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German Pages 364 Year 2023
Euroskala 4c
Elio Petri
Keine Namensnennung für Umschlag-Gestaltung im Impressum
Ästhetik und Politik im Werk des italienischen Filmregisseurs
SIMON LANG
Ästhetik und Politik im Werk des italienischen Filmregisseurs Elio Petri Simon Lang
Bei vorliegendem Werk handelt es sich um eine von der KIT-Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) genehmigte Dissertation. Tag der mündlichen Prüfung: 20.10.2022. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Landesbank Baden-Württemberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Print-ISBN 978-3-96707-877-0
E-ISBN 978-3-96707-878-7
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2023 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Umschlaggestaltung: Thomas Scheer Umschlagabbildung: Elio Petri. © IMAGO / Everett Collection E-Book-Umsetzung: Claudia Wild, Konstanz Satz und Bildbearbeitung: Claudia Wild, Otto-Adam-Straße 2, 78467 Konstanz Druck und Buchbinder: Esser printSolutions GmbH, Westliche Gewerbestraße 6, 75015 Bretten
Inhalt 1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films 9
1.1 (Auto-)Biografie eines Nonkonformisten 16 1.2 Forschungsüberblick
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1.3 Theoretische und historische Grundlagen 26 1.3.1 Begriffsannäherungen: Politik – politisch – politischer Film 26 1.3.2 Historische Skizze des politischen Films 30 1.4 Konzeption der Werkanalyse 36 1.4.1 Ästhetik des politischen Films – Politik und Ästhetik im Film 37 1.4.2 Verfahrensgeschichtlicher Kontext 41 1.4.3 Filmpoetologie und Debattengeschichte 44 1.5 Korpus 48 2. Politischer Film nach dem Neorealismus: vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960) 53
2.1 Petri in der postneorealistischen Debatte 54 2.1.1 Formalistisches Impasse: zwischen Neorealismus und Realismus 55 2.1.2 Fokusverschiebung: neue Inhalte 60 2.2 Unselbstständige Projekte 63 2.3 Selbstständige Arbeiten: Nonfiktionalität jenseits des neorealistischen Films 72 2.3.1 Vorrecherchen für den Spielfilm – inchieste: Roma ore 11 (1951/56) und Giorni d’amore (1954) 73 2.3.2 Kurzdokumentarfilme: Nasce und campione (1954) und I sette contadini (1957) 79 2.4 Zusammenfassung: offene Situation des politischen Films nach dem Neorealismus 86
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Inhalt
3. Für ein neues Kino: Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965) 89
3.1 Petri und die Debatte um eine kinematografische Modernisierung 91 3.1.1 Theoretisierung eines ›neuen‹ Kinos 92 3.1.2 Ein ›Kino der Ideen‹: von Godard zur Science-Fiction 97 3.2 Zur Ambivalenz der Modernisierung: L’assassino (1961) und I giorni contati (1962) 104 3.2.1 Zirkuläre Narrationen 107 3.2.2 Modernismen und filmische Selbstthematisierung 115 3.3 Ein anderes Kino der Moderne: Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964) 123 3.3.1 Parodistischer Bezug zum bürgerlichen Kino der Moderne 128 3.3.2 Ein Gegenmodell zum Neo-Ästhetizismus 130 3.4 Schöne neue Unterhaltungswelt: Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965) 139 3.4.1 Ironisierung der Schaulust 142 3.4.2 Dystopie der Unterhaltungs- als Mediengesellschaft 144 3.4.3 Intermedialität und Medienreflexion 149 3.5 Carosello: Storie dal futuro – Al di là della mente (1966) und Esperto di cavalli (1969) 157 3.6 Zusammenfassung: Neuaushandlung des politischen Films 160 4. Kino für die Massen: Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976) 163
4.1 Petri in der Debatte um das cinema politico 165 4.1.1 Die Positionen innerhalb der Kontroverse 168 4.1.2 Die Konzeption eines politisch-popularen Kinos 173 4.2 Krisen des Blicks: A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968) 181 4.2.1 Krisenhafte Intellektuellenfiguren 183 4.2.2 Epistemologische und ästhetische Krisen 189
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Inhalt
4.3 Schritte ins militante Kino: Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970) 198 4.4 Scheiternde Revolutionen: ›Trilogie‹ (1970–1973) 209 4.4.1 Darstellungen der Repression: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (1970) und La classe operaia va in paradiso (1971) 214 4.4.2 Funktion der Medien und Selbstpositionierung des ordnungskritischen Films 227 4.4.3 Sonderfall La proprietà non è più un furto (1973) 231 4.5 Politischer Schlüsselfilm: Todo modo (1976) 242 4.5.1 Exerzitien: von der Gewissenserforschung zur Selbsteliminierung 246 4.5.2 Pseudomessianischer Politiker 251 4.5.3 Bedrohliche Sichtbarkeit 257 4.6 Zusammenfassung: Festigung eines ›volksnahen‹ Politkinos 261 5. Fernsehen und Theater: Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982) 264
5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino 266 5.1.1 Zur Theoriediskussion über das Verhältnis zwischen Kino und Fernsehen 269 5.1.2 Prämissen und Konzeption eines antitelevisuellen Films 274 5.2 Der Mensch im televisuellen Zeitalter: Le mani sporche (1978) und Buone notizie (1979) 279 5.2.1 Alltägliches Spektakel als Wirklichkeitsillusion 282 5.2.2 Realitätskritik eines antirealistischen Fernsehfilms 290 5.3 Zum Wandel der Leitmetaphorik: nicht realisierte Projekte 297 5.4 Exkurs ins Theater: L’orologio americano (1981/82) 301 5.5 Zusammenfassung: Revitalisierungsversuche eines politischen (Kino-)Films 307 6. Fazit und Schlussbetrachtung 310
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Inhalt
Quellenverzeichnis 322
Werkverzeichnis 322 Archivalien 326 Filmverzeichnis 328 Literaturverzeichnis 333 Onlinequellen 361 Sonstige Quellen 363 Danksagung 364
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1.
Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Im Mittelpunkt von Nanni Morettis Film Mia madre aus dem Jahr 2015 steht die Kinoregisseurin Margherita (Margherita Buy), die sich in ihrem aktuellen Filmprojekt mit der Lage der Fabrikarbeiterschaft auseinandersetzt. Als sie aufgrund der schweren Krankheit ihrer Mutter in eine persönliche Krise gerät, hadert sie zunehmend auch mit ihrem beruflichen Vorhaben. Wenig hilfreich ist ihr der US-amerikanische Hauptdarsteller des Films, Barry Huggins (John Turturro), der recht wenig schauspielerisches Können an den Tag legt. Er fällt stattdessen durch seine Kenntnisse über die italienische Kinogeschichte auf. Als sich Huggins eines Abends betrunken durch Rom fahren lässt, ruft er die Namen von Größen des italienischen Autorenfilms, die er mit der Stadt assoziiert, in die Nacht hinaus; neben international anerkannten Regisseuren nennt er auch Elio Petri. Dazu lässt Nanni Moretti in einem Interview mit der Filmzeitschrift Positif verlauten: »Au côté de Fellini, d’Antonioni et de Rossellini, je voulais que John Turturro cite également un metteur en scène moins connu à l’étranger« (Gili 2015: 23). Um Petri (wieder) über die italienischen Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen, begnügt sich Moretti in Mia madre nicht damit, den Filmemacher namentlich zu nennen. Tatsächlich scheint Petri implizites Vorbild für Margherita und ihren Arbeiterfilm zu sein. Mia madre besticht allgemein durch einen Gestus des honorierenden Erinnerns, der sich auch in interfilmischen Referenzen manifestiert: Geht etwa der Erzählkern der in einer Krise befindlichen Filmemacherin auf Federico Fellinis 8½ (1963) zurück, so nähert sich Mia madre in den Szenen des Films im Film Elio Petris La classe operaia va in paradiso (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies, 1971) an: Beim Thema bis zum Setting und sogar in einzelnen Schnittfolgen zeigen sich deutliche Bezugnahmen auf dieses preisgekrönte Werk. La classe operaia hat seinerzeit Vorbildcharakter, wird doch erstmals in einem italienischen Kinospielfilm eine Fabrikarbeiterschaft dargestellt, die sich gegen ihre Situation der Unterdrückung und Ausbeutung auflehnt. Morettis Mia madre erinnert so an einen Regisseur, der im Kontext der Protestbewegungen 1968/69 zu einem der wichtigsten Repräsentanten eines gesellschaftskritischen, explizit politischen Kinos avanciert war. Mit La classe operaia und dem im Jahr zuvor erschienenen Spielfilm Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger, 1970) erfuhr Elio Petri damals auch außerhalb seines Heimatlandes große Beachtung.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
In Italien ist man sich seiner filmhistorischen Bedeutung, die eben auf diesem Ruf eines politischen Filmemachers gründet, durchaus bewusst: Beispielsweise wird seit 2019 beim Filmfestival von Porretta Terme der Elio-Petri-Preis an Filme vergeben, die sich in besonderem Maß dem gesellschaftlichen Engagement (ital. impegno civile) verpflichten (vgl. Cinecittà News 2019). Dass ausgerechnet dieses Festival Petri auf eine solche Weise ehrt, mutet rezeptionsgeschichtlich nahezu als Wiedergutmachung an. Denn im Zusammenhang mit der Vorgängerveranstaltung, der Mostra Internazionale del Cinema Libero, wird über den Regisseur eine Anekdote kolportiert, die einen prägnanten Eindruck der seinerzeit vorherrschenden Atmosphäre vermittelt: Als Petri 1971 in Porretta Terme La classe operaia erstmals einem öffentlichen Publikum präsentiert, sieht er sich in der anschließenden Diskussion polemischen Angriffen von politisierten Filmkritikern, Studenten und Regisseuren ausgesetzt. Die Darstellung der Arbeiterklasse wird damals als faschistisch abgekanzelt, wobei einer der Anwesenden sogar fordert, den Film zu zerstören.1 Schon bei seiner vorangehenden Regiearbeit unterstellt man Petri, durch eine nur oberflächliche Kritik des repressiven Polizeiapparats de facto dessen Autorität zu stärken. Mittlerweile wird Indagine in Italien sogar als derjenige Kinospielfilm angesehen, der die Stimmung innerhalb der sich damals politisierenden Zivilgesellschaft am deutlichsten widerspiegelt (vgl. etwa Crespi 2016: 169–184). Trotz seiner Erfolge wird Elio Petri in seiner aktiven Zeit immer wieder zur Zielscheibe politisch motivierter Kritik. Mit seinen ersten beiden Filmen, L’assassino (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?, 1961) und I giorni contati (1962) gilt er vielen Beobachtern noch als Hoffnungsträger einer italienischen Neuen Welle. Die gehegten Erwartungen werden enttäuscht, als er für Il maestro di Vigevano (1963) und La decima vittima (Das 10. Opfer, 1965) mit den finanzstärksten Produzenten Italiens zusammenarbeitet: Diese Filme, die viele Zeitgenossen als wenig gelungen betrachten, werden von linker Seite als Kompromisse mit dem Kapital aufgefasst. A ciascuno il suo (Zwei Särge auf Bestellung, 1967) fällt dagegen positiver auf, zumal der Film eine kriminelle Verbindung von konservativer Politik, Kirche und Mafia zeigt; in Cannes erhält Petri für diese Regiearbeit sogar eine Auszeichnung für das beste Drehbuch. Der Künstlerfilm Un tranquillo posto di campagna (Ein ruhiger Ort, 1968), der im Wettbewerb der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Kamera gewinnt, wird wiederum als Rückschritt erachtet. 1
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Petri gibt später an, dass diese radikale Forderung von Jean-Marie Straub stammt (vgl. AMNC ELPE526 [1978]: 2). Eine andere Quelle legt nahe, dass es sich um den Filmtheoretiker Pio Baldelli gehandelt hat (vgl. o. A. 1972a: 65).
1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Die Prämierungen von Indagine und La classe operaia zeigen dann, wie sich die zeitgeschichtlichen Ereignisse auch auf die internationalen Festivals auswirken: 1971 gewinnt Petri für Ersteren den Academy Award für den besten fremdsprachigen Film, für den Zweitgenannten 1972 ex aequo mit Francesco Rosis Il caso Mattei die Palme d’or. Im Jahr zuvor war Indagine in Cannes bereits mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet worden. Bei der Neuen Linken stößt der Regisseur in der politisch aufgeheizten Atmosphäre der frühen 1970er Jahre mit diesen Filmen dagegen nur auf Ablehnung. Als 1973 La proprietà non è più un furto erscheint, wenden sich schließlich auch die gemäßigteren Kritiker von Petri ab. Es kommt zu einer äußerst kontroversen, langanhaltenden Debatte, nachdem er vor allem der politisch gleichgesinnten Kritik mangelnde Selbstreflexion und Baronie vorwirft (vgl. Tornabuoni 1973a). 1974 wird aus diesem Anlass in Ferrara eine Tagung veranstaltet, um das Verhältnis zwischen Filmemachern und -kritikern zu diskutieren (vgl. Bolzoni 1976). Von diesem Streit wird im Ausland kaum mehr Notiz genommen. In den Filmkulturen der beiden deutschen Staaten etwa besteht zu diesem Zeitpunkt nur noch wenig Interesse an Petris Arbeit. La proprietà kommt hierzulande nicht einmal in den Verleih, obwohl der Regisseur mit diesem Film sogar am Wettbewerb der Berlinale teilgenommen hatte. In der Bundesrepublik sind schon die Reaktionen auf Indagine durchwachsen, wobei die Filmbewertungsstelle Wiesbaden diese Arbeit noch mit dem Prädikat ›Besonders wertvoll‹ versieht (vgl. Andritzky et al. 1971). Auf die Prämierung von La classe operaia bei den Filmfestspielen von Cannes reagieren die westdeutschen Kritiker dann nur noch mit Unverständnis. Der Film kommt weder im Westen noch im Osten in die Kinos, wird 1976 aber immerhin im DDR-Fernsehen gezeigt. Dagegen sind einige von Petris älteren Regiearbeiten sogar bis heute gelegentlich in den öffentlich-rechtlichen Programmen zu sehen.2 Anders verhält es sich in Frankreich und den USA: Dort gelangt zumindest Petris vorletzter Kinospielfilm Todo modo (1976) noch in die Lichtspielhäuser. Aufgrund dieses Films gerät der Regisseur zwei Jahre später erneut ins Kreuzfeuer der Kritik: Die Hauptfigur, die sich am Ende erschießen lässt, ist eine Anspielung auf den damaligen Ministerpräsidenten Italiens, Aldo Moro; dieser wird bekanntermaßen 1978 von den Roten Brigaden tatsächlich ermordet. Der französische Filmjournalist Pierre Billard wirft Petri und anderen engagierten Filmemachern Italiens daraufhin vor, ihrerseits nur das Establishment angegriffen, nicht aber den Terrorismus problematisiert zu haben. Aus Billards Sicht
2 Zuletzt L’assassino auf Arte im August 2022 (vgl. Arte.tv 2022).
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
haben sie diesem somit ideologisch den Weg geebnet, sodass sie letztlich eine Mitschuld an Moros Ermordung tragen (vgl. Billard 1978). Damit scheint Elio Petri öffentlich endgültig ins Abseits geraten zu sein. Viele seiner Befürworter führen das mangelnde Interesse der Filmgeschichtsschreibung auf die Polemiken zurück, denen sich Petri vor allem in den 1970er Jahren ausgesetzt sah. Schon die erste Retrospektive, die im Rahmen der Biennale von Venedig im Jahr nach seinem Tod veranstaltet wird, sieht ihre Hommage als verspätete, aber notwendige ›Entschädigung‹ einer zu Lebzeiten verkannten Größe (vgl. Pirro 1983b: 9). Ähnliches lässt Hans Gerhold in Filmdienst anklingen, als er in einem Nachruf auf den Regisseur mit Blick auf die Regiearbeiten, die nicht in der BRD gezeigt worden sind, anmerkt: Allen genannten Filmen ist zu wünschen, daß sie, und sei es in einer FernsehRetrospektive, hoffentlich bald den Weg zu uns finden, um die vorläufige Einschätzung Petris mit konkreten Belegen untermauern zu können. Wie im Fall von Damiano Damiani würde damit ein Werk vorgestellt, das nicht nur seiner thematischen Kontinuität wegen, sondern auch aufgrund seiner vielseitigen stilistischen Mittel […] Aufmerksamkeit verdient. (Gerhold 1982: 8)
In Italien ist Petri auch nach seiner erfolgreichsten Phase durchaus noch in der Öffentlichkeit präsent, zumindest bis zu seinem Ableben im November 1982. Über seine erste und einzige Fernsehregie Le mani sporche (1978) wird sogar noch umfassender berichtet als über Todo modo oder den letzten Kinofilm Buone notizie (1979). Als er 1981 in Genua mit Arthur Millers The American Clock zum ersten und ebenfalls einzigen Mal ein Theaterstück inszeniert, kommt der Aufführung gerade aufgrund der Tatsache, dass ein prominenter Filmemacher für die Regie verantwortlich zeichnet, großes Interesse entgegen. Das ›politische‹ Kino, für das insbesondere Indagine und La classe operaia als repräsentativ behandelt werden, gilt zu diesem Zeitpunkt bereits als historisches Phänomen: Angesichts der zivilgesellschaftlichen Entpolitisierung in den 1980er Jahren scheinen solche Filme in Italien kaum mehr von Relevanz zu sein. In dieser Zeit werden auch erste Beiträge veröffentlicht, die Petris Stellenwert in der Geschichte des italienischen Kinos zu erfassen versuchen. Dennoch kann er wenige Monate vor seinem Tod erneut eine Kontroverse auslösen, als er rückschauend gegen die Filmkritik und die politische Linke Italiens im Gesamten polemisiert (vgl. U. Rossi 1982; Petri 1982a). 2015 bringt Nanni Moretti interfilmisch das damals wirkungsmächtige Modell von Elio Petri wieder ins Gedächtnis: indem er in seinem Film eine Regisseurin vorführt, die sich implizit in eine Traditionslinie stellt. Ihre persönliche Krise entmystifiziert allerdings das hierbei evozierte Bild der politisch engagierten Fil-
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
memacherin. Diese gesteht sich nämlich ein, dass sie seit jeher immer nur dieselben Dinge wiederholt; nun kann sie die Erwartungen ihrer Zeitgenossen, ihnen die gesellschaftliche Wirklichkeit verständlich zu machen und auf diese einzuwirken, nicht mehr erfüllen – eine Aufgabe, der sich Petri und andere Filmemacher 40 Jahre zuvor noch bedingungslos verschreiben. Zugleich gibt Mia madre einem filmkulturellen Interesse an seinem Werk Ausdruck, das seit den 1990er Jahren kontinuierlich zunimmt. Auch außerhalb seines Heimatlandes rückt Petri wieder in den Blick: Bereits 1996 bietet das Festival des italienischen Films in Annecy eine Rückschau auf sein Œuvre, nachdem sich im Vorjahr schon die Bologneser Mostra Internazionale del Cinema Libero seiner Wiederentdeckung verschreibt (vgl. Gili 1996; Di Martino / Morini 1995). Besonders der französische Filmhistoriker Jean A. Gili macht sich darin verdient, das Schaffen des Regisseurs einer filminteressierten Öffentlichkeit nahezubringen. Im Jahr 2000 gibt er einen englischsprachigen Band mit gesammelten Schriften und Interviews sowie Kommentaren von Wegbegleitern heraus, der Werkschauen in Großbritannien, Kanada und den USA begleitet; im Zuge dessen veranstaltet auch das New Yorker Museum of Modern Art 2003 eine Retrospektive (vgl. Gili 2000a; Museum of Modern Art 2003). Unter dem Titel Scritti di cinema e di vita publiziert Gili 2007 ein weiteres Buch mit Artikeln, Briefen und Interviews: Diese Sammlung zielt darauf ab, Petri nicht nur als Filmemacher, sondern als historisch gewichtigen Intellektuellen zu präsentieren (vgl. Petri 2007a).3 Als dessen Witwe im selben Jahr den Nachlass des Regisseurs dem Turiner Museo Nazionale del Cinema übergibt, werden auch bislang unbekannte Schriften und nicht realisierte Projekte zugänglich gemacht (vgl. Pegoraro Petri 2007). Schon 2005 erscheint mit Elio Petri. Appunti su un’autore ein Dokumentarfilm über den Regisseur, der den Status eines vergessenen Genies untermauert. Das Österreichische Filmmuseum und das Berliner Arsenal – Institut für Filmund Videokunst machen sich 2012/13 daran, mit Rückschauen Petris Werk auch in den deutschsprachigen Raum einzuführen (vgl. Österreichisches Filmmuseum 2012; Arsenal 2013). In diesen Jahren werden zudem deutsche Synchronfassungen von einigen seiner Filme erstmals auf DVD herausgegeben: Das Feuilleton reagiert recht begeistert auf einen vielseitigen, seinerzeit wenig geliebten Filmemacher, der mit La decima vittima durch eine visuell ausgefeilte, scheinbar zwanglose Zukunftsvision unterhalten kann und mit La classe operaia dem militanten Aktionismus eine pessimistische Haltung entgegenbringt (vgl. Göttl 2012; Knörer 2012; o. A. 2012; Knorr 2013; Midding 2013; Seeßlen 2013). Man
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Der Band wird später auch in englischer Sprache herausgegeben, vgl. Petri 2013.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
honoriert »ein politisches Kino, das auf den Mobilisierungseffekt von Ohnmachtserfahrungen setzt« (Rebhandl 2013). Auf den ersten Blick mag es also erstaunen, dass sich die filmwissenschaftliche Forschung außerhalb Italiens bislang wenig mit Elio Petri auseinandergesetzt hat. Denn nicht nur in Petris Heimatland, vor allem auch in Deutschland inte ressiert sie sich seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt für historische Variationen des politischen Films. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil eine Rückkehr des Politischen im zeitgenössischen (Kino-)Film konstatiert wird, die es historisch einzuordnen gilt. Die italienische Filmwissenschaft beschäftigt sich ebenso wie die ausländische Italianistik fast ausschließlich mit der nationalen Filmgeschichte: Mit dem Begriff des cinema politico wird hierbei eine spezifische Strömung innerhalb des heimischen Erzählkinos bezeichnet, die sich in den späten 1960er Jahren ausbildet und bis in die Gegenwart fortsetzt. Solche Werke, die mit den Mitteln des Spielfilms politische Themen und Probleme aufarbeiten, erfreuen sich beim Kinopublikum damals großer Beliebtheit. Neben Regisseuren wie Francesco Rosi, Damiano Damiani oder Francesco Maselli wird Elio Petri hier als einer der maßgebenden Vertreter, ja gar als Begründer behandelt (vgl. Antonello / Mussgnug, 2009; O’Leary 2013; Uva 2013; Lombardi / Uva 2016a; Colin 2016). Die deutschsprachige Forschung berücksichtigt die italienischen Entwicklungen dagegen kaum.4 Geht es um den Zeitraum der 1960er und 1970er Jahre, stehen ohnehin nach wie vor die radikalen Ansätze französischer Kritiker und Theoretiker im Vordergrund, die seinerzeit auf den Seiten von Fachzeitschriften wie Cahiers du Cinéma, Cinétique oder Positif formuliert werden. Neben der Dispositivkritik Jean-Louis Comollis, Jean Narbonis und Jean-Louis Baudrys sei hier beispielhaft Pascal Bonitzers Polemik gegen Costa-Gavras’ Z (1969) angeführt: Darin propagiert der Kritiker und spätere Filmemacher eine ›Politik der Form‹, die ihre revolutionäre Schlagkraft aus dem Bruch der filmischen Illusion statt aus revolutionären Inhalten generiert (vgl. Bonitzer 1970). Auch heute wird ein solch radikal antiillusionärer Avantgardefilm oftmals noch als paradigmatisch für den politischen Film dieser Zeit betrachtet. Die Auseinandersetzung der deutschsprachigen Filmwissenschaft mit der italienischen Filmgeschichte beschränkt sich im Allgemeinen auf verhältnismäßig wenige Schwerpunkte, vor allem den Neorealismus und das Autoren- sowie das Genrekino der 1960er und 1970er Jahre. Die hiesige Romanistik leistet nur wenig
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Eine Ausnahme bildet Fürntrath 2010. Hierbei scheint es sich um eine Studienarbeit zu handeln.
1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Vermittlungsarbeit, obwohl ihr Interessengebiet auch im Bereich der Kinematografie naturgemäß weiter gefasst ist: Doch selbst im Band von Grewe und di Stefano, der Italiens Filmgeschichte anhand repräsentativer Beispiele abzubilden beansprucht, wird Petri nicht berücksichtigt (vgl. Grewe / di Stefano 2015). Am Umgang mit seinem Werk wird offenbar, dass hierzulande die Historie des italienischen Films noch »weitgehend terra incognita ist«, wie Koebner und Schenk schon 2008 (9) feststellen. Dabei zeigen die Erfolge ebenso wie die Kontroversen in Petris Heimatland, dass dessen Regiearbeiten zu Lebzeiten ein durchaus wirkungsmächtiges Modell eines engagierten, explizit ›politischen‹ Kinos markieren. Dieses gilt es ebenso im außeritalienischen Kontext zu betrachten: Wie die seinerzeitigen Prämierungen bei internationalen Festivals bezeugen, treffen Pe tris Filme auch jenseits der Landesgrenzen den Nerv der Zeit. Im Zuge der gesellschaftlichen Politisierung in den 1960er und 1970er Jahren besteht die drängendste Frage der einschlägigen Filmemacher, -kritiker und -theoretiker bekanntlich darin, ob und wie das Medium in politischen Zusammenhängen wirksam funktionalisiert werden kann; eine Frage, die in den Debatten der politisierten Filmzeitschriften, Gegenfestivals und Runden Tische mit oft polemischem Ton erörtert wird. Scharfer Kritik ausgesetzt sind hierbei die politisch engagierten Filmemacher meist selbst: sofern sie politische Filme machen, deren Machart im Sinne von Godards berühmtem Diktum ›nicht politisch‹ ist. Davon ist Petri in besonderem Maße betroffen. Seine Kritiker werfen ihm Konformismus vor, obwohl seine Arbeiten die Mechanismen eines repressiven, pseudodemokratischen Gesellschaftssystems offenlegen. Das Konzept, das sich in seinen Regiearbeiten abzeichnet, ist einerseits für die Fürsprecher alternativer, unabhängiger Filmpraktiken problematisch: Er arbeitet innerhalb des etablierten, kommerziellen Kinos, vertritt Italien bei den offiziellen Filmfestspielen und nimmt dort auch Auszeichnungen entgegen. Andererseits bemängeln die Befürworter einer Politik der Form, dass Petri sich nach wie vor den Mitteln der fiktionalen Narration bedient und damit nichts anderes als Illusionskino bietet. Daher ergeht es ihm ähnlich wie Costa-Gavras mit Z: Die Filme werden zwar oft zu Publikumserfolgen, von Kritikern aber als pseudorevolutionär und kon traproduktiv abgeurteilt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass viele Rezensenten Indagine damals tatsächlich mit Z assoziieren. Sie nehmen den ordnungskritischen Regisseur als Agent des bürgerlich-kapitalistischen Systems wahr. Die Spezifik von Elio Petris Werk wird damals wie heute in einer Zwischenposition erkannt: Seine stilistisch recht heterogenen Filme bewegen sich zwischen künstlerischem Autoren- und populärem Genrekino, wobei sie durch eine groteske Darstellungsweise mit der Dokumentarästhetik des Neorealismus brechen. Auf diese Weise bieten Petris Regiearbeiten im Unterschied zur Avant-
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
garde kein elitäres Kino, das nur wenig Breitenwirkung generiert und sich somit schließlich selbst marginalisiert: Stattdessen wird einem großen Publikum eine kritische Analyse der Gegenwartsgesellschaft, die Theoreme des Marxismus, des Existenzialismus und der Psychoanalyse verbindet, verständlich gemacht. Ästhetisch wie ideologisch gewinnt eine Position Kontur, die sich von den vorherrschenden Paradigmen der 1960er und 1970er Jahre absetzt. Was Petris Gegner damals als unlautere Vermischung oder Unreinheit abtun, feiern später enthusiastische Wiederentdecker als visionär. Mithin ändern sich im Laufe der Zeit prinzipiell nur die Vorzeichen der Rezeption. Der Regisseur selbst verpflichtet sich hierbei explizit dem Ideal individueller Selbstbestimmung: Sowohl in der politischen Debatte als auch in der Diskussion um einen politischen (Kino-)Film widersetzt sich Petri dadurch einer Bevormundung durch progressive Theoretiker, Kritiker und Politiker. Er unterstellt ihnen eine autoritäre Haltung, sodass sie sich für ihn im Grunde nicht von den bürgerlich-kapitalistischen Kräften unterscheiden. Dieses Bild eines unorthodoxen, ja nonkonformistischen Filmemachers forciert Petri zeit seines Lebens durch ein entsprechendes autobiografisches Narrativ.
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(Auto-)Biografie eines Nonkonformisten
Eraclio ›Elio‹ Petri wird am 29. November 1929 als einziges Kind einer antifaschistisch geprägten Handwerkerfamilie im Zentrum Roms geboren. Neben der familiär bedingten Nähe zum proletarischen Milieu betont er in Selbsterzählungen vor allem seinen unkonventionellen Werdegang innerhalb der italienischen Filmkultur sowie das Spannungsverhältnis zum Partito Comunista Italiano (PCI). Unter diesen Gesichtspunkten ist zunächst das Jahr 1944 für seine persönliche Entwicklung entscheidend: Mit dem Kriegsende in Italien beginnt er, sich stärker für Politik ebenso wie für das Kino zu interessieren. Nach eigenen Angaben wird er Mitglied eines Kinozirkels und sieht jeden Tag drei Filme. Zudem setzt sich Petri in dieser Zeit erstmals mit marxistischen Basiswerken auseinander und tritt schließlich der Kommunistischen Partei bei. Aufgrund seiner politischen Einstellung wird er 1946 sogar des priestergeführten Collegio San Giuseppe, das er damals in Rom besucht, verwiesen (vgl. Maraini 1973: 231–233; Brovillard 1973: 43 f.; Ballérini et al. 1974: 21 f.). Petri entscheidet sich daraufhin gegen eine weitere schulische Ausbildung, sodass er ohne Abschluss bleibt. Stattdessen konzentriert er sich auf seine Tätigkeiten im römischen Jugendverband des PCI. Mit 18 Jahren erhält er den Auftrag, als Regionaldirektor einer parteinahen Verleihfirma in der Provinz Venetien, später dann in Rom sowjetische Kinofilme zu vertreiben (vgl. Petri 2007n
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1.1 (Auto-)Biografie eines Nonkonformisten
[1982]: 231 f.). Er selbst begeistert sich eher für den italienischen Neorealismus sowie das französische und das US-amerikanische Kino (vgl. Ballérini et al. 1974: 22). 1948 bemüht sich Elio Petri erfolglos um die Annahme an der römischen Filmhochschule, dem Centro Sperimentale di Cinematografia (vgl. AMNC ELPE131 [1948]). Zur praktischen Filmarbeit kommt er daher ähnlich wie die Regisseure der späteren Nouvelle vague über den Umweg der Filmkritik. Nachdem er zunächst Berichte für die Bulletins der Kinovereine schreibt, rezensiert er Filme für Gioventù Nuova, die Zeitschrift des Kommunistischen Jugendverbands, und die kommunistische Tageszeitung L’Unità. Für den römischen Verband der Partei leitet er die Kulturzeitschrift Il Partito, die sich sowohl den Traditionen der arbeitenden Schichten als auch der Gegenwartskunst annimmt (vgl. Canullo 1982). Über Gianni Puccini, einen befreundeten Drehbuchautor, Regisseur und kurzzeitigen Chefredakteur der bedeutsamen Zeitschrift Cinema, kommt er 1951 mit Giuseppe De Santis und Cesare Zavattini in Kontakt. Diese beauftragen ihn mit der Vorrecherche zu dem Film Roma ore 11 (1952). De Santis wird für ihn in den folgenden Jahren zur Leitfigur: Bis zu seinem eigenen Spielfilmdebüt 1961 wirkt er als Co-Autor und Regieassistent an sechs weiteren Filmen des Regisseurs mit. Obwohl er auch für andere Filmemacher tätig ist, sieht er diese Zeit der ›Ausbildung‹ vor allem von De Santis geprägt (vgl. Ballérini et al. 1974: 25; Tassone 1980: 238 f.). Dabei nehmen De Santis’ Regiearbeiten, die sich im Spannungsfeld zwischen populärkulturellen Referenzen, Metareflexivität und einer orthodox kommunistischen Weltanschauung bewegen, selbst eine Sonderstellung innerhalb des neorealistischen Kanons ein. Zudem pflegt Petri damals engen Kontakt zu jungen, dem PCI nahestehenden Künstlern. Er entwickelt eine besondere Vorliebe für die moderne Malerei. Aufgrund seiner profunden Interessen wird er später sogar wiederholt dazu eingeladen, Kritiken und Katalogbeiträge für Kunstausstellungen zu verfassen. In seiner Jugend steht er besonders dem sog. Gruppo di Portonaccio nahe, einem kreativen Zusammenschluss von Malern und Grafikern aus dem römischen Stadtviertel gleichen Namens. Zu diesem gehört auch Renzo Vespignani, der später an mehreren von Petris Filmen mitwirkt. Der Gruppo di Portonaccio vertritt die Konzeption einer sozialkritischen Kunst, die in Abgrenzung zu den damals aufkommenden abstrakten Strömungen dezidiert auf figurative Darstellungsweisen setzt (vgl. Negri / Pirovano 1993: 180 f.). In Petris politischer Laufbahn kommt es zu einer Zäsur, als die sowjetische Armee 1956 in Ungarn einmarschiert und die dortigen Aufstände niederschlägt. Der spätere Filmemacher gehört zu den kommunistischen Intellektuellen Italiens, die in einem offenen Brief, dem Manifesto dei 101, gegen dieses gewaltsame
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Vorgehen protestieren (vgl. Ajello 1997: 403–406). Aufgrund der rigiden Haltung, die der PCI damals sowohl in solchen politischen Angelegenheiten als auch in Kulturfragen an den Tag legt, gründet Petri im Folgejahr mit anderen kommunistischen Künstlern und Kulturschaffenden die Zeitschrift Città aperta: Diese versteht sich als parteinahes, jedoch unabhängiges Diskussionsforum. Schon nach wenigen Ausgaben wird ein parteiinternes Disziplinarverfahren gegen ihn und andere Redakteure bei der Kontrollkommission des römischen PCI-Lokalverbands eingeleitet (vgl. Gorresio 1957). Infolgedessen wird die Zeitschrift zu nächst vorübergehend, 1958 dann endgültig eingestellt, woraufhin Petri und einige seiner Kollegen ihre Parteimitgliedschaften zum Jahresende auslaufen lassen.5 Diese Ereignisse beschreibt er später als prägend, da er hier das Paradox einer theoretisch egalitären, faktisch aber autoritär auftretenden Partei am eigenen Leib erfährt: Das politische Ideal freiheitlich gelebter Subjektivität führt er stets auf diese persönlichen Erlebnisse parteiinterner Unterdrückung zurück. Anlässlich der TV-Adaption von Jean-Paul Sartres Les mains sales betont der Regisseur daher 1979 in einem Brief an den französischen Philosophen, dass dieser für ihn wie für andere Kommunisten seiner Generation ein wichtiger wie konstanter Bezugspunkt ist (vgl. AMNC ELPE555 [1979]: 3). 1960 bekommt er die Möglichkeit, erstmals selbst bei einem Spielfilm Regie zu führen. In seiner Anfangszeit arbeitet Petri mit so prominenten Persönlichkeiten wie dem Schriftsteller und Drehbuchautor Ennio Flaiano, den Kameramännern Otello Martelli und Gianni De Venanzo oder dem Komponisten Nino Rota zusammen. Zudem kann er schon für seinen Debütfilm L’assassino Marcello Mastroianni gewinnen, der kurz zuvor dank Federico Fellinis La dolce vita (1960) zu Weltruhm gelangt ist; den Schauspieler hatte er 1954 bei Dreharbeiten zu De Santis’ Giorni d’amore kennengelernt. Da seine ersten beiden Filme recht erfolgreich sind, werden schnell auch die finanzkräftigen Filmproduzenten Dino De Laurentiis und Carlo Ponti auf den Nachwuchsregisseur aufmerksam. Diese übernehmen dann die Produktionen von Il maestro di Vigevano bzw. La decima vittima. Schon vor dem eigenen Debüt macht sich Petri öffentlich für ein gegenwartskritisches Kino stark. Neben einer ästhetischen Erneuerung zielt er hierbei auf eine wirtschaftliche und politische Reformation des etablierten Produktionssystems: In Tagungsvorträgen und Zeitungsartikeln spricht er sich wiederholt gegen die Macht der Filmproduzenten und vor allem gegen die Zensur aus, deren
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Nach Angaben von Petris Ehefrau wird ihm und den anderen Redakteuren dieser Schritt vonseiten der Partei nahegelegt (vgl. Gili 2007: 16).
1.1 (Auto-)Biografie eines Nonkonformisten
juristische Grundlagen noch aus der Zeit des Faschismus stammen. Die weitreichenden Kompetenzen der zuständigen Behörden bekommt er wiederum beim eigenen Erstlingsfilm zu spüren, an dem er zensurbedingt zahlreiche Modifikationen vornehmen muss. 1960 wird Petri sogar Mitglied eines Komitees, das sich für die Demokratisierung der darstellenden Künste einsetzt: Zusammen mit so prominenten Filmschaffenden wie Cesare Zavattini, Luchino Visconti, Pietro Germi und Pier Paolo Pasolini geht er damit gegen die Zensurpolitik des christdemokratischen Staatsministers Umberto Tupini vor (vgl. o. A. 1960). Zur Weichenstellung wird Elio Petri die politische und filmkulturelle Situation in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die ihn zur Reflexion über das eigene Filmschaffen und schließlich zu einem Richtungswechsel anregt. So beschließt er nach La decima vittima, mit einem zeitkritischen Film gegen die allgemeine Agonie des engagierten Kinos in Italien vorzugehen (vgl. Fofi 1971: 42). Mit der hierfür angestrengten Adaption von Leonardo Sciascias Roman A ciascuno il suo beginnt die Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Ugo Pirro und dem Schauspieler Gian Maria Volonté, die Petris Hochphase als ›politischer‹ Filmemacher prägt.6 Neben dem Cutter Ruggero Mastroianni, der ihn seit L’assassino begleitet, werden nun der Kameramann Luigi Kuveiller, der Szenograf Dante Ferretti, der Toningenieur Mario Bramonti und der damals bereits weltbekannte Komponist Ennio Morricone zu festen Mitgliedern seines Produktionsteams. Außerdem arbeitet der Regisseur nach den Erfahrungen von Il maestro di Vigevano und La decima vittima nur noch mit kleineren, eher unbekannten Filmproduktionsfirmen zusammen. Politisch machen die Bewegungen in den Jahren 1967 bis 1969 enormen Eindruck auf Petri: Mit dem zunehmenden Druck innerhalb der Zivilgesellschaft sieht er zunächst die Gelegenheit entstehen, die Filmproduktion von politischen und wirtschaftlichen Zwängen zu befreien. Dadurch kann sich seiner Ansicht nach ein Kino durchsetzen, das die soziale und politische Neuordnung forciert. Dennoch dreht Petri 1967/68 mit Un tranquillo posto di campagna zunächst noch einen Film, der primär um Fragen der Kunst und der Ästhetik kreist. Später beschreibt er diese Regiearbeit als Wendepunkt: Damit sei in ihm der Entschluss gereift, persönliche Belange völlig hintanzustellen und nur noch Filme zu machen, die der Allgemeinheit dienlich sind (vgl. Ballérini et al. 1974: 60). 1969 wird ihm die zunehmend gewaltsame Vorgehensweise der Polizei gegen demonstrierende Arbeiter zum Anlass, um das Thema des Autoritarismus in einem Film-
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Pirro hält seine Erfahrungen mit Petri aus dieser Zeit später autobiografisch fest, vgl. Pirro 2001.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
projekt aufzuarbeiten; aus diesem Vorhaben geht Indagine hervor, sein erfolgreichstes und heute bekanntestes Werk. Im Dezember des gleichen Jahres regt ein weiteres Vorkommnis im Umfeld der Polizei Petris Protest: Ein einschlägig bekannter Anarchist stirbt, als er unter undurchsichtigen Umständen aus einem Fenster des Mailänder Präsidiums stürzt. Es besteht der dringende Verdacht, dass die anwesenden Beamten hier einen Mord als Suizid inszeniert haben. Zusammen mit Pirro ruft Petri daraufhin das Komitee der Filmschaffenden gegen die Repression (Comitato dei Cineasti contro la Repressione) ins Leben, dem zahlreiche Prominente aus dem Bereich des italienischen Kinos beitreten: Die Vereinigung plant einen groß angelegten Dokumentarfilm, der die systematische Unterdrückung der Arbeiterklasse Italiens seit dem Kriegsende offenlegen soll. Der daraus hervorgehende Film Documenti su Pinelli ist eine der wenigen Erfahrungen, die Petri im Bereich des militanten Kinos sammelt. Er spricht sich in der Folge immer wieder gegen solche alternativen Filmpraktiken aus, da sich diese zwar vom wirtschaftlichen Zwang des kommerziellen Systems befreien, aber in ihrer Reichweite beschränkt bleiben. Zudem verwehrt er sich gegen die ideologisch rigide Haltung, die er bei militanten Filmschaffenden ebenso wie den Gruppierungen der außerparlamentarischen Opposition wahrnimmt. Mit einer ähnlichen Einstellung begegnet Petri der zeitgenössischen Filmkritik: Er polemisiert gegen deren quasiaristokratische Selbsterhöhung, die dem gemeinsamen Ziel einer kulturellen wie politischen Dominanzverschiebung entgegenstehe. In diesen Vorwürfen manifestiert sich auch Petris distanzierte Haltung gegenüber der intellektuellen Elite Italiens. Nachdem er sich in den 1950er Jahren selbst noch in der Rolle des Intellektuellen präsentiert, kritisiert er später ein Denkertum, das fest von der eigenen Autonomie überzeugt ist. Mit autoreflexivem Gestus stellt Petri sich in diesem Sinn als Anti-Intellektuellen dar, während er in der italienischen Öffentlichkeit durchaus als wichtige intellektuelle Persönlichkeit wahrgenommen wird. Er kultiviert in den 1970er Jahren gezielt das Selbstbild des Handwerkers, der sich uneigennützig dem Repertoire der popularen Kultur bedient, um ein antikonformistisches Kino für die breite Bevölkerung zu machen. Petris Denken wird in dieser Zeit vom Antiautoritarismus beeinflusst, den die Studentenproteste, die Neue Linke und die Antipsychiatriebewegung Italiens befördern. Politisch nimmt er dennoch eine gemäßigtere Position ein, wobei er weiterhin explizit jegliche Parteiverantwortlichkeit und -disziplin ablehnt (vgl. etwa AMNC ELPE446 [1973]: 2). Trotz seines frühen Austritts und seiner fortwährenden Kritik am PCI bleibt er der Partei solidarisch verbunden. Petri bezeichnet sich daher später als »compagno di strada« (Tassone 1980: 263), der auf
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1.2 Forschungsüberblick
eine innerparteiliche Erneuerung hofft, statt sich vollkommen abzuwenden. Als sich mit den Protestbewegungen das linke Spektrum neu sortiert, zeigt er allerdings offen Sympathien für die Gruppierung Il Manifesto. Deren Führungsmitgliedern war es ähnlich wie ihm selbst ergangen: Nachdem sie mangelnde De mokratie innerhalb der Partei beklagt hatten, waren sie 1969 aus dem PCI ausgeschlossen worden. Ihr Programm ist für Petri, der einer älteren Generation des Italokommunismus angehört, attraktiv: Il Manifesto versteht sich zunächst mehr als koordinierende denn als parteiliche Organisation, will die Gruppe doch zwischen der Neuen Linken und der traditionell vom PCI vertretenen Arbeiterklasse vermitteln (vgl. Lenzi 2016: 25–27). Dem ›Historischen Kompromiss‹, der sich Mitte der 1970er Jahre zwischen dem PCI und den regierenden Christdemokraten abzeichnet, steht Petri äußerst kritisch gegenüber; er sieht die historisch einmalige Gelegenheit eines kommunistischen Wahlsiegs vergeben. 1978 gibt ihm die Fernsehverfilmung von Sartres Les mains sales die Möglichkeit, unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen seine persönlichen Erfahrungen als kommunistischer Aktivist zu reflektieren. Für Petri beginnt mit Le mani sporche eine Phase, in der er sich auch in an deren Medien- und Kunstbereichen betätigt. Er plant weitere Projekte für das Fernsehen, von denen allerdings keines mehr zustande kommt. Nach verschiedenen Anläufen arbeitet er 1981 dann auch für das Theater. In diesen Tätigkeiten spiegelt sich die allgemeine medienkulturhistorische Situation Italiens wider: Petri, der sich stets als Regisseur für das fiktionale Kino betrachtet, erlebt Ende des Jahrzehnts mit, wie das von ihm bevorzugte Medium in eine tiefgreifende Krise gerät und obsolet zu werden droht. Der Filmkritik wirft er daher auch vor, sich nicht für das Fortbestehen einer vitalen Kinolandschaft einzusetzen (vgl. Petri 1982a). Chi illumina la grande notte?, ein Projekt, das eben für das Kino vorgesehen ist, kann Petri nicht mehr realisieren: Nach einer längeren Krebserkrankung verstirbt er im Alter von 53 Jahren am 10. November 1982 in Rom.
1.2 Forschungsüberblick Auch fast 40 Jahre nach dem Tod des Regisseurs ist die Zahl filmhistorisch systematisierender Beiträge zu seinem Werk verhältnismäßig überschaubar. Dieser Umstand steht in einem eklatanten Missverhältnis zu den zahlreichen Retro spektiven sowie Herausgaben seiner Schriften und Interviews, die explizit zur Wiederentdeckung einladen. Erst seit Mitte der 2000er Jahre werden vermehrt Versuche unternommen, die Arbeiten des Filmemachers neu zu erschließen. Dies
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
beschränkt sich im Wesentlichen auf die italienische Filmwissenschaft und die Auslandsitalianistik. In Deutschland interessiert sich nach Ulrich Gregor mit seiner Geschichte des Films nach 1960 erst Johannes Pause wieder für Petri: 2014 untersucht Pause Indagine im Kontext des italienischen Politthrillers (vgl. Gregor 1978: 100 f.; Pause 2014: 206–210). Grundsätzlich zeigen die vorhandenen Forschungsbeiträge nun, dass in der Auseinandersetzung mit Petri die frühesten Studien zu seinem Schaffen noch immer maßgebend sind. Diese Veröffentlichungen beruhen im Kern allerdings auf den Aussagen des Regisseurs und den Urteilen der zeitgenössischen Kritiker. Sie sind dementsprechend in ihrem historischen Kontext zu sehen: Mithin können die fraglichen Publikationen als Anzeichen für ein frühes Bedürfnis nach Reflexion aufgefasst werden, das sich mit den damaligen Kontroversen um Petri einstellt. Der erste Band, der sich ausschließlich mit dessen Arbeiten beschäftigt, wird bezeichnenderweise 1974 von französischen Kritikern herausgegeben, nachdem kurz zuvor in Italien der Konflikt um La proprietà non è più un furto infolge von Petris heftiger Polemik eskaliert. Das Buch nimmt eine implizite Gegenposition zu den negativen Stimmen im Heimatland des Regisseurs ein, indem es sich stark auf die Person des Filmemachers ausrichtet: Durch Interviews kommt der Regisseur selbst zu jedem seiner Filme umfassend zu Wort; die anschließenden Systematisierungsversuche ziehen zur Fundierung ihrer Thesen dann vor allem diese Aussagen ebenso wie Petris Biografie heran (vgl. Gili 1974). Als Vertreter der italienischen Filmkritik überträgt Lino Micciché 1975 deren Argumente in die Geschichtsschreibung. Er geht in seinem Beitrag vor allem auf das Spannungsverhältnis zwischen Petris engagiertem Kino und der kommerziellen Filmindustrie ein: Die Arbeit des Regisseurs kranke an dem Versuch, progressive Ideen mit den konservativen Ausdrucksformen des Unterhaltungskinos zu vermitteln (vgl. Micciché 1975: 145–150; 1995: 171–177, 352 f.). Erst Alfredo Rossi unternimmt 1979 mit seiner Monografie einen ersten Aufwertungsversuch innerhalb der italienischen Filmpublizistik. Er sieht in Elio Petri den einzigen Regisseur, der die grundlegende Widersprüchlichkeit des cinema politico erkennt und in seinen Filmen reflektiert: Durch eine groteske Darstellungsweise, verstanden als permanentes Wechselspiel von Sublimierung und Komisierung, bringe Petri seinen Pessimismus gegenüber den damals verbreiteten Revolutionsfantasien zum Ausdruck (vgl. Rossi 1979).7
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Der Band wird 2015, um persönliche Anekdoten und Briefe erweitert, neu herausgegeben; vgl. Rossi 2015.
1.2 Forschungsüberblick
Einige Ansichten über seine Filme entwickeln sich in der Folge zu Allgemeinplätzen, die mittlerweile in jedem Text über den Regisseur zu finden sind. Wie dies zum Problem werden kann, zeigt sich exemplarisch bei Catolfi (2012), der die bislang letzte einer ganzen Reihe von meist unselbstständig publizierten Werkübersichten vorlegt: Er fügt im Prinzip nur Zitate des Regisseurs und Befunde älterer Beiträge aneinander, sodass er die anfangs behauptete Aktualität von Petris politischem Kino nicht herausarbeiten kann; er bleibt eine gegenwartsbezogene Neuinterpretation schuldig. Wie in der ersten englischsprachigen Darstellung von Michalczyk (1986: 210–234) werden in solchen Überblicken meist nur die Handlungen der Filme mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und repressiver Gesellschaft zusammengefasst, stets unter Berücksichtigung von Petris Werdegang und seinen persönlichen Ansichten. Der Fokus liegt in der Regel auf den Regiearbeiten der 1970er Jahre bis einschließlich Todo modo, die als Herzstück seines Werks gelten. Die früheren ebenso wie die späteren erscheinen lediglich als Vorläufer bzw. Ausklang, sodass stets eine teleologische Entwicklung nachgezeichnet wird. Einflüsse werden eher behauptet statt begründet, so etwa bei Mino Argentieri (1997), der in Petris Filmen Elemente des Neorealismus wie des amerikanischen Kinos, Pirandellos wie der Populärliteratur, Kafkas wie Brechts sieht. Seit Rossis Monografie behandelt die Geschichtsschreibung das Groteske als wesentliches Charakteristikum von Petris Filmen. Den Begriff übernimmt sie vom Regisseur, der ab 1970 damit die antirealistische Darstellungsweise seiner Arbeiten beschreibt. Mit dem Grotesken lässt sich sein Werk als spezifische Entwicklungsform in eine Linie mit dem Neorealismus stellen: Statt die Wirklichkeit zu respektieren, werde sie deformiert. Zugleich kann Petris Stil von denen anderer politischer Filmemacher wie Francesco Rosi oder Francesco Maselli abgegrenzt werden, wie es etwa Teresa Biondi (2008) in Storia del cinema italiano vornimmt. Schon bei Rossi zeigt sich, dass das Groteske außerdem als Ansatzpunkt für psychologisierende Lesarten fungiert. Die Filme werden hierbei als Ausdruck bzw. Reflexion gesamtgesellschaftlicher Befindlichkeiten behandelt. In diesem Sinn fasst Rossi Petris Werk nun als (selbst-)kritische Form des cinema politico auf. Seine Argumentation erinnert insofern an Michail Bachtin, als er in den Regiearbeiten eine quasikarnevaleske Umkehrung von Machtverhältnissen erkennt. Diese lasse jedoch nur eine kurzzeitige und kontrollierte Befreiung revolutionärer Begierden zu, was die Filme eben durch das Groteske zum Ausdruck bringen. Neben Rossis Monografie bildet Grandes Abhandlung über den Zusammenhang von Eros und Politik im cinema politico den zweiten Basistext der Petri-Forschung: Er analysiert die Filme als Darstellungen politisch bedingter Frustration. Diese
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
werde durch eine groteske Darstellungsweise evident gemacht, die Grande wie schon Rossi uneigentlich als Maskenspiel beschreibt (vgl. Grande 1995: 67–88). Auch De Gaetano fasst diese filmischen Synthesen aus Überhöhung und Verlächerlichung, Erhabenem und Schrecklichem nicht einfach als Satiren auf: Er betrachtet Petris Regiearbeiten der 1970er Jahre als Repräsentationen eines unkontrollierbaren Machttriebs, der letztlich zur Selbstzerstörung des politischen Subjekts führt (vgl. De Gaetano 1999: 87–97). Vighi (2016) stellt dagegen keinen Bezug mehr zum Grotesken her, um die Figuren ebendieser Spielfilme auf Basis von Freud und Lacan einer psychoanalytischen Betrachtung zu unterziehen. Die weltanschauliche Position, die der psychologisierenden Darstellung gesellschaftlicher Machtverhältnisse in den Filmen zugrunde liegt, legt mit Tovaglieri allerdings ein Historiker am treffendsten dar: Er zeigt, wie in Indagine und La classe operaia die Grenze zwischen politischem Kampf und individuell-existenziellem Aufbegehren aufgehoben wird. Hierdurch werde ein dezidierter Anspruch auf Selbstbestimmung formuliert, der den radikalen Forderungen der Protestbewegungen nahesteht (vgl. Tovaglieri 2014: 144). Im Unterschied zu solchen Ansätzen stellt Castaldi (2006) eine ›formale ReLektüre‹ von Petris Werk in Aussicht. Was er letztlich nicht einlöst, setzt Cardone (2005) in ihrer kurzen Monografie zu La decima vittima konsequent um: Ihre Studie bildet den Versuch, durch Detailanalysen die ästhetische Machart von Petris viertem Spielfilm in all ihren Facetten zu erfassen. Es sind solche Einzelfallstudien, die tradierte Pauschalurteile auf den Prüfstand stellen. Ein erster Impuls in diese Richtung kommt bereits 1986 von Millicent Marcus, die anhand von Indagine zeigt, wie Petris Kino Genremuster unterläuft und dadurch politisches Potenzial generiert (vgl. Marcus 1986: 263–282). Sie wirft einen kritischeren Blick auf den behaupteten Zusammenhang von Genrebezug und Unterhaltungsintention, den in der englischsprachigen Forschung zunächst Bondanella stark macht (vgl. Bondanella 1983: 334–336; ders. 2009: 242–246). Cardone geht noch stärker auf intermediale Bezugnahmen und Formen filmischer Selbstbezüglichkeit ein, um die kritisch-reflexiven sowie kreativen Qualitäten der Filme zu betonen. Ebenso umfassend macht sich Claudio Bisoni (2011) in seinem Buch zu Indagine daran, die Komplexität von Petris Kino an einem einschlägigen Beispiel herauszuarbeiten. Später zeigt sich etwa Longhi (2015) darum bemüht, die Eigenwilligkeit intermedialer Anverwandlungen an L’assassino nachzuweisen, in diesem Fall anhand von Bezügen zum Film noir. Dennoch sind auch so vertiefende Studien wie die von Cardone und Bisoni problematischen Grundannahmen verhaftet. Sie behandeln Petris Filme als ›mittleres Kino‹ und machen damit eine Kategorie relevant, die die italienische Filmtheorie bereits in den 1950er Jahren etabliert (vgl. Grande 1979; 2003: 89–105).
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1.2 Forschungsüberblick
Bisoni macht seine Definition vor allem an ästhetischen Merkmalen fest: Er versteht unter ›mittleren‹ handwerklich gut gemachte Filme, wobei den jeweiligen Regisseuren seinerzeit Autorenstatus zuerkannt worden sei. Da sich Petri nach De Santis’ Vorbild eher an kulturhistorischen Vorbildern orientiert habe, anstatt nach künstlerischer Originalität zu streben, bleibe sein Werk charakteristischerweise eklektisch und heterogen (vgl. Bisoni 2011: 12–16, 74 f.). Cardone macht wie später Rigola außerdem eine spezifische Produktions- und Vertriebsweise sowie das anvisierte Publikum für ihre Konzeption des ›mittleren‹ Kinos relevant (vgl. Cardone 2005: 15 f.; Rigola 2015: 25 f.). Damit verlassen sich letztlich auch Cardone und Bisoni auf Zuschreibungen, die die damalige Filmkritik vornimmt. Dabei zeigt Bisoni noch an anderer Stelle, dass die zeitgenössische Rezeption stark ideologisch geprägt ist. In diesen Beiträgen geht er wesentlich differenzierter mit den Urteilen der Kritiker um, die es in ihrer Historizität zu fassen gilt. Beschäftigt sich Bisoni (2006) in diesem Zusammenhang konkret mit dem cinema politico, so behandelt er signifikanterweise Petri als exemplarischen Fall: Er skizziert, wie dessen Stil spätestens bei La proprietà ›de-authentifiziert‹, also von den Kritikern nicht mehr als genuines Produkt der gemeinsamen Kultur anerkannt worden ist. Der von Rigola herausgegebene Sammelband läutet 2015 programmatisch eine neue Phase der Petri-Forschung ein. Er distanziert sich explizit von der ersten Publikation dieser Art, die Mondella (2012a) anlässlich von Petris 30. Todesjahr editiert: Dieser Band folgt noch dem nostalgischen Bestreben, dem Filmemacher die Anerkennung zukommen zu lassen, die er verdiene. Das eigentliche Verdienst der von Rigola verantworteten Publikation besteht darin, dass bislang wenig berücksichtigte Regiearbeiten ebenso wie der Dokumentennachlass des Regisseurs erstmals näher untersucht werden. Mit einem methodisch pluralen Zugang entwirft der Sammelband zwar ein flexibleres, weil relationales Modell und weitet den Blick, indem er alle Schaffensbereiche einzubeziehen versucht. Dennoch arbeitet auch er sich noch an den früh entwickelten Annahmen über Petris Werk ab und bedient sich ähnlicher Argumentationsweisen wie die vorangehenden Studien. Ansonsten verlagert sich im Prinzip nur der Fokus auf die soziokulturellen und politischen Entstehungskontexte der Filme: Petris Regiearbeiten werden als Produkte dieser zeitspezifischen Zu sammenhänge behandelt, über die sie ihrerseits Auskunft geben. Ihre stilistische Heterogenität erscheint hierbei als Ergebnis eines permanenten, aber kreativen Kompromissfindungsprozesses zwischen der Filmindustrie, den Publikumser wartungen, Engagement und Autorenanspruch (vgl. Rigola 2015: 16 f.). Diesen Ansatz führen Curti (2021) und Luzzagni (2021) mit ihren Monografien fort: Mit dem Anspruch, einen profunden Einblick in die Gesellschafts-, Kultur-
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
und Politikgeschichte Italiens zu bieten, verbinden sie die Analysen der Filme und nicht realisierter Projekte mit einer Aufarbeitung von Originaldokumenten, um minutiös die Entstehung des Gesamtwerks nachzuzeichnen. Durch die stark biografisch geprägte Herangehensweise bleibt die ästhetische Form der Produktionen allerdings eng an die Person des Regisseurs gekoppelt. Curti und Luzzagni behandeln Petris Arbeiten und Entwürfe demnach jeweils als Ausdruck subjektiver politischer und künstlerischer Ideen, bei deren praktischer Umsetzung sich der Regisseur unterschiedlichsten Einflussfaktoren ausgesetzt sieht.
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Theoretische und historische Grundlagen
1.3.1 Begriffsannäherungen: Politik – politisch – politischer Film
Es gilt zunächst einen heuristischen Rahmen abzustecken, um Elio Petris Arbeiten als spezifische Variation in der Historie des politischen Films zu verorten. Dies erweist sich als keineswegs einfaches Unterfangen. Gerade an der Rezeptionsgeschichte seines Werks zeigt sich, dass die Auffassungen darüber, was ›politischer‹ Film ist, diachron wie synchron stark divergieren: Sandra Nuy weist darauf hin, dass der Film als erstes bewegtbildliches Massenmedium seit jeher von einer intensiven Diskussion über sein Verhältnis zur Politik begleitet wird (vgl. Nuy 2017: 23 f.). Die Historiografie des politischen Films kann daher die Geschichte seiner Diskussion und Theoriebildung nicht ausblenden, muss diese aber von der Geschichte der filmischen Artefakte differenzieren. Gerade in vielen Darstellungen der 1960er und 1970er Jahre wird ersichtlich, wie sich hier ein Ungleichgewicht einstellen kann: Die Geschichtsschreibung legt den Schwerpunkt meist auf avantgardistische und militante Programmatiken, während Produktionen wie jene von Petri, die damals äußerst kontrovers diskutiert werden und im Vergleich wesentlich öffentlichkeitswirksamer sind, weniger Berücksichtigung finden. In der Annäherung an den politischen Film arbeiten sich nun Definitionsversuche, die ahistorischen Ansätzen folgen, oftmals an historischen Paradigmen und historisch gewachsenen Begriffen ab. Dadurch fällt es in der Regel schwer, überhaupt den Gegenstandsbereich einzugrenzen. Diese Problematik tritt in der Auseinandersetzung mit dem italienischen Kino vor allem bei jenen Studien zutage, die beim cinema politico der 1970er Jahre ansetzen: Lombardi und Uva (2016b: 6–11) leiten etwa die Parameter Form, Inhalt und Produktionsweise aus der damaligen Debatte ab, um ohne Berücksichtigung historischer Unterschiede die ›Politizität‹ von jüngeren Kinofilmen zu bestimmen. In diesem Sinn geht
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1.3 Theoretische und historische Grundlagen
auch Jens Eder (2002) mit Blick auf das bundesdeutsche Kino davon aus, dass der politische Gehalt graduell bestimmt werden kann. Solchen Annäherungen steht die Einsicht entgegen, dass der Objektbereich durch die Fülle der historischen Beispiele und Konzepte kaum festzulegen ist (so zum Beispiel Kirsten / Tedjasukmana / Zutavern 2014: 7). Die Cultural Studies erschweren die Lösung des Definitionsproblems insofern, als sie den Fokus auf die Rezeptionsseite verschieben: Im Prinzip kann jeder Film von seinen Zuschauern einer politischen Lektüre unterworfen werden. Ideologiekritisch geprägte Betrachtungsweisen nehmen dagegen bei jedem filmischen Produkt eine politische Wirkungsdimension an, insbesondere bei scheinbar unpolitischen Unterhaltungsfilmen. Gian Maria Volonté, der als Schauspieler mehrmals mit Petri zusammenarbeitet, lässt 1975 in diesem Sinne verlauten: »I don’t intend here to give a definition of political cinema, a category I don’t believe in anyway because every film, in a general manner, is political. An ›apolitical‹ cinema is an invention of poor journalism« (o. A. 1975: 11). Es mag auf solche Eingrenzungsschwierigkeiten zurückzuführen sein, dass bei vielen Studien stillschweigend auf eine Begriffsklärung verzichtet wird. Nun ist bereits das von den Termini ›Politik‹ und ›politisch‹ eröffnete Bezugsfeld recht weitläufig. Die Definition dieser Begriffe ist prinzipiell Gegenstand der politischen Theorie und Philosophie, wobei auch dort aufgrund unterschiedlichster Idealziele und Betrachtungsschwerpunkte eine Vielzahl an Bedeutungen vorhanden ist. Eine Annäherungsmöglichkeit bietet der Wortursprung. Im Altgriechischen bezeichnet »Tà politikà […] die auf die Polis bezogenen öff[entlichen] Angelegenheiten, die alle Bürger (= polítes) betreffen und verpflichten, politiké téchne die Kunst der Führung und Verwaltung der öff[entlichen] Aufgaben im Interesse der Gemeinschaft der Bürger / des Gemeinwohls der Polis« (Schultze 1998: 488). In seiner Ideengesichte unterliegt dieser Politikbegriff einem mannigfaltigen Wandel, dennoch lassen sich grundlegende Aspekte auf moderne Massengesellschaften übertragen: so der Umstand, dass Politik und politisches Handeln auf die Organisation des gemeinschaftlichen Lebens bezogen sind, das heute (anders als im antiken griechischen Stadtstaat) alle Mitglieder der sozialen Gemeinschaft umfasst. Nimmt man davon ausgehend nur das Phänomen des politischen Films in den Blick, so ist zu konstatieren, dass ›Politik‹ nicht auf den institutionalisierten Bereich spezialisierter Akteure, Institutionen und Handlungsweisen reduziert werden kann; nach der Luhmann’schen Systemtheorie das Teilsystem, das die gesamtgesellschaftlich gültigen Entscheidungen trifft. Als politisch deklarierte Filme werden ja keineswegs nur von Parteien, Interessensverbänden oder staatlichen Einrichtungen produziert, geschweige denn ausschließlich in deren
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
begrenzten Kreisen vertrieben. Die heutige Theoriebildung des politischen Films bevorzugt daher einen weiten gegenüber einem engen Politikbegriff: denn mit einem weiter gefassten Terminus rücken ›politische‹ Beziehungen und Vorgänge in allen gesellschaftlichen Teilbereichen in den Blick, die als solche auf komplexe Weise mit dem institutionalisierten Sektor wechselwirken. Vor diesem Hintergrund verweist etwa Nuy auf den Debattenzusammenhang der ›politischen Differenz‹, in dem zwischen der Politik im engen Sinn und dem ›Politischen‹ unterschieden wird (vgl. Nuy 2017: 24–29, in Anlehnung an Marchart 2010: 32–58). Letzteres bezeichnet das Funktionsprinzip, das in einer Gesellschaft und in all ihren Teilsystemen die gemeinschaftlichen Aushandlungsprozesse kennzeichnet. Dabei herrscht innerhalb der politischen Philosophie Uneinigkeit darüber, worin dieses Funktionsprinzip besteht: Die Gegnerschaft, die etwa Nuy für ihre Studie zur Spielfilmdramaturgie relevant macht, stellt hierbei nur eine Definitionsmöglichkeit neben weiteren dar; andere Ansätze bevorzugen etwa im Anschluss an Hannah Arendt das Konsensuelle.8 Blickt man in die Geschichte der Filmtheorie, so wird ersichtlich, dass dort seit jeher die Denkfigur des Konflikts dominiert, nicht zuletzt aufgrund des starken Einflusses, den der Marxismus in seinen verschiedenen Modifikationen auf das Denken über den Film ausgeübt hat. Er sieht jeden Teilbereich der Gesellschaft vom Klassenantagonismus durchzogen: Hegemonietheoretische, ideologiekritische, sozialpsychologische oder feministische Theorien entwickeln die marxistischen Grundannahmen fort, indem sie den Primat von der ökonomischen Basis zum Überbau und den Ideologien verschieben. Es geht jeweils darum, dass eine Klasse bzw. soziale Formation in der Organisation der Gemeinschaft ihre Inte ressen gegen andere durchsetzt. Auch Elio Petri gründet 1971 die Konzeption seines ›politischen‹ Kinos auf die Vorstellung einer gespaltenen, konflikthaften Gesellschaft: Hierbei richtet er seine Filme explizit an die »uomini che lavorano« (Cinema 70 1971), die er als die einzigen ernstzunehmenden Adressaten versteht. Die moderne Differenzierung zwischen der Politik und dem Politischen er weist sich durchaus als produktiv. In den Blick geraten so die Beziehungen und Vorgänge zwischen differenten Positionen, die jenseits institutionalisierter Politik auf das Gemeinschaftliche bezogen sind. Es bietet sich daher an, Politik weniger substanziell-institutionell denn prozessual zu betrachten. Als politisch zu gelten haben damit nicht nur professionelle Akteure, sondern auch die Prozesse gesellschaftlicher Aushandlung, die mit politischen, sprich allgemein verbindlichen
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Zur Problematisierung der filmwissenschaftlichen Rezeption vgl. Kirsten / Tedjasukmana / Zutavern 2014: 8.
1.3 Theoretische und historische Grundlagen
Entscheidungen einher- bzw. diesen vorausgehen. Unter diesen Prämissen kann man Politik mit von Alemann als »öff[entlichen] Konflikt von Interessen unter den Bedingungen von Macht und Konsensbedarf« (Alemann 1993: 301) verstehen. Dies schließt auch den Vorgang der Politisierung ein. Kirsten et al. halten hier mit Blick auf den Film und seine (massen-)medialen Eigenschaften fest: »Nicht alles ist politisch, aber (fast) alles kann als politisches Problem aufgefasst und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung werden« (2014: 8). Dies geschieht insofern im Sinne des griechischen Wortursprungs, als ein bestimmter Sachverhalt – beispielsweise eben über das Massenmedium Film – dezidiert mit einer sozialen Gemeinschaft, der Art und Weise ihrer Organisation und den daraus hervorgehenden Dispositionen in Zusammenhang gebracht, mithin ›politisiert‹ wird: unter der Voraussetzung, dass die bestehende Ordnung kontingent und somit veränderbar ist. Exemplarisch sei hier an den Feminismus der 1960er und 1970er Jahre erinnert, der das Privat-Intime zur politischen Frage erklärt; eine Dimension, die eine nur auf das öffentliche Gemeinwesen gerichtete Vorstellung von Politik nicht zwingend einschließt. Auch Petris Filme kreisen thematisch um die Frage, wie die Gesellschaft die Entfaltung des Individuums und seine Beziehungen zu anderen Individuen determiniert. In einem solchen prozessualen Modell bilden Medien zwangsläufig essenzielle Faktoren von Politik. Dem Film im Allgemeinen ebenso wie dem Dispositiv des Kinos werden dabei seit jeher enorme Wirkungspotenziale zugeschrieben, sowohl unter positivem als auch negativem Vorzeichen. Nuy (2017: 24) spricht hier in Anlehnung an Umberto Eco anschaulich von ›Apokalyptikern und Integrierten‹. In der historischen Theoriedebatte über das Verhältnis zwischen Film und Politik bildet die Beschäftigung mit Fragen des ›politischen Films‹ nun nicht den einzigen Schwerpunkt. Er ist von drei weiteren abzugrenzen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisieren: erstens von politischen Theorien des Films, die das Medium als Widerspiegelung politischer Verhältnisse betrachten; zweitens von Filmtheorien des Politischen, welche filmischen Wahrnehmungsstrukturen per se eine politische Dimension zuschreiben; und drittens von kritischen Dispositivtheorien, die das mediale Arrangement des Kinos als Manifestation von Machtverhältnissen behandeln (vgl. Blum / Weber 2020). Theorien des politischen Films basieren dagegen auf der Annahme, dass das Medium intentional funktionalisiert werden kann: Es wird jeweils als Instrument aufgefasst, das bei ›richtiger‹ Handhabung die notwendige Kraft besitzt, um bestehende Verhältnisse zu ändern oder zu festigen. In vielen Konzeptionen stellt die Politik im Film hierfür keine zwingende Bedingung dar. Es wird also angenommen, dass Filme nicht unbedingt politische Akteure, Institutionen, Ereignisse oder Zusammenhänge präsentieren müssen, um politisch wirksam
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
sein zu können. Durch den Primat ideologie- und dispositivkritischer Ansätze hat lange Zeit ein gewisses Misstrauen gegen solche vermeintlich allzu direkten Darstellungen von Politik vorgeherrscht. Laut Gradinari und Pause haben Praktiker wie Theoretiker aber mittlerweile auf dadurch entstandene Versäumnisse reagiert und schreiben der Inhaltsebene eine wesentlich größere Bedeutung zu. Nicht unwesentlich ist hierbei auch ein grundsätzlich veränderter Blick auf das Verhältnis von Politik und (audiovisuellen) Fiktionen: Im Kontext moderner Mediengesellschaften gelten sie nicht länger nur als ästhetische Nachbildung von sozialen und politischen Verhältnissen. Ihnen wird nun die Fähigkeit zuerkannt, an der Konstitution sozialer und politischer Wirklichkeit mitzuwirken (vgl. Gradinari / Pause 2018: 19).
1.3.2 Historische Skizze des politischen Films
In der Historie des politischen Films, sprich im Verlauf sich wandelnder Vorstellungen darüber, wie das Medium in politischen Zusammenhängen wirkungsvoll eingesetzt werden kann, nimmt nun gerade das italienische Kino eine herausragende Stellung ein. Schließlich bildet sich dort mit dem Neorealismus eine Strömung aus, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem aufgrund ihres ordnungsverändernden Potenzials interessiert: Der ›neue‹ Realismus wird seinerzeit als Gegenkino aufgefasst, da er sowohl filmische Konventionen als auch gesellschaftlich dominante Überzeugungen infrage stellt. Er entwickelt sich auch außerhalb Italiens zu einem wirkungsmächtigen Paradigma, als er in den 1950er Jahren Filmemachern und Intellektuellen in Mittelund Osteuropa, den USA, Südamerika, später auch in Indien und Afrika zum Bezugsmodell wird (vgl. Liehm 1984: 129–131; Ruberto / Wilson 2007; Giovacchini / Sklar 2012). Grundsätzlich entsteht die Vorstellung eines Gegenkinos nicht erst nach 1945: Die sowjetischen Regisseure Sergej Eisenstein, Vsevolod Pudovkin und Dziga Vertov verstehen ihre Filmkunst schon in der Zwischenkriegszeit als Mittel der proletarischen Revolution, das sie als solches auch theoretisch fundieren. Ihre Verbindung von linkspolitischen und filmavantgardistischen Bestrebungen nehmen sich in den 1960er Jahren wiederum Befürworter einer Politik der Form zum Vorbild. Da sich die sowjetischen Filmemacher aber noch in den Dienst einer Staatsideologie stellen, rücken sie letztlich in die Nähe zu anderen ordnungsstützenden Varianten des politischen Films: sowohl zu Propagandawerken, die zu Kriegszeiten in diktatorischen und nicht diktatorischen Staaten gleichermaßen produziert werden, als etwa auch zu Hollywood-Filmen, die den Mythos
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1.3 Theoretische und historische Grundlagen
der US-amerikanischen Nation nähren und den Einzelnen stets an die Werte des demokratischen Systems zurückführen (vgl. Gradinari / Pause 2018: 9 f.). Auch wenn sich schon damals Theoretiker wie Walter Benjamin mit der revolutionären Kraft der damals jüngsten Kunstgattung beschäftigen, dominieren in der Praxis bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs solche affirmativen Ausprägungen.9 Der politische Impetus des Neorealismus besteht nun darin, dass er sich em phatisch der außerfilmischen Wirklichkeit zuwendet. Etablieren solche Filme hierdurch eine kritische Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse, so ist ihre inhaltlich-thematische Seite nicht unwichtig. Üblicherweise sind die Protagonisten nämlich selbst sozial benachteiligt, mithin keine klassischen Heldentypen. In solchen mit Kriegssujet fungieren einfache Leute als Widerstandskämpfer, die neue Angebote nationaler Identitätsstiftung schaffen. Sozialkritische Filme zeigen dagegen anhand alltäglicher Situationen die missliche Lage unterprivilegierter Schichten auf, um übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Problemzusammenhänge sichtbar zu machen. Andere präsentieren sogar konkret alternative Modelle des Zusammenlebens und Wirtschaftens, beispielsweise in Form von Landkooperativen. Die ästhetische Innovativität neorealistischer Filme wird mittlerweile differenzierter betrachtet, ihre Erneuerungsideologie sogar problematisiert (vgl. Wagstaff 2007; Fabbri 2015). Damit verbunden ist eine intensive Diskussion über die Vormachtstellung des Neorealismus in der Historiografie des italienischen Kinos (vgl. O’Leary / O’Rawe 2011). Entscheidend ist, dass die Grundidee, politisches Kino müsse »ein formal wie inhaltlich abweichendes, ›anderes‹ Kino« (Gradinari / Pause 2018: 10) sein, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst vor allem mit diesen Filmen assoziiert wird. Ein solches Modell ist insbesondere für Filmemacher und -theoretiker oppositioneller Gesinnung attraktiv, um politisch-weltanschauliche Abgrenzungen vorzunehmen: einerseits zum kommerziellen Erzählkino, das in vielen Ländern mit Hollywood assoziiert und der eigenen Filmkultur gegenübergestellt wird; andererseits zum Kino der Diktatur- und Kriegszeit, wie es eben in Italien der Fall ist. Der Neorealismus markiert demnach zumindest im filmtheoretischen Diskurs seiner Zeit eine Gegentendenz zum ideologisch kompromittierten und als künstlich empfundenen Kino des Faschismus. Damit wendet er sich nicht nur gegen die ästhetisch übersteigerte Propaganda von Filmen wie Scipione l’afri-
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Als Gegenbeispiel ließe sich etwa der deutsche Arbeiterfilm der 1920er und frühen 1930er Jahre anführen, der von den Linksparteien finanziert wird und vom sowjetischen Revolutionskino inspiriert ist.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
cano (1937), sondern vor allem gegen das cinema dei telefoni bianchi. Diese abwertende wie verknappende Bezeichnung intendiert eskapistische Unterhaltungsfilme, deren Settings bevorzugt im konservativ-bürgerlichen Milieu angesiedelt sind. Auch in Hinblick auf die Herstellungsmodalitäten eignen sich solche Produktionen als Kontrastfolie eines dezidiert wirklichkeitszugewandten Kinos, da sie meist in den von Benito Mussolini gegründeten Cinecittà-Studios entstehen. Solche expliziten Abgrenzungsgesten rücken aber beispielsweise die Tatsache in den Hintergrund, dass auch eine Leitfigur wie Roberto Rossellini realistisch gestaltete Kriegsfilme für das Regime dreht, so etwa Un pilota ritorna (1942). Zudem wird die Zeitschrift Cinema, die Anfang der 1940er Jahre erste Thesen einer neuen, auf die Wirklichkeit ausgerichteten Filmkunst veröffentlicht, von Mussolinis Sohn Vittorio geleitet. Die Vertreter und Befürworter des Neorealismus hängen nun eben der Überzeugung an, dass Filme bei einer adäquaten Gebrauchsweise der filmspezifischen Mittel die ›richtige‹ politische Wirkung erzielen können. Allerdings gewinnt in dieser Zeit auch ein Generalverdacht gegen das Medium Raum. Die Kinematografie hatte ja durch ihre Instrumentalisierung im Zweiten Weltkrieg und in den totalitären Staaten bewiesen, dass sie aufgrund ihrer Suggestivkraft zu einem enormen Gefahrenfaktor werden kann. Die neomarxistische Idee der Kulturindustrie trägt dazu bei, dass die Begeisterung aus der Frühzeit des Films bei vielen Kultur- und Gesellschaftstheoretikern allmählich in apodiktischen Pessimismus umschlägt: ›Apokalyptiker‹ wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sehen alle Massenmedien in kapitalistische Verblendungszusammenhänge integriert, sodass sich der Film per se als manipulativ gebrandmarkt sieht (vgl. Adorno 1984 [1944]: 141–191). Als Gegenpol zum bürgerlichen Kunstideal, das hier noch durchscheint, wird in den 1960er Jahren Benjamins Filmtheorie des Politischen aus dem KunstwerkAufsatz wirksam: Sie liefert ›Integrierten‹ Ansatzpunkte für politisierte Kunst-, Film- und Medienpraktiken (vgl. Benjamin 2013 [1936]). Im Umfeld der Studenten- und Arbeiterproteste, antikolonialer Bestrebungen sowie der Neuen Sozialen Bewegungen kommen weltweit unterschiedlichste Formen eines ›militanten‹ Kinos auf: Vom kapitalistischen Zwang der etablierten Filmproduktion befreit wird hier das Medium im Kampf gegen das jeweils vorherrschende, unterdrückerische System funktionalisiert. Idealerweise entstehen und zirkulieren die Filme in unabhängigen, nicht kommerziellen Kreisen, um politische Aufklärungsarbeit zu leisten, revolutionäre Gruppen miteinander zu vernetzen und Gegenöffentlichkeiten sowie -kulturen zu organisieren. Während ästhetische Fragen bei solchen Filmpraktiken meist nachrangig sind, stehen sie bei der Politik der Form im Mittelpunkt.
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1.3 Theoretische und historische Grundlagen
Die Politik der Form ist im Zusammenhang mit einer politisierten Filmtheorie zu sehen, die ihre Grundlagen in der Ideologiekritik Louis Althussers und der Psychoanalyse Jacques Lacans findet. Hierbei werden der Realitätseindruck der Kamera, die technisch-räumliche Struktur des Kinos und die sich darin niederschlagenden Subjektbildungsprozesse zum Gegenstand der Auseinandersetzung (vgl. Kirsten 2014: 83–85). Während die neorealistischen Theoretiker noch von einer wesensmäßigen Verbindung zwischen Film und Wirklichkeit ausgehen, verstehen Comolli und Narboni bereits die von der Kamera aufgezeichnete Wirklichkeit nur als Ausdruck der vorherrschenden Ideologie (vgl. Comolli / Narboni 1969: 11–15).10 Mit Blick auf die Subjektposition der Zuschauer führt Baudry (1970; 1975) den ungebrochenen Fluss zentralperspektivisch organisierter Filmbilder mit den Umständen der Vorführungssituation im Kinosaal zusammen. Das Kino erscheint hier als Illusionsmaschinerie, die die technischen Mittel, mit denen der Eindruck eines Wirklichkeitskontinuums hergestellt wird, konsequent verschleiert. Diese dispositivkritischen Beiträge werden später vor allem im anglophonen Raum unter dem eher reduktiven Rubrum der apparatus theory rezipiert. In Italien dominieren dagegen noch strukturalistische Lesarten, die der Ideologie im Aufbau eines Films nachspüren: Hierbei wird ein filmisches Werk dann als autoritär aufgefasst, wenn es keine bedeutungsoffene Struktur ausbildet und die Zuschauer dadurch auf die Rolle passiver Konsumenten reduziert. Die Politik der Form setzt dementsprechend bei der filmischen Wirklichkeitsillusion und den ideologischen Effekten der Kinematografie an: Revolutionäre Gestaltungsweisen sollen die technische Organisation offenlegen bzw. aus strukturalistischer Sicht die autoritäre Form zerstören und das Publikum zur eigenmächtigen Bedeutungskonstruktion anregen. Im westlichen Kino entwickelt sich neben der sowjetischen Filmavantgarde das Epische Theater Bertolt Brechts zum wichtigsten Bezugsmodell. Mit seinen Verfremdungs- und Distanzierungstechniken liefert es die Grundlage für eine solche auf Illusionsstörung gegründete Variante des politischen Films. Diese beansprucht, einen alternativen Blickwinkel auf die Wirklichkeit und die dort vorherrschenden Machtstrukturen zu bieten, während sie zugleich die Medialität des Films offenlegt: nicht zuletzt mit dem Ziel, ein generelles Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Wahrnehmung der Welt ebenso wie die Kommunikation über die Welt gesellschaftlich festgelegt sind. So bildet sich ein reflexiver, betont selbstkritischer Realismus aus (vgl. Gradinari / Pause 2018: 11). Eine solche Ausprägung 10
Comolli präzisiert und modifiziert seine Ansichten über den Zusammenhang von Ideologie, Filmtechnik und Realitätseindruck wenige Zeit später, vgl. Comolli 1971–1973.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
des politischen Films setzt sich demnach dezidiert von realistischen Repräsentationsformen ab, die die Gemachtheit des Artefakts negieren bzw. ausblenden; so eben auch vom Neorealismus. Dabei werden filmtheoretische Prämissen weitergetragen, auf die sich bis in die 1970er Jahre hinein fast alle aktivistischen Bestrebungen im internationalen Kino stützen. Schon die Vertreter und Befürworter des Neorealismus setzen in der Regel ein passives, sich nach Vergnügen und Realitätsflucht sehnendes Publikum voraus, das sich seiner prekären Lebenslage nicht bewusst ist; eine Vorstellung, die erst die Cultural Studies überwinden. Bis dahin herrscht die Ansicht vor, dass das konventionelle, kulinarische Erzählkino den bestehenden Zustand perpetuiert, indem es zur gesellschaftlichen Anpassung und damit der Entfremdung des Zuschauersubjekts beiträgt. Die historischen Modelle eines Filmaktivismus räumen den Filmemachern selbst eine privilegierte, ja elitäre Stellung ein, implizieren sie doch, dass diese mehr über die bestehenden Verhältnisse wissen als das Publikum (vgl. Blum / Weber 2020). Selbst Elio Petri geht noch von einem solchen Zuschauerkonzept aus, als er in seiner Anfangszeit ein modernes ›Kino der Ideen‹ propagiert; ein Umstand, den er erst gegen Ende seiner Karriere selbstkritisch reflektiert. Die Subversivität jener antikonventionellen Gestaltungs- und Erzählweisen, die die Politik der Form ausprägt, wird recht bald unterminiert: Schon in den 1970er Jahren finden sie etwa durch das New Hollywood Eingang in das eta blierte Erzählkino. Heutzutage kann politischer Film nicht mehr innerhalb der Koordinaten von Inhalt und Form gedacht werden. Gradinari und Pause zeigen, dass sich das nunmehr wirksame Spannungsverhältnis zwischen Partikularität und Universalität ausbildet: Der politische Film ziele nicht mehr auf eine universal gültige Darstellung der Welt, sondern biete durch Schicksale marginalisierter Individuen partikulare Sichtweisen, die hegemoniale Verhältnisse in einem kritischen Licht erscheinen lassen. Hierbei wird Strategien der Identifikation und Empathie, die vor allem im konventionellen Erzählkino wirksam sind, mehr Bedeutung zugeschrieben (vgl. Gradinari / Pause 2018: 13–18). Wird spätestens im 21. Jahrhundert auch nicht reflexiven, narrativen Filmen Gültigkeit zuerkannt, so ist dies auch auf die internationale politische Situation zurückzuführen, die sich im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren fundamental gewandelt hat. Das Ideal einer Politik der Form bleibt allerdings auch nach dem Zerfall jener aktivistischen Bewegungen und Strukturen lange bestehen, insbesondere in der theoretischen und historiografischen Auseinandersetzung mit dem politischen Film (vgl. Kirsten / Tedjasukmana / Zutavern 2014: 7). Vor diesen filmgeschichtlichen Hintergründen erweist sich die Lage in Italien als recht eigentümlich. Denn gerade dort manifestiert sich in der Kritik am Neo-
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1.3 Theoretische und historische Grundlagen
realismus, der schon in den 1950er Jahren als obsolet gilt, eine ambivalente Haltung. Die fraglichen Arbeiten von Luchino Visconti, Roberto Rossellini oder Vittorio De Sica dienen postneorealistischen Regisseuren nämlich durchaus noch als Leitmodell, mit dem sich das eigene Schaffen historisch legitimieren lässt. Auch Petri betont wiederholt die filmgeschichtliche Bedeutung dieser Werke, die er für seine eigene Entwicklung als wegweisend erachtet. Seinen Vorbildcharakter gewinnt der Neorealismus im theoretischen Diskurs im Grunde jedoch nur durch die aus ihm abgeleitete Kunstkonzeption: Nicht zuletzt dank des erheblichen Einflusses der linksgerichteten Film- und Kulturkritik etabliert sich mit diesen zahlmäßig recht überschaubaren Produktionen in Italien das Ideal einer engagierten (Film-)Kunst. Ein Film kann demnach nur als künstlerisches Werk gelten, wenn sich an ihm ein kritischer Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit erkennen lässt. Die auteur-Idee und die frühen Arbeiten der Nouvelle vague finden in Italien daher im Gesamten betrachtet verhältnismäßig wenig Anklang. Auch dort gibt die politisierte Filmkritik in den späten 1960er und in den 1970er Jahren dann den militanten und ästhetisch radikalen Ansätzen den Vorrang. Unter dem Rubrum des cinema politico werden dagegen all jene Spielfilme zusammengefasst, die auf herkömmlichem Weg produziert werden und auf scheinbar ebenso herkömmliche Weise erzählen. Sowohl in ihrer Themenauswahl als auch der Genrezugehörigkeit und den Stilweisen erweisen sich die damit bezeichneten Produktionen als höchst unterschiedlich. Das italienische cinema politico mag im Vergleich durch seinen Umfang und seine Vielfalt auffallen, wobei in dieser Zeit ja auch andere Nationalkinos solche politischen Kinospielfilme hervorbringen: Neben Thrillern, die um Sujets politischer Konspiration kreisen, entstehen zahlreiche bürgertums-, konsum-, kapitalismus- und im weiteren Sinn systemkritische Arbeiten, die unter anderem mit den Mitteln der Komödie, der Satire und der Parabel arbeiten. In diesem Sinn werden oftmals Institutionen des Staats- und Gesellschaftsapparats wie die Polizei, die Justiz, das Militär, Schulen, psychiatrische Anstalten oder die Kirche zum Gegenstand der Anklage bzw. kritischen Reflexion. Zudem problematisieren Arbeiterfilme ungleiche Klassenverhältnisse, indem sie die Lebenswelt der arbeitenden Schichten vorführen. Wie Petris Regiearbeiten fallen solche Produktionen bei der politisierten Filmkritik üblicherweise durch. Diese verkennt allerdings, dass verschiedene dieser Filme in ihrer ästhetischen Machart durchaus avanciert sind und reflexives Potenzial entwickeln. Das gilt insbesondere für Elio Petris Arbeiten, die unter diesem Gesichtspunkt als herausragende Beispiele zu betrachten sind.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
1.4
Konzeption der Werkanalyse
Um Petris historischer Relevanz für den politischen Film habhaft zu werden, gilt es bestehende Annahmen über sein Werk kritisch zu überprüfen. Seine Filme erweisen sich hierbei als wesentlich vielschichtiger, als es die zeitgenössischen Kritiker, aber auch die enthusiastischen Wiederentdecker behaupten. Mit den Begriffen und Kategorien, die in den damaligen Debatten um den politischen Film verwendet werden, lässt sich sein Werk nur unzureichend erfassen; wie oben aufgezeigt, sind diese oftmals noch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Petris Regiearbeiten maßgebend. Die Urteile der Filmkritik müssen jedoch als historisch begriffen und innerhalb ihres diskursiven Kontexts betrachtet werden. Dies gilt auch für Petris Filmpoetologie: Der Regisseur ist zeit seines Schaffens bemüht, gestaltungs- und produktionsbezogene Entscheidungen einsichtig zu machen und ideologisch zu rechtfertigen. In seinen werkbezogenen Äußerungen setzt er daher sein ›populares‹ einem künstlerisch anspruchsvollen ebenso wie einem zerstreuenden, anspruchslosen Kino entgegen. Auf diese Weise versucht er, eine politische und zugleich publikumsnahe Alternative zu markieren. Eine wesentliche Problemstellung der Petri-Forschung besteht darin, dass solche Aussagen des Regisseurs oftmals genauso unreflektiert mit den Filmen kurzgeschlossen werden wie seine autobiografischen Erzählungen. Hierbei dienen die Filme im Grunde nur der Bestätigung einer explizit ausformulierten Autorenintention, sodass sie als praktische Umsetzung einer persönlichen, vorab entwickelten Programmatik erscheinen. Bei Petri bietet sich eine solche Betrachtungsweise an, weil sein Werk stilistisch epigonal und äußerst heterogen, mithin ohne eigene ›Handschrift‹ anmutet. Mithilfe der filmpoetologischen Kommentare lässt sich also ein inkohärent erscheinendes Ensemble an Filmen als konsistentes Gesamtwerk präsentieren. Die folgende Darstellung basiert daher auf einem differenzierenden und kontextualisierenden Ansatz: Petris filmpraktisches und sein filmpoetologisches Werk werden als eigenständige Gegenstandbereiche behandelt, um sie in ihren jeweiligen Kontexten zwischen den 1950er und den frühen 1980er Jahren zu verorten. Bei einer solchen Herangehensweise werden schließlich auch die zeitspezifischen Konflikte und Zuschreibungsprozesse transparent, durch die die Regiearbeiten als spezifisches Modell innerhalb der italienischen Diskussion um den politischen Film Kontur gewinnen: Mithin wird nachvollziehbar, wie dort bestimmte Darstellungsweisen aufgefasst, kategorisiert und als charakteristisch für eine mit Petri assoziierte Variation des politischen Films behandelt werden; eine Variation, die seinerzeit vielbeachtet, aber stark umstritten ist.
