne.111 In Reaktion auf die Anfrage stellte die Verwaltung, vertreten durch das Rechtsamt des Stadtstaats, die einer Einweisung in der Hansestadt zugrunde liegenden rechtlichen Normen zusammen, verwies aber explizit auch auf deren Missbrauchspotential, insbesondere für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, wie der Fall Corten belege.112 Synchron zur regionalen Beschäftigung mit der Einweisungsthematik bemühte sich auch die bundesdeutsche Ministerialverwaltung um die Normierung der ‚Schwelle der Anstalt‘.113 Hierfür gab es mehrere Auslöser. Zum einen hatte das Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 Zwangseinweisungen die bisherigen rechtlichen Grundlagen entzogen, da Art. 104 GG die richterliche Entscheidung für alle freiheitsentziehenden Maßnahmen zur Pflicht machte. Näheres sei gesetzlich zu regeln. Dadurch stand der Bund vor der Aufgabe, nun nicht mehr verfassungskonforme Normen der Landesebene durch ein neu zu schaffendes Bundesgesetz ersetzen zu müssen.114 Der darauf folgende Start der Arbeit der Ministerialverwaltung an einer entsprechenden Legislatur fiel zeitlich zusammen mit dem schon zu Beginn angeführten Antrag der Deutschen Partei (DP) vom 26. Juli 1950 im Bundestag, der die gesetzliche Regelung der „vorläufige[n] Unterbringung angeblich geisteskranker Personen gegen ihren Willen in einer Heil-
110 Tagesordnung der 25.–27. Sitzung (12.–14.12.1950) der Hamburger Bürgerschaft vom 05.12.1950,
in: Staatsarchiv Hamburg, 241–1 II, Nr. 2865. Zum ‚Fall Hirte‘ s. o. 111 Vgl. ebd. 112 Vgl. Reusch, Vortragsnotiz des Rechtsamts Hamburg zur Tagesordnung vom 5.12.1950 für die Sitzung der Bürgerschaft am 12.–14.12.1950 vom 07.12.1950, in: Staatsarchiv Hamburg, 241–1 II, Nr. 2865. Auch die Hamburger Justiz bemühte sich im Nachgang des Verfahrens aber zu betonen, dass in Hamburg seit 1949 der richterliche Vorbehalt bereits in die Einweisungsgesetzgebung integriert worden sei. Fälle wie der Magdalena Cortens könnten so künftig mutmaßlich verhindert werden. Vgl. Meyer-Ralfs, Fall Corten kann sich nicht wiederholen, in: Hamburger Abendblatt vom 8.12.1950. 113 Dies erkannte auch die Hamburger Ärztekammer, die die Bedeutung der bevorstehenden, bundeseinheitlichen Neuregelung der Psychiatriegesetzgebung betonte. Vgl. Parow, Die Hamburger Ärztekammer rechtfertigt sich, in: Hamburger Echo vom 2.12.1950. 114 Zuvor war die Regelung des (Zwangs-) Einweisungsrechts Sache der Länder. Die bekannteste Norm dieses Themenbereichs ist sicherlich das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz von 1931.
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und Pflegeanstalt“ forderte.115 Die DP schloss damit inhaltlich zudem klar an die durch den Film Die Schlangengrube sowie die aufsehenerregenden Einzelfälle hochkochende öffentliche Diskussion an. Die Forderung der Einschränkung der „Zuständigkeit polizeilicher Dienststellen auf diesem Gebiet“ rekurrierte auf die eben durch solche Skandale geschürte öffentliche Ungewissheit, hinsichtlich der oft von polizeilicher Willkür abhängigen Einweisungsvoraussetzungen. Dies unterstreicht auch das Timing des Antrags, nur rund einen Monat nach der deutschen Erstaufführung des Films Die Schlangengrube und nahezu zeitgleich mit den aufsehenerregenden Artikeln Eckart Heinzes über dramatische Missstände in der Landesheilanstalt Eichberg.116 Die Anforderungen des Grundgesetzes sowie der Antrag der Deutschen Partei (DP) im Bundestag führten zur Ausarbeitung eines Ausführungsgesetzes zu Art. 104 GG, welches sechs Jahre später als Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen in Kraft treten sollte.117 Zuständig für die Erstellung des Gesetzes war die Ministerialverwaltung unter Federführung des Bundesjustizministeriums und Mitarbeit der übrigen, für den Themenbereich relevanten Ministerien, speziell des Innenministeriums. All diese Akteure nahmen die Psychiatrieskandale und die daraus resultierende öffentliche Ungewissheit nicht nur wahr, sondern verstanden sie, einer Logik der Angemessenheit gemäß, als Handlungsanweisung. So machte sich im Kontext der Debatte um den konkreten Inhalt des Ausführungsgesetzes der Ministerialrat im Innenministerium, Friedrich Koch, Gedanken, wie „das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Psychiater“ beseitigt werden könne, schließlich bestehe es „gerade in den Fällen, in denen die Aufnahme nicht aus einem öffentlichen Interesse erfolgt“.118 Hier sei möglichst zeitnah Abhilfe zu schaffen. Insbesondere identifizierte Koch, unter explizitem Verweis auf den „Cortenprozess“, die möglichst einfache und „rechtzeitige Entlassung“ als Mittel, um Opfer vor „willkürlicher oder unnötiger Freiheitsbeschränkung“ zu schützen.119 Eine Einschränkung des Aufnahmerechts der Psychiater lehnte Koch, selbst Arzt, ab.120 Er verwies hier auf die Unvermeidbarkeit des „diagnostische[n]“, ebenso wie „menschliche[n] Irrtum[s]“, der als Risiko in Kauf 115 BT-Drucks. 1/1248. 116 Eckart Heinze hatte unter dem Pseudonym Michael Mansfeld verdeckt in der Nervenklinik
Eichberg im Rheingau ermittelt. Die im stern erschienene Recherche erschütterte nicht nur die zeitgenössische Gesellschaft, sondern zog auch ein umfangreiches juristisches Nachspiel nach sich. Vgl. Noack, Kaninchen, S. 315–318. 117 Vgl. Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29.06.1956, in: BGBl. I, S. 599. 118 Zitate: Koch, Friedrich, Die Betreuung der Geisteskranken, Undatierte Denkschrift, in: Bundesarchiv (=BArch), B 142/4085, S. 2. Obwohl undatiert, muss die Quelle aus den frühen 50er Jahren stammen. Dies belegen der Verweis auf den Corten-Prozess (Ende 1950) und die Tatsache, dass es sich bei Kochs Denkschrift um einen Beitrag zur Debatte um die Form des Ausführungsgesetzes zu Art. 104 GG handelt, das eben in den frühen 50er Jahren entworfen wurde. 119 Zitate: ebd., S. 4. 120 Zur Biografie Friedrich Kochs vgl. Bösch/Wirsching, Hüter der Ordnung, S. 542–544.
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genommen werden könnte oder sogar müsste, solange eine fachgerechte Entlassung zum frühestmöglichen Zeitpunkt sichergestellt sei.121 Ein Punkt, bei dem er, gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Ungewissheit, klaren Reformbedarf sah. Auch die zuständige Abteilung IV des Innenministeriums nahm den öffentlichen Druck zum Ausbau der rechtlichen Sicherungen im Einweisungsprozess wahr. In einer Gesprächsvorlage für den Innenminister wurde festgestellt: Die Frage einer gesetzlichen Regelung der Voraussetzungen und des Verfahrens für die Unterbringung geisteskranker Personen, insbesondere gemeingefährlicher Geisteskranker gegen ihren Willen in einer geschlossenen Anstalt, wird bereits seit langer Zeit stark erörtert und auch von der Öffentlichkeit mit grossem Interesse verfolgt.122
Die Vorlage hob dabei beispielhaft „den in der Presse eingehend behandelten Corten-Prozeß in Hamburg“ hervor, der eben dieses Interesse noch einmal befeuert habe.123 Gleichzeitig wurde aber betont, dass ein entsprechendes Gesetz, das spätere Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen, schon allein als Folge der Vorgaben des Grundgesetzes in Bearbeitung sei. Jedoch werde sich die Zeit bis zur Verabschiedung voraussichtlich wegen der nötigen Ressortabstimmung und des Weges durch die gesetzgebenden Körperschaften noch verzögern. Es sei daher von besonderer Bedeutung, gerade wegen des hohen öffentlichen Interesses und der zu erwartenden Verzögerung in den Institutionen der Legislative, zumindest die Ressortabstimmung zu beschleunigen, konkret „die Bemühungen des BMdI gegenüber dem BJM um eine möglichst schnelle Fertigstellung“ zu fördern.124 Ein letztlich erfolgreicher Appell. Schon 1952 erreichte ein in der Ministerialverwaltung abgestimmter Entwurf den Bundestag. Dort gelang es dann allerdings nicht mehr, diesen vor dem Ende der Legislaturperiode in den komplizierten Ausschussberatungen in eine abstimmungsfähige Form zu bringen. Erst zwei Jahre später, im Januar 1954, wurde der Entwurf ein zweites Mal beraten. Dabei rügte der Abgeordnete Friedrich Maier (SPD) die Verzögerung, da „Fälle aus der Praxis immer wieder darauf hinweisen, welche Rechtsunsicherheit in der Frage des zwangsweisen Freiheitsentzuges im Volke Platz ergriffen hat.“125 Trotz alledem dauerte es dann noch einmal rund zwei Jahre bis zum Inkrafttreten jenes
121 Zitate: Koch, Friedrich, Die Betreuung der Geisteskranken, Undatierte Denkschrift in: BArch,
B 142/4085, S. 4. 122 Vorlage der Abteilung IV (BMI) für den Herrn Minister zu Punkt 3 der Tagesordnung des Bundestages am 15.11.51 vom 14.11.51, in: BArch, B 142/1017. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Stenografischer Bericht der 10. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages am 21.01.1954, S. 294.
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Gesetzes am 30. Juni 1956, das die richterliche Entscheidungshoheit bei Freiheitsentziehungen bundesweit regelte.126
V.
Fazit: Unsicherheit als Katalysator von Verwaltungshandeln
Insgesamt ist in den frühen 1950er Jahren die Existenz massiver Unsicherheit hinsichtlich des psychiatrischen Einweisungsprozesses festzustellen. Mediale Großereignisse wie der Film Die Schlangengrube und insbesondere der Prozess gegen Martin-Heinrich Corten rüttelten breite Bevölkerungsteile auf und lenkten das öffentliche Interesse auf das bisher rechtlich nur unzureichend geregelte Psychiatriewesen. Die historisch tief verwurzelte Furcht als ‚Gesunder‘ in ein ‚Irrenhaus‘ eingewiesen zu werden, ließ das Publikum regen Anteil am Schicksal Magdalena Cortens nehmen. Die aus dem eigenen Unbehagen gespeiste Betroffenheit, nicht unwesentlich unterstützt durch latent antisemitische Ressentiments und eine oft boulevardeske Berichterstattung, verstärkten solche lang existierenden Unsicherheiten. Dadurch erschien die Gefahr einer Einweisung nicht als kalkulierbares Risiko, sondern als stets drohende Ungewissheit. So geriet die öffentliche Wahrnehmung zwangsläufig in Konflikt mit dem Verständnis der Ärzteschaft. Teils harsch geführte Debatten waren die Folge. Von solchen intensiven Diskussionen konnte auch die Verwaltung nicht unbeeinflusst bleiben. „Durch den Freispruch entsteht unter der Bevölkerung das dringende Verlangen nach Schutz vor Fehldiagnosen der Psychiater und vor allem nach Schutz vor Freiheitsberaubung“, bemerkte schon der damalige Hamburger Gesundheitssenator Friedrich Dettmann.127 Gemäß einer Logik der Angemessenheit war sie gezwungen, die sozialen Erwartungen an eine stärkere Normierung und die Etablierung zusätzlicher Sicherheiten zumindest grundlegend zu erfüllen. Wenngleich sie bereits seit der Verabschiedung des Grundgesetzes, das in Art. 104 GG erstmals die Einbeziehung eines Richters in jede Form der Freiheitsentziehung forderte, an einer Neuregelung des (Zwangs-) Einweisungsrechts arbeitete, nahm sie die öffentliche Unsicherheit, gerade im Kontext des CortenProzesses, deutlich wahr. Mehr noch, die Verwaltungsbeamten interpretierten sie als Antrieb, die Arbeiten zu katalysieren und angedachte Reform zielorientiert voranzutreiben. Zwar blieb der von der Ministerialverwaltung tatsächlich relativ schnell fertiggestellte Gesetzesentwurf dann im Parlament hängen. Letztlich führten die Bestrebungen jedoch zu einem Gesetz, das gegen den Widerstand der Ärzteschaft einen deutlichen Kontrollzuwachs bei der Zwangseinweisung mutmaßlich psychisch Kranker durchsetzte.
126 Vgl. Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29.06.1956, in:
BGBl. I, S. 599. 127 Dettmann, Friedrich, Der Fall Corten, in: Hamburger Volkszeitung vom 25.11.1950.
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EIN GANZES SYSTEM AUF DER ANKLAGEBANK
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Benedikt Kemper, Universität Hamburg ist seit 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg tätig. Zuvor arbeitete er in gleicher Position an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2017 promoviert er im Teilbereich Gesundheit des BKM-Projektes „Verwaltungslogik und kommunikative Praxis im und nach dem Nationalsozialismus 1930–1960“ zum Thema „Den Wahnsinn verwalten – Unsicherheit und Einweisungsrecht zwischen der Weimarer Republik und dem geteilten Deutschland“.
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MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND Verwaltungshandeln und kommunikative Praxis in der DDR
D
as am 25. April 1974 unterzeichnete „Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Gebiet des Gesundheitswesens“ war das erste ratifizierungsbedürftige Folgeabkommen1 zu dem am 21. Dezember 1972 paraphierten Grundlagenvertrag, mit dem die beiden deutschen Nachkriegsstaaten offizielle Beziehungen aufnahmen und zugleich ihre Bereitschaft zur Regelung von praktischen und humanitären Fragen erklärten.2 Das Abkommen, das am 1. Januar 1976 in Kraft trat, sah unter anderem die gegenseitige Gewährung ambulanter und stationärer medizinischer Hilfe, die Erleichterung des (nicht)-kommerziellen Arzneimittelverkehrs, den Informationsaustausch zur Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten sowie die Zusammenarbeit bei der Drogen- und Rauschmittelbekämpfung vor. Zudem vereinbarten die Vertragspartner die Ernennung von Beauftragten, die auftretende Probleme bei der Durchführung des Abkommens klären sollten. Bis zum
1 Der Text des Gesundheitsabkommens ist u. a. abgedruckt im Bulletin des Presse- und Informa-
tionsamtes der Bundesregierung vom 2.5.1974, Nr. 53, S. 525–531; vgl. auch, Aßmann/Posth, Gesundheitsabkommen. 2 „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“, abgedruckt u. a. in: Deutscher Bundestag Drucksache 7/153, URL: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/001/0700153.pdf (letzter Zugriff am 29.08.2021).
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Mauerfall 1989 wurde das Abkommen in mehr als 20 Beauftragten-Gesprächen konkretisiert und inhaltlich erweitert.3 Zu den kaum umstrittenen Regelungen zählte die in Artikel 4 festgelegte Möglichkeit zur Durchführung von medizinischen Spezialbehandlungen oder -kuren im jeweils anderen deutschen Staat.4 Ihr Interesse an einer derartigen Regelung hatten beide Seiten bereits im Grundlagenvertrag artikuliert,5 wobei insbesondere die DDR an ein – trotz fehlender staatlich-politischer Kontakte zur Bundesrepublik – bereits in der Vergangenheit praktiziertes Verfahren anknüpfen konnte. Im Zentrum der folgenden Analyse stehen die bis 1961 etablierten medizinischen Spezialbehandlungen von ostdeutschen Patienten in westdeutschen und Westberliner Einrichtungen als Handlungsfeld von Politik, Verwaltung, Ärzten und Patienten und die Auswirkungen des Mauerbaues auf das herkömmliche Procedere.6 Untersucht werden nicht nur das Antrags- und Genehmigungsverfahren und die Durchführungspraxis, sondern auch die Auswahlkriterien und Maßnahmen zur Senkung der Nachfrage vor dem Hintergrund des chronischen Devisenmangels der DDR, der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz und des Führungsanspruches der SED. Ferner richtet sich der Fokus auf den Diskurs zwischen Bürger und Verwaltung, also auf die kommunikativen Strategien der beteiligten Akteure und die „rhetorische Dimension“ ihrer Interaktion.7 Wie artikulierten die Patienten und ihre Angehörigen ihre Interessen und Wünsche gegenüber dem Ministerium für Gesundheitswesen der DDR (MfGe) als zuständige Genehmigungsbehörde, wie verhielten sich die beteiligten Ärzte, welchen Einfluss nahm die SED auf das Ent3 Dazu zählten z. B. Vereinbarungen über den medizinisch-wissenschaftlichen Erfahrungsaus-
tausch und die Gewährung von Dialysebehandlungen bei Besuchsreisen, vgl. Rimkeit/Wegmarshaus, Internationale Beziehungen, S. 35. 4 Der Begriff „medizinische Spezialbehandlungen“ ist den zeitgenössischen Quellen entnommen, jedoch die damals und heute allgemein übliche Bezeichnung (vgl. z. B. Europäisches Übereinkommen über gegenseitige Hilfe auf dem Gebiet der medizinischen Spezialbehandlungen und der klimatischen Einrichtungen vom 14.5.1962, URL: https://www.coe.int/de/web/conventions/fulllist/-/conventions/treaty/038?_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_languageId=en_GB (letzter Zugriff am 29.08.2021) für medizinische Behandlungen in Spezialkrankenhäusern oder Spezialabteilungen von Universitätskliniken. Der Begriff wird daher ohne Anführungszeichen verwendet. 5 Im Zusatzprotokoll zum Grundlagenvertrag hieß es in Absatz II Punkt 6: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihr Interesse an einer Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Sie stimmen darin überein, daß in dem entsprechenden Vertrag auch der Austausch von Medikamenten sowie die Behandlung in Spezialkliniken und Kuranstalten im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten geregelt werden. 6 Parallel gab es auch in wesentlich geringerem Umfang auch medizinische Spezialbehandlungen von westdeutschen und Westberliner Patienten in ostdeutschen und Ostberliner medizinischen Einrichtungen, z. B. die Behandlung von Westberliner Patienten mit Gasbrand in der SauerstoffÜberdruckkammer im Ostberliner Krankenhaus Am Friedrichshain, vgl. Material in Bundesarchiv (= BArch), DQ 1/13177. Die Auswertung des Materials im Rahmen des Forschungsprojektes steht noch aus. 7 Vgl. Mühlberg, Bürger, S. 198 ff.