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1.4 Konzeption der Werkanalyse
1.4.1 Ästhetik des politischen Films – Politik und Ästhetik im Film
Die Orientierung an der zeitgenössischen Filmkritik und die Konzentration auf Petris Person haben dazu geführt, dass bislang ein eher undifferenzierter Umgang mit den Gestaltungs- und Erzählweisen seiner Regiearbeiten gepflegt wird. Die Aufwertung von Petris Werk verdankt sich vor allem dem Umstand, dass Repräsentationen von Politik im Spielfilm grundsätzlich positiver betrachtet werden. Seinerzeit geraten solche Filme, die explizit politische Akteure oder Ereignisse zeigen, vor allem bei Befürwortern der Politik der Form tendenziell unter Konformismus- und Manipulationsverdacht (vgl. Gradinari / Pause 2018: 19). Bei Petri bildet die Politik im Film einen entscheidenden Faktor seines Erfolgs: Indagine und La classe operaia rufen beim Kinostart jeweils große Resonanz hervor, gerade weil sie einen repressiven Polizeiapparat vorführen bzw. politisierte Arbeiter, Gewerkschaftsführer und Gruppierungen der Neuen Linken als Protagonisten einer fiktiven Handlung auftreten lassen. Einer der wesentlichen Kritikpunkte besteht bei La proprietà dann darin, dass der Film keinen expliziten Bezug zum politischen Zeitgeschehen mehr herstellt. Eine kritische Neubetrachtung von Petris Arbeiten hat zudem die Tatsache zu berücksichtigen, dass jene Vorbehalte, die seinerzeit gegen ein populäres, gerne als Mainstream bezeichnetes Erzählkino gehegt worden sind, mittlerweile als überholt gelten, ja manchmal nahezu enthusiastisch ins Gegenteil verkehrt werden. Petri betont schon damals die Unterhaltungsintention seiner Filme, wobei er ganz im Zeichen seiner Zeit die formale Gestaltung zur politischen Frage erklärt: Le choix du langage, de la structure est aussi un choix politique. Malheureusement, dans la notion de film populaire, les intellectuels refusent l’idée de divertissement. Il est vrai que celui-ci, telle qu’il est pratiqué dans le monde capitaliste et bourgeois, est négatif. Mais il faut savoir que les gens font dans la journée quelque chose qu’ils n’aiment pas et qui est souvent dur et, le soir, ils ont besoin de libération. (Fléouter 1972)
Gegenüber bisherigen Betrachtungen, die sich im Kern an solchen poetologischen Aussagen und den darin abzeichnenden Bewertungsschemata orientieren, setzten die Analysen der Filme und anderen Arbeiten im Folgenden dezidiert bei den Werkstrukturen an: mithin den spezifischen Modalitäten der filmischen Konfigurationen von Politik. Wenn man die Erzähl- und Gestaltungsweisen im Detail betrachtet, so wird augenscheinlich, wie reduktiv die oft pauschalisierende Annahme einer Zwischenposition oder Petris eigene Rede vom Popularen und Unterhaltsamen tatsächlich sind.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Gerade an dem Film, der als paradigmatisch für Petris Variation des politischen Films behandelt wird, lässt sich nachvollziehen, dass die These eines eigenwilligen Umgangs mit populären Erzählformen keineswegs trivial ist. So führt etwa Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto zwar einen Mord und den daran anschließenden Ermittlungsprozess vor. Der Täter ist allerdings selbst ein hochrangiger Polizeifunktionär, der darauf abzielt, seine Unantastbarkeit zu beweisen: und zwar indem er Zeugen und Ermittler durch sein autoritäres Auftreten dazu bringt, die eindeutigen Beweise für seine Täterschaft falsch zu interpretieren. Greift der Film die Form der Kriminalerzählung auf, so stellt er dies durch intermediale Referenzen aus; zugleich unterläuft er durch die Figur des kriminellen Ordnungshüters und die ausbleibende Sanktionierung genrespezifische Konventionen. Solche Abweichungen exponieren Autoritarismus und (Selbst-)Repression als psychische Grundlagen der dargestellten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang bringt Indagine auch eine kritische Haltung gegenüber oberflächlichen Wirklichkeitseindrücken zum Ausdruck, schließlich fallen die Figuren durch eklatante Wahrnehmungsdefizite auf: Diese erscheinen als Folge verinnerlichter Machtmechanismen. Konsequenterweise macht sich der Film demgegenüber durch autoreferenzielle Gesten selbst als Fiktion erkennbar. Schon in Petris ersten Regiearbeiten lassen sich solche Formen der Intermedialität, Selbstreferenzialität und Reflexivität erkennen. Auch diese Filme verwandeln sich Strukturen und Motive so unterschiedlicher Genres wie dem Kriminalfilm, der Komödie, der Science-Fiction und dem Geisterfilm an. Zugleich lassen die spezifischen Gestaltungsweisen das Medium selbst sichtbar werden: durch avancierte Verfahren der Montage, der Kameraführung und der mise en scène, bedingt etwa durch innovative Bezugnahmen zur Nouvelle vague und dem italienischen Autorenkino in I giorni contati, zur Pop Art in La decima vittima oder zum Epischen Theater in La proprietà. All diese Mittel können aber nicht als Unterhaltungs- und Popularisierungsstrategien bzw. kreative Aneignungen im Sinne des modernen Autorenkinos aufgefasst werden, wie es bei einer cinephilen Lesart der Fall wäre. Schließlich sind sie stets den reflexiven Darstellungen gesellschaftlicher Zusammenhänge und Konflikte zweckdienlich: Petris Regiearbeiten führen anhand von repräsentativen Einzelfiguren die Funktionsweise des gemeinschaftlichen Gefüges vor und problematisieren diese. Hermann Kappelhoff zeigt, wie mit dem Medium Film seit jeher die dementsprechende Absicht verbunden wird, »die soziale Welt in vollkommen sinnlicher Evidenz auszubreiten« (Kappelhoff 2008: 15). Er referiert auf die von Alexander Kluge herausgegebene Bestandsaufnahme des Neuen Deutschen Films (1983), wenn er hierbei von einer ›Utopie Film‹ spricht. Kappelhoff zielt auf den Umstand, dass die Idee, durch das Kino den begrenzten Wahrnehmungshorizont des Ein-
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1.4 Konzeption der Werkanalyse
zelnen zu überwinden und die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Komplexität greifbar zu machen, von Filmpraktikern und -theoretikern konzeptuell immer wieder neu ausgearbeitet worden ist. Gemeinsam ist all diesen Versuchen, dass eben jeweils die Art und Weise der filmischen Gestaltung prioritär gesetzt ist: »Anschaulich, greifbar kann dieses [soziale] Leben nur in den konkreten ästhetischen Operationen, Interventionen und poetischen Konzeptionen sein« (Kappelhoff 2008: 15). Die filmisch präsentierten Welten werden hier keineswegs als bloße Widerspiegelungen, sondern als Interpretationen der außerfilmischen Realität aufgefasst: (Spiel-)Filme werden demnach unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie angenommene Strukturen und Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens herausarbeiten und dadurch wahrnehmbar werden lassen. Dies lässt sich umstandslos auch auf Petris filmisches Werk ebenso wie seine Überlegungen über die Funktion des Kinos übertragen. Wie sich exemplarisch an Indagine zeigt, lösen in seinen ordnungskritischen Filmen die Darstellungen der Klassengesellschaft die monokausale Determiniertheit durch die Produktionsverhältnisse auf. Die Ursachen werden in den Einzelnen hineinverlagert: Der Fortbestand von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen gründet auf inneren Zwängen, die in jedem Individuum wirksam sind. In Petris Filmen scheitern die Figuren daher primär an sich selbst, insofern sie anerzogene Denk- und Verhaltensschemata nicht überwinden können. Auch wenn die Regiearbeiten auf zeitaktuelle Konflikte Bezug nehmen, so verweisen sie in diesem Sinn stets auf tiefer liegende Problemzusammenhänge. So sind etwa Indagine und La classe operaia zwar durchaus nah am Puls der Zeit, wenn sie angesichts der sozialen Unruhen die Polizei als verbrecherisch darstellen bzw. die Lage des Fabrikarbeiters und die Studentenproteste thematisieren: Doch tritt am autoritären Ordnungshüter wie am unterdrückten Proletarier und dem revoltierenden Jugendlichen gleichermaßen die psychische Basis der bestehenden Gesellschaftshierarchie zutage. Es interessieren mithin nicht die konkreten politischen Ereignisse und Akteure an sich. Vielmehr wird die individuell-innerliche Sphäre zur politischen Frage gemacht, indem sie in ein unmittelbares Verhältnis mit den Ordnungsstrukturen der sozialen Gemeinschaft gesetzt wird. Hierbei thematisieren Petris Regiearbeiten im Sinne Kappelhoffs auch die »gesellschaftlichen, historischen und medialen Bedingungen, die den Raum alltäglicher Wahrnehmung und damit die sinnliche Erfahrbarkeit der Welt festlegen« (ebd.: 11). Die Filme verweisen jeweils auf den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Politik, wodurch sie implizit über ihre eigene ästhetische Konzeption als politische, ordnungskritische Filme Auskunft geben: Anhand innerdiegetischer Kunstwerke und Medienprodukte werden ästhetische und medienkul-
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turelle Entwicklungen aufgezeigt, zu denen sich die Regiearbeiten mit ihrer spezifischen Gestaltungsweise selbst positionieren – stets mit Blick auf die Prämisse, dass künstlerische Artefakte und Medien in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden sind. Indem sie sich so von anderen Repräsentationsformen abgrenzen, präsentieren sich Petris Filme programmatisch als »mediale[] Möglichkeiten der Erfahrung sozialer Realität« (ebd.: 15). Die Arbeiten des italienischen Regisseurs werden dennoch von der politisierten Filmkritik marginalisiert: Schließlich forcieren sie weder den radikalen Konventionsbruch noch tragen sie jene »intellektuelle Coolness« (ebd.: 100) zur Schau, die damals dem politischen Autorenkino zu eigen ist. Dabei wirken sich die kinematografischen Neuerungen, die die Neuen Wellen, das Autorenkino und später die Politik der Form auf internationaler Ebene schaffen, auch auf Petris Filme aus. Seine kohärent erzählenden, stilistisch epigonalen Regiearbeiten fallen demnach ebenfalls durch einen (selbst-)kritischen Realismus auf: Sie beleuchten die soziale Wirklichkeit einer modernen Medien- und Konsumgesellschaft, wobei bestehende Denk- und Wahrnehmungsmuster unterwandert werden, um eine alternative Betrachtungsweise auf den gegenwärtigen Zustand des Menschen zu ermöglichen. Zeigen sich die Filme stets offen gegenüber neuen filmästhetischen, künstlerischen und medienkulturellen Entwicklungen, so wird darin die Suche nach zeitgemäßen Leitmodellen offenbar: Der Film muss auch unter gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die sich seit der unmittelbaren Nachkriegszeit stark verändert haben, den Einzelnen zur Selbstbewusstwerdung anleiten können. Somit lässt sich festhalten: Wird Elio Petris filmpraktisches Werk im historischen Rahmen des politischen Films betrachtet, so gilt es ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, wie die einzelnen Darstellungen politischer Verhältnisse audiovisuell und dramaturgisch organisiert sind. Hierbei muss jeweils die Geschichte der medienspezifischen Ausdrucksformen berücksichtigt werden. Zwar ist Petri beispielsweise auch für das Fernsehen aktiv, da er aber überwiegend Filme für das Kino dreht, kommt der »aesthetic history of cinema« (Bordwell 1997: 4) im Folgenden zwangsläufig größere Beachtung zu. David Bordwell schließt darin neben einer Geschichte filmischer Stile, wie er sie in seinen neoformalistischen Schriften mit Kristin Thompson theoretisch fundiert, die Entwicklungen filmischer Formen (worunter Bordwell narrative und nicht narrative Formen versteht), Gattungen (im Wesentlichen Spiel- und Dokumentarfilm) und Genres mit ein. Mithin interessieren die Filme ja nicht nur in ihrer audiovisuellen Gestaltungsweise, dem ›Stil‹, der im neoformalistischen Sinn die kinematografischen Mittel mise en scène, Kameraverhalten, Montage und Tongestaltung umfasst (vgl. ebd; Wuss 1998: 155–157). Ebenso von Interesse sind ihre
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1.4 Konzeption der Werkanalyse
Besonderheiten im Vergleich zu den historisch jeweils vorherrschenden filmdramaturgischen Konventionen.
1.4.2 Verfahrensgeschichtlicher Kontext
Unter ästhetischen Gesichtspunkten kann Elio Petris Werk also nicht ohne Weiteres vom avantgardistischen Politkino abgegrenzt werden, wie es seinerzeit die politisierten Kritiker vornehmen. Trotz ihrer Heterogenität sind die Filme allesamt im Kontext der modernen Filmästhetik zu sehen, die sich eben unter anderem mit den Neuen Wellen und dem Autorenkino durchsetzt. Dadurch heben sich Petris Regiearbeiten schließlich vom Großteil der Filme ab, die mit dem damals viel kritisierten cinema politico assoziiert werden. Die verfahrensbezogene Geschichtsschreibung geht grundsätzlich davon aus, dass sich in unterschiedlichen historischen Phasen spezifische Epochenstile verdichten.11 Die Entwicklung ›moderner‹ Verfahren wird hierbei üblicherweise im Zeitraum zwischen dem Ende der 1940er und der Mitte der 1970er Jahre verortet. Als Differenzfolie fungiert in der Regel das ›klassische‹ Hollywood-Kino, wie es Bordwell, Thompson und Staiger (1985) darstellen: Dieses bildet seine charakteristischen Erzähl- und Gestaltungsweisen zwischen dem Ende des early cinema um 1917 und der Krise des Studiosystems um 1960 aus. Da seine ästhetischen Konventionen auch in anderen Ländern für die Filmproduktion maßgebend werden, gewinnt Hollywood schließlich eine weltweite Vormachtstellung. Wie schon die Rede vom Klassischen bei Bordwell, Thompson und Staiger suggeriert, wird der historische Index der kinematografischen Mittel durchaus berücksichtigt. In Narration in the Fiction Film vermeidet Bordwell allerdings den Begriff des Modernen, um Absetzbewegungen in künstlerische, historischmaterialistische und parametrische Narrationsweisen zu unterteilen (vgl. Bordwell 1985: 310). Als Gegenentwurf ließe sich Krützens historisierende Taxonomie anführen, die in Klassik, Moderne und Nachmoderne unterscheidet. Da sie auch frühe Stilformen, die nicht dem klassischen Hollywood entsprechen, als modern interpretiert, setzt sie den Beginn der Moderne schon in den 1920er Jahren an. Schließlich warten die Stumm- und die frühe Tonfilmzeit mit so avancierten Bewegungen wie dem deutschen Expressionismus, dem französi-
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Für einen historischen Überblick zu filmischen Stilepochen vgl. Hesse et al. 2016: 45–238.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
schen Impressionismus und dem sowjetischen Revolutionskino auf (vgl. Krützen 2015: 19–21). Einen differenzierteren Überblick bietet Kovács: Er betont im Unterschied zu Krützen die Eigenheiten jener Varianten, die sich zwischen den 1940er und den 1970er Jahren ausbilden. Er begründet dies mit Gestaltungsprinzipien, die er als charakteristisch für die moderne Kunst im Allgemeinen auffasst und im fraglichen Zeitraum auch im europäischen Kunstkino beobachtet: Abstraktion, Subjektivität und Reflexivität (vgl. Kovács 2007: 51–55, 120 f.). Das klassische Kino kennzeichnet sich – vereinfacht formuliert – noch dadurch, dass es nur die kohärente, kausal nachvollziehbare Darstellung einer fiktiven Geschichte anstrebt (vgl. Bordwell 1985: 156–204; Bordwell et al. 1985; Hesse et al. 2016: 87–99). Viele Studien machen demgegenüber das Moderne vor allem daran fest, dass sich die filmische Erzählung als solche kenntlich macht (vgl. etwa Stam 1992: 167–207; Kirchmann 1996; Fahle 2005: 15 f., 42; Krützen 2015: 21, 341–349; Elsaesser / Hagener 2017: 93–97; De Vincenti 2013: 47–53). Kovács geht darüber hinaus, indem er das komplexe Verhältnis, das ästhetisch moderne Filme zur außerfilmischen Realität herstellen, betont: Thematisieren sie ihre Produkthaftigkeit, so ist dies in Verbindung mit dem Versuch zu sehen, neue Deutungsangebote und neue Zugänge zur außerhalb des Films liegenden Welt zu schaffen. Die moderne Filmästhetik setzt also die Annahme voraus, dass noch eine sinnhafte Beziehung möglich ist: Unter der Voraussetzung, dass Kunst nur eine fragmentierte Sicht auf die Wirklichkeit bieten kann, werden abstrakte Ideen moderner philosophischer Denksysteme herangezogen, um eine kohärente Wirklichkeitsinterpretation zu entwickeln; eine solche filmische Konstruktion stellt sich demnach als arbiträr, mithin subjektiv dar, sodass sie sich konsequenterweise reflexiv als solche zu erkennen geben muss (vgl. Kovács 2007: 120 f.). Der Existenzialismus entwickelt sich hierbei zu einem einflussreichen Bezugsmodell, um Mitte des 20. Jahrhunderts Erfahrungen der Entfremdung greifbar zu machen – angesichts der Katastrophe des kürzlich überwundenen Weltkrieges, den neokapitalistischen Massengesellschaften des Westens ebenso wie den totalitär organisierten, sozialistischen Staatssystemen des Ostens. Auch in diesem Kontext spielt der italienische Neorealismus eine entscheidende Rolle. Doch während Deleuze den entsprechenden Regiearbeiten Rossellinis, De Sicas und Viscontis eine zentrale Stellung einräumt, weil sie das sensomotorische Band des Bewegungs-Bilds auflösen, erkennt Kovács in den Filmen nur wegweisende Impulse (vgl. Deleuze 1991 [1985]: 11–19; Kovács 2007: 277– 283). Die moderne Filmästhetik, wie er sie konzipiert, setzt sich erst zwischen 1959 und 1961 durch, also in der Zeit, in der auch Elio Petri seinen ersten Spielfilm dreht. Maßgebend sind hierbei verschiedene Verfahren und Produktionsprakti-
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1.4 Konzeption der Werkanalyse
ken, die bis heute mit dem Neorealismus in Verbindung gebracht werden – obwohl sie meist nur in einzelnen Filmen oder gar Sequenzen verwendet werden, ja oftmals sogar im Stadium der theoretischen Ausarbeitung bleiben: so beispielsweise der Dreh außerhalb der Studios, auch an Originalschauplätzen, der Einsatz von Laienschauspielern, improvisierendes Schauspiel, dialektale Sprache, der Verzicht auf künstliche Beleuchtung, Plansequenz, Tiefenschärfe, die Auflösung der Hierarchie zwischen Vorder- und Hintergrund sowie eine offene Erzählform, die auf eine episodische Struktur und ein Übermaß funktionsloser Handlungselemente setzt. Dennoch kann nicht ohne Weiteres von einer ungebrochenen Kontinuitätslinie ausgegangen werden, wie es etwa Barrattoni und Glasenapp suggerieren (vgl. Barrattoni 2012: 73; Glasenapp 2013). Die moderne Filmästhetik ist schließlich einer abstrakten Weltkonzeption statt dem Glauben an eine sinnlich direkt erfahrbare Wirklichkeit verpflichtet: Damit stellt sie auch die vom Neorealismus und seinen Theoretikern fundierte Vorstellung einer natürlichen Verbindung des Mediums zur außerfilmischen Realität dezidiert infrage. Auch Elio Petris Filme arbeiten dementsprechend dem Eindruck einer scheinbar objektiven Wirklichkeitspräsentation entgegen. Der Regisseur selbst äußert wiederholt seine Zweifel daran, dass der Film aufgrund seiner technischen Verfasstheit ›Realität‹ tatsächlich erfassen kann. Stattdessen verweist er auf die enormen Gestaltungspotenziale des audiovisuellen Erzählmediums: Diese müssen unbedingt ausgenutzt werden, um die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Komplexität zur Darstellung bringen zu können. Das entscheidende Differenzmerkmal von Petris Regiearbeiten zeigt sich weniger in den einzelnen Verfahren, die jeweils einer solchen Skepsis gegenüber dokumentarischen Ansätzen Ausdruck geben mögen, als vielmehr in der Organisation von Erzählzusammenhängen. Dabei lassen sich grundsätzlich alle Filme, die in ihrer Gestaltung der modernen Filmästhetik entsprechen, nach wie vor als narrativ bestimmen. Sie greifen sogar oftmals noch auf etablierte, genregeprägte Erzählmuster zurück, auch wenn diese letztlich unterminiert werden. Außerdem bilden sich neue Erzählmuster und Plotstrukturen aus, die wiederum für das moderne Kino charakteristisch sind, so etwa die ziellose Wanderung, die mentale Reise oder das Drama der geschlossenen Situation (vgl. Kovács 2007: 99–119). Entscheidend ist hierbei, dass die verwendeten Verfahren nicht mehr den Vorgaben räumlicher, zeitlicher und kausaler Kohärenz folgen, auf die sich das klassische Erzählkino noch stützt. Die von Kovács benannten Charakteristika moderner Filmästhetik schlagen sich daher in einer Erzählweise nieder, bei der die Darstellung des Geschehens ambig wird. In der Filmgeschichte finden sich schon vorher Narrationsweisen, bei denen die vorgeführten Situationen gegen-
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
über dem kohärent erzählenden, klassischen Kino deutlich komplexer sind. Modern erzählende Filme fallen nun dadurch auf, dass sie keine nachvollziehbare Auflösung der dargestellten Konflikte mehr bieten (vgl. ebd.: 61–65, 120 f.). Kognitivistisch nach Bordwell und Thompson formuliert: Mit der Art und Weise, wie der Film erzählt, liefert er seinen Zuschauern nicht mehr genügend Information, um sich die fabula bzw. story erschließen zu können. Eine dementsprechende Narration kennzeichnet sich etwa durch Kontingenz, Episodenhaftigkeit, Fragmentierung und die Durchdringung von subjektiver und objektiver Welt. In diesem Sinn führt schon Umberto Eco im Offenen Kunstwerk aus, wie der moderne Film das Aristotelische Konzept einer einheitlichen Handlung auflöst (vgl. Eco 1973 [1962]: 204–206, 210 f.). Dem psychologischen Realismus, der im klassischen Erzählkino die Handlungsmotivation der Figuren transparent werden lässt, wird damit eine Absage erteilt. Petris Filme sind in dieser Hinsicht nur bedingt als modern zu bewerten: denn die Figuren werden psychologisch vertieft, um die gesellschaftliche Determiniertheit ihres Tuns, Denkens und Fühlens aufzuzeigen. Radikale Befürworter einer Politik der Form fordern dagegen die Zerstörung jeglichen kohärenten Erzählzusammenhangs.
1.4.3 Filmpoetologie und Debattengeschichte
Filmpoetologisch setzt Elio Petri seine Arbeiten dezidiert von solchen extremen Positionen ab. Er zielt auf ein zeitgemäßes Politkino, das er mit wechselnder Schwerpunktsetzung unter produktions-, darstellungs- und wirkungsästhetischen Gesichtspunkten erörtert. Er verbindet hierbei meist eine systematische mit einer historischen Perspektive, wobei er sich unterschiedlichste Modelle aus der italienischen ebenso wie der internationalen Film- und Kulturgeschichte zum Vorbild nimmt. Bemerkenswerterweise beschreibt seine Poetologie im Verlauf ihrer Entwicklung eine Kreisbewegung: Unter dem Eindruck der Neuen Wellen spricht sich Petri in seiner Anfangszeit als Spielfilmregisseur noch emphatisch für eine filmästhetische Erneuerung aus, wohingegen er sich ab 1970 auf traditionellere Darbietungsformen besinnt. Wie bei seiner Zusammenarbeit mit De Santis in den 1950er Jahren wird ihm hier die traditionelle Volkskultur zum Bezugspunkt: Es geht ihm darum, seine antinaturalistisch gestalteten Filme in die authentischen Darstellungs- und Unterhaltungsgebräuche der arbeitenden Bevölkerungsschichten einzugliedern. Eine Werkdarstellung, die sich wesentlich auf die werkbezogenen Kommentare des Filmemachers stützt, läuft Gefahr, das längst ad acta gelegte Theoriekonzept des auteur zu reproduzieren. Deren Obsoleszenz gilt heutzutage fast
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1.4 Konzeption der Werkanalyse
schon als filmwissenschaftlicher Allgemeinplatz. Das Konzept geht bekanntermaßen auf die Lektüremethode der politique des auteurs zurück, mit der Mitte der 1950er Jahre die jungen Redakteure der Cahiers du Cinéma den Regisseur als federführende Kraft der Filmgestaltung gegenüber dem Drehbuchautor in Stellung bringen. Hierbei wird der Regisseur eingedenk seiner spezifischen Persönlichkeit zur einzigen bedeutungsstiftenden Größe seines Gesamtwerks verabsolutiert.12 Petri, der als Zeitgenosse diese Entwicklung miterlebt, kritisiert zeit seines Lebens in klassisch marxistischer Manier die Vorstellung des autonomen Schöpfersubjekts als bürgerliches, retardiertes Kunstideal. Wird gerade in der Auseinandersetzung mit seinen Regiearbeiten implizit noch eine solche Auffassung vertreten, so scheint das wichtigste Anliegen der Interpreten darin zu bestehen, Petri im Nachhinein als verkannten auteur aufzuwerten. In seiner Kritik an der auteur-bezogenen Werkanalyse zeigt Jan Distelmeyer, dass es die Filme vom Image des Autorenfilmers zu trennen gilt. Dieses versteht er als medial konstruiert: Die ›Medienfigur‹ des auteur beschreibt er als Produkt massenmedialer Selbstinszenierungen des Regisseurs sowie der Zuschreibungen der Filmkritik, -wissenschaft und -industrie (vgl. Distelmeyer 2005: 41 f.). Was Distelmeyer bei Oliver Stone an einem Regisseur des Gegenwartskinos aufzeigt, gilt im Prinzip auch schon für Petris Kommentare zum eigenen Werk und die zeitgenössischen Kontroversen um seine Filme. Wie oben gezeigt, fungieren diese Äußerungen in der Auseinandersetzung mit seinen Regiearbeiten noch heute als maßgebende Interpretationshorizonte. Statt die Filmbetrachtung auf einen so vorgegebenen Rahmen zu beschränken, werden solche Stellungnahmen und Urteile bei Distelmeyer selbst zum Gegenstand kritisch-systematischer Reflexion – verstanden als Bedeutungszuschreibungen, die ihrerseits einen historischen Index besitzen und synchron wie diachron in Konkurrenz stehen. Nach Janet Staiger, die einem historisch-materialistischen Ansatz folgt, gewinnen im Laufe der Zeit bestimmte Bewertungen und Lesarten die Oberhand, während andere dementsprechend marginal bleiben (vgl. Staiger 1992: 93). In den theoretischen Debatten über den politischen Film ist die von Distelmeyer und Staiger beschriebene Konkurrenzsituation besonders ausgeprägt. Sowohl an Petris Kommentaren und Polemiken als auch den Reaktionen seiner Kritiker wird exemplarisch offenbar, dass dort weit mehr auf dem Spiel steht als die Vorrangstellung im spezialisierten Diskurs über die Kinematografie: Die Debatten sind letztlich auf die Aushandlungsprozesse um die Organisation von Gemeinschaft gerichtet. In der Geschichtsschreibung des politischen Films wird
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Zur Entstehung und filmwissenschaftlichen Rezeption des Konzepts vgl. Felix 2014.
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
oft vernachlässigt, dass das Medium aufgrund seiner angenommenen Wirkungspotenziale in diesem Sinn selbst zum Politikum werden kann.13 Schon der Neorealismus rückt wegen seiner gesellschaftsbildenden Qualitäten, die ihm seine Macher und Befürworter ebenso wie seine Kritiker zuerkennen, in das Zentrum eines über die Filmkultur hinausgehenden Konflikts. So ringen kommunistische und katholische Gruppierungen um die Deutungshoheit über diese sehr überschaubare Anzahl an Filmen: Beide Lager sehen im Neorealismus die Möglichkeit, die Durchsetzung ihrer weltanschaulichen Prinzipien in der Neuformation der italienischen Gesellschaft zu forcieren. Die christdemokratisch dominierten Regierungen, die sich vor allem an seiner sozialkritischen Variante stören, erschweren gar durch restriktive Zensur- und Fördermaßnamen die Produktion weiterer Filme (vgl. Kirsten 2014: 80–83). Das cinema politico wird später dann von Konflikten begleitet, die ausschließlich im linkspolitischen Milieu verortet sind. Ortoleva spricht hierbei treffend von einem ›Parallelogramm der Kräfte‹: Mit der Politisierung der Zivilgesellschaft werden auch neue, nicht professionelle Akteure im Filmbereich aktiv, während sich zugleich eine intensive Diskussion um die Funktionalisierbarkeit des Mediums für den Klassenkampf entfaltet. An dieser partizipieren charakteristischerweise sowohl politisierte Filmschaffende und -theoretiker als auch politische Gruppierungen (vgl. Ortoleva 2009: 153–159). Die Forschung zum italienischen Nachkriegskino hat sich daher ebenfalls bereits mit der Frage beschäftigt, wie historiografisch mit den zeitgenössischen Debatten über den Film und das Kino umzugehen ist. Hierbei dominieren im Grunde rein rezeptionsgeschichtliche Perspektiven. Dies ist auch bei Bisoni der Fall, der sich ja mit Petri als repräsentativem Beispiel dem cinema politico annähert. Er schließt seinerseits an Casetti und Malavasi an, die den Neorealismus als ›Rhetorik‹ konzipieren: Mit diesem Begriff zielen sie auf die gesellschaftlichen Effekte, die von neorealistischen Stilmitteln hervorgerufen werden (vgl. Casetti / Mala vasi 2003: 186–190; Casetti 2009: 134 f.). Legt Bisoni beim cinema politico nun das Gewicht auf die sozialen Diskurse, die einen filmischen Stil begleiten, so ist für ihn von Interesse, ob dieser unterstützt und so erst als Produkt seiner Entstehungskultur ›authentifiziert‹ wird. Er geht hier letztlich nur auf die politisierte, als einflussreich erachtete Fachkritik ein, die Petri und anderen ›politischen‹ Filmemachern diese Anerkennung verweigert (vgl. Bisoni 2007). Ähnlich wie Bisoni räumt Klinger in ihrer Studie zu Douglas Sirks Melodramen akademischen Kritikern eine besondere Stellung ein, indem sie sie als
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Zu dieser Problematik anhand filmischer Realismen vgl. Kirsten 2014: 78 f.
1.4 Konzeption der Werkanalyse
»institutions of evaluative authority« (Klinger 1994: 2) behandelt. Schließlich interpretieren Filmkritik und -wissenschaft filmische Werke qua Profession: Gegenüber anderen Instanzen beanspruchen sie, die Bedeutung ihres Betrachtungsobjekts theorie- und methodengeleitet herauszupräparieren. Nun obliegt in Italien die systematisierende Einordnung des Films und des Kinos als kulturellen, ästhetischen Phänomenen bis in die 1970er Jahre hinein der Filmkritik. Petris wiederholte Konflikte mit den Kritikern legen Zeugnis davon ab, dass diese durchaus als ›Bewertungsinstanzen‹ anerkannt werden und ihrerseits einen solchen Rang dezidiert einfordern; nicht zuletzt dadurch, dass sie Petri die Deutungsautorität über sein eigenes Werk aberkennen. Für Klinger sind nun aber auch solche »interpretations and values […] ›contingent,‹ radically dependent on the positions and needs of those involved in institutions of evaluative authority« (ebd.). Die Interpretationsarbeit der italienischen Filmkritiker ist eben politisch motiviert. Spätestens seit A ciascuno il suo sehen sie bei Petri ihre wichtigste Aufgabe darin, die Wirksamkeit seiner Filme zugunsten des bestehenden Unrechtssystems aufzudecken. Der Regisseur zeigt sich seinerseits stets darum bemüht, seine Ansichten durch Bezüge zur Soziologie und Psychologie sowie der Kultur- und Kunstgeschichte zu fundieren. Seine poetologischen Kommentare markieren mithin den Versuch, das eigene Schaffen in übergeordnete Zusammenhänge einzuordnen, dadurch plausibel zu machen und letztlich zu legitimieren – immer mit dem Ziel, verfestigte Haltungen zu relativieren und einen Dialog zwischen den Kulturschaffenden in Gang zu setzen. Durch Interviews, Kommentare in Zeitungen und Zeitschriften, Beiträge zu Fachtagungen, Podiumsdiskussionen oder Pressekonferenzen versucht der Regisseur, die Rezeption seines Werks für alternative Leitmodelle eines politischen Films zu sensibilisieren. Daher lassen sich die Befunde der Reception Studies auch gegen solche Lesarten anführen, die sich dezidiert auf die Figur des Produzenten richten: Gerade an Petri zeigt sich, dass im Sinne Klingers nicht nur fremde Interpretationen kontingent, also von den sozial geprägten Subjektpositionen und Bedürfnissen abhängig sind, sondern auch die Deutungsangebote des Filmemachers selbst; auch ihnen liegen politische Zielsetzungen zugrunde, die sich präzise beschreiben lassen. Bei Petri zeichnet sich hierbei zwar auch ganz konkret das Ziel einer liberaleren Filmpolitik ab: Durch eine Verständigung zwischen den Filmschaffenden soll der Druck auf politische Entscheidungsträger erhöht werden, um einem antikonformistischen Kino mehr Handlungsfreiraum, mithin bessere Wirkungsmöglichkeiten in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu verschaffen. Dies setzt innerhalb der progressiv ausgerichteten Filmkultur allerdings einen Konsens über den politi-
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
schen Umgang mit dem Medium Film voraus, sodass er schon früh durch intensive Diskussionen individualistischen und spalterischen Tendenzen entgegenzuwirken versucht. Gegenüber Bisoni berücksichtigt das von Ortoleva beschriebene Modell eines ›Parallelogramms der Kräfte‹ sowohl die Rezeptions- als auch die Produktionsseite: Es trägt ja der Tatsache Rechnung, dass sich eine Vielfalt an Akteuren unterschiedlicher ideologischer Orientierung und politischer Zielsetzung auch diskursiv mit dem politischen Film auseinandersetzt, miteinander konfligiert, sich aber auch gegenseitig beeinflusst. Dementsprechend lassen sich die verschiedenen Positionen als spezifische Ausprägungen innerhalb eines Paradigmas verorten und in Relation zueinander setzen. Petris filmpoetologische Kommentare gewinnen ihr Profil also im Verhältnis zu den jeweils differierenden Standpunkten, den mit diesen verknüpften Bewertungsschemata und den daraus hervorgehenden Konfliktlinien, die sich innerhalb der Debatten um den politischen Film abzeichnen. Besonderes Augenmerk liegt im Folgenden auf den Bezügen und Abgrenzungen, die der Regisseur in den Erläuterungen seiner Konzeptionen vornimmt. Hierbei treten im Verlauf einer rund 30-jährigen Beschäftigung mit dem Kino sowohl signifikante Verdichtungen und Kontinuitäten als auch Änderungen zu tage, wie etwa der neuerliche Bezug zu volkskulturellen Traditionen zeigt. Auf diese Weise wird letztlich die rhetorische Organisation der poetologischen Kommentare erkennbar, mit denen Petri sein Modell in die italienischen Debatten einbringt und verteidigt. Unter Berücksichtigung ihrer pragmatisch-strategischen Ausrichtung lassen sie sich kritisch im Verhältnis zu den Filmen diskutieren, die in ihren ästhetischen Macharten filmhistorisch differenzierter erfasst werden können.
1.5 Korpus Um Elio Petris Werk auf die beschriebene Weise in der Geschichte des politischen Films verorten zu können, ist eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs notwendig. So werden zum einen seine filmpoetologischen Reflexionen erstmals umfassend aufgearbeitet. Zum anderen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich sein praktisches Werk nicht auf die fiktionalen Langfilme für das Kino reduzieren lässt: In der stilistischen wie medialen Vielfalt wird letztlich die Pluralisierung der Medienkultur Italiens greifbar, die auch dem politischen Film neue Möglichkeiten eröffnet. Dabei ist das Verzeichnis der Filme, die zur Vorführung im Lichtspielhaus vorgesehen sind, verhältnismäßig übersichtlich; aufgrund sei-
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1.5 Korpus
nes frühen Todes kann Petri zwischen 1961 und 1979 insgesamt nur elf abendfüllende Spielfilme für das Kino drehen. Dieses Korpus lässt sich zunächst um die 15 Kinofilme, an denen Petri zwischen 1951 und dem eigenen Regiedebüt mitwirkt, erweitern: Dazu gehören so unterschiedliche Filme wie Guido Brignones Historienporträt Quando tramonta il sole, Aglauco Casadios Komödie Un’ettaro di cielo und Gianni Puccinis Kriegsdrama Il carro armato dell’8 settembre; nicht bei jedem tritt so deutlich der politische Impetus zutage wie bei Giuseppe De Santis’ Sozialdrama Roma ore 11. Ein kurzer Überblick über die Vorgeschichte zu Petris eigener Regietätigkeit unterminiert zunächst die oft vertretene, autorenzentrierte Argumentation, die Genese seines Kinos sei auf die ›Lehrzeit‹ bei De Santis zurückzuführen. Darüber hinaus lässt sich mit diesen oft nicht kanonisierten Werken ein facettenreicheres Bild des politischen Kinos in Italien nach dem proklamierten ›Tod‹ des Neorealismus konturieren, oder anders perspektiviert: vor den um 1960/61 einsetzenden Erneuerungstendenzen, die auch Petris theoretisches Denken und praktisches Schaffen affizieren. In diesem Zeitraum entstehen vier weitere Arbeiten, die noch im Zusammenhang mit dem neorealistischen Paradigma zu sehen sind. Hierzu gehören zum einen Petris Vorrecherchen zu De Santis’ Filmen Roma ore 11 und Giorni d’amore (1954): zwei faktuale Texte, die auf Betroffenen- und Augenzeugenberichten basieren. Handelt es sich hierbei eigentlich nur um Vorarbeiten, so sind insbesondere Petris Recherchen zu Roma ore 11 hervorzuheben, da sie 1956 in Buchform publiziert werden und so gegenüber De Santis’ Film Eigenwert gewinnen. Andererseits wird Petri erstmals selbst als Regisseur tätig, als er zwei Kurzdokumentarfilme dreht, Nasce und campione (1954) und I sette contadini (1957). Gerade an Letzterem wird die widersprüchliche Situation des italienischen Dokumentarfilms dieser Zeit offenbar: Zwar verhandeln die Filme oftmals deutlich offener politische Themen als das fiktionale Kino, sie fallen in ihren Erzähl- und Gestaltungsweisen aber wesentlich konventioneller aus. Das filmpraktische Werk wird dann durch zwei weitere Projekte, an denen sich Petri 1963/64 als bereits etablierter Regisseur beteiligt, ergänzt. So dreht er parallel zu Il maestro di Vigevano die Episode Peccato del pomeriggio für den Omnibusfilm Alta infedeltà. Die zweite Filmbeteiligung, Nudi per vivere, ist dagegen im Bereich der damals populären Dokufiktionen anzusiedeln. Das Porträt von Paris als ›Stadt der Liebe‹ entsteht als Gemeinschaftsarbeit mit den Filmemachern Giuliano Montaldo und Giulio Questi, wie schon das Regie-Akronym ›Elio Montesti‹ ausweist. Ebenso wenig berücksichtigt werden bislang die Werbespots, die Petri 1966 und 1969 dreht; dabei handelt es sich um seine ersten Engagements für das italienische Fernsehen. Diesen kommerziellen Tätigkeiten
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
völlig entgegen stehen zwei ›militante‹ Projekte aus den Jahren 1969/70, die außerhalb des etablierten Systems produziert und vertrieben werden: Neben Documenti su Pinelli über den mysteriösen Tod eines Mailänder Anarchisten entsteht für die von Cesare Zavattini ins Leben gerufenen Cinegiornali liberi ein Interview mit dem Studentenführer Daniel Cohn-Bendit. Eine besondere Stellung nimmt die dreiteilige Verfilmung von Sartres Bühnenstück Les mains sales ein, die Petri 1978 für das Theaterprogramm des RAIFernsehens dreht. Hier gilt es in der Betrachtung den medialen Spezifika der Television Rechnung zu tragen, die sich Ende der 1970er Jahre zu einem attraktiven Betätigungsfeld für Kinoregisseure entwickelt. Petri wird auch im Theaterbereich aktiv, als er 1981 für das Genueser Teatro Stabile Arthur Millers The American Clock inszeniert. Diese spielt in rein (kino-)filmgeschichtlichen Betrachtungen seines Schaffens fast zwangsläufig keine Rolle; eine Einordnung wird zudem dadurch erschwert, dass von der Vorführung keine audiovisuellen Aufzeichnungen vorhanden sind. Der Seitenblick auf seine einzige Theaterregie stützt sich daher auf den zugrunde liegenden Dramentext, Szenenfotos sowie zeitgenössische Presseberichte. Kurz aufgeführt werden in den Kapiteln zu den einzelnen Schaffensphasen auch verschiedene nicht realisierte Projekte. Im Umgang mit diesen Arbeiten zeichnen sich bereits Priorisierungstendenzen ab: So wird in den Texten und Büchern über den Filmemacher des Öfteren das Drehbuch von Nostra signora Metredina angeführt, das Petri 1969 zugunsten von Indagine hintanstellt; ebenso bekannt sind seine Bemühungen um einen Film mit dem Titel Zoo (1977), bei dem Jack Nicholson als Hauptdarsteller engagiert werden sollte. Das Drehbuch seines letzten Filmprojekts Chi illumina la grande notte? wird manchmal gar als posthumes Werk behandelt, da Petri kurz vor dem Start der Dreharbeiten stirbt. Mit solchen nicht umgesetzten Filmen lässt sich die Genese seines praktischen Werks differenzierter betrachten: Sie können im Rahmen einer Parallellektüre dazu beitragen, die Kernthemen und Strukturen der bestehenden Regiearbeiten zu erhellen, machen aber auch die Kontingenz und die Widersprüchlichkeiten der Entwicklungen innerhalb des Werks deutlich. Nicht berücksichtigt wird im Folgenden der Umstand, dass Petri bei den filmischen Arbeiten für jedes der Drehbücher verantwortlich zeichnet. Ebenso spielen die Skripte selbst für die Analyse keine Rolle. Es geht mithin nicht um die Annäherung an empirische Produktionsprozesse, auf die die ästhetische Beschaffenheit der Filme zurückgeführt werden könnte. Dementsprechend werden auch die Eingriffe der Zensurbehörden oder die Einflussnahme durch Produzenten vernachlässigt. Die Filme interessieren in ihrer finalen Form als Artefakte, die unter der Regie von Elio Petri entstanden und aufgrund dessen
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1.5 Korpus
im öffentlichen Diskurs wie der Filmgeschichtsschreibung mit seinem Namen assoziiert sind. Im Vergleich zum praktischen mutet das theoretische Schaffen ähnlich vielfältig an. Dabei hat der italienische Filmemacher nie eine zusammenhängende, in sich geschlossene poetologische Schrift verfasst. Stattdessen existiert eine Vielzahl profunder Kommentare und Reflexionen, die thematisch ein weites Spek trum umfassen: Petri beschäftigt sich hierbei mit dem Kino, der Kunst und den Medien, stets mit Blick auf ihre ordnungsverändernde oder -konsolidierende Kraft. Aus solchen Überlegungen entwickelt er seine Konzeption einer antinaturalistischen Ästhetik, mit der es möglich sein soll, den Zuschauern die bestehenden Repressionsverhältnisse bewusst zu machen. Ebenso auffällig wie die Anzahl der Kommentare ist die Vielfalt der Darstellungsformen, über die Petri seine Ansichten darlegt. Meist äußert sich der Filmemacher im Rahmen von Interviews und Fragebögen, von denen Ballérini et al. (1974), Tassone (1980) sowie Faldini / Fofi (1981/84) nur die umfassendsten sind. Neben zahlreichen Kommentaren, die in Printmedien veröffentlicht werden, sind auch wenige audiovisuelle Aufzeichnungen von Gesprächen für Kinowochenschauen sowie Fernsehmagazine vorhanden. Charakteristischerweise fallen seine Repliken stets sehr ausführlich aus, zeigt sich ihr Autor doch stets um Systematisierung und historische Vertiefung bemüht. Zudem verfasst Petri verschiedene Beiträge für Zeitschriften, Zeitungen und Buchpublikationen, Briefe, Kritiken, Arbeitsnotizen für realisierte und nicht umgesetzte Projekte sowie einige Textentwürfe, die zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Ein Großteil dieser Schriften findet sich im Nachlass des Regisseurs, der vom Archiv des Turiner Museo Nazionale del Cinema verwaltet wird; einige der dort verwahrten Dokumente sind bereits im Rahmen der genannten anthologischen Bände und Ausstellungskataloge herausgegeben worden. Ebenfalls im Nachlass enthalten sind Entwürfe, Durchschläge und Korrekturfahnen seiner Interviews und Artikel. Da die Filmpoetologie des Regisseurs im Vordergrund steht, interessieren vor allem solche Äußerungen, in denen seine Haltung zu filmbezogenen und ästhetischen Themen deutlich werden oder inhaltlich-thematisch eine Verbindung zu den eigenen Regiearbeiten erkennbar ist. Nicht alle der potenziell verfügbaren Quellen werden daher in die Betrachtung miteinbezogen. Petri wird beispielsweise des Öfteren aufgrund seiner öffentlichen Reputation als profilierter, politisch interessierter Filmemacher zu zeitaktuellen Themen befragt, ohne dass er dabei einen Bezug zu seinem eigenen Schaffen herstellt. Ebenso ausgeschlossen bleiben rein persönliche Korrespondenzen, Rezensionen von Filmen anderer Regisseure und Kommentare zu Kunstausstellungen, wie sie Petri vor allem gegen Ende seiner Karriere verfasst hat. Der Regisseur nimmt hier wieder eine
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1. Elio Petri – eine kontroverse Figur des politischen Films
Tätigkeit auf, der er bereits in seiner Anfangszeit parallel zu seinen Beschäftigungen als Drehbuchautor und Regieassistent nachgegangen war: Dort war er allerdings noch um die Verständigung über ein politisches Kino nach dem Neorealismus bemüht, während sich seine späteren Kritiken tatsächlich nur für den jeweiligen Film oder das Kunstwerk interessieren. Wird nun die Genese von Petris Schaffen im historischen Verlauf nachgezeichnet, so bietet es sich an, verschiedene Phasen einzuteilen. Üblicherweise wird nur die rund 20-jährige Laufbahn als Spielfilmregisseur erfasst, wobei der Wendepunkt, den Petri selbst 1968/69 ansetzt, unhinterfragt bleibt. Im Folgenden interessieren dagegen auch seine Tätigkeiten vor dem Spielfilmdebüt. Betrachtet man dann ausschließlich die Verdichtungen und Veränderungen innerhalb seines (film-)praktischen und poetologischen Werks, so lassen sich vier Zeitabschnitte differenzieren: die Anfangsphase 1951 bis 1960, die seine Arbeiten als Rechercheur, Drehbuchautor und Kurzfilmregisseur umfasst; der Beginn als Spielfilmregisseur in den Jahren 1961 bis 1965; die Etablierungszeit als maßgebender Vertreter des cinema politico 1966 bis 1976; und die Schlussphase 1977 bis 1981, die im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Fernsehen und dem Theater steht. Diese Einteilung orientiert sich demnach weder an Petris Biografie noch an externen Faktoren und Zäsuren. Es zeigt sich allerdings deutlich, dass die sozialen, politischen und medienkulturhistorischen Entwicklungen in dieser Zeit starken Einfluss auf seine Konzeptionen des politischen Films haben.
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2.
Politischer Film nach dem Neorealismus: vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
Elio Petris Tätigkeiten der 1950er Jahre werden bislang kaum beachtet, weil er in dieser Zeit hauptsächlich anderen Regisseuren zuarbeitet: als Rechercheur, Mitverfasser des Drehbuchs, Regieassistent und sogar als Nebendarsteller. Bei einer autorenzentrierten Annäherung fällt es daher schwer, für diese Phase ein kohärentes Bild seines Schaffens zu rekonstruieren. Petris Zusammenarbeit mit bestimmten Filmemachern kann wiederum zu der Annahme verleiten, dass diese die Entwicklung seines eigenen Werks beeinflussen. Ebenso scheinen die Kommentare zur Situation des italienischen Kinos, die der angehende Filmemacher in der Kulturzeitschrift Città aperta publiziert, auf die eigenen Regiearbeiten vorauszuweisen. Schließlich formuliert er hier, mithin schon vor seinem Spielfilmdebüt, konkrete Ideen, wie ein zeitgemäßer politischer Film beschaffen sein muss. Solchen Verengungen und Kurzschlüssen steht die tatsächliche Vielfalt an Themen, Stilen, Genres, Gattungen und auch Medien gegenüber, die Pe tris Arbeiten der 1950er Jahre in der Gesamtschau kennzeichnet. Gerade mit Blick auf die Geschichte des politischen Films in Italien dürfen Petris breitgefächerte Tätigkeiten aus dieser Zeit keineswegs unbeachtet bleiben. Denn darin werden die Widersprüchlichkeiten und Konflikte offenbar, die das damals noch gültige Realismusverdikt generiert – etabliert durch den Neorealismus, der zwar ad acta gelegt, aber künstlerisch und eben politisch nach wie vor als Leitmodell hochgehalten wird. Die Theoriedebatten kreisen dabei um die Frage, wie dieses angesichts des sich konsolidierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie der nationalen Auswirkungen des Kalten Kriegs weiterentwickelt und aus seiner Krise geführt werden kann. Es finden verschiedene Fachtagungen statt, bei denen einschlägige Filmschaffende und Kritiker diese Problematik erörtern: im September 1949 in Perugia, im Dezember 1953 in Parma, im März 1954 in Rom und im September 1954 in Varese. Dabei verhärten sich zusehends die Fronten zwischen den kommunistisch und katholisch orientierten Diskutanten. Als wichtige Foren der Debatte fungieren weiterhin die Fachzeitschriften Cinema, Bianco e Nero und die 1952 gegründete Cinema Nuovo, die sich von einem dezidiert marxistischen Standpunkt aus um die Erneuerung des Neorealismus bemüht. Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge des jungen Elio Petri nicht zu unterschätzen: Schließlich fordert er nichts Geringeres als das Ende der Diskussion um das neorealistische Erbe, begleitet von dem Versuch, selbst Perspektiven für den politischen Film aufzuzeigen.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
2.1
Petri in der postneorealistischen Debatte
Erst mit seinen Artikeln für Città aperta ist Elio Petri als autonome Stimme in der Fachdebatte um den politischen Film Italiens zu vernehmen, sprich zu einem Zeitpunkt, als der bereits etablierte Drehbuchautor auch erste Regieerfahrungen gesammelt hat. Es ist naheliegend, dass er innerhalb der überwiegend aus Künstlern und Literaten zusammengesetzten Redaktion federführend das Filmressort betreut. Die neun Texte, die Petri in der kurzen Erscheinungszeit von Città aperta 1957/58 verfasst, sind in ihrer Anlage recht vielfältig: Neben Kommentaren zum Gegenwartskino und den Werken einzelner Regisseure veröffentlicht er kurze Drehbuchskizzen und sogar offene Briefe. Gemeinsam ist diesen so unterschiedlichen Beiträgen der Fokus auf die aktuelle Situation und die Zukunft eines ordnungskritischen Kinos in Italien. In Petris Texten kommt nun jeweils das Bemühen zum Ausdruck, innerhalb der Debatte einen neuen Blickwinkel zu eröffnen und so auch der Filmpraxis neue Impulse zu geben. Er sieht das heimische Kino nicht nur infolge politischer Einschränkungen, der sich konsolidierenden Filmindustrie und der veränderten Lebensgewohnheiten der Italiener in der Stagnation begriffen, sondern auch aufgrund der intellektuellen Trägheit der Filmschaffenden und -theoretiker. In diesem Zuge stellt er die film- und kulturtheoretischen Strömungen infrage, die zu diesem Zeitpunkt die Diskussionen in Italien dominieren: den postneorealistischen Dokumentarismus und den Neomarxismus Gramscianischer Prägung. Als elementar zu betrachten ist der Artikel Il cinema italiano: un elefante castrato, den Petri in der vierten Ausgabe von Città aperta veröffentlicht (vgl. Petri 2007f [1957]). In seinem kritischen Abriss über die Situation des italienischen Kinos seit dem Ende des Faschismus wird erkennbar, dass er vorrangig darauf abzielt, die marxistisch orientierten Film- und Kulturschaffenden zu einem Umdenken zu bewegen: Aus der Sicht von Petri, der sich ja selbst diesem Lager zurechnet, dominieren sie in Italien zwar die öffentliche Auseinandersetzung um das Kino, können diese letztlich aber nicht effektiv weiterentwickeln. Seinerseits kommunistisch geprägt, bemüht er sich um eine Perspektive, die sich über die Grenzen der Parteienzugehörigkeit bzw. -präferenz hinwegsetzt. Er entspricht damit der Redaktionslinie von Città aperta, die sich als unabhängiges Dialogforum allen progressiven Kräften anbietet; der PCI wird von Petri aufgrund seiner desinteressierten Haltung und mangelnder Unterstützung gar offen kritisiert (vgl. ebd.: 59). Wie sehr sich der angehende Filmemacher dem Ziel einer gemeinsamen Richtung unter den Marxisten verpflichtet sieht, zeigen eindrücklich seine offenen Briefe an den sozialdemokratisch orientierten Regisseur Pietro Germi und den Filmkritiker Filippo M. De Sanctis: Darin beklagt er jeweils den weit verbreite-
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2.1 Petri in der postneorealistischen Debatte
ten Antikommunismus, der für sein Dafürhalten einen produktiven Austausch innerhalb des linken Spektrums verhindert (vgl. Petri: 2007b [1957]; 2007g [1958]). Petri geht es darum, eine sich nur noch an theoretischen Fragen abarbeitende Diskussion abzuschließen und im Kino ebenso wie in der Literatur und der bildenden Kunst einen vitalen Realismus zu befördern – nicht verstanden als spezifische Stilrichtung, sondern als kritische Beschäftigung mit den elementaren Herausforderungen der Gegenwart. Diese bestehen für Petri vor allem in den inneren Widersprüchlichkeiten des menschlichen Individuums, die aus seiner Sicht maßgeblich zur Festigung des bürgerlich-kapitalistischen Systems beitragen. Die Vorbilder für ein solches ›realistisches‹ Kino findet er bezeichnenderweise in den Werken ausländischer Filmemacher: Die italienischen Regisseure müssten nach dem Verlust ihrer internationalen Vorreiterrolle, die sie mit dem Neorealismus gewonnen hatten, den Rückstand aufholen, um auch im eigenen Land unter den zeitspezifischen Bedingungen die gesellschaftsbildende Kraft des Kinos erhalten zu können.
2.1.1 Formalistisches Impasse: zwischen Neorealismus und Realismus
Petris Texte der 1950er Jahre sind dabei von der Auseinandersetzung mit dem theoretischen Erbe Antonio Gramscis, dem 1937 verstorbenen Generalsekretär des PCI, geprägt. Im Zuge seiner Arbeit bei Città aperta revidiert Petri nun seine frühesten Ansichten über ein postneorealistisches Kino, die er wenige Jahre zuvor gemeinsam mit Giuseppe De Santis und Gianni Puccini vorgebracht hatte: Noch im Dezember 1954 hatten sie ihren Film Giorni d’amore auf den Seiten von L’Unità als ›Übergang zum Realismus‹ verteidigt. Die drei Autoren hatten die charakteristische Gestaltungsweise des Films als Versuch dargestellt, den dokumentarischen Ansatz eines als Alltagschronik (miss-)verstandenen Neorealismus hinter sich zu lassen (vgl. De Santis / Puccini / Petri 1954). Erklärten sie hierbei die ›große italienische Erzählkunst‹ Giovanni Boccaccios, Carlo Goldonis oder Giovanni Vergas zum Leitbild, so hatte De Santis an anderer Stelle diese Bezugnahmen durch Gramscis Thesen zur national-popularen Literatur fundiert (vgl. De Santis 1981 [1954]: 260). Gramsci besitzt mit seinen Letteri und Quaderni del carcere, die zwischen 1947 und 1951 erstmals publiziert werden, zu diesem Zeitpunkt bereits enorme Bedeutung für das kommunistische Milieu Italiens. Der PCI stützt sich maßgeblich auf diese Schriften, um einen spezifisch italienischen Weg zum Sozialismus auszuarbeiten (vgl. Ajello 1997: 77–112; Kroll 2007: 464–474). In diesem Zusammenhang macht die Partei kulturelle Hegemonie zu einem zentralen Punkt ihres
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
politischen Programms. Mit dem Konzept der Hegemonie stellt Gramsci be kanntermaßen die orthodox marxistische Annahme infrage, dass die ökonomische Basis die Verhältnisse im Überbau bestimmt. Demgegenüber hält er es für erforderlich, dass die Arbeiterklasse zunächst moralisch und geistig die Führung der Zivilgesellschaft übernimmt, um durch Konsens und freiwilliges Einverständnis dann auch auf politisch-staatlicher Ebene die Vormachtstellung übernehmen zu können. Dieser konfliktreiche Vorgang vollzieht sich nach Gramsci auf dem Gebiet des sog. Alltagsverstands (ital. senso comune), worunter er ein historisch gewachsenes, inkohärentes Ensemble dominanter Einstellungen, Bräuche und Alltagspraktiken versteht. Künste, Medien und kulturelle Institutionen sind hier von entscheidender Relevanz: Im Prozess der Konsensbildung fungieren sie als Durchsetzungsmittel und werden dadurch selbst zum Austragungsort des Kampfes um Vorherrschaft (vgl. Marchart 2006: 53). Der PCI bemüht sich daher intensiv darum, Künstler und Kulturschaffende in seinem Umfeld zu versammeln. Befördert wird in diesem Zuge Gramscis Idealbild des organischen Intellektuellen, der im Austauschprozess zwischen der Partei und der Bevölkerung als vermittelnde wie erziehende Instanz fungiert. Hierdurch wird kommunistisch orientierten Filmschaffenden wie De Santis, Puccini und Petri die Möglichkeit gegeben, die politische Dimension ihrer Kinoarbeit auch theoretisch zu untermauern und zu legitimieren. Film- und Kulturzeitschriften wie Cinema Nuovo oder eben Città aperta bieten sich als Plattformen an, um sich über die Mittel und Wege zu verständigen, mit denen das Ziel einer solchen politischen Strategie erreicht werden kann: Es geht im Sinne Gramscis um eine von den subalternen Klassen geprägte ›neue Kultur‹.14 Innerhalb der Kultur- und Filmtheorie setzen sich die Marxisten so zum einen von der idealistischen Ästhetik Benedetto Croces und Giovanni Gentiles ab, die bis dahin in Italien maßgebend ist. Noch in Un elefante castrato mokiert sich Petri darüber, dass ein Film wie Roma città aperta seinerzeit nur nach kunstphilosophischen Kategorien beurteilt wird (vgl. Petri 2007f [1957]: 53). Die idealistisch geprägten Filmtheoretiker sind in der Nachkriegszeit vor allem noch damit beschäftigt, ihren Gegenstand als eigenständige Kunstgattung zu definieren und zu etablieren. Hierfür versuchen sie, den Film von den anderen Künsten abzugrenzen, indem sie ein wesenskonstitutives Alleinstellungsmerkmal definieren, das specifico filmico. Es ist Luigi Chiarini, langjähriger Direktor des Centro Sperimentale und Chefredakteur von Bianco e Nero, der das filmische Spezifikum im
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Zur Rezeption von Gramscis Schriften in der italienischen Filmkultur vgl. Schaefer 2018: 45–52.
2.1 Petri in der postneorealistischen Debatte
Realitätsbezug sieht, verstanden als künstlerische Erarbeitung von Wirklichkeit (vgl. Chiarini 1952: 139; 1954: 63–67). Finde der Film als Kunstgattung seine Reinform dementsprechend im Dokumentarfilm, so sei es der Neorealismus, der ihn auf sein ›natürliches Material‹, die Wirklichkeit, verweise (vgl. Chiarini 1952: 139; 1954: 63). Zum anderen wenden sich die Marxisten gegen einen neuen Dokumentarismus, der maßgeblich von Cesare Zavattini vertreten wird. Zavattini, der als Drehbuchautor unter anderem an den einschlägigen Filmen von De Sica beteiligt ist, versucht nun, den neorealistischen Ansatz weiterzuentwickeln. Er versteht seine Entwürfe als Formen eines gesellschaftsanalytischen Kinos, das anhand einzelner, konkreter Phänomene soziale Gesamtzusammenhänge einsichtig werden lässt (vgl. Zavattini 1952; 1954). Ähnlich wie Chiarini – der aufgrund seiner idealistischen Prägung primär um den Kunstwert bemüht ist – geht er hierbei von einer naturgegebenen Bindung des Films an die Wirklichkeit aus. Daraus leitet Zavattini die Erkenntnisfunktion des Mediums ab: Allein dadurch, dass der Film dem Menschen seine Lebenswelt konkret vor Augen führe, sei es diesem möglich, ihre Gesetzmäßigkeiten zu verstehen und dazu beizutragen, sie zu verändern (vgl. Zavattini 1979 [1950]: 71). Zavattini zielt darauf ab, jedes inszenatorische, mithin fiktionalisierende Moment in der filmischen Darbietung außerfilmischer Wirklichkeit zu eliminieren. So soll verhindert werden, dass vorab entwickelte Ideen, Konzepte oder Narrative die Begegnung des Filmemachers mit seiner Umwelt bestimmen. Hierfür arbeitet Zavattini verschiedene Methoden wie die Beschattung (›pedinamento‹) oder die aktive Teilnahme (›convivenza‹) aus, hält aber beispielsweise die Rekonstruktion realer Ereignisse unter Beteiligung der Betroffenen für eine ebenso adäquate Filmpraxis.15 Verfahren wie die Plansequenz ergeben sich zwangsläufig aus den spezifischen Modalitäten des Aufnahmeprozesses: Solche Mittel widersetzen sich dem erzählökonomischen Zwang des kommerziellen Kinos, indem sie den epistemologischen Wert jedes einzelnen Moments und Faktums bedingungslos anerkennen (vgl. Ochsner 2012: 203–213). Es sind nun die marxistischen Kritiker, die diesen Ansatz am schärfsten kritisieren. Aus ihrer Sicht können derart auf die Alltagswirklichkeit beschränkte Filme kaum zum Verständnis der sozialen Ordnung führen, gerade angesichts einer sich konsolidierenden Gesellschaft, in der die individuelle Lebenswelt zuse15
Vgl. zum ›pedinamento‹ Campanile / Zavattini 1979 [1951]. Zur Rekonstruktion anhand seines Umsetzungsversuchs in der Episode Storia di Caterina aus dem Film L’amore in città (1953) vgl. Zavattini 2002a [1952]: 709 f.; 2002b [1952]: 712 f. Zur ›convivenza‹ vgl. Zavattini 2002c [1953]: 743.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
hends komplexer wird. Für ihr Dafürhalten genügt es daher nicht, in der Tradition des Naturalismus und des italienischen Verismus Tatsachen lediglich zu registrieren; eine solch dokumentarische Annäherung bleibe zwangsläufig oberflächlich. Innerhalb des marxistischen Milieus bilden sich daher verschiedene Konzepte eines ›Realismus‹ aus, der jeweils programmatisch gegen den Zavattini’schen Neorealismus in Stellung gebracht wird: All diesen Entwürfen ist der Grundgedanke gemeinsam, dass eine Darstellung sozialer Wirklichkeit sich unbedingt den inszenatorischen und narrativen Mitteln des Films bedienen muss. In der Kritik und Apologie von Giorni d’amore prallen dann zwei der maßgeblichen Positionen aufeinander. Zum zentralen Streitpunkt entwickelt sich hierbei gerade der Umgang mit den Ideen Gramscis. Als gewichtigster Kritiker von De Santis’ Film tritt Guido Aristarco auf, der schon 1950 die Abkehr vom Paradigma des specifico filmico gefordert hatte. Bezeichnenderweise macht er bei seiner Konzeption eines kritischen Realismus explizit die Annäherung von Film und Literatur zum Desiderat. Seine Thesen leitet Aristarco aus György Lukács’ Romantheorie ab: Er legt daher besonders auf die Narration Wert, gilt es doch, den Modus der bloßen Deskription zu überwinden. Ein von ihm als ideal erachteter Film verknüpft demgegenüber die Fakten durch erzählerische Zusammenhänge, um das Zeittypische der Figuren und die gesellschaftlichen Hintergründe, die ihr Handeln bestimmen, herauszuarbeiten. Nur so könne eine Epoche auf umfassende und zugleich kritische Weise dargestellt werden, wie er in der späteren Kontroverse um Luchino Viscontis Historienfilm Senso (1954) feststellt (vgl. Aristarco 1975a [1955]: 859; 1975b [1955]: 897).16 Hierfür wählt Aristarco ein vollkommen anderes Vorbild als Petri, Puccini und De Santis: Während diese den Anschluss an die kulturelle Tradition Italiens suchen, orientiert er sich im Sinne von Lukács vor allem an der Epik Balzacs. Senso versteht er in diesem Sinn als vollkommenes Beispiel eines »romanzo storico cinematografico« (ebd.). De Santis, Puccini und Petri wirft Aristarco eine verkürzte Lesart von Gramscis Thesen zu einer neuen national-popularen Literatur Italiens vor. Er bestätigt zwar, dass sich der Intellektuelle nach Gramsci mit den Präferenzen der Bevölkerung auseinanderzusetzen hat. Allerdings dürfe er sich nicht unkritisch anpassen, sondern solle ihren Geschmack in eine andere Richtung lenken (vgl. Aristarco 1981 [1955]: 274). Aristarco bezieht sich hier auf einen Brief, den De Santis kurz zuvor Cinema Nuovo hatte zukommen lassen: Darin berief sich der Regisseur darauf, dass die von Gramsci zum Idealziel erhobene ›neue Kultur‹ »ihre Wurzeln im
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Zu Aristarcos Position vgl. außerdem Schaefer 2018: 58–63.
2.1 Petri in der postneorealistischen Debatte
Humus der Volkskultur [schlagen muss], so wie sie ist, mit ihren Vorlieben, ihren Bestrebungen usw., mit ihrer moralischen und intellektuellen Welt, auch wenn diese rückständig und konventionell ist« (Gramsci 1996 [1933]: 1777).17 Im Unterschied zu Aristarco folgt De Santis einer streng antihierarchischen, dezidiert volksnahen Selbstauffassung als Kulturschaffender. In der von ihm, Puccini und Petri konzipierten Erneuerung eines als bloß impressionistisch aufgefassten Neorealismus kristallisiert sich demnach ein anderer Fluchtpunkt als bei Aristarco heraus. De Santis zielt vor allem auf Verständlichkeit, die unabhängig von der Altersklasse ebenso wie der sozialen und geografischen Herkunft der Kinozuschauer gewährleistet werden müsse: »Un film deve essere in grado di comprenderlo tanto un bambino quanto un uomo grande, tanto un contadino della mia Ciociaria quanto un tuo operaio di Sesto S. Giovanni, e non soltanto il socio di un cineclub, quel tale e tale altro critico, quel tale o tale altro intellettuale« (De Santis 1981 [1954]: 265). Im Zusammenhang mit einer solchen Vorstellung der Volksnähe nimmt De Santis Gramscis Ausführungen zu einer national-popularen Kunst auch für die ästhetische Ausarbeitung seiner Filme ernst: Gegenüber Aristarco gibt er beispielsweise an, dass Giorni d’amore nach den Prinzipien der Commedia dell’arte und der Opera buffa gestaltet sei (vgl. ebd.: 259). Es ist daher nur konsequent, wenn er seine Arbeiten in eine Linie mit literaturhistorischen Größen wie Boccaccio, Niccolò Macchiavelli, Alessandro Manzoni und Verga stellt (vgl. ebd.: 257); mithin italienischen Literaten, die sich in ihren Werken charakteristischerweise mit der Sprache der popularen Schichten und den Darstellungstraditionen des Volkstheaters auseinandersetzten. Petri selbst greift erst in den 1970er Jahren wieder die Idee auf, dass ein Kino, das sich an die subalterne Bevölkerung richtet, deren kulturellen Gepflogenheiten Rechnung tragen muss. 1957 emanzipiert er sich implizit von De Santis, als er in Un elefante castrato eine zu enge Auslegung von Gramscis Ideen beklagt: Orientieren sich die marxistischen Künstler zu stark an den Traditionen der italienischen Volkskultur, so mündet dies aus Petris Sicht in einer folkloristischen Darstellung des traditionell lebenden Bauerntums. Damit werde ein Problem reproduziert, das seinerzeit schon Gramsci in der zeitgenössischen Literatur Italiens erkannt hatte: Die Bauern erscheinen nur als »pittoreske Vertreter merkwürdiger und bizarrer Gewohnheiten und Gefühle« (Gramsci 1999 [1934]: 2114)18.
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De Santis zitiert diese Stelle in seinem Brief an Cinema Nuovo, vgl. De Santis 1981 [1954]: 265. Petri führt diese Stelle explizit an, vgl. Petri 2007f [1957]: 58.
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Trotz guter Intentionen werde so eben nicht augenscheinlich, wie sehr ihr Leben von Arbeit und Mühsal geprägt sei. Solche primär gestaltungsbezogenen Fragestellungen sind für Petri schlussendlich nachrangig, ja sogar hinderlich. Er beobachtet, wie die marxistischen Intellektuellen sich daran abmühen und infolgedessen ihr eigentliches Kernproblem nicht beheben können: Seiner Meinung nach haben sie falsche Vorstellungen davon, was überhaupt dargestellt werden soll. Zu sehr seien die linksorientierten Künstler und Kulturschaffenden noch auf die offensichtlichsten Erscheinungsformen der proletarischen Revolution und des Klassenkampfes fokussiert; Ideen, die Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings anachronistisch zu werden drohten. Hier sieht er nun den Ansatzpunkt, um dem politischen Film in Italien neue Perspektiven zu eröffnen: Aus Petris Sicht muss eine Weiterentwicklung zuallererst auf inhaltlich-thematischer Ebene stattfinden (vgl. Petri 2007f [1957]: 57 f.).
2.1.2 Fokusverschiebung: neue Inhalte
Es ist nochmals zu betonen, dass sich Petri für ein kritisches, an gegenwärtigen Problemsituationen interessiertes Kino einsetzt. Dies ist im marxistischen Kontext zu diesem Zeitpunkt noch keine selbstverständliche Prämisse, wie sich eindrücklich an den Vorbildern erkennen lässt, die Petri heranzieht. In seinem Kommentar zu einem Artikel Ilja Ehrenburgs, in dem sich der Schriftsteller kritisch gegenüber den kommunistischen Intellektuellen Westeuropas äußert, stellt er nämlich explizit den Primat des sowjetischen Kinos infrage: Mit wenigen Ausnahmen biete dieses nur idealisierte, abstrakte Bilder des Menschen und der Gesellschaft in deklamatorischem Ton dar. Er plädiert demgegenüber für eine realistische, verstanden als am Ist-Zustand interessierte Filmpraxis, die zeitspezifische Kernprobleme offenlegt und dadurch deren Überwindung mitanregt (vgl. Petri 2007c [1957]: 38 f.). Besonders erwähnenswert ist dieser Beitrag zu Ehrenburg, weil der Kommunist Petri darin offen das ordnungsstützende Modell des politischen Films ablehnt, wie es in der Sowjetunion von dem beispielhaft angeführten Michail Tschiaureli ausgearbeitet worden ist. Seine Vorstellung eines dezidiert ordnungskritischen Films orientiert sich bemerkenswerterweise vor allem an den Arbeiten zeitgenössischer Regisseure aus den USA wie Robert Aldrich, Richard Brooks, Mark Robson oder Robert Wise (vgl. Petri 2007d [1957]: 43). Ihren Vorbildcharakter gewinnen diese Filme dadurch, dass sie jeweils ein Thema verhandeln, welches Petri für die Gegenwart der 1950er Jahre als akut
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2.1 Petri in der postneorealistischen Debatte
erachtet: die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der sozialen Gemeinschaft. Petri, der sich als Kommunist bislang prioritär für die Belange des Kollektivsubjekts Arbeiterklasse interessiert hatte, lenkt so programmatisch den Blick hin zur Lage des menschlichen Individuums. Dementsprechend verwirft er schon 1957/58 jene Gesellschaftsanalysen, die sich in orthodoxer Weise nur auf die Denkmuster und Begriffe des historischen Materialismus stützen, als schematisch und abstrakt. Besonders in seiner Rezension des spanischen Films Calle mayor (1956) wird deutlich, wie er zu diesem Zeitpunkt in Ansätzen einen Standpunkt entwickelt, den er in den folgenden beiden Jahrzehnten durch Bezüge zum Existenzialismus und der Psychoanalyse fundiert (vgl. ebd.: 42–44). Entscheidend ist nun, dass Petri mit dem Perspektivwechsel auch das Bestimmungsverhältnis radikal umkehrt. Die Situation des Einzelnen wird nicht mehr auf die vorherrschende Ordnung zurückgeführt; vielmehr macht er das individuelle Handeln zur Ursache der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse: »Le scelte morali sono il centro psicologico da cui si dipartono le azioni quotidiane di miliardi di individui che costituiscono l’umanità moderna« (ebd.: 43). Der Mensch fungiert bei Petri mithin nicht länger als fremdbestimmtes, bloß passives Objekt übergeordneter, nicht direkt greifbarer Zusammenhänge. Er agiert stattdessen als per se souveränes Subjekt, dessen Tun der eigenen Entscheidungsfreiheit unterliegt. Mit dieser Konzeption des Menschen setzt sich Petri von den eher orthodox marxistisch orientieren Ansätzen De Santis’ und Aristarcos, aber auch den Entwürfen Zavattinis ab. Da er gleichwohl das Gewicht weiterhin auf die soziale Dimension des menschlichen Handelns legt, behandelt Petri Moral und Gewissen als wesentliche Faktoren der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Unabhängig davon, ob der Einzelne auf der privat-alltäglichen oder der politisch-öffentlichen Ebene agiert, wird er gerade aufgrund seiner wesensmäßigen Handlungsfreiheit als Verantwortungsträger in die Pflicht genommen. In der Rezension von Calle mayor illus triert der angehende Regisseur durch eine Auflistung unterschiedlichster Beispiele, wie er ein bloß selbstbezogenes Handeln dementsprechend negativ besetzt: vom Wissenschaftler, der sich aus finanziellen Gründen der Waffenindustrie verdingt, damit aber die Menschheit bedroht, über den Politiker, der sein Programm verrät, um an der Macht zu bleiben, bis hin zum Ehegatten, der die Wahl hat, Ehebruch zu begehen oder nicht (vgl. ebd.). Petri erhebt so das Wohl des Anderen und der Gemeinschaft zum Ideal, ohne den Einzelnen konzeptionell einem überholten, parteiideologisch erschöpften Kollektivismus zu opfern. Weshalb er den individuellen Gewissenskonflikt als spezifisch modernes Problem betrachtet, wird in jenen Abschnitten seiner Artikel deutlich, in denen er konkret auf die Situation in Italien eingeht. Er spezifiziert hier seine ansonsten
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
recht vage Rede von ›neuen Inhalten‹, die er gegen die Marxisten richtet. So geht Petri davon aus, dass in den späten 1950er Jahren nicht unmittelbar ersichtlich werde, wie der Einzelne durch sein Handeln am Fortbestand ungleicher Verhältnisse mitwirke, gerade weil sich in Italien nach dem Weltkrieg wieder der Eindruck einer sich etablierenden Ordnung einstellt. Er sieht das Land nach dem Fall des Faschismus, der überparteilichen Einheitsregierung und dem hoffnungsstiftenden Systemwechsel zur Demokratie nun eine Phase bürgerlich-kapitalistischer ›Restauration‹ durchlaufen, wie er diesen Prozess gesellschaftlicher Festigung bezeichnet. Damit verbunden ist allerdings eine menschliche Situation, die aus seiner Sicht von moralischer Inkohärenz und Widersprüchlichkeit geprägt ist (vgl. ebd.; Petri 2007f [1957]: 56). Er deutet so an, dass sich nach der kollektiven Aufbruchsstimmung im Geiste einer gerechten Sozialordnung allmählich wieder das Interesse am eigenen Vorteil durchsetzt, wie es für die kapitalistische Mentalität charakteristisch ist. Bezeichnenderweise werde diese Problematik in besonderem Maße bei den Intellektuellen augenfällig, die sich zu den progressiven Kräften bekennen; sprich denjenigen, denen in Gramscis Schriften eine zentrale Rolle in der Organisation proletarischer Hegemonie zukommt. In einer Rezension von Germis Film Uomo di paglia (1958) beklagt Petri, dass deren Verhalten noch allzu oft von konservativen Wertvorstellungen geleitet werde: Bei der künstlerischen und kulturellen Arbeit etwa gehe es vielen nur um persönlichen Erfolg statt um einen produktiven Austausch im Sinne der gemeinsamen Sache. Darüber hinaus beobachtet er, dass sich viele im Privaten nicht von den anerzogenen katholischen Gebräuchen lösen können: »Dal guazzabuglio e dal lasciar andare nelle questioni ›morali‹, da tutti considerate di ordine secondario, si può passare alla osservazione di vere e proprie storture politiche e ideologiche« (Petri 2007g [1958]: 81). In solchen Passagen wird offensichtlich, wie sehr Petris Denken noch von Gramsci geprägt ist. Denn der Alltagsverstand bleibt aus seiner Sicht selbst in den scheinbar fortschrittlichsten Gesellschaften von konservativen Denk- und Verhaltensmustern bestimmt; auch in Italien, wo sich der PCI bis 1954 zur mitgliederstärksten Partei des Landes und zur größten kommunistischen der westlichen Welt entwickelt. Mit Blick auf die Frage, wie Kinofilme, die solche Problemstellungen thematisieren und damit zugleich deren Überwindung forcieren, gestaltet sein sollen, hält Petri in Un elefante castrato lediglich fest: »Occorre sapere e potere rappresentare tutto ciò« (Petri 2007f [1957]: 56). Da er ausdrücklich auf eine inhaltliche Erneuerung des politischen Films in Italien drängt, macht er konsequenterweise keine konkreten Vorschläge. Unter ästhetischen Gesichtspunkten genauer bestimmen lässt sich das von ihm angestrebte Modell daher zunächst ex negativo:
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2.2 Unselbstständige Projekte
Wie schon in seinen Bemerkungen zu Calle mayor grenzt er sich in Un elefante castrato explizit vom Neorealismus und dessen dokumentarischer Herangehensweise an die Alltagswelt ab. Zwar mag Petri damit seine früheren Ansichten bekräftigen, doch argumentiert er nun themen- statt rezeptionsbezogen, wie es noch De Santis 1954 gemacht hatte: Es gelte, das Gewissen der Menschen zu erforschen, in sie ›hinzublicken‹ (vgl. Petri 2007d [1957]: 44). In Petris Ausführungen zu dem spanischen Film scheint so die Vorstellung eines figurenzentrierten Kinos durch, das mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse die inneren Konflikte des Einzelnen einsichtig macht. Auch ohne konkrete Vorgaben zu formulieren, bestätigt Petri hierbei implizit eine Differenzierung, die in der italienischen Theoriedebatte etabliert ist und bis zu seinem Karriereende auch für ihn selbst leitend bleibt: die zwischen dokumentarästhetischer Oberflächlichkeit und erzählerisch-fiktionaler Vertiefung.
2.2
Unselbstständige Projekte
Gegenüber den politisch recht klaren Standpunkten, die Petri in seinen Kommentaren über das Kino vertritt, erweisen sich die 15 Kinofilme, an denen er bis 1960 mitwirkt, in der Gesamtschau als äußerst vielfältig. Diese Pluralität manifestiert sich zum einen auf der narrativ-gestalterischen Ebene: Die Filme decken fast alle Genres ab, die sich im Laufe der 1950er Jahre im italienischen Kino eta blieren. Zum anderen bilden sie in ihren Settings die regionale und soziale Heterogenität des Landes ab: Als Schauplätze dienen sowohl die modernen Großstädte als auch die ruralen Gegenden, die Po-Ebene im Norden, das urbane Rom und das von der Mafia geprägte Sizilien; zu Protagonisten werden Prostituierte, Bauern und Angestellte ebenso wie das neue Bürgertum. Thematisch rücken allmählich die neuen Gegebenheiten der Wirtschaftswundergesellschaft in den Mittelpunkt, während zu Beginn noch die Mangelsituation der Nachkriegszeit und die Lebensweise der Bauern interessieren. Letztlich wird sogar das positiv besetzte, identitätsstiftende Bild der Resistenza, das der neorealistische Kriegsfilm maßgeblich mitprägt, einer kritischen Neubetrachtung unterzogen. Es lässt sich nun die Behauptung aufstellen, dass im Überblick über diese derart mannigfaltigen Filme charakteristische Entwicklungsprozesse des italienischen Kinos sichtbar werden, die das dominierende Narrativ des postneorealistischen Autorenkinos ausspart. Dies ermöglicht wiederum einen anderen Blick auf die Genese von Petris eigenem Werk: Mithin stellen die filmhistorischen Zusammenhänge, die sich in seinen Beteiligungen der 1950er Jahre abzeichnen, die bisherigen (auto-)biografistischen Argumentationsweisen infrage.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
Dabei bieten sich die persönlichen Verbindungen, die Petri in seiner Anfangszeit knüpft und pflegt, geradezu an, um Kontinuitätslinien zu konstruieren: Bei den ersten Filmen, Roma ore 11 (1952), Donne proibite (1953) und Un marito per Anna Zaccheo (1953), arbeitet er mit Zavattini, Puccini und De Santis zusammen, ihres Zeichens einschlägige Akteure des Neorealismus. Die beiden Letztgenannten sind schon am Drehbuch zu Viscontis Ossessione beteiligt und wirken vorher in der Zeitschrift Cinema an der theoretischen Vorbereitung eines wirklichkeitsbezogenen Kinos mit. De Santis’ eigene Regiearbeiten werden auch heute noch als spezifische Ausprägung des Neorealismus betrachtet, bei der sich Sozialkritik, Genrebezug und Reflexivität auf gelungene Weise verbinden; Martini (2017) behandelt sie daher sogar als Vorläufer des modernen Kinos. Somit ließe sich über De Santis eine Linie von den Anfängen des Neorealismus bis zu Petris Variante des politischen Films ziehen. Tatsächlich treten die für Petris Werk charakteristischen Phänomene der Selbstreferenzialität, Intermedialität und Medienreflexion im italienischen Nachkriegskino schon recht früh in größerem Umfang auf, sodass eine allgemeinere Entwicklung anzunehmen ist. Man denke hier neben Riso amaro (1949) etwa an Bellissima (1951) oder La macchina ammazzacattivi (1952): Auch diese Filme werden von ›Begründern‹ des Neorealismus inszeniert und geben einem sich früh einstellenden Zweifel an dem natürlichen Bezug des Films zur Wirklichkeit Ausdruck.19 In De Santis’ Werk lässt sich dabei eine signifikante Verschiebung beobachten: Riso amaro thematisiert sowohl über die Handlungsebene als auch durch die spezifische Erzählweise noch den Einfluss der modernen US-amerikanisch geprägten Populärkultur. Die folgenden Filme rücken dagegen die traditionelle Lebensart und Kultur der arbeitenden Bevölkerungsschichten in den Fokus. Dies zeigt sich bezeichnenderweise auch auf intermedialer Ebene: In einer Sequenz von Un marito per Anna Zaccheo wird etwa eine sceneggiata, ein Stück aus dem neapolitanischen Dialekttheater, vorgeführt. Wie der Film selbst erzählt dieses eine melodramatische Geschichte über die Verführung einer Frau und die anschließende Wiederherstellung der Ehre. Die attraktive Protagonistin Anna (Silvana Pampanini) wird dabei als Opfer eines Spannungsverhältnisses zwischen männlichen Begierden und konservativen Wertvorstellungen inszeniert, das im Film als strukturelles Problem der männerdominierten Gesellschaft erscheint. Da sie sich einem bereits Verheirateten hingibt, ist eine reguläre Eheschließung – Annas anfängliches Ziel – nicht mehr möglich. Im Unterschied zur Frauenfigur der sceneggiata verweigert sie aber eine Heirat mit einem anderen, wesentlich älte-
19
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Insbesondere zum Phänomen kinematografischer Selbstreflexivität vgl. Casetti 1992.
2.2 Unselbstständige Projekte
ren Mann und emanzipiert sich dadurch von den rückständigen Moralvorschriften einer traditionell geprägten Gemeinschaft. Distanziert sich Un marito per Anna Zaccheo damit von den Lösungsvorschlägen des Volkstheaters, so präsentiert sich der Film als modernes, kritisches Pendant. In Giorni d’amore wird die filmische Konzeption schon im Vorspann offengelegt: Dort führen zwei von einer Drehorgel begleitete Bänkelsänger aus dem Off in die Handlung und das Figureninventar, das auf einer kleinen Leinwand im On erscheint, ein; der Film selbst wird hierbei explizit als ›Liebesmärchen‹ deklariert. Die Inszenierung der diegetischen Welt konterkariert dann durch deutlich erkennbare Studiobauten und die satte Farbgebung authentisierende Elemente wie die Laienschauspieler oder die Originalschauplätze in der mittelitalienischen Region Ciocaria. Auf diese Weise stellt der Film seinen fiktionalen, ja fabulierenden Charakter aus und referiert dabei konkret auf volkskulturelle Erzähl- und Darbietungsformen. Guido Brignones Historienfilm Quando tramonta il sole (1955), an dessen Drehbuch Petri mitarbeitet, stellt traditionelles Kulturgut thematisch sogar in den Mittelpunkt: In Form einer Aufsteigergeschichte mit melodramatischen Elementen wird das Leben des 1913 verstorbenen Liedtexters Salvatore Gambardella erzählt, der die Tradition des canzone napoletana maßgeblich geprägt hat. Wenden sich De Santis’ Filme regionalen Gebräuchen in landwirtschaftlich geprägten Gebieten zu, so verhandeln sie Themen, die in den 1950er Jahren durchaus noch Relevanz besitzen. Die traditionelle Welt der Bauern verschwindet in dieser Zeit keineswegs, sondern bleibt vor allem in den südlichen Landesteilen erhalten. Beleuchtet werden somit jene Bereiche der italienischen Nachkriegsgesellschaft, auf die die strukturellen Änderungsprozesse (noch) wenig Auswirkung haben. Dementsprechend muten die in den Filmen präsentierten Welten nahezu zeitlos an, meist fehlen klare Referenzen auf den zeitgeschichtlichen Kontext. Roma ore 11 verweist dagegen dezidiert auf die Gesamtsituation Italiens zu Beginn der 1950er Jahre. Hierfür wird ein reales Vorkommnis mit den Mitteln des Spielfilms aufgearbeitet: Im Januar 1951 war es zu zahlreichen Verletzten und einer Toten gekommen, als die Treppe eines römischen Hauses unter der Last von rund 100 Frauen zusammengebrochen war. Diese hatten sich dort auf eine Stelle als Stenotypistin beworben. Petris Vorrecherche obliegt es dabei, die Geschehnisse ebenso wie die Hintergründe zu rekonstruieren. Auf Grundlage seiner Arbeit entsteht dann ein Film, der als reine Studioproduktion mit großem Staraufgebot den Unfall aus der Sicht von zehn Frauen erzählt: Da sie alle von unterschiedlicher Herkunft sind, wird schließlich anhand ihrer individuellen Notlagen die nationale Misere als solche augenscheinlich gemacht.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
Giuseppe Amatos emotional aufgeladenes Sozialdrama Donne proibite, an dessen Drehbuch Petri mitarbeitet, betrachtet die italienische Gesellschaft ebenfalls aus der Perspektive mehrerer weiblicher Hauptfiguren. Hier sind ähnlich wie bei Un marito per Anna Zaccheo wirtschaftlich-finanzielle Aspekte allerdings bereits zweitrangig. Der Film verhandelt anhand einer Gruppe von vier Prostituierten die unterprivilegierte Stellung der Frau: Aufgrund moralischer Vorbehalte gegen ihr Metier bieten sich ihnen kaum alternative Lebens- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Erscheinen die Frauen ihrerseits als moralisch integer, so sind es die Umstände, die sie korrumpieren; letzten Endes kann sich nur eine von ihnen eigenständig aus dieser Situation befreien. Sowohl an Roma ore 11 als auch an Donne proibite und Un marito per Anna Zaccheo wird ersichtlich, wie zu Beginn der 1950er Jahre im italienischen Kino vermehrt aus dem Blickwinkel der Frau ein kritisches Bild der Gegenwartsgesellschaft entwickelt wird. Deren charakteristische Herausforderungen werden von den Filmen mit ländlichem Setting, an denen Petri beteiligt ist, gerade nicht thematisiert – ein Umstand, den der künftige Regisseur dann in Città aperta selbstkritisch reflektiert. In Giorni d’amore rücken etwa die Armut und die harte Arbeit, die die bäuerliche Existenz bestimmen, also die eigentlichen Kernprobleme, sogar in den Hintergrund. Petri, der nach Roma ore 11 erneut in einer kleinen Nebenrolle auftritt, konzentriert sich schon in seiner Vorrecherche im Wesentlichen auf regionalspezifische Brauchtümer und Moralvorschriften.20 Im Film werden diese zum Movens der Handlung, zumal die Gebräuche gegeneinander ausgespielt werden müssen: Der als Komödie angelegte Film erzählt von einem jungen Liebespaar (Marina Vlady, Marcello Mastroianni), das eine Flucht fingiert, um durch die so entstandene Entehrung des Mädchens eine einfache Trauung vollziehen zu können. Sie versuchen dadurch, die Kosten eines traditionellen Hochzeitfests zu umgehen. Ihre Bemühungen, die finanziellen Schwierigkeiten zu verbergen, und die Inszenierung der Flucht, derer sich die getäuschte Dorfgemeinschaft durchaus bewusst ist, wird von Missverständnissen, Verwechslungen und unglücklichen Zufällen begleitet. Angesichts der oben genannten Referenzen lässt sich Giorni d’amore als eigentümliche Form eines selbstreferenziellen, intermedial geprägten Kinos beschreiben: Setzt sich der Film mit der charakteristischen Lebensweise der ländlichen Bevölkerung auseinander, so bezieht er 20
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Petri tritt hier außerdem als Hobby-Gewehrschütze auf, der auf Luftballons schießt. In Roma ore 11 ist er als Anwohner zu sehen, der angesichts der zahllosen jungen Frauen vor seiner Wohnungstür erschrickt. In L’impiegato taucht er als zeitungslesender Passant im Hintergrund auf.
2.2 Unselbstständige Projekte
sich hierbei konsequenterweise auch auf deren Darstellungstraditionen. Phänomene der kulturellen Modernisierung und des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Fortschritts werden dementsprechend ausgeblendet. Ähnliches ist für De Santis’ Uomini e lupi (1957) zu konstatieren. Bei seinen Nachforschungen findet Petri sogar heraus, dass der traditionelle Beruf des Wolfsjägers, dem der Protagonist des Films nachgeht, zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr ausgeübt wird.21 Außerdem ist die Handlung um den draufgängerischen Ricuccio (Yves Montand), der durch ein Liebesverhältnis zu der verwitweten Ehefrau eines Berufsgenossen (Silvana Mangano) eine moralische Wandlung vollzieht, in einem autarken Bergdorf der Abruzzen angesiedelt. Im Gesamten präsentiert sich dem Publikum der 1950er Jahre eine Welt, die kaum Relevanz für die eigene Lebenssituation besitzt. Die dargestellten Umstände mögen sich als beschwerlich erweisen, doch werden sie in nahezu vorzeitlichem Sinn auf die konfliktreiche Koexistenz von Mensch und Natur zurückgeführt. Uomini e lupi besticht demnach primär durch die realistische Beschreibung eines abgeschlossenen, anachronistischen Kosmos: Begleitet von zahlreichen Landschaftsaufnahmen in Cinemascope führt der Film die Arbeit der Wolfsjäger und die traditionellen Gepflogenheiten der Dorfbewohner vor. Dagegen wird in Aglauco Casadios Un ettaro di cielo von 1958 die Modernisierung durchaus thematisiert; Petri schreibt hier zusammen mit Tonino Guerra und Ennio Flaiano das Treatment und das Drehbuch. Die Komödie vermittelt eine kritische Haltung gegenüber den technischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen, wie sie sich in den urbanen Gebieten Italiens und im Ausland vollziehen: Regionen, die im Film nicht vorgeführt werden, denn als Schauplatz der Handlung dient ausschließlich das ländlich geprägte Po-Delta. Modernisierungsphänomene werden nur durch die spontan entwickelten, hyperbolischen Erzählungen des fliegenden Händlers Severino (Marcello Mastro ianni) gegenwärtig. Die ärmlichen Verhältnisse des abgelegenen Settings, die stattdessen zu sehen sind, fungieren nur als authentisierender Kontext für die Geschichte um den durchtriebenen Severino: Dieser verkauft vier einfältigen Rentnern einen Hektar des Himmels. Diesen Produktionen lassen sich zwei Filme gegenüberstellen, an denen Petri im folgenden Jahr beteiligt ist: seine fünfte Zusammenarbeit mit De Santis, Cesta duga godinu dana (La strada lunga un anno, 1959), und der Debütfilm von Vejlko Bulajić, Vlak bez voznog reda (Treno senza orario, 1959). Beide werden in Jugoslawien von der dort ansässigen Jadran Film produziert, doch
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Dies gibt Petri später selbst an, vgl. Faldini / Fofi 2011: 384.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
zeigen sich allein auf personeller Ebene enge Verbindungen zum Nachbarland: Während De Santis von der erstarkenden Filmindustrie des sozialistischen Staates profitiert, nachdem er in Italien keine Geldgeber für sein Projekt finden kann, kehrt der Kroate Bulajić nach der Ausbildung am Centro Sperimentale di Cinematografia für das Regiedebüt in seine Heimat zurück (vgl. Goulding 2002: 36 f.). An diesen Filmen wird ersichtlich, wie in jener Zeit unter anderen staatsideologischen Bedingungen die Situation der ruralen Bevölkerung durchaus noch als Sujet des politischen Films dienen kann. Gleiches gilt für die neorealistischen Stilmittel, die bei beiden Arbeiten die visuellen Umsetzungen prägen (vgl. ebd.: 57 f.; Downey 2000: 1295). Gelten die entsprechenden Verfahren im italienischen Kinofilm bereits als historisch, ja sogar obsolet, so werden sie hier im ordnungsstützenden Sinn zur Vermittlung von orthodox kommunistischem Ideengut funktionalisiert. Die Darstellung der Figuren, die Ausstattung und die Inszenierung des ländlichen Ambientes lassen sowohl in Cesta duga godinu dana als auch in Vlak bez voznog reda eine durchaus authentische bäuerliche Lebenswelt entstehen. Die Leitidee des Kollektivs als wirkungsfähiger Organisationsform bestimmt vor allem die erzähltechnische Ausarbeitung der jeweiligen Geschichte. Beide Filme bestechen dabei durch eine komplexe Handlungsstruktur: Mehrere private Nebenstränge unterstützen jeweils eine zentrale Handlungslinie, bei der eine Dorfgemeinschaft durch kollektive Anstrengungen eine für sie zukunftsweisende Herausforderung bewältigen muss. Bei einer Erzählzeit von nahezu drei Stunden wird in Cesta duga godinu dana auf diese Weise das klassische Thema des Klassenkampfes entfaltet. Im Zentrum steht eine von Arbeitslosigkeit gebeutelte Gemeinde, die gegen den Willen der ausbeuterischen Großgrundbesitzer eigenmächtig eine Straße baut.22 Vlak bez voznog reda fördert dagegen konkreter die Leitideen des jugoslawischen Staates. Anhand eines dalmatinischen Bauerndorfs wird ein historisch reales Umsiedlungsprogramm, das die Regierung seinerzeit in den Nachkriegsjahren veranlasst hatte, fiktional nacherzählt. In den Regionen des Landes, die die Dorfbewohner auf ihrer Reise mit dem Zug durchqueren, treffen sie auf unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen: Schafft die realistische Darstellungsweise hier auch Sensibilität für die kulturelle Diversität Jugoslawiens, so erscheint die Umsiedlung zugleich als gemeinschaftlicher Akt von Regierung und Bevölkerung. Die Zugreise vermittelt so die weltanschaulichen Grundlagen einer Repu-
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Nach Angaben von De Santis sollte ursprünglich erneut die Ciociaria als Schauplatz dienen (vgl. Faldini / Fofi 2011: 386).