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scheidungsverfahren und wie legitimierte das MfGe sein Handeln gegenüber den Betroffenen? Die Untersuchung nimmt also sowohl die Verwaltungspraxis und die institutionellen Handlungsspielräume auf der Makroebene als auch die Perspektive des einzelnen Patienten und seine Interventionsmöglichkeiten auf der Mikroebene in den Blick.
I.
Antrag, Genehmigungsverfahren und Durchführungspraxis
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Zuge der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild mit dem Aufbau eines sozialistischen Gesundheitswesens begonnen, zu dessen wichtigsten Prinzipien der staatliche Charakter, die zentrale Verwaltung, die einheitliche Sozialversicherung als finanzielle Grundlage, die prophylaktische Orientierung und die Betonung des Gesundheitsschutzes als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gehörten.8 Nach der Staatsgründung 1949 unterstand das gesamte Gesundheitswesen der DDR einem Ministerium für Gesundheitswesen,9 dessen Überlieferung ab den frühen 1950er Jahren die Durchführung sogenannter Spezialbehandlungen von Einwohnern der DDR bzw. Ostberlins in westdeutschen bzw. Westberliner medizinischen Einrichtungen dokumentiert. Der ostdeutsche Bedarf an einer hochspezialisierten medizinischen Betreuung in der Bundesrepublik ergab sich zum einen aus der ideologischen Neuausrichtung des DDRGesundheitswesens und der damit verbundenen Einschränkung der ärztlichen Berufsfreiheit, die eine massive Abwanderung von Medizinern in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik und gravierende Engpässe in der gesundheitlichen Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung nach sich zog.10 Zum anderen hatte die DDR beim wirtschaftlichen Wiederaufbau nicht nur mit extern verursachten Problemen wie dem Verlust an Industrieanlagen und -produkten11 infolge der sowjetischen Demontagepolitik zu kämpfen, sondern auch zu Lasten von pharmazeutischen und medizintechnischen Erzeugnissen zunächst der Schwerindustrie den Vorrang gegeben.12 Dies schuf mangels alternativer Bezugsmöglichkeiten bereits 8 Frerich/Frey, Sozialpolitik, Bd. 2, S. 205–207; Schagen/Schleiermacher, Gesundheitswesen, S. 401–
408. 9 Nach Gründung der DDR bestand zunächst ein Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen. Erst nach der Volkskammerwahl 1950 kam es zur Bildung eines ausschließlich für das Gesundheitswesen zuständigen Fachministeriums, vgl. 17 Fachministerien vorgesehen, in: Berliner Zeitung, 9.11.1950. 10 Frerich/Frey, Sozialpolitik, Bd. 2, S. 209. 11 1946 war der Industriezweig „medizinische Geräte“ „zu 50 Prozent für direkte Reparationen, zu 20 Prozent für indirekte Reparationen und zu 30 Prozent für zivile Aufträge tätig“, vgl. Denkschrift des stellvertretenden Vorsitzenden der SED an das Politbüro des ZK der WKP (B) mit Vorschlägen betreffend Reparationen und Wirtschaftsplanung der SBZ, 26.9.1946, in: Foitzik, Sowjetische Interessenpolitik, S. 262–274, hier S. 271. 12 Spaar, Dokumentation, Teil II, S. 54–56.
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in den ersten Nachkriegsjahren eine Abhängigkeit von den Westzonen bzw. der Bundesrepublik, auf deren Territorium sich schon vor 1945 die pharmazeutische und medizintechnische Produktion konzentriert hatte.13 Der westdeutsche Vorsprung im Bereich der hochspezialisierten medizinischen Betreuung ergab sich darüber hinaus aus dem transatlantischen Wissenschaftstransfer nach 1945, an dem westdeutsche Mediziner umfänglich partizipieren und somit schneller als ihre ostdeutschen Kollegen Anschluss an den internationalen Forschungsstand gewinnen konnten.14 Offiziell begründete das MfGe die Genehmigung von Spezialbehandlungen in Westdeutschland und in Westberlin mit dem Argument, dass „unser Staat soweit als möglich die Bevölkerung vor den Folgen der Teilung unseres Vaterlandes schützen will“,15 und erließ Anfang 1953 eine Anordnung zu den Verfahrens- und Bewilligungsgrundsätzen.16 Danach mussten Anträge auf derartige Spezialbehandlungen über die Abteilungen Gesundheitswesen der Bezirke an das MfGe als Genehmigungsbehörde gerichtet werden. Aus den Anträgen sollten die Diagnose, der Krankheitsverlauf und die bisherige Therapie hervorgehen. Die Abteilungen Gesundheitswesen hatten zu überprüfen, „ob nicht gleiche oder gleichwertige Behandlungsmethoden im Gebiet der DDR oder im Demokratischen Sektor Berlins möglich“ waren. Außerdem empfahl das Ministerium „eine Begutachtung des Patienten durch einen besonders erfahrenen Fachvertreter (Leiter einer Universitätsklinik bzw. Leiter der Fachabteilung eines entsprechenden Krankenhauses)“, sofern dieser nicht selbst Antragsteller sei. In der Praxis reichten sowohl Patienten und ihre Angehörigen als auch behandelnde Ärzte und die Abteilungen für Gesundheits- und Sozialwesen der Räte, der Kreise oder Bezirke formlos beim MfGe Anträge auf Spezialbehandlungen ein, deren konkrete Bearbeitung in der Abteilung „ambulante und stationäre Krankenversorgung“ der Hauptabteilung „Heilwesen“ erfolgte. Die Korrespondenz mit den Antragstellern, den beteiligten Ärzten und den Vertretern der Sozialversicherung führte im Untersuchungszeitraum im Wesentlichen Margarethe Krüger17 13 Spaar, Dokumentation, Teil I, S. 30. Neben der Arbeitsüberlastung als Folge des Personalman-
gels stellte die schlechte Versorgung mit Arzneimitteln und medizinischem Gerät ein wesentliches Motiv für die Flucht von Ärzten in den Westen dar, vgl. Ernst, Prophylaxe, S. 65. Die Abhängigkeit zeigte sich z. B. bei der Polioepidemie 1953. Damals musste die DDR sechs Eiserne Lungen der Firma Dräger, Lübeck importieren, da die ab 1950 in der DDR produzierten Geräte nicht ausreichten und von wesentlich schlechterer Qualität waren, vgl. Erler an Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, 17.9.1953, in: BArch, DQ 1/21621. 14 Vgl. z. B. Halling, Institutionelle und soziale Netzwerke, S. 224–226. 15 Krüger an Paul B., 23.7.1957, in: BArch, DQ 1/2359. 16 Vgl. hierzu HA Heilwesen an den Rat des Bezirkes Abteilung Gesundheitswesen, 16.1.1953, in: BArch, DQ 1/4719; Abt. amb. und stat. Krankenversorgung (Erler) an Sozialversicherung ZV, 17.6.1953, in: BArch, DQ 1/4371. 17 Margarethe Krüger, geb. 1904, 1942 Bestallung, 1943 Assistenzärztin im Kreiskrankenhaus Lehnitz, 1947–49 Kreisärztin in Niederbarnim, ab 1949 Mitarbeiterin im MfGe, SED, zahlreiche Auszeichnungen u. a. Verdienter Arzt des Volkes 1969; Vaterländischer Verdienstorden in Silber
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
als Fachreferentin, darüber hinaus waren auch Herbert Erler18 als Abteilungsleiter und Erwin Marcusson19 bzw. Michael Gehring20 als Hauptabteilungsleiter in das Genehmigungsverfahren eingebunden. Alle vier waren politisch-zuverlässige und ärztlich vorgebildete SED-Mitglieder. Vielfach reichten Patienten bzw. Angehörige ihren formlosen Antrag nicht nur schriftlich ein, sondern sprachen zusätzlich persönlich im MfGe vor.21 Dieses Vorgehen diente in der Regel dem Zweck, dem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen. Insbesondere bei lebensbedrohlichen Erkrankungen befanden sich die Betroffenen in einer extremen psychischen Belastungssituation und warben in emotionaler Weise um Empathie und Unterstützung des Entscheidungsträgers. Anträge auf Spezialbehandlungen erfolgten weiterhin in Form von Eingaben an den Präsidenten bzw. den Staatsrat der DDR etc., die mit der Auflage der weiteren Bearbeitung und anschließenden Rückmeldung des Ergebnisses an das MfGe weitergereicht wurden.22 Dasselbe galt für Eingaben, die sich an das Zentralkomitee (ZK) der SED bzw. dessen ersten Sekretär richteten. Das Eingaberecht des Bürgers war bereits in der ersten DDR-Verfassung von 1949 festgelegt und in der Folgezeit in Erlässen, Ordnungen und Gesetzen mehrfach modifiziert worden. Die form- und fristlos einzureichenden Eingaben dienten nach offizieller Definition „der Klärung gesellschaftlicher und persönlicher Anliegen einzelner Bürger und Kollektive mit dem Ziel, die Rechte der Bürger zu sichern, bestehende Widersprüche zu überwinden und die Arbeitsweise der Organe verbessern zu helfen.“23 Nach marxistisch-leninistischer Rechtstheorie bewiesen „Eingaben und ihre sachgemäße Bearbeitung […] die grundsätzliche Übereinstimmung der Interessen der Bürger mit den gesellschaftlichen Erfordernissen“. Sie konnten als „mündliche oder schriftliche Vorschläge, Hinweise, Kritiken, Beschwerden und andere Meinungsäußerungen von Bürgern der DDR an die Volksvertretungen oder einzelne Abgeordnete sowie an alle Staats- und 1974. Zitat aus den Begründungen: „Sie hat stets das in sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt und mit Parteilichkeit, hoher Einsatzbereitschaft und großem Verantwortungsbewußtsein ihre Pflicht als Genossin vorbildlich erfüllt“, vgl. BArch, DQ 1/10025; DQ 1/22263. 18 Herbert Erler (1917–1991) Medizinstudium 1936–1943, 1946 SED, 1946–1952 Tätigkeit als Kreisarzt und niedergelassener Arzt in Sachsen, 1952 Eintritt in MfGe und Karriere, 1964 Stellvertreter des Ministers, vgl. BArch, DQ 1/27130 (Personalakte Erler). 19 Erwin Marcusson (1899–1976), Medizinstudium 1919–1925, 1919 Mitglied der KPD, 1936 Emigration in die SU, 1938 Ausschluss aus der KPD, 1947 Rückkehr nach Deutschland, Mitglied der SED, Eintritt in die Deutsche Zentralverwaltung Gesundheitswesen, Karriere im MfGe, 1956 Stellvertreter des Ministers, 1959 Direktor des Instituts für Sozialhygiene des MfGe. 20 Michael Gehring (1918–1969), Medizinstudium 1937–44, SED 1947, 1949 auf Vorschlag der SED in die HV Gesundheitswesen der Deutschen Wirtschaftskommission berufen, anschließend Karriere im MfGe, 1964 Staatssekretär und 1. Stellvertreter des Ministers, 1963 bis 1967 Kandidat des ZK der SED, vgl. Wolff, Biographisches Lexikon, S. 60 f. 21 Vgl. z. B. HA Heilwesen. Stat. und amb. Krankenhausversorgung, in: BArch, DQ 1/6650. 22 Vgl. z. B. Krüger an Wolfgang B., 6.5.58, in: BArch, DQ 1/2359. 23 Autorenkollektiv, Kleines Politisches Wörterbuch, S. 158 f.
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Wirtschaftsorgane und die ihnen unterstellten Betriebe, Einrichtungen und Institutionen“ sowie im Falle eines SED-Mitglieds laut Parteistatut auch an höhere Parteiorgane gerichtet werden. Die juristische Fachliteratur sieht eine enge Verbindung zwischen dem Eingabewesen und der in den 1950er Jahren in der DDR vollzogenen Liquidation des Verwaltungsrechts, die den Bürgern die Möglichkeit genommen hatte, „ihre subjektiven öffentlichen Rechte durch rechtsförmige Verfahren würdevoll, selbstbewußt, kulturvoll und demokratisch durchzusetzen“. 24 Die Eingabe wird hier als Ersatz-Rechtsmittel gegen das Verwaltungshandeln in der DDR interpretiert und zugleich betont, dass die Gewährung dieses Beschwerderechtes ohne Anerkennung eines individuellen Rechtsanspruches erfolgte.25 Untersuchungen mit einem stärker sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz, wie von Felix Mühlberg vorgelegt, betonen dagegen die Herausbildung der Eingabenkultur „im Zusammenspiel von Bürgern und Staat als Form informeller Konfliktbewältigung, die nicht mit bürgerlichen Rechtsbegriffen angemessen beschrieben werden kann.“ Mühlberg betont den hohen verwaltungstechnischen Aufwand, der mit der Bearbeitung von Eingaben verbunden war, sowie die Möglichkeit eines „Instanzenzuges“, die „dem Beschwerdeschreiber eine gewisse Chance bot, sich tatsächlich durchzusetzen.“26 Zunehmend geraten die in der DDR-Zeit massenhaft verfassten Eingaben auch als alltagsgeschichtliche Quelle in den Blick der historischen Forschung.27 Die Anträge bezogen sich stets auf eine konkret bezeichnete Spezialbehandlung in einer hierfür ausgewiesenen Klinik oder bei einem anerkannten Experten und gründeten sich in der Regel auf eine Empfehlung der behandelnden Ärzte, aber auch auf Ratschläge aus dem (westdeutschen) Verwandten- und Bekanntenkreis sowie erworbenes Informationsmaterial. Das Genehmigungsverfahren und der Ablauf der Spezialbehandlungen erfolgten seit Beginn der 1950er Jahre grundsätzlich in folgenden Schritten: Zunächst musste festgestellt werden, ob die Behandlung nicht bzw. nicht mit denselben Erfolgsaussichten in der DDR durchgeführt werden konnte.28 Zu diesem Zweck beauftragte das MfGe die auf dem betroffenen Fachgebiet führenden Experten der DDR – in der Regel die Lehrstuhlinhaber der Medizinischen Fakultäten und Akademien – mit der Anfertigung eines Gutachtens, das auf der Grundlage der Krankengeschichte oder im Einzelfall auch nach persönlicher Vorstellung des Patienten erstellt wurde.29 Sofern die Gutachter eine Westbehandlung als notwendig erachteten, genehmigte das MfGe in der Regel den Antrag. In diesem Fall 24 Bernet, Eingaben, S. 415. 25 Kaschkat, Rechtsschutz, S. 70; Kuss, Gerichtliche Verwaltungskontrolle, S. 436–438. 26 Mühlberg, Bürger, S. 76. Eine ähnliche Sichtweise vertritt Mary Fulbrook, vgl. Fulbrook, Le-
ben, S. 286–306. 27 Dies gilt z. B. für die Medizingeschichte, die Eingaben für die Patientensicht auf das DDRGesundheitswesen nutzt, vgl. Bruns, gesundheitliche Versorgung; ders., Krankheit. 28 Vgl. z. B. Krüger an Kreisgeschäftsstelle Zeitz, 11.4.1953, in: BArch, DQ 1/4371. 29 Z. B. Gietzelt, Charité-Geschwulstklinik an Marcusson, MfGe, 4.11.1954, in: BArch, DQ 1/4719.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
übernahm die Sozialversicherung die Behandlungskosten und das MfGe stellte als Valutaplanträger die erforderlichen Devisen bereit. Formal erstreckten sich die ministeriellen Leistungen somit lediglich auf den Umtausch in westdeutsche Währung; in der Realität war dieser Schritt entscheidend, da DDR-Bürgern bis zur Novellierung des Devisengesetzes im Dezember 1973 der Besitz von „Westgeld“ verboten war.30 Das MfGe übernahm regelmäßig den Währungsumtausch der Kosten, die für eine Behandlung in der dritten Pflegeklasse und für die Rückreise des Patienten vom Behandlungsort bis zur Staatsgrenze der DDR anfielen. Ferner stellte es Devisen in Höhe von 30 DM pro Monat als Taschengeld für den Patienten zur Verfügung.31 Die beiden ersten Positionen wurden von der Sozialversicherung getragen, das Taschengeld mussten Patienten oder ihre Angehörigen vor Reiseantritt in ostdeutscher Währung auf das Einnahmekonto des MfGe einzahlen und konnten anschließend den Gegenwert in Westgeld an einer Filiale der Deutschen Notenbank in Empfang nehmen. Nach Abschluss der Behandlung, die in der Regel in einer Universitätsklinik erfolgte, oder einzelner Therapiesitzungen übersandten die westdeutschen Universitäts- oder Klinikverwaltungen eine Rechnung über die erbrachten Leistungen an das MfGe. Letzteres reichte diese an die Sozialversicherung weiter, die den Rechnungsbetrag auf das Einnahmekonto des Ministeriums einzahlte. Dieses veranlasste anschließend den Umtausch in westdeutsche Währung sowie die Überweisung des Betrages an den Rechnungsteller. Staatliche Institutionen der Bundesrepublik waren an diesem Verfahren nicht beteiligt. Über den Umfang der in den 1950er Jahren jährlich beim MfGe eingegangenen Anträge bzw. Eingaben für eine Westbehandlung ist aufgrund der unzureichenden Quellenlage keine gesicherte Schätzung möglich. Die zuständige Abteilung stationäre und ambulante Krankenversorgung klagte Mitte der 1950er Jahre sowohl über eine ständige Zunahme der Anträge als auch über den wachsenden Schriftverkehr im Einzelfall aufgrund von notwendigen Nachfragen, Veranlassung von Nachuntersuchungen etc., den Anträge aus der Bevölkerung aber auch aus dem Kreis der behandelnden Ärzte mit sich brachten.32 In den 1950er Jahren wurden jährlich ca. 45 bis 50 Spezialbehandlungen bewilligt. Darunter fielen ca. 20 stationäre Behandlungen, deren Kosten man mit durchschnittlich 600 DM (West) im Valutaplan veranschlagte, sowie 30 therapeutische Bestrahlungen mit radioaktiven Substanzen à durchschnittlich 50 DM (West).33 30 Devisengesetz, 19.12.1973, GBl. I, S. 574. 31 Vgl. z. B. Krüger an Wilke, 12.11.1959, in: BArch, DQ 1/21529. 32 Abt. Stat. u. amb. Krankenversorgung, Liesel an HA Heilwesen, Gehring, 15.9.1956, in: BArch,
DQ 1/2359. 33 MfGe, Anlage zum Valutavorschlag 1955, in: BArch, DQ 1/38882. Im Haushalt für 1954 waren insgesamt 21.600 DM (West) für 27 Bestrahlungen à durchschnittlich 50 DM sowie für 18 stationäre Spezialbehandlungen à durchschnittlich 600 DM eingestellt. Durchgeführt wurden insgesamt 18 Bestrahlungen à 41,25 DM sowie 24 stationäre Behandlungen à durchschnittlich 516,75 DM. Analyse zur Berichterstattung über die Erfüllung des Valutaplanes 1954, in: BArch, DN 1/38868.
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Zur Entlastung der Mitarbeiter zog man zeitweise in Erwägung, die Antragsbearbeitung dezentral auf die Bezirksebene zu verlagern, doch erschien eine Aufteilung der Valutamittel auf die Bezirke nach dem Gießkannenprinzip angesichts der unkalkulierbaren Kosten im Einzelfall und des geringen Jahresbudgets von lediglich 20.000 DM (West) nicht praktikabel, zumal „für die Bewilligung […] immer die Unterschrift eines Leitungsmitgliedes des Ministeriums gegenüber der Deutschen Notenbank, Devisenabteilung, vorliegen“ musste.34
II. Welche Spezialbehandlungen wurden bewilligt? Genehmigungen von Spezialbehandlungen in der Bundesrepublik wurden in den 1950er Jahren insbesondere für Bereiche ausgesprochen, die einen Einsatz von innovativer und kostenintensiver hochspezialisierter Medizintechnik erforderten, über die die DDR zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht verfügte. Bewilligt wurden vor allem: – – – – – –
Tumorbehandlungen in der Czerny-Klinik an der Universität Heidelberg, die Behandlung von Augenleiden (z. B. mit Lichtkoagulation) bei Hans Karl Müller in der Universitäts-Augenklinik in Bonn, Herzoperationen bei Ernst Derra an der Medizinischen Akademie Düsseldorf oder bei Fritz Linder am Westend-Krankenhaus in Westberlin,35 Stereotaktische Operationen bei Traugott Riechert an der Klinik für Neurochirurgie an der Universität Freiburg,36 Behandlungen mit radioaktivem Jod bei Heinz Oeser in der Strahlenklinik des Westend-Krankenhauses in Westberlin,37 besondere chirurgische Operationen bei Erwin Gohrbandt im Krankenhaus Moabit in Westberlin.38
34 Abt. Stat. u. amb. Krankenversorgung, Liesel an HA Heilwesen, Gehring, 15.9.1956, in: BArch,
DQ 1/2359. 35 Zwischen den Ost- und Westberliner Chirurgen bestanden sehr enge Kontakte durch ihre gemeinsame Mitgliedschaft in der Berliner Chirurgischen Gesellschaft, die bis Juni 1961 abwechselnd in der Ostberliner Charité und im Krankenhaus Moabit in Westberlin ihre Sitzungen abhielt. Die dort präsentierten Vorträge in- und ausländischer Experten – insbesondere im Bereich der Herzoperationen – vermittelten den notwendigen Überblick über aktuelle Behandlungsmöglichkeiten, vgl. Czymek/Harder/Düsel, Berliner Chirurgische Gesellschaft; 75 Jahre Berliner Chirurgische Gesellschaft. 36 Vgl. Krüger an Ministerium für Gesundheitswesen der CSR, 30.6.1960 (Entwurf; in der Reinschrift fehlt dieser Absatz), in: BArch, DQ 1/4737. 37 Stat. u. amb. Krankenversorgung, HA Heilwesen an Sozialversicherung, Kreisgeschäftsstelle Cottbus, 6.11.1952; Stat. u. Amb. Krankenversorgung, HA Heilwesen an VAB, 7.7.1953, in: BArch, DQ 1/6650. 38 Vgl. u. a. Krüger an Sozialversicherung Zentralverwaltung, 11.5.1953, BArch, in: DQ 1/4371.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
Die Spezialbehandlungen wurden nur nach Ausschöpfung aller Behandlungsmethoden in der DDR genehmigt39 und nur solange bewilligt, bis ihre Durchführung auch in der DDR möglich war.40 Diese scheinbar objektiven Kriterien wurden vom Ministerium weit ausgelegt und die behandelnden Ärzte und Gutachter zu einer strengen Indikation verpflichtet. In Bezug auf die Bewilligung von radioaktiven Bestrahlungen in Westberlin hielt der verantwortliche Ministeriumsmitarbeiter 1953 beispielsweise fest: In der persönlichen Unterredung brachte Herr Prof. Dr. Gietzelt41 besonders zum Ausdruck, daß er nur jene Fälle befürworten wird, die er für eine solche Kur aus Gründen der Gefahr für Leben und Gesundheit für unbedingt notwendig erachtet. Damit dürfte gewährleistet sein, daß nur wirklich dringende Fälle in Frage kommen.42
Andere Mediziner verhielten sich weniger kooperativ.43 Gegenüber dem Staatssekretariat für Hochschulwesen rügte das MfGe 1956 die von ostdeutschen Universitäten wiederholt veranlassten Einweisungen in westdeutsche Kliniken zur Isotopen-Behandlung, obwohl dieselbe Therapie in der Geschwulstklinik der Ostberliner Humboldt-Universität zur Verfügung stand: „Die dort arbeitenden Kollegen beschäftigen sich auch in Verbindung mit der Klinik von Herrn Prof. Oeser in Westberlin genügend lange und gründlich mit der Behandlungstechnik, so daß die Isotopenbehandlung der Geschwulstklinik jeder Kritik standzuhalten vermag.“44 Die Universitäten sollten zudem berücksichtigen, dass „eine selbständige Einweisung in eine westdeutsche Klinik die Übernahme der Kosten durch das Ministerium […] in jedem Falle ganz außerordentlich in Frage stellt, da die gesetzlichen 39 MfGe, Anlage zum Valutaplanvoranschlag 1955, Begründungen für die einzelnen Planan-
sätze auf den Sachkonten, 1.12.1955, in: BArch, DN 1/38882. 40 Vgl. z. B. Krüger an Wilke, 19.4.61: „Die bis jetzt ausgesprochenen Bewilligungen für die Behandlung in Bonn können für eine weitere Behandlung nicht mehr gegeben werden. Die Augenklinik der Charité Berlin arbeitet schon seit längerer Zeit mit demselben Apparat wie die Augenklinik in Bonn, so daß wir Devisen für eine Behandlung außerhalb der DDR nicht mehr zur Verfügung stellen können.“, in: BArch, DQ 1/21529. 41 Fritz Gietzelt (1903–1968) war von 1951 bis 1959 ord. Professor für Radiologie an der Humboldt-Universität und Direktor der Geschwulstklinik an der Charité. Seit 1945 gehörte er der KPD, seit 1946 der SED an, vgl. Stahlschmidt, Fritz Gietzelt. 42 Aktennotiz Schulze, 1.6.1953, in: BArch, DQ 1/4371. 43 Mitte 1953 hatte das MfGe festgestellt, dass Patienten der Charité mehrfach ohne zuvor eingeholte Befürwortung des MfGe ins Moabiter Krankenhaus verlegt worden waren und die Kostenübernahme bei der Sozialversicherung beantragt wurde, vgl. Aktenvermerk Siebert, 19.6.1953, in: BArch, DQ 1/4371. 44 Auch in anderen Fällen warb das MfGe mit guten Ost-West-Kontakten: „Die Behandlung kann aber in der Universitäts-Hautklinik der Humboldt-Universität – Charité – bei Herrn Prof. Linser durchgeführt werden. Herr Prof. Linser ist mit dem ärztlichen Direktor der Universitäts-Hautklinik von Westberlin befreundet; natürlich halten diese beiden auf ihrem Fachgebiet führenden Wissenschaftler innerhalb Berlins, eine fachliche Verständigung aufrecht“, vgl. Krüger an FDGB, BV Frankfurt/O Verwaltung der SV, 13.2.1957, in: BArch, DQ 1/2359.
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Bestimmungen“ seine Einschaltung und Genehmigung vorsähe, und dass „die Leistungen der Wissenschaftler der DDR auf diesem Gebiete nicht hinter den westdeutschen Einrichtungen zurückstehen und es nicht angängig ist, daß man ständig nur die Kliniken als maßgeblich […] ansieht, die diese Behandlungsart als erste eingeführt haben.“45 Damit waren zwei zentrale Kritikpunkte angesprochen, nämlich die selbständige Einweisung ohne vorherige Information und Zustimmung des MfGe sowie die unüberlegte und in langjähriger Praxis eingeschliffene Standardüberweisung an eine für diese Spezialbehandlung ausgewiesene westdeutsche Klinik. Letztere belastete aus Sicht des Ministeriums nicht nur unnötig das geringe Valutabudget und das Patientenvertrauen in die Gesundheitsversorgung der DDR, sondern missachtete auch die vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz so wichtigen Fortschritte in der ostdeutschen Medizin. Dieses Verhalten wurde insbesondere auf dem Gebiet der Herzchirurgie gerügt, wo nach ministerieller Einschätzung „die Erfolge der Chirurgischen Universitätsklinik der Karl-Marx-Universität […] auch bei den kompliziertesten Fällen so ermutigend“ seien, „daß eine Durchführung von Herzoperationen in Westdeutschland meist nicht erforderlich“ sei.46 Der in diesem Fall gerügte Leiter der Charité-Kinderklinik, Hartmut Dost, rechtfertigte sich zum einen mit seiner Unkenntnis über die in der DDR vorhandene Operationsmöglichkeit, zum anderen mit der Berücksichtigung des Patienten- bzw. Elternwillens bei einem komplizierten Eingriff:
45 Krüger an Staatssekretariat für Hochschulwesen, Abt. med. Fakultäten, 30.8.1956, in: BArch,
DQ 1/2359; Dekan an Klinikdirektoren der Med. Fakultät Halle, 5.10.1956, in: Universitätsarchiv Halle Rep 30C Nr. 59. 46 Erler an Dost, o. D. [16.9.1957], BArch, DQ 1/2359. Vgl. auch Krüger an Patientin B., 9.10.1957, ebd.: „Es besteht gar keine Veranlassung, die Leistungen der Leipziger Universitäts-Klinik geringer zu achten als die in Düsseldorf. Prof. Derra ist der Senior der Herzoperationen, das kann jedoch nicht dazu führen, daß man glaubt, daß allein in Düsseldorf gute Operationen gemacht werden.“ Gegenüber dem Kreisarzt in Dresden äußerte Krüger ebenfalls am 9.10.1957: „Ihr Antrag vom 3.10.57, Valutamittel für eine Herzoperation der Frau L. bei Herrn Prof. Derra, Düsseldorf, zur Verfügung zu stellen, setzt uns einigermaßen in Erstaunen. Die Universität Leipzig operiert in der chirurg. Klinik seit einigen Jahren ausgezeichnet auch Aortenisthmusstenosen. Es wäre nützlich, wenn Sie sich über die Erfolge von Dr. Herbst orientieren wollten, damit solche von vornherein gemachten Versprechen und Anträge in Zukunft unterbleiben. Sie können doch nicht von den Patienten erwarten, daß sie je lernen werden, zu den Erfolgen unserer Wissenschaftler in der DDR Vertrauen zu haben, wenn sowohl unsere großen Krankenhäuser der Großstädte als auch unsere Kreisärzte diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht ziehen.“ In einem anderen Fall behauptete die zuständige Fachreferentin Krüger sogar: „Vor 4 und 5 Jahren haben wir sehr viele Herzoperationen bei Herrn Prof. Gohrbandt durchführen lassen. Jedoch ist es in den letzten Jahren niemals mehr notwendig gewesen, daß wir eine Herzoperation außerhalb der DDR durchführen lassen mußten.“ Vgl. Krüger an Rat des Bezirks Halle, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, 2.10.1958, in: BArch, DQ 1/21527, Fall Ilse B.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
Wenn […] in einer außerordentlich schwierigen Situation die Eltern sich […] an einen im Westen tätigen Chirurgen gewandt haben, so würde man sich […] als Arzt wohl kaum entgegenstellen können. Selbst im Falle eines Todes […] pflegen sich die Angehörigen leichter in ihre schwere Lage hineinzudenken, wenn der Eingriff von einem Arzt der eigenen Wahl durchgeführt worden ist.47
Selbst Überweisungen von ostdeutschen Universitätskliniken an westdeutsche oder Westberliner Einrichtungen wurden seitens des MfGe einer eingehenden Prüfung unterzogen und in der Regel die Klinikdirektoren der Charité um eine nochmalige Untersuchung des Patienten oder Sichtung seiner Krankenakte gebeten.48
III. Maßnahmen zur „Störfreimachung“49 auf dem Gebiet der Spezialbehandlungen Die Abhängigkeit von der Bundesrepublik sowohl bei der Versorgung mit Arzneimitteln und medizintechnischen Erzeugnissen als auch bei der hochspezialisierten medizinischen Betreuung belastete nicht nur das geringe Devisenbudget der DDR, sondern auch ihre Stellung im politisch-ideologischen Systemwettbewerb der beiden deutschen Staaten. Darin kam der Existenz eines sozial gerechten und funktionierenden Gesundheitswesens als Nachweis für die Überlegenheit des Sozialismus eine zentrale Rolle zu. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre unternahm die DDR – mit zunächst nur geringem Erfolg – Anstrengungen, sich aus der Abhängigkeit in den genannten Bereichen schrittweise zu lösen.50 Um das Expertenwissen innerhalb der DDR zu fördern, unterstützte das MfGe die Spezialausbildung des eigenen medizinischen Kaders sowohl an führenden bundesdeutschen Fachkliniken51 als auch in zunehmendem Maße in den sozialistischen Bruderstaaten.52 Der 1959 vorgestellte „Perspektivplan zur Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und des Gesundheitswesens in der DDR“ zog u. a. für das ärztliche Personal der vorgesehenen drei Herzkreislaufzentren eine ein- bis zweijährige Ausbildung „an 47 Dost an Erler, 2.10.1957, in: BArch, DQ 1/2359. 48 Vgl. hierzu den Fall Lorenz W. in: BArch, DQ 1/4371. 49 „Störfreimachung“ ist die offizielle Bezeichnung für die Bemühungen der DDR, sich aus der
wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Bundesrepublik zu befreien. Er wird hier im übertragenen Sinne verwendet. 50 Spaar, Dokumentation, Teil II, S. 54. 51 Z. B. hospitierte der Leipziger Martin Herbst mehrere Wochen bei Ernst Derra in Düsseldorf, vgl. Leitz, Geschichte Herzchirurgie, S. 19. Ein Assistent der Leipziger Neurochirurgischen Klinik wurde bei Traugott Riechert in Freiburg ausgebildet, vgl. Krüger Abt. Allg. Gesundheitsschutz an Ministerium für Gesundheitswesen der CSSR, 30.6.1960 (Entwurf), in: BArch, DQ 1/4737. 52 Hausmitteilung Krüger an Abt. Internat. Verbindungen über HA Heilwesen, Frau Dr. Cohen, 29.5.1959; Krüger an Merrem, 28.9.1959, in: BArch, DQ 1/4737; Krüger Abt. Allg. Gesundheitsschutz an Ministerium für Gesundheitswesen der CSSR, 30.6.1960 (Entwurf), Reinschrift, 21.10.1960 und 19.12.1960, ebd.