2.2 Unselbstständige Projekte
blik, die sich die Prinzipien der föderalistischen Verbundenheit und des sozialistischen Gemeinwohls auf die Fahnen schreibt. In Italien beteiligt sich Petri dann an zwei Projekten, die die Vergangenheit des Landes aus einer kritischeren Perspektive beleuchten. Zusammen mit anderen Autoren arbeitet er an den Stoffen zu Puccinis Il carro armato dell’8 settembre (1960) und Carlo Lizzanis Il gobbo (1960): Diese gehören zu einer Gruppe von rund 40 Filmen, die in der Zeit des Dekadenwechsels die neorealistischen Kernthemen des Kriegs, des Faschismus und des Widerstands erneut aufgreifen. Charakteristischerweise geraten nach rund anderthalb Jahrzehnten Demokratieerfahrung nun verstärkt die Kontinuitäten in den Blick; auch die identitätsstiftenden Narrative eines antifaschistischen Italiens werden nun vermehrt infrage gestellt (vgl. Iaccio 2001: 192–198). So relativiert etwa Il carro armato dell’8 settembre die ideologisch überhöhten Erzählungen des nationalen Zusammenhalts, wie sie noch die meisten der Resistenza-Filme im Anschluss an Rossellinis Roma città aperta bieten. Der Film stellt die Situation nach der Kapitulation Italiens im September 1943 differenzierter dar. Die Suche nach einer Abgabestelle für seinen Panzerwagen führt den Protagonisten Carlo (Jean-Marc Bory), einen einfachen Soldaten, mit Individuen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen: Obwohl die Gefahr durch die deutschen Besatzer keineswegs gebannt ist, steht hier ›Gemeinschaft‹ zu keinem Zeitpunkt im Vordergrund. In der Konfusion des vorläufigen Kriegsendes beschäftigen sich stattdessen fast alle Figuren mit ihren persönlichen Schicksalen und der Sicherung des eigenen Vorteils. In Il gobbo wird dann konkret die Widerstandsbewegung zum Gegenstand einer kritischen Neubetrachtung. Dabei widmet sich der Film einer ihrer he rausragenden Persönlichkeiten, dem sog. Buckligen von Rom. Dessen Lebensgeschichte arbeitet Petri mit Tommaso Chiaretti in einem 90-seitigen Treatment auf (vgl. AMNC ELPE7 [o. J.]). Schon hier wird ein ambiges Bild der historischen Figur gezeichnet: Führt der Bucklige in Kriegszeiten eine Widerstandsgruppe in einer römischen Borgata an, so avanciert er unmittelbar nach dem Umsturz zum skrupellosen Chef einer gefürchteten Verbrecherbande. Die filmische Umsetzung nimmt motivisch und ikonografisch unter anderem beim US-amerikanischen Gangsterfilm Anleihen (vgl. Paoli 2012: 219–223). Wesentlich ist aber die Charakterzeichnung des Protagonisten: Schon als Widerstandskämpfer erscheint der Bucklige (Gérard Blain) nicht als heroische Figur, sondern trägt Kaltblütigkeit und Herrschsucht zur Schau. Dies zeigt sich maßgeblich auf der Ebene der privaten Handlung, vergewaltigt er doch die unschuldige Tochter seines faschistischen Antagonisten und ruiniert damit ihre Existenz über das Ende des Regimes hinaus.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
In den italienischen Kinofilmen mit Gegenwartsbezug rückt zunehmend das problematische Verhältnis zwischen der verbesserten Wirtschaftslage und den gültigen Moralvorstellungen in den Fokus. Unter den Produktionen, an denen Petri beteiligt ist, finden sich mit Un marito per Anna Zaccheo und Donne proibite schon vorher Filme, deren zentralen Konflikte auf einem überholten, aber weiterhin dominanten Wertesystem gründen. 1959/60 arbeitet er dann an den Skripten dreier Projekte mit, die nun vor dem Hintergrund des ›Wirtschaftswunders‹ (miracolo bzw. boom economico) konservative Lebensmodelle und Moralkonzepte verhandeln: Leopoldo Savonas Le notti dei teddy boys, De Santis’ La garçonnière und Enzo Provenzales Vento del sud. Betrachtet man diese unter dem Aspekt der Genrezugehörigkeit, so könnten diese Filme nicht unterschiedlicher sein. Jedoch bieten sie durch ihre spezifischen Figuren- und Konfliktkonstellationen jeweils einen spezifischen Blick auf die akute Diskrepanz zwischen der modernen Lebenswirklichkeit und überkommenen Wertemustern. Savonas Regiedebüt Le notti dei teddy boys zählt etwa zum Jugendproblemfilm, der Ende der 1950er Jahre im italienischen wie im europäischen und amerikanischen Kino eine Konjunktur erlebt.23 In diesem Film wird nun das Verhältnis zwischen den Generationen einer genaueren Betrachtung unterzogen: Es sind die nicht funktionierenden familiären Verhältnisse der konservativ-bürgerlichen Mittelschicht, die maßgeblich dazu beitragen, dass die drei jugendlichen Protagonisten von Le notti dei teddy boys immer tiefer in die Kriminalität absinken. Hierbei profitieren sie wiederum von der bürgerlichen Doppelmoral, spezialisieren sie sich doch auf die Erpressung ehebrecherischer Liebespaare. De Santis’ La garçonnière stellt dann ein solches Untreueverhältnis in den Mittelpunkt: Erzählt wird von der Beziehung zwischen dem Bauunternehmer Alberto (Raf Vallone) und seiner Ehefrau Giulia (Eleonora Rossi Drago), die aufgrund seiner Affäre zu dem wesentlich jüngeren Mannequin Laura (Gordana Miletić) melodramatisches Potenzial generiert. Dieses wird jedoch nicht entfaltet, da in letzter Konsequenz keine der Figuren die althergebrachten Konzepte der Familie, Ehe und Liebe vertritt. La garçonnière führt so vor, wie eine zeittypische Selbstbezogenheit zwischenmenschliche Beziehungen formal werden lässt: Der Mann versucht, seine Jugend zurückzugewinnen, die Frau ist nur um die Aufrechterhaltung einer makellosen Außenwirkung bemüht, während sich die Geliebte nach der kurzen Affäre am Ende doch recht zwanglos verabschiedet. Die bürgerliche Existenz verkommt zur bloßen Fassade, wie nicht zuletzt das betont kulissenhafte Setting des fast vollkommen im Studio gedrehten Films unterstreicht.
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Zur Entstehungsgeschichte des Films vgl. Mozzati 2019: 16–22, 40–46.
2.2 Unselbstständige Projekte
Provenzales Mafiafilm Vento del sud lässt sich in diesem Zusammenhang als sizilianisches Gegenstück interpretieren: Das für Italien charakteristische Nord-Süd-Gefälle, das sich in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs verschärft, wird gerade durch die Unantastbarkeit des bestehenden, dezidiert als anachronistisch ausgewiesenen Moralkodexes offenbar. Verteidigt wird dieser eben von der Mafia, die in ihrer Verflechtung mit allen sozialen Schichten eigentümliche Auffassungen von Pflicht und Ehre vorgibt. Die Handlung entwickelt sich dementsprechend aus einem Konflikt mit dem gültigen System: Die Hauptfigur, der Arbeiter Antonio (Renato Salvatori), sieht sich von den Vertretern des organisierten Verbrechens zum Vergeltungsmord an einem Adeligen gezwungen; später wird er aufgrund seiner als nicht standesgemäß betrachteten Liebe zu dessen Tochter (Claudia Cardinale) selbst zum Opfer eines Anschlags. Indem sie also mit unterschiedlichen Akzentuierungen auf elementare Widersprüche einer wirtschaftlich fortschrittlichen, aber moralisch rückständigen Ge sellschaft verweisen, mögen diese Filme thematisch auch auf Petris eigene Regiearbeiten vorausdeuten. Fragt man nun nach konkreteren filmhistorischen Zusammenhängen, in die sich diese einordnen lassen, so gilt es vor allem Gianni Puccinis L’impiegato in Augenschein zu nehmen. Diese wenig berücksichtigte Produktion aus dem Jahr 1960 ist paradigmatisch für ein Kino, das anhand einschlägiger Typen sozioökonomische und kulturelle Modernisierungsprozesse reflektiert: Hier ist es der Angestellte, der in seinen charakteristischen Lebensumständen die Auswirkungen des vermeintlichen Fortschritts wie in einem Brennglas sichtbar werden lässt. An der nicht körperlichen Tätigkeit des Angestellten wird etwa augenscheinlich, wie trotz des Aufschwungs der Erwerbszwang eine neue Mangelsituation produziert. Diese kennzeichnet sich durch enormen Leistungsdruck bei gleichzeitig recht prekären Arbeitsverhältnissen. Auswege öffnen sich nur in der subjektiven Vorstellungswelt, die stark von der US-amerikanisch geprägten Populärkultur beeinflusst ist. Deren Produkte werden im Film eben maßgeblich von der wachsenden Formation der Angestellten konsumiert: Die Hauptfigur Fernando (Nino Manfredi) erträumt sich ein Leben als Schriftsteller erfolgreicher Liebesromane, wobei seine Träume wie populäre Genrefilme funktionieren. In diesen Sequenzen werden charakteristische Figurentypen, Handlungselemente, Settings, Beleuchtungstechniken und Filmmusiken des Gangsterfilms, des Westerns, des Kriegsfilms und des Film noir durchdekliniert. Macht sich die derart reflexive Komödie das neue Prekariat zum Gegenstand, so setzt sie sich sogar explizit vom früheren italienischen Leitmodell des politischen Films ab. Denn beim Anblick zweier am Küchentisch sitzender Jungen bemerkt Fernando kennerisch: »Ah, la solita scena neorealistica!« Bezeichnender-
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
weise wird gerade die von De Santis’ Regiearbeiten repräsentierte Variante als anachronistisch markiert: Schließlich stammt Fernando aus der Ciociaria, jener ländlichen Gegend, die in Giorni d’amore noch als Schauplatz des Geschehens dient. Wenn L’impiegato auf die Gegenwart der beginnenden 1960er Jahre verweist, dann wirft der Film mit dieser Anspielung konkret die Frage nach der Funktion des Kinos auf: Wie die anderen populärkulturellen Medien bedient es innerhalb der bürgerlich-neokapitalistischen Gesellschaft vor allem die eskapistischen Bedürfnisse des Angestellten. Sind Formen der Selbstreferenzialität, Intermedialität und Reflexivität prinzipiell schon früh im italienischen Nachkriegskino beobachtbar, so entsteht also mit L’impiegato nun ein Film, der das Kino und andere Medien in eine Kritik der sozioökonomischen Verhältnisse miteinbezieht. Diese charakteristische Verknüpfung macht L’impiegato zu einem unmittelbaren Vorläufer von Petris eigenen Regiearbeiten.
2.3
Selbstständige Arbeiten: Nonfiktionalität jenseits des neorealistischen Films
Im Zuge von Petris vielfältigen Aktivitäten innerhalb der italienischen Filmbranche entstehen nun auch schon Werke, die ausschließlich unter seinem Namen firmieren. So wird seine Vorrecherche zu De Santis’ Roma ore 11, mit der er vom Filmjournalismus zur Filmproduktion wechselt, 1956 in Buchform publiziert. Auf diesen Umstand mag zurückzuführen sein, dass diese Recherchearbeit in Italien als bekannteste ihrer Art gilt (vgl. Argentieri 1992: 105). Zudem dreht Petri 1954 seinen ersten Kurzdokumentarfilm, Nasce un campione, ehe er drei Jahre später mit I sette contadini ein Projekt angeht, das sich mit einer antifaschistisch-kommunistischen Thematik recht offen als politisch motiviert darbietet. Während Petri als Drehbuchautor und Regieassistent also ausschließlich an fiktionalen Produktionen mitwirkt, sind seine eigenständigen Arbeiten im nonfiktionalen Bereich anzusiedeln. Dabei legen sie Zeugnis von einem grundlegenden Widerstreit der Filmgattungen ab, der sich im Verlauf der 1950er Jahre im italienischen Kino beobachten lässt: Mit dem Neorealismus ist es schließlich eine Strömung innerhalb des Spielfilmsektors, die durch einen forcierten Realitätsbezug die Inszenierungs- und Gestaltungskonventionen des Dokumentarfilms infrage stellt und auf lange Sicht reformiert (vgl. Bertozzi 2003: 300 f.). So entspringen ja beispielsweise auch Cesare Zavattinis innovative Konzeptionalisierungen eines dezidiert an der Wirklichkeit ausgerichteten Kinos seinen Erfahrungen der neorealistischen Spielfilmarbeit. Signifikanterweise ist es eben Zavattini, der Petris Recherche für Roma ore 11 initiiert: Die Vorarbeiten, die
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2.3 Selbstständige Arbeiten
dieser dann auch für Giorni d’amore und Uomini e lupi leistet, verfolgen den Zweck, dem jeweils geplanten Spielfilm eine größere Wirklichkeitsnähe zu verleihen. An Petris ersten Regiearbeiten wird dagegen offenbar, wie damals im Dokumentarfilmbereich noch ganz selbstverständlich auf fiktionalisierende Mittel zurückgegriffen wird. In seinen frühen Filmen und Recherchen tritt somit jeweils das Spannungsverhältnis von Fiktionalität und Nonfiktionalität zutage, das in Italien den Gegenstand einer intensiv geführten Theoriedebatte bildet.
2.3.1 Vorrecherchen für den Spielfilm – inchieste: Roma ore 11 (1951/56) und Giorni d’amore (1954)
Solche Recherchen, wie sie Petri für die benannten, jeweils von De Santis inszenierten Filme vornimmt, werden als inchiesta (ital. Untersuchung, Ermittlung, Befragung) bezeichnet. Im Prinzip meint dieser Begriff jede Form methodisch geleiteter Informationsgewinnung. Der Terminus wird im Bereich des sozial informierten Kinos von den Regisseuren Luigi Comencini und Giulio Macchi sowie der Drehbuchautorin Suso Cecchi D’Amico etabliert: Sie bezeichnen damit jene Hintergrundrecherchen, die Mitglieder eines Filmstabs im Vorfeld einer Kinoproduktion durchführen. Deren Ziel besteht darin, soziale Milieus oder historische Ereignisse im Spielfilm möglichst faktennah zu präsentieren. Durch eine solche Annäherung an reale Gegebenheiten soll das Publikum das jeweils erzählte Geschehen als wahrscheinlich und plausibel auffassen (vgl. Argentieri 1992: 104 f.). Grundsätzlich stellt die inchiesta den üblichen Produktionsablauf von der Drehbuchentwicklung bis zu den Dreharbeiten also nicht infrage, sondern liefert als zusätzlicher Arbeitsschritt Kenntnisse für eine wirklichkeitsnahe Ausarbeitung des Skripts bzw. der Inszenierung. Innerhalb des Entstehungsprozesses eines Films besitzen solche Recherchen demnach prinzipiell keinen eigenen Stellenwert. Dennoch ist es bei Petris inchiesta für Roma ore 11 legitim, den entstandenen Text separat von De Santis’ Film zu betrachten: Die Nachforschungen des jungen Kommunisten werden ja in überarbeiteter Form veröffentlicht, interessanterweise im Rahmen einer Schriftenreihe der sozialdemokratischen Tageszeitung Avanti!. Der Text bietet sich so als eigenständiges Werk dar – unabhängig davon, dass ein Still auf dem Buchumschlag, Vorworte von De Santis und Zavattini sowie metareferenzielle Anmerkungen des Erzählers innerhalb des Texts klar auf den Kinospielfilm von 1952 verweisen. Ursprünglich ist Petris Roma ore 11 nicht in der Form eines zusammenhängenden, in sich abgeschlossenen Texts geplant. Seinerzeit liefert der damals 22-jährige Rechercheur der Crew um De Santis, Puccini und Zavattini sukzessive die
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
Ergebnisse seiner Nachforschungen, mit denen er erst vier Monate nach dem Unglück vom 15. Januar 1951 in Rom beginnt. Die Kapitelstruktur des Buchtexts lässt noch erahnen, wie dieser tatsächlich entstanden und genutzt worden ist. Auffällig ist nun die charakteristische Darstellungsweise: Der Text ist nicht als sachlich-objektive Auflistung gewonnener Daten konzipiert, sondern deutlich nach narrativen Prinzipien gestaltet. Dies mag auch angesichts der Tatsache überraschen, dass dieses Dokument gerade nicht den Unfallvorhergang an sich rekon struiert, sprich nacherzählt. Stattdessen bietet es überwiegend Interviews mit Personen, die mit dem Unfall in der Via Savoia in Verbindung stehen. Hierbei wird das Vorgehen des Rechercheurs und Autors Petri durch die charakteristische Erzähltechnik transparent gemacht: In den zahlreichen szenischen Passagen tritt ein homodiegetischer Ich-Erzähler auf, der sich als handelndes, teilnehmendes, wahrnehmendes und fühlendes Subjekt bemerkbar macht. Der Text geht in seiner formalen Organisation so über die bloße Sammlung von Interviews hinaus und nähert sich der Sozialreportage an. Ausgehend von dem Unfall werden auf diese Weise gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wahrnehmbar gemacht, als deren Produkt das tragische Einzelereignis erscheint. In seiner induktiven Anlage leistet also schon der Text das, was dann De Santis’ Film als fiktionale Aufarbeitung des Unglücks zu tun beansprucht. Ein Anfangs- sowie ein Schlusskapitel komplementieren die Befragung der Betroffenen und die Darstellung ihres sozialen Umfelds: Eingeleitet wird der Text von einem Abriss der Berichterstattung über das Unglück (»Il fatto«; Petri 1956: 17–21); der letzte Abschnitt (»Il Policlinico«; ebd.: 136–144) porträtiert dann die Verhältnisse in der römischen Polyklinik, in der die meisten der jungen Frauen nach dem Zusammenbruch der Treppe behandelt worden waren.24 Während hier beispielhaft der desolate Zustand öffentlicher Versorgungseinrichtungen offengelegt wird, schildert der einführende Teil anhand von Ausschnitten aus Zeitungen unterschiedlicher Couleur überblicksartig die Chronologie der Geschehnisse: vom Erscheinen der Stellenanzeige in der Tageszeitung Il Messaggero bis zu einem Treffen städtischer Autoritäten mit einer Jugendschutzkommission, die sich Monate nach dem Unfall für die Interessen der Betroffenen einsetzt. Zugleich funktioniert diese alternierende Darbietung als kritische Presseschau. Die Medien interessieren sich nämlich aufgrund eines Ereignisses von internationaler Tragweite nur wenige Tage für den Unfall: Angesichts des Kalten Kriegs erhält die Ankunft von US-Präsident Eisenhower, der vor Ort für Italiens Beitritt zur NATO wirbt, deutlich mehr Aufmerksamkeit. 24
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Im Petri-Fonds findet sich nur ein undatierter Entwurf des ersten Kapitels, vgl. AMNC ELPE1 [o. J.].
2.3 Selbstständige Arbeiten
Wie der Film, der in seiner Anfangssequenz ebenfalls verschiedene Zeitungsausschnitte zeigt, lenkt der Text anhand des Unglücks den Blick programmatisch auf die innere Problemlage Italiens. Relevant ist hierbei auch der spezifische Darstellungsmodus, mit dem das als Hauptteil konzipierte Kapitel (»Quattro mesi dopo«; ebd.: 22–135) die sozialen und wirtschaftlichen Missstände des Landes beleuchtet: Petris Aufarbeitung des Unfalls verlagert die Perspektive und lässt die betroffenen Frauen selbst zu Wort kommen. Diese erscheinen nicht mehr wie in der Presseberichterstattung als anonyme Masse, sondern werden durch die (Selbst-)Erzählungen ihrer persönlichen Schicksale individualisiert; eben dadurch können die dahinterstehenden, gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse konkret und greifbar werden. Die 26 Interviews, als Unterkapitel montageartig aneinandergereiht, funktionieren dementsprechend wie Kurzporträts: In knapper Form geben sie Auskunft über die oft vom Krieg geprägten Lebensgeschichten der Frauen, ihre familiären Verhältnisse, Erfahrungen bei der Jobsuche und am Arbeitsplatz, aber auch über ihre Liebesbeziehungen sowie persönlichen Gedanken, Interessen und Wünsche. Lässt der Unfall etwa eine von ihnen nahezu existenzialistisch über den Sinn des Lebens philosophieren, so hegen manche den konservativen Wunsch nach Ehe und Eigenheim; andere projizieren naive Aufstiegshoffnungen in die Populärmedien, im Besonderen in das von Petri vertretene Kino. Eine gewisse Rolle spielt hierbei auch der Neorealismus: Indem ein Mädchen auf die Laienschauspieler in De Sicas Filmen verweist, betont sie, dass sich nun auch einfache Leute mit den Figuren auf der Leinwand identifizieren können. Implizit macht sie auch deutlich, dass dadurch prinzipiell für jeden eine Filmkarriere möglich ist (vgl. ebd.: 54 f.). Trotz des Interesses an den individuellen Charakteren der Frauen stehen in den Befragungen ihre sozialen Hintergründe im Vordergrund. Die Auswahl der Befragten folgt zwar keinen vordefinierten Kriterien, ist oft vom Zufall be stimmt, wie der Rechercheur selbst anmerkt (ebd.: 30 f.), und mutet daher recht heterogen an. Dennoch zeichnet sich ab, dass sich unter ihnen neben Arbeiterauch Bauern-, Bürgers- und sogar Generalstöchter befinden. Die gesellschaftliche Verteilung spiegelt sich auch in der Topografie der Stadt wider, die der Erzähler auf der Suche nach den Opfern durchstreift: von einem Industrieviertel hinter dem fast kleinstädtischen Trastevere über das bürgerliche Monte Mario bis zur illegalen Wohnsiedlung Campo Parioli, die durch Landflucht und Binnenmigration nach dem Krieg entstanden ist. Die Lage, die Architektur und der Zustand der Gebäude, die oftmals recht detailliert beschrieben werden, zeigen hier jeweils den Status ihrer Bewohner an.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
So kristallisiert sich schlussendlich heraus, dass die aussichtslos anmutende Bewerbung auf die Stelle als Stenotypistin bei allen Frauen aufgrund einer prekären Lebenssituation erforderlich war: Weibliche Lohnarbeit ist auch sechs Jahre nach dem Kriegsende oft noch eine zwingende Notwendigkeit, um neben dem eigenen Überleben das einer gesamten Familie zu sichern. Die existenzielle Bedeutung jeder entlohnten Beschäftigung macht sie wiederum zu einem bedrohten Gut und damit zu einer Quelle neuen Leids. Petri geht in diesem Zusammenhang allem voran auf das weitverbreitete Problem sexueller Nötigung durch Arbeitgeber ein, das auf die männliche Dominanz als zusätzliche Herausforderung der italienischen Nachkriegsgesellschaft verweist. Dass der Text die Perspektive der Frauen dennoch nicht verabsolutiert, zeigt das knapp gehaltene Schlusskapitel über die Zustände in der römischen Polyklinik. Diese konterkarieren die Aussagen einiger Frauen, die sich über zu hohe Behandlungskosten beschweren: Beschreibungen der schlechten Versorgungsmöglichkeiten und Gespräche mit Krankenpflegern machen ersichtlich, dass die Klinik als Institution des Gemeinwesens selbst unter der Mangelsituation Anfang der 1950er Jahre leidet. Indem der Text so verschiedene Blickwinkel konfrontiert und miteinander kombiniert, weist er das Unglück vom 15. Januar als Folge und Symptom der allgemein in Italien vorherrschenden Lage aus. Nun setzt sich Petris Studie nicht nur durch eine solch tiefgehende und vielseitige Annäherung an den Unfall von der etablierten Tagespresse ab, die sich wenig interessiert zeigt. Auch auf stilistischer Ebene macht sich die Abgrenzung bemerkbar. Nahezu programmatisch geht der Text zu Beginn des zweiten Kapitels vom Nachrichtenstil der Zeitungszitate in den einer Reportage über, auf deren stark subjektive Prägung explizit hingewiesen wird: »Quando ebbi l’incarico di compiere l’inchiesta sulle ragazze di via Savoia per il film di De Santis, erano passati quattro mesi dal crollo« (ebd.: 22). Die Methode der inchiesta be stimmt über weite Strecken dann auch die Erzählform des Texts: Durch den Ich-Erzähler wird die Darbietung des Geschehens in vielen Passagen offenkundig durch die Figur des Rechercheurs perspektiviert, wobei der Umgang mit Befragten und örtliche Gegebenheiten stets mitgeschildert werden. Auf diese Weise bleibt der Vorgang der Recherche stets präsent. Die szenische Erzählweise mag zwar anschauliche Bilder der verschiedenen Gegenden Roms ebenso wie der Frauen bzw. ihrer äußerlichen Erscheinung evozieren: von der Frisur bis zur Kleidung, der Mimik und Gestik sowie ihren Verhaltensweisen, die der Rechercheur oftmals gezielt provoziert; die römische Dialektsprache wird sogar in naturalistischer Manier nachgebildet. Der Text besticht hier insgesamt durch einen Detailrealismus, bei dem sich jede Information als funktional für die Darstellung des sozialen Milieus und die Charakteri-
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2.3 Selbstständige Arbeiten
sierung der Befragten erweist. Allerdings wird der dokumentarische Anspruch gerade nicht aus einer objektiven, neutralen Darstellung, sondern aus der klar markierten subjektiven Perspektive entwickelt: Diese suggeriert eine Augenzeugenschaft, durch die die beschriebenen, oft miserablen Lebensumstände der Gegenden, in denen Petri die Frauen aufsucht, authentisiert werden. Die Erzählweise rechtfertigt allerdings auch, dass der Erzähler seine Meinung mitteilt, persönliche Eindrücke der Frauen wiedergibt, ihre Ansichten und ihr Verhalten ironisch bis spöttisch kommentiert oder eigene Empfindungen wie Scham und Attraktion zum Ausdruck bringt; dadurch wirkt der Text an verschiedenen Stellen sogar recht unterhaltsam. Zugleich gibt Petris inchiesta so konkrete Interpretationsmöglichkeiten für das Wahrgenommene bzw. Dargestellte vor, verwehrt sich durch die ausgestellte Subjektivität aber jeglichen Verallgemeinerungsansprüchen. Denjenigen, denen die Recherche zu einer wirklichkeitsnahen Ausarbeitung des Drehbuchs dienen soll, wird es so möglich, die geäußerten Gedanken und Gefühle im Bezug auf die beschriebenen Umstände intersubjektiv besser einzuschätzen. Der Text, der aus der Recherche für Giorni d’amore hervorgeht, funktioniert grundsätzlich auf eine andere Weise. Dies hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass Petris Aufzeichnungen erst 2004 veröffentlicht werden, mithin in nicht überarbeiteter Form, da der Autor zu diesem Zeitpunkt ja schon lange verstorben ist;25 die inchiesta von Uomini e lupi ist gar nicht überliefert. Gegenüber dem kohärenten Buchtext von Roma ore 11 mutet das heterogene Ensemble aus Fließtextpassagen, Auflistungen und Kalkulationen zwangsläufig eher fragmentarisch und zusammenhangslos an. Hier wird eben die Zweckmäßigkeit eines solchen Schriftstücks deutlich erkennbar. Allerdings liegt den Nachforschungen für Giorni d’amore auch ein anderes Erkenntnisinteresse zugrunde, was sich in Petris Aufzeichnungen niederschlägt: Diese inchiesta versucht mit der Liebesflucht die Spezifika eines Brauchtums zu erfassen, das regional auf die in Mittelitalien gelegene Ciociaria, konkret die Stadt Fondi, dem Heimatort des Regisseurs De Santis, begrenzt ist. Dieses einschlägige Phänomen wird dann mit der finanziellen Situation der ländlichen Bevölkerung in Beziehung gesetzt. Der Text rekonstruiert daher in einem ersten Teil anhand verschiedener Beispiele Ursachen und Umstände einer solchen gemeinsamen Flucht, während in einem zweiten die Abläufe und die anfallenden Kosten eines traditionellen Hochzeitsfests aufgestellt werden.
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Die Recherche wird in einem Sammelband, den Spagnoletti und Grossi 50 Jahre nach dem Erscheinen des Films herausgeben, abgedruckt; vgl. Petri: 2004 [o. J.]: 103–152.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
In diesem Abschnitt wird in Tabellenform ein Überblick über die Aufwendungen für den Konditor, Erfrischungen und Essen, die Aussteuer und die Kleidung des Brautpaares geboten. Daneben finden sich aber auch Passagen, in denen wie in Roma ore 11 Begegnungen des Rechercheurs mit Personen wiedergegeben werden, die im Zusammenhang mit der Ausrichtung eines Hochzeitsfests relevant sind, so etwa dem Ortspfarrer oder der Schneiderin. Die dort vorherrschende literarisch-narrative Darstellungsweise schließt an den ersten Teil an, der persönliche Erlebnisse von Betroffenen in Form kurzer prosaischer Erzählungen aufbereitet: Auf diese Weise werden die Geschichten von insgesamt sieben Paaren dargeboten, die zwischen 1941 und 1950 ihrer Liebe wegen aus Fondi geflohen waren. Auch hier werden stets die Biografien ebenso wie die Geschehnisse rund um die Flucht mitgeteilt. Trotz der enormen Differenzen zwischen den Geschichten kommt jeweils ein einfacher, aber kohärenter Handlungszusammenhang zum Tragen, der sich aus dem Kennenlernen des Liebespaares, ihrer Flucht und der dadurch erzwungenen einfachen Heirat zusammensetzt. Szenen mit Dialogen in direkter, dialektal gefärbter Rede lassen das Geschehen anschaulich werden, wobei sogar ein auktorialer Erzähler auftritt, der die Innenwelten der Liebenden mitteilt und das Geschehen kommentiert. Die Einzelgeschichten verdichten sich schließlich zu einem Porträt einer bäuerlich geprägten Kleinstadt, das über die dort in den 1940er Jahren vorherrschenden Denkweisen, Sitten und Gebräuche Auskunft gibt. Obwohl die beiden Texte in Hinblick auf ihre Publikationsgeschichten, Sujets ebenso wie Gestaltungsweisen äußerst unterschiedlich sind, zeigen sich markante Gemeinsamkeiten. Zunächst auf struktureller Ebene: Sowohl bei Roma ore 11 als auch bei Giorni d’amore werden anhand mehrerer Einzelschicksale jeweils die Hintergründe eines einschlägigen Ereignisses bzw. Brauchtums eruiert; bei Ersterem interessieren primär die zeitspezifischen Zusammenhänge der Nachkriegszeit, während bei Letzterem regionalcharakteristische Aspekte im Vordergrund stehen. Dann auf literarisch-erzählerischer Ebene: Mögen die Texte im Prinzip nur die Ergebnisse einer Recherche zusammenführen und sich daher als nonfiktional kategorisieren lassen, so kennzeichnen sie sich in ihrer prosaischen Form jeweils durch kohärente Erzählstrukturen und ausgedehnte deskriptive Passagen. Hierbei präsentieren Petris Studien die einzelnen Individuen mit ihren charakteristischen Erscheinungs-, Verhaltens- und Sprechweisen im Kontext ihrer Alltagsumgebung nicht nur auf authentische, sondern betont bildliche Weise. Darin wird nun der praktische Nutzen eines solchen Dokuments für Filme, die dem Prinzip der Wirklichkeitsnähe verpflichtet sind, augenscheinlich: Reale Persönlichkeiten und Begebenheiten werden zu plastischen Modellen für Figuren und ggf. Handlungsverläufe, die die Autoren dann im Treatment und im Drehbuch ausarbeiten.
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2.3 Selbstständige Arbeiten
2.3.2 Kurzdokumentarfilme: Nasce und campione (1954) und I sette contadini (1957)
Im Entstehungsjahr von Giorni d’amore kann Elio Petri auch erstmals selbst für einen Film verantwortlich zeichnen. Dabei ist es in den 1950er Jahren durchaus üblich, dass Regieaspiranten wie er zunächst im Dokumentarfilmbereich aktiv werden. Dieser bietet sich in Italien schon deswegen an, weil dort bis 1956 ein sicherer Markt vorhanden ist: Seit 1945 sind Kinobetreiber verpflichtet, vor jedem Spielfilm einen dokumentarischen Kurzfilm zu zeigen. Ein neues Gesetz hebt diese Vorgabe dann auf, wobei auch die im gleichen Zuge eingeführten Qualitätsprämien den Rückgang letztlich nicht verhindern können (vgl. Nepoti 2004: 185; Sorlin 2013: 423). Innerhalb nur eines Jahres sinkt daher die Zahl der produzierten Filme von 1132 auf 225 (vgl. Aprà 2017: 23). Da sich der Dokumentarbereich bis dahin als recht ertragreich erweist, entstehen zahlreiche kleinere, meist kurzlebige Produktionsfirmen (vgl. ebd.: 22 f.); so auch die Soduit (Società del documentario italiano), die Petri zusammen mit Pasquale De Santis und Arturo Zavattini für die Produktion von Nasce un campione gründet. Nach der Einführung des neuen Gesetzes können sich im Wesentlichen nur die etablierten Gesellschaften wie das halbstaatliche Istituto LUCE halten, während in den kommenden Jahren das noch junge Fernsehen allmählich die Führungsrolle auf dem Gebiet des Dokumentarfilms übernimmt. Der Dokumentarfilm stellt auch für politische Akteure ein wichtiges Betätigungsfeld dar: So richtet etwa die Regierung zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit 1951 eine ganze Abteilung ein, der PCI wirbt sogar schon in der frühen Nachkriegszeit für einige Projekte prominente Filmemacher wie Carlo Lizzani an (vgl. Bertozzi 2008: 111–118). Ähnlich verhält es sich dann bei Petris zweitem Film, I sette contadini. Den Angaben des Regisseurs zufolge wird ihm die Regie vom Nationalverband der italienischen Partisanen (Associazione Nazionale dei Partigiani d’Italia) angeboten, der die gesamte Produktion finanziert (vgl. di Carlo 1960: 94). Allein dieser Umstand lässt erkennen, dass auch der italienische Dokumentarfilm solche Themen, die mit dem Faschismus und der Resistenza in Zusammenhang stehen, Ende der 1950er Jahre wieder aufgreift. Die Fachzeitschrift Centrofilm widmet dem 1960 sogar ein ganzes Themenheft (vgl. ebd.: 8–96). Darin wird auch Petris I sette contadini berücksichtigt: Der Film erzählt die Geschichte der Gebrüder Cervi, sieben aus der Emilia stammenden Landwirten kommunistischer Orientierung, die wegen ihrer Tätigkeit im Widerstand 1943 auf Befehl der faschistischen Machthaber hingerichtet worden waren. Erinnerungspolitisch sind die Cervis zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert: Sie fungieren als zentrale Figuren im kollektiven Gedächtnis eines antifaschistischen Italiens, an denen sich
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die Ideale und die Bedeutung der Resistenza für die ideologische Neukonstitution des Landes aufzeigen lassen (vgl. Lucenti 2006; Casali 2008: 125–138).26 Petri, der seine Regiearbeit selbst für wenig gelungen hält, unterstreicht später die politische Motivation des Projekts: Er versteht den Dokumentarfilm als aktiven Beitrag gegen die sich in den 1950er Jahren verschärfende Zensur; er habe die Möglichkeit nutzen wollen, seine Haltung durch konkrete Gesten zu unterstreichen (vgl. di Carlo 1960: 94 f.). Der junge Regisseur referiert hier auf die betont nonkonformistischen Ansichten, wie er sie etwa in Città aperta formuliert. In seiner offenen Kritik an Pietro Germi äußert er sich sogar konkret zu den Gebrüdern Cervi, da er ihre Erinnerung durch einen zunehmenden Antikommunismus angegriffen sieht. Dabei will sie Petri gerade nicht auf die Rolle kommunistischer Widerstandskämpfer reduziert, sondern ohne politische Vorbehalte in ihrer Eigenart und Profession als Landwirte wahrgenommen wissen (vgl. Petri 2007c [1957]: 32; 2007e [1957]: 51). Tatsächlich weist I sette contadini trotz der antifaschistischen Thematik wesentliche Züge des ethnologischen Films auf, der neben dem Industriefilm die Hauptströmung im italienischen Dokumentarkino der 1950er Jahre bildet. Damit rückt Petris zweite Dokumentation in die Nähe von Nasce un campione. Dieses erste, dezidiert unpolitische Projekt führt anhand eines fahrradbegeisterten Jungen das Radfahren als charakteristische Sitte der Romagna vor. So unterschiedlich die Sujets dieser frühen Arbeiten von Petri auch sein mögen: Sie kennzeichnen sich beide dadurch, dass typische Lebensweisen in einem bestimmten Landesteil Italiens vorgeführt werden. Dies geschieht jeweils über Porträts he rausragender Persönlichkeiten, die zugleich als Träger der einschlägigen regionalspezifischen Eigenschaften präsentiert werden. Auf diese Weise pendeln die Filme zwischen einer allgemeinen Charakterisierung der jeweiligen Region und der individualisierenden Darstellung der porträtierten Personen. Bei Nasce un campione wird diese Doppelperspektive noch auf recht einfache Weise umgesetzt. Entwickelt wird sie über den Protagonisten Stampa, einen Zeitungsjungen und talentierten Radrennsportler: An ihm lassen sich letztlich alle mit dem Fahrrad verknüpften Praktiken, Interessen und Träume, die für die Bevölkerung der Romagna als typisch ausgewiesen werden, aufzeigen bzw. zumindest ins Auge fassen. So wird die Begeisterung der Jugendlichen für den Radsport, die Stampa illustriert, aus der fundamentalen Bedeutung des Fahrrads für die Romagnoli abgeleitet: Die einführende Sequenz zeigt verschiedenste
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Renato Nicolai, der am Drehbuch zu Petris Film beteiligt ist und auch das Voiceover spricht, gibt wenige Jahre zuvor die Erinnerungen des Vaters heraus; vgl. Cervi 1955.
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Verwendungsmöglichkeiten, wobei es als zentrales Transport- und Gebrauchsmittel aller Altersgruppen und sozialen Schichten ausgewiesen wird. Das Voiceover, das sich im weiteren Verlauf gelegentlich direkt an Stampa wendet, macht diesen Umstand explizit: »Qui tutti vanno in bicicletta.« Visuell kapriziert sich der Film hier im Wesentlichen auf die einfache Bevölkerung der ländlichen Gegend zwischen Kanälen, dem Meer und einer Kleinstadt an der Via Emilia. Auf diese Weise wird nebenbei deren Alltagswelt in einer Art kaleidoskopischer Rundschau vorgeführt. Der professionelle Radsport bildet mit seinen Berühmtheiten eine nahezu transzendente Gegenwelt, in der das Fahrradfahren zum reinen Selbstzweck wird. Das laienhafte Nacheifern der Jugendlichen, die Trainings- und Wettkampfpraktiken imitieren und sogar Anhängerschaften generieren, erzeugt komische Kon trasteffekte. Dennoch scheinen die höheren Sphären auch im profanen Diesseits der einfachen Landbevölkerung auf: eben durch Stampa, dessen Entwicklung das dramaturgische Grundgerüst von Nasce un campione bildet. Die Klimax des kurzen Films bildet sein Sieg bei einem lokalen Wettrennen, das durch eine relativ schnelle Montage und die extradiegetische Musik recht spannungsreich inszeniert ist. Als Preise dienen ein buntes Trikot und ein hochwertiges Rennrad, die den Zeitungsjungen aus der Romagna seinen Idolen näherbringen. I sette contadini besitzt schon allein deswegen eine komplexere Struktur, weil hier auch eine historische Perspektive eröffnet wird: Der Film präsentiert die Gebrüder Cervi als Wegbereiter einer Blüte, die sich über ein Jahrzehnt nach ihrem gewaltsam herbeigeführten Tod in ihrer emilianischen Heimat einstellt. Tatsächlich werden hierbei vor allem ihre agrarischen Leistungen als maßgebend behandelt, wie bereits der Titel offenbart: Die Cervis werden als moderne Landwirte inszeniert, die durch innovative Bewirtschaftungssysteme und Technologien zur ertragreichen Nutzung des fruchtbaren Bodens beitragen. Dabei greift der Film Motive auf, die im Zusammenhang mit den Brüdern schon seit Ende der 1940er Jahre erinnerungskulturell etabliert sind.27 Ihr Beitrag zur Befreiung der Emilia wird dementsprechend nur benannt statt ausgeführt: Im Endeffekt bilden diese Taten nur den Ausgangspunkt, um die landwirtschaftlichen Errungenschaften der sieben Brüder zu beleuchten und zum Wegbereiter einer glücklichen Gegenwart zu stilisieren. Das gemeinschaftliche und progressive Denken, das ihnen zugeschrieben wird, erscheint wiederum als charakteristische Eigenschaft der in der Emilia lebenden Menschen. 27
Zu diesen Motiven gehören etwa der Besitz eines Globus und eines Traktors, die als Symbole der Weltgewandtheit und des Interesses am technischen Fortschritt behandelt werden; vgl. etwa Casali 2008.
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Dokumentarische Ansichten der bäuerlichen Bevölkerung an den Ufern des Po, die der Film einführend zeigt, werden auf diesen Sinn hin verdichtet: Tanzende junge Menschen und moderne Transportmittel wie Lkw, Roller und Zug deuten Zusammenhalt bzw. Fortschritt an, ehe diese Prinzipien an einer Milchgenossenschaft als konkretem Beispiel für eine alternative, sozialistisch geprägte Organisationsform festgemacht werden: »Ma qui c’è anche la latteria sociale, dove quella parola ›sociale‹ significa ›unione delle forze nell’interesse di ognuno‹« (Abb. 1; vgl. AAMOD o. J. a). Indem der Film diese Darstellung der Region mit der Familienhistorie der Cervis verwebt, erscheinen diese zugleich als Manifestation und als Leitbild einer am kollektiven Wohl ausgerichteten Lebensart. Dementsprechend stellt I sette contadini eine kausale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit her. Diese wird über den Modus der Erinnerung organisiert, den eine Widmung zu Beginn explizit macht: »Questo documentario è dedicato alla memoria dei sette fratelli Cervi, uccisi dai nazifascisti agli albori della Resistenza, il 28 dicembre 1943 a Reggio Emilia.« Die Logik der Erinnerung, Vergangenes ins gegenwärtige Bewusstsein zu holen, bestimmt dann auch die Erzählweise des Films: Statt historische Ereignisse nachzustellen, wie es im Dokumentarfilm damals durchaus üblich ist, wird hier die Vergangenheit in der Gegenwart evoziert. Dies geschieht zum einen dadurch, dass visuell konsequent nur das gegenwärtige Setting der Emilia gezeigt wird. In persona sind die ermordeten Brüder daher nur auf den Porträtfotos ihrer Grabsteine zu sehen, während die Kamera ansonsten ausschließlich ihre Hinterlassenschaft vorführt: das familiäre Anwesen und die mittlerweile üppig bewachsenen Felder sowie ihre Frauen und Kinder, die bei den alltäglichen Arbeiten der Landwirtschaft gezeigt werden. Der Vater der Brüder nimmt eine herausgehobene Stellung ein, wird er doch zur Personifikation der familiären Geschichte aufgebaut: »In Alcide Cervi c’è la storia di tutta la famiglia« (Abb. 2; vgl. ebd.). Das Vergangene wird dagegen nur über die auditive Ebene mitgeteilt: Mit dem Augenzeugenbericht des Vaters und dem Voiceover werden hierbei eher herkömmliche Verfahren des Dokumentarfilms genutzt, um über die Genese der als ertragreich ausgewiesenen Jetztzeit zu informieren. Auf diese Weise werden die landwirtschaftlichen Maßnahmen erläutert, die die Brüder zwischen der Übernahme des Guts im Jahr 1934 und ihrer Ermordung durch die Faschisten vorgenommen hatten. Der Film dokumentiert und begründet damit zugleich die langfristigen Ergebnisse ihrer als weitsichtig akzentuierten Leistungen. Zum anderen lässt I sette contadini das Vergangene vereinzelt tatsächlich gegenwärtig werden. So wird die Erschießung der sieben Brüder im Jahr 1943 in einem suggestiven Zusammenspiel auditiver und visueller Mittel reinszeniert.
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2.3 Selbstständige Arbeiten
Abb. 1 und 2: I sette contadini
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
Der Film gibt hier die Möglichkeit, die qualvollen Momente durch subjektivierende Verfahren mitzuerleben: Im gegenwärtigen Setting des Hinrichtungsorts, einem Sportschützengelände, simuliert die Kamera mit ihren Bewegungen den letzten Gang und die Blicke der Brüder, während das Voiceover im Präsens minutiös das Geschehen mitteilt; selbst die tödlichen Schüsse werden durch intensive Geräusche und einen erschütternden Bildkader nachgestellt. Der Modus der Erinnerung rechtfertigt, dass das derart konstruierte Porträt der sieben Cervis emotional aufgeladen wird. Allein auf seiner Makrostruktur fällt der Film dabei durch ein signifikantes Gefälle auf. Die Anfangssequenz evoziert eine heiter beschwingte Stimmung, die im Mittelteil zunächst aufgelöst wird: Entfaltet sich hier die persönliche Geschichte der Cervis in ihren Rollen als Familienmenschen und Landwirte, so wird eine Atmosphäre der Trauer geschaffen, die die Erschießungsszene zuspitzt. Die finale Sequenz forciert dann wieder eine optimistische Wendung, indem sie die sorgenfreie Gegenwart der Emilia vorführt. Hier unterstreichen die Bilder einer Kooperative und unbeschwerter junger Menschen das Schlusszitat des Cervi-Vaters: »Perché la vita continuasse, perché dopo un raccolto venisse un altro.« Trotz so elaborierter visueller Verfahren, wie sie etwa in der Erschießungsszene zum Einsatz kommen, ist es jeweils die auditive Gestaltung, die bestimmend ist: die ruhige, fast durchgängig erklingende Hintergrundmusik sowie die stark wertenden Beschreibungen und Kommentare des Voiceover. Mit dem pathetischen Satz »Morirono per la nostra libertà« stellt die extradiegetische Sprechinstanz am Ende sogar eine imaginäre Gemeinschaft mit den Zuschauern her, die ihre blühende Jetztzeit wie die Menschen im Film dem Wirken der Cervis zu verdanken haben. I sette contadini macht somit nicht nur die Cervis als menschliche Individuen hinter den historischen Persönlichkeiten fassbar, wie schon Randolino bemerkt (vgl. Randolino 1995). Über den Vorgang der Erinnerung, der klar markiert und filmisch umgesetzt wird, vermittelt der als dokumentarisch deklarierte Film zudem eine deutlich politisch gefärbte Ideologie des Fortschritts. Gegenwart und Vergangenheit mögen sich in ihrer engen kausalen Verbundenheit zwar gegenseitig Sinn verleihen: So gesehen erweitert I sette contadini das Bild der Resistenza durch das agrarische Vordenkertum der Cervis um einen sozialistischen Blickwinkel. In letzter Konsequenz geht dies so weit, dass die anfangs gezeigte Milchgenossenschaft als konkretes, regional umgesetztes Beispiel alternativer Landwirtschaft auch historisch legitimiert wird. Die erinnerte Geschichte fungiert hierbei aber nicht nur als identitätsbildendes Fundament, sondern verweist zugleich auf eine gemeinschaftliche wie zukunftsgerichtete Gestaltung der aktuellen Lebenswirklichkeit.
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2.3 Selbstständige Arbeiten
Obgleich I sette contadini im Unterschied zu Nasce un campione konkrete politische Ideen vermittelt, sind sich die Filme stilistisch doch recht ähnlich; beide Arbeiten entsprechen den damals in Italien noch üblichen Modalitäten des Dokumentarfilms. Vor allem in der ersten Hälfte des Jahrzehnts ist der Großteil der meist zehnminütigen Produktionen relativ konventionell gestaltet, stellt man sie der emphatischen Hinwendung zur außerfilmischen Wirklichkeit im italienischen Nachkriegsspielfilm gegenüber. Dies hängt wesentlich mit den filmtechnischen Möglichkeiten zusammen, die im Vergleich zu den Dokumentarfilmbewegungen der 1960er Jahre noch wesentlich begrenzter sind: Der Aktionsspielraum der Kamera ist noch recht beschränkt, auch wenn sie durch Schwenks und Fahrten verschiedenen Szenen von Nasce un campione eine gewisse Agilität verleiht. Auch der Synchronton ist noch wenig verbreitet; das Voiceover bleibt zudem als notwendige Erläuterungsinstanz allgegenwärtig. Umso bemerkenswerter mutet der Umstand an, dass eine technische Errungenschaft wie der Farbfilm in Italien zunächst im dokumentarischen Bereich in größerem Umfang zum Einsatz kommt, wie auch die beiden Regiearbeiten von Petri zeigen; schon 1953 übersteigt die Zahl der in Farbe gedrehten Dokumentationen die der Spielfilme (vgl. Bertozzi 2003: 151 f.). Der Filmkritiker Mario Verdone sieht in der Farbe sogar eine Verbesserung des Dokumentarfilms, da eine weitere Dimension der Wirklichkeit ›reproduziert‹ werden könne (vgl. Verdone 1954: 140). Es ist bezeichnend, dass sich bei Petris erstem Film ein Rezensent stattdessen beschwert, dass »il colore […] è troppo spesso violento« (Bertieri 1954): An den ersten beiden Regiearbeiten wird vor allem ersichtlich, dass in der Dokumentarfilmpraxis Fragen der Wirklichkeitstreue damals noch eine eher nachgeordnete Rolle spielen. Dabei ist an I sette contadini mit Zavattini eigentlich der maßgebende Fürsprecher eines neuen Dokumentarismus beteiligt: Bezeichnenderweise verfasst er zusammen mit Luigi Chiarini das Drehbuch. In der Umsetzung werden dementsprechend die Möglichkeiten der Inszenierung und der Dramaturgie ausgeschöpft. Statt wie in Zavattinis Entwürfen der Ausdruckskraft des Faktums filmisch Raum zu geben, erzeugt dieser Film wie schon Nasce un campione ein semantisch verdichtetes Bild von Wirklichkeit: hier eben mit dem Ziel, bestimmte politische Leitgedanken zu lancieren.
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
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Zusammenfassung: offene Situation des politischen Films nach dem Neorealismus
Betrachtet man Elio Petris frühes Schaffen im Gesamten, so lässt sich daran die ambivalente Situation des politischen Films beobachten, die in Italien zu dieser Zeit vorherrscht; nicht zuletzt deswegen, weil der kommende Spielfilmregisseur 1957 explizit und selbstkritisch eine radikale Neuorientierung einfordert, um die bestehende Aporie überwinden zu können. Aufgrund des neorealistischen Leitmodells ist bis dahin die Reflexion über den politischen Film stets an die Frage danach geknüpft, wie die filmische Gestaltung im Verhältnis zur außerfilmischen Wirklichkeit organisiert sein muss. Auch die inchiesta, wie sie Petri etwa für Roma ore 11 und Giorni d’amore durchführt, steht als einschlägige Praxis im Zeichen der Idee, dem fiktionalen Film eine größtmögliche Nähe zu wirklichen Begebenheiten zu verleihen, um die bestehende Problemsituation adäquat darstellen zu können. Gerade bei den Projekten, bei denen der junge Elio Petri mit Cesare Zavattini zusammenarbeitet, mag sich auf eindrückliche Weise zeigen, dass dessen radikal dokumentarischer Ansatz zur Modifikation der neorealistischen Ästhetik kaum Auswirkungen auf die Filmproduktion hat. Dies gilt sowohl für die Spielfilme, die Petri als Rechercheur, Drehbuchautor und gelegentlich als Regieassistent mitgestaltet, ebenso wie für den Dokumentarfilm I sette contadini, der unter Petris eigener Regie entsteht. An Letzterem wird deutlich, dass solche Kurzdokumentationen im Zusammenhang mit dem politischen Film kaum Be rücksichtigung finden, obwohl sie expliziter als die zeitgenössischen Spielfilme politische Themen verhandeln. Eben weil in Italien die dramaturgische und audiovisuelle Umsetzung der fraglichen Produktionen noch unauffällig ist, scheinen sie im Vergleich mit dem Neorealismus und Zavattinis Entwürfen eines strengen Dokumentarismus abzufallen. Zavattinis Konzeptionen, die zu mindest in den zeitgenössischen Diskussionen äußerst präsent sind, bieten sich Petri aufgrund ihrer begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten allerdings als pro blematisch dar. Petri selbst vertritt daher zusammen mit De Santis und Puccini zunächst ein Modell, das sich dezidiert gegen Zavattini stellt. Ihre Idee eines volkstümlichen Kinos variiert dabei den weiter verbreiteten Grundgedanken, dass Filme, die die soziale Wirklichkeit kritisch aufarbeiten, die inszenatorischen Potenziale des Mediums nutzen müssen: Hier soll sich der politische Film nun im Sinne Gramscis die Darstellungstraditionen der subalternen Klassen einverleiben, um tatsächlich von diesen verstanden werden zu können – so die leitende Idee. Eine solche poetologische Deklaration täuscht allerdings über
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2.4 Zusammenfassung
die tatsächliche ästhetische Beschaffenheit der Filme hinweg. Betrachtet man Arbeiten wie Giorni d’amore, so bestechen diese durch filmische Selbstreferenzen und intermediale Bezüge – mithin Verfahren, die die Darstellbarkeit der Wirklichkeit durch den Film und den Erkenntniswert explizit wirklichkeitsnaher Darstellungen infrage stellen. Charakteristischerweise sind solche Mittel im scheinbar so realitätstreuen italienischen Kino schon zu diesem Zeitpunkt durchaus verbreitet. Die Kritik, die Petri dann in Città aperta gegen die von ihm mitkonzipierte Variante vorbringt, trägt dieser filmischen Avanciertheit ebenfalls keine Rechnung: Da er nun die Idee eines unbedingt zeitgemäßen politischen Films entwickelt, nimmt er die volkskulturellen Bezugsmodelle und die damit verknüpften Themen als überkommen und fehlleitend wahr. Angesichts der sich rasant entwickelnden Industrie- und Konsumgesellschaft besitzt ein solches Modell keine langfristige Perspektive. Innerhalb weniger Jahre ändern sich die Verhältnisse in Italien grundlegend, wie es 1960 auch der Film L’impiegato betont: Hier formen bereits die industriell hergestellten, US-amerikanisch geprägten Populärmedien die Kultur der arbeitenden Massen, deren strukturelle Zusammensetzung sich wiederum stark gewandelt hat. Die Position, die Petri nun vertritt, sticht innerhalb der italienischen Theoriedebatte um den politischen Film allein deswegen hervor, weil er einen rein themenbezogenen Standpunkt umreißt. Der ästhetischen Gestaltung räumt er bewusst nur eine untergeordnete Rolle ein, sodass er seinerseits konsequenterweise auf konkrete Vorgaben verzichtet. Darin zeichnet sich eine antidogmatische Haltung ab, die sich primär gegen die als zu kleinlich empfundenen Interpretationen des Neorealismus und Gramscis Theorie einer national-popularen Literatur richtet. Entwickelt Petri in den kommenden Jahren dann selbst gegen die grundlegenden Konventionen der Filmgestaltung eine Aversion, so lässt hier die programmatische Offenheit bereits erahnen, weshalb er zu Beginn seiner eigenen Karriere als Spielfilmregisseur die Nouvelle vague feiert: Sie gibt ihm die ästhetischen Impulse für die Konzeption eines neuen politischen Films, der zeitcharakteristische Problemstellungen präsentieren kann – ohne sich unnötigerweise an fossilisierten Leitmodellen oder filmgestalterischen Regeln im Allgemeinen abzuarbeiten. Im konventionelleren Gewand der Komödie deutet dagegen schon L’impiegato an, wie sich im italienischen Kino der Jahrzehntenwende Sozialkritik und Medienreflexion verbinden können: Die ironische, nahezu kompilatorische Umsetzung verschiedenster Genremuster trägt dem Umstand Rechnung, dass die Unterhaltungsmedien einen integralen Bestandteil der von der Boom-Gesellschaft geschaffenen Lebenswelt bilden. Während De Santis’ Filmografie durch
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2. Vor dem Spielfilmdebüt (1951–1960)
La garçonnière in Richtung des Autorenkinos mit seinen entfremdeten Protagonisten bürgerlicher Herkunft verweist, ist es eben diese von Petri selbst kaum beachtete Produktion, die sich filmgeschichtlich mit seinen eigenen Regiearbeiten in Verbindung bringen lässt.
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3.
Für ein neues Kino: Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Elio Petri beginnt seine Tätigkeit als Spielfilmregisseur in einem Zeitraum, der in der Filmgeschichtsschreibung als Beginn einer neuen Phase im italienischen wie im europäischen Kino gilt: die Moderne, die maßgeblich vom Autorenkino und den Neuen Wellen vorangetrieben wird. Auch Kovács sieht hier den Moment, in dem sich die moderne Filmästhetik durchsetzt (vgl. Kovács 2007: 275–309). In Italien ist dieser Prozess filmhistorisch im Kontext eines vielgestaltigen Aufschwungs zu sehen, von dem oft als Blütezeit oder ›goldenem Zeitalter‹ gesprochen wird (vgl. etwa Koebner / Schenk 2008). Schon zeitgenössische Beobachter sind sich den außerordentlichen Entwicklungen bewusst: 1960 feiert etwa Guido Aristarco ein »risveglio del film italiano« (Aristarco 1960a: 448), während Nedo Ivaldi 1963 in Anlehnung an die ökonomische Situation vom »boom cinematografico italiano« (Ivaldi 1963: 45) spricht. Diese Hochphase mag sich zunächst an konkreten Zahlen festmachen lassen. Nach einer kurzen Rezession um 1957 steigt die Filmproduktion in den folgenden Jahren erheblich an, sodass sich das heimische Kino im Vergleich zu anderen europäischen Ländern als äußerst vital erweist: Werden 1960 in Italien noch 160 Filme gedreht und verliehen, so ist 1964 mit 290 ein neuer Höchststand erreicht (vgl. SIAE o. J. a; o. J. b). Dem entspricht eine Entwicklung auf personeller Ebene, die filmgeschichtlich ihresgleichen sucht: Nachdem 1959 nur wenige Zukunftsträger wie etwa Francesco Rosi und Valerio Zurlini zur Spielfilmregie wechseln, ist Elio Petri einer von 168 jungen Filmemachern, die im folgenden Jahrfünft debütieren; so etwa auch Pier Paolo Pasolini, Ermanno Olmi, Vittorio De Seta, Bernardo Bertolucci, Lina Wertmüller, Florestano Vancini, Paolo und Vittorio Taviani sowie Valentino Orsini (vgl. Micciché 2001). Viele der Erstlingsfilme werden auch in der Geschichtsschreibung zu den wichtigsten dieser Zeit gezählt, vereinzelt wird mit der Rede von einer italienischen Welle Vergleichbarkeit mit der Nouvelle vague suggeriert (vgl. ebd.; Micciché 1975: 41–57; Brunetta 1991: 489– 492). Zugleich scheint das italienische Kino aus Sicht vieler Kritiker auch künstlerisch seine Vorrangstellung zurückzugewinnen. Dieser Eindruck wird dadurch gestärkt, dass Filme von Fellini, Antonioni, Visconti, De Sica und Rosi bei den großen internationalen Wettbewerben sehr erfolgreich sind. Wirtschaftlich wird der Aufschwung des italienischen Kinos vor allem von der Genreproduktion getragen. Ab Ende der 1950er Jahre bilden sich durch die gehäufte Verwendung von bestimmten Themen, Settings, Figurentypen, Schau-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
spielern und auch Stilmitteln in relativ großen Gruppen von Filmen Genres aus, die – auch als Anverwandlung ausländischer Traditionen – spezifisch für das italienische Kino sind: der Kolossal- bzw. Peplum-Film, die commedia all’italiana, der giallo, der Italowestern oder der musicarello. In den filmbezogenen Debatten gelten diese Genres damals als neue Formen eines zerstreuenden, evasiven Kinos, während sie von einer an den Cultural Studies orientierten Filmwissenschaft mittlerweile als ›populares‹ Kino aufgewertet werden (vgl. beispielsweise BrizioSkov 2011; Bayman / Rigoletto 2013). Recht bald kommt auch die Diskussion um ein ›neues‹ Kino auf: Mit diesem letztlich unscharfen Schlagwort wird versucht, die filmkünstlerischen Erneuerungstendenzen, die sich in der zeitgenössischen Produktion beobachten lassen, zu erfassen und zu systematisieren. Hier spielt angesichts der zahlreichen Regieneulinge ähnlich wie bei der Nouvelle vague die Generationenfrage eine gewisse Rolle. Auch Petris erste Spielfilme werden unter dem Rubrum des Neuen diskutiert und von ihm selbst in den Horizont filmischer Modernisierung gerückt: L’assassino und I giorni contati gelten seinerzeit als Beispielstücke einer Fil memachergeneration, die beansprucht, über neue Ausdrucksformen neue Perspektiven auf den Menschen in der ihn umgebenden Massengesellschaft zu bieten. Die Kritiker zählen mit Antonionis L’avventura, Fellinis La dolce vita und mit Abstrichen auch Viscontis Rocco e i suoi fratelli allerdings nur Filme etablierter Regisseure zur Speerspitze des ›wiedererwachenden‹ italienischen Kinos. Diese Filme bieten sich als Leitmodelle einer kinematografischen Erneuerung an, weil sie sich durch die werkbiografischen Verknüpfungen ihrer Regisseure in eine legitimierende Traditionslinie mit dem Neorealismus stellen lassen. Auf formalästhetischer Ebene wird hierbei ausschließlich Antonioni als (zulässiger) Innovator anerkannt. Befürworter eines radikalen Konventionsbruchs wie Elio Petri orientieren sich dagegen in der Regel an der Nouvelle vague, insbesondere den Arbeiten von Alain Resnais und Jean-Luc Godard. Tatsächlich ist der Kreis der Fürsprecher in Italien insgesamt recht überschaubar, da diese Filme oftmals als zu destruktiv und selbstbezüglich wahrgenommen werden. Dennoch ist unbestreitbar, dass im Zusammenhang mit dem politischen Film neben thematischen Aspekten der Gegenwartsgesellschaft die Idee einer dezidiert antikonventionellen Gestaltungsweise an Bedeutung gewinnt, verstärkt auch in Abgrenzung zur neorealistischen Dokumentarästhetik. Innerhalb dieser filmgeschichtlichen Konstellationen Anfang der 1960er Jahre nimmt Petris frühes Spielfilmwerk eine besondere Stellung ein. Gilt er zunächst als Hoffnungsträger, so führt das nun vorherrschende Modernisierungsverdikt dann dazu, dass Il maestro di Vigevano und La decima vittima beim Großteil der Kritiker durchfallen, abgetan als konventionell und ober-
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3.1 Petri und die Debatte um eine kinematografische Modernisierung
flächlich, intellektuell flach und damit insgesamt als regressiv. Dabei setzt sich der Regisseur auf theoretischer Ebene schon vorher mit den Darstellungspotenzialen populärer Genres auseinander. In seinem filmpraktischen und -poetologischen Schaffen dieser Zeit deutet sich ein politischer Film an, der in der kritischen Auseinandersetzung mit den sozioökonomischen und kulturellen Entwicklungen Italiens fast alle vom Gegenwartskino gebotenen Möglichkeiten berücksichtigt und reflektiert.
3.1
Petri und die Debatte um eine kinematografische Modernisierung
Elio Petri nimmt nach der Einstellung von Città aperta erst wieder zu filmbezogenen Themen Stellung, als er 1960 die Arbeiten zu seinem ersten Spielfilm aufnimmt. Da er nun selbst Regie führt, bekommt seine Person auch von der Fachöffentlichkeit mehr Beachtung; er äußert sich daher nun vor allem im Rahmen von Interviews. Schon damals fallen die intensiven Bemühungen, seine Ansichten zum Gegenwartskino auch theoretisch zu untermauern, auf: In der französischen Zeitschrift Premier Plan wird er sogar als »le plus théoricien de tous les cinéastes de sa génération« (Borde / Bouissy 1963: 48) bezeichnet. Wie schon in seinen Artikeln für die marxistische Kulturzeitschrift umreißt Petri seine eigene Position in kritischen Bestandsaufnahmen des nationalen und internationalen Kinos. Dank der neuen Bezugsmöglichkeiten, die sich ihm in den frühen 1960er Jahren eröffnen, modifiziert er nun seine Haltung in ästhetischen Kernfragen und gesellschaftsrelevanten Themen auf signifikante Weise. Für die eigene Filmarbeit wird ihm anfangs die Nouvelle vague zum Maßstab – jedoch nur insoweit sie sich mit seinen marxistisch geprägten Vorbehalten gegen ästhetizistische Allüren in Einklang bringen lässt. Dabei sieht er seinerseits zunächst die Notwendigkeit, das Kino als moderne Kunstform zu nobilitieren: Er hat hier weniger den reinen Kunstwert als vielmehr die erkenntnisfördernden Potenziale des Kinos im Blick. Um diese entfalten zu können, muss das Kino aus Petris Sicht unbedingt von der Zerstreuungsfunktion befreit werden. Bereits in Un elefante castrato hatte er dargelegt, dass diese nun vom Fernsehen, das er als neues ›Nickelodeon‹ bezeichnet, übernommen werden könne (vgl. Petri 2007f [1957]: 59). Zu Beginn seiner Karriere als Spielfilmregisseur entwickelt Petri dann tatsächlich die Idee eines künstlerisch anspruchsvollen, wenig massentauglichen Kinos, die er dann im Zuge von La decima vittima wieder aufgibt. Damit setzt in seinen Überlegungen über ein zeitgemäßes Modell des politischen Films ein Prozess des Umdenkens ein: In den 1970er Jahren wird
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Unterhaltung, bereinigt von den negativen Assoziationen der Zerstreuung und der Evasion, zu einem Kernpunkt seines ästhetischen Programms. Dieses positioniert er dann dezidiert gegen ein artistisch ambitioniertes Kino, wie es ihm anfangs selbst noch vorschwebt. Die Neuen Wellen werden Petri auch aus einem anderen Grund zunächst zum Vorbild: Er projiziert auf sie die Idee einer gemeinsamen Bewegung unter den Filmschaffenden, die er schon 1957 mit Bezug zu Gramscis Hegemonietheorie zum Desiderat macht. Aus diesem Blickwinkel stehen für ihn die Neuen Wellen in einer Traditionslinie mit dem Neorealismus. 1964 verweist er in einem Artikel mit dem prägnanten Titel Giochi di squadra e specialità individuali die italienischen Filmschaffenden darauf, dass es etwa die Regisseure der Nouvelle vague und des Free Cinema geschafft hätten, sowohl geistig als auch ökonomisch jeweils eine gemeinsame Basis zu finden (vgl. Petri 2007h [1964]: 91). Selbst eine individualistische Konzeption wie die des auteur ist für ihn von diesem Standpunkt aus legitim, sofern sie ein alternatives, unangepasstes Kino initiieren kann. Der Nachwuchsregisseur leitet daraus nun die Möglichkeit ab, durch die Zurücknahme von Einzelinteressen und die Verteidigung gemeinsamer Ansichten das Kino in Italien wieder einer bewusstseinsbildenden Funktion zuzuführen. Da es aus seiner Sicht gerade den dortigen Jungfilmemachern an einer gemeinsamen Vision fehlt, spricht er angesichts der enormen Produktionszahlen schon früh von einer »fausse prospérité« (Martin 1962). In seinen Überlegungen zum politischen Film, dem sich Petri wie kaum ein anderer Regisseur aus Italien verschreibt, markiert der Bezug zur Nouvelle vague den wesentlichen Unterschied zu seinen früheren Positionen: Die Filmgestaltung erhält für ihn nun einen zentralen Stellenwert. Pointiert Petri die Konzeption, die er Anfang der 1960er Jahre entwickelt, mit dem Begriff des ›Kinos der Ideen‹ (cinema di idee), so darf dies nicht über die elementare Rolle der filmischen Machart hinwegtäuschen. Er theoretisiert ein Kino, das nonkonformistische Inhalte über eine nonkonformistische Form vermittelt. Auf diese Weise soll es gelingen, das sich seiner Situation unbewusste Publikum geistig zu aktivieren.
3.1.1 Theoretisierung eines ›neuen‹ Kinos
Petri ist nicht der Einzige in der italienischen Filmkultur, auf den die Nouvelle vague Eindruck macht: Als François Truffauts Les 400 coups und Alain Resnais’ Hiroshima mon amour 1958/59 bei den Festspielen in Cannes gezeigt werden, entsteht in Italien eine kontroverse Debatte über die Zukunftsfähigkeit des eigenen Kinos (vgl. etwa Laura 1959: 32, 34; Bolognini et al. 1959). Bereits im Juni
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3.1 Petri und die Debatte um eine kinematografische Modernisierung
1959 beschwert sich der Filmemacher Nanni Loy sogar über die unreflektierte Forderung, dass auch die hiesigen Nachwuchsregisseure auf das Drehbuch verzichten und nur noch mit 16-mm-Kamera arbeiten (vgl. Loy 1959). Angesichts der internationalen Wellen, aber auch der aktuellen Regiearbeiten Antonionis, Pasolinis und anderer Filmemacher aus dem eigenen Land verdichtet sich in der italienischen Debatte allmählich die Vorstellung eines ›neuen‹ Kinos. Die damit verbundene Idee filmischer Modernisierung bezieht sich primär auf formalstilistische und erzähltechnische Innovationen. Petri entspricht in seiner Argumentation dem bestehenden Konsens, wenn er sich ausdrücklich gegen das ›alte‹ Kino wendet, das durch seine strengen Regeln wie jeder Schematismus den Erfindungsdrang einbremse. In dieser Hinsicht wird das sog. Neue Kino vor allem jüngeren Kritikern und Filmemachern zum Leitmodell. Während dabei insgesamt das heimische Autorenkino maßgebend bleibt, gibt es auch Fälle wie jenen der cinephilen Zeitschrift Filmcritica, die sich 1964 völlig vom Realismus lossagt und Godard zur Galionsfigur erhebt.28 Mit der 1965 erstmals stattfindenden Mostra Internazionale del Nuovo Cinema von Pesaro wird in Italien das Neue Kino dann sogar institutionell gefestigt. Die Veranstaltung versteht sich als Ort der Begegnung und des Austauschs für interessierte Filmschaffende aus allen Teilen der Welt. Petri sieht seinerseits die Anzeichen einer filmgestalterischen Modernisierung nur in den zeitgenössischen Regiearbeiten von Alain Resnais und Jean-Luc Godard: eben jenen Filmemachern der Nouvelle vague, die in Italien besonders kontrovers diskutiert werden. Für seine eigene Arbeit als Spielfilmregisseur macht er sogar nur Godard explizit relevant, nachdem er zunächst beim Nouveau roman Inspiration findet (vgl. AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 4; Argentieri 1960). Indem der französische Filmemacher die ›grammatikalischen‹ Regeln der Filmsprache unterläuft, eröffnet er aus Petris Sicht zunächst einen neuen Horizont an Gestaltungsmöglichkeiten. Diese gelte es dann in Hinblick auf ihren Nutzen für ein dezidiert gegenwartskritisches Kino zu erproben (vgl. o. A. 1962a; AMNC ELPE76 [ca. 1961]: 3; ELPE77 [ca. 1965]: 4). Godards Variante der Nouvelle vague stellt für Petri mithin nicht mehr als einen wegweisenden Schritt dar: Schließlich hegt er wie andere Marxisten starke Vorbehalte gegen das Konzept des auteur, das in den Cahiers du Cinéma (letztlich nur in Ansätzen) entwickelt worden ist. Auch aus der Perspektive eines theorieinte ressierten Regisseurs wie Pier Paolo Pasolini oder der Fachzeitschriften Bianco e Nero und Cinema Nuovo stellen die Filme formalistische Rückfälle in ein bürger-
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Die entsprechenden Verlautbarungen des Chefredakteurs vgl. Bruno 1964.
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liches Kunstmodell dar: Beispielsweise sieht Aristarco bei Godard einen »›documentarismo‹ degli pseudo e tardo rivoluzionari formali ed estremisti« (Aristarco 1960b: 523). Di Giammatteo betrachtet die Filme sogar als Symptom für eine tiefgreifende Krise der französischen Kultur, wobei er den Cahiers du Cinéma vorwirft, ihre Filmkritiken nur auf Geschmacksurteile zu gründen (vgl. Di Giammatteo 1962a: 37–49; 1962b). Die zunehmende Aufmerksamkeit für die formale Gestaltung wird in Italien von der Rezeption des Strukturalismus befördert, der dort in der ersten Hälfte der 1960er Jahre als neues Paradigma verhandelt wird. Es sind vor allem die Befürworter des Neuen Kinos, die im Bereich des Films nun eine medienspezifische Semiotik als Analysemethode einfordern: Mithin werfen die innovativen Filme durch die Subversion bestehender Gestaltungskonventionen die Frage nach einer genuinen ›Sprache‹ (ital. linguaggio) des Films auf. Auch in diesem Zusammenhang spielt die Mostra Internazionale del Nuovo Cinema als Debattenforum eine maßgebende Rolle (vgl. Muscio / Zemignan 1991: 24). Mit dem wachsenden Interesse an der filmischen Ausdrucksseite ändern sich zwangsläufig auch filmontologische Grundannahmen. Während etwa in der Debatte um den Neorealismus aufgrund der fotografischen Eigenschaften des Films noch eine unmittelbare Verbindung zur Wirklichkeit angenommen wird, betrachtet man die filmisch konstituierte Wirklichkeit nun als Ergebnis eines zeichenbasierten Prozesses; demnach wird der Film als Konstrukt anerkannt. Konsequenterweise gerät auch von diesem Standpunkt aus der neorealistische Glaube an eine filmisch direkt zugängliche Wirklichkeit in die Kritik. Petri, der sich seinerseits nun besonders für den Aspekt des Konventionsbruchs interessiert, wertet den Neorealismus unter stilistischen Gesichtspunkten dagegen ausdrücklich auf: »Il neorealismo italiano, nel suo lavoro di scoperta di nuovi contenuti, si era avventurato appena oltre la soglia delle vitali rivolte linguistiche« (AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 4). Obwohl die filmische Form größeres Eigengewicht zugesprochen bekommt, bleibt in Italien auch für das Neue Kino die Maxime eines kritischen Bezugs zur gesellschaftlichen Realität maßgebend. Auch stilistisch besonders ausgeprägte Filme werden daher stets auf ihr Referenzverhältnis zur außerästhetischen Welt geprüft. Gleiches zeigt sich in der zeitgenössischen Ästhetiktheorie: So behandelt Umberto Eco gemäß seiner Vorstellung des Kunstwerks als epistemologischer Metapher die offene Struktur als Ausdruck des ungeordneten Kosmos, der das moderne Zeitalter kennzeichne. Den modernen Film betrachtet Eco hierbei als wegweisend für die anderen Künste: »Ci ha saputo dare gli esempi piú [sic!] chiari e vistosi di una tale utilizzazione espressiva della struttura tecnica« (Eco 1962: 229, Anm. 14). Dementsprechend verurteilt er Viscontis Rocco e i suoi fratelli, da
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dessen klassisch aufgebaute, melodramatische Handlung mit ihrem kathartischen Ende eine wiederherstellbare Ordnung suggeriere und die Zuschauer psychisch befriedet entlasse. Demgegenüber wird Antonionis L’eclisse positiv hervorgehoben, da die unkonventionelle Montage die moralische und psychische Unbestimmtheit der Figuren vermittle (vgl. ebd.: 227–229). Pasolini geht in seiner Abhandlung über das ›Kino der Poesie‹ dagegen davon aus, dass die Darstellung pathologischer Innenverhältnisse Filmemachern nur als Vorwand dient, um über den spezifischen Gebrauch der filmästhetischen Gestaltungsmittel ihre Kunstfertigkeit auszustellen (vgl. Pasolini 1989 [1965]: 17–35). Was sich bei Eco andeutet und bei Elio Petri wie dem Großteil der progressiven Filmschaffenden und -theoretiker Italiens im Zentrum der Überlegungen steht, ist eine neue Form der Entfremdung. Diese wird oftmals bereits psychologisch als Dissoziation interpretiert. Die Entfremdung wird dabei als charakteristisches Phänomen einer Gegenwart behandelt, die sich mit der Konsolidierung moderner Gesellschaftsformen einstellt: Der Mensch befinde sich hier nicht mehr in einer materiellen Notlage, sondern in einem Zustand existenziellen Unbehagens, so die vorherrschende Annahme (vgl. Micciché 1989 [1965]: 13). Diese Diagnose bezieht sich auf die kapitalistisch geprägten Massen- und Konsumgesellschaften des Westens genauso wie die östliche Hemisphäre, wo die sozialistischen Staaten sich als diktatorisch-repressiv entlarven: Die Akkumulationsmentalität und die geistige Starre des real existierenden Sozialismus entfernen gleichermaßen den Einzelnen von seinem Selbst. Lösen sich die Gewissheiten der bislang vorherrschenden Weltanschauungen auf, so werden sie gar als Illusionen diskreditiert: Ideologien erscheinen nunmehr als manipulative Interpretationsmuster, die die Wahrnehmung der Welt überformen. Demgegenüber wird der selbstständig denkende Mensch, der sich in der Interaktion mit seiner Umgebung von jeglichen vorgeprägten Denkschemata befreit, zum Ideal erhoben. Wie andere italienische Fürsprecher des auteurGedankens verteidigt Lino Micciché, seines Zeichens Initiator der Mostra Internazionale del Nuovo Cinema, dementsprechend die Filme des Neuen Kinos als persönliche Wirklichkeitsinterpretationen: Als solche wirken sie dem Anschein einer objektiv gegebenen Realität entgegen und bringen zugleich das charakteristische Gefühl einer grundlegenden Beklommenheit gegenüber der Jetztzeit zum Ausdruck (vgl. ebd.: 12 f.). Somit werden anhand des Neuen Kinos in der italienischen Filmtheorie schon damals wesentliche Charakteristika der modernen Filmästhetik (vgl. Kap. 1.4.2) verhandelt und fundiert. Bei Elio Petri kommt schon in den frühen 1960er Jahren ein Gedanke zum Tragen, der wenig später für die Mostra Internazionale del Nuovo Cinema programmatisch wird: Er nimmt an, dass solche Filme, die sich der Situation des Men-
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schen widmen, ästhetisch und intellektuell schwer zugänglich sein müssen, auch auf die Gefahr hin, sich von einem größeren Publikum zu distanzieren (vgl. o. A. 1962b: 174). Bei der Mostra manifestiert sich darin dann ein elitärer Kunstanspruch, der von Kritikern ebenso wie kulturellen Institutionen in dieser Zeit verstärkt an das Kino herangetragen wird (vgl. Manzoli 2012: 11 f.). Damit ist allerdings eine politische Intention verbunden: Die Veranstalter der Mostra zielen darauf ab, durch eine alternative Kinokultur und die damit eröffneten Wahlmöglichkeiten der Entmündigung des Publikums entgegenzuwirken. Sie verstehen das Festival dabei als Beitrag zur Entstehung einer ›neuen Kultur‹ im Sinne Gramscis (vgl. Argentieri 1989: 191–193). Petri hebt dagegen primär auf die Erkenntnisleistung solcher Filme ab: Die Veränderung der bestehenden Verhältnisse ist seiner Ansicht nach maßgeblich von der Selbstbewusstwerdung des Einzelnen abhängig. Kunst, Kultur und damit auch das Kino sind für ihn gerade in entfremdenden Gesellschaften von essenzieller Bedeutung, zumal sie seit jeher »la funzione di guardare l’uomo da se stesso« (Petri 2007h [1964]): 90) erfüllen. Hierbei bietet sich ihm nun das gemeine Publikum, das für ihn der wesentliche Adressat eines erkenntnisfördernden Kinos ist, als größtes Hindernis dar (vgl. o. A. 1962b: 174). Petri geht davon aus, dass die Zuschauer kein Interesse an einer kritischen Reflexion der menschlichen Verfassung, sprich der Konfrontation mit ihrer eigenen Lage haben. Noch um 1965 beschwert er sich, dass das Publikum das Kino üblicherweise nur als ›Spielzeug‹ nutze und dadurch selbst seine ›infantile Regression‹ vorantreibe (vgl. AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 10 f.). Petris Haltung gegenüber den Zuschauern hängt mit der angenommenen Situation des Menschen in der neokapitalistischen Gesellschaft zusammen: Versuchen sie sich durch den Kinobesuch von ihrem tristen Lebensalltag, der ausschließlich von fremdbestimmter Arbeit geprägt ist, abzulenken, so werden sie als Konsumenten finanziell ausgebeutet (vgl. ebd.; o. A. 1962b: 174; Petri 1964; 2007h [1964]: 91 f.). In dem Zusammenhang, den Petri auf diese Weise zwischen der Kommerzialisierung von Kultur und der herrschaftsstabilisierenden Wirkung von Konsum herstellt, zeigt sich eine gewisse Nähe zum Kulturpessimismus von Adorno und Horkheimer. Ein Gegenkino, wie er es mit seinem ›Kino der Ideen‹ intendiert, kann sich dementsprechend nur in einem langwierigen Prozess Disposition beim Publikum und damit auch bei der profitorientierten Filmproduktion verschaffen (vgl. o. A. 1962b: 174). Im Unterschied zu seinen Ausführungen von 1957/58 wird nun also das Publikum zum Fluchtpunkt von Petris Überlegungen. Er pocht daher weiterhin auf die kommunikative Dimension des Kinos. Diese streicht er in einer Umfrage für den Band Film 1962 anhand des Begriffs ›spettacolo‹ heraus. Im Italienischen
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bezeichnet der Terminus die Gattung der darstellenden Künste, allgemeiner jede Form einer Inszenierung oder Darbietung. Als solcher ist er innerhalb der neorealistischen Theoriebildung, vor allem bei Zavattini, noch ausdrücklich negativ besetzt. Anders verhält es sich nun bei Petri: Il cinema essendo uno spettacolo – e questo nessuno di noi può negarlo, neanche il piú [sic!] calvinista – ha come naturale destinazione il pubblico; se questo rapporto non viene inteso dialetticamente, il cinema, in luogo di esercitare una funzione culturale attiva, si mette alla coda degli strati piú [sic!] arretrati degli spettatori; pungolare, vivificare, provocare lo spirito critico degli spettatori, chiarire davanti alle loro coscienze (o contribuire a chiarire) i problemi della nostra epoca è tra i doveri del cinema (dopo essersi specchiato in loro stessi)[.] (Ebd.)
Wie schon De Santis rückt Petri die Kinobesucher als fremdbestimmte Subjekte, die sich ihrer Lage bewusst werden und emanzipieren können, in den Fokus. Allerdings verabschiedet er sich von De Santis’ Maxime der Volksnähe und Verständlichkeit, um eine ähnliche Richtung wie Pasolini einzuschlagen. Dieser grenzt seine Vorstellungen über ein an die benachteiligten Schichten gerichtetes Kino explizit von De Santis ab: In dessen Filmen sieht Pasolini »concessioni a un gusto romanticamente popolaresco« (Ferrero / Iotti / Voglino 2005 [1962]: 2816). Um tatsächlich lehrreich sein zu können, müsse das Kino eher mit den Erwartungen der Zuschauer zusammenprallen, statt diese beflissentlich zu erfüllen. Ähnlich wie Pasolini zielt Petri in seinen filmästhetischen Reflexionen dieser Zeit auf die angenommenen Gewohnheiten, Ansprüche und Wirkungen beim Publikum: Als »forma di comunicazione di idee diverse« (Petri 1964: 28) muss das von ihm konzipierte Kino eben ›andere‹, mithin nonkonforme Ansichten und Gedanken vermitteln können, um die Vorstellungswelt der zerstreuungs- und evasionsbedürftigen Kinobesucher infrage zu stellen. Diese sollen sich dadurch ihrer Fähigkeit gewahr werden, selbstständig zu denken, sprich ›Ideen‹ zu entwickeln.
3.1.2 Ein ›Kino der Ideen‹: von Godard zur Science-Fiction
In der auf Erkenntnis ausgerichteten Konzeption seines ›Kinos der Ideen‹ macht Elio Petri sowohl darstellungs-, als auch produktions- und konkretere rezeptionsbezogene Aspekte relevant, die er in den jeweiligen Beiträgen mit wechselnder Akzentuierung erörtert. Hierbei kommt der programmatische Antikonventionalismus, den er nach Godards Vorbild vertritt, konsequenterweise zunächst auf der Darstellungsebene zum Tragen: Es muss möglich sein, »i drammi della
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contemporaneità in un’ampia e profonda dimensione« (Argentieri 1960) ohne Einschränkungen durch Gestaltungskonventionen herauszuarbeiten. Hierfür benötigen der Regisseur und sein Team schon während der Arbeiten am Film größtmögliche Freiheiten. Die unkonventionelle Darstellungsweise, die aus einem solchen Herstellungsprozess hervorgeht, soll schließlich auch filmische Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer irritieren. Faktisch beschäftigt sich Petri in Ansätzen schon hier mit Distanzierungseffekten, die zur Aktivierung des Publikums beitragen sollen. Den primären Faktor für die gestalterische Umsetzung eines Films bildet in diesem Programm allerdings eben das gesellschaftsbezogene Thema, wie der Regisseur 1962 in einem Interview zu I giorni contati verlautbaren lässt: Le regole del vecchio cinema mostrano la corda, soprattutto perché, come ogni forma di schematismo, raffrenavano la spinta all’invenzione. Voler a tutti i costi dettare nuove regole, o anti-regole, che è lo stesso, significa tornare al punto di partenza. I temi, poi, suggeriscono lo stile; alcune volte, ed è il caso del mio secondo film, lo impongono. Bisogna ascoltare i temi ed impostare per ciascuno uno stile, mi pare ovvio. (o. A. 1962a)
Hier scheint Petris ablehnende Haltung gegenüber dem auteur-Gedanken durch, schließlich spielt in seiner unbedingt auf Innovation gerichteten Konzeption weder die Kunstfertigkeit noch die Person des Regisseurs eine Rolle. An anderer Stelle deutet Petri an, dass damit außerdem ein antidokumentarischer Impetus verbunden ist: Schließlich suche er in seinen Filmen nicht den Kontakt »con la realtà tout court, ma con la realtà del personaggio, con la sua coscienza« (Guidi 1962: 91). Er nimmt mithin eine Ebene in den Blick, die sich nicht unmittelbar aus der Darbietung sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit erschließt. Der Filmemacher interessiert sich demnach vor allem für die innere Welt des Menschen, konkret »certi abbandoni degli uomini, ad alcuni loro moti sotterranei, subnervosi, soprattutto a quelli che si producono in relazione a determinati condizionamenti storici« (o. A. 1962a). Wenn Petri auf diese Weise einen eigenen Zugang zur vieldiskutierten Entfremdungsproblematik ausbildet, dann stellt dies im Grunde eine konsequente Weiterentwicklung jener moralkritischen Ideen, die er vorher in Città aperta formuliert, dar. Nun hat er allerdings das miracolo economico im Blick, das sich Anfang der 1960er Jahre als zeitspezifisches Kernthema anbietet. In diesem Zusammenhang erhält seine Vorstellung einer bürgerlichen Restauration neue Bezugspunkte: Petri wird die Annahme leitend, dass sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung materialistische Wertmaßstäbe durchsetzen, verstanden als
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»un ritorno ai miti borghesi, al mito del denaro, al mito del sesso« (Guidi 1962: 90).29 Geht er davon aus, dass nun das Kleinbürgertum gesamtgesellschaftlich die Oberhand gewinnt, so sieht er die egoistische Akkumulationsmentalität und den politischen Konformismus auch auf die Arbeiterklasse übergreifen (vgl. AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 10). Die arbeitenden Schichten befinden sich demnach in einem widersprüchlichen Zustand: Obwohl sich ihre Lage ökonomisch kaum verbessert hat, bleiben intrinsische Bestrebungen, dies zu ändern, aus (vgl. o. A. 1962b: 173). 1962 bringt Petri die Unterschiede zur unmittelbaren Nachkriegszeit folgendermaßen auf den Punkt: »L’operaio di Ladri di biciclette deve fare i conti, oggi, non piú [sic!] soltanto con la società in cui vive, ma anche con la sua coscienza« (ebd.: 172). Der Regisseur führt die Restauration demnach weiterhin auf das Individuum und seine charakterlichen Dispositionen zurück, die durch vorangehende, nicht mehr existente Gesellschaftsformen vorgeprägt sind. Räumt er dadurch in der Betrachtung des Menschen den inneren, mentalen Prozessen gegenüber den materiellen Ungleichverhältnissen Priorität ein, so fundiert er seine Annahmen nun durch neue Theoriebezüge: Während in den 1950er Jahren Gramsci mit seiner Kritik am Allgemeinverstand als Ideengeber fungiert, liefert ihm nun JeanPaul Sartre mit seiner Modifikation des Marxismus das methodische Instrumentarium für die kritische Gegenwartsbetrachtung (vgl. ebd.; o. A. 1962a). Dies leuchtet ein, weil Sartre seinerzeit ähnliche Vorwürfe an den zeitgenössischen Marxismus heranträgt: Wie Petri beklagt er eine ideelle Bewegungslosigkeit, mit der individuelle menschliche Phänomene abstrakten, ahistorischen und verallgemeinernden Begriffen unterworfen werden. Sartre integriert daher etwa in seinen Questions de méthode den Existenzialismus als Supplement, um durch den so etablierten Blick auf den Einzelnen die marxistische Anthropologie wieder für die historische Besonderheit von Ereignissen und Fakten, mithin für das Konkrete zu sensibilisieren. Mit diesem historisch-kritischen Ansatz überwindet er zugleich seinen Frühexistenzialismus, der die absolute Freiheit des Subjekts postuliert. Petri betont dementsprechend, dass der Existenzialismus für ihn erst relevant wird, als Sartre seine Philosophie »sulla terra« (o. A. 1962b: 172) der objektiven Gegebenheiten bringt. In diesem Kontext ist auch sein aufkommendes Interesse an der Psychoanalyse zu sehen, die ihm in den kommenden Jahren zum wesentlichen Instrument kritischer Gesellschaftsanalyse wird (vgl. ebd.). Sartre dient sie neben der Soziologie noch als ›Hilfswissenschaft‹, um zwischen dem Individuum und den materiellen Verhältnissen der
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Ähnlich schon in Argentieri 1960.
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Gesellschaft zu vermitteln. Mit Blick auf die Einflüsse der familiären Erziehung und der sozialen Klasse lässt sich so die Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen in ihrer Genese erschließen; der Mensch soll auch in seiner Individualhistorie vollständig beschreibbar werden, ohne deterministische Kurzschlüsse zwischen den subjektiven und objektiven Momenten seines Daseins zuzulassen (vgl. Sartre 1957a; 1957b) – so wie es eben auch Petri einfordert. Wie angedeutet müssen dem Regisseur zufolge bereits die Drehbuchentwicklung und die Dreharbeiten von sämtlichen Konventionen befreit werden, um solche Zusammenhänge tatsächlich filmisch darstellen zu können. Die Nouvelle vague ist hier für Petri insofern richtungsweisend, als sich ihr Angriff auf die ›Filmsprache‹ vor allem auf die Modi der Filmproduktion auswirkt. Darin offenbart sich der Blick des Praktikers: Das ›alte‹ Kino lasse keinerlei Freiheiten zu, da aus erzählökonomischen Gründen selbst der Gebrauch der Kamera und die mise en scène stets nach Maßgabe althergebrachter Gestaltungsregeln vorab festgelegt seien. Petri führt in diesem Zusammenhang sogar explizit die filmtechnischen bzw. dramaturgischen Grundlagenwerke von Spottiswoode (1935), Lawson (1949 [1936]) und Pudovkin (1926, 1934) an, die seiner Einschätzung nach auch Anfang der 1960er Jahre noch die italienische Filmproduktion bestimmen (vgl. AMNC ELPE76 [ca. 1961]: 3; ELPE168 [1962]: 2). Erst die Nouvelle vague schaffe es, das Kino auf die Tabula rasa seiner Basiselemente zurückzuführen: »una macchina da presa, i personaggi – attori, non attori, amici, passanti –, i fatti« (AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 5; ähnlich schon in Martin 1962 und o. A. 1962a). Hier mögen zwar die Debatten um den Neorealismus nachhallen, doch lassen sich Petris Vorstellungen keineswegs mit den streng dokumentarischen Ansätzen wie jenem von Cesare Zavattini zusammenbringen. Während dieser auf eine Minimierung des künstlerischen Eingriffs zielt, geht Petri davon aus, dass sich das Artifizielle grundsätzlich nicht eliminieren lässt: Gegenüber der Zeitschrift Cinema Domani macht er anlässlich des Kinostarts von I giorni contati deutlich, dass für ihn jede Form ästhetischen Schaffens eine konstruierende Tätigkeit darstellt. Aus Petris Sicht sind allein die zu vermittelnde Weltanschauung oder die beabsichtigte Aussage als im Vorhinein entwickelte Grundgedanken stets strukturbildend für das gesamte Werk. Den Film versteht Petri dementsprechend als »un gesto narrativo e quindi un modo di comunicare agli altri un’idea« (AMNC ELPE168 [1962]: 3). Von diesen Grundannahmen ausgehend weist Petri darauf hin, dass für sein Dafürhalten jede künstlerische Darstellung die gestalterischen Möglichkeiten ihres jeweiligen Mediums unbedingt nutzen muss. Nur so könne man komplexe Ideen auf kohärente und zugleich eindrückliche Weise präsentieren. In diesem Zuge wertet er explizit das Drehbuch auf, das in Italien schon seit der Debatte
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3.1 Petri und die Debatte um eine kinematografische Modernisierung
um den Neorealismus eine kontroverse Größe ist. Hier hat der Jungregisseur jedoch den französischen Auteurismus im Auge, der das Filmskript zum ›Sündenbock‹ gemacht habe (vgl. ebd.: 2). Schließlich richtet sich das Konzept des auteur, wie es die Cahiers-Redakteure Truffaut, Rohmer und andere propagieren, gegen die Annahme, dass der Drehbuchautor Urheber des filmischen Werks ist. Schon kurze Zeit zuvor versucht Petri, eine produktivere Lösung gegenüber dieser rein ideologischen Aversion aufzuzeigen: Er bringt das Konzept eines ›kreativen‹ Drehbuchs ein, das dem ›industriellen‹ opponiert. Letzteres bezeichnet die übliche Form einer genau festgelegten Szenen- und Dialogfolge, die sich auf einen traditionell aufgebauten Handlungsaufbau stützt; diese Drehbuchvariante sei unveränderlich, da der Kassenerfolg des Films kalkulierbar sein solle. Die ›kreative‹ kennzeichnet sich dagegen dadurch, dass das ›Skript‹ erst im Laufe des Filmdrehs entwickelt wird. Mag die Idee der prozesshaften Entstehung Zavattinis Entwürfen nahestehen, so unterscheidet sie sich darin, dass die Argumentation nicht erst während der Aufnahmen erarbeitet werden soll: Petri geht ja davon aus, dass der Regisseur sich immer schon vor dem Dreh über die Botschaft im Klaren ist, die er mit dem jeweiligen Film zu vermitteln beabsichtigt. Gibt diese seiner Meinung nach schon eine grobe Erzählstruktur vor, so sollen der Regisseur und die Schauspieler beim ›kreativen‹ Drehbuch die einzelnen Szenen und Dialoge erst während der Inszenierung, sprich in actu und gemeinsam, ausarbeiten. Durch diese spontane, wechselwirkende Zusammenarbeit wird Interpretationen und Improvisationen bewusst Raum gegeben.30 Damit richtet sich Petri schon auf der Ebene der Inszenierungspraktiken gegen das auteur-Konzept, das dem Regisseur die alleinige Gestaltungshoheit zuerkennt. Daraus lassen sich wiederum Konsequenzen für den audiovisuellen Stil eines solchen Films ableiten, der sich gemäß Petris Vorstellung eines ›kreativen‹ Drehbuchs organisch aus dem Inszenierungsprozess ergibt: Da sich der Regisseur, die Schauspieler und andere Beteiligte gegenseitig inspirieren, wächst das Drehbuch »insieme con l’immagine, tutt’uno con la rappresentazione« (AMNC ELPE76 [ca. 1961]: 2). Die mise en scène wird hier also gerade nicht ausschließlich vom Regisseur gestaltet, wie es die Cahiers-Redakteure vorsehen. Gegenüber Petris Entwurf erscheint ihr Auteurismus sogar antiquiert: Schließlich setzen sie nach wie vor eine idealtypische Aufgabentrennung zwischen dem Drehbuchautor, der für die Geschichte und deren dramaturgischer Aufbereitung verantwortlich zeich-
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Zur Unterscheidung zwischen ›kreativem‹ und ›industriellem‹ Drehbuch vgl. AMNC ELPE76 [ca. 1961]: 2; für eine beispielhafte Beschreibung des ›kreativen‹ Drehbuchs vgl. AMNC ELPE168 [1962]: 4.