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entsprechenden Zentren im Ausland“ in Erwägung.53 Zusätzlich wurden Ende der 1950er Jahre umfangreiche Maßnahmen zur „Verbesserung der Forschungs- und Entwicklungstätigkeit auf dem Gebiet der Medizintechnik“ eingeleitet54 und im Siebenjahresplan 1959 bis 1965 u. a. die Ausstattung von Zentren für Geschwulstkrankheiten „mit modernsten Geräten für ultraharte Strahlen und schnelle Elektronen zur Kobaltteletherapie und Behandlung mittels Betatron“ festgelegt.55 Parallel bemühte sich das MfGe, auf der Grundlage bereits getroffener Vereinbarungen Ausweichmöglichkeiten für schwierige Operationen in befreundeten Nachbarländern zu erschließen. Regelungen zur gegenseitigen Hilfe bei Spezialbehandlungen enthielten z. B. die 1954 mit der CSR und 1955 mit Polen geschlossenen Gesundheitsabkommen.56 Ab 1959 konnte die DDR für Eingriffe mit einer Herz-Lungen-Maschine beispielsweise die II. Chirurgische Universitätsklinik in Brünn nutzen.57 Bis Herbst 1961 operierte diese 33 Herzpatienten aus der DDR, von denen fünf verstarben. Dazu zählte auch ein siebenjähriges Mädchen, dessen Überweisung nach Düsseldorf das MfGe zuvor abgelehnt hatte.58 Die Kapazitäten der Brünner Klinik deckten den Bedarf der DDR an schwierigen Herzoperationen allerdings nicht. Schwere Rückstände verzeichnete man insbesondere bei der Behandlung von herzkranken Kindern. In der zweiten Jahreshälfte 1961 warteten ca. 50 Kinder mit Herzmissbildungen auf eine Operation, ca. 300 Kinder standen noch auf der Warteliste für die notwendige Voruntersuchung. Ostberliner Herzpatienten wurden bis 1961 generell in Westberlin von Fritz Linder59 operiert.60 53 Vgl. Harmsen, Perspektivplan, S. 78. 54 Bettin, Verdüsterung, S. 355f; Spaar, Dokumentation, Teil III, S. 166–172. 55 Gesetz über Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokrati-
schen Republik in den Jahren 1959 bis 1965, in: BArch, DC 20-I/3/306, Bl. 74 ff., hier Bl. 96. 56 Für ein gesundes, glückliches Leben. Abkommen über das Gesundheitswesen zwischen der DDR und der CSR, in: Neue Zeit, 18.2.1954. Am 7.10.1955 unterzeichnete Staatssekretärin Jenny Matern in Warschau das Gesundheitsabkommen mit Polen, vgl. Material in: BArch, DQ 1 Nr. 22431; Köhler, Internationale Sozialpolitik, S. 788 f. 57 Massnahmen zur Störfreimachung herzchirurgischer Operationen, gez. Erler, o. D. [August/ September 1961], in: BArch, DQ 1/21163. 58 Liste „Spezialbehandlungen in Brünn, o. D. [1961], in: BArch, DQ 1/21163. 59 Fritz Linder und seine Mitarbeiter in Westberlin hatten im Oktober 1958 erstmals eine Operation mit der Herz-Lungen-Maschine durchgeführt. Sie zählten damit zu den Vorreitern in der Bundesrepublik bei der Einführung dieser Operationstechnik, die erstmals von einem Team unter Leitung von Rudolf Zenker im Februar 1958 in Marburg erfolgreich angewandt worden war. Es folgten Ernst Derra und seine Kollegen in Düsseldorf im Februar 1959, vgl. Rodewaldt/Zenker/Bircks, Herzchirurgie, S. 194. 60 Massnahmen zur Störfreimachung herzchirurgischer Operationen, gez. Erler, o. D. [Aug./Sep. 1961], in: BArch, DQ 1/21163. Nach Angaben des MfGe waren „mindestens 100 [ostberliner] Kinder im letzten Jahr in Westberlin operiert worden.“, vgl. MfGe, Sektor Haushalt an Ministerium der Finanzen, Abteilung Valuta, in: BArch, DN 1/10618. Angeblich erfolgte die Bezahlung größtenteils durch Verrechnung zwischen der Sozialversicherung von Berlin mit der AOK West. Im Widerspruch hierzu heißt es in einem internen Schriftwechsel des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, dass monatlich rund fünf Operationen mit der Herz-Lungen-Maschine von Bewohnern der SBZ oder Ostberlins in Westberlin durchgeführt würden, deren Kosten die
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Die Anstrengungen der DDR, sich durch die Weiterbildung ihrer Experten im Ausland sowie die Unterstützung eigener innovativer Forschergruppen z. B. bei Entwicklung und Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine,61 unabhängig von bundesdeutschen Spezialisten zu machen, zeitigten durchaus Erfolge. Selbstbewusst hieß es 1962 im Bericht des ZKs an den VI. Parteitag der SED über die Entwicklung des Gesundheitswesens, der auch im Neuen Deutschland verbreitet wurde: Eine Reihe komplizierter Spezialbehandlungsmethoden wie Herzoperationen mit der Herz-Lungen-Maschine, die Lichtkoagulation in der Augenheilkunde, stereotaktische Operationen in der Neurochirurgie, die Verwendung von künstlichen Nieren, wurden in der Deutschen Demokratischen Republik eingeführt.62
In der Realität zog die erfolgreiche Einführung moderner Behandlungsmethoden allerdings nicht zwangsläufig eine schnelle ostdeutsche Autarkie auf dem betreffenden Gebiet nach sich. 1965 und 1966 musste die DDR beispielsweise trotz vorhandener eigener Herz-Lungen-Maschinen noch insgesamt 83 Herzoperationen in der CSSR ausführen lassen.63
IV. Aushandlungsprozesse zwischen Patienten, Angehörigen und Staats- und Parteistellen Sofern über die Notwendigkeit einer Spezialbehandlung in der Bundesrepublik bzw. Westberlin zwischen Patient, behandelndem Arzt sowie den medizinischen Experten und dem Gesundheitsministerium Einvernehmen herrschte, war das Konfliktpotential gering. Die Verwaltung konnte sich als „fürsorgende“ Verwaltung präsentieren, die den Bürgern eine optimale Behandlung ermöglichte, selbst wenn diese beim politischen Klassenfeind mit teuren Devisen erkauft werden musste. Anders sah es aus, wenn die beteiligten Akteure die Notwendigkeit einer Westtherapie unterschiedlich interpretierten. In derartigen Fällen gaben sich Patienten bzw. ihre Angehörigen mit ersten ablehnenden Bescheiden des MfGe in Westberlin ansässigen karitativen Organisationen trügen, vgl. Referat I 10 an Referat I 3 (VSVertraulich), 30.5.1960, in: BArch, B 137/16439, Bl. 353–357. 61 Die erste Operation mit einer (US-amerikanischen) Herz-Lungen-Maschine in der DDR führte Martin Herbst am 20.2.1962 in Leipzig aus, vgl. Ursinus, Klinik für Herz- und Gefässchirurgie, S. 117–119. Im April 1962 wurde in Halle erstmals mit einer selbstentwickelten Herz-Lungen-Maschine operiert, vgl. Baust, Karl-Ludwig Schober, S. 36–67. 62 Neues Deutschland, 11.10.1962, S. 9. Diese Darstellung beruht mutmaßlich auf dem im MfGe angefertigten „Bericht über den Stand der Heilbehandlungen und Kuren im Bereich des sozialistischen Lagers“ [Stand: 23.3.1962], in: BArch, DQ 1/4737: Dort heißt es auch, dass bis auf wenige Ausnahmen eine „Inanspruchnahme von Behandlungen außerhalb der DDR […] nicht mehr erforderlich“ sei. 63 Übersicht „Spezialbehandlungen von DDR-Patienten im Ausland 1965/66“, in: BArch, DQ 1/4737.
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häufig nicht zufrieden, brachten schriftlich oder mündlich neue Argumente vor oder wandten sich mit ihrem Anliegen an höherrangige Institutionen – also direkt an den Minister, den Präsidenten, den Staatsrat oder an Parteistellen. Felix Mühlberg hat die in der DDR verfassten Eingaben einer linguistischhermeneutischen Analyse unterzogen und dabei „bestimmte wiederkehrende Textmuster“ identifiziert. Diese „rhetorische Kompositionen“, so Mühlberg, zielten darauf ab, „die Eingabe erfolgreich zu gestalten“ und waren „darauf gerichtet, den Adressaten von der Richtigkeit der eigenen Auffassung, Wahrnehmung usw. zu überzeugen und zum Handeln im Sinne des Absenders zu motivieren.“64 Zu diesen rhetorischen Kompositionen oder Stilmitteln, die auch die Eingaben auf Spezialbehandlungen charakterisieren, zählt Mühlberg unter anderem die Rollenzuweisung und persönliche Anrede, die Selbstdarstellung, der Bezug auf Normen und Werte, die Einsicht in die Notwendigkeit und die Drohung. Exemplarisch lässt sich dies an der Eingabe65 eines Vaters nachvollziehen, der 1958 für seine unheilbar an Morbus Hodgkin erkrankte 18-jährige Tochter eine Frischzellenbehandlung in der Klinik Dr. Issels in Rottach-Egern beantragte und den Adressaten seiner Eingabe, den 1. Sekretär des ZK der SED, nicht nur vertrauensvoll persönlich ansprach, sondern ihm umgehend auch die Rolle eines Beschützers zuwies: Werter Genosse Ulbricht! Leider sehe ich mich genötigt, Dich trotz der großen Aufgaben, die Du in Deinen Funktionen in unserem Arbeiter- und Bauernstaat zu bewältigen hast, in einer privaten Angelegenheit um Hilfe zu bitten.
Es folgte eine ausführliche Schilderung der Krankengeschichte seiner Tochter, der ärztlichen Diagnose mit infauster Prognose sowie der Kontaktaufnahme mit der bayerischen Klinik aufgrund des Hinweises eines westdeutschen Verwandten. Die von dort geschürten Hoffnungen veranlassten den Vater, bei der Kreis-KurKommission und der Sozialversicherung des FDGB einen Antrag auf Behandlung seiner Tochter in Rottach-Egern zu stellen, der an das MfGe weitergeleitet wurde. Der Vater entrüstete sich, dass er nach sechs Wochen noch ohne Nachricht gewesen sei, dass seine Ehefrau bei einer persönlichen Vorsprache im Ministerium völlig überfordertes Personal angetroffen habe und dass die zuständige Fachreferentin den Antrag schließlich unter Verweis auf die unhaltbaren Versprechungen der bayerischen Klinik abgelehnt habe. Insbesondere wollte sich der Vater nicht mit der „Argumentation der Frau Dr. Krüger abfinden, die letzten Endes darauf hinausging, daß wir noch 2 Kinder hätten und deshalb nicht die Nerven verlieren sollten, wenn wir evtl. das dritte hergeben müßten“.66
64 Mühlberg, Bürger, S. 198. 65 Rudolf J. an Ulbricht, 3.7.1958, in: BArch, DQ 1/2359. 66 Ebd.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
An diese Darstellung schloss sich der Bezug auf die in der DDR gültigen Normen und Werte an, denn der Vater stellte in seiner Eingabe fest, daß diese Auffassung der Frau Dr. Krüger doch niemals der Politik unseres Arbeiter- und Bauernstaates entsprechen kann, in der jeder Mensch für den sozialistischen Aufbau benötigt wird. Steht der jetzt dafür aufzuwendende Betrag an Devisen in einem Verhältnis zu dem gesellschaftlichen Nutzen, den ein so junger Mensch, wie meine Tochter, doch zweifellos für unsere Entwicklung noch bringen kann?
Damit nutzte der Vater nicht nur die „jeweilig verbindlichen Schlüssel- und ‚Fahnenwörter‘ aus der Rhetorik der SED“,67 sondern griff auch die gesundheitspolitischen Richtlinien der SED auf68 und argumentierte im Sinne einer KostenNutzen-Analyse mit dem gesamtgesellschaftlichen Gewinn, der aus der teuren Behandlung erfolge. Er schloss seine Eingabe mit einer Selbstdarstellung als überzeugtes SED-Mitglied und einer nochmaligen Ansprache Ulbrichts als paternalistische Vaterfigur sowie einem von Mühlberg als Drohung bezeichneten Stilmittel, das hier positiv – als Aussicht auf seinen hundertprozentigen Einsatz für den Sozialismus – formuliert wird: Ich möchte in diesem Zusammenhang, obwohl ich es nicht gerne tue, darauf verweisen, daß ich vor 1945 gegen den Faschismus gearbeitet habe und langjähriger Genosse der Partei bin. […] Ich bin jedoch fest davon überzeugt, werter Genosse Ulbricht, daß Du in dieser Angelegenheit weiter siehst als eine Frau Dr. Krüger beim Ministerium für Gesundheitswesen und mir und meiner Frau hilfst, meiner Tochter diese klinische Behandlung, die eine letzte Hoffnung darstellt, zu verschaffen. Für Deine Bemühungen darf ich Dir im voraus schon den herzlichsten Dank meiner ganzen Familie und selbstverständlich auch von mir abstatten, ganz zu schweigen davon, daß mir die Abnahme dieser Sorge weiter Mut und Kraft geben wird, mich voll und ganz für den Aufbau des Sozialismus einzusetzen.69
Wie bei Eingaben an höhere Partei- und Staatsstellen üblich wurde das Schreiben mit der Bitte um Überprüfung und Beantwortung an das MfGe als fachlich zustän67 Jessen, Diktatorische Herrschaft, S. 60. 68 Vgl. Beschluß des Zentralsekretariats der SED über gesundheitspolitische Richtlinien vom
31. März 1947, in: Spaar, Dokumentation, Teil I, S. 44–46. Dort hieß es: „Die Erhaltung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Werktätigen ist eine der wichtigsten Lebensaufgaben des Volkes und eine Voraussetzung für den Neuaufbau. Da die Kriegsfolgen und die Zerstörung von Wohnungen erst im Laufe von Jahren beseitigt werden können, so muss alles geschehen, um diese Verluste durch eine planmässige Gesundheitspolitik, insbesondere durch gesundheitsfürsorgerische Einrichtungen, auszugleichen. Es gilt, so viel an Leben und Gesundheit zu retten und zu wahren, wie irgend möglich ist. 69 Rudolf J. an Ulbricht, 3.7.1958, in: BArch, DQ 1/2359.
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dige Verwaltung weitergeleitet. Im vorliegenden Fall übersandte die Abteilung Gewerkschaften, Sozial- und Gesundheitswesen des ZK der SED die an Ulbricht gerichtete Eingabe an den Stellvertreter des Gesundheitsministers, Erwin Marcusson, und gab das weitere Vorgehen der Verwaltung zur Konfliktbewältigung vor: Durch die Aufnahme der Verbindung mit der westdeutschen Klinik hat sich bei den Eltern der feste Glaube an eine mögliche Hilfe so fixiert, daß ihnen in einer Antwort die Stellungnahme – in zustimmendem oder ablehnenden Sinne – wissenschaftlich begründet gegeben werden muß. Deshalb schlagen wir vor, daß von einem anerkannten Internisten die Meinung […] eingeholt wird, um hierauf begründet die Antwort zu geben. Wir bitten um schnelle Überprüfung, damit den Eltern geantwortet werden kann.70
Im MfGe verfuhr man entsprechend den Anweisungen der ZK-Abteilung und berichtete anschließend mit der Bitte, die ZK-Abteilung möge die Genossin J. über die eingeholten wissenschaftlichen Auffassungen unterrichten, wonach eine Behandlung mit Frischzellen keinen Erfolg versprach.71 Florian Bruns kommt in seiner Analyse von Eingaben, die in den 1980er Jahren in der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED eingingen, zu dem Schluss, dass die Mitgliedschaft in der SED die Erfolgschancen einer Eingabe tatsächlich signifikant erhöhte.72 Diese Feststellung trifft ausweislich des eingesehenen Aktenmaterials für die Bewilligung von Spezialbehandlungen in Westdeutschland und Westberlin nicht zu. Vielmehr orientierten sich die SED und MfGe in ihrem Handeln in der Regel an denselben ökonomischen und politischen Prämissen – Devisenmangel und die innerdeutsche Systemkonkurrenz – und kamen nur im Ausnahmefall zu unterschiedlichen Ergebnissen.73 Auch im vorliegenden Fall der an Morbus Hodgkin erkrankten Tochter eines SED-Mitglieds blieb es augenscheinlich bei der Ablehnung einer Frischzellentherapie in Rottach-Egern.
70 ZK der SED, Abt. Gewerkschaften, Sozial- und Gesundheitswesen an Stellv. des Ministers
Marcusson, 5.8.1958, in: BArch, DQ 1/2359. Entsprechend wandte sich der zuständige Abteilungsleiter Allgemeiner Gesundheitsschutz an den Chefarzt der inneren Abteilung des Krankenhauses Friedrichshain, Joachim Brugsch, mit der Bitte um eine Stellungnahme zur erbetenen Frischzellentherapie, auf die dieser jedoch mit Hinweis auf die „augenblicklich nicht ganz unparteiliche Einstellung von Ärzten und Kranken“ eher ausweichend antwortete, vgl. Erler an Brugsch, 21.8.1958, in: BArch, DQ 1/2359; Brugsch, 6.10.1958, zitiert in Marcusson an ZK der SED, Abt. Gewerkschaften, Sozial- und Gesundheitswesen, 22.10.1958, ebd. 71 Ebd. 72 Bruns, gesundheitliche Versorgung, S. 288. 73 Vgl. hierzu Abschnitt „Spezialbehandlungen nach dem Mauerbau 1961“.
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V.
Verwaltungshandeln und kommunikative Praxis
Nicht nur der antragstellende Patient oder Angehörige griff auf erfolgversprechende „rhetorische Kompositionen“ zur Unterstützung seines Anliegens zurück. Auch das MfGe als Genehmigungsbehörde nutzte kommunikative Strategien und bestimmte Stilmittel zur Konfliktregulierung. Diese zielten darauf ab, sich auch in der Ablehnung des Bürgerbegehrens als fürsorgende Verwaltung zu inszenieren, die sich um das Wohl jedes einzelnen Patienten sorgte und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles tat, um den Bedürfnissen des kranken Bürgers gerecht zu werden. Zugleich warb das MfGe um Vertrauen in die Verwaltungstätigkeit und appellierte an die Einsicht der Betroffenen und ihren Gerechtigkeitssinn, wie überlieferte Ablehnungsschreiben dokumentieren: –
–
–
–
„Teilen Sie uns bitte mit, welche Klinik die Diagnose Ihres Leidens gestellt hat bzw. wo Sie mit dem Herzkatheter untersucht worden sind. Wir werden uns dann genauestens über Ihre Erkrankung informieren und Ihnen nochmals antworten“.74 „Wir bitten Sie daher, unserem Rat unbesorgt zu folgen, da Sie davon überzeugt sein können, daß Ihre Tochter nach dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt werden kann“.75 „Wir bitten Sie nochmals herzlich, sich unserem Vorschlag und dem Rat der Leipziger Kinderklinik anzuvertrauen. Sie werden mit Sicherheit dort von Ärzten beraten, deren Erfahrungen und Leistungen an der Spitze der Medizin stehen“.76 „Für solche Behandlungen, die in der DDR nicht durchgeführt werden, stellen wir in den Fällen, in denen in Westdeutschland die Möglichkeit dazu besteht, stets und großzügig die notwendigen Valutamittel zur Verfügung. Um aber unseren Patienten, die aus medizinischen Gründen eine Behandlung in Westdeutschland brauchen, in jedem Falle auch mit den notwendigen Valutamitteln versorgen zu können, müssen wir alle Fälle, in denen eine medizinische Notwendigkeit nicht besteht, ablehnen“.77
Im Unterschied zu der von Ralph Jessen78 herausgearbeiteten „Dauerpräsenz der politisch-ideologischen Parteisprache in allen Verwaltungsvorgängen“ und die von ihm konstatierte „rituelle Überformung großer Teile der internen und externen Kommunikation“ wies die Korrespondenz des MfGe mit den Patienten und ihren Angehörigen augenscheinlich Ansätze von Empathie und ein Eingehen auf 74 75 76 77 78
Krüger an Patientin B., 9.10.1957, BArch, DQ 1/2359. Krüger an Else G., 18.4.1958, in: BArch, DQ 1/2359. Krüger an Wolfgang B., 3.6.1958, in: BArch, DQ 1/2359. Krüger an Patientin B., 9.10.1957, in: BArch, DQ 1/2359. Jessen, Diktatorische Herrschaft, S. 61, 66.