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
net, und dem Regisseur, der die filmische Umsetzung arrangiert, sowie den weiteren Mitwirkenden voraus. In Petris Ausführungen zur Filmgestaltung zeichnet sich in dieser Zeit außerdem ein konkretes Interesse an der Wirkungsdimension von subversiven Stilmitteln ab. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Film, der auf eine solch unkonventionelle Weise produziert wird, auch auf der Rezeptionsseite Routinen aufbricht. Hier sieht er einen weiteren Verdienst von Resnais und Godard: Erst ihre Arbeiten stellen die Konventionen raumzeitlicher Kontinuität, mit der das Kino seit der Stummfilmzeit die Fantasie des Publikums lenke, infrage (vgl. ebd.: 3). Schon im Oktober 1960 deutet Petri in einem Interview an, dass das Kino sowohl Denk- als auch Wahrnehmungsgewohnheiten stören soll. Ein Film kann demzufolge seine Zuschauer geistig nur dann stimulieren, wenn sich auch die spezifische Art und Weise, wie ›Ideen‹ vermittelt werden, ihren Erwartungen widersetzt und eine aktive Rezeptionshaltung notwendig macht (vgl. Argentieri 1960). Somit kristallisiert sich in seinen ästhetischen Überlegungen bereits Anfang der 1960er Jahre eine Wirkungsintention heraus, die er erst im darauffolgenden Jahrzehnt theoretisch differenzierter ausarbeitet. Neben der Nouvelle vague bringt Petri in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zwei weitere Modelle ein, die er gegenüber einem konventionellen Realismus als fruchtbar erachtet: den sog. Autobiografismus und die Science-Fiction. Unter Ersterem versteht er einen Ansatz, bei dem der jeweilige Filmemacher die sich ihm darbietende Welt durch den Filter seiner subjektiven Erfahrung beschreibt (vgl. AMNC ELPE76 [ca. 1961]: 3; ELPE77 [ca. 1965]: 5 f.; Martini 1961: 78). Als prototypisch führt Petri in diesem Zusammenhang die Regiearbeiten Fellinis an: »egli descrive se stesso in rapporto al reale, l’atmosfera è esistenzialistica, ma il rapporto può essere reale …« (Martini 1961: 78). Der Autobiografismus erscheint ihm als historisch bedingter Bruch mit dem Neorealismus, habe die Restauration in der italienischen Nachkriegszeit die Filmemacher doch zu einer Wendung ins Innere veranlasst. Gegenüber der positivistischen Herangehensweise des Neorealismus mutet Petri eine solche Annäherung an die Wirklichkeit authentischer und ernsthafter an (vgl. AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 5 f.). Auf diese Weise beschreibt er 1961 eine filmische Ausdrucksform, wie sie Micciché wenige Jahre später als charakteristisch für das Neue Kino behandelt und zur Maßgabe macht. Mit der zweiten Alternative, der Science-Fiction, beschäftigt sich Petri ebenfalls zu einem recht frühen Zeitpunkt seiner Regiekarriere: Schon 1962 arbeitet er an dem Drehbuch für ein Filmprojekt, aus dem später La decima vittima hervorgeht (vgl. Cinema Domani 1962: 15–18). Schon im Zusammenhang mit seinem Regiedebüt weist Petri auf die Möglichkeiten hin, die Filmgenres für die Erschließung sozialer Wirklichkeit bieten, hier noch mit Blick auf den Kriminal-
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film: »Credo nel ›giallo‹ come espressione della realtà quotidiana. La civiltà odierna è sinistra, è necrofila. Il genere poliziesco si presta indagini molto vive sulla società« (Guidi 1962: 90). Ähnlich äußert er sich dann zur Science-Fiction, die sich für Petri wesentlich durch eine Zukunftsbezogenheit kennzeichnet: Gerade dadurch, dass sie sich zeitlich von der Gegenwart entferne, um mögliche Entwicklungen aufzuzeigen, sei der Filmemacher zu einer vorurteilslosen und tiefgehenden Auseinandersetzung mit den sozialen und psychischen Ursachen aktueller Problemkomplexe gezwungen; eine realistische Erzählung setze dies gerade nicht zwingend voraus (vgl. AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 4 f.). Prinzipiell schließt für Petri die Science-Fiction realistische Stilweisen nicht aus: »[C]hi può escludere che si possa girare un film di ›fantascienza‹ en plein air come La terra trema, con attori non professionisti (anzi presi-dalla-strada) come Ladri di biciclette, e Arriflex in spalla come Shadows?« (Cinema Domani 1962: 17). Gegenüber den realistischen Repräsentationsformen, die seiner Meinung nach aber vor allem im Kino zur Routine und zur Verflachung des Stils neigen, besticht die Science-Fiction durch »la libertà che le viene dai suoi caratteri di ›sogno‹«. So sei es möglich, »dilatare al massimo una tesi« (ebd.: 16). Bei diesem Genre hat der Regisseur demnach vor allem die inhaltlich-thematische Ebene im Blick: Er goutiert die Möglichkeiten der Extrapolation, die die Science-Fiction bietet. Während die Genres zu diesem Zeitpunkt nur hinsichtlich ihrer Darstellungspotenziale interessieren, gewinnen sie für Petri um 1965 auch unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten vermehrt an Bedeutung. Als er sich nun erneut zur Science-Fiction äußert, macht sich in den entsprechenden Kommentaren ein signifikanter Einschnitt bemerkbar, der die Entwicklung seines filmästhetischen Denkens vorausdeutet: Die Stilmittel der Nouvelle vague, die er später sogar als zu gekünstelt und publikumsfern abtut (vgl. Petri 2007j [1967]), spielen für die eigenen Regiearbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits keine Rolle mehr; stattdessen bevorzugt er die Science-Fiction als Darstellungsform, die sich dem unterhaltungsbedürftigen Publikum nicht widersetzt, sondern vordergründig seinen Zerstreuungs- und Evasionswünschen gerecht wird. Er sieht darin die Möglichkeit, die Zuschauer durch vermeintlich imaginative Welten von ihrer Alltagswirklichkeit zu entführen und sie auf indirektem Weg mit ihrer Situation zu konfrontieren. Daher beschreibt er die Science-Fiction mit der plakativen Metapher des Trojanischen Pferds: »un delizioso, elegante, coarggioso [sic!], astuto, conturbante modo di introdurre il nemico – cioè le idee – negli stanchi – ma ben difesi cervelli del pubblico« (AMNC ELPE77 [ca. 1965]: 5; Hervorheb. i. Orig.). Das Genre bietet sich ihm demnach als Form dar, bei der sich die Vermittlung sozialkritischer Inhalte adäquat mit den Unterhaltungsbedürfnissen der Kino-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
besucher verbinden lässt. Zwar bleibt die ambivalente Haltung gegenüber dem Publikum vorerst bestehen, doch werden über die Science-Fiction Kernelemente einer Filmpoetologie etabliert, die Petri in den 1970er Jahren dann mit Bezugnahmen zur Commedia dell’arte und dem Epischen Theater fundiert.
3.2
Zur Ambivalenz der Modernisierung: L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
Die ersten Spielfilmregien von Elio Petri scheinen seine programmatischen Forderungen nach Innovation zu unterstreichen. Mit ihren unkonventionellen Gestaltungs- und Erzählweisen stoßen sie im Klima des Aufbruchs, das Ende der 1950er Jahre entsteht, auf überwiegend positive Resonanz (vgl. etwa Pesce 1961: 112; Argentieri 1961: 8 f.; Joly 1961: 9–11; Quaglietti 1962; Savioli 1962; Kezich 1962; Bruno 1962; Vice 1962). Auch im Ausland: So feiert etwa Martin Ruppert L’assassino als »virtuose[s] ›Konzert‹ eines Meisters auf dem Instrument der Filmkunst« (Ruppert 1961), als Petris Regiedebüt bei der Berlinale 1961 gezeigt wird. Nachdem man beim London Film Festival in der übermäßigen Verwendung von Rückblenden zunächst noch strukturelle Schwächen erkennt, wird dem Film mit seinem »cool, elliptical style« wenig später auch aus Großbritannien eine »exceptional quality« (B. D. 1963: 154) bescheinigt.31 I giorni contati gewinnt 1962 bei den Festspielen im argentinischen Mar del Plata sogar den Hauptpreis. Die Forschung interessiert sich bemerkenswerterweise erst in jüngerer Zeit stärker für die ästhetische Machart der beiden Filme (vgl. Mondella 2012b: 33–49; wesentlich differenzierter ist aber erst Rigola 2015: 27–33). Der Großteil der vorhandenen Beiträge begnügt sich damit, die achronologische Erzählweise von L’assassino und die stilistische Nähe von I giorni contati zu Jean-Luc Godards ersten Filmen zu benennen; kaum untersucht ist dagegen ihre filmische Funktion, gerade in Hinblick auf die verhandelten Themen. Dass es diese Aspekte zu beachten lohnt, deutet schon Ulrich Gregor in seiner Rezension zu Petris Erstlingsfilm an: Er honoriert, dass der Regisseur »sich […] bloß formalen Spielereien abgeneigt zeigt und jede kameratechnische Innovation streng mit der Linie des Geschehens verknüpft« (Gregor 1963: 85). Vorwürfe wie die Di Giammatteos, der in Petris Filmen ästhetizistische Deviationen sieht und mit Verweis auf die Nouvelle vague als ›Marienbadismus‹ abtut, leuchten dagegen nicht ein (vgl. Di Giammatteo 1962/63: 21 f.). Gleichwohl merkt Gregor wie andere zeitgenössi-
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Zur Rezeption beim London Film Festival 1961 vgl. Dyer 1961.
3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
sche Rezensenten die stilistische Epigonalität kritisch an, die später des Öfteren gegen Petri ins Feld geführt wird. Was damals angesichts der Innovations- und Originalitätsmaxime, die sich mit den Neuen Wellen und dem Autorenkino ausbildet, problematisch erscheint, lässt sich aus größerer zeitlicher Distanz als implizite Absage an das bloß selbstbezügliche auteur-Konzept interpretieren. Hier werden neue formalstilistische und narrative Möglichkeiten erprobt, um Spielräume für einen zeitgemäßen politischen Film zu schaffen: einen politischen Film, der sich nicht mehr an Kulturtraditionen, sondern in erster Linie an den aktuellen Tendenzen im internationalen wie im italienischen Kino orientiert. Auf ästhetischer Ebene tragen L’assassino und I giorni contati so demons trativ einen Modernisierungswillen zur Schau. Gleichzeitig problematisieren die Darstellungen der menschlichen und gesellschaftlichen Situation die Vorstellung einer Modernisierung: Die Filme werfen die Frage auf, inwiefern die jüngsten sozioökonomischen Entwicklungen tatsächlich einen Fortschritt bedeuten und Verbesserungen mit sich bringen. Durch konkrete Verweise auf zeithistorische Ereignisse referieren diese Regiearbeiten von Petri explizit auf die Gegenwart der frühen 1960er Jahre, in der sich Italien infolge des wirtschaftlichen Booms neu ordnet. Die Widersprüche und Renitenzen, die dieser Transformationsprozess in sich birgt, werden unter anderem durch die Hauptfiguren augenscheinlich gemacht: Sie erscheinen nicht als passive Opfer der als problematisch ausgewiesenen Gesamtverhältnisse, sondern bestätigen diese durch ihr Verhalten und tragen so letztlich zu ihrem Fortbestand bei. Petris Debütfilm nimmt mit Alfredo Martelli (Marcello Mastroianni) den Sozialtypus des neuen Kleinbürgers in den Blick: Dieser kennzeichnet sich dadurch, dass er sich in seinem egoistischen, materiellen Streben von allen Wertmaßstäben des sozialen Miteinanders, familiären Bindungen und politischen Überzeugungen lossagt. Initiiert wird die Durchleuchtung seines Charakters durch eine Morduntersuchung der Polizei, in deren autoritär und willkürlich anmutendem Ermittlungsmethoden sich noch eine faschistische Prägung andeutet. Die Hauptfigur von I giorni contati erscheint gewissermaßen als Gegenstück zu Alfredo, der als verbürgerlichter Emporkömmling proletarischer Herkunft figuriert. Da sich der Film mit dem Klempner Cesare (Salvo Randone) einen Angehörigen der benachteiligten Schichten zum Protagonisten macht, bietet I giorni contati eine andere Perspektive auf die Lage Italiens Anfang der 1960er Jahre. Die Funktionsweise des Gesellschaftssystems wird dadurch entlarvt, dass der proletarische Protagonist gegen seine Lage aufbegehrt; er beschließt, nicht mehr zu arbeiten. Allerdings gibt er allmählich dem systemkonstitutiven Erwerbszwang nach, sodass er für sich letzten Endes keine andere Möglichkeit sieht, als
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
seine Arbeit wieder aufzunehmen. Zugleich macht der Film in einem gesellschaftlichen Panorama die Auswirkungen des Neokapitalismus greifbar. Der wirklichkeitserschließende Rundblick wird von Cesare angeleitet, der sich in folge seiner vorläufigen Selbstbefreiung durch soziale und geografische Räume bewegt, die ihm bis dahin nicht (mehr) zugänglich waren. Die Erzählverfahren und Stilmittel, die in den Filmen zum Einsatz kommen, mögen im Einzelnen dem Repertoire der modernen Filmästhetik entsprechen. Dieser werden L’assassino und I giorni contati allerdings nicht vollständig gerecht: Die beiden Regiearbeiten stellen letztlich nicht jene Ambiguität her, die Kovács und Eco gerade als charakteristisch für den modernen Film bzw. die moderne Kunst im Allgemeinen betrachten. Bei L’assassino lässt sich der Darstellungszweck, den etwa die Rückblenden und die Abweichungen von der konventionellen Kriminaldramaturgie erfüllen, konkret beschreiben. Bei I giorni contati mag dies insgesamt schwieriger ausfallen, da dieser Film die Regeln des klassischen Erzählkinos auf betont radikale Weise unterläuft. Doch auch hier erweisen sich die avancierten, überdeutlich als unkonventionell ausgestellten Mittel durchaus als funktional für eine Darstellung der ›modernen‹ Wirtschaftswundergesellschaft, die die charakterlichen Dispositionen des Einzelnen hervorhebt. In diesem Zusammenhang kann Cesares Begegnung mit einem Kunsthändler als Schlüsselsequenz interpretiert werden. Dieser Filmabschnitt lässt sich im eigentlichen Sinn als Abhandlung über moderne Kunst, aber auch als Verweis auf die ästhetische Konzeption des Films interpretieren. Der Kunsthändler etikettiert zunächst Cesares Arbeitsverweigerung mit den Begrifflichkeiten einer nahezu modischen Denkrichtung: »Vede, il suo problema è squisitamente moderna. Lei è senza neanche saperne un’esistenzialista.« Wenn er ihm daraufhin Werke im Stil des Informel vorführt, die die Entfremdung als Problem der modernen Gesellschaft thematisieren, bleibt dies für Cesare trotz solcher Erläuterungen unverständlich. Die Sequenz legt so die Kluft zwischen der modernen Philosophie und einer allzu modernistischen Kunst einerseits und einem nicht elitären Publikum andererseits offen. In der dargestellten Welt bedingt die gesellschaftliche Spaltung demnach signifikante kulturelle Unterschiede: Die bürgerliche Hochkultur konstituiert sich durch die bildende Kunst und die Literatur gegenüber einer Populärkultur der arbeitenden Klassen, die von Tanzmusik und dem Kino repräsentiert wird. Dabei sind es im Wesentlichen die als nicht proletarisch ausgewiesenen Künste, die solche Problemstellungen reflektieren, wie sie in erster Linie die benachteiligten Schichten betreffen. Gegenüber der nur Schönheit und Gefühl verpflichteten klassischen Malerei macht sich das Informel diese zeitspezifischen Herausforderungen zum Gegenstand, während der Handwerker Cesare sich beispielsweise
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3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
auch Victor Hugos Sozialepos Les misérables zu Gemüte zu führen versucht. Das Kino bietet sich durch Peplum- und Kriegsfilme dagegen nur als Medium der Zerstreuung dar. I giorni contati kann nun als Versuch verstanden werden, diese Diskrepanz zu überwinden und ein erkenntnisförderndes, ästhetisch avanciertes Kino über und für die weniger privilegierten Klassen zu entwerfen. In diesen Zusammenhang ließe sich die von der Kamera in der Eingangssequenz hervorgehobene Zeitungsschlagzeile Come Pasolini concilia cinema e letteratura einbeziehen.32 Pasolini erscheint als derjenige Autor und Regisseur, der diese Differenzen tatsächlich überbrückt: Beispielsweise bringt er in seinen Romanen Ragazzi di vita (1955) und Una vita violenta (1958) Verfahren der hohen Literatur mit römischer Dialektsprache zusammen, um – buchstäblich wie im übertragenen Sinne – in der Sprache der sozial benachteiligten Klassen über deren Situation zu sprechen; diese ›Kontamination‹ wird in seinem Debütfilm Accattone kinematografisch fortführt (vgl. Cadoni 2015). Demgegenüber scheint das zeitgenössische Kunstkino Gefahr zu laufen, sich wie die abstrakte Malerei von den proletarischen und subproletarischen Schichten zu entfernen. Der Verweis auf Pasolini ließe sich demnach so interpretieren, dass I giorni contati hier poetologisch ein konkretes Vorbild aufzeigt, an das der Film seinerseits dann anschließt. In der filmgestalterischen Umsetzung scheinen bezeichnenderweise Bezugsmodelle durch, die damals einem künstlerisch anspruchsvollen, bürgerlichen Kino zugesprochen werden: I giorni contati und in abgeschwächter Form auch schon L’assassino lehnen sich stilistisch an die Filme Godards und Antonionis an.
3.2.1 Zirkuläre Narrationen
Ein wesentliches Differenzmerkmal im Vergleich zu den einschlägigen Arbeiten dieser Filmemacher besteht darin, dass bei L’assassino und I giorni contati die Handlungsintention der Figuren in der Regel nachvollziehbar ist. Die Protagonisten des modernen Kunstkinos kennzeichnen sich dagegen oftmals dadurch, dass sie sich von ihrer Umwelt entfremden und ins Innere wenden. So entstehen zwangsläufig keine handlungsgenerierenden Konflikte mehr mit einem Außen. Das Verhalten der Figuren scheint in den meisten Fällen keinen plausiblen Beweggründen mehr zu folgen. Im italienischen Kino sind es neben Fellinis vor allem Antonionis Filme, die mit solch undurchsichtigen Protagonisten aufwarten. 32
Der im Film gezeigte Artikel thematisiert keine ästhetischen Fragen, sondern beschäftigt sich damit, wie Pasolini seine Tätigkeiten als Autor und Regisseur zeitorganisatorisch vereinbaren kann (vgl. Chiesa 1961).
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Demgegenüber rückt schon in L’assassino die Psyche der zentralen Figur prominent in den Vordergrund. Hier erweist sich die recht ungewöhnliche Kriminalerzählung, die nicht zwingend in einem Zusammenhang mit dem Film noir zu sehen ist,33 als funktional. Dramaturgisch stützt sie sich zwar auf das übliche Grundschema Verbrechen, Ermittlung und Aufklärung, allerdings überraschen die Wahl der Hauptfigur und damit letztlich auch die Konfliktlösung: Mit Alfredo steht nämlich eine Person im Mittelpunkt, die als Verdächtiger im polizeilichen Ermittlungsprozess eigentlich nur eine Nebenrolle einnimmt. Rückt die Entlarvung des Mörders in den Hintergrund, so legt die von einer jazzigen Titelmusik untermalte Detektion stattdessen Alfredos Charakter offen. Diese Darstellungsabsichten deutet der mit der Ermittlung betraute Kommissar Palumbo (Salvo Randone) metareferenziell an, als er auf dem Revier den nichts ahnenden Alfredo heimlich durch einen falschen Spiegel mustert (Abb. 3–4) und später in der Befragung unterstreicht: »Noi dobbiamo capire bene chi siete voi. Pensate un po’, tutto di una vita.« Rückblenden und Befragungen ehemaliger Weggefährten lassen dann Alfredos Persönlichkeitsstruktur greifbar werden, indem über ausschnitthafte Einblicke seine Biografie von der Jugend im Faschismus bis zur Affäre mit dem späteren Mordopfer Adalgisa (Micheline Presle) achronologisch dargelegt wird. So setzt sich das Profil eines hochgekommenen Kleinbürgers zusammen, der ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Da er seine Mitmenschen prinzipiell ausbeutet, betrachtet er die eigene Mutter, die einzige Figur, mit der er durch eine verwandtschaftliche Beziehung verbunden ist und die ihm materiell nicht von Nutzen ist, nur als Last. Und während er sich vor Palumbo mit dem Antifaschismus des Großvaters schmückt, zeigt er sich als Proletariersohn uninteressiert für die Belange der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei. Die polizeiliche Befragung veranlasst ihn aber zu einer kritischen Selbstreflexion, sodass er sich durchaus seiner problematischen Eigenschaften bewusst wird. Die Entwicklung, die Alfredo durchläuft, stellt sich schließlich jedoch als rein oberflächlich heraus. Am Filmende konterkariert er seine ausdrücklichen Besserungsabsichten: Als er ein Jahr nach dem Vorfall telefonisch über den Kauf eines Autos verhandelt, weist er erneut sein doppelgesichtiges, materialistisches Wesen aus. Außerdem ist die Industriellentochter Nicoletta, mit der er Adalgisa betrogen hatte und die er ehelichen wollte, noch immer seine Geliebte; sie ist mittlerweile mit einem anderen Mann verheiratet.
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So bei Longhi (2015): Der Autor macht die Bezugnahme im Wesentlichen an der Kriminaldramaturgie fest, die aber nicht nur für den Film noir, sondern für jede Variante des Kriminalfilms kennzeichnend ist.
3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
Abb. 3 und 4: L’assassino
Wie in I giorni contati und den meisten späteren Regiearbeiten ist die Narration demnach zirkulär angelegt: Die Ausgangs- gleicht der Endsituation, da der zentrale Konflikt, der durch ein initiales Ereignis generiert wird, ungelöst bleibt und somit keine (langfristige) Zustandsveränderung eintritt. In I giorni contati hebt der Tod des Protagonisten als finales Ereignis diese Struktur noch ostentativer hervor. Der Klempner Cesare sagt sich anfangs von der Erwerbsarbeit los, weil er miterlebt, wie ein ihm unbekannter Alters- und Standesgenosse auf dem alltäglichen Heimweg in der Tram verstirbt: Sein eigenes Able-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
ben markiert dann das schicksalshafte Ende einer erfolglosen Suche nach alternativen Lebensmodellen. Den Ursprung des zirkulären Erzählens verortet Kovács bezeichnenderweise bei der sozialkritischen Variante des Neorealismus, so etwa De Sicas Ladri di biciclette oder Umberto D. Auch dort ist die Motivation des Figurenhandelns noch nachvollziehbar: Der Arbeiter Antonio und der Rentner Umberto versuchen, den eigenen Lebensunterhalt und ggf. den der Familie zu bestreiten. In Ladri di biciclette ist diese Absicht direkt mit dem Fahrrad verknüpft, da es die zwingende Voraussetzung für die überlebensnotwendige Erwerbstätigkeit des Plakatierers bildet. Ebenso benennbar sind die Ursachen ihres Scheiterns, da die neorealistischen Protagonisten wie die Frauen in Roma ore 11 der gesamtgesellschaftlichen Lage ohnmächtig gegenüberstehen. Ihre Machtlosigkeit zeigt sich darin, dass sie selbst zu keiner situationsverändernden Aktion mehr fähig sind; infolgedessen streifen sie in einer konfusen Bewegung durch meist urbane Räume. Diese von Deleuze etwas euphemistisch bezeichnete »Bal(l)adenform« (Deleuze 1991 [1985]: 14)34 wird in der ersten Hälfte der 1960er Jahre vom italienischen Autorenkino fortgeführt. Dort lässt sich aber eben kein Movens mehr ausmachen, das die Figuren auf ihren ziellosen Streifzügen durch Rom oder Mailand antreibt. Wie unter anderem Petris Episode für Alta infedeltà in Form der Parodie zeigt, gewinnen insbesondere Antonionis Filme in Italien schnell Modellcharakter. Dies gilt auch für I giorni contati: Petris zweiter Spielfilm präsentiert mit Cesare eine Figur, die sich zunächst von ihrer Umwelt distanziert, um diese neu betrachten zu können. Filmhistorisch gehört I giorni contati damit zu einer Gruppe von Werken, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs einen neuen Figurentypus im italienischen Kino etablieren: den Arbeiter oder Subproletarier, der sich der Arbeit verweigert und bzw. oder den Erwerbszwang kritisch reflektiert. Neben Petris Film lassen sich hier etwa Pasolinis Accattone, Tinto Brass’ Chi lavora è perduto (1963) oder Renato Castellanis Mare matto (1963) anführen. Den Zeitgenossen fällt vor allem bei I giorni contati die Nähe zu Antonionis Regiearbeiten ins Auge: Der Film wird damals etwas spöttisch als »L’eclisse all’amatriciana« (Kezich 1962: 63) bezeichnet. Als Arbeiter unterscheidet sich Cesare von seinen neorealistischen Pendants nun darin, dass er sich eigenmächtig dem Erwerbszwang zu widersetzen versucht. Für Antonionis oder Fellinis Protagonisten ist diese Problematik ohnehin irrelevant, da sie in der Regel
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Im Originaltext bezeichnet Deleuze dies als ballade, wobei er balade (frz. Spaziergang) und die literarische Form der Ballade zusammenführt.
3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
dem städtischen Bürgertum angehören und somit materiell abgesichert sind. Anders als bei Cesare bedeutet das reflektierende Nichtstun keine Gefahr für die eigene Existenz (vgl. Kovács 2007: 68 f.). In I giorni contati wird die sich hier abzeichnende Doppelfunktion verhandelt, die die Erwerbsarbeit für den Arbeiter besitzt: als Konzept, das der eigenen Existenz Bedeutung verleiht, und als notwendige Maßnahme, um die Existenz überhaupt aufrechterhalten zu können. Mit dem Todesfall am Filmanfang wird zunächst ihre sinnstiftende Kraft infrage gestellt, da durch den einsetzenden Reflexionsprozess bei Cesare auch die grundlegende Frage nach dem Zweck des Lebens aufkommt. Durch die Konfrontation mit der Endlichkeit sieht er sich auf das eigene, nur von entfremdeter Arbeit bestimmte Dasein verwiesen: Er begreift das Lebensende als Ende aller Welterfahrungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten. Gibt Cesare die Arbeit auf, so erscheint dies dementsprechend zunächst als Akt der Selbstbestimmung, mit der er die für das menschliche Wesen konstitutive Freiheit ergreift. Der Großteil der bestehenden Forschungsbeiträge verlässt sich hier auf so explizite Hinweise wie die des Kunsthändlers, um ohne weitere Belege dem Film eine existenzialistische Prägung zuzuschreiben. Mit der frühexistenzialistischen Idee der absoluten Freiheit, die in den Kommentaren der Hauptfigur wiederholt durchscheint, wird vielmehr das eigentliche Problem hervorgekehrt: Cesare schafft es nämlich gerade nicht, seinen Ich-Entwurf von den Prinzipien des Kapitalismus und dem Selbstbild des Arbeiters zu lösen. Im Unterschied zu den benannten, ähnlich gearteten Filmen verharrt er nämlich nicht im Zustand passiver Reflexion, der bei ihm nach kurzer Genussphase zur Langeweile und zur Apathie führt (»Certe volte penso che mi non importa più di niente«). Er begibt sich stattdessen auf die Suche nach alternativen Sinnstiftungsmodellen. Aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge verschiebt sich das Ziel seiner Bestrebungen allerdings hin zu alternativen Geldquellen. Mag sich Cesare vorläufig vom Konzept der Erwerbsarbeit lösen, so wird er von außen stets darauf zurückverwiesen. Die äußeren Herausforderungen bieten sich dem 53-jährigen Klempner schließlich als unüberwindbar dar: In der Konfrontation mit den faktischen Verhältnissen stößt er auch an seine inneren Grenzen. Infolge dieses Ineinanderwirkens externer und interner Faktoren bestätigt er schlussendlich die erlernten Schemata, die er durch sein ungewöhnliches Verhalten zunächst infrage stellt: »[Si] dice che il lavoro è necessario, senza lavoro [si] dice che ci si annoia […]. Dal resto un vantaggio c’è: Il lavoro, [si] dice, non ti fa pensare. Effettivamente fa da scaccia i pensieri.« Diese Entwicklung vermittelt sich über eine episodische Erzählweise, wie sie für die zirkuläre Form schon bei den benannten neorealistischen Filmen charak-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
teristisch ist: Da auch Cesare unfähig ist, seine Situation eigeninitiativ zu ändern, durchläuft er nur eine Reihe von Situationen, in denen sich die jeweils angenommene Möglichkeit der Sinnstiftung bzw. Geldbeschaffung letztlich als illusorisch erweist. Zwischen seinem Ausbruch und der Rückkehr in die Erwerbsarbeit sind keine Steigerungsmomente oder Wendepunkte vorhanden, die die Handlung vorantreiben. Die Plotführung mutet nahezu willkürlich an: Zwar begegnet der Klempner verschiedenen Figuren mehrmals, etwa seiner Ex-Verlobten Giulia oder der Hauswirtstochter Graziella, sodass sich über die jeweilige Sequenz hinaus eigenständige Handlungsstränge entwickeln. Diese werden aber von zahlreichen Einzelepisoden unterbrochen, die autonom nebeneinanderstehen und für den weiteren Verlauf funktionslos zu sein scheinen. In der Neuen Zürcher Zeitung beschwert man sich seinerzeit über eine solche Auflösung von Zusammenhängen: »Die Handlung, die ein Nichts an äußerem Geschehen ist und deshalb der bindende rote Faden fehlt, fällt auseinander. Am Ende entlässt einen der Film mit dem Eindruck des Desparaten, des Verworrenen« (ms 1963: Blatt 9). Doch gerade weil die Hauptfigur eine durchaus stringente Entwicklung durchläuft – emphatische Selbstbefreiung, Apathie, Suche nach Sinnstiftungsmodellen, Suche nach Geldquellen, resignierende Rückkehr zur Erwerbsarbeit –, funktioniert der Film in seiner Gesamtstruktur nicht nach dem Prinzip der Kontingenz, wie es etwa bei Antonioni der Fall ist: Schon Eco zeigt anhand von L’avventura, dass bei dessen Regiearbeiten der (inszenierte) Zufall die filmische Erzählung bestimmt (vgl. Eco 1973 [1962]: 201–204).35 Hier wird die deskriptive Funktion der zirkulären Narration offenkundig: Bei I giorni contati lenkt die plakative Äquivalentsetzung von Filmanfang und -ende, die einen zwangsläufigen Verlauf suggeriert, den Blick auf die Ursachen für Cesares Entscheidung pro Erwerbsarbeit. Auch Kovács betont, dass Filme, die die Ausgangsproblematik nicht lösen, primär darauf ausgelegt sind, die Situation der Hauptfigur zu enthüllen (vgl. Kovács 2007: 79 f.). In Petris ersten Regiearbeiten zeigt diese Erzählform dementsprechend nicht nur die innere Disposition der jeweiligen Hauptfigur auf, sondern beleuchtet auch deren Umwelt. Schon in L’assassino wird anhand der Personengruppen, mit denen Alfredo in Kontakt kommt, ein kritisches Gesellschaftsbild skizziert: Durch die Rückblenden und Befragungen führt der Film neben der autoritären Polizei beispielsweise hedonistische Bürger oder kleinkriminelle Proletarier vor. Erkundet Cesare dann die soziale Wirklichkeit Italiens zu Beginn der 1960er Jahre, so konstituiert in I giorni contati seine Perspektive des arbeitsverwei-
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Zur Kontingenz bei Antonioni vgl. auch Bauer 2014: 32–40.
3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
gernden Arbeiters einen schiefen Blick auf die vorherrschenden Begebenheiten und die damit verbundenen Normalitätsannahmen: Er legt mit seiner naiv anmutenden Herangehensweise das widersprüchliche Wesen der scheinbar so modernen neokapitalistischen Gesellschaft bloß. So fungieren etwa die Jugendlichen im Film zwar auch als Spiegel, der Cesare permanent das eigene Alter, die Unwiederbringlichkeit der durch die Arbeit vergeudeten Lebensabschnitte und die verpassten Handlungsmöglichkeiten vor Augen führt. Allerdings markiert die Jugend gleichzeitig eine Gegenwelt: Sie begegnet arbeits- und geldbezogenen Fragen nur noch mit einer sorglosen, unverbindlichen Haltung, während ihr Hauptinteresse den neuen Vergnügungsmöglichkeiten und Konsumgütern gilt. Sorgt sich die ältere Generation um den Lebensunterhalt, so kaprizieren sich die Nachkriegskinder auf Tanz, Musik und Kaufobjekte, die wie Graziellas teure Perücke keinen alltagspraktischen Nutzen besitzen. Ebenso fremd ist dem Klempner die Sphäre des bemittelten Bürgertums. Diese wird im Film vom Museum der Galleria Borghese, dem Kunstatelier, dem Flughafen sowie dem prunkvollen Justizpalast repräsentiert: Statt seinen Horizont zu erweitern, wird Cesare dort nur mit seiner Unkenntnis konfrontiert, oft begleitet von expliziten Selbst- und Fremdzuschreibungen, die sein begrenztes Wissen über die Welt auf den gesellschaftlichen Ort des Klempners zurückführen. Der bürgerliche Kosmos wird von den sozialen Negativfolgen des Wirtschaftsaufschwungs kontrastiert, die Cesares Erkundungsreise durch die Gesellschaft ebenso sichtbar werden lässt. So gerät der Protagonist in das römische Elendsviertel Gordiani, dessen Bewohner angesichts der miserablen Lebenszustände für den Bau versprochener Unterkünfte demonstrieren. Komplementär dazu lässt Cesares verödetes Heimatdorf deutlich werden, wie die prekäre Situation die Landbevölkerung zur Flucht ins Ausland oder eben in die Städte zwingt. Indem dieses Zeitporträt solche Diskrepanzen und Ungleichheiten dezidiert hervorkehrt, unterminiert es die positiven Assoziationen der Rede vom boom bzw. miracolo economico. Hierbei erweist sich jede der Episoden als funktional, ohne dass die dargestellten Ereignisse oder Verhältnisse zwingend Auswirkungen auf die Entwicklung der Hauptfigur haben; Cesare fungiert oft nur als passiver Beobachter. Indem er mit Personen aus unterschiedlichen Schichten, Altersstufen und Gegenden zusammentrifft, wird die italienische Gesellschaft in ihrer Totalität anschaulich und in ihrer Funktionsweise begreifbar: Hervor tritt eine sozioökonomische Ordnung, in der Erwerb und Profit den Menschen fremdbestimmen und als soziales Wesen degenerieren lassen. Innerhalb dieses Systems sieht sich der Einzelne einem allumfassenden Produktivitätszwang ausgeliefert. Die Ampel mit der Leuchtschrift Avanti, von der
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sich Cesare in einer Szene angetrieben fühlt, kehrt nur plakativ hervor, was in den verschiedenen Begegnungen manifest wird: so etwa in jener Szene des Ateliers, in der der vom Händler ausgebeutete moderne Künstler über die Bildebene mit Cesares Freund Amilcare, einem einfachen Straßenmaler, assoziiert wird. Bei der Hauptfigur führt dieser gesellschaftlich wie staatlich erzeugte Druck der Kapitalgenerierung letztlich zur Suche nach anderweitigen Geldbeschaffungsmöglichkeiten: Frührente, Diebstahl, Betteln und Betrug. Dementsprechend kennzeichnen sich fast alle Figuren durch eine Orientierung am eigenen Vorteil. Entsteht etwa bei Ladri di biciclette oder Roma ore 11 unsolidarisches Verhalten dadurch, dass jeder um die Sicherung der eigenen Existenz bemüht ist, so führt der mit dem Wirtschaftswunder ausgebildete Materialismus zu egoistischer Bereicherung und gegenseitiger Ausbeutung. In L’assassino ist diese Mentalität noch dem neureichen Kleinbürger Alfredo zu eigen, während in I giorni contati auch die subalternen Klassen durch ein solches Verhalten auffallen. Der betrügerische Bettler, der ein recht üppiges Leben führt, pointiert diesen Aspekt übersteigerter Selbstbezogenheit: »A me non me frega niente di nessuno. Io faccio qualsiasi cosa. Io rubo. Io penso solo a me. Io penso a difendermi.« Dies stellt sich als Fehlinterpretation der Selbstbestimmungsidee dar, die innerhalb des auf Produktivität ausgerichteten Gesellschaftssystems prinzipiell unrealisierbar zu sein scheint. Cesares resignative Rückkehr zur Erwerbsarbeit erscheint im Film aber nur insofern als logische Konsequenz, als er in seiner Beschäftigung mit existenziellen Grundfragen die kapitalistischen Grundprinzipien und die damit verknüpften Denkmuster unhinterfragt lässt. Die Kernproblematik wird so in die Figur selbst hineinverlagert: Cesare hält an dem Glauben fest, dass Geld zum Überleben notwendig ist, und scheitert an seiner eigenen Unfähigkeit, über die offensichtlichsten Alternativen zur Erwerbsarbeit hinauszublicken. Das Motiv der Raumfahrt, durch das der Film eine Vergleichsebene etabliert, verweist demgegenüber gerade auf das Jenseits des Denkbaren: Die Reise ins Weltall wird in der dargestellten Welt von allen Figuren als utopisch abgetan, bis die Zeitungen am Filmende tatsächlich über die Rückkehr des Kosmonauten Titow berichten. Die so hergestellte Analogie lässt das, was nach Maßgabe der vorherrschenden Normalvorstellungen als unerreichbar anmutet, in den Bereich des Möglichen rücken: eine Sozialordnung, die ein vom kapitalistischen Produktivitätszwang befreites, selbstbestimmtes Leben zulässt.
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3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
3.2.2 Modernismen und filmische Selbstthematisierung
I giorni contati unterläuft die Teleologie der Handlung und die strenge Erzählökonomie, wie sie das klassische Kino auszeichnen, auf komplexe Weise: Der Film gewinnt sein kapitalismuskritisches Potenzial aus einer episodischen Erzählweise, in der sich die Deskription des gesellschaftlichen Jetzt-Zustands mit einer psychologisierenden Figurendarstellung verbindet. Die betonte Zirkulärität exponiert ja in der angedeuteten Zwangsläufigkeit die mentale Struktur des Protagonisten. Schon bei L’assassino erweisen sich die dramaturgischen und erzähltechnischen Eigentümlichkeiten als zweckgebunden: Die episodischen Rückschauen dienen dazu, die Skrupellosigkeit des selbstbezogenen Alfredo im Kontrast zu seinem unterwürfigen Gehabe gegenüber der Polizei zu verdeutlichen, die sich mit ihren rabiaten und undurchsichtigen Methoden selbst als charakteristischer Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft zu erkennen gibt. Auf der audiovisuellen Ebene stellt nun bereits Petris Erstlingsfilm seinen un konventionellen Umgang mit den filmischen Gestaltungsmitteln aus. Beispielhaft lassen sich hier die verschiedenen Überleitungen der assoziativen Flashbacks anführen: Diese erfolgen meist abrupt durch harte Schnitte, gelegentlich begleitet von Alfredos Voiceover. Dem steht etwa die bruchlose Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit gegenüber, die bei der Rekonstruktion von Alfredos letzter Begegnung mit Adalgisa hergestellt wird. Während der Verdächtigte am Tatort Kommissar Palumbo von dem Treffen erzählt, fährt die Kamera in einer kontinuierlichen Bewegung zwischen dem Wohnraum und dem Schlafzimmer hin und her: Der Film wechselt so vom Vorabend, an dem Alfredo von seiner ehemaligen Geliebten zunächst seine Schulden erlassen bekommt und dann mit ihr schläft, zur Vernehmung am Tag danach. Auch die Verhörszenen sind in solchen langen, oft plansequenzartigen Einstellungen gedreht, die dort das Verhalten des Befragten wie das der Befragenden beobachtbar machen. I giorni contati mutet ungleich kompromissloser an, wird doch auf allen Ebenen der Konventionsbruch forciert: durch Plansequenzen ebenso wie eine diskontinuierliche Montage bis hin zum jump cut; durch sehr agile Kamerabewegungen bis hin zur Handkamera mit verwackeltem Bildkader; durch eine Ausleuchtungspraxis, die Gegenlicht und Unterbelichtung zulässt; durch eine mise en scène, die stilisierte Ansichten bietet und die Protagonisten oftmals aus dem Bildzentrum wie aus dem Bildvordergrund rückt; und durch eine unausgewogene Tongestaltung, die auch völlig irrelevanten Atmo-Tönen Raum gibt. Dabei fällt I giorni contati insgesamt betrachtet durch recht heterogene Stilweisen auf, wie auch schon Rigola (2015: 27–33) feststellt. Genauer formuliert: Im Rahmen seiner facettenreichen Verdeutlichungsstrategie oszilliert der Film
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zwischen den Polen einer innovativen Dokumentarästhetik und einer formalistischen Stilisierung. So werden einerseits Gestaltungstechniken verwendet, wie sie in dieser Zeit vom Cinéma vérité, dem Direct Cinema und der Nouvelle vague in der Spielform Godards ausgebildet werden. Beispielsweise macht sich die Kamera durch starke, unkontrollierte Bewegungen bemerkbar und löst sich in einzelnen Szenen sogar vom Geschehen um die Hauptfigur; besonders eindrücklich zeigt sich dies bei den Protesten in der Borgata Gordiani, als sich die Kamera unter die wütende Menge der Bewohner mischt. Zudem werden visuell und auditiv Impressionen mitgeteilt, die dramaturgisch keinerlei Mehrwert besitzen. Hierzu zählen Umweltgeräusche wie der Verkehrslärm, der an allen Orten der Stadt permanent vorhanden ist, oder zusammenhangslose Beobachtungen wie in jener Szene, in der Cesare am Ufer des Tibers einem Mann beim Stuhlgang zusieht. Nach Maßgabe des klassischen Kinos gelten solche erzählökonomisch überschüssigen Elemente als Mängel, wohingegen die neuen Dokumentarfilmbewegungen gerade dadurch einen Authentisierungseffekt forcieren: Sie suggerieren durch die offenkundige Abweichung die Abwesenheit von Inszenierung. Diese Kontrastwirkung wird auch bei Petris Spielfilm relevant. Schließlich handelt es sich bei den Aufständen in der Borgata keineswegs um reale Ereignisse, die filmisch dokumentiert worden sind, sondern um produktionstechnisch aufwendige Spielszenen.36 Wenn nun die Kamera Cesare in der Anfangssequenz hektisch folgt und hierbei das Sonnenlicht direkt in die Linse fällt, dann mag schon hier der Eindruck erzeugt werden, dass das Geschehen vor der Kamera nicht gestellt ist. Umweltgeräusche, Dialektsprache und Ansichten von Originalschauplätzen Roms und Umgebung verdichten sich dann derart, dass sich das Setting und die Figuren nahezu ostentativ einer Alltagswirklichkeit annähern, wie sie sich in der italienischen Hauptstadt Anfang der 1960er Jahre darbieten mag. An Brisanz gewinnen solche Beglaubigungsstrategien gerade dann, wenn der Film wirtschaftlich und sozial benachteiligte Gegenden wie das Elendsviertel oder das verlassene Dorf im Latium vorführt. An den benannten Szenen lässt sich zugleich allerdings beobachten, wie solche innovativen, subversiven Gestaltungsmittel bereits erzähltechnisch funktionalisiert werden. So unterbrechen jump cuts jeweils wiederholt die kontinuierliche, unkontrolliert anmutende Bewegung der Kamera, die ja eigentlich den authentisierenden Effekt generiert. Da die Schnitte willkürlich gesetzt erscheinen,
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Dies wird durch einen Blick ins Drehbuch ersichtlich, in dem die Szene detailliert beschrieben ist; vgl. AMNC ELPE12–13 [1961]: 39–47.
3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
schaffen sie keine raumzeitliche Orientierung und unterstützen daher die Hektik, die der kopflose Cesare oder die randalierenden Bewohner der Borgata vermitteln. Einem narratologischen Ansatz folgend zeigt Kuhn, wie auf diese Weise im Film eine personale oder auktoriale Erzählsituation erzeugt werden kann: Solche Techniken machen demnach die Stimmung einer Situation oder die individuelle Gemütslage einer Figur visuell evident (vgl. Kuhn 2013: 97–100). Andererseits weisen betont artifizielle Ansichten die filmische Darstellung deutlich als inszenatorisches Arrangement aus. Die betreffenden Einstellungen und Schnittfolgen exponieren demnach nicht die faktische Dimension des Gezeigten, das vielmehr semantisch aufgeladen wird. Konkret zeigt sich dies etwa an der Szene im (historisch realen) Kino Giulio Cesare, dessen Name schon auf die Ex-Verlobten, die sich dort verabreden, verweist: Die kontrastierende Montage zu einem jungen Paar evoziert die gemeinsame Vergangenheit von Giulia und Cesare, die sie nicht wiederholen bzw. wieder holen können. Dies unterstreicht eine der folgenden Einstellungen, in der das spärliche Licht ihre Schatten an die Wand des Kinosaals wirft. Ähnlich wie bei den stilisierten Einstellungen am Flughafen von Fiumicino fungiert der Kader hier als flächige, nahezu grafisch anmutende Anordnung, sodass die bildinterne Komposition betont wird (Abb. 5–6). Auch hier sind die Filme Antonionis stilbildend, doch wird bei Petri eben nicht allein die ästhetische Dimension des visuellen Gefüges erkundet.37 Während noch in L’assassino gelegentlich auf ähnliche Weise die kunstvolle mise en scène hervorgekehrt wird (Abb. 7–8), geht es hier darum, in der Darstellung der jeweiligen Situation eine zusätzliche Bedeutungsebene zu schaffen. Äquivalentsetzungen, wie sie in der Kinosequenz vorgenommen werden, lassen sich sogar als zentrales Verdeutlichungsmittel des Films fassen. Die entsprechenden Elemente werden visuell und verbal oftmals überdeutlich ausgestellt und in Beziehung gesetzt, wie sich bei dem jugendlichen Liebespaar im Lichtspieltheater zeigt. In L’assassino kommen dagegen vor allem Kontrastwirkungen zum Tragen, um die Doppelgesichtigkeit der Charaktere bloßzustellen. Alfredo und Palumbo unterlaufen ihre gegenseitigen Beteuerungen jeweils durch gegenteiliges Verhalten, das der Film explizit vorführt: bei Alfredo durch die Rückblenden, die den Anschein seiner moralischen Integrität auflösen; bei der Polizei durch Einblicke in die Ermittlungsmethoden, die offenkundig die Rechte des Verhörten verletzen.
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Zu diesem Aspekt bei Antonioni vgl. Bauer 2014: 48–58.
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Abb. 5 und 6: I giorni contati
Bei I giorni contati ist nicht zu vergessen, dass schon der initiale Todesfall gerade wegen eines Ähnlichkeitsverhältnisses die handlungsgenerierende Zu standsveränderung auslöst: Cesare gerät in eine Sinnkrise, weil er sich in dem verstorbenen Arbeiter wiedererkennt. Im weiteren Verlauf kehren solche Äquivalentsetzungen wiederholt Gemeinsamkeiten zwischen Personen aus verschiedenen Bereichen hervor, so etwa bei Amilcare und dem professionellen Künstler. Dennoch liegt der Fokus bei der Hauptfigur, die wiederholt an die vermeintlichen Grenzen ihrer Handlungsfreiheit erinnert wird: so etwa durch das junge
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3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
Abb. 7 und 8: L’assassino
Paar im Kino oder einen verarmten Greis in der Heimatdorfsequenz, der mit seiner äußeren Ähnlichkeit gewissermaßen als Zukunftsversion von Cesare auftritt (Abb. 9). Damit ist eine ausgeklügelte Leitmotivtechnik verknüpft, über die die dargestellte Situation des Menschen in der neokapitalistischen Gesellschaft kommentiert wird: Während sich über das Raumfahrtsmotiv am Ende ein Ausweg andeutet, suggerieren bis dahin eine Todes- und Verödungs- sowie eine Gefangenheitsmotivik permanent Ausweglosigkeit. So wird zugleich der technisch-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
wissenschaftliche Fortschritt mit der sozioökonomischen und schließlich mentalen Rückständigkeit des Neokapitalismus kontrastiert. Schon die Titelsequenz assoziiert Tod und Verödung: Radierungen der fast menschenleeren Hauptstadt Italiens und die in Moll gehaltene Titelmusik erzeugen eine triste Atmosphäre, die während des gesamten Films aufrechterhalten wird. Wenn Cesare sein Leben neu zu begründen versucht, dann wird er in diesem Sinn nur mit dem Ende des Lebens bzw. fehlender Lebendigkeit konfrontiert: ob nun durch die Pferde, die zum Schlachthof geführt werden, oder sein nahezu ausgestorbenes Heimatdorf. Die abgesperrten Kinder am Strand oder der Gorillakäfig im Zoo verweisen auf den vermeintlich unentrinnbaren Leistungszwang, dem Cesare letztlich nachgibt. Ein Strafverteidiger macht diesen Aspekt in den Szenen des Strafprozesses gegen einen Arbeiter, dem Cesare interessehalber beiwohnt, explizit: »Voi vorreste mandare quest’uomo in galera, ma che cos’altro è stato la sua vita fino ad oggi, se non buio carcere, penitenziario, lavori forzati, domicilio coatto.« Nicht zuletzt werden die an Cesares Entwicklung vorgeführten Problemzusammenhänge über die Figurensprache also konkret benannt. Das Handeln bzw. Nichthandeln des Protagonisten bleibt auch deswegen nachvollziehbar, weil er wie der Kunsthändler durch eindeutige Aussagen wiederholt einen Interpretationshorizont für sein Tun vorgibt. So erklärt er zu Beginn seinem Freund Amilcare, dass er sich durch die Begegnung mit dem Tod auf sein entfremdetes Dasein besonnen hat und deshalb zu arbeiten aufhört; ebenso gibt er kurz vor Filmende die Gründe für seine Rückkehr an (s. o.). Schon hier ist ein Element funktional, das in Petris Filmen der 1970er Jahre an Bedeutung gewinnt: längere, fast monologartige Redepassagen einzelner Figuren, die handlungslogisch beispielsweise in Form von Ansprachen gerechtfertigt werden. Die besagte Rede des Strafverteidigers, der die prekäre Situation des angeklagten Arbeiters beschreibt, lässt sich hier als eindrückliches Beispiel anführen. In der dramaturgischen und audiovisuellen Gestaltung folgt I giorni contati dem ambivalenten Unterfangen, das continuity system des klassischen Erzählkinos zu unterminieren, ja ostentativ aufzubrechen, aber trotzdem Kohärenz herzustellen. Stilisierte Bildausschnitte, Äquivalenzen, Leitmotive oder die Figurenrede sorgen dafür, dass im Unterschied zu den Filmen Godards oder Antonionis mit ihren undurchsichtigen Protagonisten kausale Zusammenhänge aufrechterhalten, sogar überdeutlich ausgestellt werden. So gelingt es, das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der ihn umgebenden sozialen Welt in seiner Komplexität einsichtig zu machen – ohne die Darstellung ambig werden zu lassen, wie es für die moderne Filmästhetik charakteristisch ist.
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3.2 L’assassino (1961) und I giorni contati (1962)
Dennoch darf in diesem Zusammenhang die subversive Sprengkraft der be tont unkonventionellen Stilmittel und Erzählverfahren nicht unterschätzt werden. Sie gewinnen durchaus an Eigenwert: Die betonte Unkonventionalität erzeugt selbstreferenzielle Effekte, durch die das Medium Film in seiner Materialität stets wahrnehmbar bleibt. Schon L’assassino fällt neben einer flexiblen Montage durch ein irritierendes Spiel optischer Effekte auf, etwa in Form von unerwarteten Schnitten, falschen Bildanschlüssen oder Spiegelungen. In I giorni contati mehren sich dann die Elemente, die für die Darstellung der Figuren, des
Abb. 9 und 10: I giorni contati
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Geschehens und der diegetischen Welt dysfunktional zu sein scheinen; so etwa die verschiedenen Groß- und Nahaufnahmen, bei denen Cesares Gesicht und Körper durch den Rand des Kaders abgeschnitten werden (Abb. 10). Außerdem entstehen schon durch die markanten stilistischen Unterschiede innerhalb des Films wiederholt markante Brüche. Die technischen Parameter des Films werden auf diese Weise als Faktoren der ästhetischen Gestaltung augenscheinlich. So gesehen lassen sich bereits bei I giorni contati Züge einer ›parametrischen‹ Narration nach Bordwell feststellen, wie sie Cardone dann auch in La decima vittima sieht (vgl. Bordwell 1985: 274–310; Cardone 2005: 78, Anm. 73). Hierdurch wird der von der modernen Filmästhetik exponierten Problematik Rechnung getragen, dass das, was sich filmisch als Wirklichkeit darbietet, das Ergebnis einer Inszenierung, mithin eines spezifischen Gebrauchs der filmischen Mittel ist; im klassischen Erzählkino bleiben diese charakteristischerweise unsichtbar. Wie Petris zweite Spielfilmregie mit ihrem subversiven Impetus plakativ vor Augen führt, unterliegen die entsprechenden Regeln der Filmgestaltung, die ja erst spezifische Wahrnehmungsformen konstituieren, der Willkür und Übereinkunft. Damit setzt sich I giorni contati, in Ansätzen schon L’assassino, programmatisch von einem Kino ab, das nicht nur bestehende Annahmen über die Welt unberührt lässt und damit perpetuiert, sondern auch auf filmgestalterischer Ebene konformistisch bleibt. Wartet das Kino im Film dementsprechend etwa mit dem für das Peplum genretypisch wirklichkeitsfernen Le vergini di Roma (1961) auf, dessen Plakat am Giulio-Cesare-Kino aushängt, so mag sich I giorni contati implizit als Gegenmodell anbieten. Mit Blick auf ein nichtelitäres Publikum weist sich der Film die Funktion der abstrakten Malerei zu, wie sie der Kunsthändler be schreibt: I giorni contati verknüpft die konkreten sozialen Probleme der benachteiligten Schichten mit existenzialistischen Grundfragen und bietet diese auf eine avancierte, durchaus anspruchsvolle Weise dar. Hierbei werden mit den Verfahren des modernen Dokumentar- und Autorenkinos die neu entstandenen Gestaltungsmöglichkeiten zweckbezogen ausgenutzt, verbunden mit einem selbstreferenziellen Gestus, durch den sich dieser Film als Artefakt zu erkennen gibt. Petris formalstilistisch versiertes Regiedebüt L’assassino präsentiert sich dagegen als Kritik an einem neuen, nur am eigenen Vorteil interessierten Kleinbürgertum, die als solche ebenfalls dem Autorenkino mit seinen existenzialistischen Porträts einer bürgerlichen Krise opponiert. Umso erstaunlicher mag es sein, dass in beiden Filmen ein Element zu finden ist, mit dem sich üblicherweise vor allem die Regiearbeiten einschlägiger Autorenfilmer ausweisen: der Cameo-Auftritt, durch den etwa Godard oder Hitch-
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
cock in den von ihnen inszenierten Filmen selbst in Erscheinung treten. Auf ähnliche Weise mischt sich Petri in L’assassino unter die Journalisten, als Palumbo die Identität des Mörders enthüllt, während er in I giorni contati bei Cesares Nachhauseweg mit den sich drängelnden Menschen durch das Bild streift. Diese Auftritte lassen sich mit der metareferenziellen Dimension der Filme in Zusammenhang bringen, zumal hier jeweils eine der wesentlichen Produktionsinstanzen im On erscheint. Hierbei könnte man so weit gehen, den Cameo poetologisch als Verweis auf eine Umdeutung der auteur-Idee zu interpretieren; immerhin sind Godards zeitgenössische Regiearbeiten ja auch auf formalstilistischer Ebene maßgebend. Der einzelne Film erwiese sich so als Werk, das zwar dem Gestaltungswillen des Regisseurs unterliegt, aber statt einer persönlichen künstlerischen Vision primär eine kritische Sicht auf die gegenwärtigen Verhältnisse bietet. Von dieser Warte aus betrachtet kennzeichnen sich die ersten beiden Spielfilme von Elio Petri durch ein Spannungsverhältnis zwischen autorialer Selbstbezüglichkeit einerseits sowie stilistischer Epigonalität und kritischem Weltbezug andererseits. Diese Spannung ergibt sich aus einem eigentümlichen Umgang mit dem auteur-Konzept, das hier auf den ordnungskritischen Film übertragen wird. Bezeichnenderweise bringt gerade François Truffaut, der maßgeblich zur Entstehung dieses Konzepts beigetragen hat, 1962 seine Bewunderung für den italienischen Regiekollegen zum Ausdruck: »Ho ammirato molto il secondo film di Petri I giorni contati, e ho avuto il piacere di simpatizzare con questo regista che ho incontrato nell’America del Sud« (Cinema Domani 1962: 19). Beim Festival in Mar del Plata, das Truffaut hier anspricht, war sein Jules et Jim von Petris Film auf den zweiten Platz verwiesen worden.
3.3
Ein anderes Kino der Moderne: Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
Im Vergleich zu den ersten beiden Regiearbeiten misst die Forschung Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio, einer Episode aus Alta infedeltà (1964), wenig Bedeutung bei. Bei seinem dritten Spielfilm wird dem Regisseur nach dem ambitionierten I giorni contati gar ein filmkünstlerischer Qualitätsverlust bescheinigt. Die negative Kritik, die Petri seinerzeit für Il maestro di Vigevano erntet, bezieht sich vor allem auf den Aspekt der Literaturadaption: Als zunächst vielversprechender Debütant passe er sich nun einer neuen Mode der profitorientierten Filmindustrie an, sodass er dazu gezwungen sei, sich an einem fremden Werk abzuarbeiten (vgl. L. P. 1963; Savioli 1963;
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
A. S. 1963; Rondi 1964; Valmarana 1964). Andere honorieren dagegen, dass er sich trotz der immensen Zwänge des Systems individuelle Freiheiten schaffe (vgl. etwa Argentieri 1964: 28). So bestätigt auch Lino Micciché (1963) Petri – wenn auch mit Abstrichen – als »una personalità tra le più dotate del nuovo cinema italiano«, sodass letztlich nur Alberto Moravia (2010 [1963]: 527 f.) in dem Film einen Fortschritt des jungen Regisseurs sieht. Den Eindruck eines Rückschritts befördert Elio Petri nicht zuletzt selbst: Jahre später gibt er an, dass er die Arbeiten an dieser Produktion ebenso wie an Alta infedeltà nur aus reiner Notwendigkeit angenommen hatte. Nachdem I giorni contati seinerzeit wenig einspielt, zieht sich bei einem anderen Projekt, aus dem später Un tranquillo posto di campagna hervorgeht, der Produzent zurück (vgl. Ballérini et al. 1974: 43, 48). Auch die seit 1962 geplante Science-Fiction nach Robert Sheckleys Kurzgeschichte Seventh Victim kann er noch nicht umsetzen. Dieser Einschnitt in Petris Werk wird üblicherweise mit seinem Wechsel der Produktionsfirma begründet (so etwa Minuz 2015: 102 f.). L’assassino und I giorni contati können demnach künstlerisch gelingen, weil der Regisseur bei Titanus zwar weniger Budget zur Verfügung habe, dafür von Produzent Goffredo Lombardo in der Umsetzung aber größere Freiheiten bekomme. Da es sich bei De Laurentiis umgekehrt verhalte, müsse er mit Il maestro di Vigevano eher notgedrungen den Anforderungen der kommerziellen Filmproduktion gerecht werden. Tatsächlich verfolgt Dino De Laurentiis eine grundsätzlich andere Unternehmensstrategie als Lombardo, da sich seine Firma an den industriellen Organisationsstandards Hollywoods orientiert und auf ein internationales Publikum zielt (vgl. Corsi 2001: 168). Zwar sind finanziell wesentlich größere Spielräume vorhanden, doch greift De Laurentiis oft nahezu autoritär in die Produktionsprozesse der von ihm finanzierten Filme ein. Gerade die Entstehungsgeschichte von Petris Spielfilm mag dies belegen. Der Regisseur arbeitet zunächst am Drehbuch zu I mostri, das er eigentlich auch umsetzen soll. Aufgrund der sozialkritischen Schärfe des Skripts veranlasst De Laurentiis, dass Petri stattdessen Il maestro di Vigevano bearbeitet. Mit diesem Projekt war bis dato Dino Risi betraut, der im Gegenzug die Verantwortung für I mostri übernimmt.38 Auch nach dem Tausch versucht der Produzent, bei Il maestro di Vigevano wiederholt auf die Drehbuchentwicklung und die von Petri geleiteten Dreharbeiten Einfluss zu nehmen.
38
124
Davon berichten zumindest Elio Petri, Dino Risi und Agenore Incrocci (vgl. Faldini / Fofi 1981: 145–147).
3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
Aufgrund solcher produktionsgeschichtlichen Komplikationen sind in der Auseinandersetzung mit dem Film noch immer gewisse Vorbehalte wirksam. Das führt wiederum dazu, dass die tatsächlichen Potenziale von Petris dritter Spielfilmregie ebenso wie der zeitgleich entstandenen Filmepisode Peccato nel pomeriggio bislang kaum erfasst worden sind. Diese können greifbar werden, wenn man sie im genrehistorischen Rahmen der commedia all’italiana profiliert. Hierbei handelt es sich um eine kultur- und zeitspezifische Ausprägung der Filmkomödie, die sich Ende der 1950er Jahre ausbildet. Durch wiederkehrende Themen, Konflikte, Figurentypen sowie einschlägige Schauspieler, Regisseure und Drehbuchautoren entsteht in dieser Zeit ein enger Zusammenhang, der die Kategorisierung als Subgenre rechtfertigt. Allein auf Produktionsebene zeigen sich nun signifikante Verbindungen zu den hier betrachteten Regiearbeiten von Elio Petri: So übernimmt etwa mit Alberto Sordi einer der prominentesten Darsteller der commedia all’italiana die Rolle des Grundschullehrers aus Vigevano, während Agenore Incrocci und Furio Scarpelli alias Age / Scarpelli die Drehbücher des Langfilms ebenso wie der Episode maßgeblich mitgestalten; das Autorenteam zeichnet für die Skripte zahlreicher Filme verantwortlich, die heutzutage als einschlägig für das Subgenre betrachtet werden. In der italienischen Filmgeschichtsschreibung wird die commedia all’italiana als historisches Gegenstück zum Autorenkino behandelt: Charakteristischerweise findet nämlich auch sie in der soziokulturellen und wirtschaftlichen Modernisierung des Landes ein bevorzugtes Themengebiet (vgl. De Vincenti 2001: 12, 14; Viganò 2001: 240 f.).39 Gleichwohl werden dem Subgenre verschiedene Arbeiten zugerechnet, die mit historischen Stoffen aufwarten, so etwa Mario Monicellis La grande guerra (1959) oder Luigi Comencinis Tutti a casa (1960). Auch Filme wie Pietro Germis Divorzio all’italiana (1961) oder Sedotta e abandonata (1964) interessieren sich weniger für den Aufschwung in den norditalienischen Regionen, obwohl sie den Blick auf die Gegenwart der frühen 1960er Jahre richten: Sie thematisieren stattdessen die Rückständigkeit der südlichen Feudalgesellschaft. Wird die commedia all’italiana dennoch als elementare Ausprägung eines Kinos der Moderne behandelt, so herrscht die Annahme vor, dass für sie im Unterschied zum Autorenkino Ansprüche auf künstlerische Kreativität keine Rolle spielen. Mittlerweile bilden die entsprechenden Arbeiten von Regisseuren wie Risi, Comencini, Monicelli oder Germi einen integralen Bestandteil des italieni-
39
Für eine davon ausgehende, genderbezogene Analyse der commedia all’italiana vgl. Günsberg 2005: 60–96.
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
schen Filmkanons. Diesen Regiearbeiten wird also durchaus Werkcharakter zugeschrieben, auch wenn an ihnen selbst keine entsprechende Ambition erkennbar ist. In Il maestro di Vigevano und Peccato nel pomeriggio wird sogar das hochkulturell-bürgerliche Kunstverständnis, das eben mit dem Autorenkino assoziiert wird, mit den Mitteln der Komödie und der Parodie kompromittiert. I giorni contati markiert dagegen noch den Versuch, die filmästhetischen Innovationen des Autorenkinos und der Neuen Wellen für ein ordnungskritisches Kino fruchtbar zu machen. Da sich Il maestro di Vigevano formalstilistisch recht unauffällig darbietet, mutet es schwierig an, diese Regiearbeit gerade unter dem Aspekt des Politischen mit Petris bisherigen Filmen zusammenzuführen. Interessanterweise lobt damals ausgerechnet Micciché, seines Zeichens Organisator der Mostra Internazionale del Nuovo Cinema, den modernen Stil von Il maestro di Vigevano (vgl. Micciché 1963). Nach heutigem Verständnis ist die commedia all’italiana dagegen eher dem klassischen Kino zuzurechnen, das De Vincenti als ›naturalisiert‹ bezeichnet: Im Unterschied zum Neuen Kino stelle es seine Künstlichkeit nicht aus. Als wichtigstes Darstellungsmittel wird daher das Schauspiel der fast ausschließlich männlichen Hauptdarsteller betrachtet (vgl. De Vincenti 2001: 12, 14). Neben Alberto Sordi bilden etwa Vittorio Gassman, Ugo Tognazzi oder Nino Manfredi in dieser Zeit sogar ein mit dem Subgenre verknüpftes Starimage aus. Da der audiovisuelle Stil vernachlässigbar erscheint, stützen sich Definitionen der commedia all’italiana im Wesentlichen auf inhaltlich-thematische Aspekte, oft mit Fokus auf die Hauptfiguren und ihr Verhältnis zur sozialen Umgebung. Für Grande gewinnt die commedia all’italiana ihre Komik aus einem Konflikt, der auch in Petris ersten beiden Spielfilmen verhandelt wird: dem zwischen einem Individuum, das Besitz und soziales Ansehen zu vermehren versucht oder einfach nur um Existenzsicherung bemüht ist, und einem sozialen Gesamtgefüge, das diese Bestrebungen durch seine extremen Widersprüche erschwert. Denn laut Grande weichen die Regeln, nach denen die Gesellschaft funktioniert, vom offiziell gültigen bürgerlich-konservativen Werte- und Normensystem ab. Der stattdessen vorherrschende Materialismus führt zu quasianarchistischen Verhältnissen: Jeder hat ausschließlich den eigenen Profit im Blick, wobei Betrug und Schwindel zu legitimen Mitteln werden, um die egoistischen Ziele zu erreichen. Moralisch und psychisch fallen die Figuren dementsprechend durch eine ausgeprägte Flexibilität auf, da sie ständig dazu gezwungen sind, sich aufs Neue anzupassen. Erscheinen sie im Vergleich zum Neorealismus oder dem postneorealistischen Autorenkino daher stärker typisiert, so fungiert dies nicht nur als komisches Mittel, sondern als Effekt dieses Vergesellschaftungsprozesses (vgl. Grande 2003: 41–43). Im Grunde widmen sich also auch die gegenwartsbezoge-
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
nen Filme der commedia all’italiana Phänomenen der Entfremdung und des Konformitätszwangs. Auf Lacan bezugnehmend interpretiert Bini die stets männlichen Protagonisten sogar als neurotische Charaktere (vgl. Bini 2015: 145–168). Nun fällt schon in L’assassino die Hauptfigur durch eine solche Doppelgesichtigkeit auf, die kennzeichnenderweise wiederholt komische Effekte hervorruft: Während Alfredo der Polizei gegenüber untertänig und zurückhaltend auftritt, stellen die Rückblenden sein unmoralisches, egoistisches Wesen aus. Die Komik wird in Il maestro di Vigevano und Peccato nel pomeriggio dann zum zentralen Mittel, um die Widersprüchlichkeit des Einzelnen mit Blick auf ihre soziale Bedingtheit hervorzukehren. Hierbei besticht vor allem der Film mit Sordi durch ein Zusammenspiel von Komik und Tragik, das charakteristisch für die commedia all’italiana ist; De Vincenti rückt das Subgenre daher in die Nähe zur Groteske (vgl. De Vincenti 2001: 16). Bini macht das Groteske konkret am stets tragischen Ende der Filme fest, in dem aus seiner Sicht ein zweifaches Scheitern zum Ausdruck kommt. Zum einen ein kollektives: Zunächst sieht Bini hier das Scheitern jenes »project of a moral and civil reconstruction« (Bini 2011: 114) der italienischen Gesellschaft, das der Neorealismus nach dem Fall des Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs angestrebt hatte. Darüber hinaus verweist er auf ein individuelles Scheitern: das des Mannes aus der Mittelklasse, der sich seinerseits nicht in das gemeinschaftliche Gefüge einordnen kann. Er finde kein verlässliches Wertesystem mehr vor, an dem er sich orientieren könne, und erweise sich zugleich als unfähig, für sich und die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen (vgl. ebd.: 114 f.). Prinzipiell ergibt sich das politische Potenzial der commedia all’italiana demnach aus der kritischen Repräsentation jener materialistisch geprägten Zwangsbeziehung zwischen der Gesellschaft und dem (männlichen) Individuum, die die Gegenwart der frühen 1960er Jahre kennzeichnet. Doch schon in der damaligen Debatte um das heimische Kino wird dieses Subgenre der Komödie als filmische Darstellungsform kritisiert, die zwar die sozialen Verhältnisse in Italien thematisiert, aber nur deren komödienhaften Charakter akzentuiert. Kritiker sehen darin einen Verzicht auf politische Bestrebungen, wie sie der Neorealismus paradigmatisch ausgebildet hatte. Daher ist der doppeldeutige Begriff der commedia all’italiana ursprünglich negativ besetzt (vgl. Grande 2003: 44 f.). Auch De Vincenti schreibt der commedia all’italiana im Prinzip nur deskriptive Fähigkeiten zu (vgl. De Vincenti 2001: 14, 16). An anderer Stelle bezeichnet er das Subgenre dann als »konservativ und auf seine Weise sogar nostalgisch« (De Vincenti 2008: 45), da es als Lösungsmöglichkeit für die von den Protagonisten begangenen Untaten nur die Vergebung im katholischen Sinn in Aussicht stellt; so gese-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
hen wird also nur ein anachronistischer Moralkodex bestätigt. Schon auf Petris Beitrag zu dem Episodenfilm Alta infedeltà lassen sich diese Befunde nicht ohne Weiteres übertragen.
3.3.1 Parodistischer Bezug zum bürgerlichen Kino der Moderne
Grundsätzlich ist die Form des Episodenfilms, die sich im italienischen Kino erstmals Anfang der 1950er Jahre großer Popularität erfreut, nicht zwingend an das Genre der Komödie bzw. der commedia all’italiana geknüpft. Der Oberbegriff fasst unterschiedlichste Filme, Alta infedeltà genauso wie Ro.Go.Pa.G (1962), an dem einschlägige Autorenfilmer beteiligt sind, oder Zavattinis Dokumentarfilmprojekt I misteri di Roma (1963). Die charakteristische Gemeinsamkeit dieses heterogenen Ensembles besteht in einer Episodenstruktur, deren autonome Bestandteile in der Regel nur durch ein übergeordnetes Thema lose zusammengehalten werden (vgl. Bruni 2001: 260). So kreisen die vier Einzelgeschichten von Alta infedeltà um den Aspekt der Untreue, wobei die Ehe als althergebrachtes, bürgerliches Modell verhandelt wird. Bezeichnenderweise wird in den verschiedenen Episoden der Ehebruch gar nicht bzw. auf unerwartete Weise vollzogen. In Scandaloso (R.: Franco Rossi) mimt Nino Manfredi einen Bauunternehmer, dessen eheliche Routine durch die Annäherung eines anderen Mannes aufgelöst wird; dieser interessiert sich aber nicht für die Frau des Protagonisten, wie angenommen, sondern für den Bauunternehmer. Eine eifersüchtige Gattin (Monica Vitti) begeht dann in La sospirosa (R.: Luciano Salce) ihrerseits Ehebruch, ohne sich dessen gewahr zu werden. In Gente moderna (R.: Mario Monicelli) soll eine junge Frau eine Nacht mit dem Gläubiger ihres Ehemannes (Ugo Tognazzi) verbringen, um den beim Glücksspiel verlorenen Grundbesitz behalten zu können. Gegenüber diesen drei Episoden sticht Peccato nel pomeriggio nun hervor: Hier erlaubt die Form der Komödie eine parodistische Referenz auf das Autorenkino, also eben jenes Kino der Moderne, das im Unterschied zur commedia all’italiana einen künstlerischen Anspruch zur Schau trägt. So wird in Peccato nel pomeriggio Antonionis Trilogie der Entfremdung – L’avventura (1960), La notte (1961), L’eclisse (1962) – als Modell einer weltabgewandten Kunst reflektiert, die ihren Gegenstand ebenso wie ihr Publikum im Bürgertum findet. Petri weist später selbst explizit auf diesen kritischen Bezug zu seinem Regiekollegen hin; er habe sogar geplant, die weibliche Hauptrolle mit Monica Vitti zu besetzen, die sein Vorhaben aber durchschaut habe (vgl. Ballérini et al. 1974: 48). Mit der Kritik an Antonioni ist eine Kritik an den besser-
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
gestellten Schichten verbunden, die in seinen Filmen bevorzugt porträtiert werden. Dabei unterminiert ihre Darstellung in Peccato nel pomeriggio das von Antonioni geschaffene Bild nach innen gewandter, emotional mit sich hadernder Individuen, indem sie im Stile der commedia all’italiana eine moralische Widersprüchlichkeit betont – und zwar durch eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein, die die Geschichte eines nur gespielten Ehebruchs überspitzt. Wie bei Antonioni stehen in Peccato nel pomeriggio die zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt, die sich im Kontext der modernen Wohlstands- und Massengesellschaft krisenhaft gestalten. Die Pointe der Episode besteht darin, dass die Entfremdung durch Verfremdung überwunden werden soll: Die Eheleute Laura (Claire Bloom) und Giulio (Charles Aznavour) tun so, als würden sie sich nicht kennen, um die für Antonionis Protagonisten charakteristische Kommunikationsunfähigkeit zu überwinden, sich ihr Innerstes zu offenbaren und letztendlich miteinander zu schlafen. Nach einem Jahr erfolgloser Versuche ist der Geschlechtsverkehr somit das eigentliche Ziel des Anonymisierungsspiels, das sie von Rom zu Giulios Strandhaus und dann in ein billiges Motel führt. Die Episode enthüllt dies erst durch einen plot twist in der letzten Sequenz, als sich die Protagonisten am gleichen Abend in ihrer Stadtvilla wiedersehen. Bis dahin bleibt der Eindruck bestehen, dass sich tatsächlich zwei unbekannte, jeweils verheiratete Menschen aus Frust über ihre Ehen auf ein sexuelles Abenteuer einlassen. Dies ist mit einer Imitation von Antonionis charakteristischem Darstellungsund Erzählstil verbunden. Die Filmepisode zitiert die entsprechenden Stilmittel, um seine Ästhetik der Oberfläche als nur oberflächlich bloßzustellen: Durch ungewöhnliche Kameraperspektiven auf den modern-rationalistischen Palazzo ENI und die lustwandelnde Laura kommen ähnlich ornamentale Bildausschnitte wie in der Entfremdungstrilogie zustande; bei Antonioni entsteht auf diese Weise ein verfremdender Blick auf die sich verändernde Lebenswelt.40 In Peccato nel pomeriggio werden demgegenüber anhand von Giulios Baufirma, die in dem Hochhaus untergebracht ist, die Probleme der Steuerhinterziehung, der Bauspekulation sowie der damit einhergehenden Zerstörung von Natur und Kultur als Negativfolgen des boom economico explizit thematisiert. Erinnert darüber hinaus Laura in ihrem Flanieren und zögerndem Verhalten an Antonionis weibliche Protagonisten, wie sie unter anderem eben von Monica Vitti verkör40
In seiner Rezension scheint Nettelbeck den ironischen Charakter der visuellen Gestaltung zu verkennen, wenn er Petri »in jeder Einstellung, jeder Fahrt mehr Stil als [den] anderen drei [Episoden] zusammen« bescheinigt und aufgrund dessen Peccato nel pomeriggio als »beste Episode« bezeichnet (1964: 472).
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
pert werden, so hat dies hier andere Ursachen: Bei Antonioni zeigt sich hierin die Unfähigkeit, eine sinnhafte Verbindung zur Umwelt herzustellen; Laura schlendert dagegen durch Rom, um Schmuck und Kleidung zu kaufen oder vor dem Palazzo narzisstisch die Blicke anderer Männer auf sich zu ziehen. Zögert sie dann den Sexualakt mit Giulio hinaus, so ergibt sich dies nicht aus einem existenziellen Unbehagen, sondern nur aus den moralischen Bedenken, sich einem ›Fremden‹ hinzugeben. In der Entfremdung der Eheleute manifestiert sich demnach die eigentliche Widersprüchlichkeit des modernen Bürgertums. Giulio repräsentiert hierbei die Seite des neokapitalistisch beförderten Materialismus: Im zwanghaften Willen zur Vermehrung seines Besitzes betrügt er den Staat (»schifosa passione per il danaro«, so Laura), während selbst der Geschlechtsverkehr als bloß physischer Akt ausbeuterisch wirkt. Die Distanzierung zu Laura erscheint demnach als zwangsläufig: Sie zeigt die andere Seite auf, indem sie an den überkommenen Idealen romantischer, emotional erfüllter Liebe und ehelicher Treue festhält. So stellt sich bei ihr am Ende paradoxerweise das Gefühl ein, Giulio betrogen und dadurch eine ›Sünde‹ begangen zu haben. Wie an ihrer müßiggängerischen, hypersensiblen Figur deutlich wird, kranken die Menschen nun am materiellen Überfluss, der überhaupt erst die Beschäftigung mit solchen emotionalen Fragen zulässt; ein Aspekt, der wiederum in Antonionis Filmen mit ihren finanziell abgesicherten Protagonisten gar nicht reflektiert wird. Mit Laura tritt in Petris Werk erstmals eine dezidiert als pathologisch ausgewiesene Figur auf, deren psychischer Zustand durch ein krankhaftes Verhältnis zur Sexualität evident gemacht wird.
3.3.2 Ein Gegenmodell zum Neo-Ästhetizismus
Il maestro di Vigevano mag den aufgeführten Charakteristika der commedia all’italiana noch deutlicher entsprechen als Peccato nel pomeriggio: Petris dritte Spielfilmregie präsentiert mit dem Grundschullehrer Antonio Mombelli (Alberto Sordi) eine Hauptfigur, die von ihrer Umwelt zur gesellschaftlichen Anpassung gezwungen wird. Aufgrund ihrer Inflexibilität erweist sie sich allerdings als unfähig, sich tatsächlich in die vom boom economico geschaffenen Verhältnisse einzufügen. Nun gilt der Schauplatz, das in der wirtschaftsstarken Lombardei gelegene Vigevano, seinerzeit als prototypisches Beispiel für den Aufschwung des Landes: Aufgrund ihrer florierenden Schuhindustrie wird die Kleinstadt Anfang der 1960er Jahre zum Inbegriff des italienischen Neokapitalismus. Dazu trägt nicht zuletzt die Romantrilogie von Lucio Mastronardi
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
bei, deren zweiter Teil Petris Film als Vorlage dient (vgl. Mastronardi 1959; 1962; 1964). In Il maestro di Vigevano bietet sich der Transformationsprozess in erster Linie als Wandel bürgerlicher Werte dar; diejenigen, die sich nicht anpassen können, bleiben auf der Strecke. Wie in I giorni contati steht dabei die Frage im Zentrum, weshalb Benachteiligte ihre Lage widerstandslos in Kauf nehmen. Mit dem Grundschullehrer Mombelli liegt der Fokus hier eben nicht auf der Arbeiterklasse, sondern den Intellektuellen. Nachdem in I giorni contati mit dem Künstler schon eine solche Figur auftritt, rückt der Intellektuelle bei Petri nun erstmals in den Mittelpunkt. Mit anderen Akzentuierungen schließen dann A ciascuno il suo und Un tranquillo posto di campagna an die kritische Darstellung dieses Sozialtyps an. In der von Il maestro di Vigevano präsentierten Welt erscheint der Intellektuelle charakteristischerweise als Anachronismus. Dies vermittelt sich unter anderem über das von ihm bevorzugte Kunstmodell, das wie in Peccato nel pomeriggio als bürgerlich und ästhetizistisch ausgewiesen wird: hier allerdings anhand des dekadentistischen Schriftstellers Gabriele D’Annunzio, der im Film als inhaltsleer und phrasenhaft abgeurteilt wird (»era un vacuo, era un retorico«). Auch hier ist demnach mit der Kunst im Film eine Metareflexion über die Funktion der Kunst verbunden. Dabei ist anzumerken, dass die linksgerichtete Filmkritik Italiens damals mit dem Begriff des Neo-Dannunzianismus ein Kino abwertet, das nur seine gestalterischen Kunstfertigkeiten ausstellt; ein solcher Gestus wird in Peccato nel pomeriggio ja mit Antonionis Entfremdungstrilogie assoziiert. Bei Il maestro di Vigevano verweist nun schon die Gestaltung der Titelsequenz auf eine Ästhetik des l’art pour l’art: Die Schrift, die figurativen Motive und die Ornamente sind am Jugendstil orientiert, einer Stilrichtung, die auch schon Mitte des 20. Jahrhunderts unzeitgemäß anmutet. Baut der Intellektuelle im Film sein Selbstverständnis auf einem solchen als überholt markierten Modell auf, so kennzeichnet er sich konsequenterweise dadurch, dass er den Bezug zur neuen Wirklichkeit verliert. Konkret äußert sich dies darin, dass er für sich weiterhin einen besonderen gesellschaftlichen Status annimmt; tatsächlich verliert angesichts des zunehmenden Materialismus seine Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie. Das Problem des mangelnden Realitätssinns wiegt allerdings in erster Linie deswegen schwer, weil der Intellektuelle eigentlich »einen Beitrag zu dem Projekt der Transformation der italienischen Gesellschaft […] leisten« (De Vincenti 2008: 42) soll. Ist der Intellektuelle zuallererst um die Sicherung seines Ansehens bemüht, so übernimmt er im Sinne von Bini für das Kollektiv keine Verantwortung mehr; er erweist sich stattdessen selbst nur noch als ›rhetorisch‹ und ›inhaltsleer‹. Auf diese Weise stellt Il maestro
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
di Vigevano schon Anfang der 1960er Jahre die Rolle einer sozialen Formation infrage, die unter anderem von Gramsci und dem PCI politisch enorme Bedeutung zugeschrieben bekommt. Der Verlust der Orientierungsfunktion mag sich im Film metaphorisch an Mombellis Stellung innerhalb seiner beiden Wirkungsbereiche, der Schule und der Familie, zeigen. Als Lehrer gewinnt er seine Autorität eigentlich durch seinen Erziehungsauftrag (»il dovere di plasmare nel fanciullo di oggi il retto cittadino di domani«); tatsächlich sieht er sich permanent Demütigungen des feisten Direktors ausgesetzt. Seine Unterwerfung wird unter anderem dadurch hervorgekehrt, dass er wie seine Schüler belehrend vorgesprochene Worte des Direktors vervollständigen muss: Er wird mithin selbst zum Pennäler. Zugleich kann Mombelli seinen innerfamiliären Status als Oberhaupt nicht verteidigen. Augenscheinlich macht dies ein Wechsel zur Rolle der Ehefrau, ohne dass hier ein Diskurs über die weibliche Emanzipation entfaltet wird, wie Fullwood behauptet (vgl. Fullwood 2015: 160). Mombelli bewältigt die Hausarbeit, während seine materialistische Gattin Ada (Claire Bloom) durch ihre Arbeit in einer Schuhfabrik zur Kapitalbeschafferin wird und ihn somit unterwerfen kann: »Ada, da quando lavori in fabbrica, sembri un’operaio. Sei diventata un’uomo!« – »E tu sei peggio di una donna!« Als Komödie gewinnt der Film seine Komik maßgeblich aus diesem Widerspruch zwischen dem idealisierten Selbstbild des Intellektuellen und seiner faktischen Situation. Diese Diskrepanz wird auch in Petris kommenden Arbeiten exponiert: Die Figuren wähnen sich aufgrund ihres Gelehrtentums über den profanen Dingen, wobei sie ökonomischen Notwendigkeiten, materialistischen Bestrebungen ebenso wie sinnlichen Genüssen mit entschiedener bis arroganter Ablehnung begegnen. Dabei sind es stets die Intellektuellen selbst, die den damit verbundenen Zwängen ausgesetzt sind und diesen letztlich unterliegen. An Mombelli wird hier konkret aufgezeigt, wie der Intellektuelle innerhalb der neokapitalistischen Ordnung nichts anderes als eine unproduktive Kraft darstellt; er kann schließlich nur mit aller Mühe seinen Lebensunterhalt bestreiten. Dabei hat der Lehrer trotz gegenteiliger Behauptungen durchaus Interesse daran, mehr Geld zu generieren. Sein Vorgesetzter, Direktor Pereghi, gewinnt seine Repressionsmacht ja daraus, dass er bei der Lehrerschaft über eine Festanstellung und den Eintritt in eine höhere Gehaltsklasse entscheiden kann. Im Grunde findet sich Mombelli also in ähnlich prekären Beschäftigungsverhältnissen wie die Arbeiterschaft. Darüber hinaus entwickelt er als Geistesmensch starke körperliche Begierden. Diese machen ihn sogar manipulierbar, wie an der zielstrebigen Vorgehensweise seiner Ehefrau ersichtlich wird: Zeigt sich Ada von den Verlockungen der neuen Warenwelt beeindruckt, so bewegt sie ihren Gatten unter
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
Zuhilfenahme ihrer physischen Reize dazu, den unrentablen Schuldienst zu quittieren. Sowohl in finanzieller als auch in sexueller Hinsicht ist der Intellektuelle somit abhängig. Den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit macht nicht zuletzt das Schauspiel einsichtig, das den oben angeführten Studien zufolge elementar für die commedia all’italiana ist. In Il maestro di Vigevano bewerkstelligt Alberto Sordi durch seine spezifische Darbietungsweise das, was Maintz allgemein für den Einsatz des Schauspielerkörpers in der Komödie feststellt: »Eine Basisstrategie des Komischen besteht darin, die Sphäre des Metaphysischen, der Moral, der Attraktion unvermittelt zu konfrontieren mit den Niederungen der Alltagsrealität, des konkreten Einzelfalls, des Physischen« (Maintz 2005: 38). Diese Entgegensetzung forciert Sordis Darstellung des Gelehrten Mombelli in der Mimik, der Gestik und der Stimmgestaltung durch einen expressiven Stil; der Eindruck der Übertreibung wird dadurch verstärkt, dass der Hauptdarsteller in manchen Szenen betont zurückhaltend agiert. Damit unterscheidet sich seine Spielweise signifikant von den nuancierten Inszenierungen, die noch Mastroianni und Randone in L’assassino bzw. I giorni contati aufbieten. Dieser ausdrucksstarke Einsatz des Körpers kommt vor allem in solchen Situationen zum Tragen, in denen Mombelli von intensiven emotionalen und sinnlichen Empfindungen ergriffen wird. Die Exaltiertheit des karikierenden overactings vermittelt hier jeweils, wie der Lehrer durch den Verlust jeglicher Selbstkontrolle dem intendierten Eindruck von intellektueller Überlegenheit und Disziplin nicht gerecht wird. In diesem Sinn überbetont der Schauspielstil zudem wiederholt die förmlichen Gesten der Hauptfigur: so etwa, wenn sich Mombelli dem Direktor gegenüber untertänig zeigt oder gerade den Anschein von Souveränität zu erzeugen versucht, als befehlend autoritärer Lehrer ebenso wie als verantwortungsbereiter Schuhmacher. Schon in der Exposition wirken Sordis übertreibend energischer Schritt und die überhebliche Mine der Entschlossenheit entgegen, die die von ihm dargestellte Figur eigentlich zu vermitteln beabsichtigt. Auf diese Weise lässt das betont körperliche Schauspiel das Individuum hinter dem Habitus des Geistesmenschen sichtbar werden und macht zugleich die Hülle als solche evident: Als Repräsentant einer unzeitgemäßen Intellektuellenkultur versucht der Lehrer, sich durch ein spezifisches Auftreten im sozialen Raum von seinem materialistischen Umfeld zu distinguieren. In diesem Kontext ist auch die Art und Weise zu sehen, wie der Intellektuelle das hochkulturelle Leitbild D’Annunzios für sich vereinnahmt und funktionalisiert. Der emphatische Bezug zu dem selbsternannten Dichterfürsten erweist sich dabei insofern als substanzlos, als dessen Werk insgeheim gar nicht wertgeschätzt wird; es dient stattdessen nur
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
als Mittel zum Zweck, um einfachere Gemüter zu beeindrucken und die Zugehörigkeit zum Stand der Gelehrten auszuweisen. Hierin zeigt sich Mombellis maßgebliche Handlungsmotivation, die eben sozialer Natur ist: Er versucht nur das Ansehen, das er aufgrund seines Intellektuellenstatus ehemals besessen hat, aufrechtzuerhalten. Das Problem besteht nun darin, dass die von Mombelli vertretenen Werte und die damit verbundene Hierarchievorstellung in Zeiten des zunehmenden Materialismus an Bedeutung verlieren. Mit Bourdieu formuliert: Reputation und Prestige können nicht mehr durch kulturelles und soziales, sondern ausschließlich durch ökonomisches Kapital generiert werden (vgl. Bourdieu 1992). Bildung und Kultur zählen nur noch innerhalb der einst elitären Lehrerkaste, während für die restlichen Bewohner des Städtchens wirtschaftlicher Erfolg und Besitz materieller Statussymbole ausschlaggebend sind. Es hat sich bereits eine neue Führungsschicht etabliert, die sich aus neureichen Emporkömmlingen proletarischer Herkunft zusammensetzt. Damit stehen sich eine alte und eine neue Elite rivalisierend gegenüber: Sie betrachten sich gemäß ihren jeweiligen Maßstäben gegenseitig als unterlegen, da es den einen an Wohlstand, den anderen an Bildung mangelt. Diese gesellschaftliche Ordnung vermittelt sich über die Beziehungen zwischen Mombelli und den stark typisierten Nebenfiguren. Durch die Reduktion auf wenige Merkmale erscheinen diese geradezu als Personifizierungen abstrakter Prinzipien. Direktor Pereghi tritt etwa als Sinnbild autoritärer Unterdrückung auf, wohingegen der Großindustrielle Bugatti und der naive Aushilfslehrer Nanini die beiden Alternativen zum Gelehrten verkörpern. Ersterer figuriert als kultur- wie skrupelloser Kapitalist, womit er Giulio aus Peccato nel pomeriggio recht nahesteht. Der zweite repräsentiert dagegen den Wunsch nach einem paradiesischen, ›primitiven‹ Urzustand, der evolutionsgeschichtlich einer vom Zwang bestimmten Zivilisation vorausgeht. Nun eignet sich Bugatti als kapitalistischer Gegenspieler von Mombelli dessen Ehefrau zunächst als Schuldnerin und Fabrikarbeiterin, dann als Geschäfts- und schließlich als Sexualpartnerin an; Nanini lässt sich symbolträchtig vom Zug überfahren, den Mombelli zuvor zum Zeichen der menschlichen Geistes- und Schaffenskraft stilisiert. Die Handlung des Films generiert sich aus dieser grundlegenden Diskrepanz koexistierender Wertesysteme, die sich mit dem Wirtschaftswunder einstellt – vorangetrieben von der ehelichen Beziehung zu Ada, die als Vertreterin des Materialismus permanent die Absichten ihres intellektuellen Ehemannes subvertiert. Sie bringt Mombelli wiederholt in Schwierigkeiten und bewegt ihn letztlich dazu, seine Stellung und die damit verknüpften Werte aufzugeben. Der Ehebruch, den Ada mit Bugatti vollzieht, markiert dann ihre vollständige Assimilation im neuen Bürgertum. Mombellis Geschichte ist im Gegenzug die eines
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
gescheiterten Anpassungsversuchs: Nach seinem Wechsel in die freie Wirtschaft, dem kurzzeitigen Wohlstand und dem Verlust des gewonnenen Kapitals kehrt der Protagonist in den Schuldienst zurück. Die zirkuläre Anlage der Narration wird in diesem Film dem Schulthema entsprechend durch den Turnus des Schuljahres betont, der zugleich die Erzählzeit von einem Jahr ausweist. Die zirkuläre Struktur mag den Teufelskreis aus wirtschaftlicher Benachteiligung und Unterdrückung nachzeichnen, in dem die bestehende Gesellschaftsform den Intellektuellen gefangen hält: Die kausalen Zusammenhänge der kontinuierlichen Ereigniskette vermitteln den Eindruck von Zwangsläufigkeit. Dabei kann sich der am Ende verwitwete Mombelli vor allem deswegen nicht aus seiner Mangelsituation befreien, weil er den Beruf des Lehrers für sein Wesen als konstitutiv betrachtet; er schafft es eben nicht, diesen Selbstentwurf hintanzustellen. Mombelli verbindet also mit Cesare aus I giorni contati, dass er seiner beruflichen Stellung und der damit verbundenen sozialen Rolle identitätsund sinnstiftende Qualitäten zuschreibt. Kann sich der Grundschullehrer nicht in die Rolle des Unternehmers einfügen, so lässt sich dies dennoch nicht als unkontrollierbare Auflehnung seines Innersten interpretieren, wie es Bini in seiner an Lacan orientierten Lesart nahelegt (vgl. Bini 2015: 171). Mombelli scheitert in der freien Wirtschaft schlichtweg aufgrund seiner praktischen Unfähigkeit: nicht nur, weil er handwerklich unbegabt ist, sondern auch weil er die dort vorherrschenden Spielregeln des Betrugs nicht beherrscht. Bugatti legt Mombelli noch zu Lehrerzeiten angesichts seiner (letztlich nur vordergründigen) Ehrlichkeit nahe: »Impari a stare in mondo!« Da er bei seiner Prüfung zur Wiedereinstellung in den Lehrerdienst betrügt, scheint er zumindest im Schulbereich die entsprechenden Modalitäten zu kennen. Aus dem materialistischen System scheidet er dagegen wieder aus, weil er in einer übermotivierten Selbstinszenierung des neureichen Bürgers die illegalen Kapitalsteigerungsmethoden seiner Firma ausplaudert. So avanciert er zwischenzeitlich zur tragischen Figur, führt er doch nach kurzem Aufstieg seinen eigenen (Rück-)Fall herbei. Den am Filmanfang von Ada initiieren Konflikt löst erst ihr Unfalltod mit dem Geliebten Bugatti, unabsichtlich forciert durch den in Rage geratenen, gehörnten Ehemann Mombelli. Mit ihrer Eliminierung kehrt der Protagonist wieder in die Ausgangslage des finanziell wenig attraktiven Lehrerdaseins zurück. Diese Entwicklung mutet allerdings nur insofern zwangsläufig an, als sich Mombelli durch seine Untauglichkeit für den Part des Unternehmers in seinem Selbstbild bestätigt sieht: Für den Verlauf der Handlung ist entscheidend, dass er weder die Rolle des Lehrers noch das bestehende Gesellschaftssystem jemals infrage stellt. Im Unterschied zum Klempner aus I giorni contati zieht er sich
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
zu keinem Zeitpunkt reflektierend auf die Position des distanzierten Beobachters zurück oder sucht nach anderen Sinnstiftungsmöglichkeiten. Die Tätigkeit des Unternehmers bietet sich nur als alternativer Weg innerhalb des Systems an, um gesellschaftliche Wertschätzung zu generieren. Er fühlt sich nach eigenen Worten sogar zur Rückkehr in den Schuldienst berufen, sodass die damit verbundene, prekäre Lebenssituation als unveränderliche Prämisse akzeptiert bleibt. Gegenüber Nanini tritt Mombelli vorher sogar als Verteidiger der bestehenden Ordnung auf: Dieser sieht seinerseits nur im Selbstmord die Möglichkeit, sich den gesellschaftskonstitutiven Kapitalzwängen zu entziehen. Mombellis organisch in den Erzählverlauf integrierte Imaginationen lassen dagegen seine innersten Wünsche offenbar werden, die diese selbst oktroyierte, unreflektierte Lehrerrolle überlagert. Insbesondere in der Sequenz des Fieberdeliriums: Setzt hier das von Zwängen bestimmte Bewusstsein aus, so tritt die Sehnsucht nach einem eutopischen, weil repressionsfreien Zustand hervor, bei dem die von anderen Interessen verdeckte Liebe zu seiner Ehefrau wieder möglich ist; Mombelli und Ada treten in dem Traum als paradiesisches Urpaar auf. Es ist damit der träumerische Nanini, der auf die vom sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt bedingte Degeneration des Menschen hinweist. Aufgrund seiner Unangepasstheit bleibt er die einzige positiv besetzte Figur des Films. Setzt sich Il maestro di Vigevano nun auf der Metaebene von der bürgerlichen Höhenkammkunst ab und thematisiert zugleich programmatisch die vom boom economico geschaffenen Verhältnisse, so ist Folgendes festzuhalten: Prinzipiell bietet die Komödie, hier in der Ausprägung der commedia all’italiana, die Möglichkeit, durch die genrespezifische Überzeichnung von Widersprüchen menschliche Charaktereigenschaften und soziale Mechanismen offenzulegen. Unter dem Gesichtspunkt des politischen Films lässt sich Il maestro di Vigevano so interpretieren, dass die commedia all’italiana durchaus als Alternative zu den modernistischen Modellen, die sich mit dem Neuen Kino ebenso wie Petris I giorni contati ausbilden, fungieren kann; gerade weil, wie sich in Peccato nel pomeriggio andeutet, formalstilistisch innovative Arbeiten Gefahr laufen, noch die Kunstansprüche des Bürgertums zu bedienen. Dabei stützt sich die commedia all’italiana grundsätzlich auf die gleichen Prämissen wie das Neue Kino, wie Grandes Befunde nahelegen. Er konstatiert mit Blick auf die Darstellungstraditionen Italiens, dass auch das Subgenre »la crisi della rappresentazione realistica« (Grande 2003: 49) akzeptiert. Dies äußert sich allerdings auf gänzlich andere Weise als beim Neuen Kino: Die commedia all’italiana betont Grande zufolge die den neuen Lebensverhältnissen inhärente Tragikomik und legt durch eine solch ›groteske‹ Entstellung des Realen die Pseudohaftigkeit von Moralvorstellungen und sozialen Rollenmustern offen (vgl. ebd.). Daraus gewinnt
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3.3 Il maestro di Vigevano (1963) und Peccato nel pomeriggio (1964)
die filmische Darstellung letztlich ihren antirealistischen Charakter. In Petris Il maestro di Vigevano wird dies durch ein innerfilmisches Gefälle sogar forciert, fallen doch beispielsweise die Außenszenen durch die betonte Wirklichkeitstreue des Drehs on location auf. Allerdings fungiert schon der lombardische Dialekt nicht mehr als Mittel der Authentisierung, sondern weist im Kontrast zu den Lehrern die mangelnde Bildung der Figuren proletarischer Herkunft aus. Dementsprechend lässt Il maestro di Vigevano wie alle Filme, die der commedia all’italiana zugerechnet werden, eben das Kontinuitätsverdikt des klassischen Erzählkinos unberührt. Im dramaturgischen Aufbau zeichnet sich sogar das klassische Fünf-Akt-Schema ab, während auch die Figuren zwar überzeichnet, aber weiterhin kohärent gestaltet sind. Die filmischen Gestaltungsmittel sind hierbei darauf beschränkt, die schauspielerische Inszenierung der Charaktere zu akzentuieren oder Beziehungsverhältnisse durch stilisierte Bildausschnitte und Soundeffekte zu verdeutlichen: wenn sich etwa die Autorität des Schuldirektors über starke Aufsichten (Abb. 11) und den Hall der tiefen Stimme vermittelt oder eine Totale von Bugattis überdimensional erscheinender Fabrik Mombellis Unterlegenheit herausstellt (Abb. 12). Dabei bleibt die Darstellung des Geschehens auch deswegen eindeutig, weil Mombelli als extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler die Ereignisse durch Voiceover erläutert und kommentiert. Die Kameraführung, die mise en scène und die Montage sowie die Tongestaltung bleiben demnach insgesamt konventionskonform. Selbst in der surrealistischen Umsetzung von Mombellis Imaginationen und dem Fiebertraum spielen die innovativ subversiven Mittel des Neuen Kinos keine Rolle. Zum Einsatz kommen stattdessen Verfahren, die aus der Zeit des Stummfilms stammen und im Kontext der 1960er Jahre anachronistisch wirken, so etwa die Zeitraffung oder slow motion. Während in Un tranquillo posto di campagna 1968 die Bewusstseinswelten ineinander übergehen, um den allmählichen Wahn der Hauptfigur filmisch evident zu machen, sind in Il maestro di Vigevano die Übergänge noch deutlich markiert: Mombelli schließt die Augen, woraufhin die Kamera in einer kontinuierlichen Bewegung in das imaginierte Geschehen schwenkt und orchestrale Musik im Crescendo den Atmo-Ton verdrängt. Auch weil durch das Neue Kino die Unkonventionalität der filmischen Gestaltungsweise an Relevanz gewinnt, wird die politische Dimension der commedia all’italiana von der zeitgenössischen Kritik ebenso wie der späteren filmgeschichtlichen Forschung kaum anerkannt: Unter dem Dach eines kommerziell erfolgreichen, industriell ausgebeuteten Subgenres bleibe dieses letztlich auch in seinem Gesellschaftsideal und den damit verknüpften Moralvorstellungen konformistisch. Solche Kritikpunkte, wie sie etwa De Vincenti formuliert, lassen sich kaum auf solche Beispiele wie Risis Una vita difficile (1961), Monicellis I compagni
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Abb. 11 und 12: Il maestro di Vigevano
(1963), aber auch I mostri und eben Il maestro di Vigevano übertragen. In Petris Film deutet der Traum vom Paradies dabei ja zumindest vage eine Lösungsmöglichkeit für das Dilemma der Hauptfigur an. Die komische Überzeichnung, die die Kritiker damals als Mittel der Verharmlosung bzw. Verlächerlichung abtun, lässt sich in der Rückschau als tradiertes und durchaus effizientes Mittel der Offenlegung auffassen. Aus filmgeschichtlicher Sicht kann die commedia all’italiana unter diesem Gesichtspunkt durchaus als stilbildend für verschiedene Ausprägungen des späteren cinema politico betrachtet werden, die sich einer Politik der Form verweigern: so etwa für die Filme Lina
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
Wertmüllers oder Ettore Scolas, die noch in einem engeren Zusammenhang mit diesem Subgenre der Komödie zu sehen sind, aber auch für die Regiearbeiten Marco Ferreris oder eben Elio Petris. Insbesondere diesem werden dann oftmals Vorbehalte entgegengebracht, mit denen sich schon die commedia all’italiana Anfang der 1960er Jahre konfrontiert sieht. Übernimmt in Il maestro di Vigevano mit Sordi einer der prominentesten Akteure der commedia all’italiana die Hauptrolle, so rechtfertigt noch der genrespezifische Rahmen sein überzeichnendes Schauspiel: Allerdings sieht es sich schon hier als maßgebliches Verdeutlichungsmittel einer antinaturalistischen, typisierenden Figurendarstellung funktionalisiert, die an der Situation des Einzelnen gesellschaftskonstitutive Zwänge einsichtig macht. Dabei scheint Il maestro di Vigevano gerade jene Wirkung zu verhindern, die Hickethier (2005) der Filmkomödie im Allgemeinen zuschreibt: nämlich dass »die Überzeichnung das Unangemessene vergrößert und vergröbert, damit wir uns lachend davon befreien können« (13). Was die Forschung später als charakteristische Eigenart der commedia all’italiana behandelt, scheint bei Petris Film einige Zeitgenossen noch zu irritieren: So verurteilt Valmarana in seiner Rezension jene Filmkritiker, die gerade bemängeln, dass Il maestro di Vigevano durch eine für Alberto Sordi eher untypische Rolle kein Lachen auslöst (vgl. Valmarana 1964: 60).
3.4
Schöne neue Unterhaltungswelt: Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
Auch La decima vittima haftet seit jeher der Makel des Kompromisses an, obwohl der Film heute neben Indagine Elio Petris international bekannteste Regiearbeit ist: Sein vierter Spielfilm wird üblicherweise jener kurzen Phase zugerechnet, in der sich der Regisseur an die Anforderungen der Kinoindustrie anpasst (vgl. Giusti 2012; Minuz 2015: 107 f.). Schon die italienische Filmkritik zeigt sich 1965/66 mit wenigen Ausnahmen enttäuscht vom Ergebnis, was sie einem übergriffigen Produzenten anlastet. So sieht etwa die Zeitschrift Cinema Nuovo den Film weniger von Petri als von Carlo Ponti geprägt (vgl. A. F. 1966: 57). Dessen Compagnia Cinematografica Champion zählt wie De Laurentiis damals zu den größten Produktionshäusern Italiens. Dabei zieht La decima vittima schon vor dem Produktionsbeginn große Aufmerksamkeit auf sich. 1962 nimmt die Filmzeitschrift Cinema Domani Petris Planungen zum Anlass, um unter mehreren Regisseuren und Produzenten eine Umfrage zur Science-Fiction durchzuführen: Da sich neben François Truffaut auch ein namhafter Filmemacher aus dem eigenen Land mit dem Genre ausein-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
andersetzt, scheint sich ein bemerkenswerter Trend bei der jüngeren Generation abzuzeichnen (vgl. Cinema Domani 1962). Doch wie Truffaut bei Fahrenheit 451 muss auch Petri seine Arbeit an La decima vittima zunächst verschieben (vgl. ebd.: 16; Giurato 1964: 8). Als sich die Produktionsvorbereitungen 1964/65 konkretisieren, staunen die Berichterstatter über die Dimensionen seines bislang größten Regieprojekts, das dezidiert international ausgerichtet ist: Die Hauptrollen werden mit den weltweit erfolgreichen Stars Ursula Andress und Marcello Mastroianni besetzt, als Drehorte sind neben New York zunächst die brasilianische Hauptstadt Brasilia und ein afrikanisches Land vorgesehen; die Filmmusik soll von den Jazzmusikern Thelonious Monk und Charles Mingus eingespielt werden. Zudem versucht Petri erfolglos, mit dem US-Amerikaner Nate Monaster einen englischsprachigen Drehbuchautor für die Filmbearbeitung von Robert Sheckleys Kurzgeschichte zu gewinnen. Es ist sogar von der größten italienischen Filmcrew außerhalb Cinecittàs die Rede (vgl. ebd.). In der cinephilen Filmkultur gilt das letztlich zustande gekommene Werk als einzigartige Synthese von Genrenarration und einem markanten visuellen Stil, der von der Pop Art ebenso wie der Op Art geprägt ist. Die Filmwissenschaft interessiert sich neben den vielfältigen intermedialen Referenzen zwar auch für die politische Dimension des Films, doch erfasst selbst Cardone in ihrer umfassenden Monografie die Funktionsweise von La decima vittima nur annähernd. Diese Regiearbeit von Petri bietet sich ebenfalls als ordnungskritisch dar, wobei hier die neuen populärkulturellen Massenmedien den wesentlichen Betrachtungsgegenstand bilden. Petris Regiearbeiten verweisen ohnehin stets auf die gesellschaftsbildenden Potenziale von medialen und künstlerischen Produkten, nun rücken diese also thematisch in den Vordergrund. La decima vittima lässt sich hierbei sogar als filmische Variation der Pop Art auffassen: Schließlich werden unterschiedlichste Medienformate zitiert und miteinander verknüpft. Petri gibt später an, dass er mit der Pop Art erstmals 1964 bei der Kunstbiennale von Venedig in Berührung gekommen war (vgl. Zanotto 1968).41 Auf Robert Rauschenberg, dem damaligen Gewinner des Großen Preises für Malerei, findet sich in La decima vittima mit der Figur eines deutschen Barons sogar eine konkrete Anspielung; nicht zufällig trägt dieser den gleichen Nachnamen. Bis Mitte der 1970er Jahre entstehen in Italien zahlreiche Filme, in denen sich deutliche Bezüge zur Pop Art und den neuen Populärmedien erkennen lassen (vgl. Della Casa / Viganò 2012). Sieht man von einigen Comicverfilmungen wie etwa Diabolik (1968), Satanik (1968) oder Baba Yaga (1973) ab, so zeigt sich dies vor allem im
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Zur Bedeutung der Pop Art bei der Biennale 1964 vgl. Fleck 2009: 144–160.
3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
Dekor, den Kostümen, der Farbgestaltung und der mise en scène. La decima vittima präsentiert sich demgegenüber als Kinospielfilm, der in seiner Gesamtanlage vom Vorbild der Pop Art bestimmt ist. In diesem Zusammenhang lässt sich Godards Pierrot le fou aus dem gleichen Jahr als weiteres einschlägiges Beispiel anführen. Wenig später entstehen etwa mit Tinto Brass’ Col cuore in gola (1967) und Nerosubianco (1969) in Italien weitere von der Pop Art inspirierte Regiearbeiten, die im Vergleich zu Petris Film sogar elaborierter erscheinen mögen. Viele Arbeiten der Pop Art funktionieren im Grunde selbst intermedial: Im Zuge ihrer Hinwendung zur neuen Warenwelt holen sie neben alltäglichen Konsumgütern auch populärkulturelle, industriell hergestellte Medienprodukte in die hohe Kunst hinein. Werke wie Roy Lichtensteins Comic-Gemälde machen diese nicht nur zum Gegenstand künstlerischer Darstellung, sondern richten vor allem die eigene Gestaltungsweise an den technisch basierten Verfahren aus, indem sie diese zitieren und zuspitzen. Gegenüber der bildenden Kunst eröffnet der Tonfilm als bewegtbildliches und auditives Medium weitere Bezugsmöglichkeiten. So lassen sich beispielsweise auch Handlungselemente populärer Filmgenres oder Fernsehwerbung imitieren, wie es auf eindrückliche Weise in La decima vittima geschieht. Während in Godards Pierrot le fou populärkulturelle, hochkünstlerische und filmdramaturgische Versatzstücke in einer enthie rarchisierten, collageartigen Struktur nebeneinanderstehen, integrieren sich solche Bestandteile in Petris Film noch in eine heterogen anmutende, aber (fast bis zum Schluss) kohärente Diegese. Für Kovács ergibt sich der moderne Charakter von La decima vittima aus dem parodistisch-reflexiven Gestus, mit dem der Film Motive und Strukturen des Thrillers zitiere (vgl. Kovács 2007: 116). Allerdings lässt er sich nicht auf solche interfilmischen Bezugnahmen reduzieren; Kovács ließe sich gar entgegenhalten, dass das italienische Kino in den 1960er Jahren zahlreiche solcher Filmparodien hervorbringt (vgl. Menarini 2008). La decima vittima stellt sein Programm nun durch ein auffälliges Dekorelement metareferenziell aus: In der Wohnung der männlichen Hauptfigur Marcello Poletti (Marcello Mastroianni) fokussiert die Kamera ein überdimensionales Einrichtungsobjekt, das Joe Tilsons Pop-Art-Gemälde Look! (1964) nachgebildet ist. Recht auffällig wird so darauf verwiesen, dass es in diesem Film um die Wahrnehmung geht. Nicht unwesentlich ist daher eine weitere Strömung der zeitgenössischen Kunst, auf die der Film Bezug nimmt: die Op Art, die sich durch optische Illusionen und Effekte mit visuellen Perzeptionsprozessen künstlerisch auseinandersetzt. Dementsprechend werden im Film durch Ferngläser, Kameras, Bildschirme und Spiegel immer wieder Vorgänge des Sehens in den Blick gerückt. In der kritischen Auseinandersetzung mit kommerziellen Unterhaltungsangeboten, die die
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
vorherrschende Ordnung der modernen Konsum- und Mediengesellschaft effizient zu stabilisieren scheinen, wird in La decima vittima somit der Wahrnehmungsaspekt prominent in den Mittelpunkt gestellt. Der Film zeigt auf, wie populäre Medien die Alltagswelt durchdringen und das nun allgegenwärtige Spektakel die Realität überformt. Das Filmprojekt Nudi per vivere, an dem sich Petri beteiligt, als sich die Arbeit an La decima vittima verzögert, beschäftigt sich nun zwar nicht mit den neuen Populärmedien. Allerdings nähert sich dieser Dokumentarfilm mit ausgeprägten fiktionalen Elementen ebenfalls dem Phänomen der Unterhaltung an, und zwar in einem lokal begrenzten Rahmen: Nudi per vivere präsentiert sich als Porträt der vielfältigen Pariser Vergnügungskultur. Hierbei stehen vor allem erotische und im weiteren Sinn amouröse Angebote im Fokus, die den internationalen Ruf der französischen Metropole als ›Stadt der Liebe‹ begründen; konkret geht es um solche, die durch Zurschaustellung bzw. Inszenierung ein lustvolles bis zerstreuendes Schauen ermöglichen: Mithin steht das Liebes-›Spektakel‹ im Mittelpunkt.
3.4.1 Ironisierung der Schaulust
Der von Lorenzo Pegoraro für P3 G2 Cinematografia produzierte Film findet in der Petri-Forschung ähnlich wie Peccato nel pomeriggio bislang kaum Beachtung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Regie aufgrund der Zusammenarbeit mit Giuliano Montaldo und Giulio Questi unter dem Akronym Elio Montesti firmiert. Nudi per vivere ähnelt nun tatsächlich einer Gruppe von Filmen, der die staatlichen Behörden die Produktion damals zurechnen: Das zuständige Ministerium verweigert in erster Instanz die Genehmigung zur öffentlichen Aufführung und spricht dem Film jeglichen künstlerischen oder wissenschaftlichen Wert ab, weil er wie die ›Sexy-Filme‹ zum Sittenverfall beitrage und nur die niederen Affekte der Zuschauer stimuliere (vgl. Cinecensura o. J. [1963]). Die Zuständigen zielen hierbei auf jene italienischen Dokumentarfilmproduktionen ab, die sich in dieser Zeit im Anschluss an Alessandro Blasettis Europa di notte (1959) den Vergnügungskulturen rund um den Globus widmen. Charakteristischerweise kommt in diesen Filmen erotischen Unterhaltungsformen größere Aufmerksamkeit zu. So bildet sich bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein umfangreiches Korpus an (pseudo-)dokumentarischen Filmen aus, die als mondo-sexy bezeichnet werden (vgl. Giuliani 2018: 436). Der Begriff lehnt sich an das mondo-Genre an, ausgeprägt von so einschlägigen Arbeiten wie Mondo cane von 1962 (vgl. Bruschini / Tentori 2013: 17).
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
In der Art und Weise, wie verschiedene Formen des Zurschaustellens und des Schauens filmisch in Szene gesetzt werden, entspricht Nudi per vivere durchaus dem mondo-sexy und dem mondo: Die heterogene Gestaltungsweise, die den Eindruck des Kaleidoskopischen verstärkt, bewegt sich in einem für diese beiden Strömungen charakteristischen Spannungsfeld zwischen suggerierter Nichtinszenierung und erkennbarer Fiktionalisierung. Tatsächlich wird wie im mondo und dem mondo-sexy in den meisten Sequenzen keine Authentisierung angestrebt, sondern vielmehr eine Verdichtung, die hier aber einer ironischen Haltung gegenüber den beiden Vorbildern Ausdruck gibt. So werden also zwar dokumentarfilmtypische Elemente wie Voiceover und Interviews verwendet, ebenso wie Techniken, die den jüngeren Dokumentarfilmbewegungen entlehnt sind: Handkamera, Zoom und Teleobjektiv, gelegentlich auch Direktton. Gleichwohl kommen auch Verfahren des Spielfilms zum Einsatz: wenn etwa in der Szene des Medizinstudenten, der davon erzählt, wie er im Quartier Latin auf die Suche nach willigen Frauen geht, das Voiceover im Zusammenspiel mit point-of-viewshots eine subjektive Wahrnehmungsposition markiert. Gelegentlich werden sogar Verfahren wie die Kontrastmontage verwendet, um die dargestellten Sachverhalte zu pointieren: beispielsweise in der Sequenz der Striptease-Tänzerin Marina, in der ihr verführerischer Tanz im Nachtclub von ihren alltäglichen Haushaltstätigkeiten konterkariert wird, mithin die erotische Bühnenpräsenz direkt mit der profanen Sphäre des Privaten zusammenstößt. Doch schon in der Anfangssequenz wird jene Schaulust bloßgestellt, die das mondo-sexy unter dem Vorwand der didaktischen Dokumentation bedient: Hier werden männliche Touristen aus verschiedenen Ländern interviewt, die hoffen, in der europäischen ›Hauptstadt der Sünde‹ deren wahre ›Sehenswürdigkeiten‹ besichtigen zu können. Dass es hierbei primär um das Spektakel in seinen vielfältigen Manifestationen und nicht einfach um sexuelle Befriedigung geht, macht gerade die Sequenz eines Bordells augenscheinlich: Denn durch die von den Freiern bevorzugten Rollenspiele wird selbst die Prostitution »in qualche modo teatro«. Nudi per vivere führt eine große Bandbreite solch primärmedialer Inszenierungs- und Showformen vor: Cancan, Varieté, moderne und exotische Tänze, Striptease, Marionettenspiel, Travestieschauen, Musikkonzerte, Chansonnier-Abende, Kunstperformances bis hin zum simplen Voyeurismus. Neben eher harmlosen Unterhaltungsmöglichkeiten wartet Paris dabei unter anderem sowohl mit solchen Formen auf, die ein libidinöses Schaubedürfnis befriedigen, als auch mit Darbietungen, die Triebhaftigkeit intellektualistisch reflektieren. Der Eindruck von Totalität wird in dem episodenhaft strukturierten Film durch die Betonung von Gegensätzen hergestellt: Die Vergnügungsmöglichkeiten reicher Schaulustiger werden von denen der armen kontrastiert; zu sehen
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
sind sowohl öffentlich zugängliche Lokalitäten als auch privat und sogar heimlich stattfindende Vorstellungen; die einfache Lustbefriedigung der rive droite (Place Pigalle) wird dezidiert vom künstlerisch-intellektuellen Anspruch der rive gauche (Place Contrescarpe) abgegrenzt. Zudem kehrt historisches Filmmaterial von Cancan-Shows und Varietés aus den 1920er Jahren die Unterschiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit hervor. Auf diese Weise kommt eine profunde Darstellung von Paris als Welthauptstadt des amourösen Vergnügens zustande, die die Vielfalt ebenso wie historische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt. Ähnlich wie im 1965 erschienenen Spielfilm von Petri interessieren nämlich auch die Ursachen für die Nutzung der entsprechenden Angebote ebenso wie die Lebensumstände derjenigen, deren Existenz davon abhängig ist – auf Letzteres hebt ja gerade der Titel des Films ab. So sind Darstellertätigkeiten nicht nur an persönliche Interessen oder Vorlieben, sondern auch an den Lebensunterhalt oder naive Aufstiegshoffnungen geknüpft. Ebenso befriedigen die verschiedenen Vergnügungsmöglichkeiten nicht nur die Schaulust der Touristen, sondern lassen auch das Ausleben psychischer Komplexe sowie das Verdrängen alltäglicher Sorgen und Ängste zu, die Paris laut Voiceover wie jede andere Großstadt auf der Welt befördert. Hier wird die lediglich narkotische Wirkung des Schauvergnügens betont, schließlich ende mit dem Morgengrauen auch die ›Illusion‹. Indem der Film in lockerem, ironischem Ton verschiedenste Eindrücke anei nanderreiht und historisch vertieft, wird zwar ein vielseitiges wie erheiterndes Bild der Pariser Unterhaltungskultur geboten. Das vermeintlich harmlose Porträt entbehrt aber eben keineswegs der Kritik an einer modernen, entfremdenden Gesellschaft.
3.4.2 Dystopie der Unterhaltungs- als Mediengesellschaft
In La decima vittima werden solche Verhältnisse, wie sie in Nudi per vivere zu sehen sind, mit den Mitteln der Fiktion zugespitzt. Das Signum der dargestellten Welt bildet die Große Jagd, ein Spiel, das eine doppelte Funktion erfüllt: Als politisch legitimierter Rahmen erlaubt es das Töten anderer Menschen, um die zivilisationsbedingte Aggressivität zu kanalisieren; zugleich bedient es als Me dienereignis das Unterhaltungsbedürfnis eines apathischen Massenpublikums, wodurch es als Werbeplattform für die profitorientierte Wirtschaft attraktiv wird. Neben dem Erotischen kann hier also nur noch eine echte, sprich nicht fingierte, live dargebotene und möglichst spektakulär inszenierte Ermordung dem Wunsch nach Unterhaltung Genüge tun.
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
Der formale Rahmen, der diese Zuspitzungen erlaubt, lässt sich nach heutigen filmwissenschaftlichen Kategorien nicht mehr als Science-Fiction im engeren Sinn klassifizieren. Dass La decima vittima dennoch diesem Genre zugesprochen wird, hängt wesentlich mit der zeitgenössischen Berichterstattung zusammen. In verschiedenen Interviews verwendet Petri den Begriff selbst, wobei er seinen Film explizit in die anglophone Literaturtradition der Science-Fiction stellt. Schon seit Ende der 1950er Jahre entsteht allerdings auch in Italien eine Reihe von Filmen, die dem Genre zugerechnet werden. Spätestens 1964 wird die Science-Fiction durch Ecos Apocalittici e integrati zudem intellektuell aufgewertet (vgl. Chayt 2015: 322; Eco 1964: 373–376 [›Sulla fantascienza‹]). Wie oben ausgeführt, knüpft Petri seinerseits das Extrapolationsmoment der Science-Fiction dezidiert an eine Zukunftsvision: Er versteht den Entwurf der kommenden Welt, den La decima vittima bietet, dementsprechend als »satira del mondo attuale, una trasposizione allegorica di aspirazioni e inquietudine dell’oggi dove verranno fustigati certi costumi in ferocia dei rapporti individuali e collettivi, l’arrivismo sociale dei tempi moderni. Non sarà un film d’evasione ma un film che affronterà problemi reali« (Giurato 1964). Um sicherzustellen, dass das Publikum die Bezüge zu seiner Gegenwart erkennt, dürfe die Zukunft in La decima vittima keine allzu entfernte sein: Der Regisseur führt daher mehrmals explizit das Jahr 2000 an, wohingegen im Film keine zeitliche Verortung vorgenommen wird (vgl. ebd.; Irene 1965; o. A. 1965; Kahan 1965: 37). Hierbei grenzt sich Petri auch vom Trend des Weltraumfilms ab: »[N]on è affatto un film di fantascienza nell’interpretazione che viene data oggi a questa parola: astronavi, stazioni spaziali, marziani« (S. A. 1965). Solche Filme bietet nicht zuletzt das zeitgenössische Kino Italiens auf, so etwa Space Men (1960), Il pianeta degli uomini spenti (1961) oder Terrore nello spazio (1965). Simon Spiegel fasst das Zukunftssetting dagegen nicht als zwingendes Merkmal des Genres: Ausgehend von Darko Suvin definiert er die Science-Fiction stattdessen durch ein Novum, das in der außerfilmischen Jetztzeit noch als un möglich erachtet wird, für den spezifischen Weltentwurf des jeweiligen Werks aber konstitutiv und prägend ist (vgl. Spiegel 2007: 42; 2013: 247). Laut Spiegel versuchen die entsprechenden Filme charakteristischerweise, dieses Element zu naturalisieren, also seine Existenz in der vorgeführten Welt plausibel zu machen (vgl. Spiegel 2007: 209–216; 2013: 254–257). Daher entwickle die Science-Fiction eine technizistische oder szientistische Ästhetik, mit der sie im Unterschied zu fantastischen Genres die Erklärbarkeit des Novums suggeriere (vgl. Spiegel 2007: 47–51; 2013: 248). La decima vittima wartet in diesem Sinn allenfalls mit ›Mininova‹ (vgl. Spiegel 2007: 42, Anm. 26) auf: so etwa biotechnologischen Neuerungen, beispiels-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
weise in Form der künstlichen Embryonenerzeugung, oder technischen Gadgets wie dem Zentralcomputer in Genf, einem schnurlosen Ericofon und der Bezahlung per Handabdruck. Diese sind allerdings Bestandteil einer Welt, die in ihrer Künstlichkeit stets präsent bleibt. Die Konstruktion ist als solche erkennbar, weil der Look der (vermeintlichen) Zukunft gerade keine allzu große Alterität suggeriert: Wie schon Calefato und De Sanctis feststellen, greift der Film innovative, modernistische Entwicklungen der frühen 1960er Jahre aus den Bereichen der bildenden Kunst, des Designs, der Mode und der Architektur auf. Die Kostüme ähneln etwa den Space-Age-Kollektionen von André Courrèges, während wie in zahlreichen anderen italienischen Filmen das rationalistische EUR-Viertel in Rom als futuristische Kulisse fungiert (vgl. Calefato 2002: 293–295; De Sanctis 2012: 51; 2015: 75–81). Die Artifizialität des Settings tritt im Kontrast zu den ansonsten recht wenig präparierten Originalschauplätzen der italienischen Hauptstadt und New Yorks hervor. Ein zeitgenössischer Rezensent sieht dementsprechend seine Erwartungen einer glaubhaften Zukunftsvision enttäuscht, weil der Film allzu klar aktuelle Verhältnisse darstelle (vgl. Benedetti 1966). Petri gibt später an, dass dies dem stark reduzierten Produktionsbudget geschuldet sei (vgl. Ballérini et al. 1974: 51). Die entscheidende Neuerung dieser Welt bildet die Legalisierung des Tötens durch das Programm der Großen Jagd: Die Teilnehmer müssen insgesamt zehn Runden in wechselnden Rollen als Jäger und Gejagter überstehen, um als ›Dekaton‹ Reichtum und Ehren zu erhalten. Da es sich nach Simon Spiegel hierbei nicht um ein wunderbares Element im Sinne Tzvetan Todorovs (2013 [1970]) handelt, ist prinzipiell kein szientistischer Darstellungsstil notwendig. Es bietet sich daher an, La decima vittima nicht als Science-Fiction, sondern als Dystopie zu behandeln: Ausgehend von den Verhältnissen der Gegenwart präsentiert der Film ein alternatives Szenario, das sich der Begriffsübersetzung entsprechend als ›schlechter‹ Ort darbietet (vgl. Chilese / Preußer 2013: 14). Auch in La decima vittima sind es die vermeintlich utopischen Aspekte der dargestellten Welt, die ihren dystopischen Charakter ausmachen: »Dystopia […] is a utopia that has gone wrong, or a utopia that functions only for a particular segment of society« (Gordin et al. 2010: 1).42 So entwirft der Film einen Zustand der materiellen Mangellosigkeit, wobei selbst der notorisch zahlungsunfähige Marcello (Marcello Mastroianni) sich noch als ›einigermaßen‹ reich bezeichnet. Zudem 42
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Chilese und Preußer präzisieren dies, indem sie auf einen historischen Paradigmenwechsel in der Utopietradition hinweisen: Die Eigenschaften von Sozialordnungen, die neuzeitliche Utopien entwerfen, werden ab dem 19. Jahrhundert vermehrt zum Gegenstand von Schreckensbildern; so etwa Egalitarismus und Antiindividualismus (vgl. Chilese / Preußer 2013: 11–14).
3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
verhindert die global organisierte Große Jagd Weltkriege, durch die sich die Menschheit vollkommen vernichten würde. Petri deklariert seinerseits die legalisierten Morde als »metaphors designed to make the point that everyday civilized life has almost reached the intensity of physical violence« (Kahan 1965: 37). Tatsächlich gibt das Spiel einer Ideologie Ausdruck, die Profit und Reputation den Primat vor dem Leben einräumt. Das dezidiert entmenschlichte Menschenbild fällt nun durch eine ausgeprägte Emotionslosigkeit in den zwischenindividuellen Beziehungen auf. In diesem Sinn lässt sich Marcellos Trainer (Salvo Randone) als Hinweis auf eine fortgeschrittene Dehumanisierung verstehen, erscheint er mit seinen diversen Prothesen doch bereits als Proto-Cyborg; Marcello selbst empfindet bezeichnenderweise nur zu seinem Haustierroboter Tommaso Zuneigung. Die emotionale Abstumpfung des Menschen manifestiert sich dementsprechend in den jeweiligen Liebesmodellen, die über die beiden Hauptfiguren, den Italiener Marcello und die Amerikanerin Caroline (Ursula Andress), thematisiert werden: Die USA repräsentieren hierbei eine Hypermoderne, in der nur noch die physische, mithin keine emotionale Liebe mehr vorhanden ist. Mittlerweile wird selbst der Akt der Fortpflanzung standardmäßig durch die künstliche Zeugung im Labor ersetzt. Demgegenüber hält Italien ein konservatives Konzept aufrecht, das der Liebe in den überkommenen Formen der kirchlichen Ehe und der patriarchalischen Familie nur noch institutionellen Wert zuweist. In der so beschaffenen Welt geht Unterhaltung nicht mehr in einer Kompensationsfunktion auf, sondern bildet eine konstitutive Komplementärerscheinung menschlicher Aggression: Medien, Künste und sonstige Angebote bieten den völlig empathielosen Individuen bloß oberflächliche emotionale Stimulationen; das Schauen generiert hier nur noch pseudohafte Affekte. Die Produkte einer US-amerikanisch geprägten Massenkultur übernehmen auch die Rolle der hohen, Kontemplation erfordernden Kunst: insbesondere der Comic, das einzige überlebende Printmedium, das als Gemälde im Stile Roy Lichtensteins die Wände ziert und den Status von sammlungswürdigen ›Klassikern‹ erlangt hat, so etwa The Phantom, Flash Gordon oder Mandrake the Magician. Gleiches gilt für die im Dekor integrierten Kunstwerke: In Verbindung bringen lassen sich diese unter anderem mit Jasper Johns’ Target (1961), George Segals Gipsfiguren, Claes Oldenburgs Nachbildungen von Alltagsobjekten oder Dadamainos Oggetto ottico dinamico no. 1 (1963), Edoardo Landis Strutturazione ottogonale (1962/63, 1964), Alberto Biasis Senza titolo (1964) oder Bridget Rileys Movement in Squares (1961).43 Sie tragen nicht nur zur Oberflächenästhetik des Films bei und fungieren als 43
Auf einige dieser Referenzen weisen bereits Cardone (2005: 53–65) und De Sanctis (2015: 76–81) hin.
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
metafilmische Referenzen, sondern dienen auch als Mittel zur soziologischen Charakterisierung der Figuren. Wie in anderen Filmen von Elio Petri weisen solche Einrichtungsgegenstände ihre jeweiligen Besitzer aus. Hier hat sich das konsumbedürftige Bürgertum also bereits jene Stilrichtungen vereinnahmt, die in der Entstehungszeit des Films die bildende Kunst revolutionieren. Insgesamt führt La decima vittima ähnlich wie Truffauts Fahrenheit 451 eine (fast) schrift- bzw. literaturlose Welt vor, die vom Visuellen geprägt ist. Angebote für emotionale Ersatzerfahrungen bieten insbesondere die Große Jagd und der Sonnenuntergangskult. Das Spiel bietet durch eine übersteigernde, nahezu hypnotisierende Inszenierung des Todes Ergötzung, wobei schon am Filmanfang der New Yorker ›Masoch Club‹ plakativ auf die pathologische Dimension eines solchen Lustgewinns durch spektakularisierte Gewalt verweist. Während die Große Jagd eng mit dem Fernsehen als neuem Leitmedium verbunden ist, fungiert der Ritus der allabendlichen Sonnenanbetung als satirische Metapher eines medialen Dispositivs, das in der dargestellten Welt selbst absent ist: das Kino. Charakteristischerweise stellt sich die Veranstaltung wie die anderen Medien und Unterhaltungsformen als kommerziell heraus, schließlich dient sie Marcello, der dort als Hohepriester auftritt, als Einnahmequelle. Durch den Ritus forciert er nun die Einfühlung der Teilnehmer in das Spektakel der untergehenden Sonne, um sie von ihren alltäglichen Ängsten zu befreien und im Sinne Aristoteles’ psychisch zu reinigen. Die Zeremonie zeigt auf, dass eine solche Wirkung letztlich eben nur das Ergebnis einer eindrücklichen Inszenierung ist: In seiner Priesterrolle wird Marcello selbst zum Schauspieler, der sich künstlichen Mitteln bedient, um den Eindruck von Ergriffenheit zu erzeugen und dadurch wiederum seine Jünger zur Rührung anzuregen. Über das als kitschig markierte Motiv des Sonnenuntergangs wird hierbei eine Korrelation zu Hollywood hergestellt (»nostri fratelli della California«). Zugleich verweist Marcello, der in Rom am Lungotevere Fellini lebt, über Mastroiannis Starpersona und den Veranstaltungsort der Anbetung, den Strand von Fiumicino, auf die Schlussszene von La dolce vita. Auf diese Weise rückt schließlich einer der zentralen Vertreter des italienischen Autorenkinos in die Nähe des US-amerikanischen Evasionskinos.44 Um die Emotionsproblematik narrativ zu entfalten, werden in La decima vittima nun gerade Standardsituationen und Motive eines solchen Kinos der inneren Reinigung ironisch zitiert: Hierdurch verbindet sich die Analyse oberflächlicher Affekte mit 44
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Tullio Kezich führt in seiner Fellini-Biografie diese Anspielung auf Ennio Flaiano zurück, der am Drehbuch zu La decima vittima beteiligt war und hierdurch den aufkommenden Kult um Fellini kritisieren wollte (vgl. Kezich 1989: 511 f.).
3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
der Reflexion einer oberflächlichen Ästhetik, wie sie die modernen Unterhaltungsangebote charakteristischerweise ausbilden.
3.4.3 Intermedialität und Medienreflexion
Hierbei fügen sich nun heterogene Versatzstücke des Genre- ebenso wie des Autorenkinos in einen (noch) logischen Erzählzusammenhang ein. Tragend ist allerdings nicht der Bezug zu der auch in Italien äußerst populären spy story, wie Minuz (2015: 107–110) nahelegt.45 Im Rahmen des dystopischen Weltentwurfs kristallisiert sich stattdessen eine eigentümliche Kombination aus Peplum und Melodrama heraus: Wenn die Große Jagd wie ein moderner Gladiatorenkampf funktioniert und als solcher von Carolines Fernsehteam inszeniert werden soll, dann nimmt der Film hier deutlich auf die monumentalen Antikenfilme aus Italien und Hollywood Bezug. Ein Mitarbeiter macht dies explizit: »Roma antica ha sempre funzionato sul mercato americano.« Er spielt damit auf so kostspielige und publikumswirksame Produktionen wie Ben Hur (1959), Spartacus (1960) oder Cleopatra (1963) an. Die durch die Große Jagd gerechtfertigten Actionszenen mit modernen Schusswaffen greifen dagegen Handlungselemente und audiovisuelle Muster auf, die sowohl für den zeitgenössischen Agentenfilm wie James Bond, aber auch den Western kennzeichnend sind; in der Szene, in der Caroline und Marcello in einen Schusswechsel mit seiner geschiedenen Frau Olga und seiner Ex-Freundin Lidia geraten, wird dies persiflierend überspitzt. Die für Petris Filme ungewöhnliche Konstellation zweier Hauptfiguren deutet von Beginn an ihre Zusammenführung als eigentliches Telos der Handlung an. Die Figuren selbst präsentieren sich als Medientypen, die als solche ironisch gebrochen werden.46 Als Caroline aus dem Meer steigt, wird der Verweis auf Ursula Andress’ Image des Bond-Girls, ausgeprägt durch Dr. No (1962), augenscheinlich. Sie tritt dementsprechend als attraktive und zugleich emanzipierte Frau auf, die aufgrund ihrer völligen Gefühlskälte als ideale Jägerin erscheint; auch sexuell erweist sie sich keineswegs als unreif, wie Cardone (2005: 39) behauptet, schließlich weiß sie ihre physischen Reize bei Marcello einzusetzen. Durch 45 46
Zu den italienischen Agenten- bzw. Spionagefilmen, die sich an dem Erfolgsmodell von James Bond orientieren, vgl. Magni 2010. Eder versteht unter Medientypen mentale Prototypen, die durch Medien, insbesondere den fiktionalen Film, im kulturellen Gedächtnis verankert werden. Solche Schemata können in die Gestaltung von Figuren in Spielfilmen einfließen und von den Zuschauern in der Wahrnehmung der Personen auf der Leinwand aktiviert werden (vgl. Eder 2008: 375–377).
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
die Entdeckung der romantischen Liebe ordnet sie sich schlussendlich doch in das Modell der traditionellen Ehe ein. Marcello referiert nicht zuletzt über die Personalunion des Schauspielers auf die Protagonisten von Fellini und Antonioni: Seine indifferente Haltung, die Caroline und ihr Team anfangs irritiert, entspringt allerdings keiner Sinnkrise, sondern seiner finanziellen Lage, die die Organisation effektiver Schutzmaßnahmen nicht zulässt. Der von den benannten Filmemachern etablierte Typus des in sich gekehrten Bourgeois unterläuft seinerseits das kulturelle Stereotyp des vor Männlichkeit strotzenden Italieners, den Caroline Marcello entgegenbringt: Wie aber der Protagonist selbst feststellt, »non c’è un comportamento sessuale ne un’uomo«. Die aufkeimende Liebesbeziehung der Hauptfiguren wird den Genrekonventionen des Melodramas entsprechend von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erschwert (vgl. Weber 2013: 100 f.). Konkret sind es die Große Jagd und ihre werbliche Fernsehinszenierung, die die Zusammenführung verzögern. Das undurchsichtige Verhalten der sich gegenseitig belauernden Protagonisten, das die hadernden Figuren des italienischen Autorenkinos parodiert, gründet maßgeblich auf ihren Gewinninteressen: Der stets bankrotte Marcello versucht durch die Prämien seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, während Caroline ihre Kapitalerträge durch den Werbevertrag mit der Tea Ming Company zusätzlich zu steigern beabsichtigt. Die Werbung wird aufgrund der mit ihr verknüpften Profit- und Spektakularisierungsabsichten schließlich zum eigentlichen Movens. Das Katz-und-Maus-Spiel entsteht ja erst dadurch, dass Marcellos Ermordung aus inszenatorischen Gründen vor der beeindruckenden Kulisse des römischen Venustempels stattfinden soll. Solche Bezugnahmen sind für die kritische Darstellung der zeitgenössischen Unterhaltungs- und Mediengesellschaft durchaus funktional. Zugleich tragen die Zitate einen betont ironischen Gestus zur Schau, der sich spätestens im mehrfach hinausgezögerten Happy End überdeutlich zu erkennen gibt: Nach Marcellos Erschießung, der darauffolgenden Ermordung von Caroline und der Flucht der beiden wird dieses Handlungselement mit der Massentrauung im Flugzeug schließlich doch noch, aber auf kausal kaum mehr nachvollziehbare Weise umgesetzt. Für den britischen Monthly Film Bulletin wird der Film dadurch zu einer »unnecessarily knockabout farce« (P. J.S. 1968). Dabei kommt schon zuvor kaum Spannung auf, obwohl es bei der Großen Jagd ja um Leben und Tod geht. Stattdessen erhält La decima vittima stets eine entspannte Atmosphäre aufrecht, die das jazzige Titelstück Spiral Waltz mit dem Vokalpart der italienischen Popsängerin Mina forciert. Das interfilmische Spiel mit Erzählmustern legt nun gerade offen, wie im kommerziellen Kino durch die Standardisierung von Erzählstrukturen Erwartungshaltungen ausgeprägt werden, die mit dem Wunsch nach Ein-
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
fühlung und kathartischer Befreiung verbunden sind – so zumindest in der Logik des Films. Die Pistole des Priesters, die in der letzten Einstellung statt einer tödlichen Kugel Blumen ›schießt‹, unterstreicht diesen ›Angriff‹ auf die Schemata und Konventionen des Gegenwartskinos: Die Waffe wird mit ihrem ungewöhnlich vergrößerten Lauf zur Metapher der Filmkamera und verweist so auf das metafilmische Programm von La decima vittima. Es ist jedoch das Fernsehen, das die vorgeführte Welt und eben auch den Handlungsverlauf maßgeblich bestimmt. Die zahlreichen televisuellen Aufzeichnungs- und Empfangsgeräte geben eine Vorstellung davon, wie mit dem Fernsehen ein bislang ungekanntes Maß medialer Wahrnehmbarkeit entsteht. Auf der einen Seite werden neue Bereiche erschlossen: Die Überwachung von Marcello deutet an, wie das Medium als bilderproduzierende Instanz nun in die bislang unzugängliche Sphäre des Privaten eindringt. In La decima vittima dienen diese Techniken der Sichtbarmachung jedoch nur dazu, Marcello zu kon trollieren, der sich dem seinerseits aber wiederholt entziehen kann. Von einem Überwachungsdispositiv, wie es dann in Indagine vorgeführt wird, kann daher (wie etwa bei Cardone 2005: 76 f.) noch nicht die Rede sein. Auf der anderen Seite kann das Fernsehen solche Bilder im Unterschied zum Kino auch in den privaten Raum transportieren. So macht beispielsweise die Montage das Prinzip der Fernsehübertragung evident, als Marcellos Interview nach seinem sechsten erfolgreichen Mord über raumzeitliche Grenzen hinweg auf den Bildschirm transferiert wird: Zeigt der Film zunächst Marcellos Befragung durch die Journalisten, so ist nach dem direkten Umschnitt der vor dem Fernsehgerät liegende Protagonist selbst zu sehen. Dieser verfolgt hier das von ihm zuvor gegebene Interview und wird dadurch zu seinem eigenen Zuschauer. Es ist jedoch die Werbung, die Petris fünfter Spielfilm als »konstitutive Bedingung des Fernsehens« (Gotto 2014: 164) in den Vordergrund rückt. Bei Marcellos Ermordung fungiert das Format Carosello, das der Protagonist sogar ausdrücklich benennt, als Referenzhorizont der geplanten Inszenierung: Diese Werbesendung, die zwischen 1957 und 1977 täglich ausgestrahlt wird, ist die erste und lange Zeit wichtigste ihrer Art im italienischen Fernsehen. Mag laut Gotto der Kinofilm in der reflexiven Darstellung des Konkurrenzmediums generell »darauf bedacht [sein], Werbung als etwas sich Äußeres zu markieren« (ebd.: 163 f.), so ist den beiden Medien in La decima vittima zumindest die charakteristische Verbindung von Unterhaltung und Kommerzialität gemein. Allerdings wird bei der Fernsehwerbung die Profitbezogenheit durch die Einblendung bzw. Benennung beworbener Produkte explizit, so auch bei der TV-Inszenierung von Marcellos Erschießung, die von der benannten Teeimportfirma aus San Francisco gesponsert wird. Die Sequenz der Hinrichtung vor dem Venustempel akzentu-
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iert hierbei auch den Live-Charakter des Mediums, indem sie stellenweise in den Modus der Fernsehübertragung wechselt: Marcello wendet sich hier sogar direkt in die Kamera, die so die Position des Aufzeichnungsapparats im Film übernimmt (Abb. 13). Hier zeigt sich beispielhaft, wie in La decima vittima nach dem Vorbild der Pop Art »formale, strukturelle Homologien zwischen Artefakten unterschiedlicher medialer Provenienz« (Schröter 1998: 140) hergestellt werden. Neben den Bezugnahmen zum Fernsehen bzw. der Fernsehwerbung zeichnet sich auch in den Referenzen zum Comic ein solch »gerichtete[r] Transfer[] ästhetischer Prinzipien« (ebd.: 142) ab. Hierbei kommt nun der von Böhn beschriebene Umstand zum Tragen, dass solche intermedialen Formzitate »Präsentationsweisen ihrer praktischen Folgen für den Rezipienten [entheben] und […] diese selbst zum Gegenstand« (Böhn 2003: 9) machen. Darauf machen im Sinne von Ruchatz und Kirchmann (2014: 25–28) innerfilmische Markierungen aufmerksam: so etwa die ausgiebig vorgeführten Produktions- und Empfangsgerätschaften des Fernsehteams (Abb. 13–14), die dementsprechend anzeigen, dass den filmisch simulierten Fernsehmodi eine medienreflexive Dimension inhärent ist. La decima vittima setzt sich durch Formzitate der benannten Medien, die ja jeweils konstitutive Bestandteile der dargestellten Welt bilden, demnach auch auf ästhetischer Ebene auseinander. Die Werke der Pop und der Op Art im Film lassen sich wiederum als Hinweise auf die Gesamtanlage des Films lesen: Indem Petris fünfte Spielfilmregie neben dramaturgischen Komponenten aus dem Genre- und Autorenkino auch fremdmediale Formen zitiert, analysiert sie die von diesen geschaffenen Wahrnehmungsbedingungen. Die Bezüge zum Comic werden maßgeblich über die mise en scène, die Farbgebung und die Beleuchtung organisiert. Vor allem die betont artifiziellen Kulissen, Dekors und Kostüme bilden bunte, oft monochrome und scharf voneinander abgesetzte Farbflächen. Solche Elemente werden wiederholt prominent in Szene gesetzt: durch Frontaleinstellungen oder extreme Kameraperspektiven, eine starke Verringerung der Bildtiefe und einfarbige Hintergrundflachen. Die so entstehenden Bildausschnitte prägen tatsächlich eine am Comic-Panel orientierte Struktur aus; beispielhaft können hier die Ansicht von Rauschenberg vor dem Spiegel, die Schnittfolge von Caroline, Olga und Lidia im Haus von Marcellos Ex-Frau oder die Szenen in der gelben Strandkabine (Abb. 15–16) angeführt werden. Die Referenzen mögen in La decima vittima auf den ersten Blick nicht so plakativ ausfallen wie beispielsweise in Brass’ Col cuore in gola und Nerosu bianco: Dort schaffen Splitscreen, einmontierte Onomatopoetika und Panels einen vom Comic geprägten visuellen Stil. Bei La decima vittima bleibt auf der
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965)
Bildebene dagegen das diegetische Geschehen stets gegenwärtig. Ein starrer Kader, die Reduktion der Bewegung im On und ggf. ein auffälliger Kamerawinkel kehren dann die Bildkomposition hervor. Auch die an der Op und Pop Art orientierten Gemälde, die ja Bestandteil des Kulissendekors sind, werden auf diese Weise ins Bild gesetzt: So fügt sich etwa Marcellos Anwalt in die ComicBilder hinter sich ein (Abb. 17), während Caroline und Marcello im Jagdclub vor einer Wand positioniert werden, deren Gestaltung die typischen Musterungen der Op-Art-Malerei aufgreift. Nach Kirchmann und Ruchatz geht die Medienreflexion im Film nun charakteristischerweise damit einher, dass der (Spiel-)Film als reflektierendes Medium auch Annahmen über sein eigenes Wesen an- bzw. sich infrage stellt (vgl. ebd.: 9–26). Im Unterschied zu I giorni contati sind es hier also intermediale Formzitate, die die ästhetischen Gestaltungsmittel des Films als solche exponieren. Die Bezugnahmen lassen die formalen Parameter der filmischen Darstellung dadurch greifbar werden, dass sie auf visueller Ebene stark ausgeprägte Kontraste generieren: Die Farbgestaltung bewegt sich beispielsweise zwischen den trüben Farben der Außenschauplätze und der reduzierten Palette der reinen, gesättigten und zum Teil überaus bunten Flächen, die die modernistischen Kulissen, Requisiten und Kostüme bilden. Unterstützt wird dies durch den spezifischen Umgang mit Licht: Natürliche Quellen durchscheinen etwa transparente Farbflächen und verstärken die Leuchtkraft der Farbobjekte; zusätzlich sind in das Dekor zahlreiche bunte Leuchtelemente integriert. Dabei wird das Ausdrucksmittel Farbe auch dramaturgisch funktionalisiert, wie es sich etwa bei dem leitmotivischen Gelb oder Carolines Kleidung zeigt: Tritt sie als aggressive Jägerin auf, so setzt sie sich durch ein magentafarbenes Kostüm vom Schwarz-Weiß der Masse ab. Ein beiges Kleid deutet dann voraus, dass sie mit der aufkeimenden Liebe zu ihrem Opfer diese Rolle schließlich ablegt. Da der Farbfilm Mitte der 1960er Jahre im italienischen Kino zur Regel wird, scheint Farbe hier nicht zufällig zum Reflexionsgegenstand zu werden. La decima vittima ist neben Antonionis Il deserto rosso (1964) und Fellinis Giulietta degli spiriti (1965) eines der eindrücklichsten Beispiele für den Umgang mit den (verhältnismäßig) neuen Ausdrucksmöglichkeiten: Auch Petris Film mutet wie ein visuelles Experiment an, das die sinnliche Wirkung und die gestalterischen Potenziale von Farbe zu ergründen versucht. Die mise en scène lenkt den Fokus auf die filmische Organisation von Raumstrukturen. Besonders die am Comic orientierten Ausschnitte lassen ja keine Tiefe zu, während diese Bilddimension in manchen Einstellungen geradezu überbetont wird: Wiederholt werden die geometrisch-rhythmischen Muster der modernistischen Kulissenarchitektur durch Frontalsicht und Tiefenschärfe her-
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965) Abb. 13–15: La decima vittima
vorgekehrt. Die hierbei entstehenden Ansichten erinnern in ihren gleichförmigen Staffelungen an die Op Art, so etwa in der Relax Service Station (Abb. 18) oder der Trainingshalle. Indem die mise en scène unterschiedlichste Kompositionsmöglichkeiten durchdekliniert, legt sie offen, wie eben erst die artifiziellen Mittel des Films auf der zweidimensionalen Kinoleinwand die Illusion eines dreidimensionalen Raums entstehen lassen.
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3.4 Nudi per vivere (1964) und La decima vittima (1965) Abb. 16–18: La decima vittima
Schließlich verweist der Film auch dadurch auf sich selbst, dass er die Kamera sichtbar werden lässt. So verselbstständigt sich deren Blick in verschiedenen Szenen vom Geschehen um die Protagonisten und konstituiert eine subjektive Wahrnehmungsperspektive, die keiner innerdiegetischen Figur zugeordnet werden kann (vgl. Cardone 2005: 76; Dottorini 2012: 161–164). In den Aufzeichnungsapparaten von Carolines Fernsehteam spiegelt sich die Kamera gewissermaßen
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
selbst, indem sie ihre innerfilmischen Gegenstücke auffällig ins Bild rückt (Abb. 14). Mit solchen selbstreflexiven Gesten arbeitet La decima vittima letztlich dem entgegen, was Barthes einige Jahre zuvor als charakteristisches Merkmal der neuen ›Mythen‹ definiert: den Eindruck von Natürlichkeit, der sich durch die Verschleierung der eigenen Konstruktionsweise einstellt (vgl. Barthes 1957). Dies ließe sich allerdings nicht nur auf die Medien und Konsumgüter (wie Marcellos Citroën DS47) im Film beziehen, sondern auch auf den Neorealismus, der in La decima vittima explizit thematisiert wird: Tatsächlich ähneln die »maledetti neorealisti volgari«, die den von Marcello geleiteten Sonnenuntergangsritus sabotieren, solch berühmten Filmemachern wie Roberto Rossellini, Vittorio De Sica oder Alberto Lattuada. Mit ihrer Aktion kehren sie die Prinzipien dieses frühen ›antikathartischen‹ Kinos aus Italien hervor: Durch den dezidierten Wirklichkeitsbezug ›beschmutzen‹ sie die Reinheitsästhetik der kinematografischen Reinigungszeremonie. Dabei wird im Film angedeutet, dass der Realitätseindruck auch bei neorealistischen Filmen nur ein Effekt bestimmter Inszenierungspraktiken ist. Zumindest spricht sich ein Mitarbeiter aus Carolines Fernsehteam in Bezug auf Marcellos Erschießung gegen eine Inszenierung im Kolosseum aus; dieses sei schließlich voller Löcher. Er bevorzugt die besser arrangierbare Produktion im Studio gegenüber dem shooting on location, das ja zu den elementaren Bestandteilen der neorealistischen Programmatik gerechnet wird. La decima vittima führt vor, weshalb solche filmischen Strategien in den 1960er Jahren ins Leere laufen: Die im Sinne der Pop Art ironisch vergrößernde Zitation von ästhetischen Formen unterschiedlicher medialer Herkunft macht einsichtig, wie die nun allgegenwärtige Populärkultur den sinnlichen Zugang des Einzelnen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit mitbeeinflusst. In einer neokapitalistischen Mediengesellschaft konstituieren solche Produkte und Darbietungsformen ein von der Profitlogik bestimmtes, nur oberflächliches Schauen, das zu Zerstreuung und Ablenkung führt. Auf diese Weise forcieren die vorgeblich ›reinigenden‹ Unterhaltungsangebote wiederum die Entmenschlichung des Menschen. Um zur Erkenntnis dieser Entfremdungssituation beizutragen, gilt es demnach, auch die ästhetischen Funktionsweisen solcher Medienprodukte zu thematisieren. Hierin besteht letztlich der politische Impetus von Petris fünfter Spielfilmregie, der zwingenderweise auch den Verweis auf die eigene Medialität erforderlich macht. Das filmische ›Auge‹ fügt sich so in den Motivkomplex des Schauens ein, der in La decima vittima zentral gesetzt ist.
47
156
Zur Analyse der Citroën DS bei Barthes 1957: 169–171.
3.5 Al di là della mente (1966) und Esperto di cavalli (1969)
Den zeitgenössischen Rezensenten geht die Medien- als Gesellschaftskritik dennoch nicht weit genug: Durch den Modus der ironischen Zitation scheint La decima vittima zu nah an den populärkulturellen Gegenständen zu bleiben, die der Film eigentlich problematisiert. Viele Kritiker stören sich zudem an einer humoristischen Haltung, die aus ihrer Sicht eine profunde Auseinandersetzung mit der Gegenwart verhindert; nur der ausgefeilte visuelle Stil findet fast überall Anklang. In den USA wird der Film trotz seiner impliziten Amerikanisierungskritik insgesamt sogar besser aufgenommen als in Italien (vgl. Kahan 1965: 39; Gill 1965; Robe. 1965; Crowther 1965; Irene (1965); A. F. 1965; L. P. 1965). Peter W. Jansen tut La decima vittima dagegen als allzu glatte »Ausstattungskomödie mit Scherz, aber ohne Satire und tiefere Bedeutung« (Jansen 1966) ab. Lediglich Micciché (1965) erkennt, dass »lo apparato spettacolare con tutto il suo potere alienante è […] evidente ed indubbio«. Nun bietet La decima vittima auch einen interessanten Einblick in charakteristische Austausch- und Rückkopplungsprozesse innerhalb jener populärkulturellen Zusammenhänge, die Micciché mit dem Rubrum des ›apparato spettacolare‹ brandmarkt: Als Adaption von Sheckleys Kurzgeschichte, die 1953 in der US-amerikanischen Zeitschrift Galaxy Science Fiction erscheint, wird die italienisch-französische Co-Produktion dem Autor seinerseits wieder zur Grundlage eines Romans mit dem Titel The 10th Victim (vgl. Sheckley 1953; 1965). Der Text, der pünktlich zum US-Kinostart im Dezember 1965 als Taschenbuch herausgegeben wird, präsentiert sich in seiner gesamten Aufmachung, also dem Cover, den abgedruckten Filmstills und den Paratexten dezidiert als literarische Umsetzung des Films. Die Story des Romans entspricht allerdings der ursprünglichen Version des Drehbuchs und nicht dem fertigen Kinofilm.
3.5
Carosello: Storie dal futuro – Al di là della mente (1966) und Esperto di cavalli (1969)
Es mag Elio Petri als Selbstwiderspruch ausgelegt werden, dass er nach La decima vittima tatsächlich Werbespots für Carosello dreht: Schließlich fungiert das Format in dem Kinofilm als Inbegriff des kommerziellen Mediums Fernsehen. 1970 wird er zusammen mit anderen politischen Filmemachern, die allzu laut ihre politische Meinung kundtun, von Lietta Tornabuoni an ihre Regietätigkeiten für die Werbesendung erinnert (vgl. Tornabuoni 1970). Petri selbst berichtet von diesen Exkursen später in einer deutlich rechtfertigenden Rhetorik (vgl. Faldini / Fofi 1981: 214 f.). Seinen Äußerungen zufolge dreht er 1966 rund zehn kurze Filme für das Benzin Supershell-A und 1969 vier für die
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Produkte des Küchenausstatters Salvarani. Es kann allerdings jeweils nur ein Spot der beiden Kampagnen Petri zugeordnet werden; in den vorhandenen Quellen ebenso wie in den Archiven der RAI lassen sich keine Hinweise darauf finden, dass tatsächlich weitere unter seiner Regie entstanden sind. Aus heutiger Sicht ist der rundfunkhistorische Stellenwert von Carosello unbestreitbar. Bis zur Einführung des dualen Rundfunksystems im Jahr 1976 bildet die Sendung in Italien das prominenteste TV-Werbeformat: Von 1957 bis zu seiner Absetzung 20 Jahre später wird das rund zehnminütige Programm, das vier bis fünf Spots umfasst, fast täglich zunächst um 20.50 Uhr, ab 1973 dann um 20.30 Uhr gesendet. Da es beim Fernsehpublikum sehr beliebt ist, trägt es auf besondere Weise zur Ritualisierung des Rezeptionsverhaltens und zur Organisation des Tagesablaufs bei (vgl. Giusti 1995; Grasso 2002: 828 f.). Carosello gehört neben dem Fernsehspiel zu jenen Programmbereichen, in denen Persönlichkeiten aus der Welt des Kinos neue Beschäftigungsmöglichkeiten finden: Während bedeutsame Filmemacher wie Petri, Ermanno Olmi, Sergio Leone oder Federico Fellini des Öfteren für die Inszenierung der Spots verantwortlich zeichnen, treten darin so prominente Schauspieler wie Nino Manfredi, Alberto Sordi, Gino Cervi oder Ugo Tognazzi als Werbeträger auf. In seiner Beständigkeit gibt das Programmformat allerdings auch einer kritischen Haltung gegenüber einer solchen Kommerzialisierung des Rundfunks Ausdruck: Da die RAI ansonsten nur wenige Reklameformate zulässt, wird durch Carosello über einen langen Zeitraum hinweg »die Werbung im Fernsehen in einem festen Rahmen ghettoisiert« (Mancini 2005: 138): Nicht nur die linken, auch die konservativen Kräfte bringen der Werbung eine »dämonisierende Interpretation« (ebd.) entgegen. Der Programmauftrag des Rundfunks, der damals von der Regierung kontrolliert wird, ist zu dem Zeitpunkt noch stark von der katholischen Moral und der humanistischen Kulturtradition Italiens geprägt. Petri stellt Carosello dagegen als per se ordnungsstützendes Format dar, wenn er in seinen fernsehbezogenen Kommentaren eine konsumideologische Beeinflussung der Zuschauer kritisiert (vgl. AMNC ELPE84 [ca. 1970]: 6 f.). Die Werbung erscheint ihm als einschlägiges Beispiel für einen Missbrauch der Television durch das bestehende Herrschaftssystem, das die Breitenwirksamkeit und Suggestivkraft des neuen Massenmediums zu seinem Vorteil nutzt. Der von ihm selbst inszenierte Spot Al di là della mente (1966) aus der Supershell-A-Kampagne Storie dal futuro kann dagegen nicht ohne Weiteres als Beispiel einer affirmativen Haltung aufgefasst werden: In dem Spot wird nämlich das Thema der Bewusstseinsmanipulation verhandelt, was sich bei einer politischen Lesart als kritische Selbstthematisierung interpretieren ließe.
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3.5 Al di là della mente (1966) und Esperto di cavalli (1969)
Entscheidend ist hierbei die spezifische Umsetzung der strengen Formvorgaben von Carosello. Das beworbene Produkt darf erst nach 100 Sekunden benannt und eingeblendet werden, sodass sich die Spots stets aus zwei Teilen zusammensetzen: Dem rund 35 Sekunden langen Produktteil geht ein fiktionalnarrativer Part voraus, der durch eine kurze Geschichte das Beworbene argumentativ einführt und seine Qualitäten dadurch auf indirekte Weise einsichtig macht. Dem wird der verfügbare Spot für Salvarani, Esperto di cavalli, den Petri 1969 dreht, beispielhaft gerecht. Der einleitende Abschnitt weist auf den Slogan der Firma, »Tecnica sì, ma con sentimento«, voraus. Dieser suggeriert eine emotionale Bindung des Herstellers zum Produkt: technisch perfekte Küchenmöbel, die mit Liebe produziert worden sind. Die Aussage vermittelt sich metaphorisch über die Erzählung eines älteren Mannes, der einen jungen, widerspenstigen Hengst zum Rennpferd auszubilden versucht. Dem Slogan entsprechend ist er erst erfolgreich, als er dem Tier nicht nur Lauftechniken beibringt, sondern auch emotional auf es eingeht. Der Produktteil überträgt die Verbindung von Technik und Gefühl dann auf ein Paar, das liebevoll über die beworbenen Küchenmöbel streicht und sich hierbei zärtlich an den Händen berührt. In Al di là della mente sind der Narrations- und der Produktteil dagegen nur lose miteinander verknüpft. Dabei entspricht der Spot in seiner Präsentationsform eher jenen Filmgenres, die die damalige Kritik ebenso wie die spätere Forschung im Zusammenhang mit La decima vittima relevant macht. Er bietet sich als Variation der Science-Fiction dar, die dramaturgisch wie ein Spionagefilm funktioniert: In einer Geheimoperation lässt sich Avanta, eine Agentin der weißgekleideten ›Guten‹, während ihres Trainings in der Schwimmhalle von den schwarzgekleideten ›Bösen‹, die jeweils explizit so benannt werden, in deren Raumschiff entführen. Als diese Avantas Unterbewusstsein auszulesen und zu manipulieren versuchen, wendet sie dies durch einen Abwehrmechanismus ab und unterzieht im Gegenzug die Bösen durch einen hypnotischen Blick einer Gehirnwäsche. Handlungsrelevant sind nur die quasitechnischen Nova auf der Ebene des Mentalen, das Gedankenlesen und die Hypnose, durch die das menschliche Bewusstsein kontrolliert werden kann. Die übrigen Technikinnovationen wie das Raumschiff, das Beamen oder die Kameraaugen der Spionin tragen zu einer szientistischen Ästhetik bei, die im Sinne Simon Spiegels die Mentaltechnik als wunderbares Element der dargestellten Welt plausibel machen. Dementsprechend nähert die Gestaltung der Kulissen, Requisiten und Kostüme den visuellen Stil des Spots mehr der Ikonografie des Weltraumfilms denn der Pop Art an, wie es noch Guarnaccia und Barra nahelegen (vgl. Guarnaccia 2004: 209 f.; Barra 2012: 136 f.). Die Spezialeffekte werden von Antonio Margheriti verantwortet,
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
welcher zu diesem Zeitpunkt seinerseits solche Filme bereits inszeniert hat, so etwa Il pianeta degli uomini spenti. Der anschließende Produktteil übernimmt nur die Einteilung des Figureninventars in Gut und Böse. Dort treten die beiden Gruppen zu einem Autorennen an: Während die Bösen auf konventionelles Benzin setzen, ziehen die Guten dank des beworbenen Supershell-A davon. Die Bewusstseinsmanipulation dient innerhalb der Persuasionsstrategie des Spots im Grunde nur als Vehikel, um den Sieg der Guten, sprich der Repräsentanten des beworbenen Produkts, im Narrationsteil vorauszudeuten. Zugleich wird allerdings die Beeinflussbarkeit der menschlichen Psyche thematisiert, wobei eben die Form der Science-Fiction anschaulich werden lässt, wie »pensieri sotto al crosta mentale« eingebracht werden können. Fasst man den narrativen Teil also auch als Reflexion über Suggestion auf, so ließe sich dies durchaus uneigentlich als kritische Selbstreferenz der Fernsehwerbung lesen – gerade weil thematisch kein Zusammenhang zwischen den beiden Abschnitten des Spots besteht. In La classe operaia wird dann tatsächlich vorgeführt, wie Carosello eine quasihypnotische Wirkung auf das Fernsehpublikum entfaltet (vgl. Kap. 4.4.2).
3.6
Zusammenfassung: Neuaushandlung des politischen Films
In der ersten Phase seines Schaffens als Spielfilmregisseur bildet Elio Petris filmpoetologisches und -praktisches Werk ein ambivalentes Verhältnis zum Neuen Kino aus: Dieses Paradigma, das sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eta bliert, verbindet auf Grundlage filmästhetischer Innovationen künstlerische und politische Ambitionen; hier bilden sich bereits Ansätze aus, die die Politik der Form wenige Jahre später fortentwickelt. Eingedenk der Vorbilder teilt Petri auf Theorieebene prinzipiell die Annahme, dass ein neuer politischer Film nicht nur inhaltlich, sondern vor allem formal subversiv sein muss. Letztlich stellt keines der von ihm inszenierten Werke jene Bedeutungsoffenheit her, die für die moderne Filmästhetik charakteristisch ist; nicht einmal I giorni contati, obwohl die dort verwendeten Verfahren im Einzelnen am deutlichsten dem Stilkatalog des ›Neuen‹ entsprechen. Tatsächlich lässt sich eine zunehmende Diskrepanz zwischen Petris Schaffen und dem Stand der Debatte in Italien feststellen: Während sich bei den Verfechtern des Neuen Kinos der Primat der Form verfestigt und mit der Mostra Internazionale del Nuovo Cinema 1965 institutionalisiert, erhält Petri den revolutionären Gestus im Sinne Godards nur noch in seinen filmpoetologischen Reflexionen aufrecht. Seine Regiearbeiten nähern sich nach dem zweiten Spielfilm erzähl-
160
3.6 Zusammenfassung
und gestaltungstechnisch dagegen vermeintlich dem klassischen Erzählkino an. So mag das von Petri selbst forcierte Bild des progressiven Jungregisseurs, der wie Truffaut und Godard auch die Auseinandersetzung mit der Science-Fiction ernst nimmt, allmählich unterminiert werden. Vernachlässigt man die oft angeführten Zwänge in der Filmproduktion als determinierende Faktoren, so wird erkennbar, dass bei Petri auch scheinbar weniger ambitionierte Bezugsmodelle politisiert werden: neben den Neuen Wellen und dem Autorenkino oder Strömungen aus der modernen Malerei wie der Pop Art also auch komödiantische Darstellungsweisen oder das Krimigenre. Entscheidend ist, dass diese jeweils für die kritische Darstellung gesellschaftlicher Kernthemen funktionalisiert werden. Es wäre nun allzu verkürzend, auch aus den Arbeiten nach I giorni contati eine eindimensionale, rein inhaltsbezogene Konzeption des politischen Films herauszulesen: Wenn die verschiedenen Regiearbeiten auf stilistisch recht unterschiedliche Weise jeweils die Situation und die Rolle des Einzelnen in der Boom-Gesellschaft verdeutlichen, dann ist dies stets mit metareferenziellen und -reflexiven Gesten verbunden. Selbst die erzählund gestaltungstechnisch vermeintlich konformistischste Regiearbeit, Il maestro di Vigevano, bildet hier keine Ausnahme. Diese Eigenschaften geraten aus dem Blick, wenn man Petris selbstkritische und nahezu entschuldigende Kommentare, die er vor allem in den 1970er und frühen 1980er Jahren formuliert, auf diese frühen Arbeiten überträgt. In der filmischen Machart dieser frühen Regiearbeiten mag nun die Krise des neorealistischen ›Tatsachen-Bilds‹48, die die moderne Filmästhetik markiert, zum Ausdruck kommen. Die Filme tragen hierbei auch dem Umstand Rechnung, dass ästhetische Artefakte, die Populärmedien ebenso wie die hohe Kunst, an den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen mitwirken – auch in Italien, wo der wirtschaftliche Aufschwung eine allgemeine Verbreiterung und Pluralisierung des kulturellen Angebots, speziell auch im Bereich des Kinos, mit sich bringt. La decima vittima macht die zeitgenössische Populärkultur in ihrer Gesamtheit – das künstlerische Autoren- wie das industriell standardisierte Unterhaltungskino, die Werbung, das Fernsehen und den Comic – sogar zum Gegenstand einer kritischen Bestandsaufnahme. Faktisch legt Petris Frühwerk sowohl in seiner Reflexivität als auch in seiner Heterogenität Zeugnis davon ab, wie sich der politische Film angesichts der vielfältigen Veränderungen in allen Bereichen neu aushandeln muss. Ersichtlich wird dies nicht zuletzt daran, dass im Unterschied zum
48
Zum Tatsachen-Bild vgl. Bazin 1962 [1948]: 34.
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3. Anfangszeit als Spielfilmregisseur (1961–1965)
Autorenkino und dem auteur-Konzept artistische Selbstbezüglichkeit und Stilkohärenz keinen Vorrang besitzen. Auch in Petris theoretischem Schaffen zeichnet sich ab, dass durch die medienkulturellen und insbesondere kinematografischen Entwicklungen neue Möglichkeiten und Spielräume, aber auch neue Herausforderungen entstehen. Wie in den filmischen Arbeiten kommt hier die Vorstellung eines Vakuums zum Tragen, das nach der neorealistischen Hochphase auch das künstlerisch ambitionierte Neue Kino nicht ausfüllen kann: Es kommt nicht gegen die nun übermäßig verfügbaren Zerstreuungsangebote an, die bei den Rezipienten eine unkritische Haltung befördern. Ab 1970 drängt Petri daher auf eine Annäherung an die Zuschauer, wobei er seine Vision eines gegenwartskritischen Kinos mit der Tradition einer an sich widerständigen Volkskultur verknüpft. Es erscheint daher nur konsequent, wenn sich der Filmemacher rückblickend dann auch von seiner Vorstellung eines ›Kinos der Ideen‹ distanziert. Bezeichnenderweise kann das dahinterstehende Konzept, das noch auf einer kritischen Einstellung gegenüber einem auf Distraktion bedachten Kinopublikum fußt, nur einen Teil der eigenen Filme aus dieser Zeit fassen, und zwar weil von diesen eben kaum einer jene ästhetische Radikalität ausprägt, die Petri in seinen Entwürfen selbst einfordert. Angesichts der damals vorherrschenden Wertmaßstäbe ist es kaum verwunderlich, dass sich die Wahrnehmung von Petri schon nach I giorni contati zunehmend ins Negative wendet. In den kommenden Jahren stößt der Filmemacher dann vor allem in seinem Heimatland auf Ablehnung, wo die strukturalistisch orientierte Filmkritik und Militante den bedingungslosen Bruch mit dem Repräsentations- bzw. Produktionssystem des etablierten Kinos verlangen. Feiern seine Regiearbeiten an den Kinokassen und bei den großen Festivals Erfolge, so fällt das sich darin abzeichnende, formalstilistisch moderate Modell des politischen Films bei den Kritikern konsequenterweise auf keinen fruchtbaren Boden.
162
4.
Kino für die Massen: Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Mit dem Aufkommen der Protestbewegungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzt auch in den verschiedenen Nationalkinos eine Phase der Politisierung ein. Dies wirkt sich signifikant auf die Entwicklung der modernen Filmästhetik aus, wie Kovács am europäischen Beispiel zeigt: War die treibende Kraft bislang »a critique of conventional forms of cinematic representation, and a desire to reinvent art cinema according to a personal, subjective experience, […], [now] the general emphasis was on the reinvention of the concept of reality« (Kovács 2007: 349 f.). Im Kontext des politischen Films kann sich die Politik der Form dadurch auf internationaler Ebene als eines der leitenden Paradigmen etablieren. Daneben gewinnen militante Filmpraktiken an Bedeutung, die mit überwiegend dokumentarischen Mitteln jenseits der etablierten Strukturen operieren. Außerhalb der Fachöffentlichkeit erhalten vor allem solche Filme die größte Aufmerksamkeit, die sich weder in ihren Gestaltungsmodi noch in den Produktions- und Vertriebsweisen vom etablierten Kino distanzieren. In Italien titelt die Tageszeitung La Stampa 1970 wenige Wochen nach dem Start von Elio Petris Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto dementsprechend: »Il nostro cinema riscopre la ›rabbia‹« (Madeo 1970). Die Publikumswirksamkeit und die Festivalauszeichnungen solcher politischen Kinospielfilme gelten ihren Gegnern als Beleg für den Konformismus der fraglichen Regisseure. Eine wesentliche Erfolgsbedingung bildet neben der gesellschaftlichen Stimmung der wirtschaftliche und kulturelle Stellenwert, den das Kino in Italien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch besitzt. Nach einem kurzzeitigen Rückgang 1964, bedingt durch eine Rezession nach dem boom economico, steigen die Produktionszahlen erneut und bleiben bis 1976 recht stabil. So werden beispielsweise im Erscheinungsjahr von Indagine in den heimischen Kinos insgesamt 231 neue Filme gezeigt, die unter Beteiligung von italienischen Produktionsfirmen entstanden sind (vgl. SIAE o. J. c). Die Lichtspielhäuser verzeichnen dagegen stetig weniger Besucher, auch wenn sich die Einnahmen aufgrund der steigenden Ticketpreise nach wie vor auf einem hohen Niveau bewegen. Immerhin werden in Italien in der ersten Hälfte der 1970er Jahre noch mehr Kinokarten verkauft als in Frankreich, Großbritannien, Spanien und Deutschland zusammen (vgl. Micciché 1997: 4).
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Die Konjunktur des Politischen zeigt sich nicht zuletzt daran, dass selbst der italienische Autorenfilm die neuen politischen Formationen und Akteure zumindest registriert, so etwa Antonionis Zabriskie Point (1970), Fellinis Roma (1972) oder Viscontis Gruppo di famiglia in un interno (1974). Dagegen liefert in den 1960er Jahren der Italowestern verschiedene Beispiele dafür, wie das Genrekino auf metaphorische Weise von der Rebellion gegen unterdrückerische Eliten erzählt.49 An seine Stelle rückt Anfang des folgenden Jahrzehnts der poliziottesco, der bevorzugt Themen staatlicher Übergriffigkeit und politischer Konspiration verhandelt; für dieses Genre ist signifikanterweise Petris Indagine stilbildend (vgl. Pescatore 2009: 153, 157–159). Mit seinem Modell eines ›Parallelogramms der Kräfte‹ betont Ortoleva die Komplexität und Ambivalenz, die die Situation in Italien kennzeichnet: Diese ergibt sich nicht nur aus der Vielfalt politisierter Filmpraktiken, sondern auch aus der konfliktreichen Debatte (vgl. Ortoleva 2008: 153–159). An dieser partizipieren Akteure aus verschiedensten Bereichen, da sich neben politisierten Filmschaffenden und -kritikern auch politische Akteure verstärkt mit der Frage auseinandersetzen, wie das Medium in revolutionären Zusammenhängen genutzt werden kann. Den Begriff des cinema politico, der sich hierbei ausbildet, beziehen die Kritiker abwertend vor allem auf etablierte Regisseure wie Rosi, Damiani, Francesco Maselli, Gillo Pontecorvo oder Mauro Bolognini. Dabei ist es gerade der hier beleuchtete Filmemacher, der als Negativbeispiel par excellence fungiert: »M’accorgo che il discorso sul ›cinema politico‹ tende a partire e a ritornare sempre su Elio Petri«, stellt etwa Callisto Cosulich 1973 fest (Argentieri et al. 1973: 22). Honorieren Filmkritiker aus dem Ausland dagegen die Anstrengungen von Petri und den benannten Regisseuren, so stößt dies bei ihren italienischen Kollegen nur auf Unverständnis.50 Gerade an Petris Werk wird manifest, welchen Einfluss die Studentenbewegung 1967/68 und die Arbeiterproteste im ›Heißen Herbst‹ 1969 auf das fiktionale Kino in Italien haben.51 Daher muss sein Schaffen in dem hier behandelten Zeitraum unterteilt werden. Die Jahre zwischen 1966 bis 1969 markieren einen Übergang: Dort beschäftigt sich der Filmemacher mit der Krise dessen, was er in den Jahren zuvor als ›Kino der Ideen‹ bezeichnet. Diese Situation wird in A 49 50 51
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Für ein einschlägiges Beispiel vgl. Uva 2020. Dazu etwa der zeitgenössische Beobachter Torri (1970: 67). Ab 1968 kommt es in Italien zu zahlreichen Arbeiterstreiks und -demonstrationen, die immer wieder von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Ordnungskräften begleitet werden. Im Herbst 1969 erreicht diese Entwicklung, die mindestens bis 1973 andauert, ihren Höhepunkt (vgl. Crainz 2005: 321–362; Woller 2010: 296–299).
4.1 Petri in der Dabette um das cinema politico
ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968) thematisiert, indem die Filme nach den Wirkungsfähigkeiten von Intellektuellen fragen und ästhetische wie medienkulturelle Entwicklungen erörtern. Indagine markiert dann den Beginn des Zeitabschnitts 1970 bis 1976, in dem Petri unter dem Eindruck des zivilgesellschaftlichen Aufbegehrens ein als politisch-popular deklariertes Kino konzeptualisiert, repräsentiert von Indagine, La classe operaia va in paradiso, La proprietà non è più un furto und Todo modo. Die filmpoetologische Ausarbeitung dieses Modells hängt maßgeblich mit den Erfahrungen zusammen, die der Regisseur im Rahmen von Cinegiornale libero no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970) mit dem militanten Kino macht. So etabliert sich Anfang der 1970er Jahre eine eigentümliche Variante des politischen Films, die mit den avantgardistischen und den militanten Ansätzen nicht nur das Ziel des Umbruchs, sondern auch wesentliche soziologische, anthropologische und filmästhetische Grundannahmen teilt. Doch statt emphatischer Revolution bietet es über fiktionale Erzählzusammenhänge ambige Bilder von politischen Subjekten wie Arbeitern, Studenten, Polizisten oder Politikern dar, die jeweils tieferliegende Problemursachen der repressiven Gegenwartsgesellschaft reflektieren.
4.1
Petri in der Debatte um das cinema politico
Elio Petri gehört zu jenen Filmemachern, die sich intensiv an den aktuellen Diskussionen beteiligen und sich ernsthaft mit den verschiedenen Ansätzen eines politischen Films auseinandersetzen. Dies hängt damit zusammen, dass er am Übergang der Jahrzehnte die gesellschaftliche Ordnung stärker denn je infrage gestellt sieht. Sein Konzept eines ›politisch-popularen‹ Films ist das Ergebnis einer Suche nach der geeigneten Ausdrucksform, um mit dem Kino als Massenmedium den erhofften Umbruchsprozess vorantreiben zu können. Der Begriff, mit dem Petri seine Regiearbeiten ab 1970 belegt, deutet bereits an, dass er seine früheren, modernistisch geprägten Positionen aufgibt. Statt der Nouvelle vague und Sartre sind es neben der Commedia dell’arte, Brechts Episches Theater sowie hoch im Kurs stehende antipsychiatrische und antiautoritäre Theorien, die sein Denken über den Film und die Gegenwartsgesellschaft bestimmen. Mit diesen Bezugnahmen bewegt sich Petri durchaus auf der Höhe seiner Zeit. In der Phase zwischen 1966 und 1969 zeichnet sich dagegen ab, dass es ihm hier noch an neuen Impulsen fehlt. Der Regisseur setzt sich vor allem mit der Krise des ›Kinos der Ideen‹ auseinander. Ein wesentliches Problem des dahinter-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
stehenden Konzepts sieht er darin, dass die entsprechenden Filme nur vom Bürgertum goutiert werden, gegen das sie eigentlich gerichtet sind (AMNC ELPE319 [1967]: 3; Petri 2007i [1967]). Zugleich neige das italienische Kino im Gesamten verstärkt dazu, nur noch den Wunsch nach evasiver Unterhaltung zu befriedigen: Das Publikum verlange nach emotionaler, jedoch nicht geistiger Katharsis (vgl. AMNC ELPE318 [o. J.]: 2). Schon 1964 lässt er dementsprechend verlautbaren: »Dal neo-realismo si è passati al cinema della alienazione; ora stiamo passando al cinema per la alienazione, al divertimento per gli alienati, l’uomo bambino« (Petri 1964: 28); eine Diagnose, die er drei Jahre später bei einem Runden Tisch zur Krise des italienischen Kinos umso eindringlicher hervorhebt (AMNC ELPE319 [1967]: 5). Schon hier beschäftigt er sich explizit mit der Problematik, dass ein thematisch allzu abstraktes und ästhetisch zu anspruchsvolles ›Kino der Ideen‹ insbesondere die arbeitenden Klassen ausschließt (vgl. Rinascita 1967: 27). Er verwendet 1966 erstmals den Begriff des cinema politico, als er die Verfilmung von Leonardo Sciascias Roman A ciascuno il suo vorbereitet. Hier ist er noch um die Abgrenzung zur Propaganda als ordnungsstützender Variante des politischen Films bemüht: Statt eine neutrale Herangehensweise auszubilden, gebe diese als ›Libell‹ in der Auseinandersetzung mit gesellschaftsbezogenen Themen einer politischen These Vorrang (vgl. AMNC ELPE227 [1966]: 2). Im gleichen Jahr findet Petri neue Anregungen bei einer jüngeren Filmemachergeneration. So äußert er sich sehr enthusiastisch über Marco Bellocchios Debütfilm I pugni in tasca (1965), von dem er sich wünscht, »che la sua giovanile, ma profonda, irriverenza […] mi contaminasse, ci contaminasse« (Aristarco 1966: 205 f.). Seine Begeisterung lässt schon erahnen, welche Auswirkungen die kommenden Ereignisse auf den Filmemacher haben: Das Jahr 1968 deklariert er dann als »nostro anno zero« (AMNC ELPE301 [1969]: 2). Solche Aussagen sind im Kontext von Petris Versuchen zu sehen, die Filmproduktion von politischen Beschränkungen und wirtschaftlichen Zwängen zu befreien. Der Spielfilmregisseur erweist sich anfangs sogar als dezidierter Befürworter eines militanten Kinos: Er strebt nicht mehr nur nach solidarischem Zusammenhalt unter den Filmemachern und einer gemeinsamen Richtung in der Debatte um den politischen Film, sondern drängt tatsächlich auf kollektive Aktionen in Form kooperativer Zusammenschlüsse und Filmprojekte. Seine Bemühungen zielen zunächst darauf ab, etablierte Organisationsstrukturen handlungsfähig zu machen. So soll etwa der nationale Verband der Filmschaffenden, die Associazione Nazionale dei Cineasti (ANAC), als Plattform des politischen Austauschs auch einen institutionellen Rahmen schaffen, um unabhängige Produktionsformen zu entwickeln und so den Druck auf das bestehende System zu er-
166
4.1 Petri in der Dabette um das cinema politico
höhen (vgl. ebd.).52 1970 ruft er mit Ugo Pirro das Comitato dei Cineasti Contro la Repressione ins Leben, mit dem er dann das Vorhaben eines Kollektivfilms vorantreibt. Außerdem bemüht er sich um Gegenfestivals wie jenes in Porretta Terme oder den Giornate del Cinema Italiano 1972/73 in Venedig, gleichwohl er weiterhin auch an offiziellen Filmfestspielen und Wettbewerben teilnimmt. Schon zwei Jahre zuvor greift er mit Luchino Visconti einen prominenten Filmemacher an, der sich aus seiner Sicht zu desinteressiert an solch aktivistischen Initiativen zeigt (vgl. o. A. 1971a). Stellt Petri nach kurzer Zeit die Ineffizienz militanter Filmpraktiken fest, so rückt in seinen Überlegungen Gramscis Idee einer kulturellen Führung wieder stärker in den Vordergrund. Wie in den vorherigen Schaffensphasen fordert er ein konstruktives Verhältnis zwischen Filmemachern und Kritikern ein, welche in ihrer Rolle als Intellektuelle in die Pflicht genommen werden. Auf dieser Haltung gründet Petris Polemik gegen die linksgerichtete Filmkritik, die 1973 nach der einstimmigen Ablehnung von La proprietà zu der weitreichenden, sich über mehrere Monate hinziehenden Diskussion über die Funktion der Fachkritik führt. Der von Petri in den frühen 1970er Jahren konzipierte politisch-populare Film gewinnt nun sein Profil als Gegenentwurf zu jenen Modellen, die die politisierten Filmkritiker präferieren. Er zielt hierbei ausdrücklich auf Verständlichkeit und Breitenwirkung, womit er die Strategie der Widerständigkeit, wie sie auch seine frühere Idee des ›Kinos der Ideen‹ kennzeichnet, dezidiert ablehnt. Er stellt dies als Annäherung an das Publikum dar: »You have to enter into the milieu of the spectators and speak of their problems, in their way, with their language. You have to run that risk« (Gili 2000b [1976]: 54). In diesem Zusammenhang erkennt Petri nun die Unterhaltungs- und Einfühlungsbedürfnisse der Zuschauer an; ein Film, der ordnungskritische Inhalte vermitteln soll, muss demnach auch diesen Anforderungen gerecht werden. Damit einher geht die Entscheidung für die Arbeit innerhalb des etablierten Produktions- und Vertriebssystems, zielt der Filmemacher doch darauf, das größtmögliche Publikum zu erreichen. Wichtig ist, dass Petri in seiner emphatischen Hinwendung zur Zuschauerschaft auch die Prinzipien der Verfremdung, Distanzierung und Emanzipation gegenüber dem
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Aufgrund seiner starken Politisierung waren 1968 namhafte Filmschaffende aus dem Verband ausgetreten und hatten mit der Associazione Autori Cinematografici Italiani (AACI) eine autonome Vereinigung gegründet. Diese sollte in erster Linie die beruflichen Interessen der Filmschaffenden vertreten. Dem vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen beim Filmfest in Venedig, nachdem die ANAC durch Pier Paolo Pasolini und Gillo Pontecorvo dort zum Boykott aufgerufen hatte.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Medium für sein Programm relevant macht. Mithilfe neuer Referenzmodelle vertieft er jetzt also Ideen, die schon in seinen filmpoetologischen Kommentaren Anfang der 1960er Jahre durchscheinen. Nun wird dem Regisseur aber der Bezug zur volkskulturellen Tradition zum legitimierenden Rahmen, um diese Konzeption abzugrenzen: sowohl vom evasiven Massenkino als eben auch von elitäreren bzw. wenig breitenwirksamen Ausprägungen des politischen Films. Mit einer solchen an Gramsci geschulten Position nähert er sich wieder den Ansichten von De Santis an, der in den 1950er Jahren den politischen Film in die authentische Kultur der subalternen Klassen einzuschreiben versucht hatte. Für diesen von ihm intendierten ›politisch-popularen‹ Film nutzt Petri 1975 die prägnanten Akronyme polpop bzw. poppol (vgl. Rossi 2015: 141).53
4.1.1 Die Positionen innerhalb der Kontroverse
Die sich politisierende Filmkritik stört sich in dieser Schaffensphase schon früh an der ästhetischen Machart von Elio Petris Regiearbeiten: So stößt etwa Maurizio Ponzi 1967 die aufmerksamkeitslenkende Wirkung des Zooms in A ciascuno il suo derart auf, dass er den Film als ›hässlich‹ und Petri als Filmemacher der ›Klasse Z‹ diffamiert (vgl. Ponzi 1967: 254 f.). Die den Studenten- und Arbeiterbewegungen nahestehende Filmzeitschrift Ombre Rosse vermutet dann hinter den komischen Elementen von La classe operaia ökonomische Zwänge: Diese würden den Film, der zur nichtssagenden Sittenkomödie verkomme, publikumsgefällig machen (vgl. o. A. 1972b: 74). Spätestens mit Indagine werden den Kritikern Pe tris Regiearbeiten also zum Prototyp des bloß pseudokritischen cinema politico – sie ziehen die von Petri verantworteten Produktionen daher oftmals heran, um ex negativo legitimere Konzepte des politischen Films aufzuzeigen. Wie in anderen europäischen Ländern ist auch die Diskussion in Italien stark von der Theoriebildung der französischen Fachzeitschriften Cahiers du Cinéma, Cinétique, Positif und Cinéma geprägt; schon 1972/73 wird die inhaltliche Nähe der Debattenzusammenhängen resümiert (vgl. Farassino 1972; Bernardini 1973). Die Vorwürfe, die hierbei gegen Filmemacher wie Petri ins Feld geführt werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sie agieren innerhalb des kommerziellen Systems und würden somit dessen Alliierte; da sie dessen Anforderungen
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Rossi zitiert einen Abschnitt aus Petris Arbeitsbuch zu Todo modo vom 26. August 1975.