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384 Annette Hinz-Wessels
die individuellen Problemlagen auf. Keinesfalls wollte man angesichts der zum Teil lebensbedrohlichen Erkrankungen der Antragsteller als kaltschnäuzig und herzlos erscheinen, auch wenn man in der Sache hart blieb. Die elterlichen Beschwerden über die unsensiblen Äußerungen der zuständigen Referentin im oben beschriebenen Fall nahm man im MfGe zum Anlass, künftig „noch vorsichtiger in der persönlichen Aussprache mit Antragstellern für Auslandsbehandlungen zu verfahren“.79 Zudem blieb das MfGe trotz Ablehnung einer Westbehandlung nicht untätig, sondern vermittelte umgehend Beratungs- und Untersuchungstermine in den einschlägigen Fachkliniken der DDR.80 Die mit ihrer Forderung nach einer Westbehandlung gescheiterten Patienten konnten also zumindest eine Vorzugsbehandlung innerhalb der DDR erreichen.
VI. Spezialbehandlungen als „westliche Liebesgaben“ In welchem Umfang die mit einem Ablehnungsbescheid konfrontierten Antragsteller die vom Ministerium angebotenen Therapien in der DDR wahrnahmen oder weitere Schritte zur Realisierung ihrer Wunschbehandlung in der Bundesrepublik unternahmen, lässt sich nicht bestimmen.81 Eine Spezialbehandlung – finanziert mit eigenen (verbotenen) Devisen oder mit Unterstützung westdeutscher Angehöriger – ließ sich bis 1961 ohnehin aufgrund der offenen Sektorengrenzen in Berlin und im Rahmen genehmigter Verwandtenbesuche in Westdeutschland auch ohne Kenntnis der DDR-Behörden bewerkstelligen. Nach ihrem Grenz- bzw. Sektorenübertritt konnten Bewohner der DDR und Ostberlins zudem die von westlichen Institutionen gewährte medizinische Betreuung in Anspruch zu nehmen. Nach Angaben des „Berliner Zentralausschusses für die Verteilung von Liebesgaben“ (BZA), der als Zusammenschluss der Stadt Berlin und verschiedener freier Wohlfahrtsverbände insbesondere die mit Mitteln des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (BMG) bestrittene Medikamenten- und Krankenhilfe für die „Sowjetisch besetzte Zone“ in Westberlin koordinierte, waren allein 1958 „316 Personen extra nach Berlin (West) [gekommen], um eine Spezialbehandlung stationär durchzuführen“.82 Mutmaßlich befanden sich darunter auch solche Patienten, denen das MfGe zuvor eine Westbehandlung verweigert hatte. Im Unterschied zur DDR lag die Entscheidung über eine finanzielle Unterstützung in 79 Marcusson an ZK der SED, Abt. Gewerkschaft, Sozial- und Gesundheitswesen, 22.10.1958,
in: BArch, DQ 1/2359. 80 Vgl. z. B. Krüger, Abteilung Allg. Gesundheitsschutz an FDGB, BV Frankfurt/Oder Verwaltung der Sozialversicherung, Außenstelle Eisenbahn-Berlin, 13.2.1957, in: BArch, DQ 1/2359. 81 Die Eltern des oben geschilderten Falles der an Morbus Hodgkin erkrankten Mädchens hatten diesen Schritt in Erwägung gezogen, jedoch ist eine Realisierung nicht aktenkundig. 82 Protokoll über die 2. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, III. Wahlperiode, 9.4.1959, in: Landesarchiv Berlin (= LAB) B Rep 002/2070. Zur Medikamenten- und Krankenhilfe Westberlins vgl. Arndt: Pillen, S. 41–62; dies., Gesundheitspolitik, S. 199–246.
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der Bundesrepublik nicht bei der staatlichen Verwaltung, sondern bei den karitativen Hilfsorganisationen. Die formalen Auswahlkriterien ähnelten jedoch den vom MfGe aufgestellten Bedingungen. Nach Darstellung des BZA musste jedem Antrag eine ärztliche Bescheinigung beigefügt sein, wonach die Behandlung in der DDR nicht erfolgreich durchgeführt werden könne, jedoch in Westberlin bzw. in der Bundesrepublik Aussicht auf Erfolg habe. Alle Anträge mussten von einem Wohlfahrtsverband hinsichtlich der Bedürftigkeit des Antragstellers geprüft und befürwortet werden. Ferner sicherte der BZA dem BMG als Mittelgeber zu, ein Gutachten des (Westberliner) Landesgesundheitsamtes über die aktuellen Therapiemöglichkeiten in der DDR einzuholen, um auf dieser Grundlage die ungerechtfertigten Anträge abzulehnen.83 In der Praxis wurden die aufgestellten Grundsätze allerdings weit ausgelegt oder durch Verweis auf bestehende Lebensgefahr ausgehebelt. Die vom BMG geforderten Verwendungsnachweise listen zahlreiche Diagnosen auf, für deren Heilbehandlung das MfGe nach seinen Auswahlkriterien keine Valutamittel bereit gestellt hätte.84
VII. Spezialbehandlungen nach dem Mauerbau 1961 Kurz nach dem Mauerbau informierte der Stellvertreter des Ministers, Walter Friedeberger, den zuständigen Hauptabteilungsleiter Erler und dessen Referentin Krüger, dass „künftig […] keinerlei Spezialbehandlungen in Westberlin oder Westdeutschland oder überhaupt in einem nicht sozialistischen Land durchgeführt werden“.85 Auch bereits vereinbarte Kontrolluntersuchungen oder notwendige Folgeoperationen in westdeutschen Kliniken fielen unter dieses grundsätzliche Verbot. Zum Teil übte das MfGe Druck auf ostdeutsche Spezialisten aus, bis sie sich zur Vornahme einer zunächst abgelehnten Operation bereiterklärten.86 Für die Entscheidung war es unerheblich, ob Patienten bzw. ihre Angehörigen in ihrem Antrag Verständnis für die „Maßnahmen des 13. August“ artikuliert hatten.87 83 BZA an BMG, Abt. IB2, 24.2.1954, in: BArch, B 137/256, Mappe I6; Bl. 1–2; Rundverfügung
520/1952 des LGA an alle Bezirksämter, 16.12.1953, in: BArch, B 137/256, Mappe: BZA 1952 – Zuschüsse, Bl. 42. Gleichfalls vorhanden in LAB A Rep 003–04-10 Nr 28. 84 Vgl. Sammellisten in: BArch, B 137/256. Zu den aufgelisteten Spezialbehandlungen zählten (Kniegelenk-) Tuberkulose, Poliomyelitis, Herzerkrankung, Hüftgelenkluxation, Sehnervenatrophie, Ulcus Anaemie, Gallenkoliken, Leukämie, Nierenentzündung, Knochen-Systemerkrankung, Beinlähmung. Begründet wurde die Durchführung mit dem Hinweis, dass die „Behandlung in der SBZ nicht durchführbar“ bzw. ohne Erfolg verlaufen oder abgelehnt worden war sowie mit der Lebensgefahr bei einer Verlegung in den Ostsektor. 85 Friedeberger an Abt. I Dr. Krüger über Dr. Erler, 25.8.1961, in: BArch, DQ 1/4737. 86 Vgl. z. B. Fall einer zunächst abgelehnten neurochirurgischen Operation in Leipzig: Grimm an Krüger, 18.8.1961, Krüger an Hirsch, 3.10.1961, in: BArch, DQ 1/21528; Grimm an Krüger, 23.9.1961, in: BArch, DQ 1/4737. 87 Else M. an MfGe, 9.2.1962, in: BArch, DQ 1/21527: „Ich bin mir bewusst, dass durch die Machenschaften der Bonner Regierung und des Westberliner Senats die Beziehungen zwischen den
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In der Praxis genehmigte das MfGe allerdings nach eigenen vertraulichen Angaben in Ausnahmefällen auch weiterhin nicht nur Dienstreisen nach Westdeutschland, sondern auch Heilbehandlungen und Kuren.88 Als solche betrachtete das Ministerium des Innern, das die Ausreise zur Spezialbehandlung abschließend genehmigen musste, „die Behandlung lebensgefährlicher Erkrankungen […], die in der DDR oder in anderen sozialistischen Ländern nicht behandelt werden können.“89 In Einzelfällen – wie das Beispiel des Lehrstuhlinhabers für Chirurgie an der Medizinischen Akademie Dresden, Hans Bernhard Sprung verdeutlicht – nahm die SED direkten Einfluss auf die Entscheidungen des MfGe und machte diese rückgängig, wenn sie dies für opportun hielt.90 Sprung war Verdienter Arzt des Volkes, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, und hatte gemeinsam mit dem „Vorzeigewissenschaftler“ der DDR,91 Manfred von Ardenne, den verschluckbaren Intestinalsender entwickelt.92 Nachdem sich sowohl Gesundheitsminister Sefrin als auch Ministerpräsident Stoph zunächst gegen Sprungs Behandlung in Kassel ausgesprochen hatten, schaltete sich der innerhalb der SEDFührung für die Gesundheitspolitik zuständige Kandidat des Politbüros, Kurt Hager,93 ein und übermittelte dem Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED, Werner Hering, „den Auftrag an die Leitung des Ministeriums für Gesundheitswesen, sofort die Angelegenheit Prof. Dr. Sprung zu einer positiven Entscheidung in Zusammenarbeit mit dem Innenminister zu bringen.“94 Sprung durfte daraufhin 1962 mit seiner Ehefrau im eigenen Mercedes zur stationären Behandlung in Kassel ausreisen. Das MfGe konnte die anfallenden Kosten – in westdeutscher Währung – nur durch eine vom Ministerium der Finanzen zu genehmigende Umsetzung von Valutamitteln aus einem anderen Sachkonto bestreiten.95 Für andere Personen – auch für andere Mediziner –, die keine hochrangigen Parteistellen als Fürsprecher fanden und deren Leistungen für das Gemeinwohl beiden deutschen Staaten immer erschwert werden und dass unsere Regierung zum Schutze unserer Republik zu den Massnahmen des 13. August gezwungen wurde und trotzdem hoffe ich doch, dass Sie uns die Einreise genehmigen werden. Ich habe bereits ein Kind durch einen Unglücksfall verloren und Sie werden verstehen, dass ich nun wegen der völligen Gesundung meiner Tochter an Sie schreibe.“ 88 Gehring (persönlich-vertraulich) an Minister der Finanzen, Stellvertreter des Ministers Sandig, 21.10.1961, in: BArch, DQ 1/6210. 89 Aktennotiz (vertraulich) über eine Aussprache im Ministerium des Innern über Fragen der Genehmigung von Reisen nach Westdeutschland und Westberlin und der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für westdeutsche Bürger für die DDR, 7.8.1962, in: BArch, DQ 1/6201. 90 Vgl. Schriftwechsel in: BArch, DQ 1/21529. 91 Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 130. 92 Wenzel, Hans Bernhard Sprung, S. 61–64; Ardenne, Wegweiser, S. 229 f. 93 Amos, Politik, S. 388. 94 Hering an Sefrin, 24.8.1962, in: BArch, DQ 1/21529. 95 Gehring an Ministerium der Finanzen, Stellv. des Ministers, Genosse Kirsten, 14.7.1962, in: BArch, DN 1/10618.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
geringer geschätzt wurden, blieb die Spezialbehandlung in Westdeutschland ein unerfüllbarer Wunschtraum, wie der Fall des Potsdamer praktischen Arztes Erich Oberläuter zeigt.96 Dieser hatte bereits vor dem 13. August 1961 – ohne einen Antrag auf Spezialbehandlung zu stellen – die Behandlung einer schwerwiegenden Augenerkrankung mit der Universitätsaugenklinik Bonn vereinbart, die bereits genehmigte Reise jedoch auf Bitten seiner Patienten verschoben. Nach dem Mauerbau verweigerten ihm die DDR-Behörden den Grenzübertritt, woraufhin sich Oberläuter an Gesundheitsminister Sefrin wandte. In der sich anschließenden langjährigen Korrespondenz zwischen Oberläuter und Vertretern verschiedener DDR-Behörden griffen beide Seiten auf altbewährte kommunikative Strategien und rhetorische Kompositionen zurück. Zusätzlich mussten sie sich in ihrer Argumentation mit dem Mauerbau als neues, unüberwindliches Hindernis für eine Westbehandlung auseinandersetzen. Während Oberläuter in zahlreichen Protestschreiben und Eingaben an unterschiedliche Staatsstellen die Ablehnung seiner Westbehandlung als schwer vereinbar „mit der so oft zitierten ärztlichen Ethik und Menschlichkeit“ geißelte und auf die seinen Kollegen im Westen gewährte „absolute Freizügigkeit“ verwies, reagierte das MfGe mit politischen Belehrungen: Wir sind der Meinung, daß die Gesundheitspolitik unserer Regierung unseren Patienten gegenüber in bezug auf die Freizügigkeit der westdeutschen Medizin haushoch überlegen ist. Die Situation, in die wir politisch Westdeutschland gegenüber gekommen sind, beruht nicht auf unseren Maßnahmen, sondern auf Maßnahmen der Deutschen Bundesrepublik, die durch wirklich infame Maßnahmen alles versucht hat, um uns die Versorgung unserer Bevölkerung zu erschweren.97
1963 erlitt Oberläuter einen Herzinfarkt und machte hierfür die permanente Sorge um sein Sehvermögen und die Aufregung über die Ablehnung seiner Westbehandlung verantwortlich. Die Schuld an seinen körperlichen und nachfolgenden wirtschaftlichen Schäden gab er ausdrücklich den unnachgiebigen Ministeriumsmitarbeitern und dem politischen System in der DDR, das seinen Bürgern keinen Rechtsschutz gegen staatliches Handeln zubilligte: Das alles verdanke ich in erster Linie Ihnen, denn gegen Ihr erstes NEIN konnte ich unter den bestehenden Bedingungen, z. B. ohne Verwaltungsgericht oder einer anderen, zur Nachprüfung verpflichteten Instanz, nichts ausrichten.98
Paradoxerweise ermöglichte ausgerechnet Oberläuters Infarkt und die daraus resultierende Invalidisierung die jahrelang vergeblich geforderte Westbehandlung, da er nun unter die im September 1964 vom DDR-Ministerrat beschlossene Rei96 Schriftwechsel enthalten in: BArch, DQ 1/5889. 97 Krüger an Oberläuter, 23.2.1962, in: BArch, DQ 1/5589. 98 Oberläuter an Krüger, 18.9.1964, in: BArch, DQ 1/5889.