4.1 Petri in der Dabette um das cinema politico
erfüllen müssten, sei die filmische Darstellung zwangsläufig spektakulär; sie seien gezwungen, sich an den bestehenden Erzähl- und Gestaltungskonventionen zu orientieren, wodurch der Klassenkampf nicht adäquat dargestellt werden könne; dies verschärfe eine konfuse Vermischung von künstlerischen Stilformen und Theoremen aus unterschiedlichsten Disziplinen. Auf diese Weise würden die Filme schlussendlich ein autoritäres Verhältnis zu den Zuschauern ausbilden.54 Die wesentliche Gefahr wird also darin gesehen, dass solche Filme unter dem Deckmantel der Aufklärung die bestehende Ordnung festigen. Daher zählt Fofi in seiner polemischen Bestandsaufnahme des italienischen Kinos Servi e padroni auch Petri zu den ›Dienern‹ des Establishments (vgl. Fofi 1977 [1971]: 130–133). Demgegenüber vertreten Anhänger eines militanten Kinos die Idee, das Filmemachen den Zwängen des kapitalistischen Produktions- und Distributionssystems zu entziehen. In den oft maoistisch orientierten Überlegungen besitzt der Film keine privilegierte Stellung, sondern wird wie andere Medien und Kunstformen für den Klassenkampf funktionalisiert. Es soll gelingen, die Akteure der Revolution, Studenten, Arbeiter und Bauern, ungehindert miteinander in Austausch treten zu lassen. Als Aufführungsorte sind dementsprechend Fabriken, besetzte Universitäten oder Gewerkschaftshäuser vorgesehen. Im Idealfall werden die Unterdrückten sogar selbst zu Produzenten und Distribuenten von Bildern ihrer prekären Lage oder der revolutionären Ereignisse, in die sie verwickelt sind; Filmen wird so zu einem Akt der Selbstbestimmung, die die Abhängigkeit vom Professionellen auflöst (vgl. I rappresentanti del Movimento Studentesco presenti a Pesaro 1973: 29 f.). Damit verbunden ist oftmals die Vorstellung des Films als kommunikativer ›Waffe‹, mithin als Mittel der direkten Intervention, der Polemik und der Agitation (vgl. Uva 2015a: 37). Als solche soll das Medium dazu beitragen, die etablierten Kommunikationskanäle der bürgerlichen Ordnung nicht nur zu umgehen, sondern sogar gezielt zu stören; Pio Baldelli (1998 [1970]) entwickelt hier etwa die Idee eines ›kinematografischen Flugblatts‹ (99), ähnlich den französischen ciné-tracts. Damit distanziert sich das militante Kino auch von der Politik der Form und dem sich dort noch abzeichnenden Kunstanspruch: 1968 betonen Vertreter der italienischen Studentenbewegung die Maxime der Information, wobei das schöpferische Individuum programmatisch durch das politisierte Kollektiv ersetzt wird
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Die Grundzüge der italienischen Debatte um den politischen Film Ende der 1960er und in den 1970er Jahren zeichnen Bisoni (2007: 327 f.; 2009: 89–94), Uva (2015a: 17–32) und Lombardi / Uva (2016b: 6–11) umfassend nach.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
(vgl. I rappresentanti del Movimento Studentesco presenti a Pesaro 1973: 29 f.). Selbst eine Zeitschrift wie Cinema Nuovo, die lange am Realismus Lukács’scher Prägung festhält, gibt nun die Devise »comunicare senza rappresentare« (Aristarco 1973: 126; Hervorheb. i. Orig.) aus. Die Fürsprecher einer Politik der Form sehen vor allem die mediale Eigenlogik des Kinos vernachlässigt: Pecori (1970) spricht daher vom militanten als »anti-cinema«, das sich aus Torris Sicht dementsprechend nicht an Zuschauer, sondern nur an andere Militante richtet (vgl. Torri 1998 [1973]: 148). Auch Ciriaco Tiso betont in seiner Monografie mit dem einschlägigen Titel Cinema poetico / politico die politische Dimension eines dezidiert künstlerischen Kinos, das sich auf die kinematografischen Spezifika, sprich die Auswahl und die Verknüpfung von Bildern besinnt (vgl. Tiso 1972: 27). Vor allem in der strukturalistisch orientierten Filmkritik macht sich der französische Einfluss bemerkbar, speziell der mit Althusser und später Lacan argumentierenden Theorien über den Zusammenhang von Technik, Form und Ideologie. Dabei kommen in Italien ähnliche Fragen schon früher auf, beispielsweise 1967 beim Runden Tisch der Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro: Dort stellt Baldelli die filmische Gestaltungsweise als Ausdruck einer spezifischen Weltanschauung dar. Er geht davon aus, dass die Form nicht als neutraler Träger fungiert, sondern den Inhalt entscheidend strukturieren und sogar überformen kann (vgl. Baldelli 1989 [1967]). Edoardo Bruno differenziert in Filmcritica dementsprechend die ›Ideologie des Films‹ von der ›Ideologie im Film‹ (vgl. Bruno 1973). Die Ideologie des Films, die er prioritär behandelt, wird zwischen der Form und dem Publikum wirksam: Sofern die Zuschauer nicht durch eine ambivalente Struktur zur selbstständigen Bedeutungsproduktion angeregt werden, gestaltet sich diese Beziehung autoritär (vgl. Bruno 1970; ebenso Mancini 1973). Bestimmte Stilmittel und dramaturgische Muster werden also abgelehnt, weil sie keinen »rapporto dialettico, una tensione continua« (Bruno 1970: 69) zulassen. Dies betrifft neben klassischen auch solche avancierten Verfahren wie den Zoom, von dem etwa in Elio Petris A ciascuno il suo ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Daran ist oftmals die Forderung nach Selbstreferenzialität geknüpft, durch die sich das Kino zu erkennen gibt und sich in seiner Position gegenüber dem Publikum relativiert. In Form eines ›Gegen-Dekalogs‹ fasst Giovanni Buttafava (2000 [1971]: 150) die Grundelemente eines solchen explizit antirealistischen, reflexiven Kinos zusammen, das dem cinema politico opponiert. Angesichts der Vorbilder, die die Fürsprecher dieses Ansatzes jeweils anführen, wird nachvollziehbar, weshalb Elio Petri sich 1976 über »the influence of the Cahiers du cinéma, tantamount to cinephilic, cinepathological delirium« (Gili
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4.1 Petri in der Dabette um das cinema politico
2000a [1976]: 54 f.) beschwert.55 Neben Godard, Straub oder Glauber Rocha interessieren nämlich Regisseure wie Welles, Hitchcock und Buñuel. Das militante Kino vergleicht Petri mit einer Haschisch-Zigarette, da sich hier Eingeweihte nur an ihren radikalen Ideen berauschen würden (vgl. Jeune Cinéma 1973: 20 f.; Ballérini et al. 1974: 101). Er behandelt diese Konzepte aufgrund ihrer ideologischen Strenge seinerseits als pseudopolitische Ausformungen bürgerlicher Kunst, die als solche das bestehende System stützen: »Non credo al film di élite, per pochi intimi con tanti studi e tanta puzza sotto il naso. Non credo ai linguaggi cifrati, ma ai discorsi popolari, che arrivino fino alle terze visioni, che siano capiti da tutti, e che divertano facendo meditare« (AMNC ELPE86 [1971]: 4). Aufgrund des massiven Widerstands gegen das cinema politico innerhalb der Debatte spricht Petri überspitzend von Ghettobildung: Der Elitismus, den er den Vertretern des militanten Kinos und der Politik der Form vorwirft, besitze faschistische Züge, weil eine strenge Segregation und Hierarchisierung kultureller Sphären forciert würden (vgl. Bianco e Nero 1972: 107 f.). Eine solche Haltung kommt aus seiner Sicht auch in dem modernen Klassifikationsschema high, mid und mass / pop zum Tragen, das in der US-amerikanischen Soziologie entwickelt wird und in jener Zeit auch in die italienische Kulturtheorie Eingang findet (vgl. Mellen 1973: 11; Ballérini et al. 1974: 26, 103). Während diese als normativ und exkludierend empfundenen Differenzierungen Petris Meinung nach kulturelle und soziale Grenzen festigen, versuche er diese mit seinen Filmen zu überwinden. Ihm schwebt demnach kein Gegenkino vor, vielmehr entwickelt der Regisseur ein erklärtermaßen auf Integration ausgerichtetes Modell. Hierfür bringt er eine »concezione popolare dell’arte« (AMNC ELPE398 [1971]: 1) in Stellung. Augenscheinlich nähert sich Petri damit wieder stärker dem traditionelleren italomarxistischen Kunstverständnis an. Er beruft sich auf die Volkskultur, die ihren authentischen Charakter gegen die Zwänge der bürgerlich-kapitalistischen Moderne behaupte: »Il faut faire une œuvre en tenant compte de toutes les données de la culture populaire […], de tout le contexte culturel et même spectaculaire qui en rapport avec les traditions populaires« (Gili / Vivani 1972: 16). Hier mag zwar Gramscis Idee des National-Popularen durchscheinen, allerdings führt der Filmemacher zunächst explizit Bertolt Brecht als Bezugspunkt an. Dessen Episches Theater wird damals ja auch der politisierten Filmavantgarde zu einem zentralen Referenzmodell, wobei Petri Brechts Konzeptionen 55
Schon als das Drehbuch von Indagine kurz nach dem erfolgreichen Start des Films herausgegeben wird, betonen die Autoren in diesem Sinn die politische Zweckmäßigkeit der Publikation, »senza fotogrammi, senza compiacimenti per teorici del cinema ed esteti« (Petri / Pirro 1970: Klappentext).
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dezidiert in einer volkskulturellen Tradition verortet. 56 In diesem Sinne erklärt er 1970 gegenüber Alexandre Astruc im französischen Fernsehen: »Brecht est du variété. Et il voulait faire du variété, […] puisque il voulait être compris« (Le Journal de Cinéma 2013 [1970]). Über den deutschen Dramatiker gelangt er in der Folgezeit zur Commedia dell’arte mit ihren antiken Vorläufern seit Plautus bis hin zu Niccolò Macchiavelli und Carlo Goldoni (vgl. Gili / Vivani 1972: 16; Zalaffi 1975: 100; Jeune Cinéma 1973: 20). Der Kinoregisseur beabsichtigt hierbei keine Nachbildung der Techniken und Neuauflagen der Stoffe aus dem Stegreiftheater, wie es damals etwa Giorgio Strehler oder Dario Fo vornehmen. Er zielt stattdessen auf die Aktualisierung einer volkskulturellen Tradition, die in dem von ihm intendierten Kino auf drei Ebenen wirksam werden soll. Erstens befördert Petri damit die Idee der Volksnähe im Verhältnis zwischen Künstler und Publikum. Er geht dabei vom idealen Zustand einer organischen Einheit aus, die sich mit der Gründung des italienischen Königreichs im Jahr 1861 aufgelöst habe: Er sieht mit dem Einigungsprozess die bürgerliche Klassengesellschaft entstehen, die die fortdauernde Trennung zwischen der intellektuellen Schicht und der einfachen Bevölkerung bedinge. Bis dahin habe eine enge Beziehung bestanden, die sich unter anderem in der künstlerischen Auseinandersetzung mit volkskulturellen Darbietungsformen geäußert habe, so Petri 1972; diese Nähe gelte es wiederherzustellen (vgl. Gili / Vivani 1972: 16). In dem Zuge entwirft er als Filmemacher ein neues Selbstbild, um sich von dem elitären Kunstebenso wie dem industriell ausgebeuteten Evasionskino zu distanzieren: Er deklariert sich nun explizit als Handwerker (vgl. ebd.). Damit betont Petri zugleich den Gebrauchscharakter seiner Filme, wiederum in Abgrenzung vom autonomen Kunstwerk und dem industriell hergestellten Konsumprodukt. Zweitens sind mit dem Bezug zur Volkskultur spezifische Wirkungsannahmen verknüpft. Der Regisseur geht nämlich davon aus, dass alle Angehörigen eines Kulturraums durch gemeinsame Traditionen geprägt sind: Er nimmt folglich bei jedem Einzelnen aus dieser Gemeinschaft Dispositionen an, durch die ein Kinofilm, welcher an diese Traditionen anschließt, emotional und kognitiv bestimmte Effekte hervorrufen kann. Für Italien sieht er daher die Möglichkeit, dass der von ihm konzipierte, unter anderem an der Commedia dell’arte orientierte Film über Klassengrenzen hinweg wirksam wird – weil diese spezifische Form des Volkstheaters zur Ausbildung von »le goût italien pour la ›risata‹, pour le grotesque« (ebd.) beigetragen habe, der allen Italienern unabhängig vom sozia-
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Entsprechende Äußerungen finden sich in Ballérini et al. 1974: 90 f.; Zalaffi 1975: 100.
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len Rang innerhalb der hierarchisch organisierten, industriell fortgeschrittenen Gesellschaft zu eigen sei. Drittens macht Petri mit dem Grotesken auch die ästhetischen Prinzipien der volkskulturellen Darstellungstraditionen für sein politisch-populares Kino relevant. Aus seiner Sicht ist dieser Darstellungsmodus der einfachen Bevölkerung zu eigen, wobei der Regisseur das Groteske aufgrund seiner ausdrucksstarken Mittel mit dem Expressionismus in Zusammenhang bringt. Dies ermöglicht ihm eine eigentümliche Traditionslinie, die von der Commedia dell’arte zu Otto Dix und Georges Grosz bis zu Brecht und schließlich seinem eigenen Kino führt (vgl. Ballérini et al. 1974: 88; Zalaffi 1975: 100; Jego 1975: 23). Charakteristischerweise behandelt Petri das Groteske hierbei als Form einer antinaturalistischen Überzeichnung: Diese verleiht der filmischen Darstellung Unterhaltungswert, macht aber zugleich ihren verfremdenden und antiillusionistischen Charakter aus.
4.1.2 Die Konzeption eines politisch-popularen Kinos
Bei seinen Überlegungen über die ästhetische Machart eines solchen politischen Films hat Elio Petri stets das Publikum im Blick. Während die politisierte Fachkritik weiterhin vom negativen Bild einer bürgerlichen, unterhaltungssüchtigen Zuschauerschaft ausgeht, prägt der Regisseur über den Bezug zum Popularen eine positivere Haltung aus: Er erkennt das Publikum ausdrücklich als die zu befreiende Kraft an. Wie in der vorangehenden Schaffensphase besteht das Ziel darin, beim Einzelnen einen Bewusstwerdungsprozess über seine als normal empfundene, kritiklos akzeptierte Lebenssituation anzustoßen. Dabei zeichnet sich nun die Brecht’sche Vorstellung ab, durch eine antinaturalistische Darstellungsweise den Glauben an die natürliche Gegebenheit der bestehenden Ordnung aufzulösen; es gelte, die vorherrschenden Verhältnisse als veränderbar zu präsentieren (vgl. Ballérini et al. 1974: 67). Die Kernaufgabe des politischen Films besteht für Petri eben nicht darin, die ›Wirklichkeit‹ zu zeigen; wichtiger ist es, sowohl das Gesehene als auch das Sehen aus der ›Routine‹ zu lösen (vgl. AMNC ELPE89 [1976] P–Q; später in Gili 1978: 199–215; Petri 2007l [o. J.]: 168). Die Alltagswahrnehmung der Zuschauer muss demnach so weit irritiert werden, dass sie das, was sie als ihre Lebenswelt auffassen, neu, im Sinne Brechts distanziert betrachten können. Wenn Petri die Wirklichkeit wiederholt als Symbol oder Metapher bezeichnet, dann deutet er damit an, dass der Einzelne sich kritisch mit den sich darbietenden Umständen auseinandersetzen und ihre gesellschaftlichen Hintergründe zu verstehen ver-
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suchen muss; das Gewohnte soll wieder einer »analisi dell’occhio« (AMNC ELPE89 [1976]: Q) zugänglich werden. Den Zustand des Unbewusstseins führt der Filmemacher auf den Sozialisierungsprozess und die charakterliche Prägung des Einzelnen durch eine Gesellschaft zurück, die er nun explizit als autoritär und repressiv behandelt. Er inte ressiert sich in dieser Phase seines Schaffens für Theorien, die aufgrund der Studenten-, Arbeiter- und Antipsychiatrie-Bewegungen Konjunktur haben. Kreisen seine Reflexionen um ähnliche Problemstellungen wie in früheren Jahren, so überwindet Petri Sartres Biografie-Methodik durch eine Synthese von Psychoanalyse und Marxismus. Maßgebend wird für ihn die Sexualökonomie Wilhelm Reichs: Diese bietet die Möglichkeit, die innere Konstitution des Menschen mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform in Zusammenhang zu bringen. Für Reich stützt sich eine solche hierarchische wie ausbeuterische Ordnung eben auf Mechanismen der sexuellen Unterdrückung (vgl. Langlois 1972: 14; Mellen 1973: 11; Ballérini et al. 1974: 79 f.). Reich selbst bezieht sich unter anderem auf die Abhandlung Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats (1884), in der Friedrich Engels die Privatwirtschaft kausal an die Entstehung der patriarchalischen Familie knüpft. Aus der Sicht von Reich wird die Familie als gesellschaftliche Keimzelle aufgrund ihrer Erziehungsfunktion nun zur »Struktur- und Ideologiefabrik« (Reich 1986 [1933]: 31; ähnlich vgl. ders. 1975 [1932]: 136). Zur Sicherung der bestehenden Verhältnisse entwickle die kapitalistische Gesellschaft Instrumente der Triebunterdrückung, um den Menschen im Stadium sexueller und damit geistiger Unreife zu halten: Er geht davon aus, dass nur eine frei ausgelebte Erotik zu autonomen, kreativen Individuen führt. Stattdessen entstünden durch Repression masochistische Charaktere, deren Sozialverhalten von Unterwürfigkeit und Autoritarismus geprägt sei; durch verinnerlichte Kontrollmechanismen würden sie sich selbst regulieren und sich widerstandslos in die bestehende Ordnung einfügen. Petri interessiert sich daher auch für Theorien totaler Institutionen, wie sie Erving Goffman in Asylums formuliert: Goffman beschreibt darin, wie Insassen, Patienten oder Mitglieder solcher Institutionen individuelle Identitätsentwürfe freiwillig aufgeben und sich selbst disziplinieren (vgl. Jeune Cinéma 1973: 21; Goffman 1961). Petri beschäftigt sich vor allem damit, wie in der kindlichen Erziehung durch Verbote, Kontrolle, Bestrafung und Ausgrenzung spezifische Normalitätsannahmen im Bewusstsein der Individuen verfestigt werden. In der autoritären Gesellschaft bleibt der Einzelne dann stets solchen Macht- und Disziplinierungsstrukturen ausgesetzt. Der Begriff des Vaters dient Petri als Metapher, um das in allen Bereichen wirksame Unterdrückungsprinzip zu beschreiben. Er sieht hier-
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bei letztlich keinen Unterschied mehr zwischen der ordnungssichernden Polizei und »[]une usine, []une caserne, []un bureaux, et même []un groupe d’individus en train de tourner un film« (Ballérini et al. 1974: 69). Führt der Regisseur die Ausrichtung auf Figurationen eines strafenden ›Vaters‹ kulturhistorisch auf den jüdisch-christlichen Monotheismus zurück, so ist dies aus seiner Sicht in Italien aufgrund der starken Präsenz der katholischen Kirche und ihres politischen Arms, der Democrazia Cristiana, besonders ausgeprägt (vgl. Fofi 1971: 43). Doch auch die Sowjetunion und der PCI werden ihm zum Beleg dafür, dass aufgrund einer solchen Charakterformung auch bei den vermeintlich progressiven Kräften paternalistische Einstellungen und Verhältnisse fortbestehen. Die Studentenbewegung, die er 1970 als »il fenomeno più importante che si sia manifestato in Italia, nell’ambito del processo del sviluppo della democrazia, negli ultimi vent’anni« (AMNC ELPE82 [1970]: 7)57 beschreibt, schafft aus seiner Sicht zwar ein Bewusstsein für die autoritäre Organisation der Gesellschaft. Die Neue Linke, die aus der Bewegung hervorgeht, perpetuiere aufgrund ihrer ideologischen Strenge aber die eigentlich bekämpfte Ordnung (vgl. AMNC ELPE83 [1970]: 1–10). In den Beschreibungen solcher Widersprüche gibt Petri 1970/71 explizit den Begriff der Entfremdung auf. Das damit bezeichnete Phänomen betrachtet er als nicht mehr zeitgemäß (vgl. Fofi 1971: 41). Zum Schlüsselkonzept wird ihm stattdessen das der Schizophrenie. Die Grundlagen für seine nicht immer einheitlich beschriebene Vorstellung der Schizophrenie findet er in der existenzialistisch orientierten Psychoanalyse Ronald D. Laings, insbesondere in The Divided Self von 1960 (vgl. Siciliano 1972). Laing stellt die These auf, dass der Schizophrene seine gesellschaftliche Rolle nur quasischauspielerisch aufrechterhält, weil ihm diese irreal und falsch erscheint; er konstruiere ein weiteres Ich, das er demgegenüber als wahr empfinde (vgl. Laing 1960). Im Anschluss an Reich geht Petri davon aus, dass eine auf Verbot, Spaltung und Exklusion basierende Gesellschaft zwangsläufig zerrissene Individuen hervorbringe, die ihrerseits zum Fortbestand dieser Ordnung beitragen. 1974 löst er explizit die Freud’sche Triade von Über-Ich, Ich und Es auf, die er bis dahin gelegentlich noch verwendet, um Prozesse der Selbstdisziplinierung zu beschreiben: Nun werde der Mensch zu »une espèce d’assemblée, de parlement, de tant d’individus, de tant de possibilités ou d’impossibilités, de tant de choix, en très grande partie conditionnés par la soci-
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Das Interview wird in gekürzter Version in einer Jugendzeitschrift veröffentlicht, vgl. Off-Side 1970.
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été. L’homme est un être social et donc, cet être en morceaux est aussi un produit d’une société en morceaux« (Ballérini et al. 1974: 61). Sein eigentümliches Konzept der Schizophrenie bedingt eine signifikante Veränderung in dem von Petri entworfenen Menschenbild: Das widersprüchliche Verhältnis zwischen Selbstauffassung und faktischem Verhalten, das auch seine Filme thematisieren, wird nicht nur pathologisiert, sondern stellt die integrale Konzeption des Subjekts an sich infrage. Die gespaltene Persönlichkeit wird als wesensmäßiges Spezifikum des modernen Menschen behandelt. Der Filmemacher diagnostiziert nicht zuletzt bei sich selbst eine solche Zerrissenheit: Er vertrete Ideen der revolutionären Linken, beute als Filmemacher aber innerhalb des kapitalistischen Produktionssystems Untergebene aus (vgl. Fofi 1971: 41). Im Aufkommen der Protestbewegungen erkennt Petri dann den historischen Moment, in dem der Einzelne die innere Spannung seines gespaltenen Ichs nicht mehr kontrollieren könne. Da nun auch revolutionäre Kräfte von außen auf den Menschen einwirken, zerfalle das Selbst in seine heterogenen, jeweils autonomen Bestandteile. Dadurch wird allerdings den positiven Potenzialen der Schizophrenie Raum zur Entfaltung gegeben: Petri geht davon aus, dass der gespaltene Mensch reflexive Fähigkeiten entwickeln könne, wenn er seine heterogenen Persönlichkeitsteile in einen produktiven Austausch miteinander treten lasse. Dies bedeutet, dass sich seine verschiedenen Rollen in einem dialektischen Prozess gegenseitig infrage stellen und dadurch die Selbsterkenntnis befördern können (vgl. Langlois 1972; Ballérini et al. 1974: 78 f.). Eine langfristige Transformation der Gesellschaftsordnung kann nach Petri allerdings nur gelingen, wenn sich eine möglichst große Anzahl an Individuen ihrer psychischen Konditionierung bewusst werde und diese dadurch entkräfte. Eine wesentliche Herausforderung erkennt der Regisseur in dem bestehenden Bildungs- und Mediensystem, das noch der Logik früherer Gesellschaftsformen folgt. Darin sieht er il più vasto sistema di coercizione che la storia dell’umanità, fin qui, abbia mai conosciuto: una scuola semi-analfabeta, una televisione che lascia senza respiro per la sua forza di penetrazione, ma anche per l’estrema volgarità dei suoi fini sociali, un giornalismo e un cinema che hanno come scopo fondamentale solo quello ›vendere‹ il più possibile, facendo leva sugli istinti più negativi del loro pubblico. (AMNC ELPE82 [1970]: 8)
Dem Kino als Phänomen des Überbaus schreibt Petri in dem angestrebten Umwälzungsprozess dennoch die Fähigkeit zu »de mettre, de manière critique, le spectateur devant son état d’esclavage et de scission; pour cela, le cinéma doit
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employer tous moyens possibles, à l’intérieur et à l’extérieur des structures, avec l’objectif d’obtenir le maximum de communication possible« (Ballérini et al. 1974: 103). Er hat im Wesentlichen die unterschiedlichen Produktions- und Distributionsmöglichkeiten von Filmen in Sinn, wenn er hier das Ziel der größtmöglichen Breitenwirkung ausgibt. Aber auch in seine Überlegungen zur Gestaltungsweise eines politisch-popularen Kinos spielt diese Wirkungsabsicht hinein. Wenn Petri in diesem Zusammenhang nun den Begriff des Spektakels relevant macht, so blickt er über die denotative Bedeutungsdimension hinaus. Es geht ihm demnach nicht mehr darum, nur den artifiziellen oder kommunikativen Charakter des Films zu betonen, wie er es noch 1962 vornimmt (vgl. Kap. 3.1.1). In der Rückbindung an die Tradition der darstellenden Künste hebt der Regisseur jetzt ausdrücklich auf die Darstellungspotenziale der inszenatorischen Mittel ab, die es voll auszuschöpfen gelte. Die Grundlagen seiner Konzeption entwickelt er unter anderem aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Guy Debords wirkungsmächtigem Essay La Société du Spectacle (1967). Der französische Autor, Künstler und Filmemacher beschreibt darin die Funktionslogik des Kapitalismus unter den Bedingungen, wie er sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrnimmt: Da der Austausch von Waren das ge samte gesellschaftliche Leben bestimmt, zirkulieren diese nur noch zum reinen Selbstzweck und werden in letzter Konsequenz zum bloßen Bild. Innerhalb dieses Systems ist keine authentische Wirklichkeitserfahrung mehr möglich; das Spektakel ist »l’affirmation de l’apparence et l’affirmation de toute vie humaine, c’est-à-dire sociale, comme simple apparence« (Debord 1992 [1967]: 6). Elio Petri betrachtet das Spektakel dagegen als konstitutiven Wesenszug des Menschen: Mit dem weitläufigen Begriff fasst er neben den künstlerischen Darbietungen im engeren Sinn auch Formen der Selbstinszenierung im alltäglichen Leben oder im Sinne Laings gesellschaftliche Rollenmuster. Petri lehnt Debords Haltung konsequenterweise als aristokratisch ab, weil dieser letztlich versuche, mit dem Spektakel eine Grundbedingung des menschlichen Miteinanders zu zerstören (vgl. Jeune Cinéma 1973: 22). Ihm selbst wird das Spektakel zur konzeptuellen Basis jenes Films, der einer oberflächlichen Vorstellung von Wirklichkeit entgegenarbeitet und eine reflektierte Wahrnehmung forciert. Damit richtet er sich primär gegen sämtliche Variationen eines als dokumentarisch verstandenen Realismus, nicht zuletzt aufgrund der Annahme, dass dieser sogar ein falsches Wirklichkeitsbild vermittle. Schließlich verberge er seinen inszenatorischen Charakter, sodass das Publikum trotz guter Intentionen getäuscht werde. Dies zeigt Petri beispielhaft an der Dokumentarästhetik des Cinéma vérité auf: Die entsprechenden Filme gewinnen ihren Authentizitätseffekt daraus, dass die Aufzeichnungsgeräte für das Publi-
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kum wahrnehmbar bleiben; seiner Ansicht nach verhalten sich die gefilmten Personen allerdings nicht natürlich, sobald sie eine Kamera auf sich gerichtet wissen (vgl. ebd.). Der realistisch-dokumentarische Ansatz entwickle sich vor allem in Zeiten politischer Aufruhr zu einem akuten Problem: Petri beobachtet um 1970, wie andere Filmemacher im Glauben an eine größere Breitenwirkung vermehrt auf solche Darstellungsformen zurückgreifen (vgl. AMNC ELPE84 [ca. 1970]: 3 f.). Demgegenüber verweist er emphatisch auf die Möglichkeiten der Inszenierung: »J’aime le spectacle, les décors, la lumière artificielle, les accessoires, les acteurs« ( Jeune Cinéma 1973: 20). Petri verwehrt sich hierbei einer alltagssprachlichen Auffassung des Spektakels, die auf ein breites Publikum zielende »Strategien der sinnlichen Überwältigung, des Erstaunens, der Schaulust und der affektiven Berührung« (Frisch et al. 2018: 12 f.) intendiert. Das von Petri konzipierte Kino soll zwar durchaus Schauwert generieren und die Zuschauer emotional beteiligen, allerdings müsse die Inszenierung als solche erkennbar bleiben: »Moi, j’aime mieux montrer mon jeu au public, étaler mes cartes et dire: ›Messieurs nous sommes au spectacle, ce spectacle est joué par des acteurs, et s’ils sont bons, eh bien, tant mieux.‹ Et bien jouer n’est pas représenter la vérité mais transmettre une signification de manière efficace et pénétrante« ( Jeune Cinéma 1973: 20). Die illusionsbrechende Selbstreferenzialität wird zur zwingenden Prämisse eines politischen Films, der die verdeutlichende Präsentation gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse mit einem Unterhaltungsanspruch verknüpft. Diese drei Kernprinzipien – Selbstbezug, Verdeutlichung, Unterhaltung bzw. Emotionalisierung – führt Petri nun im Darstellungsmodus des Grotesken zusammen. Als Referenzgröße benennt er zwar schon 1970 Brecht, mit dessen Ideen der Distanzierung, Verfremdung und Zuschaueraktivierung er sich im Zusammenhang mit La proprietà dann detaillierter auseinandersetzt. Charakteristischerweise behandelt er das Epische Theater hierbei aber eben als Ausformung des Grotesken, das er 1970 zunächst aufgrund einer größeren Breitenwirkung und einer besseren Verständlichkeit für seine Kinofilme relevant macht. Schon hier wird deutlich, dass er das Groteske auch als positiven Gegenbegriff zu einem unreflektierten Realismus behandelt (vgl. Fofi 1971: 45). Erst in den Interviews mit Gili und Mizrahi zu Todo modo 1976, also gegen Ende dieser Schaffensphase, erläutert Petri den von ihm wahrgenommenen Zusammenhang zwischen dem Epischen Theater und diesem Darstellungsmodus genauer. Er bezieht sich hierbei jeweils auf Brechts Journal vom Oktober 1940, in dem der Dramatiker beschreibt, wie sich der Realist im Unterschied zum Idealisten der Wirklichkeit zuwendet und »die Vorstellungen von ihr immerfort korrigiert« (Brecht 1994: 438; vgl. AMNC ELPE89 [1976]: Q; Petri 2007l [o. J.]: 168 f.). Bei seinen eigenen Filmen bezieht Petri diesen Vorgang der Korrektur nun auf
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4.1 Petri in der Dabette um das cinema politico
das Verfahren der karikierenden Überzeichnung, die das Offensichtliche infrage stellen, ›debanalisieren‹ soll. Dieses Modell sieht er in Grundzügen bereits im traditionellen Volkstheater verwirklicht, das damit seinerseits die künstlerische Stilrichtung des Expressionismus präfiguriert. Aus Petris Sicht setzt der Expressionismus nämlich nicht den persönlichen Ausdruck des Künstlers prioritär, sondern »souligne avec le sarcasme et la fantasie les personnages que l’on veut atteindre et les problèmes que l’on veut mettre en évidence« (Zalaffi 1975: 100). Die filmische Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit führt Petri zufolge zwangsläufig zur Groteske, wenn sie sich den Mitteln der Überzeichnung bedient: Das Verfahren mache nämlich nur jene dem Realen inhärenten komischen und tragischen Momente erkennbar, die die vom Alltag abgeschliffene Wahrnehmung nicht mehr erfassen könne. Im Gespräch mit Mizrahi zeigt er dies beispielhaft an der damaligen Lage Italiens auf: Das Komische beobachtet der Regisseur etwa im öffentlichen Gebaren der christdemokratischen Regierungspolitiker, die den Part des souveränen Machthabers lediglich mimen und somit gewissermaßen selbst komisches Spektakel bieten; das Tragische sieht er dagegen in der wirtschaftlichen und politischen Krise, die das Land Mitte der 1970er Jahre durchlebt (vgl. Petri 2007 [o. J.]: 169). Auch an solchen Ausführungen wird ersichtlich, dass der Filmemacher die emotionale Wirkung der Darstellungsweise als wesentlichen Faktor im angestrebten Erkenntnisvorgang betrachtet. Ein Kino, das diesen Vorgang anzustoßen beabsichtigt, darf demnach nicht ausschließlich den Intellekt ansprechen; Petri zielt hier insbesondere auf die avantgardistische Politik der Form. Beim Unterhaltungskino sieht er das wesentliche Problem darin, dass es seine Zuschauer mit ›falschen‹ Gefühlen versorge (vgl. AMNC ELPE319 [1967]: 5). Die dahinterstehende Problematik beschreibt der Regisseur 1971/72 in einem Interview mit Verweis auf die Rolle der Emotionen bei Wilhelm Reich genauer: Er macht hier deutlich, dass die Kinobesucher den alltäglichen Produktionszwängen zu entfliehen und durch Einfühlung in fiktive Existenzen auf der Leinwand versuchen würden, ihre Lebensenergie zurückzugewinnen. Beim konformistischen Konsumkino gelange das Publikum aber eben nur pseudohaft in das genitale Stadium, sodass in Wirklichkeit das Eros weiterhin unterdrückt werde. Da für Petri im Sinne Reichs der geistige eng mit dem emotionalen Reifeprozess verflochten ist, muss ein politischer Film dem Publikum gemäß dieser psychoanalytisch geprägten Sichtweise unbedingt ›richtige‹ Gefühle bieten (vgl. AMNC ELPE87 [1971/72]: A–D, G–I). Konkret bedeutet dies für den Regisseur, dass ein solcher Film die Einfühlung in die vorgeführten, zu verändernden Situationen zu befördern hat. Petri betont, dass diese selbst eine emotionale Dimension besitzen. So müssten Filmemacher
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
etwa das vom Produktionszwang verursachte Leid des Einzelnen unbedingt einbringen, wenn den Zuschauern ihre prekäre Lebenslage einsichtig gemacht werden solle: Gerade weil die Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse bestimmte Gefühle hervorrufen, dürften diese in der filmischen Darstellung nicht ausgeblendet werden (vgl. ebd.: D). Ebenso weist Petri darauf hin, dass die Komik im Film nur die Lächerlichkeit hervorkehre, die etwa den politischen Obrigkeiten ohnehin zu eigen ist. Eine Überzeichnung folgt hier gar einem emanzipatorischen Impetus: Das Publikum lernt dadurch, über die Regierungspolitiker zu lachen und so deren Autorität zu hinterfragen. Trotz solcher Emotionalisierungsabsichten strebt der Regisseur eine reflektierende Zuschauerhaltung an. Besonders in seinen Ausführungen zur Funktion des extradiegetischen Monologs in La proprietà lässt er deutlich werden, dass er Momente der Distanzierung als unbedingt notwendig erachtet; es dürfe sich allerdings zu keinem Zeitpunkt ein vollständiger Bruch mit dem Publikum einstellen. Auch hierin wendet er sich gegen eine allzu bürgerlich-asketische Auslegung der Brecht’schen Ideen, die er der linksgerichteten Filmkritik vorwirft: Petri versteht unter Distanzierung schlicht »un mécanisme de prise de conscience de la thématique et d’analyse du rapport du public avec cette thématique«, der während der Aufführung wirksam werden soll (Ballérini et al. 1974: 91). Unter diesem Gesichtspunkt scheint das Groteske für ihn ebenfalls mit den Vorstellungen Brechts vereinbar zu sein, schließlich stehen sich das Komische und das Tragische in ihren emotionalen Wirkungspotenzialen entgegen. Die Zuschauer werden in diesem Sinn nicht nur dadurch geistig aktiviert, dass eine überzeichnend plakative, selbstreferenzielle Darstellung ihre Annahmen über die Welt infrage stellt: Der provozierte Konflikt wird durch das Changieren zwischen sich widerstrebenden Gefühlslagen verstärkt, sodass sich die Kinobesucher nicht völlig ihren Emotionen hingeben können. Diese Konzeption eines politischen Films, die in ihren selbstreferenziellen, verdeutlichenden und emotionalen Komponenten in eine volkskulturelle Tradition gestellt wird, pointiert Petri 1975 mit einem recht anschaulichen Vergleich. Er sieht sich in seiner Arbeit einem Schreiner ähnlich, der statt vier- nur dreibeinige Stühle herstellt: Solche bewusst mangelhaften Handwerksprodukte lassen kein vollständig wohliges Sitzgefühl aufkommen, weil sie die Sitzenden permanent zum Ausbalancieren zwingen und diese dadurch aktiv halten (vgl. Jego 1975: 22; Zalaffi 1975: 100).
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4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
4.2
Krisen des Blicks: A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
Die beiden Spielfilme, die Elio Petri nach La decima vittima dreht, markieren innerhalb seines filmpraktischen Werks die Übergangsphase zwischen der Anfangszeit als Spielfilmregisseur und der Ausbildung des ›politisch-popularen‹ Kinos. In biografisch-produktionsgeschichtlich argumentierenden Beiträgen wird dieser Zeitabschnitt als Neustart behandelt, ermöglicht durch die Zusammenarbeit mit kleineren Produktionsfirmen. Die Verfilmung von Leonardo Sciascias Erfolgsroman A ciascuno il suo (1966) gehört etwa zu den ersten Projekten der Cemo Film, die sich anfangs im jungen Autoren- und avancierten Genrekino verdient macht. Mit Alberto Grimaldis PEA, die maßgeblich zur Ausbildung des Italowesterns beiträgt, zeichnet dagegen ein etabliertes Unternehmen federführend für die italienisch-französische Co-Produktion Un tranquillo posto di campagna verantwortlich. Die PEA gibt Petri die Möglichkeit, die 1962 ausgearbeitete Geschichte eines ausgebeuteten Künstlers zu verfilmen, die er zusammen mit Tonino Guerra aus der Episode des Kunsthändlers aus I giorni contati entwickelt hatte.58 Stilistisch mögen sich die Filme nun deutlich unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie auf eine akute Krise der Intellektuellen hinweisen: Wie schon in Il maestro di Vigevano verlieren diese den Bezug zur Wirklichkeit. So kommt in A ciascuno il suo der Gymnasiallehrer Paolo Laurana (Gian Maria Volonté) zwar den kriminellen Machenschaften eines konservativ-bürgerlichen Politikers auf die Schliche; doch stellt sich heraus, dass diese nur ihm bis dato unbekannt sind. Un tranquillo posto di campagna präsentiert mit Leonardo Ferri (Franco Nero) dann eine Künstlerfigur, die auf der zwanghaften Suche nach der reinen, nur sich selbst verpflichteten Kunst allmählich dem Wahn verfällt. Auch in seiner künstlerischen Arbeit schafft es der Maler daher nicht mehr, eine sinnhafte Beziehung zur Welt herzustellen: Er versucht sogar, verschiedene seiner Mitmenschen im Bild ›festzuhalten‹, indem er sie auf die Leinwand bindet und mit Sprühfarbe ihre Konturen nachzieht. Seine Werke werden zum Ausdruck einer »deeply human crises«, wie eine Betrachterin im Film feststellt. Diese beiden Regiearbeiten entstehen in ebenjenem Zeitraum, in dem sich unter den Einfluss der Protestbewegungen politisch motivierte Variationen der modernen Filmästhetik ausbilden: Das Kino fungiert hier nicht länger als Aus58
Einem Pressebericht zufolge sollten Marcello Mastroianni und Nadja Tiller das Hauptcast bilden (vgl. Naldi 1962). Im Treatment von 1962 trägt die Hauptfigur, ein abstrakter Maler, tatsächlich den Namen Marcello (vgl. AMNC ELPE18 [o. J.]).
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drucksmedium eines schöpferischen Subjekts, sondern als kritisches Reflexionsmedium, das das Alltagsverständnis von ›Wirklichkeit‹ problematisiert. Canova konstatiert nun gerade beim italienischen Kino eine ›Krise des Blicks‹. Mithin scheint der Bezug zur gesellschaftlichen Realität gerade dort, wo er filmgeschichtlich ja größte Bedeutung besitzt, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nicht mehr hergestellt werden zu können. Diese Unfähigkeit zeige sich unter anderem an den spezifischen Gestaltungsweisen der Filme. Avancierte und modernistische Stilmittel geben etwa einer neuen Euphorie für das Sichtbare Ausdruck, die sich gar zum Voyeurismus steigere: Es kommen auf übermäßige Weise visuelle Verfahren zum Einsatz, die Vorgänge des Schauens inszenieren und betonen. Canova betrachtet dies als Anzeichen dafür, dass der soziale Raum, den der Neorealismus noch als transparent wahrgenommen hatte, seine Durchsichtigkeit verliere. Anstatt die gesellschaftlich bedingten Grenzen der Wahrnehmung anzugehen, stimuliere das Kino nur noch die Schaulust des Publikums (vgl. Canova 2002: 21–24). Schon beim Kinostart der beiden Filme von Petri klingen in den Rezensionen ähnliche Diagnosen an. Hierbei fällt A ciascuno il suo aufgrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit kriminellen Kräften und der realistischen Darstellungsweise noch durchaus positiv auf, auch in den beiden deutschen Staaten: So lobt Thiel (1967) in Filmkritik die aufklärerischen Qualitäten des Films, während Gehler (1968) in der ostdeutschen Film 68 dann die »ungewöhnliche polemische Konsequenz, mit der hier die Verfilzung Macht–Verbrechen, der unselige Pakt Klerus–Bourgeoisie–Mafiosi angegangen wird« (3) feiert. In Italien lässt Petris Film, oftmals als moralische Anklage gegen die Mafia verstanden, bei vielen die Hoffnung auf einen Umbruch im heimischen Kino aufkeimen (vgl. Savioli 1967; Solmi 1967; Bianchi 1967; l. p. 1967; Argentieri 1967); Lino Micciché (1967) spricht gar von einer neuen »bruciante verità realistica«. Die politisierten, an der filmischen Form interessierten Fachzeitschriften be handeln A ciascuno il suo dagegen als einschlägiges Exempel für die Krise des italienischen Films, insbesondere aufgrund der als maßlos empfundenen Verwendung des Zooms. In der gekonnten, aber nur effektheischenden Machart von Un tranquillo posto di campagna sieht Edoardo Bruno (1968) dann nur noch »il più indegno esempio di kitsch«, wobei der Film auch sonst kaum positive Resonanz erhält. Ähnlich wie die NZZ, die Petri »unkritische[] Virtuosität« (xb 1969) bescheinigt, merkt etwa Die Welt an: »Sex, Verbrechen, Pathos, Gesellschaftskritik, Happening, Frustration – dies alles ist wild für den Verkauf gemischt, auf Knallbasis« (hdh 1969). Nur die kommunistische L’Unità honoriert, dass der Film nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers frage (vgl. Savioli 1968).
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4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
Petris Kritiker verkennen allerdings, dass A ciascuno il suo und Un tranquillo posto di campagna die ›Krise des Blicks‹ ihrerseits bereits reflektieren. Allein die oft bemängelten Modalitäten der audiovisuellen Gestaltung verweisen auf ein zunehmend problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit, das auf der Handlungsebene wiederum an den Intellektuellenfiguren manifest wird. Diese Krise stellt sich sowohl beim Gymnasiallehrer als auch beim Maler als Folgeerscheinung sexueller Verdrängung und Unterdrückung heraus. Der Film von 1968 bringt diese Problematik seinem Kunstthema entsprechend mit dem Komplex ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Produktion in Verbindung. Un tranquillo posto di campagna erweitert so die kritische Auseinandersetzung mit dem Stand der Intellektuellen um eine Metareflexion über die Entwicklung künstlerischer und medialer Formen. Da in diesem Zuge die in Petris früheren Regiearbeiten angedeuteten Zusammenhänge zwischen Ästhetik-, Medien- und Gesellschaftsgeschichte umfassender ausgeleuchtet werden, besitzt diese Regiearbeit einen herausragenden Stellenwert innerhalb seines Gesamtwerks. Dabei stellt nun in Un tranquillo posto di campagna der Film als solcher im Angesicht einer neokapitalistisch organisierten Mediengesellschaft seine Erkenntnisfunktion selbst infrage.
4.2.1 Krisenhafte Intellektuellenfiguren
Die psychologisierenden Darstellungen des Intellektuellen greifen zwei Merkmale auf, die bereits für die Figurenkonzeption von Mombelli in Il maestro di Vigevano prägend sind: die Orientierung am überholten Ideal geistiger Selbsterfüllung und die fehlende Einsicht in die eigene Zwangs- bzw. Notlage. Während sich diese Eigenschaften bei Mombelli in einem spezifischen Habitus niederschlagen, der im Grunde nur der sozialen Distinktion dient, gibt das Gelehrtentum des Protagonisten von A ciascuno il suo einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur Ausdruck: Da er sich im Unterschied zu Mombelli tatsächlich nur auf das Lesen und Schreiben kapriziert, bleibt er – wie er selbst betont – »astratto«. Der Kriminalplot des Films kehrt diese Weltabgewandtheit des Intellektuellen durch eine ungewöhnliche Strategie der Informationsvermittlung hervor. Die Polizei tritt nur zu Beginn des Ermittlungsprozesses auf, sodass die Hintergründe der Morde an dem Apotheker Manno und dem Arzt Roscio sukzessive über die eigenmächtigen Nachforschungen von Laurana offengelegt werden: Es deutet sich ein korruptes Netzwerk aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Mafia an, in dessen Zentrum der Auftraggeber der Verbrechen, der katholische Parla-
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mentsabgeordnete Rosello, steht. Dabei wird deutlich, dass außer der Ermittlerfigur jeder in der sizilianischen Kleinstadt über den Politiker Bescheid weiß. Bezeichnenderweise ist es der dem Weltlichen besonders zugetane Ortsgeistliche, der Laurana das vorherrschende Machtsystem enthüllt und kritisch anmerkt: »Il tempo dei poeti con la testa fra le nuvole è finito.« Die Kluft zwischen der Welt der Bücher und der Wirklichkeit pointiert in der Romanverfilmung die Anspielung auf einen weiteren Text Sciascias, Morte dell’inquisitore (1964): Dessen historisch belegter Protagonist, Fra Diego La Matina, wird wegen seiner Forderung nach Gerechtigkeit während der Inquisition verbrannt; der gerechte Einzelne unterliegt dort dem übermächtigen Unrechtsystem. Laurana, dessen Figur sich in La Matina spiegelt, weist in einer Schulprüfung selbst auf die Aussageabsicht dieses Romans hin. Allerdings verkennt er die Ähnlichkeit zu seiner Lage und deutet damit zugleich das eigene Schicksal voraus. Der Gelehrte kann die Schuldigen für die Morde an seinen Freunden nicht zur Rechenschaft ziehen, weil er die deutlich vor ihm liegenden Zusammenhänge und damit auch die eigene Gefahrensituation nicht erfassen kann; dies bezahlt er schlussendlich mit seinem Leben. Zur Ursache dafür, dass der ›gute‹ Ermittler scheitert und der ›böse‹ Verbrecher triumphiert, wird Lauranas anomales Verhältnis zum weiblichen Ge schlecht. Schließlich verfällt er blind der attraktiven Luisa Roscio, der Cousine und Geliebten Rosellos, die als femme fatale Laurana seinen Häschern ausliefert. Dieser lebt noch bei seiner Mutter, welcher er ein pubertäres Verhalten entgegenbringt. In seinen Beziehungen zu Frauen manifestiert sich demnach ein gewisser Grad an Unreife: Beschäftigt sich der Intellektuelle mit geistig höheren Dingen, so befindet er sich in Sachen Erotik auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe. Dem bürgerlich-konservativen Wertesystem entsprechend blendet er das Körperliche aus. Dabei finden sich im Film verschiedene Hinweise auf die Infantilität des Protagonisten: etwa die heimliche Comiclektüre im Zug oder das Plakat einer körperlich aufreizenden Marilyn Monroe, das in seinem Zimmer neben Porträts von Proust und Gramsci hängt. Laurana, seines Zeichens ehemaliger Kommunist, kann so auch deswegen nicht zur Veränderung der vorherrschenden Ordnung beitragen, weil er sexuell rückständig ist; er scheint der Gegenwart nicht ›gewachsen‹ zu sein. In A ciascuno il suo wird so angedeutet, dass Intellektualismus in letzter Konsequenz zu geistiger Schwäche führt. In Un tranquillo posto di campagna hängt die Triebunterdrückung stattdessen mit repressiven Arbeitsverhältnissen zusammen: Hier verkommt künstlerisches Schaffen zur Warenproduktion. Wie in I giorni contati wird so der Unterschied zwischen dem einfachen Arbeiter und dem elitären Künstler eingeebnet. Charakteristischerweise krankt der Maler Leonardo dabei am Wider-
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4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
spruch zwischen den Anforderungen des Marktes und seiner Idealvorstellung schöpferischer Autonomie. Das Streben nach dem nicht mehr umsetzbaren Konzept einer von allen Zwängen befreiten Kunst steigert sich ins Manische, sodass der Protagonist am Filmende tatsächlich in eine Anstalt eingeliefert wird. Leonardos Motivation wird dezidiert als erotisch ausgewiesen: In diesem Film ist der Intellektuelle also vor allem darauf bedacht, seine Sexualität zu befreien. Allerdings versucht er dies im Wesentlichen über die ästhetische Produktion als sexueller Ersatzhandlung vorzunehmen. So wird gerade am künstlerischen Schaffen einsichtig, dass in der bestehenden Ordnung alle menschlichen Tätigkeiten der kapitalistischen Repression unterliegen. Die gefängnisartige Psychiatrie, in die der Maler eingewiesen wird, spiegelt modellhaft die Funktionsprinzipien dieses Gesellschaftssystems wider: Die Lebensenergie des Unterdrückten wird in entfremdete Arbeit umgelenkt, sodass Leonardo quasiindustriell gleichförmige Bilder produziert. Zugelassen werden nur erotische Pseudoerfahrungen, in diesem Fall durch pornografische Hefte, die der Maler als Belohnung erhält. Durch eine solche Darstellung der künstlerischen Arbeit untergräbt der Film letztlich die Postulate Herbert Marcuses, der noch davon ausgeht, dass die Libido in der ästhetischen Praxis freigesetzt werden kann. In Leonardos Vision einer zwangsfreien Gesellschaft, die sich in der ästhetischen Betätigung präfiguriert, wird der Bezug zu Marcuse offenbar: Der Maler äußert den Wunsch, dass alle Menschen mit kostenlosen Malutensilien versorgt werden, um sich künstlerisch betätigen zu können. Ähnlich wie Wilhelm Reich macht Marcuse die Befreiung des Lustprinzips zur Voraussetzung einer repressionslosen Ordnung. Bei ihm unterliegt die Organisation des menschlichen Lebens aber nicht gänzlich jenem Realitätsprinzip, das zur Produktivität zwingt und die erotische Befriedigung aufschiebt: In der Fantasie erkennt Marcuse die einzige nicht davon unterworfene Denkform (vgl. Marcuse 1979 [1955/1965]: 21). In diesem Kontext schreibt er nun der ästhetischen Praxis eine entscheidende Rolle zu. Marcuse zufolge bekommt die Fantasie hier nämlich den Raum, um die Vernunft außer Kraft zu setzen und sich eine eigene, von der Realität unabhängige Ordnung zu schaffen. Dieser Vorgang ist der Natur des Ästhetischen entsprechend an die Sinne gebunden, sodass Marcuse daraus eine »Verhaftung der Kunst an das Lustprinzip« ableitet und der Kunst »erotische Wurzeln« (ebd.: 160) zuspricht. In Un tranquillo posto di campagna ist künstlerisches Schaffen in diesem Sinn mit dem Geschlechtlichen konnotiert. Leonardo zielt mithin auf ein quasiorgastisches Erleben, um sich von den kapitalistischen Zwängen zu lösen. Diese Zusammenhänge verdeutlicht im Film die Vorrichtung eines Venezianischen Spiegels: Die verstorbene Wanda, deren Geist Leonardo in der abgeschiedenen
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Villa, dem ›ruhigen Ort‹, nachjagt, hatte sich dadurch beim Geschlechtsverkehr von ihrer lüsternen Mutter beobachten lassen. Aufgrund seiner prunkvollen Rahmung mutet der Spiegel wie ein Gemälde an, sodass hier Voyeurismus mit ästhetischem Schauen gleichgesetzt wird; demnach werden der Betrachtung von Kunst libidinöse Qualitäten zugewiesen. Gleiches gilt eben für die Herstellung eines Werks, das sich in einer Szene als onanistisches Spiel des Künstlers andeutet: In einer wahnhaften Imagination legt sich Leonardo vor dem Spiegel auf Wanda, um mit ihr den Sexualakt zu vollziehen; hierbei verwandelt sich das Mädchen schließlich in den Maler selbst. Der Konflikt zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip bestimmt die Handlung von Un tranquillo posto di campagna. So steht Leonardo zwischen Wanda und Flavia (Vanessa Redgrave), die sich ihrerseits opponieren: Die beiden Frauenfiguren erscheinen hierbei als Personifikationen dieser beiden Prinzipien, zu denen sie maßgeblich von Leonardos Vorstellung gemacht werden. Flavia repräsentiert in dieser Konstellation den kapitalistischen Zwang, dem der Kunstschaffende ausgesetzt ist. Dementsprechend verschränkt sich in ihr die wirtschaftliche mit einer sexuellen Dimension: In ihrer Doppelfunktion als Managerin und Geliebte beutet sie Leonardo aus und konditioniert ihn; sie kümmert sich um die Geschäfte des Kreativen, wobei sie ihn permanent zur Produktion von Gemälden drängt. Daraus entsteht letztlich eine zweifache Mangelsituation für Leonardo, da Flavia ihn aufgrund ihrer Profitinteressen nicht nur unangemessenen entlohnt, sondern auch seine sexuelle Befriedigung aufschiebt. Wanda wird in seiner Imagination aufgrund ihres übermäßigen Geschlechtstriebs dagegen zur Verkörperung der freiheitlichen Lustbefriedigung. Sie be gegnet Leonardo bezeichnenderweise zunächst in Form eines Porträtgemäldes, als er erstmals durch die verlassene Villa streift; so wird mit der Nymphomanin das Ideal einer zwangsbefreiten Kunst verknüpft, die im Sinne Marcuses eine ungehinderte Entfaltung der Libido zulässt. Wanda markiert diese Kunstvorstellung allerdings dezidiert als ›tot‹: Sie war schließlich schon 1944 durch den Gutsverwalter Attilio aus dem Diesseits eliminiert worden, indem er sie aus Eifersucht erschoss. Auch die Darstellung der Lagunenstadt Venedig, der die attraktive Adelige entstammt, verweist auf den Tod des Kunstschönen. Denn im Unterschied zum modernen Mailand, wo Leonardo seinen Arbeits- und Wohnsitz hat, präsentiert sich die ehemals prächtige Handelsmetropole als leblos und im Verfall begriffen. Die Ausbeutung der Kunst wird als zentrales Thema schon in der surrealistischen Anfangssequenz etabliert: Leonardo sieht sich hier zunächst auf einen Stuhl gefesselt, umgeben von elektrischen Konsumartikeln; nachdem er sich befreien kann, wird er beim Versuch, sich Flavias zu entledigen, von dieser auf
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4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
sadistische Weise mit einem Messer getötet. Seine Figur referiert hier auf Prometheus, jener Gestalt aus der griechischen Mythologie, die die Genieästhetik im späten 18. Jahrhundert zum Leitbild des Künstler-Schöpfers erhebt. Leonardo tritt als moderne Variation auf, die als solche amerikanisiert wird: In seinem Atelier, das mit einem Coca-Cola-Automaten und einem Basketballkorb ausgestattet ist, trägt er Jeans, Sweatshirt und Converse Chucks; zudem liest er ausschließlich Bücher US-amerikanischer Autoren wie Saul Bellow oder Henry Miller. Auch seine Kunst orientiert sich an Vorbildern aus Übersee: Während seine großformatigen Gemälde an den abstrakten Surrealismus erinnern, bemalt er in der Villa verschiedene Fotos von Wanda im leitmotivischen Rot und vergrößert sie im Stil der Pop Art.59 Außerhalb des Ateliers trägt Leonardo zudem eine ästhetizistische Lebenshaltung zur Schau. Designobjekte wie Cielo, mare terra (1964) und Poltrona a mano armata (1965) sind nicht nur als Hinweise auf die Rolle des Unbewussten im Film, wie De Sanctis (2015: 83) meint, zu verstehen. Sie zeigen auch eine dekadente Überfeinerung an: Der Protagonist, der sich außerdem immer wieder der Lektüre hingibt, stattet seine Wohnung mit modernistischen Möbeln und Kunstwerken aus. Imaginativ überformt er sogar die Wirklichkeit mit historischen Gemälden, die schon in der Titelsequenz zu sehen sind; Wandas Mutter wird für ihn etwa zu René Magrittes Perspective: Mme Récamier de David (1949; Abb. 19). Dies geht schließlich so weit, dass Leonardo die Natur nach seinem Willen gestaltet: Er lässt die Bäume vor der Villa nach dem Vorbild von Piet Mondrians Avond, de rode boom anstreichen und nimmt dabei in Kauf, dass diese absterben (Abb. 20). Leonardo strebt demnach das Lebensmodell des l’art pour l’art an. Das Sujet des ästhetizistischen Realitätsverlusts erinnert tatsächlich an JorisKarl Huysmans’ Roman À rebours (1884), den Petri später explizit als Inspirationsquelle für den Film angibt (vgl. Ballérini et al. 1974: 59). Wie in der »›Bibel‹ der dekadenten Literatur« (Landgraf 2018: 133) geht in Un tranquillo posto di campagna dem inneren Verfall des Protagonisten die Isolation von der als bedrohlich empfundenen Zivilisation voraus. Auch hier wird ein Stadt-Land-Kontrast etabliert, bei dem nun Mailand als Ort entfremdeter Arbeit, des Konsums und des gesellschaftlichen Fortschritts fungiert. Ähnlich wie Huysmans’ Protagonist
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Die Gemälde im Film stammen von dem US-amerikanischen Künstler Jim Dine, der in der Vorbereitung Franco Nero seine Arbeitstechniken beigebracht hatte. Für Petris diesbezügliche Kommentare vgl. Ballérini et al. 1974: 62. Ausschnitte des 16-mm-Films, den der Regisseur während der Übungen dreht, sind im Bonusmaterial des Dokumentarfilms von Bacci, Guarnieri und Leone (2005) enthalten (Bonusmaterial Nr. 3).
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Abb. 19 und 20: Un tranquillo posto di campagna
Des Esseintes versucht Leonardo, sich dem durch den Rückzug in einen abgeschiedenen Gegenraum zu entziehen. Die Villa im venetischen Hinterland löst allerdings die Hoffnung auf künstlerische und damit erotische Befreiung nicht ein, ja wartet sogar mit Schrecken und Verderb auf. Schließlich will Leonardo das ›Tote‹ in die Gegenwart holen, während Flavia als Inbild kapitalistischer Unterdrückung getötet, mithin aus dem repressionsfreien Hort eliminiert werden soll. Seine Flucht in eine gegenwartsfremde Wirklichkeit erweist sich daher als bloß nostalgisch: Die freie, erotisch wirksame Kunst ist nicht mehr existent; ihre geisterhafte Verkörperung stellt sich gar als Phantasma heraus – Wanda ist schließlich nur ein Hirngespinst.
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Der zunehmende Wahn des Künstlers vermittelt sich über Motive und Erzählstrategien des Geisterfilms, konkret des Subgenres haunted house. Leonardos Aufenthalt in der Villa ist von unheimlichen Vorgängen geprägt, die der Maler aufgrund der Geschichten, die ihm die Bewohner des nahegelegenen Dorfes über Wanda erzählen, mit der verstorbenen Hausherrin in Zusammenhang bringt: Dies beginnt schon damit, dass er sich auf unerklärliche Weise von dem verlassenen Gebäude angezogen fühlt, während seine Gemälde dort später wie von Geisterhand mit einer Schere zerstört werden; Flavia stoßen in dem Haus wiederholt mysteriöse Dinge zu, durch die sie in Lebensgefahr gerät. Bei einer Séance scheint Wanda dann tatsächlich Kontakt mit den Lebenden aufzunehmen. Nach Todorov (2013 [1970]) sind die übernatürlich anmutenden Ereignisse um Wanda nicht als wunderbar und letztlich auch nicht als fantastisch zu werten.60 Die Unsicherheit über ihren Realitätsstatus wird spätestens durch jene vermeintlich kathartische, splatterhafte Szene aufgelöst, in der Leonardo Flavia in Wandas Auftrag tötet und mit einem Fleischermesser zerstückelt. Hierbei handelt es sich nur um eine wahnhafte Imagination, die sich ohne markierten Übergang aus der Szene der Séance entwickelt; am Ende ist es ja Flavia, die ihren Geliebten in die Anstalt einliefern und dort domestizieren lässt. Die bis dahin unerklärlichen Vorgänge entpuppen sich demnach als Produkt einer krankhaften Psyche. Nicht die Grenze zwischen Dies- und Jenseits wird instabil, sondern diejenige zwischen den Bewusstseinszuständen der Hauptfigur: Die nervöse, hypersensible Wahrnehmung des Protagonisten macht schon vorher einsichtig, wie fragil diese tatsächlich ist. In Form von Assoziationen, Halluzinationen und Träumen überlagert die Innenwelt wiederholt die diegetische Wirklichkeit, bis die Sphären aufgrund des sich verschärfenden Konflikts zwischen kapitalistischem Leistungsdruck und artistischem Autonomieanspruch ununterscheidbar ineinanderfließen.
4.2.2 Epistemologische und ästhetische Krisen
A ciascuno il suo kehrt das problematische Verhältnis des Intellektuellen zur Realität auf andere Weise hervor. Der Film bietet die diegetische Welt und die Figuren auf eine betont realistische Weise dar: durch den Dreh an Originalschauplätzen im sizilianischen Cefalù, einer natürlichen Farbgebung und einer für Pe tris Filme eher untypischen verisimilaren Schauspielweise. Dieser Realismus
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Für eine filmwissenschaftliche Adaption von Todorovs Modellierung vgl. Pinkas 2013: 36–83.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
wird allerdings durch den markanten Kamerastil relativiert. Neben zahlreichen Detail- und Großaufnahmen ist dieser vom ausgiebigen Gebrauch des Teleobjektivs und vor allem des Zooms geprägt, den die politisierte Fachkritik seinerzeit zum Anlass nimmt, um gegen Petri zu polemisieren. Der bereits benannte Ponzi (1967) lehnt A ciascuno il suo etwa ab, weil der sich aufklärerisch gebende Filmemacher durch das permanente Hinein- und Herauszoomen die Zuschauer zum Nachvollzug seiner Gedanken zwinge, hierbei letztlich aber nur Verwirrung stifte. Ähnlich merkt Enno Patalas in deutlich kritischem Ton an: Ununterbrochen wechselt der Blickpunkt innerhalb von Szenen und Einstellungen, als gäbe es andauernd und überall Interessantes, Verdächtiges, Befremdliches zu beobachten, kommen Nacken, Stirnen, Hüte ins Bild, spät [sic!] das Kameraauge durch fast bildfüllende Arrangements, die unscharf den Vordergrund bilden, auf einen versteckten Vorgang in der Bildtiefe, irrt es herum auf der Suche nach Indizien. Das Verfahren parodiert sich schließlich selbst, wenn zum Schluß einer Szene eine unschuldige Teetasse oder ein Detail einer Schranktür von dem nimmermüden Objektiv herangerissen und leinwandfüllend zurschaugestellt wird. (Patalas / Ungereit 1967: 631)
Solche optischen Verfahren geben also im Widerspruch zu klassischen filmischen Erzählkonventionen oftmals solchen Dingen Relevanz, die sich als vollkommen irrelevant herausstellen. Die fokussierten Elemente lassen keine Rückschlüsse auf die Vorgänge und Zusammenhänge zu, die im Film enträtselt werden sollen. In einer Szene zoomt die Kamera sogar nahezu demonstrativ auf eine am Türstock sitzende Fliege. Doch gerade dadurch, dass solche Techniken der Aufmerksamkeitslenkung für die Narration dysfunktional bleiben, verweisen sie auf das eigentliche Hauptthema des Films: die Wahrnehmungs- und Erkenntnisproblematik, die anhand des Intellektuellen verhandelt wird. So wie der Film durch zahlreiche Details die diegetische Welt auf betont bruchstückhafte Weise präsentiert, so kann Laurana als selbsternannter Ermittler zwar die einzelnen Fakten wahrnehmen; er ist aber unfähig, ihre Verbindungen zu erkennen und die Intrige aufzudecken. A ciascuno il suo hebt in diesem Sinn wiederholt den Vorgang des Sehens an sich hervor: So scheint die Kamera programmatisch den Blick des innerfilmischen Filmapparats zu übernehmen, mit dem die Polizei das Begräbnis der ersten beiden Mordopfer verfolgt und aufzeichnet (Abb. 21); immer wieder deuten die benannten Kameraverfahren dann solche Beobachtungsverhältnisse an, denen jedoch keine innerdiegetischen Positionen zugeordnet werden können (Abb. 22). Auch in Lauranas begehrlichen Blicken auf Luisa, die durch point-of-view-shots simuliert werden, zeigt sich das krisenhafte Verhältnis von Sehen und Erkennen:
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4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
Der Intellektuelle sieht nur die attraktive Oberfläche ihrer entblößten Beine, kann die schöne Fassade aber nicht ›durchblicken‹ und die wahren Absichten dieser doppelgesichtigen Frauenfigur ausmachen. Es ist bezeichnenderweise der erblindete Augenarzt Roscio, der Vater eines der beiden Mordopfer, der ein starkes Misstrauen gegen seine Schwiegertochter hegt. In Un tranquillo posto di campagna prägt sich stattdessen ein surrealistischer Stil aus: Das Ineinanderfließen von Leonardos Bewusstseinszuständen wird mithilfe moderner Darstellungsmittel inszeniert. In den entsprechenden Einstellungen und Szenen folgt die Gestaltung daher eher der Logik pathologisch
Abb. 21 und 22: A ciascuno il suo
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zwanghafter Assoziation statt den Kohärenzvorgaben, die im klassischen Erzählkino für die Darbietung kausallogischer Handlungszusammenhänge gültig sind. Besonders eindrücklich zeigt sich dies bei Leonardos erster Nacht in der Villa, als sich intensive Sinneseindrücke konfus aneinanderreihen und überlagern, um die mentale Überforderung anschaulich zu machen: Detailansichten von Insekten, reißende Kameraschwenks und schnell montierte Bilder des durcheinanderfliegenden Atelierinventars werden begleitet von einem Gewirr dissonanter Streicher-, Bläser- und Klavierklänge, hektischen Schritten und dem Lärm der fallenden Gegenstände. Dabei macht schon in diesem Film die Großaufnahme, die in Petris späteren Arbeiten zu einem tragenden Darstellungsmittel wird, mentale Vorgänge beobachtbar: In Franco Neros starren Blicken und seiner verzerrten Mimik zeigt sich der aufkeimende Wahn des unterdrückten Künstlers. Die audiovisuelle Umsetzung von Un tranquillo posto di campagna erweist sich demnach als sehr avanciert, weswegen Barrattoni dieses Werk einer Gruppe von Filmen zuspricht, in denen sich um 1968 eine neoavantgardistische Poetik manifestiert (vgl. Barattoni 2012: 58). Le Monde rückt diese Regiearbeit von Petri schon damals in die Nähe zu Godard, Resnais ebenso wie dem Undergroundfilm (vgl. Marcorelles 1969). Nun sind nicht alle Gestaltungstechniken der Darstellung von Leonardos krankhafter Innenwelt verpflichtet: In verschiedenen Einstellungen erschöpft sich die mise en scène durchaus nur in der Stilisierung ihrer Mittel, während verschiedene modernistische Verfahren im be tonten Bruch mit den klassischen Gestaltungskonventionen wiederholt die technisch-materielle Seite des Mediums wahrnehmbar werden lassen. Besonders auffällig geschieht dies etwa in der ersten Atelierszene, in der Leonardo bei der künstlerischen Arbeit zu sehen ist. Der Film führt hier die Arbeitstechniken des modernen Malers eindrücklich vor und macht zugleich seine eigenen Gestaltungsmittel sichtbar: durch falsch gesetzte Schnitte, Achsensprünge, Handkamerabewegungen und sogar den sichtbaren Wechsel von Kameraobjektiven unterschiedlicher Brennweite. Diese offenkundige Selbstthematisierung ist in Petris sechstem Spielfilm mit der Frage danach verbunden, welche politische Bedeutung das Medium Film Ende der 1960er Jahre besitzt: Un tranquillo posto di campagna nimmt in diesem Zusammenhang konkret Walter Benjamins Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in den Blick, den sich Leonardo zu Gemüte führt.61 Ästhetik und Kunst werden neben der psychologischen
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Im Film ist die italienische Erstausgabe des Aufsatzes zu sehen, die Einaudi 1966 auf den Markt bringt.
4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
dementsprechend auch einer mediengeschichtlichen Betrachtung unterzogen. Petris Film schließt hier an den zeitgenössischen Debattenzusammenhang an, der vor allem in der Bundesrepublik durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk-Aufsatz entsteht: Im Umfeld der Protestbewegungen werden Benjamins Ausführungen progressiven Theoretikern und Gruppierungen zur Grundlage, um die Politisierung des Ästhetischen gegen die bürgerlich-hochkulturelle Kunstauffassung der Kritischen Theorie durchzusetzen (vgl. Küpper / Skandries 2011: 27). In Italien wird der Text seinerzeit dagegen kaum rezipiert (vgl. Brodersen 1982: 151). Gerade den politisch pragmatischen Ansatz scheint Leonardo abzulehnen. In der benannten Atelierszene schaut er sich auf der Suche nach Inspiration eine Reihe von Diapositiven an: Hierbei stehen explizite, teils surrealistische Ansichten weiblicher Nacktheit ausgemergelten Körpern afrikanischer Kinder sowie Gewaltszenen des Vietnamkriegs, der Niederschlagung des Prager Frühlings und ziviler Ausschreitungen gegenüber. Statt sich der Wirklichkeit der späten 1960er Jahre anzunehmen, sorgt sich der Maler letztendlich primär um die eigene Lustbefriedigung. Eine solch unpolitische Kunst verschafft unterschiedslos jedem Vergnügen: So deutet es die nymphomanische Wanda an, die sogar mit einem Soldaten der deutschen Wehrmacht eine Liebschaft eingegangen war. Benjamins Text gibt nun einen konkreten Interpretationshorizont für das komplexe System intermedialer Bezüge und selbstreferenzieller Verweise vor, das sich im Film entwickelt. Dadurch wird letztlich auch die komplexe Titelsequenz in ihrer Bedeutung für die Gesamtanlage von Un tranquillo posto di campagna greifbar. Schließlich werden hier nicht nur die Credits aufgeführt, sondern auch zahlreiche kunsthistorisch bedeutsame Gemälde und Skulpturen eingeblendet. Durch diese eröffnet der Vorspann den Film auf zwei Ebenen. Zunächst thematisch: Die gezeigten Werke etablieren die zentralen Motive künstlerischer Schöpfung, der Erotik, des Ästhetizismus und des Verfalls; verschiedene Sujets deuten sogar konkret auf die Handlung voraus. So wie Mondrians Gemälde des roten Baums auf Leonardos Malaktion vor der Villa verweist, so antizipiert etwa Francisco de Goyas El 3 de mayo en Madrid (1814) Wandas Erschießung. Die mise en scène zitiert dann einige der vorgeführten Bilder und Plastiken an, sodass innerhalb der diegetischen Welt wieder auf den Vorspann zurückverwiesen wird. Beispielsweise erinnert die Ansicht von Leonardos Wohnzimmer an Mondrians Composition in Colours B (1917), während der Dorfmetzger wie in Francis Bacons Figure With Meat (1954) zwischen zwei Rinderhälften erscheint. Dies ist in Hinblick auf die zweite Dimension der Titelsequenz funktional relevant: Denn noch bevor die diegetische Welt überhaupt zu sehen ist, eröffnet der Film eine Metaebene, die dann durch solche Referenzen präsent bleibt.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Die Titelsequenz lässt sich als filmische Reflexion über Benjamins Thesen zum historischen Wandel der Ästhetik und zum Stellenwert des Films lesen. Die Hauptfigur tritt ja als Bewahrer jener Kunstideologie auf, die nach Benjamin angesichts der medientechnischen Entwicklung und der sich dadurch verändernden Wahrnehmungsformen ihre Bedeutung verliert. Aussagekräftig ist hier die Szene, in der Leonardo einen zu Werbezwecken engagierten Fotografen – der auf auffällige Weise dem Protagonisten von Antonionis Blow up (1966) ähnelt – aggressiv angeht: Der Künstler versucht hier, die technische Reproduktion seiner Werke zu verhindern und so ihre Aura zu bewahren. Werden in der Titelsequenz Gemälde und Skulpturen unterschiedlichster Stilepochen einmontiert, so geschieht hier im Grunde das, wogegen sich Leonardo bei seinen eigenen Arbeiten wehrt: Der Film vervielfältigt die Kunstwerke mit seinen technischen Mitteln, womit er sie ihrer »Einmaligkeit und Dauer« (Benjamin [1936]: 211 [6])62 beraubt und einem Massenpublikum zuführt. Dabei werden signifikanterweise die optischen Möglichkeiten der Fokussierung genutzt, sodass die meisten der eingeblendeten Bilder nur in Teilansichten gezeigt werden. In der Montage manifestiert sich wiederum die »Chockwirkung« (ebd.: 244 [50]) des Films: Auch die schnellen, harten Schnitte, mit denen die Einstellungen wechseln, tragen dazu bei, dass die Versenkung zugunsten der Ablenkung verhindert wird; in ebendiesem Wahrnehmungsmodus erkennt Benjamin ja die »neue Spielart sozialen Verhaltens« (ebd.: 243 [49]) gegenüber der individualistischen Kontem plation bei der Betrachtung des Originalwerks. Auf diese Weise greift also schon die Titelsequenz die als bürgerlich verstandene Kunstkonzeption an, zumal die damit verbundene Form der Wahrnehmung dezidiert verweigert wird. Zugleich wird das Medium selbst in seiner Materialität sichtbar gemacht – allerdings nicht nur durch die markanten Fokussierungs- und Montagetechniken, sondern auch durch die deutlich erkennbare Bearbeitung des Filmstreifens. Im Stil eines Experimentalfilms durchkreuzen manuell aufgetragene Striche, Kreise und sogar Buchstaben wiederholt die Credits und die eingeblendeten Kunstwerke (Abb. 23). Der Film offenbart sich so als Kinematografie, sprich als bewegtes Bild aus Zelluloid, das mit künstlichem Licht auf eine Fläche projiziert wird und dadurch eine ästhetische Illusion hervorrufen kann. In einem für die Narration eigentlich unbedeutenden Abschnitt werden also die technischen und ästhetischen Eigenschaften des Mediums Film im Vergleich zur bildenden Kunst thematisiert.
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Die Zitation folgt hier der fünften Fassung des Aufsatzes.
4.2 A ciascuno il suo (1967) und Un tranquillo posto di campagna (1968)
Entscheidend ist, dass Un tranquillo posto di campagna die exponierte Rolle hinterfragt, die Benjamin dem Film in den 1930er Jahren noch zuschreibt. Dies geschieht direkt in der Anfangsszene, die organisch an die Titelsequenz anschließt und dezidiert auf die Gegenwart verweist: Die modernen Haushaltsgeräte, die akustisch penetrant auf Leonardo einwirken, markieren nicht nur ein konsumistisches, sondern eben auch ein elektronisches Zeitalter. Dieses prägt mit dem Fernsehen seine spezifische Medientechnik und damit auch eine neue Wahrnehmungsform aus (Abb. 24). Die auf dem kleinen Bildschirm verdoppelte Ansicht von Leonardo mag hierbei anzeigen, dass es die Position des Kinos übernimmt: Diesem gegenüber bietet es nur eine kleine Ansichtsfläche und kann überall hinbewegt werden; so suggeriert es zumindest Flavia mit ihrem porta
Abb. 23 und 24: Un tranquillo posto di campagna
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
blen, wasserdichten Gerät. Als Privatmedium befördert das Fernsehen prinzipiell die Isolation des Individuums und löst so die kollektive Rezeptionssituation des Kinofilms, die bei Benjamin politisch relevant wird, wieder auf. Das FernSehen ließe sich damit als neue »Schule asozialen Verhaltens« (ebd.) auffassen, die zuvor die Kunstkontemplation bildet. Darüber hinaus lassen sich die im Vorspann gezeigten Werke als achronologischer Abriss über die westlich-europäische Ästhetik seit dem Trecento auffassen. Das älteste Bild, Giottos San Francesco che predica agli uccelli (um 1300), kann hierbei etwa als Beispiel einer Kunst verstanden werden, die noch im Zeichen des religiösen Kults steht. Auf »de[n] profane[n] Schönheitsdienst, der sich mit der Renaissance ausbildet, um für drei Jahrhunderte in Geltung zu bleiben« (ebd.: 217 [15]), rekurrieren Gemälde aus der frühen Neuzeit, vor allem dem Klassizismus und der Romantik, und zwar durch Darstellungen weiblicher Schönheit und Erotik: Gabrielle d’Estrées et une de ses sœurs (ca. 1594), Jacques-Louis Davids Portrait de madame Récamier (1800), Goyas La maja desnuda (1797–1800), Jean-Auguste-Dominique Ingres’ La Grande Odalisque (1814) und Eugène Delacroix’ Femmes d’Alger (1834). Am Geist dieser Epoche scheint sich der Protagonist des Films zu orientieren, während in seiner Gegenwart diese Kunst bereits ›tot‹ ist: René Magrittes Sarg-Gemälde macht dies als Zitat von David unmissverständlich deutlich. Die nach 1945 entstandenen Werke bieten nur noch deformierte Körper, konkret Picassos Portrait de Sylvette David (1954) und Giacomettis Grande Femme (1960). Bacons Figure With Meat pervertiert in surrealistischer Anverwandlung von Rembrandts De geslachte Os (1655) gar den ästhetischen Genuss körperlicher Schönheit, der mit der Renaissance aufkommt. Die Ideale des Schönen und Harmonischen werden letztlich durch das Hässliche und Disharmonische ersetzt. Un tranquillo posto di campagna legt nahe, dass diese Veränderungen im Bereich des Ästhetischen primär nicht mit medientechnischen, sondern mit den politischen und sozioökonomischen Entwicklungen zusammenhängen. Der Film verweist schließlich auf die Gegenwart einer weltweiten Spannungssituation: Während die Bilder des Dia-Projektors an die durch Krieg und Unterdrückung zunehmende Gewalt erinnern, wird an Leonardos eigener Lage das Ausbeutungsproblem auf eindrückliche Weise anschaulich. Die jüngeren Kunstwerke mögen als Spiegel solcher Kräfte und Zwänge fungieren, die den Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deformieren. In der Logik des Films kann die Kunst ihre Funktion, Wohlgefallen, mithin sinnlich-erotische Befriedigung und Befreiung zu verschaffen, nicht mehr erfüllen – weder bei den Betrachtern noch bei den ›Schöpfern‹, die sich als solche schon in früheren Zeiten selbstbezüglich überhöhen, wie es das Selbstporträt von Goya (1815) und Gustave Courbets L’Atelier du Peintre (1855) andeuten.
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Dementsprechend ist die Titelsequenz mit dissonanten Klängen unterlegt, die der experimentelle Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza einspielt. Dieses Ensemble löst in seiner dezidiert kollektiven Improvisationspraxis eine solch überholte Ästhetik auf, indem seine Mitglieder in der Suche nach ursprünglichem Klangmaterial Tonalität, melodische Zusammenhänge und regelmäßige Rhythmen unbedingt zu vermeiden versuchen (vgl. Hausmann 2008: 37–40; Wagner 2004: 169–174, 179–186). Auch die spezifische Form des haunted house referiert auf diesen Wandel, wobei mit der Einblendung von Edgar Allan Poes Tales of Mystery and Imagination eine Traditionslinie zur Schwarzen Romantik gezogen wird: Mit der attraktiven Wanda ist es nun bezeichnenderweise das (Kunst-)Schöne, das zur Quelle des Unheimlichen wird. Petri tut Un tranquillo posto di campagna unrecht, wenn er diese vielschichtige Regiearbeit später als spielerische Selbstbespiegelung abtut (vgl. Tassone 1980: 249). Schließlich wird hier mit Blick auf die politischen Möglichkeiten des Films der allgemeine Status quo aus mannigfaltigen Bezügen zur Kunst- und Mediengeschichte hergeleitet. Diese strikte Hinwendung zur Gegenwart zeigt sich gerade auch in der Auseinandersetzung mit Walter Benjamin und Herbert Marcuse: Präferiert wird zwar die Idee der Politisierung, doch ist damit die Frage verknüpft, ob sich der Film im Besonderen und die Kunst im Allgemein überhaupt noch wirkungsvoll politisieren lassen. Marcuse erscheint ohnehin überholt, zumal er seine Thesen über die erotische Wirksamkeit der Kunst noch auf die Ästhetiken Schillers und Kants gründet. Un tranquillo posto di campagna lässt sich damit als kritische Reaktion auf die Begeisterung verstehen, mit der diese Texte seinerzeit von den Neuen Linken rezipiert werden. Gegenüber den kommenden Filmprojekten von Petri mögen die hier behandelten Regiearbeiten nur einen Problemaufriss liefern. Sie thematisieren zwar politische Kriminalität, Repression und wirtschaftliche Ausbeutung, gehen vordergründig aber auf die Unfähigkeit jener Instanzen ein, die die bestehenden Problemzusammenhänge erfassen und explizit machen sollen: Dies bezieht sich nicht nur auf die Intellektuellen mit ihrer Mentalität des Elfenbeinturms, die in beiden Regiearbeiten verhandelt wird, sondern auch auf den Film als Präsentations- und Reflexionsmedium. Gilt dieser vor allem in Italien lange als privilegiertes Mittel einer kritischen Wirklichkeitsdarstellung, so droht er angesichts der sich verändernden Medien- und Konsumkultur sein politisches Potenzial zu verlieren. Erst mit Indagine setzt sich in Petris Werk ein neues Konzept durch, das modernistische Verfahren, wie sie noch in Un tranquillo posto di campagna zur Anwendung kommen, ebenso wie subkulturelle, militante Filmpraktiken zurückweist.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
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Schritte ins militante Kino: Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970)
In der theoretischen Ausarbeitung dieses politisch-popularen Kinos spricht sich Elio Petri also auch gegen politisch motivierte, alternative Produktions-, Vertriebs- und Vorführweisen aus. Dies hängt nicht zuletzt mit eigenen Erfahrungen zusammen: In den Jahren 1969/70 dreht Petri selbst zwei Filme, die außerhalb der kommerziellen Wege zirkulieren, das Cinegiornale libero no. xyz di Roma und Documenti su Pinelli; zwei weitere Projekte werden nicht fertiggestellt bzw. sind verschollen. Der politische Aktivismus, der hinter diesen Arbeiten ebenso wie den Bemühungen um das Comitato dei Cineasti Contro la Repressione steht, speist sich aus Hoffnungen wie aus Befürchtungen. In der instabilen Situation dieser Jahre nimmt Petri zwar durchaus das Potenzial für eine freiheitliche Neuordnung der Gesellschaft wahr. Zugleich zeichnet sich aber im massiven Vorgehen des Staats gegen außerparlamentarische Bewegungen die Gefahr einer autoritären Ordnung ab. Das Comitato wird gegründet, als sich am 12. Dezember 1969 durch mehrere Bombenattentate in Mailand und Rom sowie den Tod eines Anarchisten die Entwicklungen zuzuspitzen scheinen: Petri und seine Gleichgesinnten sehen diese Ereignisse im Zusammenhang einer ›Strategie der Spannung‹, durch die rechte Kreise einen Umsturz forcieren (vgl. Ballérini et al. 1974: 73).63 Der von Petri und Ugo Pirro initiierte Zusammenschluss von rund 30 Filmund Kulturschaffenden kann als Versuch gewertet werden, nun auch in institutionell organisierter Form am politischen Geschehen teilzunehmen; das Ziel ist ein »discuter de puissance à puissance« (Manceaux et al. 1970: 71). Wie das ge plante Projekt eines groß angelegten, unabhängig finanzierten Episodenfilms zeigt, bildet das Herstellen von Filmen den zentralen Bestandteil ihrer politischen Agenda: Die Filmschaffenden sollen sich den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Kommunikation bedienen, um ihrer Haltung gegenüber den staatlichen Kräften Ausdruck zu verleihen. Zumindest in der Ausgangsidee ist dieses ambitionierte Vorhaben einzigartig in der italienischen Kinogeschichte; der Regisseur Franco Giraldi vergleicht es später mit Deutschland im Herbst von 1978 (vgl. Faldini / Fofi 1984: 29). Der Umstand, dass es sich bei den Beteiligten ausschließlich um recht bekannte Regisseure, Autoren, Schauspieler, Kame-
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Zur Vorgeschichte und dem Konzept der ›Strategie der Spannung‹ vgl. Ferraresi 1995: 136–163, 167–173.
4.3 Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970)
ramänner und Cutter handelt, soll der geplanten Gemeinschaftsproduktion des Comitato zu größtmöglicher Öffentlichkeitswirkung verhelfen. Zudem ist vorgesehen, den fertiggestellten Film über das offizielle Verleihsystem in die Kinos zu bringen (vgl. Manceaux et al. 1970: 71). In der vorangehenden Schaffensphase von Petri findet sich ein Projekt, das zumindest in Hinblick auf die Zahl der beteiligten Filmschaffenden vergleichbar ist: Bei L’Italia con Togliatti (1964), einem Dokumentarfilm über die Begräbnisfeierlichkeiten zu Ehren des verstorbenen PCI-Vorsitzenden Palmiro Togliatti, zeichnen allein für die Regie neben Petri zwölf weitere Filmemacher verantwortlich. Welche Szenen von wem realisiert worden sind, ist dabei nicht nachvollziehbar. Der Film präsentiert sich als emotional stark aufgeladene Hommage, wobei die Aufnahmen der ehrerbietigen Massen auf den Straßen Roms durchaus propagandistische Züge tragen. Produziert wird L’Italia con Togliatti von Unitelefilm, einer vom PCI gegründeten Filmgesellschaft, die in den kommenden Jahren vor allem militante Projekte finanziert. Hierzu zählen auch die von Cesare Zavattini initiierten Cinegiornali liberi oder eben die von Petri und Pirro koordinierte Gemeinschaftsproduktion Documenti su Pinelli. Ende der 1960er Jahre entwickeln sich weltweit verschiedenste Formen eines solchen politischen Films, die das Filmemachen vom etablierten Kino als ideologischem und wirtschaftlichem Komplex zu lösen versuchen. Um das Medium effektiv im Klassen- oder Befreiungskampf nutzen zu können, sind flexible, pragmatisch ausgerichtete Produktions- und Verbreitungsstrategien erforderlich; die Videotechnik schafft hier dann neue Möglichkeiten. Da der Informationszweck meist programmatisch in den Vordergrund gerückt wird, ist es kaum verwunderlich, dass die essayistischen Darstellungsformen so wirkungsmächtiger Gruppierungen wie Jean-Luc Godards Groupe Dziga Vertov oder Octavio Getinos und Fernando E. Solanas’ Cine Liberación auch auf harsche Kritik stoßen. In Frankreich entstehen im Rahmen der Protestbewegungen weitere Initiativen wie etwa die Groupe Medvedkine, an der unter anderem die prominenten Filmemacher Alain Resnais, Chris Marker, Joris Ivens und wiederum Godard beteiligt sind. Für die Bundesrepublik lassen sich exemplarisch die studentischen Agitprop-Filme der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und des Ulmer Instituts für Filmgestaltung nennen. Im Umfeld der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen bildet sich etwa das Radical Cinema aus. Das von Getino und Solanas entwickelte Konzept eines ›Dritten Kinos‹ findet im Zuge von Befreiungsbestrebungen in vielen kolonialistisch geprägten Ländern ebenso Anschluss wie in politisierten Kreisen in Europa. In Italien gründen sich Grup-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
pierungen wie das Collettivo Cinema Militante, Centro Documentazione Cinema e Lotta di Classe, Centro Cinematografico di Documentazione Proletaria oder Videobase.64 Wie Petris Beispiel zeigt, werden auch hier etablierte Kinoregisseure des Öfteren im militanten Filmbereich aktiv. So realisiert etwa Marco Bellocchio zwei propagandistische Filme für eine marxistisch-leninistische Vereinigung. Apollon: una fabbrica occupata (1969), der wegen seines Erfolgs im Ausland oft als einschlägiges Exempel für Italiens militantes Kino angeführt wird, entsteht unter der Beteiligung des PCI-nahen Regisseurs Ugo Gregoretti. In der Filmgeschichtsschreibung werden gerade diese Arbeiten, an denen bekannte Filmemacher mitwirken, besonders berücksichtigt; unabhängig davon, dass diese jeweils ihre herausgehobene Position negieren und sich gänzlich in den Dienst der Organisation, Bewegung oder Partei stellen. Dies gilt auch für Documenti su Pinelli und Elio Petri. Dabei ist im Film der Gedanke des Kollektiven in zweifacher Hinsicht konzeptuell tragend. Einerseits präsentiert sich Documenti su Pinelli explizit als Ergebnis kollaborativer Anstrengungen: In dem von Petri mitgestalteten zweiten Teil des Films, Ipotesi sulla morte di G. Pinelli, weist Gian Maria Volonté die Beteiligten direkt zu Beginn als »gruppo di lavoratori dello spettacolo« aus und unterstreicht dadurch, dass diese Episode von mehreren Personen gleichberechtigt verantwortet wird. Andererseits firmiert die gesamte Produktion unter dem Comitato dei Cineasti Contro la Repressione, da im Abspann die Namen der Mitglieder in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt werden. Dem dortigen Wortlaut zufolge ›unterzeichnen‹ sie den Film sogar: Documenti su Pinelli erhält dadurch den Charakter einer Protestschrift. Im Cinegiornale libero no. xyz di Roma: Discorso sulla rivoluzione in Piazza S. Pietro il giorno di S. Giuseppe (Dialogo con Cohn-Bendit) erscheint Petri dagegen selbst prominent im On. Seine Rolle beschränkt sich hier auf die des Interviewenden, wobei das Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit, der ja zu den zentralen Figuren der französischen Studentenbewegung zählt, als ›Dialog‹ apostrophiert wird. In beiden Arbeiten wird so jeweils ein politisiertes Kollektiv als verantwortliche Instanz und Vermittler politisch relevanter Inhalte ausgewiesen. Die Inszenierungsweisen der beiden Filme sind dagegen vollkommen unterschiedlich. Im militanten Kino Italiens zeichnet sich insgesamt eine deutliche Neigung zum Dokumentarischen ab: Schließlich gilt es, dem Publikum das revolutionäre Geschehen möglichst ungefiltert zu zeigen; oftmals thematisieren
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Die wichtigsten Initiativen werden in einer Spezialausgabe von Bianco e Nero vorgestellt, vgl. Rosati 1973.
4.3 Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970)
die Filme ihre spezifische Ästhetik der Militanz sogar (vgl. Valenti 2020). Ein Film wie Apollon: una fabbrica occupata, bei dem Arbeiter im Stil einer Docufiction die Besetzung ihrer Fabrik nachspielen, fällt bei radikaleren Vertretern und Fürsprechern des militanten Kinos zwangsläufig durch (vgl. Uva 2015a: 43–46). Die von Petri mitverantworteten Filme lassen dagegen den Vorgang der Filmaufnahme transparent werden. Bei Ipotesi sulla morte di G. Pinelli gestaltet sich dies recht komplex, denn im Unterschied zur Interviewbzw. ›Dialog‹-Form des Cinegiornale no. xyz bedienen sich die Beteiligten hier der Methoden einer professionellen Inszenierung, die als solche von Beginn an explizit gemacht werden. Das Cinegiornale no. xyz entsteht wie Apollon: una fabbrica occupata im Rahmen der Cinegiornali liberi, die Zavattini 1967 ins Leben ruft. Die ›freien Kinowochenschauen‹ nehmen bereits zentrale Ideen und Komponenten des militanten Kinos vorweg: Vom kommerziellen Druck befreit zielt diese Konzeption eines nonkonformistischen Nachrichtenformats darauf ab, das Informationsmonopol der etablierten Medien zu schwächen und den Nutzern zugleich einen anderen, selbstbestimmten Umgang mit kulturellen Erzeugnissen zu ermöglichen. Im Prinzip soll jeder dazu angeregt und befähigt werden, mit der Filmkamera signifikante Geschehnisse in seiner Umgebung aufzunehmen und schnell weiterzuverbreiten. Dieser freiheitliche Ansatz eines Kinos »di tanti per tanti« strebt demnach »un nuovo rapporto, più diretto, tra strumento e base sociale« (o. A. 1973: 6) an, sodass im Zeichen Antonio Gramscis ein produktives und offenes Netzwerk aus Professionellen und Laien entstehen kann. Letzten Endes sind es aber vor allem etablierte Filmemacher, die solche Cinegiornali umsetzen. Gegenüber Apollon: una fabbrica occupata fällt das rund 19-minütige, in französischer Sprache geführte Interview mit Cohn-Bendit auf dem Petersplatz und der Via della Conciliazione in Rom durch seine ausgestellte Fragmenthaftigkeit auf. Das Cinegiornale no. xyz legt so Zeugnis von der Spontaneität seiner Entstehung, sprich ohne langwierige Planung und Nachbearbeitung, ab. Dies zeigt sich allein bei den Titeln, die nur von einem handbeschrifteten Plakat abgefilmt werden; unausgewogener Direktton mit starken Hintergrundgeräuschen begleiten dann das körnige, verwackelte Bild. Schnitte werden vermieden, sodass Unterbrechungen vor allem durch das Abschalten der Kamera und den Wechsel der Filmrolle zustande kommen; man bekommt hier sogar mit, wie sich die beteiligten Personen über solche technischen Notwendigkeiten austauschen. Reißt dann später die Bildfolge während des Gesprächs unvermittelt ab, so ist das Ende des Interviews sogar nur noch bedingt nachvollziehbar: Die Kamera zeigt das Treiben vor dem Petersplatz, bis Petri, Ugo Pirro und Cohn-Bendit inmitten der Menschenmenge wieder auftauchen.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Die Offenheit der Interviewsituation kommt wiederum der Aussageabsicht des Films zugute. Der Dialog zwischen Cohn-Bendit und Petri dreht sich thematisch nämlich um die Möglichkeiten der proletarischen Revolution in Europa: Als nun die Polizei beim Dreh auf dem Petersplatz aufgrund einer fehlenden Genehmigung einschreitet, scheint sie performativ das im Gespräch problematisierte Autoritätsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft zu bestätigen. Schon die Wahl des Drehortes deklariert Petri als inszenatorische Entscheidung für ein »décor naturel«: Der Vatikan wird als Sitz des Papstes zum Symbol des Patriarchalismus stilisiert, der die europäischen Länder bis in die Gegenwart prägt; gegen Ende tritt Paul VI. als überhöhte Vaterfigur selbst in Erscheinung, als er vom Apostolischen Palast aus das Angelusgebet spricht. Auch das Datum des Filmdrehs erweist sich als bewusst gewählt, da in Italien am 19. März, dem Ehrentag des Hl. Josef, der Vatertag gefeiert wird. Die Kamera schafft ihrerseits plakative Bildmotive, indem sie in den plansequenzartigen Einstellungen immer wieder abschweift: Sie zoomt neben den neugierigen Passanten auf die Domkuppel, Heiligenstatuen sowie vorbeigehende Nonnen und Priester. Die Dokumentation des Gesprächs wird hier zugunsten themenbezogener Assoziationen vernachlässigt, sodass sich die Bildebene wiederholt von der des Dialogs verselbstständigt (Abb. 25–26; vgl. AAMOD o. J. b). Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Cinegiornale demnach als komplexer, als es die betonte Spontaneität der Aufnahmen zunächst vermuten lässt. So gesehen macht das theoretisierende Gespräch über die Revolution den Dreh auf offener Straße nicht zwingend erforderlich. Schließlich werden keine flüchtigen Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Klassenkampf stehen, aufgezeichnet. Die spezifische Art und Weise der Produktion lässt sich daher durchaus auch unter dem Gesichtspunkt der Metareflexivität betrachten: denn Petri und CohnBendit thematisieren im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution auch die Funktion des Kinos. Während der Filmemacher den massenmedialen Aspekt der Breitenwirkung hervorhebt, reduziert der Studentenführer das Kino auf ein Mittel der Kommunikation zwischen revolutionären Gruppen. Ausgehend vom Scheitern der französischen Mai-Aufstände 1968 stellt CohnBendit dabei die Revolution als längerfristigen Transformationsprozess dar. Er stimmt Petri in der Forderung, dass revolutionäre Subjekte bei diesem Vorgang eine möglichst große Zahl an Personen erreichen müssen, grundsätzlich zu. Als der Filmemacher in dieser Hinsicht konkret nach den Verwendungsmöglichkeiten des Kinos fragt, betont der Studentenführer, dass er nur noch einen pragmatischen Umgang als legitim erachtet. Cohn-Bendit argumentiert hier wie die radikalen Befürworter militanter Filmpraktiken: Durch das Kino als technischapparativem wie ästhetischem Komplex werde den ausgebeuteten Massen eine
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4.3 Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970) Abb. 25 und 26: Cinegiornale libero no. xyz – di Roma
Ausdrucksform oktroyiert, der sie sich selbst nicht bedienen können; dadurch würden die autoritären Strukturen bürgerlicher Gesellschaften gestärkt. Mit explizitem Bezug zu Guy Debord, dessen Vorstellung einer Gesellschaft des Spektakels Petri ins Spiel bringt, lehnt Cohn-Bendit letztlich jede Form einer unterhaltenden Filmdarbietung ab. Die (sich) filmende Gruppe um Petri erörtert damit also auch die Bedeutung von filmischen Praktiken, derer sie sich selbst bedient. Sie führt 1969 mit dem
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Cinegiornale no. xyz ihrerseits konkret vor, wie im Rahmen eines subversiven Kinos Filme hergestellt und gestaltet werden können: Als unabhängige Produktion zeigt das Cinegiornale die Akteure der Revolution, führt in die relevanten Problemzusammenhänge ein und unterläuft kinematografische Gestaltungskonventionen, wobei die Verantwortlichen die direkte Begegnung mit der sozialen Wirklichkeit suchen. In der Filmepisode zu Documenti su Pinelli, die im August 1970 entsteht, greifen dagegen professionelle Film- und Theaterschaffende auf die Mittel der Dramaturgie zurück. Damit verwenden Vertreter des ›offiziellen‹, kommerziellen Kinos im militanten Kontext Darstellungstechniken, die in der Theoriedebatte weitestgehend abgelehnt werden. Uva spricht daher von »un interessante ibrido, uno dei più sperimentali tra i lavori afferenti al cinema militante« (2015b: 152). Der zweiteilige Film widmet sich dem Mailänder Anarchisten Giuseppe Pinelli und den undurchsichtigen Umständen seines Todes. Pinelli war während eines Verhörs aus dem Fenster eines Polizeigebäudes gestürzt, nachdem er im Zuge der Ermittlungen zu den Bombenanschlägen am 12. Dezember 1969 verhaftet worden war. Diese Ereignisse entfachen seinerzeit einen öffentlichen Proteststurm: Es kommt der Verdacht auf, dass der italienische Staat zusammen mit dem Militär und rechtsextremen Gruppen diese Attentate organisiert hat, um unter dem Vorwand der staatlichen Sicherheit ein autoritäres System zu errichten. Von außerparlamentarischer Seite werden Gegenermittlungen angestrengt, um die wahren Hintergründe der Attentate und des Todes von Pinelli aufzudecken. Das Filmprojekt Documenti su Pinelli reiht sich hier ein, nicht zuletzt dadurch, dass sich die zweite Episode auf einschlägige Publikationen, die aus diesen Initiativen hervorgehen, beruft: La strage di stato und Le bombe di Milano (Abb. 27).65 In den ursprünglichen Plänen zu der Gemeinschaftsproduktion sind die Ereignisse um Pinelli in einen größeren Themenzusammenhang eingebettet: Die Verantwortlichen beabsichtigen einen »Film ›fatto‹, quindi, film inchiesta, documento« (AAMOD o. A. [o. J.]: 6), der die Repression der Arbeiterklasse in Italien aufarbeitet. Dieser Film ist so konzipiert, dass zum einen Akte staatlicher Gewalt gegen Protestbewegungen und oppositionelle Gruppierungen aus den Jahren 1968/69 durch eine Verknüpfung mit ähnlichen Fällen seit 1945 historisch perspektiviert werden. Zum anderen ist vorgesehen, faschistische Verbindungen zwischen Staat, Wirtschaft, Politik, Justiz, Militär und Polizei offenzulegen (vgl. ebd.: 1–5). Laut Petri werden die rund 30 Mitglieder des Comitato hierfür in
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Zu den Hintergründen und der Bedeutung von La strage di stato vgl. Odradek Verlag 2015; zu Le bombe di Milano vgl. Guanda editore 1970.
4.3 Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970)
Gruppen von fünf bis sechs Personen aufgeteilt, die zusammen jeweils eine 15-minütige Episode produzieren (vgl. Manceaux et al. 1970: 71). Später gibt er an, dass tatsächlich viel Material gesammelt, aber nie geschnitten worden ist (vgl. Ballérini et al. 1974: 73 f.). Im Zusammenhang mit diesem Projekt filmt er mit Pirro und Luigi Kuveiller wohl auch jene Arbeiterproteste vor einer römischen Schreibmaschinenfabrik, die die Story von La classe operaia inspirieren; das hierbei entstandene Filmmaterial geht laut Pirro aber bald verloren (vgl. Faldini / Fofi 1984: 29; Pirro 2001: 82 f.). Letzten Endes werden von dem geplanten Film über die Repression der Arbeiterklasse nur zwei Episoden fertiggestellt, Materiale di lavoro no. 1 und Materiale no. 2, die sich ausschließlich mit Pinelli beschäftigen. Der von Petri mitverantwortete zweite Teil, der den Untertitel Ipotesi sulla morte di G. Pinelli trägt, setzt sich mit den polizeilichen Statements zum Tod des Anarchisten auseinander. Hier wird ein eigener Zugang zu dem Fall eröffnet, da der vorangehende, mit 50 Minuten wesentlich längere Teil im Rahmen eines Porträts von Pinelli konkret nach den Ereignissen vom Dezember 1969 fragt. Das Filmteam unter der Leitung von Nelo Risi lässt neben Weggefährten aus der anarchistischen Szene Mailands auch Zeugen der Vorfälle zu Wort kommen. Vor allem auf diesen investigativen Dokumentarteil mag daher zutreffen, was Uva für Documenti zu Pinelli im Gesamten konstatiert: Bei diesem Film sei der ›militante‹ Charakter besonders ausgeprägt (vgl. Uva 2015a: 68–71). Denn im Sinne der Gegenermittlung ist auch Risis Episode darauf ausgelegt, durch eigenständige Nachforschungen die Befunde und Darstellungen der Behörden zu ›bekämpfen‹. Anfangs ist sogar geplant, den gesamten Film als Beweismaterial der ermittelnden Staatsanwaltschaft vorzulegen (vgl. AAMOD o. A. [o. J.]: 6). Statt wie Materiale di lavoro no. 1 durch eine Tatsachenrecherche direkt zur Wahrheitsfindung beizutragen, zielt Ipotesi primär darauf ab, die offizielle ›Wahrheit‹ zu unterminieren. Insgesamt setzt sich diese Filmepisode ihrerseits aus drei Teilen zusammen. Zunächst werden die vom zuständigen Gericht veröffentlichten Erklärungen jener Polizisten, die bei Pinellis Tod zugegen waren, nachgestellt. Dies ergänzen eine Verlesung von Auszügen aus der Berichterstattung und den aufgeführten Gegenermittlungstexten sowie die Inszenierung eines ähnlichen Falles aus dem Jahr 1897. Mit solch suggestiven Mitteln zeigt die Gruppe um Petri Zusammenhänge und Lösungsmöglichkeiten auf, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. Während also der erste Teil von Documenti su Pinelli eigene Beweise vorlegt, bietet der zweite lediglich ›Hypothesen‹ dar. Hierbei wird gegenüber Risis dokumentarischem Ansatz eben der einer schauspielerischen Inszenierung gewählt, die als solche explizit gemacht wird. Den Blick in die Kamera gerichtet, erläutert Gian Maria Volonté anfangs das Pro-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
gramm der Episode: »Siamo un gruppo di lavoratori dello spettacolo, ci proponiamo attraverso l’uso del nostro specifico, il comportamento degli attori, registi, tecnici, di ricostruire i tre versioni ufficiali, cioè quelle avallate della magistratura il suicidio, il presunto suicidio dell’anarchico Pinelli.« Zusammen mit den Schauspielern Luigi Diberti, Renzo Montagnani, Roberto Bonanni und Marco Galletti spielt er die Versionen der bei Pinellis Verhör anwesenden Polizisten nach: Einer gibt an, der Verdächtige habe sich ›mit einem Katzensprung‹ aus dem Fenster gestürzt; dem Bericht des zweiten zufolge hatten die Beamten versucht, ihn dabei aufzuhalten; der dritte Polizist behauptet, dass er sogar einen von Pinellis Schuhen festhalten konnte. Die Darsteller machen durch die Inszenierungen dieser Aussagen offenkundige Unstimmigkeiten an schaulich; die Rekonstruktion erweist sich mithin als Dekonstruktion. Bei der Inszenierung kommen nun antiillusionistische Mittel zum Einsatz, durch die der Vorgang des Filmdrehs während der gesamten, nur elfminütigen Episode präsent bleibt. In dieser Hinsicht erweist sich auch jedes Element als funktional, das zunächst den Eindruck erzeugen mag, dass der Dreh improvisiert und das Filmmaterial unbearbeitet ist: Die einzelnen Sequenzen werden jeweils durch einen Regieassistenten mit der Klappe eröffnet, von Petri ist anfangs die Anweisung »Azione!« zu hören, während Volonté im On explizit auf die Personen im Off verweist. Gerade weil sich die Crew derart illusionsstörend verhält, fällt auch die Film- und Tontechnik umso deutlicher auf: nicht nur das Mikrofon, das die Darsteller herumreichen, sondern auch die wenigen Schnitte und Zooms. Die meist statische Kamera gibt in den meist ungeschnittenen Sequenzen der schauspielerischen Darbietung Raum, die von der reduzierten Ausstattung betont wird. Schließlich bewegen sich die Darsteller, die allesamt Alltagskleidung tragen, im improvisierten Set einer Privatwohnung (Abb. 28). Sie versetzen sich jeweils nur kurzzeitig und nie vollständig in ihre Rollen, wobei sie bei jeder der drei Versionen jeweils die Umstände der dargestellten Situation beschreiben, das Verhalten der verkörperten Figuren erläutern und auf Widersprüche zu bestätigten Fakten aufmerksam machen. Eine herausgehobene Stellung besitzt hierbei Volonté, der auch als Moderator fungiert und als solcher der Kamera zugewandt durch die Inszenierungen führt. Auch Perniola und Uva sehen hier Anleihen bei Brechts Epischem Theater, dessen Schauspielkonzept in Ipotesi wesentlich strikter als in Petris Spielfilmen umgesetzt wird (vgl. Perniola 2011: 152; Uva 2015b: 153). Diese Distanzierungstechniken mögen dazu dienen, die ästhetische Illusion zu verhindern und zur Reflexion über die offensichtlichen Diskrepanzen anzuregen (vgl. Perniola 2011: 153). Allerdings werden diese mit einer solchen Plakativität aufgezeigt, dass der schauspielerische Stil den ›Rekonstruktionen‹ letztlich einen ausgeprägt ironischen Charakter verleiht.
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4.3 Cinegiornale no. xyz (1969) und Documenti su Pinelli (1970) Abb. 27 und 28: Documenti su Pinelli – Ep. Ipotesi sulla morte di G. Pinelli
Die beiden Sequenzen, die auf die Inszenierung der offiziellen Berichte folgen, zielen dann darauf ab, die Zweifel an der bestehenden ›Wahrheit‹ zu stärken und die Schuld der Polizei zu plausibilisieren. Hierfür lesen die Darsteller im zweiten Abschnitt aus verschiedenen Berichten Befunde und Aussagen zu dem Fall vor. Sie bedienen sich hierbei konsequenterweise ausschließlich Texten oppositioneller Medien, so etwa den benannten Büchern der Gegenermittlung oder den Zeitungen L’Unità und Umanità Nova. Hervorzuheben sind auch hier die von Volonté verlesenen Ausschnitte, die diesen zweiten Teil öffnen und beschließen: Zunächst verweist er auf die Rolle bekannter neofaschistischer Extremisten im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 12. Dezember, während er dann den Erfahrungs-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
bericht eines anderen Anarchisten vorträgt, der die Provokation zum selbstmörderischen Fenstersturz als gängige Methode der Mailänder Polizei beschreibt. Mit dem dritten Teil, der wieder die Form eines kommentierten Rollenspiels aufgreift, wird der Fall Pinelli historisch vertieft: Dargestellt wird der vorgetäuschte Selbstmord des Anarchisten Romeo Frezzi Ende des 19. Jahrhunderts, bei dem die Verantwortlichkeit der Polizei als bewiesen gilt. Die Referenz auf Pinelli, »l’ultimo di una lunga serie di anarchici suicidi«, macht allein die Inszenierung des Totschlags augenscheinlich: Es sind ja die gleichen Schauspieler, die hier nun die entsprechenden historischen Personen verkörpern. Dabei wird Marco Galletti wie in seiner Rolle als Pinelli aus dem Fenster statt die Treppe hinuntergeworfen, wie es damals bei Frezzi geschehen war. Mit dieser spezifischen Inszenierungsweise, die lediglich vordergründig auf eine allzu polemisch überzogene Anklage verzichtet, hebt sich die dreiteilige Filmepisode von dem insgesamt überschaubaren Korpus militanter Filme aus Italien ab. In Abwandlung der von Guido Aristarco geprägten Parole comunicare senza rappresentare lässt sich dabei behaupten, dass auch durch Repräsentieren effektiv kommuniziert werden kann: Ipotesi führt vor, wie durch eine eindrückliche künstlerische Darbietung Widersprüche, Zusammenhänge und Hintergründe evident gemacht werden können. Das Offenkundige, das der Glaube an die Obrigkeit überlagern mag, kann so tatsächlich erkennbar werden. Hierbei gibt sich der zeigende Gestus klar als solcher zu erkennen, um nicht selbst dem Manipulationsverdacht anheimzufallen. Gerade im Vergleich zu dem im Vorjahr entstandenen Cinegiornale no. xyz wird deutlich, dass unter gestalterischen Gesichtspunkten das militante Kino mit seiner radikalen dokumentarischen Herangehensweise hier nicht mehr maßgebend ist. Es fungiert folglich nur noch als politischer und infrastruktureller Rahmen für das cinema politico. Eigentlich soll Documenti su Pinelli ja auch über die etablierten Distributionswege verbreitet werden. Das zuständige Ministerium gibt den Film dann tatsächlich zur öffentlichen Aufführung frei, allerdings nur mit einer Altersbegrenzung von 18 Jahren: Es wird befürchtet, dass Minderjährige die indirekte Beschuldigung der Polizei tatsächlich ernstnehmen (vgl. AAMOD Ministero del Turismo e dello Spettacolo [1970]: o. S.). Laut Petri, Pirro und Volonté kommt der Film letztlich nur in alternativen Zirkeln zur Aufführung, so etwa in Studentengruppen, Vereinen des PCI und des PSI, Gewerkschaften, Kulturhäusern und sogar Schulen. Er sei auch nach Frankreich gelangt, wo er im Vorprogramm zu Yolande du Lauarts Angela Davis: portrait d’une révolutionnaire (1971) gezeigt worden sei (vgl. Ballérini et al. 1974: 74 f.; Faldini / Fofi 1984: 29 f.). Documenti su Pinelli bedeutet nicht das endgültige Ende von Petris Aktivitä-
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
ten im filmmilitanten Kontext: Zumindest ist er kurz in einem unvollendeten Film zu sehen, wie er im Dezember 1971 bei der Aufzeichnung einer Studentendemonstration Regieanweisungen gibt.66
4.4
Scheiternde Revolutionen: ›Trilogie‹ (1970–1973)
Mit den drei Spielfilmen, die Elio Petri nach Un tranquillo posto di campagna dreht, etabliert er sich in der öffentlichen Wahrnehmung als einer der maßgebenden Repräsentanten des cinema politico. Auch heute noch gelten diese Regiearbeiten als Kernstück von Petris Filmografie, mit der sich nach einer längeren Phase des Ausprobierens sein charakteristischer Stil verfestigt. Seinerzeit werden die Filme äußerst kontrovers diskutiert: Auch die negativen Reaktionen bezeugen, dass sie den Nerv der Zeit treffen. Kurze Zeit nach dem Kinostart von Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto schreibt etwa das Wochenmagazin Tempo: »Senza nessuna preparazione pubblicitaria è esploso il ›caso‹ cinematografico dell’anno […]. È un giallo alla rovescia, ma è soprattutto il pretesto per af frontare uno dei temi più scottanti dalla realtà italiana« (di Giovanni 1970: 26 f.). Selbst die New York Times berichtet über die Begeisterung, mit der dieser Film in Italien beim Kinostart aufgenommen wird (vgl. Friendly 1970: 7). Diese Regiearbeiten von Petri nehmen im zeitgenössischen Kino Italiens durchaus eine Vorreiterrolle ein: Mit dem autoritären Polizisten, dem revoltierenden Arbeiter und protestierenden Studenten präsentieren sie schließlich politische Akteure, die damals eine bedeutende Rolle im öffentlichen Diskurs spielen. Indagine ist der erste Spielfilm, der nach den Unruhen 1968/69 den Polizeiapparat in ein dezidiert negatives Licht rückt; ein Umstand, der durchaus als willkommener ›Tabubruch‹ gefeiert wird (vgl. etwa Argentieri 1970). La classe operaia kann dann als erste fiktionale Arbeit nach dem ›Heißen Herbst‹ betrachtet werden, die die Lebenssituation der Arbeiterklasse beleuchtet.67 Wenig später folgen Filme wie Lina Wertmüllers Mimì metallurgico ferito nell’onore (1972) und Tutto a posto niente in ordine (1974), Scolas Trevico–
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Das Material befindet sich im Archiv des AAMOD. In Carottis Übersicht über die Darstellung der Arbeiterklasse im italienischen Kino wird dies nicht deutlich, da er auch dokumentarische Arbeiten miteinbezieht (vgl. Carotti 1992: 49–59).
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Torino: viaggio nel Fiat-Nam (1972) und Romanzo popolare (1974) von Mario Monicelli.68 Aufgrund der heiklen Sujets wird jeweils schon die Finanzierung zu einem schwierigen Unterfangen. Für Indagine arbeitet Petri mit der kurzlebigen Vera Film zusammen, die das Projekt als Co-Produktion mit Euro International Films stemmt. Diese stellt dann auch bei La classe operaia die notwendigen Mittel zur Verfügung, wohingegen für die Kosten von La proprietà non è più un furto die kleine Quasars Film Company gemeinsam mit mehreren französischen Produktionsfirmen aufkommt. Angesichts seiner Erfolge ist es wenig überraschend, dass sich auch größere Produktionshäuser wieder für den Regisseur interessieren. So lässt Petri etwa 1972 Bemühungen von Dino De Laurentiis ins Leere laufen: Dieser hatte zwei Jahre zuvor eine erneute Zusammenarbeit in Aussicht gestellt, nach Vorlage des Themenentwurfs von La classe operaia letztlich aber doch abgelehnt (vgl. AMNC ELPE410 [1972]; ELPE351 [1970]). Indagine, La classe operaia und La proprietà werden im Allgemeinen als Trilogie behandelt, ohne dass dies an den Filmen selbst ersichtlich würde. Petri stellt den Zusammenhang seinerzeit selbst her, allerdings erst im Zuge der Vorbereitungen zu La proprietà (vgl. Mellen 1973: 13). Dass hier kein vorab entwickeltes Konzept zugrunde liegt, zeigt sich bereits an den nicht realisierten Projekten, mit denen sich Petri Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre beschäftigt. Er setzt sich unter anderem mit verschiedenen Stoffen aus der zeitgenössischen Literatur auseinander, so etwa Alexander Kluges Ein Liebesversuch (1962), Gjenerali i ushtrisë së vdekur (Der General der toten Armee, 1963) von Ismail Kadare, La memoria del mondo (1968) von Italo Calvino und Vendredi (1967) von Michel Tournier (vgl. AMNC ELPE260 [1968]; ELPE295 [1968]; ELPE303 [1969]; ELPE343 [1970]). Außerdem berichtet der Regisseur von seinem Interesse an einem Piratenfilm, der Freibeuter als Vorläufer der Hippies darstellen soll. Auch ein Regieprojekt über eine alternde Truppe neapolitanischer Komödienspieler zieht er in Betracht (vgl. L. A. 1970: 15). Bekannter ist allerdings die Arbeit an einem Film mit dem Titel Nostra signora Metredina. Dieser ist als polemische Auseinandersetzung mit der Democrazia Cristiana konzipiert: Gian Maria Volonté soll darin ein Mitglied der konservativen Regierungspartei verkörpern, das infolge einer unbeabsichtigten Einnahme von Drogen öffentlich die Verbrechen der DC gesteht, zum Protes68
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In den 1960er Jahren finden sich zwar italienische Filme, die über ihre Protagonisten die Arbeit in den großen Fabriken Norditaliens umfassender zeigen oder thematisieren. Da es sich jedoch um wenige Beispiele handelt, lässt sich kaum von einer Strömung des Fabrikfilms sprechen, wie es Williams (2013: 53 f.) tut.
4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
tantismus konvertiert und zum Revolutionär wird (vgl. Fofi 1971: 40). Als die Polizei im April 1969 im süditalienischen Battipaglia auf demonstrierende Arbeiter schießt, unterbrechen Petri und Pirro die Vorbereitungen zu dem Projekt, um sich dem Thema polizeilicher Repression anzunehmen; aus diesem Vorhaben geht noch im selben Jahr Indagine hervor (vgl. Gerosa / Magrì 1970: 27). Die ›Trilogie‹ kreist trotz des augenfälligen Zeitbezugs ihrer ersten beiden Teile um anthropologische Kernprobleme der modernen Klassengesellschaft, wie sie bereits in Petris Regiearbeiten der 1960er Jahre verhandelt werden. Eines dieser Probleme steht dabei jeweils thematisch im Mittelpunkt: in Indagine der Autoritarismus, in La classe operaia die Erwerbsarbeit und in La proprietà der Privatbesitz. Sie erscheinen als Grundfesten einer sozialen Ordnung, die sich zwar als freiheitliche Demokratie präsentiert, aber faktisch durch hierarchische, repressive Strukturen gekennzeichnet ist. Charakteristischerweise bieten die Filme psychologisierende Begründungen an: Ursächlich sind mithin Zwänge, die im Inneren jedes Einzelnen wirksam sind. Im Sinne der Psychoanalyse artikulieren sich diese vornehmlich in einer Unterdrückung der Libido und erotischen Anomalitäten, die symptomatisch anzeigen, wie das natürliche Wesen des Menschen deformiert wird. Die individuelle Pathologie verweist stets auf eine kollektive. Solche Fehlentwicklungen werden schließlich bei allen Mitgliedern der Gemeinschaft manifest, unabhängig davon, welcher Schicht oder welchem politischen Lager sie angehören. Somit wird nicht nur der autoritäre Polizist, sondern letztlich auch der ausgebeutete und nun aufbegehrende Arbeiter, das eigentliche Subjekt der proletarischen Revolution, zu einer problematischen Größe. Auffälligerweise wird in den Filmen auf modernistische Stilformen, wie sie noch Un tranquillo posto di campagna prägen, verzichtet. Die ›Trilogie‹ lässt sich daher im Zusammenhang mit einer politischen Ausprägung der modernen Filmästhetik betrachten, die Kovács folgendermaßen beschreibt: One variant of the counter-cinema trend was geared to finding ways to create symbolic forms for auteurial ideological discourse rather than trying to eliminate the aesthetic texture of the cinema. These films were not meant to interfere with daily issues of politics; they rather treated general ideological questions like capitalism, revolution, bourgeois society, alienation, and consumerism. […] The ideological orientation of these films was undeniable, but precisely because of the parabolic form the meaning of the auteurial discourse was not as aggressive as the political activist variant, and could be sometimes enigmatic. (Kovács 2007: 371)
Kovács setzt solche Filme demnach von militanten Ansätzen ebenso wie der radikalen Politik der Form, wie sie außerhalb Italiens einschlägige Filmemacher wie
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Jean-Luc Godard oder Jean-Marie Straub betreiben, ab. Zu den wichtigsten Beispielen dieser Variante zählt er die Arbeiten von Luis Buñuel, Miklós Jancsó, Theo Angelopoulos und Dušan Makavejev, für das italienische Kino nennt Kovács exemplarisch Pier Paolo Pasolini und Marco Ferreri. Auch die drei Spielfilme von Petri fallen nun durch einprägsame tropische Strukturen auf, wobei jeweils eine spezifische Leitmetapher den zentral gesetzten Problemkomplex verdeutlicht: in Indagine die des Vaters, in La classe operaia die der Mauer und in La proprietà die des Diebstahls. Im Vergleich mit den von Kovács angeführten Arbeiten stellen die beiden Filme von 1970/71 allerdings dezidiert Bezüge zum Zeitgeschehen her. Werden hier also aktuelle Konfliktkonstellationen in den Blick genommen, um die Verfassung des Menschen innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu reflektieren, so erweist sich die Doppelperspektive bei Indagine zunächst als vorteilig: Die Staatsanwaltschaft lehnt eine Anzeige wegen Verunglimpfung der Polizei ab, weil für ihr Dafürhalten autoritäre Unterdrückung im Film als universelles Problem verhandelt wird (vgl. Ansa 1970; Gerosa / Magrì 1970: 26 f.). In der medialen Debatte entwickelt sich dieser Aspekt dann zu einem zentralen Streitpunkt. Die italienische Tagespresse reagiert überwiegend beifällig: So erkennt der Kritiker von Il Popolo bei Indagine durchaus Anspielungen auf konkrete Ereignisse polizeilicher Übergriffigkeit, lobt aber den generalisierenden Blick auf die Thematik (vgl. Valmarana 1970). Im Corriere della sera wird die Zeichnung der Hauptfigur von La classe operaia ebenfalls positiv beurteilt, weil sie der Arbeiterschaft Identifikationsangebote schaffe und zugleich eine allgemeine Betrachtung ihrer Lebenssituation biete (vgl. Grazzini 1971: 13). Kritischere Rezensenten bemängeln dagegen, dass durch den zu weiten Blickwinkel die Darstellung der zeitaktuellen Probleme bzw. des Klassenkampfes unkonkret werde. In diesem Sinn moniert Cinema Nuovo, dass La classe operaia »ci dà un ritratto della condizione operaia, non ci presenta il quadro della lotta operaia« (Alonge / Rivero 1971: 373; Hervorheb. i. Orig.). Für die Cahiers du Cinéma gleitet der Film durch die Psychologisierung sogar in »une simplification humaniste« (Kané 1972: 26) ab, statt auf dem Terrain der politischen Analyse zu bleiben. Ähnlich beklagt Karl Korn schon bei Indagine, dass das »Problem der Kriminalisierung politischer ›Ordnung‹ [nicht] ernst genommen [wird]. Die Chance wurde vertan, weil Gewalt zur Lust degradiert ist.« Die uneigentlichen Elemente der Darstellung nehmen die den Filmen eher abgeneigten Kritiker oftmals als verschärfenden Faktor wahr. So kritisiert Stanley Kauffmann (1971), dass bei Indagine »the symbols are vivid and promising, but, as is often the case with allegory, they rest more immediate attention than they finally justify« (22). Leo Pestilli (1973) sieht in La proprietà dann nur noch
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
»il tono d’un ravvolto e tutto simboleggiato ›grottesco‹ sulla maledizione del possedere« vorherrschen. Die Stimmung unter den Filmkritikern schlägt mit dem dritten Teil der ›Trilogie‹ nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass dort nicht einmal mehr konkrete Bezugnahmen auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse ausgemacht werden können, vollends ins Negative: Der Filmemacher »ha forse creduto, svincolarsi da una diretta sudditanza al reale, di fare il suo film piú [sic!] libero. Di fatto, è avvenuto il contrario: e La proprietà pecca, contemporaneamente e beffardamente, per difetto di realismo e per difetto di fantasia« (Dell’Acqua 1973: 31). Schon bei Indagine beschwert sich das britische Sight and Sound darüber, dass »the result of Petri’s self-imposed demonstrational exercise is that character and story are in fact schematised out of any recognisable ›reality‹« (Andrews 1971: 166). Einer der wesentlichen Einwände gegen die Regiearbeiten besteht demnach im Mangel an Realismus, der für eine profunde Aufklärung über bestehende Konfliktlagen als unbedingt notwendig erachtet wird. Dabei suggerieren zumindest die Schauplätze, dass sie der Lebenswelt des zeitgenössischen Publikums entsprechen. La classe operaia wird etwa unter anderem in einer Fabrik für Aufzüge im norditalienischen Novara gedreht, wobei sogar die beschäftigungslosen Arbeiter des insolventen Unternehmens als Statisten angeheuert werden (vgl. Ballérini et al. 1974: 81 f.; p. b. 1971; Pirro 2001: 89). Doch schon in Petris Arbeitsnotizen deutet sich an, dass diese Aspekte in der Umsetzung des Films keineswegs vorrangig sind: Der Regisseur spricht hier explizit von »pericolo di fare un film neorealista, da evitare« (AMNC ELPE28 [1970/71]: 10). Selbst in La proprietà, wo etwa eine kirchenähnliche Bank den Status des Geldes in der dargestellten Welt versinnbildlicht, dienen die Straßen Roms als Außenkulisse. Die wirklichkeitsnah gestalteten Settings bilden letztlich nur den Rahmen einer Gesellschaftsdarstellung, die die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistisch-bürgerlichen Gesamtordnung hervorkehrt. In diesem Sinn macht allein die Namenswahl der Protagonisten ihre allgemein-typenhafte Konzeption plakativ: Der Massenarbeiter nennt sich Massa, der mittellose Dieb Total; der Kommissar aus Indagine bleibt sogar namenlos. Die Strategien der Verdeutlichung, die den Filmen zugrunde liegen, lassen sich in ihren Komponenten präziser fassen und einordnen als mit dem Begriff des Grotesken; diesen nutzt seinerzeit nicht nur Petri, sondern auch die Filmkritik und später die filmhistorische Forschung. Die charakteristischen Erzählweisen und Gestaltungsmittel finden sich im Prinzip schon in seinen vorherigen Filmen, werden nun aber im gezielten Bruch mit den realistischen Settings zugespitzt. Sie sind hier nicht mehr durch den Rahmen spezifischer Genres wie der Komödie oder der Science-Fiction bzw. der Dystopie gerechtfertigt. Über dieses antirealistische Programm geht La proprietà hinaus, zumal die Figuren durch extra-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
diegetische Monologe im Stil des Epischen Theaters dem Publikum ihre Situation erläutern. Hier wird die Orientierung an Brecht, dessen antiillusionistische Konzeption auch für die Politik der Form zu einem zentralen Referenzmodell wird, augenscheinlich.
4.4.1 Darstellungen der Repression: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (1970) und La classe operaia va in paradiso (1971)
Dabei finden sich auch in Indagine und La classe operaia längere Redepassagen, in denen die Hauptfiguren die politischen Kernthemen der Filme direkt ansprechen. Wie schon in I giorni contati sind solche monologartigen Reden allerdings noch Bestandteil des innerdiegetischen Geschehens. So macht etwa der Kommissar (Gian Maria Volonté), der von seinen Untergebenen nur als Dottore bezeichnet wird, in seiner Antrittsrede als Leiter der politischen Abteilung das Funktionsprinzip der vorgeführten Ordnung explizit: »Repressione è civiltà!« Auf diese Weise pathologisiert der seinerseits pathologische Protagonist von Indagine jegliche ordnungsverändernde Bestrebung und erklärt die Unterdrückung von Freiheit zum geeigneten ›Impfmittel‹, um Zivilisation zu gewährleisten; hierbei setzt er politische Opposition ausdrücklich mit Schwerverbrechen gleich. Die gesellschaftskonstitutiven Zwangsstrukturen, durch die der Einzelne in das bestehende System eingegliedert wird, pointieren in Indagine und La classe operaia nun die Leitmetaphern des Vaters bzw. der Mauer. Der Film von 1970 macht so den vorherrschenden Autoritarismus als Paternalismus einsichtig. Der Theoriebildung des autoritären Charakters entsprechend verweist die Vater-Metaphorik darauf, dass die Hierarchie der bürgerlichen Familie das Individuum prägt: Die väterliche Erziehungsinstanz oktroyiert den gesellschaftlich vorherrschenden Normen- und Wertekodex, wobei sie Abweichungen streng bestraft. Die Verinnerlichung dieses Vaterprinzips führt dazu, dass sich der Einzelne schließlich selbst diszipliniert. Zugleich versucht er, nach dem Vorbild des Vaters andere zu bestrafen, um von Höhergestellten, mithin väterlichen Ersatzfiguren, Anerkennung zu erhalten. Ein autoritäres, ›vaterhaftes‹ Auftreten lässt das Gegenüber in die Rolle des Kindes zurückfallen: Unabhängig davon, ob tatsächlich ein Normverstoß vorliegt, wird im Inneren ein Schuldkomplex aktiviert, der vor Bestrafung fürchten und auf Vergebung hoffen lässt. Durch solche unbewussten Automatismen kann sich die autoritäre Sozialordnung aufrechterhalten. Im Film wird das Modell des strafenden Vaters nun mit dem monotheistischen, jüdisch-christlichen Glauben assoziiert: Schon
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
in der Anfangssequenz setzt die Kamera prominent die Zehn Gebote am Portal der römischen Synagoge ins Bild; Vaterfiguren werden so zu heiligen, quasigöttlichen Instanzen überhöht. Das Zitat aus Kafkas Der Proceß resümiert am Filmende diese Zusammenhänge und Mechanismen, die zuvor beispielhaft an der Polizei aufgezeigt werden: »Qualunque impressione faccia su di noi, egli è un servo della legge, quindi appartiene alla legge e sfugge al giudizio umano.« Die Gesetzeshüter gewinnen im Film ihre Autorität und damit den numinosen Anschein von Unfehlbarkeit eben durch die quasiväterliche Befugnis, Normverstöße zu bestrafen; ein Ge mälde des Erzengels Michael deutet im Polizeipräsidium auf ihre »sacrosante funzioni« in der Verteidigung der quasigöttlichen Ordnung hin. Dies führt dazu, dass für die Polizei selbst die Gesetze des demokratischen Staates keine Gültigkeit besitzen. Der Dottore versucht schließlich zu beweisen, dass er sich nur aufgrund seiner Position und der damit verbundenen Sanktionsmacht seinerseits der Strafbarkeit entziehen kann. Es ist ihm dadurch möglich, sowohl einen Mord zu begehen als auch ein verfassungswidriges Überwachungssystem zu etablieren: Mit solchen Verletzungen der offiziellen Rechtsordnung wird die Polizei insofern ihrer Ordnungsfunktion gerecht, als sie das repressive System, das hinter der freiheitlichen Fassade regiert, schützt. Nach De Gaetano existieren in der vorgeführten Welt daher prinzipiell nur zwei Zustände, nämlich der jenseits sowie der diesseits des Gesetzes. Dort, wo das Gesetz gültig ist, werden Vergehen mit voller Härte bestraft (vgl. De Gaetano 2015: 185 f.). In La classe operaia bringt die Mauer die Unterdrückungsproblematik mit dem kapitalistischen Produktivitätsprinzip in Zusammenhang. Eingrenzungsanlagen dominieren wiederholt den Bildkader: Mauern, Zäune und Gitter schließen die Menschen ein und trennen sie voneinander ab. Auf diese Weise präsentiert der Film sowohl Fabriken als auch öffentliche und soziale Einrichtungen als Kontrollsysteme, die ihre ›Insassen‹ auf die Prinzipien des Kapitalismus eichen. Dem in La classe operaia etablierten Affenvergleich entsprechend erscheinen die Arbeiter als sich unbewusste Individuen, die stupide und immergleich die Mechanismen eines auf Steigerung zielenden Kreislaufs bedienen. Die gefängnisartigen Darstellungen der Schule und der Universität verweisen dabei auf den Vorgang der Charakterformung, durch den der Heranwachsende an die geltenden Denk- und Handlungsnormen angepasst wird. Wie in der psychiatrischen Anstalt werden auch in der Fabrik Abweichungen und Verstöße als abnorm behandelt: Wer sich wie die Hauptfigur Lulù Massa (Gian Maria Volonté) nicht dem Leistungszwang beugt, wird als krankhaft stigmatisiert und ausgegrenzt. Dabei sind es gerade diese Erziehungsanstalten, die erst Krankheiten produzieren; schließlich weisen alle proletarischen Figuren körperliche und mentale
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Fehlfunktionen auf. Das Steigerungsprinzip steht mithin der natürlichen, gesunden Entfaltung des menschlichen Wesens entgegen, wie der Psychiatrieinsasse Militina (Salvo Randone) zum Ausdruck bringt: »E così in quest’inferno, su questo pianeta, pieno di ospedali, manicomi, cimiteri, di fabbriche, di caserme e di autobus il cervello a poco a poco se ne scappa.« Technikmetaphern illustrieren, wie die Produktionsrationalität das Körperliche beherrscht und den Arbeiter enthumanisiert: »Nel cervello c’è la direzione centrale, decide, fa i progetti, i programmi e da via alla produzione. L’individuo […] entra in pista e si mette in movimento«, stellt Lulù in einem Vergleich von Körper und Fabrik fest. Das verhandelte Problem der Unterdrückung wird durch den semantisch aufgeladenen Zeigefinger mit dem erotischen Bereich verknüpft. In stilisierter Form ist dieses menschliche ›Glied‹ etwa an den Wänden der Fabrik zu sehen, wo es plakativ nach unten gerichtet ist: Statt Potenz deutet der Finger den Entzug der Libido an, womit der Film die Freud’sche Phallussymbolik konterkariert. Lulùs Bewusstwerdungsprozess setzt eben mit dem Verlust des Zeigefingers durch einen Arbeitsunfall ein. Wird er sich daraufhin seiner Ausbeutungssituation gewahr und wandelt sich zum Revolutionär, so scheint er sich auch orgiastische Befreiung verschaffen zu können: Nachdem er sich in einer fabrikinternen Diskussion apodiktisch gegen die zur Debatte stehende Akkordarbeit wendet, kommt es zum Geschlechtsverkehr mit seiner Kollegin Adalgisa; das bloß mechanisch vollzogene Liebesspiel bleibt allerdings erfolglos. Bis zu diesem Zeitpunkt lenkt Lulù seine libidinöse Energie in Arbeitsproduktivität um. Er entwickelt daher nur morgens Verlangen, das er aus Gründen der Leistungseffektivität jedoch nicht befriedigt. Stattdessen pflegt er eine pseudoerotische Beziehung zu seiner Maschine, wie Lulùs Konzentrationstechnik plakativ deutlich macht: Bei der Arbeit fokussiert er seine Gedanken auf das Gesäß von Adalgisa, sodass der Akkord zur Masturbation wird (»un pezzo, un culo, un pezzo, un culo«). Beim ersten Film der ›Trilogie‹ werden die psychisch-charakterlichen Dispositionen des autoritären Polizisten durch die spezifische Struktur der Narration in den Vordergrund gerückt: Der Film setzt zeitlich bei dem Mord an der Geliebten des Dottore ein und führt daraufhin die Ermittlung gegen den Kommissar vor. Durch sechs Rückblenden wird die Vorgeschichte der fetischistischen Beziehung zu Augusta (Florinda Bolkan) erzählt, um die Hintergründe der Tat offenzulegen. Als ad hoc ausgelöste Erinnerungen des Dottore verschränken sie hierbei den privaten Bereich der erotischen Affäre mit dem beruflichen seiner Arbeit innerhalb des repressiven Polizeiapparats. Der Dottore fällt hierbei durch ein gestörtes Verhältnis zum Eros auf, das sich etwa in der Nachahmung sexueller Gewaltverbrechen manifestiert. Diese Mordfälle, die der Kommissar mit dem Fotoapparat festhält, wirken auf ihn und seine
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
Liebhaberin stimulierend. Dabei hatte Augusta das Verhältnis zum Dottore als hochrangigem Polizisten sogar forciert, um mit ihm ihre Unterwerfungsfantasien ausleben zu können. Es ist daher bezeichnend, dass sie sich von ihm an ihren Vater erinnert fühlt. Durch die achronologische Erzählweise wird nun eben diese Abnormität des Liebhabers, die im sadomasochistischen Spiel zum Ausdruck kommt, direkt mit dem autoritären, verbrecherischen Vorgehen des Polizisten in Verbindung gebracht. Seine sexuellen Präferenzen bieten sich so als Symptome für die unterdrückerische Kraft des bestehenden Systems dar. Der anarchistische Ex-Student Antonio Pace fungiert in dieser Hinsicht nicht als Gegen-, sondern als Spiegelfigur des Dottore. Der Revolutionär, der ebenfalls eine sexuelle Beziehung mit Augusta eingeht und so zum Konkurrenten des Kommissars wird, entpuppt sich als gleichwertige Machtperson. Als Pace nach seinem Bombenanschlag auf die Polizeizentrale vom Dottore verhört wird, bringt er sich diesem gegenüber in eine überlegene Position, und zwar indem er den Kommissar paradoxerweise durch Nichtbestrafung bestraft. Er war dem Dottore nach dem Mord an Augusta am Tatort begegnet: Paces Wissen über die Täterschaft des Polizisten lässt bei diesem unmittelbar den Wunsch entstehen, denunziert zu werden, ein Geständnis abzulegen und ordnungsgemäß Buße zu tun. Der Anarchist ist sich zwar der Funktionsweise des Machtapparats bewusst, nutzt aber nicht die Gelegenheit, diesen durch die öffentliche Anklage eines hochrangigen Funktionärs anzugreifen. Beschränkt sich der vermeintliche Systemfeind stattdessen darauf, dem Protagonisten die gewünschte Sühne zu verweigern, so offenbart auch er sadistische Wesenszüge. Pace löst demnach eben nicht ein, was der ostdeutsche Filmspiegel beobachtet: Für die Rezensentin findet der Film nämlich »seine Grenze in der politischen Aussage […] in der Annahme, diese ›verdorbene, dekadente‹ Welt würde durch anarchistische Kräfte […] zu grunde gehen« (Bertsch 1973). Stattdessen lassen sich beide Figuren, sowohl der Dottore als auch der Revolutionär, als Darstellungen des autoritären Charakters interpretieren. Indagine legt die Struktur dieser spezifischen Charakterprägung systematisch offen. Der Titel des Films ließe sich in diesem Sinne umdeuten: denn im Italienischen bezeichnet ›indagine‹ nicht nur die kriminalistische Ermittlung, sondern auch die wissenschaftliche Untersuchung. Die Diegese präsentiert sich mithin als fiktionale Versuchsanordnung, die sich den Dottore als Prototyp des autoritären Machtmenschen zum Gegenstand macht. Dabei ist der Mordfall für ihn selbst nichts anderes als ein quasiwissenschaftliches Experiment: Er versucht, durch das Verbrechen den Beweis für seine Erhabenheit ›über jeden Verdacht‹ zu erbringen. Eine subjektive Kamera weist direkt am Filmanfang unmissverständlich auf die Intention des Protagonisten ebenso wie das Programm von Indagine
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
hin, als sie entlang der Fassade des Hauses, in dem der Dottore seine Geliebte umbringen wird, von der dort aufgemalten Personifikation der Justiz zu der der Wissenschaft schwenkt (Abb. 29–30). Die Kriminalerzählung ist daher nicht darauf angelegt, Spannung zu generieren, wie Morricones Filmmusik anfangs noch suggeriert. Bei der Ankunft des Dottore in der römischen Via del Tempio evozieren das ruhige Pizzicato der Streichinstrumente und das darübergelegte, von einer Mandoline eingespielte Leitthema eine spannungsreiche Atmosphäre, die aber nicht von der Erzählweise unterstützt wird: Indem der Film die Identität des Täters zu Beginn offenlegt,
Abb. 29 und 30: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
rücken in Form des howhecatcheshim der Ermittlungsvorgang und die Ermittler selbst in den Blick. Die Autoritätsproblematik wird hierbei gerade dadurch anschaulich, dass die genrekonstitutive Suche nach dem Täter nicht in der konventionsgemäßen Entdeckung und Bestrafung mündet. Der Verlauf des nach dem Mord einsetzenden Detektionsprozesses ist maßgeblich vom inkohärenten Verhalten des Dottore bestimmt. Dessen Motivation besteht ja eigentlich darin, durch die Ermittlung gegen ihn die bestehenden Machtverhältnisse zu bestätigen. Hatte Augusta seine sexuellen Unzulänglichkeiten bloßgelegt und damit seine Autorität unterminiert, so gedenkt er dem durch seine Tat entgegenzuwirken: indem er seine Gespielin sanktioniert und zugleich seine Unantastbarkeit unter Beweis stellt. Die unerwarteten Wendungen im Handlungsverlauf ergeben sich daraus, dass der Dottore auf irrational anmutende Weise zwischen Machtdemonstration und Schuldeingeständnis schwankt. Er lenkt die Ermittlungen zwar in seine Richtung, indem er gezielt Beweismittel platziert, Unschuldige entlastet und sich sogar offen als Täter zu erkennen gibt. Durch die Inszenierung seiner Autorität zwingt er Untergebene und Zeugen dann, das Offensichtliche zu leugnen. Dennoch vernichtet der Dottore beispielsweise die ihn belastende Krawatte, als einer der Ermittler tatsächlich gegen ihn Verdacht zu hegen scheint. Den endgültigen Wendepunkt markiert dann das als Showdown inszenierte Verhör von Pace. Was nach Maßgabe des klassischen Erzählkinos als Bruch in der Figurenzeichnung erscheinen mag, stellt sich als charakterkonstitutives Merkmal des Dottore heraus. Dieses wird direkt benannt, als in der traumartigen Schlusssequenz der Polizeichef einen konkreten Deutungshorizont für ein solches Verhalten vorgibt: Er diagnostiziert bei dem mörderischen Kommissar eine neurotische Dissoziation. Der Dottore fällt wie Lulù demnach durch eine als pathologisch akzentuierte Widersprüchlichkeit auf, ohne dass seine Darstellung selbst jemals ambig wird, wie es die politisierte, strukturalistisch orientierte Filmkritik einfordert – auch dank solch explikativer Elemente wie dem Kommentar des Polizeichefs. Zwar wird dieses Filmende als Imagination des Mörders ausgestellt und dadurch abgeschwächt. Doch deutet sich hier an, dass die verbrecherische Polizeiclique die Tat des Dottore vertuscht und so die bestehende Ordnung sicherstellt: Die Selbstanklage des aus ihren Reihen stammenden Mörders wird auf hyperbolische Weise entkräftet, als die obersten Funktionäre vom Protagonisten ein Geständnis seiner Unschuld erzwingen. Dagegen stellt die ebenfalls traumhaft übersteigerte Schlussszene von La classe operaia die Überwindung des repressiven, ausbeuterischen Systems zumindest in Aussicht. Massa erzählt hier den am Fließband beschäftigten Arbeitern von einem Traum, in dem er eine Mauer niederreißt, um ins Paradies zu gelangen. Doch statt des Garten Eden
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
kann er in dem sich auftuenden Nebel nur seine Kameraden und sich selbst erkennen: Hier wird auf uneigentliche Weise deutlich gemacht, dass sich die proletarische Klasse ihrer selbst bewusst werden muss. Kann Massa im ›infernalischen‹ Diesseits seine inneren Hindernisse noch nicht überwinden, so bleiben in der Logik des Films die kapitalistischen Verhältnisse bestehen. Das apotheotische Filmende, das die Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrer Zwangssituation andeutet, wird in verschiedenen Szenen vorbereitet. So ist es Massas scheinbar verrückter Ex-Kollege Militina, der erkannt hat, dass die Arbeiterklasse zuerst ihre mentalen ›Mauern‹ zu durchbrechen hat. Was er im Sinne der Leitmetapher anklingen lässt, macht der namenlose Studentenführer, der durch seine äußerliche Ähnlichkeit zu Karl Marx auffällt, explizit.69 Er bringt konkret die Notwendigkeit zum Ausdruck, die verfestigten Annahmen über das persönlich wie gesellschaftlich Mögliche zu ändern: »Ci sono mille modi di vivere. Prova a cambiare […], prova a non vivere come sei stato abituato.« Hierbei fällt der Film stärker als Petris bisherige Arbeiten durch die Betonung des Kollektivs auf. In diesem Sinn verweist der Sprecher der vereinten Gewerkschaften auf die notwendige Einheit der Arbeiterklasse: In seinem Aufruf zur Geschlossenheit wendet er sich mit direktem Blick in die Kamera an Massa und damit zugleich an die ›Massen‹-Arbeiter außerhalb des Films. In dem Zusammenhang sind die ausdrucksstarken Ansichten der marschierenden Fabrikarbeiter zu sehen. Als die Belegschaft morgens zu ihren Arbeitsstätten strömt, manifestieren sich in ihrer zielstrebigen Bewegung Masse und Entschlossenheit. Die Inszenierung stellt das Potenzial der proletarischen Klasse heraus: Vor der Fabrik fährt die Kamera in Aufsicht mit den Arbeitern und vermittelt so ihre zahlenmäßige Stärke, ehe sie sich selbst in ihre Reihen integriert (Abb. 31–32). Morricones Filmmusik verleiht dem so erzeugten Eindruck proletarischer Einheit dabei eine militärische Konnotation. Das Titelstück im 2/4-Takt erinnert im Grundschlag an einen Marsch, ehe ein pathetisch anmutendes Solo einer Tenorposaune einsetzt. Dessen Wechsel mit dem intensiven Synket-Sound, der die Geräusche der Fabrikmaschinen imitiert, inszeniert musikalisch den Widerstreit zwischen Unterdrückung und Aufbegehren. Als Militina dann verstohlen ein Buch über Spartakus liest, nimmt der Film auf ein prominentes Rebellionsnarrativ Bezug: Der Klassenkampf wird zum modernen Sklavenaufstand stilisiert. Diese Sublimierung des Fabrikproletariats konterkariert der Film durch seinen zentralen Protagonisten. Trotz seines Aufbegehrens bietet Lulù Massa keinen
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Im Dialogbuch trägt die Figur tatsächlich den Namen Marx, im Film bleibt sie namenlos (vgl. AMNC ELPE28 [1970/71]: 43–256).
4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
Abb. 31 und 32: La classe operaia va in paradiso
Helden, ja ist nicht einmal durchweg positiv besetzt. Anhand seiner Figur zeigt La classe operaia die Ursachen für das Ausbleiben der proletarischen Revolution auf. Der Film richtet sich damit gegen das idealisierte Bild des Massenarbeiters, das damals die operaistische Ausprägung der Neuen Linken, insbesondere die außerparlamentarischen Gruppierungen Lotta continua und Potere Operaio, entwirft.70 Der Operaismus, der sich schon in den frühen 1960er Jahren als Strömung 70
Von daher ist es kaum verwunderlich, dass Lotta continua in seiner gleichnamigen Wochenzeitung La classe operaia als »un film del padrone« (o. A. 1971b) abstempelt.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
innerhalb des italienischen Marxismus ausbildet, wendet sich seinerzeit programmatisch der Situation in den Fabriken zu. Der Name des Protagonisten referiert ironisch auf den ›operaio massa‹, den die Vertreter des Operaismus im Typus des unqualifizierten, meist aus Süditalien stammenden Industriearbeiters sehen: Als Subjekt der proletarischen Revolution steht dieser im Zentrum ihrer politischen Theorie und Praxis (vgl. Bisoni 2015: 124; Birkner / Foltin 2010: 11–34; Wright: 2005: 120–164).71 Demgegenüber verweist La classe operaia auf die im Inneren wirksamen Hemmfaktoren, die ›Mauern‹, die die Rebellion des Massenarbeiters verhindern. Diese werden durch die Entwicklung der Hauptfigur hervorgekehrt, die der Film über seine spezifische Farbdramaturgie sichtbar macht. Ein orangener Pullover signalisiert Lulùs revolutionäre Haltung, die er nach dem Verlust des Zeigefingers vorläufig einnimmt. Als er zur Arbeit in der Fabrik zurückkehrt, trägt er zum Zeichen seiner wieder angenommenen Konformität wie zuvor ein schwarzes Obergewand mit Gittermuster. In dieser Abfolge spiegelt sich der dreiteilige Aufbau der Handlung, der den von Massa durchlaufenen Bewusstseinszuständen entspricht: zunächst eine totale Affirmation des Akkords, den Massa als Taktgeber antreibt; dann die totale Ablehnung, sodass er infolgedessen von den Studenten und revoltierenden Arbeitern zur Leitfigur des Klassenkampfes erhoben wird; zuletzt eine moderate Zustimmung, nachdem er von den Radikalen enttäuscht und dank der Gewerkschaft wieder eingestellt wird. Über Massas Werdegang mag La classe operaia nun verschiedene Meinungen gegenüber der Erwerbsarbeit entfalten, die abwägend nebeneinandergestellt werden. In seinem Changieren zwischen diesen Positionen erscheint der ausgebeutete Arbeiter im Film allerdings als orientierungslos: denn in seiner Vorstellungswelt kann sich eben keine konkrete Alternative zur Erwerbsarbeit herausbilden.72 Die zirkulär angelegte Narration macht demnach das Paradox einsichtig, dass bei Massa wie bei dem Klempner aus I giorni contati trotz des einsetzenden Erkenntnisprozesses die Maxime des Geldverdienens unhinterfragt bleibt; die Hauptfigur trägt in Petris ersten Skizzen sogar den Namen Cesare Conversi (vgl. AMNC ELPE28 [1970/71]: 1–16, 22–24). Im Kreisschluss vermittelt sich das mentale Gefängnis der Erwerbsarbeit, aus dem Massa nicht entfliehen kann. Sein 71
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Tatsächlich spielen die radikalen Studenten und Arbeiter vor der Fabrik auf Potere Operaio an, von dem sie den Schlachtruf »Vogliamo tutto e subito« übernehmen (vgl. Scavino 2018: 143). Interessanterweise bringt Petri in seinen Aufzeichnungen Massas Geschichte unter anderem mit der antiken Odyssee in Zusammenhang: Er bezeichnet den Protagonisten als ›Ulisse‹, sodass die Entwicklung des Massenarbeiters mit den Irrfahrten des antiken Helden assoziiert wird (vgl. AMNC ELPE28 [1970/71]: 17–21).
4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
Handeln ist stets individualistisch motiviert: Den politisierten Studenten und Kollegen schließt er sich nur an, solange ihm mit ihrer Hilfe eine Verbesserung seiner persönlichen Lage möglich erscheint; Massas Rebellion bleibt oberflächlich. Zugleich versuchen die Protestler, ihn für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. In ihrem Verhältnis zum Massenarbeiter unterscheiden sich Lulùs Lebensgefährtin Lidia oder seiner Ex-Frau Maria damit weder vom Kapital noch von den moderaten Gewerkschaften: Alle im Film auftretenden Kräfte versuchen, ihn zu bestimmen oder Nutzen aus ihm zu ziehen. Die Darstellung der ambivalenten Figur ist stark vom antinaturalistischen Stil des Schauspiels geprägt. Gian Maria Volonté, der sowohl den ausgebeuteten Arbeiter als auch den autoritären Kommissar mimt, bedient sich hierbei jeweils den Mitteln des overactings, um die charakteristischen Merkmale der von ihm verkörperten Figuren aufzuzeigen. Er widersetzt sich demnach in seinen typisierenden Inszenierungen des autoritären Polizisten und des Massenarbeiters dem Prinzip der Wirklichkeitstreue: Dadurch hält er die Darstellung des jeweiligen Sozialtyps zugleich als Konstruktion präsent. Allein in der Sprechweise des Dottore wird diese Doppelabsicht manifest, zumal der sizilianische Dialekt durch die verschleifende Aussprache und die übertreibende Intonation äußerst gekünstelt anmutet. Wichtiger als solche Eigenschaften der äußerlichen Erscheinung ist dem Programm der Psychologisierung entsprechend die Verdeutlichung der inneren Verfassung. Darin unterscheiden sich Petris Regiearbeiten signifikant von modernistischen Filmen, die eine Politik der Form verfolgen: Dort stellen die Darsteller im Anschluss an Brecht oftmals Distanz zu ihren Rollen her, wobei die indexikalische Beziehung zwischen dem schauspielerischen Ausdruck und der psychischen Lage der Figuren aufgelöst wird. In Indagine und La classe operaia kehrt die karikierende Überzeichnung dagegen die figureninternen Vorgänge dezidiert nach außen. Volonté akzentuiert so die charakteristische Widersprüchlichkeit der Protagonisten, die aus ihren unkontrollierbaren Zwängen resultiert: Der Dottore fällt in seiner Mimik, Gestik, Sprechweise und Stimmführung ebenso durch extreme Kontraste auf wie Lulù Massa. Auf diese Weise wird in Indagine das Wechselspiel zwischen den herrischen und infantilen Komponenten, die den autoritären Charakter kennzeichnen, evident gemacht. Die Fallhöhe von Volontés Darstellung entsteht dadurch, dass sich der Dottore gegenüber Untergebenen gerade um die Inszenierung paternalistischer Autorität bemüht, also die Vermittlung eines bestimmten Erscheinungsbildes beabsichtigt. Bisoni differenziert daher drei Ebenen des Schauspiels. Die ersten beiden umfassen all jene Techniken, mit denen Volonté diese kontrollierte Selbstdarstellung des Kommissars konstituiert: einerseits solche der Forcierung,
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
die eine gebieterische Souveränität ausstellen – diese wirken auf Subalterne besonders angsteinflößend, wenn der Dottore seine Dominanz durch ein ruhiges, selbstsicheres Auftreten inszeniert; andererseits werden Techniken der moderaten Zurücknahme eingesetzt, wenn er sich gegenüber Höhergestellten komplizenhaft und unterwürfig gibt oder durch Späße Wohlwollen suggeriert. Dem steht jeweils der völlige Kontrollverlust in Situationen der Unterwerfung gegenüber, der den Rückfall in die Rolle des Kindes markiert. Dieser artikuliert sich vor allem über ein weit aufgerissenes Gesicht und eine abwehrende Gestik, verstärkt durch eine weinerliche bis hysterische Stimme (vgl. Bisoni 2011: 97–99). Der markante Wechsel von Autoritarismus und Unterwürfigkeit nimmt dem Kommissar die von ihm selbst intendierte Überlegenheit; doch wirkt er darin niemals komisch. Bei seiner Verkörperung des Massenarbeiters intensiviert Volonté dagegen immer wieder den Eindruck von Einfältigkeit – indem er Massas Blick die Kraft nimmt, seine Stimme heiser werden und sogar überschlagen lässt. Das so erzeugte Bild pointiert Lulù selbst, als er eigentlich ironisch meint: »Sì, so’ scemo io, so’ scemo.« Auf diese Weise subvertiert Volonté die aggressive Haltung, die Massa in Konfliktsituationen durch ein ausdrucksvolles Auftreten zur Schau trägt. Allerdings kann der aufbegehrende Massenarbeiter seine Physis im Unterschied zum Dottore gerade nicht kontrolliert einsetzen, sodass die sich widerstrebenden Regungen zwischen Rebellion und Regression in jeder Situation scheinbar direkt zutage treten. Seine Komik löst so stets die Spannung auf, die vor allem in den Szenen der Fabrik, dem Ort der Ausbeutung und des Klassenkampfs, kulminiert. In dieser auf Psychologisierung ausgerichteten Darstellungsweise besitzt die Großaufnahme einen noch höheren Stellenwert als in Petris vorangehenden Regiearbeiten. Sie setzt das Mienenspiel als mikrodramatischen Schauplatz in Szene: In Indagine vermittelt der Dottore seine Autorität maßgeblich über den entschlossenen, abschätzigen Ausdruck eines maskenhaft anmutenden Gesichts; die Miene des Gegenübers zeigt in Reaktion darauf jeweils angstbedingte, oft schuldbewusste Verunsicherung. Als Darstellungsmedium der individuellen Gefühlslage dominiert die Großaufnahme ganze Schnittfolgen, so etwa in den Szenen mit dem Klempner (Abb. 33–34).73 An der Großaufnahme wird beispielhaft das audiovisuelle Konzept offenbar, das insbesondere diese beiden Filme der ›Trilogie‹ bestimmt: Aussagekräftige 73
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Diese Nebenfigur wird bezeichnenderweise von Salvo Randone verkörpert, sodass auch dieser Film auf Petris zweite Spielfilmregie referiert: Innerhalb seines Werks erscheint Cesare aus I giorni contati dadurch als Urtyp des sich unbewussten Proletariers.
4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
Abb. 33 und 34: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto
Motive haben stets gegenüber der raumzeitlich logischen Verknüpfung Vorrang, ohne dass die Kohärenz der fiktionalen Narration ernsthaft gefährdet wird. Nur selten bieten die Filme durch Totalen einen Überblick über den Schauplatz, wobei selbst hier die evozierten Assoziationen wichtiger sind als die räumliche Orientierung, so etwa bei den oben skizzierten Ansichten der marschierenden Arbeiterschaft. Bleiben nahe Einstellungen insgesamt vorherrschend, so werden durch eine stark verringerte Tiefenschärfe die Objekte oftmals von ihrem Hintergrund abgehoben. Vor allem in La classe operaia verstärkt die mise en scène im Zusammenspiel mit der Montage und der extradiegetischen Musik auf diese
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Abb. 35: La classe operaia va in paradiso
Weise die schauspielerische Inszenierung oder erzeugt gar zusätzliche Bedeutungen: So wird Massa wiederholt visuell mit kitschigen Spielzeugfiguren verknüpft, etwa einem Bambi-Kuscheltier, einem aufblasbaren Engel oder dem Wackeldackel in seinem Fiat 850. Gleiches ist für die stilisierte Farbgebung zu konstatieren, die stark bunte Flächen mit der entsättigten Szenerie der Fabrik in der winterlichen Landschaft kontrastiert: Der häusliche Rückzugsort des Arbeiters wird beispielsweise vom monochromen, schwer wirkenden Blau des Fernsehbildschirms beherrscht (Abb. 35). Derart suggestive Mittel lassen schließlich auch die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt des Arbeiters nachvollziehbar werden, indem sie Reize und innere Vorgänge simulieren. Schon die Anfangssequenz macht in diesem Sinn Massas Fremdbestimmung filmisch evident: Scheinen bereits vor dem Klingeln des Weckers die Buchstaben der Firma BAN in schnell montierten Großaufnahmen auf, begleitet von den maschinenähnlichen Geräuschen des Synkets, so zeigt sich hier, wie die Arbeit in der Fabrik Lulùs Unterbewusstsein besetzt. Vor der Fabrik werden dann die Aktivierungsversuche der Studenten- und Gewerkschaftsgruppen durch das vom Megafon verstärkte Schreien sinnlich greifbar. Massas Konzentrationsanstrengungen illustriert dann eine dynamische, fast sogartige Montagesequenz von Detail- und Großaufnahmen sowie Zooms, die seine Tätigkeit an der Maschine zeigen, wobei sich der Grundrhythmus der Filmmusik mit den immer schneller werdenden Melodien der Streich- und Blasinstrumente steigert.
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
4.4.2 Funktion der Medien und Selbstpositionierung des ordnungskritischen Films
Hans Blumenberg (1972) verurteilt die Machart des Films als »terroristische Italowestern-Dramaturgie, die hektischen Zooms und rasend schnellen Einstellungsfolgen entziehen dem Zuschauer permanent die Möglichkeit zur Reflexion und dekouvrieren gleichzeitig den kritischen Anspruch des Films als modische Attitüde«. Schon bei Indagine moniert DER SPIEGEL solche »autoritären KinoMittel[]« (o. A. 1970). Die bundesdeutschen Rezensenten erkennen wie viele der italienischen Kollegen die auf Verdeutlichung ausgerichtete Strategie von Petris Filmen nicht an: Die Verfahren sind einer filmischen Inszenierungsweise verpflichtet, die charakteristischerweise sowohl die verhandelten Problemkomplexe als auch das Medium selbst deutlich werden lässt. Schließlich erzeugen die Verstöße gegen die découpage classique ebenso wie das antinaturalistische Schauspiel, die kontrastreiche Farbdramaturgie und die stilisierten Bildkompositionen autoreferenzielle Effekte. In Indagine sind sogar verschiedene Elemente vorhanden, die ausschließlich in der Funktion des filmischen Selbstverweises aufgehen: so etwa mehrere kunstvoll arrangierte Ansichten oder virtuose dolly shots der sehr agilen Kamera, die nicht diegetisch motiviert sind (vgl. Bisoni 2011: 69–72). Am Übergang zu einer Rückblende wird die Filmtechnik sogar sichtbar gemacht: Bei der Vernehmung von Augustas Ehemann fokussiert die Kamera durch eine orangefarbene Scheibe, die wie in La classe operaia zuhauf ins Szenenbild integriert ist, ehe Objektive unterschiedlicher Brennweiten nach oben wegklappen; dieses Mittel findet sich schon in Un tranquillo posto di campagna. Außerdem ist Petri wie bereits in A ciascuno il suo selbst kurz im On zu sehen: Er sitzt bei der Antrittsrede des Dottore im Publikum. Im Film von 1967 taucht der Regisseur am Straßenrand sitzend zwischen den Autos des Hochzeitszuges von Luisa und Rosello auf. Bei Indagine und La classe operaia deuten allein schon die plakativ gestalteten Figuren mit ihren außergewöhnlichen, betont nicht alltäglichen Aktionen auch darauf hin, dass hier im Rahmen der Fiktion recht komplexe Zusammenhänge durch eine verdichtende Darstellung veranschaulicht werden. Auf diese Weise mag sich der Eindruck des Traumhaften einstellen, den laut De Gaetano (1999: 13–15) eine groteske Repräsentation der diesseitigen Welt hervorruft. Doch ebenso unbestreitbar ist die Tatsache, dass La classe operaia wie schon Indagine durch eine »ostentative Künstlichkeit« (Pause 2014: 209) auffällt. Die ästhetische Machart der Filme trägt so dem Wahrnehmungs- und Erkenntnisproblem Rechnung, das in den Filmen jeweils im Zusammenhang mit den repressiven Gesellschaftsstrukturen verhandelt wird: Auch bei diesen Regie-
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Abb. 36: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto
arbeiten von Petri kann die vorherrschende Ordnung fortbestehen, weil den Subalternen die Fähigkeit abhandenkommt, die unmittelbar und evident vor ihnen liegende Welt zu erfassen. Bei Indagine verfestigen sich die ungleichen Machtverhältnisse unter anderem dadurch, dass das Individuum seiner Obrigkeit gegenüber ›blind‹ wird. Hier sind es der Glauben an eine unfehlbare Autorität und die Furcht vor Bestrafung, die dazu führen, dass Offensichtliches falsch interpretiert oder sogar negiert wird. Die erfolglose Kriminalermittlung macht diese Krise auf eindrückliche Weise anschaulich: Untergebene Ermittler können zwar Indizien sinnlich erfassen, aber nicht die dahinterstehenden Zusammenhänge begreifen. Nachdem der Dottore etwa auf Panunzio, einen Spezialisten der Spurensicherung, Druck ausübt, »weigert [dieser] sich, aus den offenkundigen Zeichen die notwendigen Schlüsse zu ziehen« (ebd.: 207); für die übermäßig vergrößerten Hand- und Fingerabdrücke seines Vorgesetzten, die er in der Wohnung des Opfers sichergestellt hat, gibt er dem Dottore wie sich selbst beflissentlich entschuldigende Erklärungen (Abb. 36). Darüber hinaus vermittelt sich das soziale Machtgefüge über stark ausgeprägte Hierarchien des Blicks. So werden in La classe operaia die Arbeiter von Kon trolleuren überwacht, um sie zu einer stetigen Steigerung der Produktionsleistung anzutreiben: Der wütende Lulù drückt der aufblasbaren Dagobert-Duck-Figur seines Stiefsohnes eine Zigarette ins Auge, weil er von diesem den repressiven Blick des Kapitals auf sich gerichtet fühlt. Die autoritären Verhältnisse bilden in Indagine sogar ein panoptisches System aus; in Erweiterung von Pauses Befun-
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
den lässt sich behaupten, dass der Film ein Regime der Wahrnehmbarkeit inszeniert (vgl. ebd.: 199–202, 206–210). Dieses manifestiert sich in technisch-medialen Apparaturen, die es der Polizei erlauben, subversive Subjekte zu beobachten und selbst unsichtbar zu bleiben; die Telefonüberwachung ist hier nur das offensichtlichste Beispiel. Nach dem Prinzip des Venezianischen Spiegels, der bei diesem Film im Verhörraum zu sehen ist, funktionieren mithin auch die zahlreichen Geräte, die dazu dienen, aufzuzeichnen und wahrnehmbar zu machen. Nicht nur die Presse, die der Dottore über den ihm hörigen Journalisten Patané manipuliert, sondern auch die im Film gezeigten Foto- und Filmkameras, Projektoren, Tonbandgeräte und die moderne Computeranlage fungieren demnach keineswegs als neutrale Medien der Wirklichkeitskonstitution: Indagine zeigt ein gesellschaftliches System, das nur Bilder von Wirklichkeit zulässt, durch die es sich selbst stützen kann. So kann der Computer, der durch die Auswertung von polizeilichen Archivunterlagen die Verbrechensaufklärung erleichtern soll, nur die von den Beamten eingespeisten Daten verarbeiten. Als mögliche Täter präsentiert er dementsprechend ausschließlich solche Personen, die aus Sicht der Ordnungshüter ohnehin als kriminell oder verdächtig gelten. Im Falle von Augustas Mord schlägt der Apparat daher den Anarchisten Pace vor, der neben dem Opfer wohnt. Diejenigen, die den Computer betätigen, werden konsequenterweise nicht erfasst (vgl. ebd.: 208). Als der Film 1970 bei einem Runden Tisch diskutiert wird, sind die anwesenden Vertreter der Polizei sehr darum bemüht, die Überwachungsanlagen als reine Fantasieprodukte des Regisseurs und des Drehbuchautors auszuweisen. Petri und Pirro wird dabei vorgeworfen, die öffentliche Debatte durch ein verfälschtes Bild der Polizeiarbeit zu befeuern (vgl. Gerosa / Magrì 1970: 29 f.). Die in den Filmen vorgeführten Machtverhältnisse werden nun durch systemkonforme Medienprodukte und Kunstformen gestützt, die die Alltagswelt der Figuren prägen. Im Zuge einer Konsumkritik verweist La classe operaia hierbei vor allem auf populärkulturelle Zerstreuungsangebote. Das Fernsehen, dessen Programm zwar nicht sichtbar, zumindest aber akustisch wahrnehmbar ist, wartet etwa mit Carosello oder der Spieleshow Rischiatutto auf; außerdem wird mit Dagobert eine Comic-Figur eingebracht, die par excellence die Ideologie des Geldes repräsentiert. Im Film entwickelt insbesondere das Fernsehen eine quasihypnotische Wirkung auf die unterdrückte Arbeiterklasse: Es setzt den Willen der Rezipienten aus, indem es scheinbar entspannt, und implementiert die Werte des Kapitals und des Konsums in das Unterbewusstsein. Wird die Fähigkeit kritischer Reflexion ausgeschaltet, so erscheint dies im Film als Vorgang geistiger Unterwerfung; Sehen verkommt hier zum passiven Starren (Abb. 35). Solche Angebote komplettieren damit den Kreislauf aus entfremdeter Arbeit und
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
dumpfer Zerstreuung, Fabrik und Wohnung, in dem die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft den Massenarbeiter gefangen hält. Demgegenüber problematisiert Indagine wie frühere Filme von Petri zunächst die Ästhetik einer bloß schönen Form, die als bürgerliches Kunstideal der dekadenten Tradition D’Annunzios zugeschrieben wird: Das Porträt des ›blinden Sehenden‹ prangt im Büro des Polizeichefs neben großformatigen Gemälden, die in ihrem Stil und den Sujets an Edgar Degas und Pierre-Auguste Renoir erinnern. In Indagine hat die Darstellung dieser Werke allerdings andere Implikationen als etwa in Il maestro di Vigevano. Hier entspricht eine solch inhaltslose Kunst, die lediglich sinnliche Erbauung bietet und als geschmacksausweisendes Sammlerobjekt dient, schließlich dem vom Polizeichef repräsentierten Herrschaftssystem. Dabei ist daran zu erinnern, dass der stark nationalistisch eingestellte, selbst politisch aktive Schriftsteller seinerzeit dem Regime Italiens sehr nahestand, ja dieses sogar vorbereitete. Das mit ihm assoziierte, vermeintlich unpolitische Kunstkonzept deutet im Film mithin einen faschistischen Charakter an. Ein differenzierteres Verhältnis bildet Indagine zur Kriminalerzählung aus. Stützt sich der Film selbst auf das Schema Mord – Ermittlung – Aufklärung und bedient sich hierbei charakteristischen Figurentypen, Standardsituationen und Motiven des Genres, so sind diese Bezugnahmen damals vielen Kritikern aus dem politisch linken Spektrum verdächtig. Sogar Fürsprecher wie Lino Micciché sehen darin eine gefährliche Annäherung an die kommerzielle Filmindustrie: Der Regisseur operiere »sul filo del rasoio di un rischioso rapporto da cui è ogni volta uscito con dignità ma non sempre riuscendo a salvarsi con l’intelligenza delle compromissioni consumistiche del cinema industriale« (Micciché 1970). Allerdings deutet der Film schon zu Beginn an, dass er sich reflexiv mit dem Krimigenre auseinandersetzt. Augusta liest vor dem verhängnisvollen Sexualakt mit dem Kommissar noch eines ihrer zahlreichen gelben Taschenbücher, wobei charakteristischerweise bereits die Umschlagsfarbe den Inhalt anzeigt: Der Mailänder Verlag Mondadori gibt seit 1929 Detektivgeschichten in den auffälligen Einbänden heraus, sodass in Italien noch heute jede Form der Kriminalfiktion als giallo bezeichnet wird. Indagine legt als »giallo capovolto« (Minuz 2011: 53) nun eben an der kriminalistischen Ermittlung die Autoritätsproblematik offen. Die Konzeption des Dottore markiert und funktionalisiert hierbei insofern eine Abweichung von Genremustern, als der Ordnungshüter selbst zum Verbrecher wird. Darin unterscheidet sich Indagine wiederum von anderen politischen Kriminalfilmen, die damals in Italien produziert werden: Beispielsweise treten bei Damiani oder Rosi die Kommissare bzw. Staatsanwälte noch als integre Persönlichkeiten auf; als solche kämpfen sie gegen eine unsichtbare Macht, einen Staat hinter dem Staat. Die Darstellung des Dottore schließt dagegen an die antiautori-
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
täre Kritik an einem als per se repressiv wahrgenommenen System an. Mancher Rezensent beklagt sich daher darüber, dass die Hauptfigur »bis zum Monster dämonisiert« (Donner 1970) wird. Auch hier fungieren die Medien im Film jeweils als Kontrastfolien, durch die sich die Regiearbeiten selbst positionieren. Indagine und La classe operaia präsentieren sich demnach als mediale Artefakte, die die problematisierten Machtverhältnisse angehen – und zwar indem sie unter anderem auf die mit diesen verknüpften Wahrnehmungsverhältnisse hinweisen. Die Aufklärungsabsicht, die sich in den ersten beiden Teilen der ›Trilogie‹ abzeichnet, wird in La proprietà dann explizit gemacht. Hier wenden sich die fiktiven Figuren direkt an das Publikum, um die an ihnen selbst vorgeführten Problemlagen auf die alltäglichen Lebensumstände außerhalb der Fiktion zu übertragen. Als Vorbild dient hier ein Medium, das auch im Film zu sehen ist: das Theater.
4.4.3 Sonderfall La proprietà non è più un furto (1973)
Der dritte Teil der ›Trilogie‹ ist Petris einzige Kinoregie, die eine Schauspielerfigur vorführt. Innerhalb des Films nimmt der Bühnendarsteller Albertone eine herausgehobene Stellung ein, wie schon das Titelbild andeutet (Abb. 37). Er verweist ostentativ auf die für die kapitalistische Gesellschaft konstitutive Diskrepanz zwischen Schein und Sein: Nach außen inszeniert man sich als ehrliche Persönlichkeit, doch insgeheim strebt jeder danach, sich fremdes Kapital anzueignen. Albertone selbst bietet sich dementsprechend im Rampenlicht der Öffentlichkeit als Schauspieler dar, während er im Verborgenen als Dieb tätig ist. Diesen Widerspruch verortet die Figur im Bereich des Pathologischen, wenn sie sich bei ihrem Bühnenauftritt als gespaltenes Wesen, halb Mann, halb Frau, präsentiert: Albertone verkörpert den dissoziativen Charakter der auf Privatbesitz gründenden Ordnung (Abb. 38). Seine Darbietung, bei der er das Gedicht Er padre de li santi aus Giovanni Gioacchino Bellis Sonetti romani rezitiert, substituiert den ursprünglich für ihn vorgesehenen extradiegetischen Monolog.74 Albertone ist mithin die einzige Figur, die sich nicht über diese für den Film charakteristische Form der Figurenrede offenbart. Prinzipiell führen diese Ansprachen die stilistischen Entwicklungen, die sich in den früheren Arbeiten des Regisseurs beobachten lassen, nur ins Ex 74
Im Drehbuch ist dieser Monolog noch enthalten (vgl. AMNC ELPE32 [1972]: 126 f.). Den Autoren zufolge wird dieser aus erzählökonomischen Gründen gestrichen (vgl. Ballérini et al. 1974: 74; Pirro 2001: 103).
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Abb. 37 und 38: La proprietà non è più un furto
trem: Nicht nur in Indagine und La classe operaia, auch in den Filmen der ersten Schaffensphase finden sich ja ausführliche Redepassagen, in denen die Figuren auf signifikante Zusammenhänge hinweisen und diese erklären. Die ›vierte Wand‹ durchbrechend wenden sie sich hier nun unmittelbar an die Kinobesucher, um ihre Gefühlslagen und Bedürfnisse explizit zu machen. Die Protagonisten versuchen dadurch, das Publikum seinem eigenen zwanghaften Begehren nach Eigentum gewahr werden zu lassen. In La proprietà wird der Klassenantagonismus nämlich nicht auf ungleiche Produktionsverhältnisse zurückgeführt, sondern auf fehlgeleitete Begierden und Gefühle: In einem
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Abb. 39 und 40: La proprietà non è più un furto
Gesellschaftssystem, das vollkommen auf das Kapital ausgerichtet ist, unterliegen alle einem unnatürlichen Wunsch zu ›haben‹. Die Intention, zur reflektierenden Identifikation mit den Figuren auf der Leinwand anzuleiten, tritt hierbei offen zutage: Die fünf extradiegetischen Monologe zielen darauf ab, ähnlich wie beim Epischen Theater die Illusion eines kontinuierlichen Handlungsverlaufs zu stören und die Zuschauer zu einer nachdenkend distanzierten Haltung anzuleiten. Ob das Verfahren die intendierte Wirkung tatsächlich erreicht, sei dahingestellt. Zumindest moniert etwa Brigitte Jeremias anlässlich der Vorführung des Films bei der Berlinale 1973 eher
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
das Gegenteilige: »Petri zielt auf Emotionen. Um sie hervorzurufen, bedient er sich der knalligsten Apparaturen der Filmindustrie, die er zu verachten vorgibt« (Jeremias 1973). Dabei setzen sich die Monologe deutlich vom Setting der diegetischen Welt ab, sodass die Narration tatsächlich unterbrochen wird und eine kapitelartige Struktur entsteht. Diese kurzen Szenen sind betont artifiziell gestaltet: Die im Bildzentrum platzierten Personen werden von einer dunklen Kulisse umgeben, wobei extreme Beleuchtungswinkel unnatürliche Kontraste auf den Gesichtern entstehen lassen (Abb. 39–40); im Hintergrund ist stets ein dissonantes Rauschen zu vernehmen. Im Unterschied zu Ipotesi sulla morte di G. Pinelli, wo sich die Filmschaffenden als solche zu erkennen geben, fallen die Schauspieler hier nicht aus der Rolle. Statt die Empfindungen der inszenierten Charaktere zu vermeiden, werden wie in Petris vorangehenden Spielfilmen emotionale Regungen wie Hass, Überheblichkeit oder Hohn durch eine gekünstelte Gestik und Mimik überbetont. Es bleiben somit die von den Darstellern verkörperten Persönlichkeiten, die die Zuschauer ansprechen und ihnen ihr Inneres offenlegen. Rhetorisch kennzeichnen sich die Monologe vor allem dadurch, dass die fiktiven Charaktere dezidiert auf ihre Gemeinsamkeiten mit dem Publikum hinweisen. Gerade die Subalternen forcieren dies in der direkten Ansprache durch Personalpronomen wie ›du‹, ›wir‹ und ›ihr‹. Flavio Bucci löst auf diese Weise schon mit dem ersten gesprochenen Satz im Film die Unterschiede zwischen der von ihm dargestellten Hauptfigur und den Zuschauern auf: »Io, ragionier Total, non sono diverso da voi. Ne voi siete diversi da me. Siamo uguali nei bisogni, diseguali nel loro disfacimento.« Die Figuren begegnen den Zuschauern hierbei durchaus provokativ, um sie in ihrer Selbstwahrnehmung zu brüskieren; sie lachen über deren selbstbetrügerische Ausblendung der eigenen Situation, die der Film gerade bewusst zu machen beansprucht. Mit ihren Erklärungen geben die Figuren jeweils einen Interpretationsrahmen für die folgenden Sequenzen vor: Sie weisen auf ihre Zwänge und Emotionen hin, die sie auf der innerdiegetischen Ebene durch demonstrative Aktionen szenisch veranschaulichen. Zugleich liefern die Erläuterungen konkrete Deutungsmuster, durch die die Zuschauer im Abgleich mit den fiktiven Charakteren das eigene Begehren einordnen können – stets mit Blick auf die überindividuellen Zusammenhänge einer auf Ungleichheit basierenden Ordnung, sodass subjektive Empfindungen als falsche, durch äußere Einflüsse perpetuierte Bedürfnisse verständlich werden. Es gilt, die auf das Kapital bezogenen Gefühle und Bestrebungen zu hinterfragen und ihre Auswirkungen in der sozialen Interaktion mit anderen zu erkennen.
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
Solche Monologe werden also nicht nur den beiden Hauptfiguren, dem Bankangestellten Total und dem Metzger (Ugo Tognazzi), zugestanden. Auch mehrere Nebenfiguren treten auf diese Weise hervor. Jede von ihnen bietet sich hierbei als sozialer Typus dar, der einen elementaren Bestandteil des vorgeführten Gesamtgefüges bildet. Primäres Merkmal ist ihre berufliche Tätigkeit, die eine charakteristische Beziehung zum Eigentum betont: Der Metzger nimmt als Kapitalist im übertragenen Sinn andere aus; als subalterne, mithin unvermögende Bankangestellte verwalten Total und sein Vater nur das Vermögen anderer; Anita, die Geliebte des Metzgers, fungiert als Sexualobjekt und wird damit selbst zum Eigentum; Albertone eignet sich als professioneller Dieb die Habseligkeiten anderer an; Kommissar Pirelli repräsentiert schließlich die Staats- und Rechtsordnung, die das Kapital schützt. Das sich entfaltende Beziehungsgeflecht bietet sich als abstraktes Modell eines autopoietischen Sozialsystems dar, das nach dem kapitalistischen Akkumulationsprinzip funktioniert: Als solches befördert es zwar die Gier aller, bevorteilt aber nur die Besitzenden. Die konstitutive Krux des Kapitalismus besteht darin, dass das zwanghafte Begehren jedes Einzelnen sich auf ein stetig verschiebendes ›Mehr‹ bezieht, somit zwangsläufig unerreichbar bleibt. Diese Logik wird schon in La classe operaia von Militina thematisiert, der als Psychiatriepatient der Einzige ist, der die Dinge klar sieht: »Lulù, è il danaro, comincia tutto di là. Noi facciamo parte dello stesso giro. Padrone e schiavi, dello stesso giro, l’argent, i soldi. Noi diventiamo matti perché noi ce l’abbiamo pochi e loro diventano matti perché ce ne hanno troppi.« Geld gewinnt hierbei pseudoheilige Qualitäten; so deutet es zumindest das hyperbolisch als Kirche inszenierte Geldinstitut an, bei dem Total anfangs noch beschäftigt ist. Die allergischen Reaktionen, die bei ihm die Berührung mit Münzen und Scheinen auslöst, verweisen demgegenüber auf die krankhaften Züge im Umgang mit diesem Tauschmittel von bloß abstraktem Wert. Die Funktionsweise dieses Systems wird auch in diesem Film durch das Narrativ einer scheiternden Revolution offengelegt: Der Konflikt zwischen den beiden Hauptprotagonisten von La proprietà bietet sich als Kampf zwischen den subalternen Eigentumslosen und den herrschenden Eigentümern dar, der durch den kollektiven Klassenhass der Benachteiligten ausgelöst wird. Dabei ist Totals Angriff auf den Metzger nur noch auf einer uneigentlichen Bedeutungsebene verständlich. Sicherlich stellen die Tat des Dottore und der Unfall von Massa ebenfalls keinen Anspruch auf Wirklichkeitsnähe und betonen ihren verdeutlichenden Charakter: Während der eine nur einen Mord begeht, um seine Unantastbarkeit zu beweisen, zeigt beim anderen der Verlust des Zeigefingers eine vorläufige Befreiung von Ausbeutung und Repression an. Allerdings referieren
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die Filme durch ihre Protagonisten konkret auf die revolutionären Bestrebungen, die sich im Zuge der Arbeiter- und Studentenproteste ausbilden. Hier ist es ein Bankangestellter, der nach der Erkenntnis seiner ausweglosen Situation die Rolle des Revolutionärs einnimmt: Im Sinne des berühmten Zitats von Proudhon, auf das der Filmtitel Bezug nimmt, bestraft er die legalen ›Diebstähle‹ des kapitalistischen Metzgers, indem er selbst zum Dieb wird und ihn bestiehlt; zunächst ein Messer, den Hut, Juwelen und dann sogar seine Geliebte. Die dahinterstehende Intention pointiert die Selbstbezeichnung ›Marxist-Mandrakist‹. Nimmt der rebellierende Protagonist damit auf die Comicfigur des Magiers Mandrake Bezug, so scheint hier die Annahme durch, dass er im Nu eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung ›herbeizaubern‹ kann. In der Rezension der traditionell kommunistischen L’Unità wird Total daher mit der Neuen Linken in Verbindung gebracht (vgl. Savioli 1973).75 Die durch seinen Revolutionsversuch etablierte Leitmetapher, der Diebstahl, weist die gesamte Gesellschaft als ›diebisch‹ aus. Das so beschaffene System differenziert sich in zwei Subsysteme, die in ihrer Funktionsweise ähnlich beschaffen und direkt voneinander abhängig sind: Während das eine die legalisierten Diebstähle umfasst, konstituiert sich das andere durch solche Diebstähle, die nach dem offiziellen Gesetz als widerrechtlich gelten. Können sich nun die ›legalen‹ Diebe, sprich die Kapitaleigner, unbescholten fremde Eigentümer zu eigen machen, so sind die ›illegalen‹ Diebe, die allesamt aus den kapitallosen Schichten stammen, stets der Gefahr der Bestrafung ausgeliefert; schließlich verstoßen sie gegen die eigentumsfreundliche Rechtsordnung. Als Schaltstelle zwischen den beiden Subsystemen fungiert ein administrativer und dienstleistender Apparat, der der Sicherung des Eigentums dient. Justiz- und Polizeibehörden, Notare, Versicherungen, Wachdienste, Industriezweige für Sicherheitstechnik usw. sind das Ergebnis einer strukturellen Ausrichtung auf Privateigentum. Wie Albertones Grabredner konstatiert, kann dieser ertragreiche Sektor nur aufgrund der permanenten Diebstahlgefahr existieren. Sind Eigentümer, Diebe und Ordnungshüter demnach aufeinander angewiesen, so wird dies im Film als zynische Komplizenschaft inszeniert. Benachteiligter des Bündnisses sind die ›Ehrlichen‹: konformistische Ausgebeutete wie Totals Vater, der sich beflissen, aber neidvoll dem Gesetz des Eigentums als dem des Reichen beugt. Er gehört zu denjenigen, die trotz ihrer finanziellen Mangelsituation auf den Diebstahl verzichten.
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Petri bestätigt diese Interpretation einige Jahre später (vgl. Riva 1978: 92).