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seerlaubnis für Alters- und Invalidenrentner fiel. Oberläuter ergriff diese Möglichkeit bereits im Dezember 1964 und nahm sie auch in den Folgejahren in Anspruch, kehrte jedoch regelmäßig nach Potsdam zurück.99
VIII. Langfristige Entwicklung nach dem Mauerbau Ab den 1960er Jahren erfolgten Spezialbehandlungen von DDR-Bürgern im Ausland fast ausschließlich in den Ostblockstaaten, schwerpunktmäßig in der CSSR und der Sowjetunion. Die in den 1950er Jahren implementierten Grundsätze für die Durchführung einer Westbehandlung galten hier gleichermaßen: Eine Bewilligung erfolgte nur, sofern eine gleichwertige medizinische Betreuung in der DDR nicht möglich war. Lange Wartefristen erkannte das Fachreferat nicht als Argument an und belehrte die Antragsteller entsprechend: „Wir sind doch nicht berechtigt, ausländische Kapazitäten in Anspruch zu nehmen, wenn Diagnose und Therapie im eigenen Land in vergleichbarer Qualität zur Verfügung stehen. Dies aus Gründen der Wartezeit zu tun, ist keineswegs möglich.“100 Nach grundsätzlicher Genehmigung durch das MfGe mussten die Patientenunterlagen zunächst dem zuständigen Fachministerium zugestellt werden, in dessen Land die Behandlung vorgenommen werden sollte. Dieses reichte die Krankengeschichte an die ausgewählte Einrichtung weiter, die nach Einsicht in die Unterlagen und in Rücksprache mit dem eigenen Ministerium die Vornahme des Eingriffs zusicherte oder ablehnte. Das Verfahren erwies sich also als keineswegs einfacher oder schneller, und die Hürden waren kaum niedriger als bei einer Spezialbehandlung in Westdeutschland. Auch der Aushandlungsprozess zwischen Patienten und Ministerium folgte derselben Logik und wies dieselben Strategien und Stilmittel in der kommunikativen Praxis auf. Bei ablehnenden Bescheiden des Fachreferats aufgrund der fehlenden medizinischen Indikation für eine Auslandsbehandlung wandten sich die Betroffenen vielfach mit ihrem Anliegen an den Minister als die nächsthöhere Entscheidungsinstanz oder an höhere Staats- und Parteistellen und argumentierten in ihrem Instanzenzug inhaltlich mit der Unvereinbarkeit der Ablehnung mit den Grundsätzen und den Zielen der DDR-Sozialpolitik.101 99 Kreismeldekartei Stadt und Landkreis Potsdam, schriftliche Information des Stadtarchivs
Potsdam vom 4.11.2019. 100 Krüger an Kardiologische Beratungsstelle der Medizinischen Akademie Dresden, 21.8.1967, in: BArch, DQ 1/3606, Bl. 255. 101 Vgl. z. B. Rosemarie D. an Minister Mecklinger, 28.3.1972, in: BArch, DQ 1/10825, Teil 1, 3: „Wenn ich mich an Sie persönlich wende, geschieht es einmal, weil ich mit der Entscheidung einer Ihrem Ministerium unterstellten Abteilung nicht einverstanden bin. Diese Entscheidung betrifft in unserer Person keinen Einzelfall und steht im Widerspruch zur Sozialpolitik unserer Partei- und Staatsführung. Sie entspricht keinesfalls den Ausführungen des Genossen Erich Honecker auf dem 8. Parteitag der SED und der Leipziger Konferenz. Wir wollen die Fürsorge für das Wohl des Menschen ständig verbessern und können es uns aus diesem Grund nicht leisten,
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Auch das 1974 geschlossene deutsch-deutsche Gesundheitsabkommen folgte der ministeriellen Bewilligungslogik, indem es in Artikel 4 (1) die Möglichkeit zur Durchführung von medizinischen Spezialbehandlungen auf diejenigen Fälle beschränkte, die „anders nicht gewährleistet werden können“.102 Die Zahl der im Rahmen dieses Abkommens abgewickelten Spezialbehandlungen in Westdeutschland bzw. Westberlin belief sich bis 1980 jährlich auf unter 20 und stieg 1981 geringfügig an.103 Hinzu kamen CT-Untersuchungen in Westberlin, die in der DDR erst Ende der 1970er Jahre möglich waren,104 sowie in den 1980er Jahren vermehrt Transplantationen. Dabei handelte es sich vorrangig um Lebendspenden von Nieren und Knochenmark aus dem Verwandtenkreis. Gleichwohl blieb der Zugang begrenzt, nur ein geringer Prozentsatz der nachgefragten Spezialbehandlungen in Westdeutschland wurde bewilligt. Ministeriumsintern übte man 1987 angesichts von 103 im Vorjahr beim MfGe eingegangenen Eingaben für eine Spezialbehandlung im Ausland Kritik an der Leichtgläubigkeit und Strategie der Antragsteller, deren Vorstellungen oftmals illusionär seien und „zum Teil auf nicht richtig verstandenen Presseveröffentlichungen“ beruhten.105 Parallel bewilligte das MfGe in den 1980er Jahren eine breite Palette an Spezialbehandlungen in der Bundesrepublik und im kapitalistischen Ausland, die nicht im Rahmen des Gesundheitsabkommens abgewickelt wurden. Bei den derartig begünstigten DDR-Bürgern handelte es sich zumeist um Kulturschaffende und Angehörige der Intelligenz und ihre Familien, die die Kosten selbst trugen, sowie um Kirchenmitarbeiter und ihre Verwandten, für deren Auslandsbehandlung konfessionelle Einrichtungen im Westen aufkamen. Bei der Bewilligung spielten neben der kostenneutralen Abwicklung im Falle der Erstgenannten vor allem die Prominenz und guten Kontakte zur Staats- und Parteiführung eine Rolle, während die Privilegierung von Kirchenmitarbeitern politisch motiviert war. Häufig
daß in einem Personenkreis, und sei er noch so klein, der Gedanke entsteht in diese Fürsorge nicht einbezogen zu sein. 102 Artikel 4 (1) lautet: „Die Abkommenspartner vereinbaren im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die Durchführung medizinischer Spezialbehandlungen und -kuren auf besonderes Ersuchen eines Abkommenspartners, soweit diese anders nicht gewährleistet werden können“, vgl. „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“, abgedruckt u. a. in: Deutscher Bundestag Drucksache 7/153, URL: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/001/0700153.pdf (letzter Zugriff am 29.08.2021). 103 Vgl. Übersicht: Spezialbehandlungen von DDR-Bürgern in der BRD und Berlin (West) von 1976 bis 1980, in: BArch, DQ 1/13182; für 1981 Spezialbehandlungen von DDR-Patienten im kap. Ausland 1981, ebd. 104 Das erste CT-Gerät in der DDR kam 1979 in der Nervenklinik der Charité zum Einsatz, vgl. Berliner Zeitung, 24.2.1982. 105 Auszug aus dem Protokoll der Ministerdienstbesprechung v. 19.3.1987, in: BArch, DQ 1/6614.
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intervenierte der Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, und bat – mit Erfolg – „aus kirchenpolitischen Aspekten um eine positive Entscheidung“.106
IX. Zusammenfassung Seit Beginn der 1950er Jahre lassen sich Spezialbehandlungen von DDR-Bürgern in westdeutschen medizinischen Einrichtungen nachweisen. Ursächlich hierfür war das West-Ost-Gefälle insbesondere bei der hochspezialisierten medizinischen Betreuung infolge der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Die trotz Teilung fortdauernden engen familiären und wissenschaftlichen innerdeutschen Kontakte sorgten zudem für einen schnellen Informationsaustausch über neue Therapieangebote und schufen eine entsprechende Nachfrage in der DDR, zumal Behandlungsmöglichkeiten in den sozialistischen Bruderstaaten erst Ende der 1950er Jahre zur Verfügung standen. Die Genehmigung einer Spezialbehandlung in Westdeutschland und die Bewirtschaftung des hierfür eingerichteten Valutakontos oblag dem MfGe und erfolgte nach dem Grundsatz, dass die notwendige Behandlung in der DDR nicht durchgeführt werden konnte. Die Genehmigungspraxis der Verwaltung erschien damit berechenbar, doch handhabte das MfGe diese Bedingung flexibel mit dem Ziel der Rationierung und drängte behandelnde Ärzte auch zu Eingriffen, die diese zunächst abgelehnt hatten. Limitierend auf die Durchführung wirkten in wirtschaftlicher Hinsicht die Devisenknappheit der DDR und in politischer Hinsicht die innerdeutsche Systemkonkurrenz, die es aus Sicht der DDR langfristig nicht erlaubte, auf dem Gebiet des Gesundheitswesens als einem zentralen Wettbewerbsfeld eine Abhängigkeit von der Bundesrepublik zu offenbaren. Im Aushandlungsprozess zwischen dem Patienten als Antragsteller und dem MfGe als Genehmigungsbehörde um das rationierte Gut „Spezialbehandlung in Westdeutschland“ setzten beide Seiten kommunikative Strategien und wiederkehrende Stilelemente ein, um ihre Ziele zu erreichen. Die Patienten und ihre Angehörigen befanden sich in einer emotionalen Ausnahmesituation und forderten die vom sozialistischen Gesellschaftssystem behauptete Humanität ein, während das MfGe seine ablehnende Entscheidung mit einer Rhetorik der Empathie und Fürsorge bemäntelte. Es handelte sich um einen asymmetrischen Aushandlungsprozess, da eine Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidung für die Antragsteller nicht bestand. Diese konnten nach einem ablehnenden Bescheid 106 Vgl. z. B. Hausmitteilung von HA II/L an M 5, 31.10.1983 betr. Antrag des Staatssekretärs für
Kirchenfragen (Klaus Gysi) bezüglich einer Behandlung des Enkelkindes von […] in der BRD, in: BArch, DQ 1/13240.
MEDIZINISCHE SPEZIALBEHANDLUNGEN IN WESTDEUTSCHLAND
entweder die vom MfGe alternativ angebotenen Therapien wahrnehmen oder das in der DDR etablierte Eingabewesen nutzen, um übergeordnete Staats- und Parteistellen als Fürsprecher für ihre Belange zu gewinnen. Die Erfolgschancen eines derartigen „Instanzenzuges“ waren jedoch gering. Zwar machte die SED ihren Führungsanspruch gegenüber dem Staat auch auf dem Feld der Spezialbehandlungen geltend. Nachweislich griffen leitende Parteikader unmittelbar in das Verwaltungshandeln ein und gaben die Entscheidungsrichtung vor. Eine Intervention erfolgte jedoch lediglich in Einzelfällen, wenn dies aus schwerwiegenden Gründen opportun schien. In der Regel folgten die Parteistellen – in Übereinstimmung mit den ministeriellen Rationierungsbestrebungen – der Auffassung des MfGe als Genehmigungsbehörde, zumal es sich bei den mit den ministeriellen „Sachbearbeitern“ um medizinisch vorgebildete und loyale Parteimitglieder handelte. Als letzter Ausweg blieb den Betroffenen bis zum Mauerbau 1961 allerdings die Möglichkeit des privaten Grenz- bzw. Sektorenübertritts, um die gewünschte Behandlung im Westen mit finanzieller Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld oder von karitativen Organisationen zu realisieren.
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Dr. Annette Hinz-Wessels Charité Berlin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité in Berlin. Dort forscht sie mit einer DFG-Sachbeihilfe über „Medizinische Verflechtung im Kalten Krieg: Vorgeschichte, Aushandlung und Alltag des deutsch-deutschen Gesundheitsabkommens“. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten der FU Berlin und der TU München. Publikationen: Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Berlin 2015; Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus, Berlin 32021; NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg, Berlin 2004; Medizinische Verflechtung und Systemkonkurrenz im Kalten Krieg: Poliobekämpfung im geteilten Berlin, in: Medizinhistorisches Journal, Jg. 55 (2020), S. 132–171.
Malte Thießen
GESUNDHEIT VERWALTEN – KOMMENTAR Wurzeln, Wandel und Ebenen deutscher Gesundheitsverwaltungen im 19. und 20. Jahrhundert
G
esundheit eröffnet ein soziales Konvergenzfeld. Denn hier treffen zahlreiche gesellschaftlichen Handlungsfelder und Ebenen aufeinander. Bei Gesundheitsthemen geht es nie nur um Gesundheit und Krankheit oder Leben und Tod, sondern ebenso um soziale Normen und soziale Ordnungen, also um die Grundsätze der Gesellschaft. Selbst scheinbar spezielle Fachdebatten beispielsweise um die Möglichkeiten einer flächendeckenden medizinischen Versorgung, um effektive Präventionsmaßnahmen oder um Pflegesätze im Alter werfen immer auch die fundamentale Frage auf, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten. Auf dem Konvergenzfeld Gesundheit zeichnen sich damit Spannungsfelder zwischen Individuum und Allgemeinheit, zwischen Staat und Individuum, zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, zwischen Kommune, Nation und Welt ab. „Health“, so definiert Julio Frenk das Konvergenzfeld treffend, „is a crossroad. It is where biological and social factors, the individual and the community, and social economic policy all converge.“1 In der Moderne war auf diesem Konvergenzfeld besonders viel los. Denn in dieser Zeit machten Staaten Gesundheit zum Politikum. Die Entwicklung einer „Medicinalpolicey“, die Etablierung der ‚Sozialmedizin‘ und ‚Sozialhygiene‘, das Aufkommen von Reformbewegungen und Erbtheorien schärften in Europa und den USA das Bewusstsein für den gesellschaftlichen Impact von Gesundheitsmaßnahmen und erhöhten das Bedürfnis, Gesundheit zu gestalten, zu ordnen und zu verbessern.2 Im Zeitalter der Säkularisierung fungierte nicht Gott, sondern Ge-
1 Frenk, Public Health, S. 469. 2 Vgl. Leanza, Zeit der Prävention.
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sundheit als Gradmesser für ‚gutes Leben‘.3 „Der Körper“, so beschreibt Daniel Siemens diese Entwicklung, „wurde nun nicht mehr als unveränderbar und selbstverständlich wahrgenommen, sondern wurde zur Projektionsfläche von Ängsten und Utopien, musste auf Hochleistung oder scheinbare Natürlichkeit getrimmt werden, sollte Teil eines ‚Volkskörpers‘ werden, konnte aber auch zerstört und vernichtet werden. Kurz: Der Körper wurde politisch.“4 Die Politisierung von Körpern und Gesundheit kettete Staat und Individuum untrennbar aneinander und verschmolz soziales Verhalten mit sozialen Verhältnissen zu einem Amalgam von Gesundheits- und Gesellschaftsentwürfen. Verwaltung war für diesen Prozess eine Voraussetzung. Sie bildete die Schnittstelle zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit, zwischen Gesundheitsverhalten, Gesundheitsverhältnissen und Gesundheitspolitik. Gesundheitsverwaltung stand für die Fürsorgepflicht moderner Staaten, die ihre Legitimität aus dem Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger zogen. Insofern gab Verwaltung auch ein Gleichheitsversprechen. Gesundheitsrisiken und Lebenschancen schienen in modernen Staaten nicht mehr abhängig von Abstammung oder Herkunft, sondern planbar anhand von Verordnungen und Gesetzen. Zwar ist dieses Gleichheitsversprechen bis heute eine Illusion geblieben. Vielmehr steht Gesundheit bis heute für eines der offenkundigsten Symptome sozialer Ungleichheit.5 Nicht nur im Kaiserreich, auch in der Bundesrepublik starben ärmere Menschen Jahre früher als wohlhabendere.6 Zuletzt deckte die Coronapandemie 2020/21 klaffende soziale Ungleichheiten vor Krankheit und Tod auf.7 Auch in der sozialistischen Gesellschaft der DDR war es mit dem Gleichheitsversprechen nicht weit her. Hier hebelte beispielsweise die Praxis der Eingaben bislang übliche Rechtsmittel gegen die Verwaltung aus, wie Annette Hinz-Wessels in ihrem Aufsatz nachweist. Gleichwohl standen Gesundheitsverwaltungen in Ost- ebenso wie in Westdeutschland als Visitenkarte des Sozialstaats sowie für gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, die Gesundheitsressourcen zunächst nach Arbeitsfähigkeit, im Laufe des 20. Jahrhunderts aber zunehmend auch nach Bedürftigkeit verteilten. Während die frühen Sozial- und Krankenversicherungen Bismarck‘scher Prägung den Umfang medizinischer Versorgung zunächst ganz an die Berufstätigkeit banden, setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in Westdeutschland „das Prinzip optimaler medizinischer Versorgung unabhängig vom entstehenden Kostenaufwand“8 durch. Die heute geläufige Vorstellung, dass jedem Menschen die bestmöglichen Maßnahmen gegen Krankheit und Tod zustehe, fußt ganz wesentlich auf dieser Entwicklung von Gesundheitsverwaltungen.
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Vgl. mit weiteren Belegen Thießen, Gesunde Zeiten. Siemens, Von Marmorleibern, S. 641. Sachße, Freiheit. Trabert, Soziale Dimension. Thießen, Auf Abstand, S. 168–175. Süß, Gesundheitspolitik, S. 62.
GESUNDHEIT VERWALTEN – KOMMENTAR
Gesundheitsverwaltungen lassen sich somit als Schlüssel zum Wandel von Sozialstaatlichkeit, ja zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen überhaupt verstehen. Genau das scheint mir das Potenzial neuer Ansätze zu sein, die Einblicke in eine Zeitgeschichte der Gesundheit eröffnen: dass wir an Forschungen zu Gesundheitsverwaltungen sozialen Entwicklungen nachspüren können, die nicht unbedingt in bekannten Zäsuren aufgehen und mit denen sich gängige Narrative differenzieren lassen. Ich möchte diese Potenziale im Folgenden an drei Schwerpunkten konkretisieren, die einige Befunde der drei Aufsätze von Annette HinzWessels, Benedikt Kemper und Franziska Kuschel aufgreifen und an denen sich zugleich mein Beitrag gliedert. Erstens möchte ich Wurzeln und Wandlungen von Gesundheitsverwaltungen in den Blick nehmen, zweitens frage ich nach unterschiedlichen Ebenen von Gesundheitsverwaltung und drittens nach dem Verhältnis zwischen Gesundheitsverwaltung und Gesellschaftsordnungen.
I.
Wurzeln und Wandlungen
Gesundheitsverwaltungen lassen sich mit gängigen Zäsuren schwer greifen. Das gilt nicht nur für die Wegmarken deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts wie 1918, 1933, 1945 oder 1989. Auch geschichtswissenschaftliche Ansätze, die beispielsweise eine Periode um 1930 bis 1960 oder die Zeit ‚nach dem Boom‘, also seit den 1970er Jahren, in den Blick nehmen, greifen für eine Einordnung von Gesundheitsverwaltungen meist zu kurz. Schon die tiefen Wurzeln der Gesundheitsverwaltungen machen diesen Befund deutlich. Alle drei Beiträge von Hinz-Wessels, Kemper und Kuschel verfolgen diese Wurzeln der Bundesrepublik und DDR bis in die Weimarer Republik und letztlich sogar bis tief ins Kaiserreich zurück. Kontinuitäten finden sich beispielsweise in der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Verwaltung und Wirtschaft und um die Frage, welche Kontrollrechte der Staat gegenüber Pharmaunternehmen ausüben solle.9 Solche Debatten wurden ja nicht erst im Falle der Diskussion um die Einführung der Polioimpfung Mitte der 1950er Jahre, um das Schlafmittel Contergan Ende der 1950er Jahre oder um den Appetitzügler Menocil während der 1960er Jahre geführt. Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gaben Medizinskandale den Auftakt für intensive Debatten in Parlamenten und Presse, in denen die Rechte und Pflichten der Verwaltung als Sicherheitsagentur gegen ‚Menschenversuche‘ und riskante Substanzen verhandelt wurden.10 Ebenso tiefe Wurzeln haben Diskussionen um die Gründung eines Gesundheitsministeriums, die nicht erst in der Bundesrepublik und DDR, sondern bereits im Kaiserreich und noch einmal sehr viel intensiver zu Beginn der Weima9 Hüntelmann, Pharmaceutical Markets. 10 Vgl. u. a. Elkes, Medizinische Menschenversuche; Reuland, Humanexperimente.
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rer Republik geführt wurden. Franziska Kuschel zeichnet diese Wurzeln vom 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre präzise nach. Tatsächlich fielen schon im Kaiserreich und während der Weimarer Republik ganz ähnliche Argumente, wie sie später in der Bundesrepublik zu hören waren. Die Hoheit der Länder und die Effektivität kommunaler Selbstverwaltung wurden schon damals gern ins Feld geführt, um zentralstaatliche Ordnungsversuche abzuwehren. Insofern ging es in Debatten um ein Gesundheitsministerium immer auch um die Grundsatzfrage, welchen Stellenwert Gesundheit als Politikfeld überhaupt erhalten solle. War die Ressortwürdigkeit auf Landes- und kommunaler Ebene relativ unstrittig, sorgte eine Bürokratisierung von Gesundheit auf nationaler Ebene schon im Kaiserreich für Bedenken, ob der Staat mit einer eigenständigen Gesundheitsverwaltung nicht seine Arbeitsfelder zu weit ausdehne. Bei der Diskussion um die Gründung eines Reichsgesundheitsamts in den 1870er Jahren, dem Vorläufer des späteren Bundesgesundheitsamts und in zeitgenössischer Vorstellung ein ‚Quasi-Gesundheitsministerium‘, gingen die Wogen im Deutschen Reichstag hoch.11 Nicht ohne Ironie warnte der Staatswissenschaftler Franz Joseph von Buß (Zentrum) während der Reichstagsdebatten um ein Impfgesetz 1874 vor den gesundheitlichen Folgen eines Gesundheitsamtes: „Ein solch junges Reichs-Gesundheitsamt mit allen seinen Dienern wird sich in seiner Reputation zu begründen suchen und würde eine Vielgeschäftigkeit hervorrufen, die unser Aller Gesundheit höchst nachtheilig sein wird.“12 Sein Parteifreund Ludwig Windthorst malte solche Bedenken mit bedrohlichen Bildern von einer Beamtenflut aus, die ein Gesundheitsamt auslöse: „So befürchte ich, daß bald in Deutschland Niemand übrig bleibt, der nicht ein Staatsamt bekleidet.“13 Solche Einwände klingen erstaunlich vertraut, wenn man sie mit den Warnungen vor einem Bundesgesundheitsministerium als abschreckendes Beispiel eines „luxuriösen Verwaltungsaufbaus“ Mitte der 1950er Jahre vergleicht, die Kuschel in ihrem Aufsatz zitieren. Auch die Übergänge vom ‚Dritten Reich‘ in die Nachkriegszeit verliefen in Gesundheitsverwaltungen oft fließender als in anderen Bürokratien.14 Unmittelbare Nachwirkungen des Nationalsozialismus weist Benedikt Kemper in seinem Aufsatz am ‚Fall Corten‘ in den 1950er Jahre nach. In dieser Debatte um Zwangseinweisungen in Psychiatrien ebenso wie in der Auseinandersetzung um die Gründung eines Gesundheitsministeriums bildete die NS-Zeit eine Kontrastfolie, vor der sich Neuerungen in der Gesundheitsverwaltung legitimieren ließen. Die Wandlungen deutscher Gesundheitsverwaltungen hatten also zunächst einmal mit Rückblicken auf das ‚Dritte Reich‘ zu tun, die allerdings weniger in den ersten Dekaden, sondern eher seit den 1970er und 1980er Jahren eine immer wichVgl. Hüntelmann, Hygiene, S. 60–75 Reichstagsprotokoll, 09.03.1874, S. 269. Reichstagsprotokoll, 14.03.1874, S. 358. Zu den besonderen und besonders abschreckenden Kontinuitäten im Gesundheitswesen vgl. als Überblick mit weiteren Belegen u. a. Jütte/Eckart/Schmuhl/Süß, Medizin und Nationalsozialismus, S. 267–323. 11 12 13 14
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tigere Rolle für das Selbstverständnis von Verwaltung spielten. Diskussionen um die Entschädigungen von im Nationalsozialismus Zwangssterilisierten während der 1980er Jahre oder um die Präimplantationsdiagnostik bei Behinderten in den 1990er Jahren geben für diese verzögerten Nachwirkungen des Nationalsozialismus in deutschen Gesundheitsverwaltungen nur zwei Beispiele von vielen.15 Bemerkenswerter als diese geschichtspolitischen Nutzungen des ‚Dritten Reichs‘ als Argument sind Kontinuitäten in der Gesundheitsverwaltung von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik, die man als ungebrochene Fortschrittseuphorie charakterisieren kann. Während der Nationalsozialismus in der öffentlichen Erinnerungskultur seit den 1950er Jahren als „Zusammenbruch“ und „Katastrophe“ zumindest ansatzweise – wenngleich meist im entlastenden Selbstbild des Opfers – problematisiert wurde, fehlte ein solches Problembewusstsein in deutschen Bürokratien. Zumindest in dieser Hinsicht waren sich die beiden Deutschlands im Übrigen recht ähnlich. Während im ostdeutschen Ministerium für Gesundheitswesen zumindest in den Anfangsjahren einzelne Beamtinnen und Beamte mit starker NS-Belastung z. B. durch eine Art ‚Huckepack‘-Verfahren von ehemals NS-Verfolgten oder KPDMitgliedern flankiert wurden, war es mit dem Aufarbeitungsbedürfnis in der DDR relativ schnell vorbei. Schon der stetig wachsende Personalbedarf nach den massiven Abwanderungen von Medizinerinnen und Medizinern in den Westen senkte die Aufarbeitungslust spürbar.16 Noch pragmatischer war man in der Bundesrepublik. Denn hier galt die Gesundheitsverwaltung des Nationalsozialismus bis in die 1960er, z.T. sogar bis in die 1970er Jahre nicht als Problem, sondern im Gegenteil als Aktivposten, ja beinahe als eine Art Aushängeschild. Ulrike Lindner hat nachgewiesen, dass gerade die „Neuordnung und Verstaatlichung des Gesundheitswesens“ im Jahr 1934 in der Bundesrepublik lange Zeit durchaus „positiv wahrgenommen“ wurden.17 Der Ausbau der Gesundheitsämter seit den 1930er Jahren und die flächendeckende Versorgung mit Gesundheitsleistungen gaben demnach ein Vorbild für die Fürsorgepflicht des Staates, der im ‚Dritten Reich‘ nun endlich auch ‚in der Fläche‘ für gleichwertige Lebensbedingungen einstehen wolle. Noch in den 1970er Jahren feierte beispielsweise eine Dissertation die Impfprogramme der NS-Zeit als Vorbild „moderner“18 Gesundheitsmaßnahmen, an denen man sich noch heute 15 Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe; Schenk, Behinderung. 16 Für die Bundesrepublik vgl. die Befunde zur Gesundheitsabteilung im Bundesinnenministe-
rium Palm/Stange, Vergangenheiten, bes. S. 164–168. Für die Auseinandersetzung mit der NSBelastung in der ostdeutschen Gesundheitsverwaltung vgl. Braun, Politische Medizin (für VorabHinweise aus dem Buch danke ich Jutta Braun herzlich); als generellen Überblick über die personelle Aufarbeitung in der DDR vgl. Bergien, Schweigen der Kader sowie als Überblick über personelle Kontinuitäten in staatlichen Verwaltungen der Bundesrepublik und DDR Mentel/ Weise, Zentrale deutsche Behörden. 17 Lindner, Gesundheitspolitik, S. 47. 18 Aumiller, Werbung in der Medizin, S. 21.
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orientieren könne. Niedrigschwellige Angebote im ‚Dritten Reich‘ beispielsweise zur Diphtherieschutzimpfung oder eine geradezu multimediale Aufklärungskampagne für Röntgen-Reihenuntersuchungen hatten in dieser Perspektive wertvolle Grundlagen für die Präventionsprogramme der Bundesrepublik gelegt.19 Zugespitzt könnte man sagen: Die nationalsozialistische Gesundheitsverwaltungen waren in Westdeutschland lange Zeit so etwas wie die ‚Autobahnen‘ der Bürokratie. An bundes- und ostdeutschen Gesundheitsverwaltungen lässt sich daher eine ‚gesundheitspolitische Schizophrenie‘ nachweisen, mit der die Zeit nach 1945 ihr spezifisches Gepräge erhält. Einerseits standen einzelne NS-Mediziner seit den Nürnberger Ärzte- und den ‚Euthanasie‘-Prozessen im medialen Rampenlicht. An ihnen entzündeten sich emotionale Debatten um den Wert des Menschen, um Grundrechte und Menschenbilder. Andererseits reichte diese Kritik eben nicht bis in die Verwaltungen. Die unbefangene Begeisterung über die Effektivität der Gesundheitsämter als Vorbild einer modernen Daseinsfürsorge wurde durch die aufsehenerregenden Prozesse nicht getrübt. Man könnte sogar noch weitergehen. Gerade die medialen Aufreger um ‚Bestien‘ wie Brandt, Mengele und Co. dienten Medizinalbeamten als eine Art Feigenblatt und Beweis, dass die Gesundheitsverwaltung demgegenüber letztlich doch recht ‚anständig‘ geblieben sei. Zusammengefasst eröffnen Gesundheitsverwaltungen also Einblicke in spezifische Traditionslinien, die in den Amtsstuben und Ministerien sehr viel länger gepflegt wurden, als man angesichts intensiver Debatten um Kontinuitäten gerade in Deutschland vermuten würde. Das betrifft nicht nur die ‚braunen Wurzeln‘ der Bundesrepublik und DDR, sondern ebenso Kontinuitäten beispielsweise im Verhältnis zwischen Reich bzw. Bund und Ländern oder zwischen Staat und Wirtschaft bzw. Staat und Wissenschaft, die in und anhand von Gesundheitsverwaltungen verhandelt wurden. Dass sich solche Kontinuitätslinien durch das gesamte 20. – und letztlich sogar bis ins 21. Jahrhundert – ziehen lassen, unterstreicht einmal mehr das einleitend aufgezeigte Potenzial von Forschungen zu Gesundheit als Konvergenzfeld. Gerade weil es in Gesundheitsverwaltungen nicht nur um Gesundheit und Krankheit ging, sondern immer auch um die Grundsätze der Gesellschaft, lassen sich ganz ähnliche Debatten und Konzepte über die Systemgrenzen hinweg verfolgen.
II. Ebenen Erkenntnisse zum gesellschaftlichen Wandel verspricht auch der Blick auf unterschiedliche Handlungsebenen, den neuere Forschungen zur Geschichte der Gesundheit und auch die drei Aufsätze eröffnen. Gesundheit ist ein Feld, das auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene verhandelt und verwaltet wird. Darüber hinaus lassen sich an Forschungen zu Gesundheitsverwaltungen Wechsel19 Thießen, Immunisierte Gesellschaft, S. 218–219.
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wirkungen zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen nachvollziehen. Bei Forschungen zu Gesundheitsverwaltungen hängen Mikro-, Meso- und Makroebene also besonders eng zusammen. Der ewige Disput zwischen Bund und Ländern, den Franziska Kuschel als Kontext der Ministeriumsgründung Anfang der 1960er Jahre ausleuchtet, bietet für solche Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Ebenen ein gutes Beispiel. Am offensichtlichsten ist der Zusammenhang bei Infektionskrankheiten. Dass Seuchen nicht vor Grenzen haltmachen, ist eine relativ alte Erkenntnis, die schon früh transnationale Wissenstransfers beförderte. Seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch standen Gesundheitsverwaltungen in einem besonders engen internationalen Austausch. Internationale Sanitätskonferenzen zur Cholera, zum Gelbfieber oder zu den Pocken mündeten in Empfehlungen und Abkommen, in die man gemeinsame Erfahrungen mit Präventionsprogrammen gießen wollte.20 Seither bestimmten beispielsweise internationale Sanitätsabkommen, Reiseregelungen oder Prüfstandards für Medikamente auch das Wirken deutscher Amtsstuben. Gesundheitsverwaltungen sind daher ein besonders fruchtbares Untersuchungsfeld für transnationale Prozesse und globale Verflechtungsgeschichten. Insbesondere im ‚Dritten Reich‘ und nach 1945 sind Konzepte von Gesundheit und Krankheit undenkbar ohne internationalen Austausch, nicht zuletzt auf den genannten internationalen Konferenzen, im Rahmen der Gesundheitsorganisation des Völkerbundes oder nach 1945 im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Denn obwohl das ‚Dritte Reich‘ aus seiner Aversion gegenüber dem Völkerbund kein Hehl machte und Joseph Goebbels den deutschen Austritt aus dem Völkerbund Ende 1933 als Befreiung von den Fesseln von Versailles feierte, brach die internationale Zusammenarbeit zumindest bei Gesundheitsthemen auch in den Folgejahren keineswegs ab. Vielmehr beschäftigten sich deutsche Gesundheitsbeamte noch Ende der 1930er Jahre mit den Pockenkommissionen des Völkerbundes oder mit der Einführung internationaler Regularien für die Luftfahrt, die als Grundlage für Präventionskonzepte an deutschen Flughäfen übernommen wurden. Noch intensiver war die internationale Zusammenarbeit deutscher Behörden seit den 1950er Jahren im Rahmen der WHO. Für diese Intensivierung finden sich zwei Gründe. Zum einen wollten Bundesrepublik und DDR selbstverständlich weiterhin vom internationalen Erfahrungsaustausch profitieren. Dieser war nach dem ‚Braindrain‘ der Vertreibung ‚jüdischer‘ und politisch verfolgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit den 1930er Jahren umso notwendiger, fand medizinische Spitzenforschung mittlerweile doch hauptsächlich in Großbritannien und den USA sowie in der UdSSR statt. Hatten sich die Deutschen bislang als Weltspitze medizinischer Forschung gefühlt, beförderte die Nachkriegszeit einen schmerzhaften Umdenkprozess. Während in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik unter deutschen Medizinern „eine überzogene Skepsis gegen20 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 268–292.
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über ausländischen Neuerungen“21 vorherrschte, gelang im Laufe der 1950er Jahre allmählich die Flucht aus dem nationalen „Käfig“. 22 Franziska Kuschel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die WHO während der 1960er Jahre sogar zu einem Argument in westdeutschen Debatten geriet, etwa wenn es um die Rolle von Ärztinnen und Ärzten in der Verwaltung ging.23 Zum anderen eröffnete die WHO im Kalten Krieg ein Forum, in dem internationale Wettbewerbe um das bessere Gesellschaftsmodell ausgetragen wurden. Ich komme auf diesen Punkt gleich noch einmal zurück. Die Geschichte deutscher Gesundheitsverwaltungen eröffnet also neue Einblicke in die Verflechtungsgeschichte und macht diese auf unterschiedlichen Ebenen greifbar. Auch das deutsch-deutsche Gesundheitsabkommen, das Annette Hinz-Wessels zu Beginn ihres Aufsatzes unter die Lupe nimmt, bietet ein Beispiel für solche Verflechtungen über den ‚Eisernen Vorhang‘ hinweg, die in der Forschung zur deutschdeutschen Geschichte schon länger erkundet werden.24 Darüber hinaus markiert das deutsch-deutsche Gesundheitsabkommen von 1974 einen sukzessiven Wandel in der Gesundheitspolitik der DDR bzw. in ihrer Gesundheitsaußenpolitik, wie man sie auch bezeichnen könnte. Bis in die 1960er Jahre galt die ostdeutsche Gesundheitsverwaltung nämlich dies- und jenseits der Mauer als besonders schlagkräftige Waffe des Kalten Krieges. Die im Vergleich zur Bundesrepublik ungleich höheren Impfquoten der DDR gegen Diphtherie, Pocken, Polio und die erfolgreiche Etablierung umfangreicher Präventionsprogramme, der Ausbau von Polikliniken und Mütterberatungsstellen und vieles mehr stellten nach Ansicht vieler ost- und westdeutscher Zeitgenossen unter Beweis, dass die DDR zumindest auf diesem Feld im Wettrennen um das ‚bessere‘ Gesellschaftsmodell die Nase vorn hatte.25 Dass SED und ostdeutsches Ministerium für Gesundheit während einer großen Kinderlähmungs-Pandemie im Ruhrgebiet in den 1960er Jahren Bundeskanzler Konrad Adenauer sogar süffisant ‚Entwicklungshilfe‘ in Form von drei Millionen Impfungen anboten, ist nur ein weiteres Beispiel für diese Gesundheitsaußenpolitik. Gesundheit war eine Ressource, mit der sich Wettbewerbe im Rennen um das bessere Deutschland gewinnen ließen. Diese politische Aufladung macht im Übrigen auch nachvollziehbar, warum ostdeutsche Gesundheitsverwaltungen bei der Bewilligung von ‚Spezialbehandlungen‘ im Westen so zurückhaltend blieben: Jede Behandlung eines DDR-Bürgers beim ‚Systemgegner‘ war ja im Grunde ein Eingeständnis, dass es mit der ostdeutschen Überlegenheit dann doch nicht so weit her war.
Lindner, Gesundheitspolitik, S. 280. Wengenroth, Flucht in den Käfig; vgl. auch Wieland, Pfadabhängigkeit. Vgl. auch Woelk, Gesundheit, S. 457. Vgl. u. a. Bösch, Geteilte Geschichte. Arndt, Gesundheitspolitik; Wasem/Mill/Wilhelm, Gesundheitswesen; Thießen, Vorsorge als Ordnung. 21 22 23 24 25
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Das deutsch-deutsche Gesundheitsabkommen markiert einen allmählichen Wandel der Gesundheitsaußenpolitik, weg von der Propaganda und hin zum Pragmatismus. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren wussten Expertinnen und Experten in der DDR um die Abhängigkeit vom Westen, wenngleich die von Hinz-Wessels dargestellten Spezialbehandlungen in einem Umfang von jährlich ca. 40 bis 50 Fällen noch vergleichsweise selten echte Austauschbeziehungen zur Folge hatte. Seit den 1960er und vor allem seit den 1970er Jahren setzte sich indes in ostdeutschen Gesundheitsverwaltungen die Erkenntnis durch, dass man zur Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens selbst bei bisherigen Paradedisziplinen der DDR wie den Impfprogrammen auf Transfers mit dem ‚Systemgegner‘ angewiesen blieb. Auch im Westen sank zu dieser Zeit das Abgrenzungsbedürfnis, das noch in den 1960er Jahren die Debatte um ein westdeutsches Gesundheitsministerium beeinflusst hatte. Anfang der 1960er Jahre diente der ‚Zentralismus der Zone‘ ja noch als beliebtes Schreckbild der Abgrenzung, die seit Mitte der 1970er Jahre weniger stark gefragt war. Zusammengefasst liegt eine zweite große Stärke von Forschungen zu Gesundheitsverwaltungen im Blick auf transnationale und Verflechtungsgeschichten. Dabei machen Forschungen zu Gesundheitsverwaltungen deutlich, dass sich Verflechtungsgeschichte nicht als Einbahnstraße in dem Sinne verstehen lässt, dass ‚globale‘ Erkenntnisse und Konzepte auf nationaler und dann auf lokaler Ebene umgesetzt wurden. Vielmehr werden in deutsch-deutschen Gesundheitsverwaltungen spezifische nationale und lokale Aneignungen von Welt sowie Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Ebenen nachvollziehbar. Letztlich können wir beim Thema Gesundheit also einer Geschichte der ‚Glokalisierung‘ als Wechselwirkung unterschiedlicher Ebenen nachspüren.26 Die zahlreichen Pockenausbrüche in der Bundesrepublik während der 1960er Jahre oder der internationale Austausch westdeutscher Städte im Kampf gegen AIDS während der 1980er Jahre geben dafür nur zwei Beispiele von vielen.27
III. Gesundheitsverwaltungen und Gesellschaftsordnungen Ein drittes Potenzial neuer Forschungen liegt im Zusammenspiel zwischen Gesundheitsverwaltungen und Gesellschaftsordnungen, dem Kemper, Kuschel und Hinz-Wessels in ihren Aufsätzen ebenfalls nachspüren. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an den vielen Skandalen und Skandalisierungsversuchen, die auf den ersten Blick für ein scheinbar trockenes Thema wie Verwaltungen 26 Vgl. zu diesem Ansatz Robertson, Glokalisierung; Grewe, Wie verortet man. 27 Zum internationalen Austausch der Gesundheitsverwaltungen westdeutscher Städte im Falle
von AIDS vgl. Haus-Rybicki, Seuche regieren; zu transnationalen Transfers kommunaler Gesundheitseinrichtungen bei Pockeneinschleppungen vgl. Thießen, Immunisierte Gesellschaft, S. 236–255.
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nicht selbstverständlich erscheinen. Tatsächlich ist das Skandalisierungspotenzial von Gesundheitsverwaltungen aber erstaunlich hoch, wie ein Rückblick durch das 20. und 21. Jahrhundert zeigt. Die Skandalträchtigkeit von Gesundheitsverwaltungen liegt ja geradezu auf der Hand, wenn wir uns noch einmal das Konvergenzfeld vor Augen halten, von dem ich einleitend gesprochen hatte. Denn bei Gesundheitsthemen verknüpfen sich existenzielle körperliche Erfahrungen und Lebensentwürfe des Einzelnen mit den Anforderungen der Allgemeinheit – also mit dem Allgemeinwohl, mit der Gesellschaft, mit dem Staat‘, dem ‚Volk‘ bzw. dem ‚Volkskörper‘, der ja nicht nur im ‚Dritten Reich‘, sondern auch in der Bundesrepublik der 1950er Jahre noch als Ordnungsprinzip galt. Bis heute sticht die Debatte um Contergan aus dieser Geschichte um Gesundheitsskandale heraus.28 Die herausgehobene Stellung des Contergan-Skandals verleitet allerdings mitunter dazu, all die anderen Skandale zu übersehen, in denen ebenfalls ganz grundsätzlich um Grundsätze der Gesellschaft gestritten wurde. Kuschel führt in diesen Zusammenhang beispielweise mit guten Gründen die vielen Lebensmittelskandale auf, von der die Startphase des westdeutschen Bundesgesundheitsministeriums begleitet wurde. Eine Verknüpfung von Individual- und Allgemeinwohl schürte und schürt immer wieder massive Konflikte. In Gesundheitsverwaltungen geht es bei der Zuteilung medizinischer Leistungen und Ressourcen bzw. bei der Umsetzung von Restriktionen und Sanktionen immer auch um die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit von Menschen. Gesundheitsverwaltungen bewerten im Grunde gesundes, mithin ‚gutes‘ Leben, oder eben riskantes, mithin gefährliches bzw. ‚schlechtes‘ Leben, sie entscheiden über ‚Wahnsinn‘ und ‚Vernunft‘, also letztlich über soziale Wertigkeit und Normalitätsvorstellungen, wie sie Benedikt Kemper für die Psychiatrie oder Hinz-Wessels am Beispiel der ‚Spezialbehandlungen‘ aufzeigt. Insofern ist es kein Zufall, dass viele Eingaben an ostdeutsche Gesundheitsverwaltungen in geradezu stereotyper Reinform die sozialistische Gesellschaftsordnung vorbeteten und auf einen gefühlten Konsens an Wertvorstellungen und Verhaltensnormen Bezug nahmen. Ganz ähnliche Fälle finden sich selbstverständlich auch schon früher. So war im Nationalsozialismus der ‚volksgemeinschaftliche‘ Nutzen ein wichtiges Argument z. B. zur Begründung oder Ablehnung von Zwangssterilisationen Mitte der 1930er Jahre oder für die Zuteilung von Impfstoffen und Medikamenten im Krieg.29 In der Weimarer Republik und im Kaiserreich wiederum war Arbeitsfähigkeit beispielsweise ein schlagendes Argument, mit dem sich Gesundheitsverwaltungen bei der Genehmigung von Lungenheilkuren gegen Tuberkulose überzeugen ließen.30
28 Vgl. Großbölting/Lenhard-Schramm, Contergan. 29 Vgl. Ley, Zwangssterilisationen; Süß, Volkskörper; Thießen, Immunisierte Gesellschaft; Bern-
hard, Shadow of ‚Euthanasia‘. 30 Blasius, Tuberkulose, S. 325–326.
GESUNDHEIT VERWALTEN – KOMMENTAR
Gesundheitsverwaltungen befördern somit eine Normierung von Körpervorstellungen, Gesundheitskonzepten und Lebensstilen. Vor diesem Hintergrund verhandeln Gesundheitsverwaltungen nicht nur soziale Normen und soziale Ordnungen, sondern ebenso das Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit bzw. zwischen Individuum und Staat. Dass dieses Spannungsverhältnis im Falle psychiatrischer Einweisungen mit Händen zu greifen ist, macht Kempers Beitrag am ‚Fall Corten‘ besonders deutlich. Hier ging es ja unmittelbar um einen Eingriff in Grundrechte und um die Frage, wer eigentlich über Freiheitsentzug und den Körper des Einzelnen bestimmen dürfe, der Staat oder der Mensch. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft unterstreicht noch einmal die hohe Relevanz der drei Aufsätze im Speziellen und dieses Sammelbandes im Allgemeinen: Verwaltungen verhandelten und verhandeln Gesellschaftsordnungen und Menschenbilder und sind schon deshalb eine der wichtigsten Quellen für den sozialen Wandel im 20. und 21. Jahrhundert. Der Bezug auf das 21. Jahrhundert scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig zu sein, weil wir in Zukunft unseren Blick für Entwicklungen in der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte weiten sollten. Gerade weil mittlerweile viele hervorragende Forschungen zu den 1930er bis 1960er Jahren vorliegen, können wir fortan intensiver den Entwicklungen seit den 1970er Jahren nachgehen. Die Erweiterung des Untersuchungszeitraums ist zunächst einmal sinnvoll, um den Zäsurcharakter der 1960er oder 1970er Jahre zu hinterfragen.31 Selbstverständlich lässt sich der Einfluss der Reformjahre um 1968 oder der Krise ‚nach dem Ende des Booms‘ im Laufe der 1970er Jahre auch auf Gesundheitsverwaltungen nicht leugnen. Gleichwohl standen Gesundheitsverwaltungen noch unter ganz anderen Sternen, die den Wandel von Gesundheits- und Gesellschaftskonzepten beförderten. So ist das „präventive Selbst“ eine vergleichsweise alte Subjektivierungsform, die beispielsweise in den Reformbewegungen des späten 19. Jahrhunderts gelebt wurde. In den 1970er und 1980er Jahren kam das Konzept indes zu ganz neuen Ehren und einer erneuten Popularisierung. Die Diät-, Aerobic- und Fitnessbewegungen, neue Techniken der Selbstkontrolle und damit auch der Selbstoptimierung waren eben nicht nur Ausdruck jener ‚neoliberalen Wende‘, auf die die Zeit ‚nach dem Boom‘ häufig verkürzt wird.32 Vielmehr spielten transnationale Transfers bei Gesundheitskonzepten eine Rolle, die Ausweitung von Freizeit und Konsumangeboten, aber letztlich auch Entwicklungen wie die digitale Transformation, die unsere Selbstoptimierungsmöglichkeiten noch einmal vereinfacht.33 In diesem Sinne lässt sich eine Erfolgsgeschichte des „präventiven Selbst“ und ein Wandel von Gesundheitskonzepten nicht auf die Zeit seit den 1970er Jahren reduzieren. Vielmehr steht dieser Wandel im Zusammenhang mit Entwicklungen 31 Vgl. dazu die Beiträge in Kersting/von Miquel/Rudloff/Thießen, Ende der Anstalten. 32 Vgl. sowohl die instruktive Einleitung als auch die Beiträge in Lengwiler/Madarsz, Präven-
tive Selbst. 33 Zilien/Fröhlich/Kofahl, Ernährungsbezogene Selbstvermessung.
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seit dem späten 19. Jahrhundert, die bis heute nachwirken. Denn in dieser Zeit avancierte Gesundheit zu einem „neuen Gesellschaftsvertrag“, wie es Dorothy Porter wunderbar auf den Punkt gebracht hat.34 Elisabeth Beck-Gernsheim hat diesen „neuen Gesellschaftsvertrag“ sogar als „neue Glaubensordnung“ moderner und postmoderner Gesellschaften bezeichnet: „In modern society, for more and more people this faith in God, eternity and salvation has become brittle. What remains is the individual in the here and now and his or her physical condition. When faith in a world beyond has been dissolved, health gains in significance and value, it turns into the expectation of earthly salvation.“35 Verkürzt könnte man dieses Zitat auf eine einfache Formel bringen: Nicht mehr Gott, sondern Gesundheit geriet in der Moderne zum Maßstab für gutes Leben. Dieser Befund gilt für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und erst Recht für das 21. Jahrhundert: Gesundheit ist seither eine Zentralkategorie unserer Lebensplanung. Der Blick auf Gesundheitsverwaltungen macht damit deutlich, dass von dem häufig beschriebenen Ende der Planungseuphorie in den 1960er und 1970er Jahren nicht die Rede sein kann, im Gegenteil: Gesundheitsverwaltungen sorgten für eine Übersetzung und Fortschreibung des modernen Fortschrittsnarratives bis in die Postmoderne. Mit der sukzessiven Bürokratisierung und Verrechtlichung von Gesundheit mutierten Gesundheitsverwaltungen zu einem anhaltenden Heilsversprechen. Sie versprachen die Verwandlung von Unwissenheit und Ungewissheit in kalkulierbares Risiko. Benedikt Kemper zeichnet diese Versuche einer Rationalisierung von Unsicherheit in seinem Aufsatz am Umgang mit psychisch Kranken en détail nach. Gesundheitsverwaltung versprach und verspricht damit die Planbarkeit nicht nur kollektiver Gesundheitsverhältnisse, sondern ebenso individuellen Gesundheitsverhaltens. Insofern sind Gesundheitsverwaltungen die Mutter, zumindest aber die Hebamme des „präventiven Selbst“ – und damit ein Schlüssel zum gesellschaftlichen Wandel von den 1970er Jahren bis heute. Zusammengefasst wäre mein letzter Punkt also ein Plädoyer, unsere Befunde für die 1930er und 1960er Jahre in Richtung Gegenwart weiter zu verfolgen und Forschungen stärker auf die jüngere und jüngste Zeitgeschichte auszudehnen. Die langen Wurzeln der Gesundheitsverwaltung, von denen ich zu Beginn meines Kommentars gesprochen habe, lassen sich ebenso für die Zeit nach dem Boom und im 21. Jahrhundert weiterverfolgen. Die Geschichte der Gesundheitsverwaltungen ist somit immer auch eine Problemgeschichte der Gegenwart.
34 Porter, Social Contract of Health. 35 Elisabeth Beck-Gernsheim, Health, S. 124.
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Seismografen und Schnittstellen: Fazit Wenn wir Gesundheit als eine Kreuzung verstehen, auf der unterschiedliche gesellschaftliche Felder, Ebenen und Gruppen sowie Individuum und Allgemeinwohl bzw. der Einzelne und der Staat zusammentreffen, dann stehen Gesundheitsverwaltungen als Warnschilder, Ampeln oder Verkehrspolizei im Zentrum des Geschehens. Verwaltungen bilden soziale Schnittstellen, an denen alltägliches Verhalten ebenso verhandelt wird wie die Ordnung der Gesellschaft. Gesundheitsverwaltungen können daher von Historikerinnen und Historikern als Seismografen des Sozialen genutzt werden, um Verwerfungen und Erschütterungen von Gesellschaften nachzuspüren. Bisherige Forschungen und die Erträge dieses Bandes machen deutlich, dass Verwaltung nicht nur als Übersetzung von Herrschaft in den Alltag zu verstehen ist. Vielmehr sind Verwaltungen Schnittstellen auch in dem Sinne, dass in Amtsstuben, Behörden und anhand von Verordnungen und Erlassen Aushandlungen zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, zwischen unterschiedlichen Pressure Groups sowie unterschiedlichen Ebenen, zwischen Tradition und Reform, deutlich werden. Auch in dieser Hinsicht hat Verwaltungsgeschichte das Potenzial, neue Einblicke auf den gesellschaftlichen Wandel zu eröffnen. Bei Gesundheitsverwaltungen ist dieses Potenzial besonders groß, weil es hier nicht nur um das große Ganze, also um die Gesellschaft geht, sondern ebenso um das kleine Ganze: den Körper und das Leben des Einzelnen. Gesundheitsverwaltungen operieren an der Schnittstelle des Lebens und zielen aufs Herz, mitunter sogar im Wortsinne.
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Prof. Dr. Malte Thießen Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), ist seit 2017 Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Zuvor lehrte er von 2010 bis 2017 als Juniorprofessor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg. Dort habilitierte er 2017 im Fach Neuere und Neueste Geschichte. Publikationen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der CoronaPandemie, Frankfurt a. M./New York 2021; mit Hartmut Berghoff, Gesundheitsökonomien. Zeithistorische Fragen, Befunde und Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen 17 (2020), S. 217–233; Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 225), Göttingen 2017.
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d e r f r e i h e r r - vo m - s t e i n - g e s e l l l s c h a f t
Herausgegeben von der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0176–6023
Hans Pohl (Hg.) Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1985. 328 S., kt. ISBN 978-3-515-04327-4 Karl-Ernst Jeismann (Hg.) Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert Mobilisierung und Disziplinierung 1989. 436 S., kt. ISBN 978-3-515-05196-5 Jürgen Reulecke / Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hg.) Stadt und Gesundheit Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1991. 336 S., kt. ISBN 978-3-515-05552-9 Heinrich Siedentopf (Hg.) Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung Deutsche Vereinigung und institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft 1991. VI, 251 S., kt. ISBN 978-3-515-05976-3 Karl Teppe / Eberhard Laux (Hg.) Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700 1998. 367 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07168-0
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Lothar Gall / Andreas Schulz (Hg.) Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert 2003. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-08226-6 Janbernd Oebbecke (Hg.) Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen 2005. 402 S. mit 4 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08694-3 Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer (Hg.) Die zweite Gründung der Bundesrepublik Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975 2010. 288 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09440-5 Wolfram Pyta / Carsten Kretschmann (Hg.) Bürgerlichkeit Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart 2016. 209 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11249-9 Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hg.) Deutschland seit 1990 Wege in die Vereinigungsgesellschaft 2017. 354 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11682-4 Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt (Hg.) Der Zusammenbruch der alten Ordnung? Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa 2020. 411 S. mit 9 Abb. und 13 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12506-2
Wie wird Wirtschaft erfasst, organisiert und gelenkt? Wie werden Religionsgemeinschaften staatlich reglementiert und die Grenzen zwischen ihren gemeinsamen Handlungsfeldern abgesteckt? Wie greift der Staat ins Feld der Gesundheitspolitik ein und regelt sein Verhältnis zu den beteiligten Akteuren? Ein entscheidender Schlüssel zur Analyse von Verwaltung ist das kommunikative und praktische Wechselspiel zwischen Verwaltenden und Verwalteten. Anhand von drei tief in die Gesellschaft hineinwirkenden Politikfeldern analysieren die Autorinnen und Autoren daher, auf welche Weise die Verwaltung von 1930 bis 1960 die ihr von der Politik zugewiesenen Aufgaben für sich definierte, deren ‚Bearbeitung‘ intern organisierte und diese dann extern legitimierend gegenüber den Adressaten kommunizierte. Auf diese Weise arbeiten sie heraus, in welchem Maße und mit welchen Effekten Kontinuitäten, aber auch neue Impulse die Verwaltungspraxis nach innen und außen über die Regimewechsel 1933 und 1945/1949 hinweg prägten und ermöglichen einen frischen Blick auf vermeintlich bekannte Entwicklungen.
ISBN 978-3-515-13127-8
9 783515 131278