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Die Stärke des Systems zeigt sich in der Art und Weise, wie der von Totals Rebellion eingeleitete Konflikt gelöst wird. Dies ist auf dramaturgischer Ebene an eine Verbrechensauflösung geknüpft: Die Polizei, die sich dem Metzger anbiedert und sogar beim Versicherungsbetrug hilft, kann den rebellischen Dieb zwar fassen; der Bestohlene verweigert bei der Gegenüberstellung aber die Identifizierung, um Total eigenmächtig zu sanktionieren. Damit scheitert nicht nur die Revolution, der Revolutionär wird vom Metzger als einschlägigem Vertreter des Kapitals letzten Endes sogar eliminiert. Totals Rebellion misslingt im Wesentlichen daher, dass auch er einem inneren Akkumulationsdrang nachgibt: Er nimmt sukzessive das Wesen eines richtigen, sprich systemkonformen Diebes an. Immerhin versucht Total anfangs noch, neben seinem Feldzug gegen den Metzger ein selbstbestimmtes Lebensmodell zu entwickeln, indem er nur Überlebensnotwendiges stiehlt. Den Wendepunkt bildet dann die Szene bei der Hehlerin Mafalda, da er hier trotz seiner Abneigung erstmals Geld stiehlt: Dieses hat keinen unmittelbaren Nutzen für den Erhalt der physischen Existenz. Seine Entwicklung wird dezidiert psychologisiert, sodass sie sich nicht im uneigentlichen Sinn der Diebstahlmetaphorik erschöpft. Mit seinem Scheitern bestätigt Total also die in den Monologen formulierten Thesen über die pathologischen Zwänge, die das kapitalistische System stützen. Dementsprechend deutet der Filmtitel an, dass die Reflexion der Eigentumsthematik über die klassischen sozialistischen und marxistischen Theorien hinausgeht. Dabei wird Proudhons Zitat, aus dem die Leitmetapher abgeleitet wird, durch die Darstellung der Kapitalakkumulation ohnehin schon ironisch zugespitzt; die Anhäufung von privatem Eigentum erscheint angesichts der betrügerischen Methoden des Metzgers ja tatsächlich als widerrechtliche Handlung, die auf Kosten anderer vollzogen wird. Der Film verschiebt nun aber die Bedeutung der Metapher, indem der ›Diebstahl‹, also die egoistische Kapitalbeschaffung, dezidiert als krankhaft behandelt wird. So merkt der rebellierende, letztlich aber erfolglose Held mit einem in die Kamera gerichteten Blick an: »La proprietà più che un furto è una malattia. Essere … o avere?« Als Indikator für die Deformation der menschlichen Natur dient in La proprietà wiederum der Bereich des Sexuellen; der Film wartet dementsprechend mit mehreren Erotikszenen auf. Als in Genua Kopien von La proprietà mit dem Vorwurf der Obszönität beschlagnahmt werden, sieht sich der Regisseur dazu veranlasst, in einem längeren Interview seine Absichten bei diesen expliziten Darstellungen klarzustellen (vgl. Tornabuoni 1973b). Allerdings wird schon innerhalb des Films metareferenziell eine Differenzfolie etabliert: In der Szene des Kinos ist der Metzger zu sehen, wie er sich von seiner Geliebten während der
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Vorführung eines pornografischen Films befriedigen lässt. Gegenstand der von den Behörden monierten Nacktansichten ist Anita, die in ihren apathisch rhythmischen Bewegungen objekthaft anmutet; der Geschlechtsverkehr soll hier nicht stimulierend wirken, sondern erscheint als Form der Ausbeutung. Totals Übergang zum konformen Dieb zeigt sich schließlich auch daran, dass er ebenfalls erotisches Interesse an Anita gewinnt. Der Metzger schließt in seiner übermäßigen Fleischeslust an Alfredo aus L’assassino, Giulio aus Peccato nel pomeriggio und Bugatti aus Il maestro di Vigevano an. Hier bildet nun allerdings die Bedrohung, die der Neid der Eigentumslosen erzeugt, beim Kapitalisten die zwingende Voraussetzung für den lustvollen Genuss der Akkumulation (vgl. Bisoni 2015: 125). In diesem Sinne wird der Metzger nach dem ersten Einbruch eben dadurch erregt, dass sich Anita den Strumpf des Diebes über den Kopf zieht: »Senza la paura del furto, uno la ricchezza non se la gode«, merkt etwa Kommissar Pirelli an, dem seinerseits nur die Sanktionierung anderer Eigentumsloser sadistische Befriedigung verschaffen kann. Versucht Total, dem Metzger sukzessive all seine Eigentümer zu nehmen, so führt dies dazu, dass nicht nur der Reichtum, sondern auch die Potenz des Kapitalisten stetig zunimmt: Am Filmende wird der Eigentumslose vom Eigentümer wortwörtlich erdrückt. Über den im Film etablierten Gegensatz von Haben und Sein wird der Vermehrungszwang als Entfremdungsphänomen akzentuiert. Darauf verweist schon die Titelsequenz, in der statt einer Titelmusik stöhnende Stimmen zu hören sind, die das Verb ›avere‹ konjugieren (»io ho, tu hai, egli ha«). Daran schließt Totals höriger Vater an, als er in der Absicht, seinem Sohn die verschiedenen Flexionsformen von ›avere‹ darzulegen, das Verb mit ›essere‹ (ital. ›sein‹) verwechselt. Die kapitalisierenden Figuren von La proprietà folgen mithin dem Glauben, durch Eigentum zu selbstbestimmten Subjekten werden zu können; die Motivation des Metzgers besteht seinen eigenen Worten zufolge darin, ›ewig‹ zu werden, sprich durch ein nach eigenem Willen gestaltetes Leben der Vorstellung des Todes zu entfliehen. Der Film legt so die Illusion von Selbsterfüllung und Sinnstiftung, die der Kapitalismus hervorruft, offen. Das existenzbestimmende, aber nie erfüllbare Streben nach Kapital erzeugt permanente Unzufriedenheit, sodass in der Gefühlswelt der Figuren keine positiven Emotionen entstehen können. Totals Name unterstreicht in diesem Sinn die Absicht, Unvereinbares in Übereinstimmung zu bringen: Er versucht, die vom Kapitalismus erzeugten Spaltungen zu überwinden und ›Totalität‹ zu erreichen. Als selbsternannter ›ehrlicher Dieb‹ unterläuft er zunächst die soziale Grenze zwischen den eigentumslosen Ehrlichen und den Dieben: Um ›sein‹ zu können, stiehlt er ohne jegliche Akku-
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4.4 ›Trilogie‹ (1970–1973)
mulationsabsicht. Dabei bedient er sich der Funktionslogik des entfremdenden Systems und versucht dadurch, dessen Mechanismen gegen dieses selbst zu wenden. Mit dem ausbrechenden Drang nach Geld stellt sich allerdings der Wunsch nach dem unmöglichen Zustand ein, gleichzeitig zu haben und zu sein. Mit seinem Scheitern schließt der Film die Vereinbarkeit des Eigentumsprinzips und existenzieller Selbstbestimmung demonstrativ aus. Noch in dem Jahr, in dem La proprietà in die italienischen Kinos kommt, veröffentlichen Petri und Pirro unter dem gleichen Titel einen Roman. Allein das Cover stellt zwar explizit einen Bezug zum Spielfilm her, zeigt es doch einen stilisierten Filmstreifen mit zwei Stills, auf denen der von Ugo Tognazzi verkörperte Metzger und Anita während des Geschlechtsverkehrs zu sehen sind. Der Text geht allerdings über die bloße Verschriftlichung der Story hinaus: Er bietet sich als Versuch dar, mit literarisch-sprachlichen Mitteln die inhaltlichen und formalen Besonderheiten des Kinofilms neu auszuarbeiten. Der Roman lässt sich somit als eigenständige, dezidiert literarische Umsetzung der Geschichte um Total und den Metzger auffassen. Hierbei kommt der Umstand zum Tragen, das die Textform an sich ganz andere Möglichkeiten als der Film bietet, um die Thematik des krankhaften Strebens nach Eigentum zu vertiefen. Allein im Umfang verfügt das Medium Buch prinzipiell über mehr Kapazitäten als der Kinospielfilm, welcher die Geschichte im Rahmen von rund zwei Stunden darlegen muss: Der Roman La proprietà non è più un furto nimmt daher auch Sequenzen aus dem Drehbuch auf, die bei der filmischen Realisation aufgrund der begrenzten Erzählzeit gestrichen worden sind. Totals Angriff auf den Metzger gehen etwa mehrere Szenen voraus, in denen seine Einsicht in die Widersprüchlichkeit der kapitalistischbürgerlichen Eigentumsideologie gefestigt wird: So beobachtet er in einem Supermarkt, wie zahlreiche gutsituierte Personen mit einem Gestus der Selbstverständlichkeit erlesene Waren entwenden. Als dann eine finanziell benachteiligte Frau beim Diebstahl erwischt wird, kommt es fast zum Lynchmord, da die bürgerlichen Diebe nun das fremde Eigentum auf übertriebene Weise verteidigen (vgl. Petri / Pirro 1973: 23–26). Im Vergleich zum Film setzt der Roman das Prinzip multiperspektiven Erzählens konsequent um. Dieses bestimmt schließlich die Struktur des gesamten Texts: Jedes Kapitel ist einer anderen Figur gewidmet, die darin jeweils als homodiegetischer Ich-Erzähler auftritt. Bereits die Überschriften Il ladro, Il macellaio, Il professionista usw. stellen ihre typenhafte Konzeption aus. Jede schildert dann einen spezifischen Abschnitt der chronologisch angeordneten Ereignisfolge, wobei sie stets ihre Assoziationen, Gedanken und Gefühle mitteilt. Auf diese Weise werden die psychologischen Hintergründe, die das Handeln der Figuren
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
bestimmen, explizit gemacht. Hierbei tritt charakteristischerweise eine jahrhundertelange Prägung durch kapitalistische Sozialstrukturen zutage. In den Selbstbeschreibungen der Figuren lässt sich der Versuch erkennen, abstrakte Theoreme der Psychoanalyse und des historischen Materialismus zu vereinfachen und anschaulich werden zu lassen; Albertone begründet die wissenschaftliche Genauigkeit seiner Selbstdeskription sogar damit, dass er versehentlich einmal in eine Bibliothek mit psychoanalytischer Literatur eingebrochen sei (vgl. ebd.: 110). Die Veranschaulichungsstrategie schlägt sich in zahlreichen Metaphern und Vergleichen eines bildhaften Sprachstils nieder, wobei verschiedene Tropen aus dem Film nun auch im Roman Verwendung finden. Die Karnivorenmetaphorik, die die Figur des Metzgers etabliert, fundiert Total im Text etwa durch eine Reflexion über die Prähistorie des Diebstahls: In den Münzen und Scheinen der reichen Bankkunden sieht der Angestellte nur das bluttriefende, rohe Beutefleisch, das seinen Urahnen entrissen worden sei (vgl. ebd.: 9). Der Drang nach fremdem Eigentum zeigt an, dass die ›fressgierige‹ Menschheit ihren primitiven Urzustand im Grunde nicht überwunden hat. Im Text werden demnach die Potenziale literarischer Mittel ausgeschöpft, um die Vorgänge in den Innenwelten der Protagonisten wahrnehmbar werden zu lassen. Dennoch referiert der Roman direkt am Anfang auf das andere Medium und konkret den vorgängigen Kinofilm, indem die Distanzierungstechnik des extradiegetischen Monologs ausführlich beschrieben wird: Se, come mi piacerebbe, quest’ultimo periodo della mia giovane esistenza potesse fornire la materia per un film, io saprei come cominciare […]. Subito dopo i titoli che contengono i nomi degli interpreti, degli autori, dei tecnici, dei responsabili, io metterei […] un mio lungo primo piano, di quelli che mostrano le facce degli attori in tutta la carnalità e porosità. Vorrei anche che una luce sinistra e drammatizzante mi rendesse irreale, cioè uomo non vero e attore sublime, mentre rivolgendomi agli spettatori, superando il cumulo delle mie inibizioni, parlerei apertamente di ciò che accomuna loro e me, a loro insaputa. […] Direi, puntando il dito contro questo o quello: »Io non sono diverso da te … da te … da te … da lui … Né voi siete diversi da me …« (Ebd.: 5)
Über diese Ekphrasis bindet der Text den filmischen Monolog in die fiktive Welt des Romans ein. Hier wird allerdings die Geschlossenheit der Fiktion gewahrt: Die Romanfigur Total selbst besitzt ja keine Kenntnis davon, dass sie nur erfunden ist und sogar auf einer Filmfigur basiert; Total spricht nur im Konjunktiv von der kinematografischen Umsetzung seiner Geschichte. Auch die anderen Monologe aus dem Film werden in den Romantext aufgenommen, allerdings in die umfassenderen Selbstbeschreibungen der Figuren eingearbeitet.
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Der zitierte Anfangsabschnitt beschreibt recht konkret die im Film verwendeten Mittel und die Wirkung, die diese hervorrufen (sollen). Gerade durch die explizite Darstellung dieses Verfahrens legt auch der Text direkt zu Beginn seinen Rezipienten nahe, die subjektiven Empfindungen, die im Folgenden dargelegt werden, auf sich selbst zu beziehen: Die literarische prononciert hier als filmische Figur ihre Gemeinsamkeiten mit dem Publikum. Über die Protagonisten sollen sich die Leser wie die Zuschauer beim Film ihrer eigenen Triebe und Zwänge bewusst werden; speziell im Hinblick darauf, wie diese mit der repressiven Struktur der kapitalistischen Gesellschaft wechselwirken. Vergegenwärtigt man sich andere Variationen des politischen Films aus dieser Zeit, so erweist sich La proprietà mit dem charakteristischen Mittel des extradiegetischen Monologs keineswegs als singulär. Vor allem solche Regiearbeiten, die sich einer Politik der Form verpflichten, bedienen sich ähnlicher Verfahren. Ab Mitte der 1960er Jahre gewinnt Sprache in radikal modernistischen Filmen allgemein an Relevanz: Schließlich werden andere visuelle und auditive Mittel oftmals von ihrer Darstellungsfunktion entkoppelt und Erzählzusammenhänge gezielt aufgelöst. Da über diese Kanäle also kaum verwertbare Informationen vermittelt werden, stellt die verbale Ebene, ob nun durch Redepassagen im On oder durch Voiceover, oftmals sicher, dass dennoch konkrete politische bzw. weltanschauliche Ideen zum Ausdruck kommen (vgl. Kovács 2007: 363–368). In Petris Filmen bildet die ausgedehnte Figurenrede letztlich nur eines von mehreren Elementen, die auf die jeweils thematisierte gesellschaftskonstitutive Fehlentwicklung des Menschen verweisen: Hierzu zählen eine spezifische Leitmetapher ebenso wie betont demonstrative Handlungen plakativ gestalteter Figuren, eine zirkuläre Narrationsform, ein überzeichnendes Schauspiel, das die inneren Regungen akzentuiert, sowie Großaufnahmen und andere aussagekräftige Bildmotive, die in der découpage und der mise en scène oftmals Vorrang besitzen. Die verschiedenen Ebenen des Films ergänzen und verstärken sich gegenseitig, um die verhandelten, als politisch relevant markierten Problemaspekte und -zusammenhänge möglichst prägnant herauszustellen. Es präsentiert sich mithin eine Konzeption des politischen Films, die die Darstellung politischer Sachverhalte auf Kohärenz und sogar Redundanz gründet, hierbei aber die Fiktion und das filmische Darstellungsmedium erkennbar werden lässt. Damit setzt sich die ›Trilogie‹ vom Großteil der unter dem Rubrum des cinema politico diskutierten Filme ab. Viele Arbeiten, die wie Francesco Masellis Lettera aperta a un giornale della sera (1970), Mauro Bologninis Imputazione di omicidio per uno studente (1972) oder Bellocchios Sbatti il mostro in prima pagi na (1972) direkt auf die Protestbewegungen, die Reaktionen des Staates oder die Rolle der Intellektuellen und der Medien Bezug nehmen, stützen sich eher auf die
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Konventionen des klassischen Erzählkinos. Gleiches gilt für die parabolischen Narrationsweisen, wie sie sich etwa bei Marco Ferreri finden. Dem stehen wiederum die Regiearbeiten Bertoluccis und Pasolinis gegenüber, die durch eine modernistische Gestaltungsweise die Komplexität der Darstellung steigern. Die von der strukturalistischen Filmkritik vielgelobten Werke der Gebrüder Taviani, Sotto il segno dello scorpione (1969), San Michele aveva un gallo (1973) und Allonsanfàn (1974), bedienen sich dagegen historischer Sujets, um die Gegenwart zu thematisieren. Dies ist auch bei Giuliano Montaldos Gott mit uns (1970), Sacco e Vanzetti (1972) und Giordano Bruno (1973) der Fall, die als konventionell erzählende Spielfilme wie Petris Regiearbeiten dagegen nahezu verteufelt werden. Werke wie Florestano Vancinis Il delitto Matteotti (1973), Masellis Il sospetto (1975) oder Bertoluccis monumentales Novecento (1976) bemühen sich, mit Blick auf die faschistische Repression die Geschichte der Arbeiterklasse und der progressiven Parteien Italiens aufzuarbeiten. So entwickelt sich der Historienfilm neben dem poliziottesco und dem Kriminalfilm zu einem bevorzugten Genre, um politische Themen im Rahmen des Kinospielfilms zu verhandeln. Wertmüllers und Scolas Arbeiten sind im Vergleich zu Petris ›Trilogie‹ deutlich stärker von der Komödie geprägt. Vor dem Hintergrund dieser filmgeschichtlichen Zusammenhänge lässt sich Todo modo nun sogar eine Sonderstellung zuweisen: Schließlich wird hier die konservative Elite aus Politik, Wirtschaft und Kirche zum Gegenstand einer psychologisierenden, stark überspitzenden Kritik.
4.5
Politischer Schlüsselfilm: Todo modo (1976)
Der vorletzte Kinofilm von Elio Petri lohnt einer gesonderten Betrachtung: Bei Todo modo handelt es sich um einen der wenigen italienischen Spielfilme dieser Zeit, die konkret auf Persönlichkeiten des politischen Zeitgeschehens Bezug nehmen. Für die Beschreibung der Konzeption bietet sich der Begriff des ›Schlüsselfilms‹ an, in Anlehnung an das literarische Pendant des Schlüsselromans. Denn in der Machtelite, die sich im Film zu geistlichen Exerzitien zusammenfindet, deutet sich die oberste Riege der christdemokratischen Partei an, angeführt vom damaligen Ministerpräsidenten Italiens, Aldo Moro. Dabei muss das zeitgenössische Publikum kaum Entschlüsselungsarbeit leisten, wie es der Schlüsselroman bzw. -film eigentlich erforderlich macht; ironischerweise werden mögliche Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen im Abspann des Films ausdrücklich als rein zufällig deklariert. Das Politmagazin L’Espresso organisiert daher bereits zwei Wochen nach dem Kinostart ein Streitgespräch mit dem Titel Cattivo, peggiore pessimo: democristiano!, bei dem Elio Petri seinen Film unter anderem mit
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4.5 Todo modo (1976)
Adolfo Sarti, dem christdemokratischen Staatsminister für den Tourismus und die darstellenden Künste, diskutiert (vgl. L’Espresso 1976). Angesichts der instabilen Lage, die 1975/76 in Italien vorherrscht, ist es durchaus verwunderlich, dass Sartis Ministerium Todo modo überhaupt zur öffentlichen Vorführung im Kino freigibt. Schließlich zeigt der Film am Ende die – wenn auch im übertragenen Sinn zu lesende – Auslöschung der regierenden Mehrheitspartei. Kurz vor dem ersten Screening Ende April 1976 kommen sogar Gerüchte auf, dass die Democrazia Cristiana über Umwege Anstrengungen unternehme, den Kinostart um fünf Monate hinauszuzögern. Sie versuche dadurch, vor den anstehenden Parlamentswahlen negative Öffentlichkeit zu verhindern. Petri berichtet in verschiedenen Zeitungsinterviews, dass zu diesem Zweck Dino De Laurentiis im Auftrag eines hochrangigen Parteiexponenten an Warner Brothers, die den Auslandsverleih von Todo modo übernimmt, herangetreten sei (vgl. Tornabuoni 1976; Baldo 1976). Zwei Monate nach der Erstaufführung werden dann tatsächlich Kopien des Films beschlagnahmt, als eine konservative Vereinigung wegen Verleumdung des Ministerpräsidenten Anzeige erstattet (vgl. Conso 1976). Der Regisseur lässt sich nach La proprietà fast drei Jahre Zeit, um dieses Projekt auszuarbeiten und umzusetzen. In Anbetracht seiner bisherigen Produktivität fällt diese verhältnismäßig große Zeitspanne in der Werkbiografie auf: Petri stellt dies als Auflehnung gegen den Produktionsdruck der Kinoindustrie dar (vgl. Jego 1975: 22). Dabei ist er keineswegs müßig. Schon vor dem Kinostart von La proprietà berichtet er von einem Großprojekt, das auf einer Geschichte von Gore Vidal basiert: Ein CIA-Agent bringt darin unter falschem Vorwand einen blauäugigen Jungkommunisten dazu, kurz vor den Parlamentswahlen ein Attentat auf den Papst zu begehen. Er kann durch den forcierten Stimmungsumschwung einen Sieg des PCI verhindern und stattdessen den Faschisten zur Regierungsmacht verhelfen.76 Daneben nimmt er mit verschiedenen Schriftstellern Kontakt auf und bemüht sich um Verfilmungen literarischer Texte, etwa von Vladimir Nabokov oder Evan S. Connell (vgl. AMNC ELPE471 [1974]; ELPE486 [1975]). Mit Enzo Siciliano entwickelt er die Idee zu einem Film über zwei Priester: einen echten Diener Gottes, der in einer religiösen Krise zum reinen Glauben zurückfinden will, und einen Betrüger, der sich nur als Priester ausgibt. Letzterer verfolgt das Ziel, sich an den gutgläubigen Mitgliedern einer Pfarrgemeinde zu bereichern. Durch sein charismatisches Auftreten lässt er den echten Geistlichen als Verbrecher dastehen – er selbst erscheint als der wahre
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Im Petri-Fonds findet sich eine kurze Skizze des Projekts unter dem Arbeitstitel The Pope Must Die; vgl. AMNC ELPE72 [o. J.]. Zum Vorbericht vgl. Galimberti 1973.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Repräsentant einer Kirche, die sich ausschließlich um irdische Macht bemüht (vgl. AMNC ELPE467 [1975]). Der Katholizismus ist seit jeher ein wiederkehrendes Thema in Petris Schriften, Äußerungen und Filmprojekten. Macht sich Petri mit Todo modo erneut einen Roman von Leonardo Sciascia (1974) zur Vorlage, so rückt er damit nun den Katholizismus in den Mittelpunkt. Es ist das erste Drehbuch, für das der Filmemacher allein verantwortlich zeichnet. Die Produktion von Todo modo wird nach Indagine erneut von Daniele Senatores Cine Vera übernommen. Das Cast setzt sich aus durchaus namhaften Schauspielern zusammen: Beteiligt sind neben Gian Maria Volonté und Marcello Mastroianni unter anderem Franco Citti, Renato Salvatori und Ciccio Ingrassia, der als Teil des Komiker-Duos Franco und Ciccio durch zahlreiche Genreparodien bekannt geworden ist. In einer Nebenrolle tritt sogar Michel Piccoli auf, mit dem Petri sich noch während der Arbeit an Todo modo um die Verfilmung von Paul Léautauds Le Fléaud (1956) bemüht (vgl. AMNC ELPE491 [1976]). Die meisten Forschungsbeiträge konzentrieren sich auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen von Sciascias gleichnamigem Roman und Petris Umsetzung (vgl. Busquets 2002; Saponari 2009: 121–150; Rugo 2015; Donghi 2015). Petris Version von Todo modo deklariert sich dabei als betont freie Bearbeitung für das Kino. Die wichtigste Abweichung von Sciascias Text stellt die im Vergleich wesentlich deutlichere Referenz auf die christdemokratische Partei dar. Die Figur des Malers, die in der Vorlage als Ich-Erzähler fungiert, wird durch einen neuen Hauptcharakter ersetzt: Bereits im Vorfeld macht Petri keinen Hehl daraus, dass die Figur mit Moro einen der zentralen Akteure der italienischen Politik porträtiert; im Drehbuch wird sie als ›M‹, im Film als ›Präsident‹ bezeichnet (vgl. AMNC ELPE38 [1975]). Daneben treten weitere Figuren auf, die unmissverständlich auf reale Vorbilder referieren. Beispielsweise spiegelt sich in der mächtigen, nur als ›Er‹ bezeichneten Person Giulio Andreotti, während der Akzent eines in Rom verbliebenen Funktionärs auf den Parteisekretär Amintore Fanfani anspielt; in Capra-Porfiri spiegelt sich Bildungsminister Franco Maria Malfatti, im ›Jungen aus Rovigo‹ Antonio Bisaglia, seines Zeichens Minister für staatliche Beteiligungen. In diesem Film sind die Namen so gewählt, dass sie als Verballhornungen markante Eigenschaften ihrer Träger ausstellen. Bezeichnungen wie Caprarozza (ital. capra = Ziege; rozzo = grob) oder Schiavò (ital. schiavo = Sklave) verhüllen daher kaum ihre Polemik gegen den jeweiligen Politiker. Sciascia beschwert sich daher, Petri habe aus seinem antikirchlichen Roman einen rein gegen die DC gerichteten Film gemacht (vgl. Meccoli 1976). Auch die Filmkritik bemängelt die Direktheit von Petris zehnter Spielfilmregie, da sie die intelligent ironische Vorlage in ein offenes ›Pamphlet‹ bzw. ›Libell‹ verwandle.
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4.5 Todo modo (1976)
Dieses bleibe mit seiner Form einer expressionistischen, grotesken Übertreibung politisch aber wirkungslos (vgl. Micciché 1976; Grazzini 1976; Falvo 1976; Savioli 1976; Quaglietti 1976). Der Regisseur überlasse sich dabei einem »mimetismo da commedia dell’arte, inutilmente ›anticipato‹ da didascalie brechtiane. Un po’ di cattivo gusto e molto voglia di non alienarsi le simpatie del pubblico trasformano la contaminazione degli stili in semplice confusione, banalizzando una scelta che […] continua ad sembrarci positiva e coraggiosa« (Grignaffini 1976: 108). Ebenso wie die Figuren ist die diegetische Rahmensituation auf das Zeitgeschehen Mitte der 1970er Jahre zu beziehen. Im Film sieht sich die Machtelite an einem ›Scheideweg‹, zumal eine Veränderung der Machtverteilung in Aussicht steht und die vorherrschende Ordnung dadurch instabil zu werden droht; eben davor fürchten sich die Regierenden. Die Situation der Bevölkerung stellt sich uneigentlich als Epidemie dar, auf die nur mit einer notdürftigen Impfkampagne reagiert wird. Die Seuche fungiert hier als Anzeichen einer andauernden Vernachlässigung des Landes durch die politische Führung: Diese ist ihrerseits primär darauf bedacht, das seit 30 Jahren bestehende Bündnis aus konservativer Politik, Kirche und Kapitalismus am Leben zu erhalten, um ihre Privilegien zu bewahren. Tatsächlich gestaltet sich die Lage in Italien damals äußerst prekär. Das Land wird von der Ölkrise 1973 besonders stark getroffen; es setzt ein Konjunkturrückgang ein, der die seit den 1950er Jahren anhaltende Phase des Aufschwungs endgültig beendet. Auf dem politischen Terrain bahnt sich eine Dominanzverschiebung zwischen den beiden großen Parteien an: Der PCI kann sich aus der Isolation befreien, die die DC durch Koalitionen mit sozialdemokratischen und sozialistischen Partnern Anfang der 1960er Jahre eingeleitet hatte. Die Kommunisten profitieren zwar von der Politisierung der Zivilgesellschaft, zum ausschlaggebenden Faktor wird aber eine tiefgreifende Krise der Christdemokraten. Diese stellt sich neben politischen Niederlagen wie dem Referendum über die Ehescheidung 1974 maßgeblich durch Korruptionsskandale um mehrere ranghohe Parteipersönlichkeiten ein. Zwar sind solche Affären im Italien der Nachkriegszeit nicht außergewöhnlich, Mitte der 1970er Jahre erreichen sie allerdings ein bislang ungekanntes Ausmaß (vgl. Jansen 2007: 167–169). Trotz der sich abzeichnenden Überlegenheit visiert der PCI den ›Historischen Kompromiss‹ an, um die Demokratie zu sichern: denn die diffizile Situation wird durch den Terrorismus links- wie rechtsextremer Gruppierungen verschärft, die jeweils darauf abzielen, Verunsicherung in der Bevölkerung zu schaffen und die staatliche Ordnung zu erodieren. Dabei wird die Gefahr eines Putsches greifbar, als die Unterstützung neofaschistischer Organisationen durch konservative Kreise in den Sicherheitsdiensten, der Politik, der Industrie, dem
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Militär und der Justiz publik wird (vgl. Hof 2011: 50 f.; Ginsborg 1998: 417; Ferraresi 1995: 258–261). Der Zeithistoriker Guido Crainz betrachtet 1974 als Schlüsseljahr all dieser Entwicklungen – es ist bezeichnenderweise auch das Jahr, in dem Sciascias Roman veröffentlicht wird (vgl. Crainz 2005: 481–506). Crainz bezieht sich auch auf Petris Verfilmung, wenn er in Hinblick auf die von Skandalen erschütterten Christdemokraten feststellt, dass Realität und Fiktion nicht weit auseinanderliegen: »È forte la sensazione, insomma, di esser di fronte all’ingloriosa fine di un partito che ha governato l’Italia per trent’anni« (ebd.: 530).
4.5.1 Exerzitien: von der Gewissenserforschung zur Selbsteliminierung
Der Film verbindet die Referenzen auf die aktuellen Verhältnisse nun mit einer vertiefenden Reflexion über den Katholizismus, der als konstitutiver Faktor eines nur pseudodemokratischen Systems erscheint. Schon der am Filmanfang eingeblendete Text über die meditative Praxis der Ignatianischen Exerzitien hebt in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Aspekte hervor: die jahrhundertelange Verschränkung von kirchlicher und weltlicher Macht sowie die charakterliche Formung der politischen und wirtschaftlichen Eliten durch die Glaubenspraktiken der Kirche. Es ist das Programm der Exerzitien, das den Gegenwartsbezug mit der allgemeinen Reflexion verknüpft. Denn als Disziplinierungsmaßnahmen lassen sie den Katholiken im Film angesichts der prekären Gesamtsituation keine andere Wahl, als sich im Sinne von Crainz selbst auszulöschen. Der Titel des Films geht auf ein Credo des Hl. Ignatius von Loyola zurück, das sich im Anleitungstext seiner geistlichen Übungen findet: Todo modo para buscar la volontad divina. Der Gründer des gegenreformatorischen Jesuitenordens beschreibt in der ersten Anmerkung die Exerzitien als »jede Weise, das Gewissen zu erforschen, sich zu besinnen, zu betrachten, mündlich und geistig zu beten, und andere[] geistliche[] Betätigungen« (Loyola 2008: 27). Aufgrund ihres Übungscharakters seien sie körperlichen Ertüchtigungen vergleichbar. Das Ziel bestehe darin, »die Seele darauf vorzubereiten und einzustellen, […] den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden« (ebd.). Gebete, Meditationen und Kolloquien sollen dabei helfen, den Geist zu fixieren und in der Zwiesprache mit Gott dessen Zeichen zu erkennen, die dem sich Läuternden den Weg zu einer gerechten Gestaltung seines irdischen Daseins weisen. Auf diesen Aspekt geht Roland Barthes in seiner Studie Sade, Loyola, Fourier besonders ein. Er betont die Nützlichkeit dieser Übungen für das alltägliche
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4.5 Todo modo (1976)
Leben: Sie sollen helfen, in jeder Situation einer Wahl die richtige, von Gott gewollte Entscheidung herbeizuführen. Es gehe um die Entwicklung einer spezifischen Sprache der Gottesbefragung, durch die der Exerzitant eine Antwort auf seine lebenspraktischen Dilemmata zu erhalten versucht (vgl. Barthes 1986 [1971]: 54–59). Im Verweis auf die kritische Lage Italiens entwirft der Film nun eine solche Wahlsituation im Ignatianischen Sinne. Und als Klausner finden sich in einer abgeschiedenen Herberge eben jene zusammen, die über die Geschicke des Landes zu entscheiden haben. In der Suche nach dem von Gott vorgegebenen Weg schreibt Ignatius von Loyola dem Moment der Gewissenserforschung eine elementare Rolle zu. Da die Übungen die Klausner dazu anleiten sollen, die eigene Lebensführung zu überdenken und neu auszurichten, müssen sie sich zunächst ihre Verfehlungen selbstkritisch vergegenwärtigen. In diesem Sinn werden nun in Todo modo die ›Sünden‹ der Entscheidungsträger herausgestellt: Petris Film weist hierbei auf die dunklen Machenschaften und Intrigen des elitären Zweckbündnisses aus Politik, Wirtschaft und Kirche hin, das in der Auseinandersetzung über das weitere Vorgehen gerade nicht das Wohl der Bevölkerung im Sinn hat. Damit greift Todo modo Themen und Motive auf, die bereits in dem unverfilmten Skript von La nostra signora Metredina und der mit Siciliano ausgearbeiteten Geschichte eines verbrecherischen Priesters ausgearbeitet worden sind. Hier erweist sich nun die eigentümliche Kriminalhandlung von Todo modo als funktional. Im Hotel Zafer, das der besinnlichen Zusammenkunft dienen soll, kommt es zu mysteriösen Mordfällen. Daraufhin setzt eine offizielle Ermittlung durch einen Staatsanwalt ein, der den bzw. die Täter identifizieren soll. Das Erzählprinzip lässt sich als whodunit klassifizieren. Die Zuschauer besitzen mithin nicht mehr Wissen über den bzw. die Urheber der Verbrechen als die Ermittler im Film, auch wenn die ersten Morde indirekt vorgeführt werden; der Blick der Zuschauer bleibt aber stets durch verschlossene Zimmertüren oder Menschengedränge verstellt. Entscheidend ist nun, dass sich die Plot-Konstruktion den Konventionen des klassischen Erzählkinos widersetzt: Die Verbrechen bleiben nicht nur ungelöst, die Frage nach dem Täter erweist sich schlussendlich sogar als irrelevant. Der Film scheint dabei tatsächlich jene Ambiguität herzustellen, die die strukturalistische Filmkritik einfordert. Schließlich werden verschiedene clues zugelassen, ohne dass das kriminalistische Rätsel aufgelöst und das Wissensdefizit aufgehoben wird; der Mörder bleibt eine Leerstelle. So zeichnet sich zwischen den verschiedenen Figurengruppen eine Beziehungskonstellation ab, die eine Bedrohung sowohl von innen als auch von außen möglich erscheinen lässt. Im Inneren erweist sich der komplizenhafte Zusammenschluss als äußerst fragil: Befindet sich das Verhältnis zwischen geistlichen
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und weltlichen Partnern in der Krise, so sind allein schon die Vertreter der irdischen Macht in sich gespalten; der Film spielt hier auf die Kämpfe zwischen den verschiedenen Parteiflügeln der DC an.77 Dadurch stellt sich eine Atmosphäre des Misstrauens ein, obwohl die verschiedenen Lager aufeinander angewiesen sind, um den Fortbestand des sie privilegierenden Systems sichern zu können. Daher wäre es denkbar, dass sich die feindlichen Kader gegenseitig eliminieren. Als externe Gefahren kommen für die Klausner der abwesende Teil der Parteiführung ebenso wie ein US-Geheimdienst in Betracht, der internationale Verstrickungen andeutet. Somit steht auch die Möglichkeit einer von höheren politischen Interessen geleiteten Auslöschung im Raum. Die einzige als Mörder in Erscheinung tretende Figur ist der Fahrer des Präsidenten, der im Finale seinen Vorgesetzten auf dessen Geheiß hin erschießt. Da der Chauffeur schon bei den vorangehenden Morden in der Nähe der Tatorte zu sehen ist, erschiene bis dahin auch der Präsident als Auftraggeber plausibel. Die Exerzitien, die den institutionellen Rahmen der Zusammenkunft bilden, rufen allerdings einen christlichen Interpretationshorizont auf. Das Netz von informationsleeren Hinweisen, die die illegalen Aktivitäten der Politiker lediglich andeuten, dient daher letztlich dazu, die grundlegendste Problematik hervorzuheben: die korrupte Natur der Machthaber, die im Widerspruch zu ihrem christlichen Signet steht. In diesem Sinn spielen die absurd anmutenden Firmennamen unmissverständlich auf den immensen Apparat staatlicher und halbstaatlicher Unternehmen an, der den Regierenden Italiens zur Geldmacherei und Versorgung ihrer Klientel dient. Institutionen wie die ENPEDEP, die ›Nationale Fürsorgeanstalt halbstaatlicher Fürsorgeanstalten‹, parodieren die weitgreifenden vetternwirtschaftlichen Verflechtungen. Führt der Film so die Sündhaftigkeit der christdemokratischen Elite vor Augen, so lässt sich der Handlungsverlauf durchaus mit den Ignatianischen Übungen in Zusammenhang bringen. An diesen orientiert sich schließlich der Aufbau des Films: Die Gebete und Meditationen teilen die chronologisch erzählte Ereignisfolge kapitelartig ein, wobei die einzelnen Abschnitte jeweils durch eine christliche Thematik perspektiviert werden. Vorgegeben werden diese Themen jeweils von den Meditationen, die diegetisch wiederum von den Verbrechen motiviert sind. Zur ersten, der über die Sünde, gibt der Diebstahl der Hostien Anlass: Nachdem sich die Politiker im Refektorium gegenseitig übermäßiges 77
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Es sei angemerkt, dass die Szene, in der es zu Handgreiflichkeiten bis hin zur Waffengewalt kommt, nur wenig übertrieben ist (darin der Präsident: »Sono normali giochi di corrente«). Bei den Parteitagen der DC, zu denen 1975 erstmals Journalisten zugelassen werden, kommt es des Öfteren zu Übergriffen; vgl. Crainz 2005: 530.
4.5 Todo modo (1976)
›Essen‹ vorwerfen, weist sie der Exerzitiengeber Don Gaetano (Marcello Mastroianni) in der anschließenden Andacht auf den Diebstahl als schlimmstes aller Sakrilege hin. Die zweite Meditation, die über die Hölle, ordnet er angesichts der Ermordung des Abgeordneten Micchelozzi an. Damit wird das Thema der Bestrafung eröffnet, die dem christlichen Glauben zufolge Sündern zuteilwird: Michelozzis Tod erscheint dadurch als Auftakt eines Vergeltungsprozesses, der Italiens verbrecherische Elite ereilt. Die dritte Meditation, die über das Kreuz, fällt mit der Entdeckung der Leiche von ›Ihm‹ (Michel Piccoli) zusammen, der mächtigsten Figur in der dargestellten Welt. Der so eingeleitete letzte Filmabschnitt kreist thematisch um das Selbstopfer, bei dem der Christenmensch sich zum Wohle anderer hingibt. Die Anordnung der Ignatianischen Meditationen beschreibt auf der Makrostruktur eine Steigerung, die von der Sünde zur Erlösung führt. Dem entspricht eine Entwicklung auf der Handlungsebene, bei der die Zusammenkunft der Klausner im Massaker endet. Die Katakomben des Hl. Zafer, die die unterirdische Hotelanlage umschließt, hatten den frühen Christen als Begegnungsstätte gedient, den modernen Christen werden sie nun wieder zum Grab. Don Gaetano deutet ein solches Ende an, als er sich zu Beginn darüber äußert, wie er die Exerzitien durchzuführen beabsichtigt: »Come devono essere fatti. Come dico io!« Der Geschehensverlauf stellt sich demnach durchaus als zielgerichtet heraus. Allerdings lässt sich die Todesserie eben weniger als Umsetzung eines mörderischen Plans vonseiten des Priesters auffassen. Vielmehr scheinen sich die Grundprinzipien von Schuld, Sühne und Errettung, die den Exerzitien zugrunde liegen, gegen die herrschende Elite zu richten: Es wird das Ende der schlechten, hier: katholisch regierten Welt eingeläutet. Wird im Rahmen der Exerzitien also die Kriminalerzählung mit christlichbiblischen Motiven verquickt, so kommt es zu einer ironischen Zusammenführung von Apokalypse und Passionsgeschichte. Hierbei wird Don Gaetano als Todesengel angedeutet (Abb. 41) und ostentativ mit Satansmotiven assoziiert, als er sich etwa wie der Teufel auf Rutillo Manettis Gemälde Sant’Antonio Abate tentato dal demonio (1630) einen Kneifer aufsetzt.78 Er steht damit dem Präsidenten gegenüber, den die Kamera mehrmals mit Christusfiguren und -attributen verknüpft: ironische Kommentare zu dem sich selbst als Heiland betrachtenden Politiker (Abb. 42). Der Präsident sieht sich als christusähnlicher Hoffnungsträger nach eigenen Worten dazu berufen, das ›Kreuz‹ zu tragen und die tief gespal-
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Dieses Gemälde ist bereits auf der Erstausgabe von Sciascias Roman abgebildet. Im Text selbst ist von einem Porträt des Hl. Zafer die Rede, der rein fiktiv ist.
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Abb. 41 und 42: Todo modo
tene Menschheit zu erretten; das Finale bedeutet für ihn die Vollendung seiner ›Mission‹. Bei ihm ließe sich tatsächlich ein Prozess der Selbsterkenntnis und Läuterung beobachten, der durch die Exerzitien mit den sich zuspitzenden Ereignissen enggeführt werden kann. Die Pointe des Films besteht darin, dass er sein pseudomessianisches Selbstopfer durch die Sühne der eigenen Missetaten vollziehen muss.
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4.5 Todo modo (1976)
Abb. 43 und 44: Todo modo
4.5.2 Pseudomessianischer Politiker
Mit der als zwangsläufig dargestellten Selbsteliminierung des Präsidenten wirft der Film Licht auf die psychischen Strukturen, die das katholische Christentum herausbildet. Schon die oben aufgeführte Beschreibung der Exerzitien am Filmanfang hebt besonders auf den Aspekt der Charakterprägung ab: Bei den geistlichen Übungen des Hl. Ignatius geht die Suche nach einem gottgefälligen Weg kennzeichnenderweise damit einher, dass der Einzelne im Zuge der Gewissenserforschung die Prinzipien der Sünde, der Buße und des Leids verinnerlicht. Es
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
handelt sich demnach um eine Glaubenspraxis, bei der die christliche Maxime der Selbstdisziplinierung besonders ausgeprägt ist. Denn der Einzelne, der sich durch die Vergegenwärtigung seiner Sünden als schuldbeladen zu begreifen hat, ist hier permanent zur Unterwerfung und Selbstbestrafung angehalten.79 Dementsprechend betont Don Gaetano in der zweiten Meditation: »Inferno e punizione sono alla base del cristianesimo.« Die Strenge, die der christlich-katholischen Ideologie inhärent ist, vermittelt sich auch über die Struktur und die audiovisuelle Gestaltung des Films. Aus der engen Verknüpfung des Geschehensverlaufs mit den Exerzitien ergibt sich ein Aufbau, der analog zum protokollarisch geregelten Ablauf der Übungen sehr akkurat organisiert ist: Todo modo fällt durch die strikte Geschlossenheit von Raum und Zeit auf, da sich die Ereignisse innerhalb von drei Tagen auf dem begrenzten Schauplatz der abgeschiedenen Klause vollziehen. Daran schließt die stark stilisierte Bild- und Kulissengestaltung an, die dem Setting einen nahezu irrealen Anschein verleiht; dies mag dazu beitragen, dass mancher Re zensent den Film als alptraumhafte Vision seines Regisseurs auffasst (so etwa Gili 1977: 54). Dabei schließen die Konstruktion und die Ausstattung des Hotels lediglich an die Traditionen der Ars sacra an. Der subterrane Bau präsentiert sich als betont moderne Interpretation eines Klosters: Er holt christlich-katholische Grundsätze, wie sie die Ignatianische Eremitage ja im besonderen Maß kennzeichnen, in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der rationalen Bauweise mit Sichtbeton und den schmucklosen Möbeln spiegelt sich etwa das Prinzip der Askese, die die geistliche Vertiefung fördern soll. Komplementiert wird dies durch die zahlreichen weißen Gipsfiguren im Stile George Segals, die unter anderem die Via Crucis und Märtyrer darstellen; im Anschluss an die christliche Ikonografie rufen sie Urlegenden auf und erinnern an die Maxime des Leids und der Aufopferung. Zudem folgen die meist monochromen Ausstattungselemente bei fast ausschließlich künstlicher Beleuchtung einem reduzierten Farbschema, während Schwarz, Weiß sowie Grau- und Beigetöne dominieren. Die wenigen Buntfarben, unter anderem Violett und Karminrot, halten sich an die Symbolik der katholischen Kirche: Sie gemahnen die Passion Christi und die Buße. Da den meisten Gegenständen die Sättigung entzogen wird, entsteht eine kühle und unbehagliche Atmosphäre, in der sich die Praktiken geistiger Disziplinierung vollziehen sollen.
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Tagliani analysiert den Film daher in Bezug auf Foucaults Theorie der Pastoralmacht; vgl. Tagliani 2012, 2014.
4.5 Todo modo (1976)
Im Zusammenspiel mit Ennio Morricones Score trägt dies zur thrillerartigen Wirkung einer Narration bei, die Machtspiele, Intrigen und Mordursachen im Dunkeln lässt.80 Als Orgelstück referiert die Filmmusik wiederum auf die sa krale Kunst: An Kirchenmusik erinnernd fällt sie durch einen ruhigen Verlauf langgezogener Töne ohne größere Sprünge in der Tonhöhe auf, wobei die in Moll gehaltene Melodie eine latente Spannung evoziert. Selbst die Kameraführung und die mise en scène lassen sich in dieses Programm einordnen. Im Vergleich mit Petris früheren Filmen unterlässt die Kamera hektische Bewegungen, während sie in den meist langen Einstellungen bedächtig gleitend schwenkt, dreht oder fährt, selbst in kulminierenden Spannungsmomenten. Im Sinne dieser visuellen ›Askese‹ ist die mise en scène überwiegend funktional auf die Figuren und ihre Handlungen ausgerichtet. Die Kamera setzt wiederholt die Kulissenarchitektur auf auffällige Weise ins Bild, wobei sie jeweils deren Strenge betont (Abb. 43–44); das hierbei oft im Zentrum platzierte Kruzifix macht das katholische Hierarchieprinzip augenfällig. Die Konzeption der Hauptfigur führt nun zwei Aspekte zusammen: Die psychoanalytische Reflexion einer vom christlichen Glauben geprägten Führungspersönlichkeit geht charakteristischerweise mit einer überzeichnenden Rekon struktion der Erscheinung Aldo Moros einher. Die typisierende Darstellung fasst ja im Unterschied zu Petris vorangehenden Spielfilmen eine real existierende, sehr prominente Person ins Auge. In Interviews stellt der Regisseur einen konkreten Bezug zu Freuds und Bullitts Studie über den US-Präsidenten Woodrow Wilson her: »un modello applicabile nelle sue componenti d’ipocrisia, di convenzionalismo, di astuzie più o meno machiavelliche, al comportamento media del personale politico specialmente italiano che da trent’anni vediamo nei cinegiornali o in televisione«81. Auch wenn man solch explizite Erklärungen vernachlässigt, lassen sich doch einschlägige Befunde des Psychoanalytikers und des ehemaligen US-Botschafters an der Moro-Karikatur nachvollziehen. Das fiktionale Zerrbild zeigt als vertiefende Betrachtung des Spitzenpolitikers die Hintergründe seines charakteristischen Führungsstils auf: Der Präsident soll die Rolle des Mediators übernehmen, der die sich in allen Bereichen verschärfenden Antagonismen befriedet. Als modernen Einheitsstifter setzt ihn seine Gattin
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Zunächst engagiert der Produzent Daniele Senatore den US-amerikanischen JazzMusiker Charles Mingus für die Komposition der Filmmusik. Da Petri die Ergebnisse der Sessions als unpassend für die Stimmung des Films erachtet, ruft er kurzfristig Morricone auf den Plan (vgl. Bianchi 2004; Curti 2021: 234–236). So Petri gegenüber Il Tempo, vgl. AMNC ELPE493 [1976]: 4; ähnlich in Petri 2007l [o. J.]: 173, L’Espresso 1976: 73.
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Giacinta mit Garibaldi und Cavour gleich, den zentralen Protagonisten der italienischen Vereinigung im 19. Jahrhundert. In seiner Vermittlungsfunktion fällt der Präsident dadurch auf, dass er lediglich den Eindruck des politischen Fortschritts und der Veränderung erzeugt, den die gesellschaftliche Basis dezidiert einfordert (»Cambiare, cambiare, cambiare«) – faktisch kultiviert er im Sinne der katholischen Führungsriege den Stillstand. Dies spielt auf Moros federführende Rolle in der christdemokratischen ›Öffnung nach links‹ Anfang der 1960er Jahre an: Im Film besticht die Hauptfigur dementsprechend durch die chronische Schwäche, links und rechts zu verwechseln. Den überdeutlichen Bezug zu Moro stellt Volonté in Form einer karikierenden Nachahmung her. Hierbei wird die physische Ähnlichkeit von einer zuspitzenden Imitation der Körperhaltung, den Bewegungsabläufen, der Mimik und der Sprechweise übertroffen.82 Diese komisierende Hervorhebung seiner äußeren Spezifika mag die thrillerartige Stimmung durchbrechen, die das whodunit im düsteren Ambiente des subterranen Hotels entstehen lässt. Zugleich nähert Volontés Darstellung die Figur aber gezielt dem Erscheinungsbild eines Geistlichen an: Don Gaetano mokiert sich daher über das priesterähnliche Wesen des Präsidenten, bevor dieser von mutmaßlichen US-Geheimdienstlern zur Tarnung tatsächlich eine Robe samt Kollar angelegt bekommt. Als markanteste Eigenheit hat in dieser Hinsicht sein rhetorischer Stil zu gelten, den er in Metagesprächen mit Giacinta erörtert. In seiner Wortwahl bevorzugt der Präsident pathetisch anmutende, bedeutungsweite Begriffe, vor allem ungewöhnliche Adverbien (z. B. ›magmaticamente‹), die sich dann zu sehr komplexen, aber inhaltlich kaum fundierten Reden zusammenfügen. Diese werden mit niedriger Sprechgeschwindigkeit und -lautstärke in einem allzu salbungsvollen Tonfall hervorgebracht, der den Diskursen des Protagonisten einen predigthaften Charakter verleiht. Der Hang zum übermäßigen Reden zeigt symptomatisch einen Charakterzug an, den er angesichts seiner Entscheidungsverantwortung als größte ›Sünde‹ beichtet: eine stark ausgeprägte Passivität. Mithin schafft er es nur im Traum, aktiv politische Entscheidungen zu treffen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Die sublimierende Selbstidentifikation mit Christus erscheint als Strategie, mit der der Protagonist seine Unfähigkeit zu kompensieren versucht. Diese wird im Film auf den Libidohaushalt eines frühkindlich unterdrückten Subjekts zurückgeführt. Nach Freud und Bullitt lässt sich hier eine übermäßige Ausprä-
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Für einen detaillierten Vergleich zwischen Moros Erscheinung und Volontés Darstellung vgl. Cilento 2018: 100 f.
4.5 Todo modo (1976)
gung der weiblichen Persönlichkeitskomponente feststellen: Sie gehen vom grundsätzlich bisexuellen Wesen des Menschen aus, wonach jedes Individuum sowohl eine passive, feminine Seite als auch eine aggressive, männliche aufweist. Psychische Anomalitäten werden mithin durch unnatürliche Verschiebungen zwischen diesen beiden Bereichen begründet (vgl. Freud / Bullitt 2007: 84). In Todo modo stellt sich etwa der selbstkasteiende Voltrano (Ciccio Ingrassia) in diesem Sinne als homosexueller Transvestit heraus, verhindert die christliche Sexualverdrängung doch eine ›gesunde‹ Triebentwicklung: Durch Abstinenz und Selbstzüchtigung war er zum gehorsamen Dienst für die Kirche und die Partei gefügig gemacht worden. Beim Präsidenten ist der Hang zu einer quasiweiblichen Passivität wie in der Studie zu Wilson im Zusammenhang mit einem libidinös aufgeladenen Unterwerfungszwang gegenüber Vaterfiguren zu sehen (vgl. ebd.: 85). Dieser wird in den Szenen seines Vaterunser-Gebets besonders anschaulich: Dort erzeugt die meditative Konzentration auf den göttlich-übermächtigen Vater eine masochistische Erregung, die auf nichtgenitalem Weg befriedigt wird. Der Präsident saugt an Giacintas mütterlicher Brust, sodass hier seine kindliche Unreife zum Vorschein kommt. Die Ehefrau wäscht ihn nicht nur und bindet ihm die Schuhe, sondern fungiert auch sexuell als Mutterersatz. Ihre monologische Beichte bei Don Gaetano zeigt auf, dass sie für den sublimierten Sohn-Ehemann völlig in dieser Rolle aufgeht; die Frau besitzt somit im Prinzip keinen Eigenwert.83 Als Vertreter der Kirche übernimmt Don Gaetano für den christdemokratischen Politiker die quasigöttliche Funktion des strafenden Vaters; der Präsident wünscht sich von ihm beständig die Beichte und Absolution. Es ist dabei der Geistliche, der durch ein aggressives Verhalten auffällt und im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse durch eine ausgeprägte Maskulinität besticht: Er selbst grenzt sich implizit von den Zölibatären ab, die er als Zwitterwesen verlacht. Der Film inszeniert daher einen Rollenwechsel der beiden Hauptfiguren. 83
Auch andere Arbeitsprojekte aus dieser Zeit reflektieren die Stellung und die soziale Identität der Frau. So fungiert in La proprietà die einzige weibliche Figur nur als Lustobjekt des Mannes. 1974 arbeitet der Regisseur eine Skizze mit dem Arbeitstitel L’italiana aus: Im Zentrum steht hier eine Süditalienerin, die unbedingt einen Wettbewerb der ›idealen‹ Frau gewinnen will. Ihre übertriebenen Bemühungen, das bürgerlich-konservative Rollenbild zu erfüllen, stellen dieses auf karikierende Weise aus (vgl. AMNC ELPE50 [o. J.]). Die Fortentwicklung des Projekts zielt dann auf eine grundlegende Wertekrise der modernen Gesellschaft, die an der Lage der Frau einsichtig gemacht wird. Diese ist zwar in einem traditionellen, auf Ehe und Familie ausgerichteten Selbstbild verhaftet, muss aber aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Zwänge nun auch bislang eher männlich geprägte Rollenmuster übernehmen (vgl. AMNC ELPE51 [o. J.]).
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Während der weltliche Würden- und Machtträger den Anschein des Geistlichen annimmt, übernimmt der Geistliche den weltlichen Part des aktiven politischen Entscheiders. Hinter dem Habit des Priesters versteckt sich eine Persönlichkeit, deren Bewusstsein und Interessen im Unterschied zum Präsidenten völlig im irdischen Diesseits verhaftet sind. Bezeichnenderweise befindet sich hinter seinem Zimmer eine Geheimkammer, die mit Genussmitteln, bürgerlicher Kleidung und einer beachtlichen Sammlung brisanter Dokumente aufwartet. Versteht sich der Präsident als neuer Heiland, so wird auch hier die Orientierung an Freud und Bullitt deutlich. Diese diagnostizieren bei Wilson eine pathologische Selbstprojektion auf Jesus Christus, durch die er nach dem Vorbild des Vaters eine männlich-aktive Haltung auszubilden versucht: Infolge seiner christlichen Erziehung erkenne der Heranwachsende im eigenen Vater den Allmächtigen und in sich selbst konsequenterweise den Gottessohn. Dies führe den Jungen zu der Annahme, vom Höchsten zur Errettung der Menschheit auserkoren zu sein (vgl. Freud / Bullitt 2007: 92–97). Auch im Film stellt der Präsident wiederholt seinen Glauben an eine quasigöttliche Besonderheit heraus, während er die eigenen illegalen Taten, die ihn mit den anderen Politikern gemein machen, auszublenden versucht. Dadurch sieht er sich befähigt, das ›Kreuz der Vermittlung‹ zu tragen und sich in der Nachfolge Christi aufzuopfern. In der Logik des Films verdient sich der Präsident den christusähnlichen Status schließlich dadurch, dass er mit seiner selbst angeordneten Hinrichtung die Welt erlöst. Dabei folgt er eigentlich nur einem höheren Willen, schließlich ist er zuvor derjenige, der im Sinne der Ignatianischen Gottesanrufung fragt: »Che fare?« Im Zuge seiner Bemühungen um die Verbrechensaufklärung versucht der Präsident dann tatsächlich, Zeichen zu entdecken und zu entschlüsseln: Er sucht in den Namen der Unternehmen, die von den Ermordeten mitverantwortet worden sind, eine versteckte Botschaft. Stößt er bei der Dechiffrierung des vermeintlichen Geheimcodes allerdings nur auf ›Todo modo‹, das Credo des Hl. Ignatius, so wird er letztlich wieder auf die Exerzitien zurückverwiesen. Die sich mehrenden Todesfälle bieten sich dadurch selbst als Indizien dar, die den Willen Gottes anzuzeigen scheinen; in diesem Sinne gilt es die Morde mit Blick auf die eigenen Sünden zu deuten. Somit wird die kriminalistische Suche nach dem Mörder schließlich zur geistlichen Suche nach dem richtigen Weg: Statt zu vermitteln, bleibt dem Präsidenten in letzter Konsequenz nichts anderes übrig, als seine Strafe entgegenzunehmen und sich samt den verbleibenden Parteimitgliedern richten zu lassen.
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4.5 Todo modo (1976)
4.5.3 Bedrohliche Sichtbarkeit
Mit den Anspielungen auf die Korruptionsskandale der DC zeichnet sich in Todo modo ein durch und durch weltliches Substitut des allwissenden Gottes ab: ein System gegenseitiger Überwachung und Erpressung. In Form von Briefen, Akten, Tonbändern oder Fotonegativen besitzt jeder belastendes Beweismaterial, mit dem gefährliche Gegner in der Öffentlichkeit zu Fall gebracht werden können. Im Zentrum dieses Systems scheint zunächst der bußfertige Voltrano zu stehen, der »prove di tutto« besitzt. Don Gaetano wartet gar mit einem ganzen Archiv an Dokumenten über die Klausner auf: In der Schlussszene pflastern diese den Weg der verbrecherischen Führungsriege zu ihrer (metaphorischen) Hinrichtung. Auch die sich scheinbar verselbstständigende Anlage von Videokameras und blauleuchtenden Bildschirmen, die das gesamte Hotel durchzieht, deutet eine wachende, selbst unsichtbare Instanz an.84 Die Fernsehgeräte mögen zunächst als Informationsmedien dienen, die den Klausnern den Ablauf der Exerzitien mitteilen. In dieser Funktion weisen sie allerdings auch auf das Ende voraus, als sie bei der Meditation über das Kreuz Charons Boot der Verdammten aus Michelangelos Jüngstem Gericht einblenden (Abb. 45) und die Lesung des Buches Ezechiel, Kap. 11, Das Strafgericht über die führenden Männer Israels, übertragen. In der Anlage spiegeln sich die medialen Bedingungen des Überwachungsund Informationszeitalters wider, in dem die modernen Christen leben und ihre Sünden begehen. Hier kann letztlich alles publik und damit zum Verhängnis werden: Eine Kamera ist dementsprechend wie eine todbringende Waffe auf den erschossenen Don Gaetano gerichtet (Abb. 46). Der Film betont so die akute Bedeutung, die Sichtbarkeit für die Aushandlung politischer Macht besitzt. Todo modo mag so im Stile des zeitgenössischen Politthrillers einen genrekonstitutiven Konflikt zwischen dem öffentlichen Raum und einem geheimen Gegenraum thematisieren: Laut Pause ziehen sich verbrecherische Eliten hier jeweils ins Verborgene zurück, um von dort aus das politische Geschehen zu kontrollieren; ihre Macht vermittle sich in solchen Filmen oftmals über ungleiche, panoptische Blick- und Sichtbarkeitsverhältnisse (vgl. Pause 2012: 177–191). In Petris Film besitzen die Machthaber dagegen keine Vorteile, ja sind sogar besonders gefährdet. Sichtbarkeit erweist sich hier als nicht kontrollierbarer Komplex. Todo modo verzichtet daher im Unterschied zu den meisten Politthrillern dieser Zeit auf eine »Bewegung der Recherche« (ebd.), mit der für gewöhnlich
84
Im Band zur Retrospektive 1983 ist das Szenenbild eines Überwachungsraums abgebildet, der im Film jedoch nicht gezeigt wird; vgl. Pirro 1983a: 81.
257
4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Abb. 45 und 46: Todo modo
über investigative Figuren »die mafiösen Zusammenhänge aufgedeckt werden, die sich ›hinter‹ der Kulisse demokratischer Politik befinden« (ebd.). Dies löst etwa Rosis Cadaveri eccellenti ein, eine weitere Sciascia-Verfilmung aus dem Jahr 1976. Der Film folgt jener »Hermeneutik des Verdachts« (ebd.), die Todo modo ablehnt: Hier erkennt der im Mittelpunkt stehende Kommissar allmählich, dass hinter der Ermordung mehrerer Richter eine weitverzweigte Intrige aus Regierung, Polizei und Streitkräften steht. Angesichts des von Verschwörungsangst geprägten öffentlichen Klimas entstehen in Italien zu jener Zeit viele solcher Filme, die das Konspirationsthema aufgreifen oder sich mit realen Vorfällen
258
4.5 Todo modo (1976)
auseinandersetzen.85 Demgegenüber bezieht Elio Petri einen kritischen Standpunkt: Von Fantasieprodukten wie Kinofilmen oder Romanen könne nicht erwartet werden, dass sie ernsthaft an der Auflösung solch mysteriöser Angelegenheiten mitarbeiten (vgl. AMNC ELPE493 [1976]: 3). In seiner eigenen Filmografie kommt es letztlich nur im Rahmen von Ipotesi sulla morte di G. Pinelli zum Versuch, die Klärung eines undurchsichtigen Falls von politischer Tragweite mitanzustrengen. Dies bleibt allerdings auf den wenig breitenwirksamen Bereich des militanten Kinos beschränkt. Peter Kammerer vom Südwestfunk ist einer derjenigen, die Petri daher vorwerfen, dass er bei Todo modo auf eine politische Analyse verzichtet und dem italienischen Publikum nur bereits Bekanntes über die Christdemokraten mitteilt (vgl. Kammerer 1976). Im Film bleiben verbrecherische Verstrickungen der politischen Führungsriege ja tatsächlich nur angedeutet, dies aber gerade weil der eigentliche Interessenschwerpunkt bei anderen Aspekten liegt: Kammerers Kritik am Modus der übertreibenden ›Vergrößerung‹ verkennt, dass dieser Film wie Petris vorangehende Regiearbeiten grundlegendere Zusammenhänge verhandelt. Als Porträt der italienischen Machtelite exponiert der Film primär den widersprüchlichen und repressiven Charakter des institutionalisierten Katholizismus, der sich nach Jahrhunderten der geistigen und politischen Vorherrschaft dem Anschein nach nicht mehr aufrechterhalten kann. Ein dezidiert aufklärerischer Impetus lässt sich lediglich bei der karikierenden Darstellung des Präsidenten erkennen: Durch Offenlegung der psychologischen Hintergründe warnt sie vor der Unfähigkeit einer seinerzeit als Messias gepriesenen Hoffnungsfigur; auch diese scheint letztlich Gefahr zu laufen, der Unvereinbarkeit von christlichem Bekenntnis und korrupter Politik zu erliegen. Der Film wird in der Forschung gelegentlich als Versuch des Filmemachers Petri interpretiert, über das ›Mainstream‹-Kino konkret auf aktuelle politische Ereigniszusammenhänge einzuwirken (so etwa Deriu 1997: 403; Busquets 2002: 23). Dem ließe sich allein die Tatsache entgegenhalten, dass Todo modo ursprünglich früher ins Kino kommen sollte. Unter anderem hatten mehrere Streiks in den Cinecittà-Studios, wo viele Innenszenen des Films gedreht worden sind, zu Verzögerungen im Produktionsprozess geführt, sodass der Kinostart zeitlich mit der Auflösung und vorzeitigen Neuwahl des italienischen Parlaments zusammenfiel (vgl. o. A. 1976a). Viel eher verweist Todo modo mit der metaphorischen Auslöschung auf eine politische Führungsriege, die sich ohne85
Bei solchen fiktionalen Auseinandersetzungen mit ungeklärten Ereignissen aus der Landesgeschichte spricht die italianistische Filmwissenschaft von paranoischem Kino; vgl. etwa O’Leary 2011.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
hin selbst destruiert. Das damals scheinbar so nahestehende Ende der Democrazia Cristiana tritt jedoch erst ein, als mit dem Tangentopoli-Skandal Anfang der 1990er Jahre die Erste Republik und mit ihr die bestehende Parteienlandschaft zusammenbricht. Dennoch stößt Petris Film schon beim Kinostart eine intensive Diskussion an; der DC-Abgeordnete Bartolo Ciccardini vergleicht Todo modo sogar mit Jud Süss (1940), Petri wiederum mit Goebbels (vgl. Barenghi 1976). Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt der Kontroverse rasch: So lädt L’Espresso Petri und Minister Sarti an einen Tisch, gerade weil die von dem Film ausgelöste Debatte nicht mehr nur um die DC kreist, sondern vor allem um die Werte und Ideale, die die katholisch-konservative Partei seit 30 Jahren politisch vertrete (vgl. L’Espresso 1976: 68). Dieses Werk fällt angesichts der von Crainz beschriebenen Stimmung also durchaus auf fruchtbaren Boden, auch wenn die Filmkritik ihrerseits mit Todo modo hart ins Gericht geht. In diesem Sinn findet der Autor der Romanvorlage, Leonardo Sciascia, trotz seiner Vorbehalte auch lobende Worte für Petris Film: Er sieht darin jenen ›Prozess‹ gegen die Macht, den der im Vorjahr verstorbene Pasolini noch gefordert hatte. Dieser war davon ausgegangen, dass es in einem möglichen Gerichtsprozess gegen verbrecherische DC-Obere vor allem zu einer moralischen Abrechnung mit der Partei komme; diese lasse dann im kollektiven Bewusstsein Italiens einen ›neuen politischen Willen‹ entstehen (vgl. Stabile 1976: 11; Pasolini 1975). Das Blatt wendet sich, als 1978 die Roten Brigaden den im Film angedeuteten Moro ermorden: Aus Frankreich, wo der Film zunächst sehr positiv aufgenommen wird (vgl. Gili 1977; de Baroncelli 1977; Capdenac 1977: 238–240), erreicht Petri sogar der Vorwurf der Komplizenschaft. Pierre Billard lastet ihm und anderen Filmemachern Italiens an, durch eine zu einseitige Kritik die staatlichen Autoritäten im Kampf gegen ihre extremistischen Feinde geschwächt zu haben. L’Espresso nimmt die Polemik zum Anlass, um den Kritiker mit Petri, Pirro und Damiano Damiani zur Diskussion an einen Tisch zu bringen. Elio Petri akzeptiert in der direkten Konfrontation Billards Kritik und bestätigt dessen Eindruck, dass der Linksterrorismus auch die oppositionellen Regisseure verunsichert habe: Ein kritisch-satirisches Kino, wie es auch noch Todo modo biete, sei unter anderen politischen und historischen Umständen gewachsen, sodass nun neue Formen der Kritik und Analyse notwendig seien (vgl. Riva 1978: 96).
260
4.6 Zusammenfassung
4.6
Zusammenfassung: Festigung eines ›volksnahen‹ Politkinos
Todo modo markiert den fulminanten Schlusspunkt jener Phase, die Elio Petris filmpraktisches und -poetologisches Schaffen zwischen den Jahren 1966 und 1976 umfasst. Die Kontroverse um den Film kann als einer der letzten Impulse in der Debatte um das cinema politico betrachtet werden, die sich in den kommenden Jahren erschöpft. Petri selbst verabschiedet sich schon im August 1975, noch während der Arbeit an Todo modo, von einem Kino, das er als polpop bzw. poppol bezeichnet (vgl. Kap. 4.1). Der Regisseur hat hier zwar in erster Linie die Finanzierungsschwierigkeiten im Sinn, mit denen er bei diesem Projekt zu kämpfen hat. Diese lassen sich aber als handfeste Symptome für das in Italien allgemein nachlassende Interesse an ordnungskritischen Kinofilmen auffassen. Es ist sicherlich legitim, Petri ab 1970 als einen der maßgebenden Repräsentanten des cinema politico zu betrachten: Seine Spielfilme, die durch ihre politischen Sujets auffallen, erhalten vom Kinopublikum ebenso wie von den Festivaljurys erheblichen Zuspruch. Zugleich ist er derjenige Filmemacher, der in der italienischen Debatte um den politischen Film das cinema politico am vehementesten verteidigt. Innerhalb seines Werks scheint sich zudem die Entwicklung konsequent zu dem damit bezeichneten Modell zu vollziehen: Sowohl seine theoretischen als auch die praktischen Arbeiten, die zwischen 1966 und 1968 entstehen, kreisen noch um die Krise des politischen Films, der Kunst und der Intellektuellen. Mit dem Aufkommen der Protestbewegungen nimmt der Regisseur dann zwar die Möglichkeit eines außerhalb der etablierten Strukturen operierenden Filmaktivismus als Alternative ernst; diese wird letztendlich aber zugunsten eines Films verworfen, der politische Themen mit den Mitteln der Fiktion innerhalb des kommerziellen Kinosystems aufarbeitet und verbreitet. Durch seine spezifische, als volksnah akzentuierte Theoriekonzeption setzt Petri seine Filme jedoch vom Großteil der mit dem cinema politico assoziierten Modelle ab. Tatsächlich sind seine Regiearbeiten aus dieser Zeit in ihrer ästhetischen Machart und im Umgang mit den verhandelten Problemen wesentlich komplexer, als der Filmemacher ebenso wie seine damaligen Kritiker glauben machen wollen. Der Bezug zum ›Popularen‹ ist im Kontext einer rhetorischen Strategie zu begreifen, die sich gegen die wenig breitenwirksamen Alternativen des politischen Films richtet. Letztlich lassen sich jedoch nur vage Zusammenhänge zwischen den Filmen und den poetologisch aufgerufenen Referenzmodellen ausmachen. Einzig bei La proprietà findet deutlich erkennbar jene Anverwandlung Brecht’scher Distanzierungstechniken statt, die sowohl für Petri als auch die Verfechter einer Politik der Form maßgebend werden.
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4. Etablierung als ›politischer‹ Spielfilmregisseur (1966–1976)
Der Regisseur unterzieht das Leitmodell des Epischen Theaters einer eigenen Interpretation, um die radikal modernistischen Umsetzungen, wie sie sich beispielsweise bei Godards und Straubs Filmen ebenso wie Bertoluccis Partner (1968) oder Edoardo Brunos La sua giornata di gloria (1969) finden, seinerseits zu diskreditieren und ideologisch zu delegitimieren: Er verortet das Prinzip einer antiillusionären Darstellung in einem volkskulturellen Traditionskontext. Appliziert Petri diese Symbiose eines filmischen Modernismus und seines früheren Gramscianismus auf die eigene Regiearbeit, so erscheinen die Filme als dezidiert antibürgerliche, potenziell breitenwirksamere und damit politisch effizientere Alternativen – obwohl sie innerhalb des kapitalistischen Systems entstehen und zirkulieren, wie es ihm seine Gegner, die ja vor allem aus dem gleichen politischen Spektrum wie er selbst stammen, zum Vorwurf machen. Der Begriff des Grotesken, mit dem Petri charakteristischerweise die ästhetische Umsetzung dieses Programms belegt, erweist sich als zu verknappend. Das Groteske lässt sich aber eben gegen radikale Varianten des politischen Films anführen, die jede Form emotionaler Affizierung als Zugeständnis an die kommerzielle Kinoindustrie abtun. Die Strategien der Verdeutlichung und Selbstreferenz, die der Begriff darüber hinaus intendiert, sind dagegen durchaus an den Filmen erkennbar; mithin ruft die verdeutlichende Darstellung der jeweils vermittelten Problemzusammenhänge autoreferenzielle Effekte hervor. Dies zeigt sich im Besonderen an den Elementen, die oftmals als charakteristisch für die ›Popularität‹ von Petris Form des cinema politico behandelt werden: an der komischen Wirkung des überzeichnenden Schauspiels ebenso wie am Bezug zum Genrekino, der faktisch Erwartungshaltungen unterwandert und einschlägige Erzählmuster reflektiert. Dabei mögen die Filme im Sinne jener Kritiker, die sich apodiktisch für eine Politik der Form aussprechen, tatsächlich ›autoritär‹ anmuten. Schließlich erzeugen die spezifischen Erzähl- und Gestaltungsweisen keine Ambiguität: Die verschiedenen Darstellungsebenen stehen oftmals ja sogar in einem redundanten Verhältnis zueinander, sodass sie sich in ihrem Aussagegehalt gegenseitig ergänzen und determinieren. Diese Vielschichtigkeit erfordert von den Rezipienten jedoch eine nicht zu unterschätzende Interpretationsleistung. Als ambig stellen sich die Filme allerdings gerade dort heraus, wo es aus Sicht der außerparlamentarischen Progressiven und der ihnen nahestehenden Filmkritik am wenigsten angebracht scheint: in der Darstellung von (potenziellen) Revolutionären, die die gleichen Anomalien wie ihre bürgerlich-kapitalistischen Gegenfiguren aufweisen. Die Filme zeichnen hier nicht in Schwarz und Weiß, womit gerade die ausbleibende Revolution umso nachdrücklicher auf die verhandelten Problematiken verweist. Diese bestehen in psychischen Störungen,
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4.6 Zusammenfassung
die als Grundlagen einer ungleichen Gesellschaftsordnung an den aktuellen politischen Konfliktlagen zutage treten; infolge seiner verstärkten Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse spricht Petri bei den jeweiligen Phänomenen explizit von Schizophrenie. Hierin vermittelt sich nun auch eine skeptische Haltung gegenüber den Exponenten und Leitfiguren der Neuen Linken, wobei die weltanschaulichen Unterschiede eigentlich gar nicht allzu groß sind: Auch Petris Regiearbeiten tragen eine ausgeprägt antiautoritäre Haltung zur Schau. Demnach lässt sich der Aspekt einer revolutionären Ideologie nicht ohne Weiteres gegen den einer revolutionären Form ausspielen. Ist Petris Modell des ordnungskritischen Films durchaus der politisch-modernistischen Kritik der ästhetischen Illusion verpflichtet, so schlägt sich diese auf eine gänzlich andere Weise nieder: Hier werden die Gestaltungs- und Erzählmöglichkeiten des fiktionalen Films nicht negiert, sondern im betont reflexiven Gestus ausgenutzt. Seine Regiearbeiten der 1970er Jahre lösen damit nahezu emphatisch (vorerst) jene Zweifel am Wirkungspotenzial des Kinos auf, die sich in Un tranquillo posto di campagna angesichts der spätkapitalistischen Verhältnisse und der zunehmenden Konkurrenz des Fernsehens andeuten. Bis Mitte des Jahrzehnts scheint in Italien das fiktionale Kino noch das audiovisuelle Massenmedium zu sein, das die größten Möglichkeiten für eine kritische wie breitenwirksame Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen bietet. Davon mögen Petris Festival- und Publikumserfolge ebenso wie die Kontroversen oder die christdemokratischen Verzögerungsversuche bei Todo modo Zeugnis ablegen. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre löst sich diese Vormachtstellung auf.
263
5.
Fernsehen und Theater: Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
Nach Todo modo kommt es in Elio Petris Werkbiografie ebenso wie in der Entwicklung des politischen Films in Italien zu einem markanten Einschnitt. Die Filmgeschichtsschreibung geht hier von einer allgemeinen Krise aus, die sich im Verhältnis zwischen den Filmemachern und der gesellschaftlichen Gegenwart manifestiere. Mit Verweis auf die Konjunktur historischer und autobiografischer Sujets stellt etwa Brunetta fest: »While their depiction of the present was confused, their portrayal of the past was lucid and clear« (Brunetta 2009: 244). Auch Micciché ist der Ansicht, dass sich das italienische Kino in dieser Zeit als unfähig erweist, eine kritische Darstellung der sozialen Wirklichkeit zu bieten. Diese Aufgabe übernehme nun das Fernsehen in Form von Nachrichtenformaten (vgl. Micciché 1997: 11). Solche Eindrücke mögen sich unter anderem dadurch einstellen, dass politische Akteure nur noch selten im Kinofilm zu sehen sind. Vor allem in den Arbeiten einer neuen Filmemachergeneration wird eher das Scheitern der Protestbewegungen thematisiert, so etwa in Marco Tullio Giordanas Regiedebüt Maledetti vi amerò (1980). Berlinguer ti voglio bene (1977) von Giuseppe Bertolucci mokiert sich gar über den Glauben der Arbeiterklasse an den kommunistischen Revolutionsmythos. In Nanni Morettis Komödie Sogni d’oro (1981) werden politische Filme, die Protestbewegungen zeigen, zum bunten, musicalähnlichen Spektakel. Nicht zu unterschätzen ist zudem der Umstand, dass ab Mitte der 1970er Jahre die Entwicklung der modernen Filmästhetik, die in ihrer Spätphase stark politisch geprägt ist, zum Erliegen kommt: Werden die Vorbehalte gegen klassische Erzählformen nun zunehmend abgebaut, so findet im künstlerisch anspruchsvollen Kino ein organischer Übergang zu postmodernistischen Gestaltungsweisen statt (vgl. Kovács 2007: 382–387). Dadurch verliert auch die ›Politik der Form‹ allmählich an Bedeutung. Einen wesentlichen Faktor bildet in Italien allerdings auch die filmtheoretische Debatte, in der Ende des Jahrzehnts Fragen des politischen Films zunehmend in den Hintergrund rücken. Damit verblasst eben auch das Rubrum des cinema politico, unter dem noch kurz zuvor stilistisch und thematisch äußerst heterogene Regiearbeiten subsumiert worden sind. Die Filmkritik, die bis dahin selbst stark politisiert ist, durchläuft ihrerseits einen grundlegenden Transformationsprozess: Sie ist nun zunehmend von kritischer Selbstreflexion, ideologischer Neuorientierung und institutioneller Pluralisierung geprägt.
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
Diese filmhistorischen Entwicklungen sind wiederum im Zusammenhang mit den politisch-gesellschaftlichen und medienkulturellen Veränderungen des Landes zu sehen. Insbesondere der politische Film sieht sich mit dem Problem einer zunehmend entpolitisierten Gesellschaft konfrontiert, zumal so sein Resonanzraum schwindet. Schon damals entwickelt sich der Begriff des Rückflusses (ital. riflusso) zum Schlagwort, das die zunehmende Desillusionierung unter den Protagonisten der Protestbewegungen beschreibt (vgl. Crainz 2005: 558). Während die Neue Linke allmählich zerfällt, unterstützt der PCI im Historischen Kompromiss die DC gegen den Linksterrorismus (vgl. Jansen 2007: 177). In Reaktion darauf entsteht der movimento del ’77, eine spontaneistische und extrem antiautoritäre Protestbewegung, die allerdings kaum zivilgesellschaftlichen Rückhalt findet (vgl. Crainz 2005: 566–573; Jansen 2007: 174 f.; Woller 2010: 315 f.). Es ist daher wenig überraschend, dass ein Film wie Indagine kein nennenswertes Echo mehr hervorrufen kann, ja sogar als überholt abgetan wird, als Petris bekannteste Regiearbeit im Dezember 1977 erstmals im Fernsehen zu sehen ist (vgl. Berlinguer 1977). Zudem gerät das italienische Kino, das sich im internationalen Vergleich bis dahin als recht vital erweist, endgültig in eine wirtschaftliche und strukturelle Krise. Schon 1977 markieren rund 373,9 Mio. verkaufte Tickets gegenüber 1970 einen Abfall von 29 Prozent, bis 1982 reduziert sich die Zahl nochmals um die Hälfte (vgl. SIAE o. J. e). Zugleich setzt ein regelrechtes Kinosterben ein, denn allein in diesem Jahrfünft schließen rund 2300 Säle (vgl. SIAE o. J. f). Auch die Anzahl der hergestellten Filme verringert sich signifikant: Zu Beginn dieser Phase kommen nur 165 italienische Produktionen und Co-Produktionen in die heimischen Säle, 1982 lediglich noch 128 (vgl. SIAE o. J. g). Beispiele wie Petris Verfilmung von Jean-Paul Sartres Drama Les mains sales (1978) zeigen, wie das Fernsehen nun auch in seiner Qualität als filmisches Medium gegenüber dem Kino einen Aufschwung erfährt. Es bietet also nicht nur älteren Kinofilmen neue Verbreitungswege, sondern wird selbst zunehmend im Bereich der Filmherstellung aktiv. Insbesondere die öffentlich-rechtliche RAI setzt vermehrt auf Eigenproduktionen und Co-Finanzierungen. Schon seit Ende der 1960er Jahre entstehen so Produktionen, die zur Verwertung im Kino und im Fernsehen vorgesehen sind; die Rundfunkanstalt versucht demnach auch, der Krise des Konkurrenzmediums entgegenzusteuern. In dieser Hinsicht wird es auch für politische Regisseure interessant: Zu den von der RAI produzierten Filmen, die damals als ›politisch‹ wahrgenommen werden, zählen unter anderem Padre padrone (1977) der Gebrüder Taviani, Ermanno Olmis L’albero degli zoccoli (1978) und Francesco Rosis Cristo si è fermato a Eboli (1979). Darüber hinaus entstehen fernsehgenuine Formate wie Masellis Arbeiter-Miniserie Tre
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
operai (1980) oder eben Petris Dreiteiler Le mani sporche. Auch die Szene des militanten Undergroundfilms, die in Italien noch bis Anfang der 1980er Jahre recht aktiv ist, beschäftigt sich früh mit den Möglichkeiten des Videos und des Fernsehens. Auf lokaler Ebene kommt es sogar zu Kooperationen mit der RAI, sodass in den staatlichen Sendern gelegentlich militante Dokumentarfilme zu sehen sind (vgl. Lischi 2005: 96 f.). Als das Fernsehen in Italien medienkulturell in eine Vormachtstellung rückt, wird es so zunehmend auch für die unterschiedlichen Ausprägungen des politischen Films relevant. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen gewinnen Petris Arbeiten aus dieser Zeit Kontur. Le mani sporche markiert den Versuch, eine dem Fernsehen angemessene Ausdrucksweise zu entwickeln. In seiner letzten Regiearbeit für das Kino, Buone notizie Ovvero La personalità della vittima (1979), fungiert die Television dann als maßgeblicher Faktor einer kleinbürgerlich geprägten, emotional deformierten Gesellschaft. An der Rezeption von Pe tris Werk und der medialen Wahrnehmung seiner Person lassen sich zugleich die Verschiebungen innerhalb der italienischen Filmkultur nachvollziehen. Denn während vor allem Buone notizie unter den veränderten Bedingungen verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, erscheinen mehrere Pu blikationen, Schriften und Interviews, die sich umfassend mit Petris früherem Schaffen und Wirken auseinandersetzen; der von ihm repräsentierte politische Film wird demnach bereits als historisch aufgefasst. Im Rahmen seiner letzten Regiearbeit, einer Inszenierung von Arthur Millers Stück The American Clock, beschäftigt sich Elio Petri 1981/82 schließlich auch mit einem Medium, das im Unterschied zu Kino und Fernsehen nur wenig breitenwirksam ist: dem Theater.
5.1
Petris Engagement für das (politische) Kino
Bis zu Elio Petris Tod im November 1982 gewinnt in seinen film- und politikbezogenen Kommentaren allmählich eine pessimistische Haltung überhand. Eindrücklich zeigt sich dies in zwei selbstironischen Texten, die er wenige Monate vor seinem Ableben in der Literaturzeitschrift Nuovi Argomenti veröffentlicht. Im ersten, der wie ein kurzes Drehbuch aufgebaut ist, kommuniziert er als Protagonist mit der Kamera eines fiktiven Films: Mit dieser unterhält er sich über seine abgekühlte Liebe zum Kino. Im zweiten Text erzählt er von einem fiktiven Freund namens ›Ex‹, um als ehemaliges Parteimitglied auf indirekte Weise sein eigenes, recht schwieriges Verhältnis zum PCI darzulegen (vgl. Petri 1982b, 1982c). Petri bringt hier anschaulich seine Orientierungslosigkeit und Melancholie zum Ausdruck, drohen doch in dieser Zeit mit der Kinematografie
266
5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
und dem Kommunismus wesentliche Komponenten seines Selbstbilds als politischer Filmregisseur obsolet zu werden. Diese Beiträge legen auch Zeugnis davon ab, dass er sich nun verstärkt publizistischen Tätigkeiten widmet. So verfasst er mehrere Artikel für Bücher, Magazine und Zeitungen, in denen er sich mit film- und politikbezogenen Themen beschäftigt. Interessanterweise betätigt er sich auch wieder als Kritiker, indem er Rezensionen zu Kunstausstellungen und Kinofilmen schreibt, unter anderem für die Kochzeitschrift Nuova Cucina.86 Unter filmpoetologischen Gesichtspunkten sind vor allem Petris Interviews relevant, die im Falle von Tassone (1980) und Faldini / Fofi (1981/84) sehr umfassend ausfallen.87 Die entsprechenden Kommentare, die hier jeweils Bestandteil groß angelegter, retrospektiver Interviewbände sind, bestimmen wiederum lange Zeit die filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk. Dies ist insofern wenig überraschend, als sich der Regisseur darin ausführlich zu all seinen Filmen sowie politischen, kulturellen und ästhetischen Fragestellungen äußert. Petri setzt sich hierbei weiterhin mit Diskussionspunkten auseinander, die ihm seit Beginn seiner Laufbahn im Filmgeschäft wichtig sind: die Funktion des Intellektuellen, eine gemeinsame Richtung unter den Kulturschaffenden, die Rolle der Filmkritik, die kapitalistische Organisation von Kunst und Kultur sowie die kommunistische Partei Italiens, insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis zu ihrem außerparlamentarischen Umfeld. Hierbei sieht sich der Filmemacher mit einer grundlegend veränderten Situation im Vergleich zu den vorherigen Schaffensphasen konfrontiert: Er erörtert diese Themen dementsprechend einerseits im Zusammenhang mit der Kinokrise und der Konjunktur des Fernsehens, andererseits mit Blick auf die gescheiterten Protestbewegungen und den Historischen Kompromiss. Diese sind für ihn deutliche Anzeichen dafür, dass die Möglichkeit zu einem unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Wandel, die der Aufruhr Ende der 1960er Jahre geschaffen hatte, endgültig vergeben ist. Auch er selbst revidiert seine radikalen Ansichten aus den Jahren 1969/70, ohne eine antiautoritäre Grundeinstellung aufzugeben: Im Rückblick spricht er in Bezug auf die aktivistischen Kreise innerhalb des italienischen Kinos recht selbstkritisch von geistiger Armut, Infantilismus und übertriebenem Masochismus (vgl. Tassone 1980: 260 f.). Wenn Petri 1977 explizit den Glauben an einen sofortigen Umsturz zurückweist, dann wird daran ersichtlich, dass er auch in der Schlussphase seiner Karriere der Idee kultureller Hegemonie verpflichtet bleibt: Gegenüber Ilio Tog86 87
Für eine Auswahl an Rezensionen vgl. Petri 2007k [1980], 2007m [1979–1982]. Vgl. Tassone 1980: 221–284; Faldini / Fofi 1981: 69, 145, 147 f., 152–154, 214 f., 402 f.; dies. 1984: 59 f., 61 f., 82 f., 84 f., 277–279, 286 f., 289 f., 404 f., 648 f., 694.
267
5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
noni befürwortet er den politischen Kurs der Konsensbildung, um auf lange Sicht eine freiheitliche Gesellschaftsordnung zu erreichen (vgl. AMNC ELPE520 [1977]: F–H). Diesen Vorgang sieht er allerdings vom PCI gebremst, dessen Führung er als kleinbürgerlich und autoritär kritisiert. Nach der Ausstrahlung seiner Sartre-Verfilmung war ihm vonseiten der Partei heftige Kritik entgegengeschlagen; angesichts des Historischen Kompromisses vermutet der Regisseur hinter dieser Reaktion machtpolitisches Kalkül (vgl. Rossi 1979: 6; Tassone 1980: 263– 265). Er ist in dieser Zeit nicht der einzige Kulturschaffende, der der Partei mit einer solchen Schärfe begegnet: Es kommt 1977 zu einem anhaltenden Streit, als der PCI mehreren linksorientierten Intellektuellen Defätismus und Degagement vorwirft. Diese nehmen die Kritik zum Anlass, um sich im Rahmen der öffentlichen Diskussion selbstkritisch mit ihrer politischen Rolle auseinanderzusetzen. Hierbei zeichnet sich ab, dass Gramscis lange maßgebendes Konzept des organischen Intellektuellen im linken Milieu Italiens zusehends an Bedeutung verliert (vgl. Bisoni 2009: 107–109). Petri, der seinerseits nach wie vor daran festhält, setzt sich zumindest innerhalb der Kinokultur weiterhin für einen konstruktiven Dialog zwischen Filmemachern und Kritikern ein. Als er 1982 in einem Interview mit Cinemasessanta erneut gegen die Filmkritik polemisiert und dadurch eine Kontroverse auslöst, hat er vor allem die mangelnde Unterstützung im politischen Kampf Anfang der 1970er Jahre im Sinn. Allerdings bezieht er sich auch auf die aktuelle Situation des italienischen Kinos, die aus seiner Sicht bei den Fachpublizisten auf zu wenig Interesse stößt. Zustimmung erhält er in erster Linie von etablierten, eher traditionell linksorientierten Kinoregisseuren wie Francesco Maselli, Ettore Scola und Giuseppe De Santis.88 Gleichwohl beobachtet er unter den Filmemachern ebenfalls einen Hang zur Selbstisolation, über den er sich unter anderem schon 1979 bei einer Fachtagung in Sorrent offen beschwert (vgl. Bellumori 1979). Seine Bemühungen, die Debatte über das Kino anzuregen, folgen weder einer cinephilen Nostalgie noch dem reinen Selbsterhaltungstrieb. Die Aufklärungsund Erkenntnisfunktion bleibt der zentrale Fluchtpunkt seiner kinobezogenen Überlegungen, gerade weil in seinen Augen das Fernsehen als neues Leitmedium diese (noch) nicht erbringt, ja sogar gegenteilige Wirkungen forciert. Petri beschäftigt sich in dieser Zeit daher weniger mit der Frage, wie er seine Konzeption des politischen Films modifizieren kann. Angesichts der televisuellen Konkurrenz ist es ihm wichtiger, das Kino als Forum gesellschaftlicher Reflexion
88
268
Ausgewählte Kommentare vgl. Petri et al. 2000 [1982–84].
5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
und Erneuerung zu stärken: Er versucht hier, den erkenntnisfördernden Kinofilm gegenüber dem ideologisch wirksamen Massenmedium Fernsehen in Stellung zu bringen.
5.1.1 Zur Theoriediskussion über das Verhältnis zwischen Kino und Fernsehen
Erst nach der Einführung des dualen Rundfunksystems 1976 findet in Italien das Fernsehen auch in die allgemeineren Medien- und Filmdebatten Eingang. Dabei interessiert man sich in erster Linie für sein Verhältnis zum Kino. Petris Vorstellung eines zeitgemäßen Kinofilms, der als solcher auch politisch wirksam sein kann, ruft dagegen nur noch wenig Resonanz hervor. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Filmkritik, die er offen angeht, in dieser Zeit nicht nur ihren Gegenstandsbereich, sondern auch das eigene Fach in einem vielfältigen Wandel begriffen sieht. Durch Veränderungen auf institutioneller Ebene verlieren die Kritiker nämlich ihren Status als alleinige Orientierungsinstanz, die als solche signifikante Tendenzen im Filmbereich systematisiert und verständlich macht: Das Feld pluralisiert sich durch Einrichtungen von Filmredaktionen beim Fernsehen, die Aufnahme filmbezogener Fächer in die schulische und universitäre Lehre sowie Gründungen zahlreicher cinephiler Filmklubs und akademischer Fachzeitschriften (vgl. Bisoni 2005: 521 f.; 2009: 109 f.). Zudem macht sich in der Filmkritik eine Entwicklung bemerkbar, die Petri Anfang der 1980er Jahre als allgemeinen Bedeutungsverlust der großen Ideologien beschreibt (vgl. Faldini / Fofi 1984: 649; AMNC ELPE568 [1981]: 3). Die Entideologisierung, die auch in der Fachpublizistik Raum greift, zeigt sich beispielhaft im Umgang mit einer Zeitschrift wie Cinema Nuovo: Da diese weiterhin einem Lukács’schen Marxismus verpflichtet bleibt, sieht sie sich nun dem Spott jüngerer Konkurrenten ausgeliefert. Diese nehmen die vertretene Weltanschauung und die traditionellen Analysemethoden als anachronistisch wahr. Außerhalb der aktivistischen Zirkel beschränkt sich die Auseinandersetzung mit Fragen der Revolution, des Kollektivismus oder der Avantgarde daher nur noch auf solche bereits etablierten Fachmedien (vgl. Bisoni 2005: 512). Nachdem über drei Jahrzehnte politische Fragen im Vordergrund gestanden haben, erscheint in Italien nun auch eine ideologisch unvoreingenommene Herangehensweise an den Gegenstand Film legitim (vgl. Bisoni 2009: 109 f.). In seiner Polemik führt Petri 1982 unter anderem das Problem an, dass die Filmkritik überhaupt nicht mehr auf eine Weiterentwicklung des Kinos angewiesen ist: Er bezieht sich damit auf die zahlreichen Veröffentlichungen film-
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
theoretischer und -historischer Bücher, die ab Ende der 1970er Jahre in Italien auf den Markt kommen; Lodato (2005) spricht hier von einem regelrechten ›Boom‹. Die wirtschaftliche und institutionelle Krise geht demnach mit dem Versuch einher, insbesondere die Entwicklungslinien im heimischen Kino seit dem Zweiten Weltkrieg zu erfassen. Interviewbände wie die von Tassone und Fofi / Faldini lassen Filmschaffende wie Petri hierbei selbst ausführlich zu Wort kommen. Es ist daher wenig erstaunlich, dass Rossi die erste italienische Monografie zu Petris Werk im Jahr 1979 publiziert. Die akademischen Zeitschriften verlagern die Aufmerksamkeit vom Kino auf Aspekte des Mediums, der Audiovisualität und der Textualität. Hier sind die neuesten (post-)strukturalistischen und medientheoretischen Paradigmen der internationalen Film- und Kulturwissenschaften maßgebend, wobei die akademische Fachöffentlichkeit auch die Beschäftigung mit dem Fernsehen und Formen der Serialität nicht scheut (vgl. Bisoni 2005: 518; 2009: 110 f.). Dabei zieht in Italien die Television schon Anfang der 1970er Jahre das Interesse von engagierten Intellektuellen und Militanten auf sich: So verfasst etwa der Filmregisseur Roberto Faenza (1973) mit Senza chiedere permesso das damals wichtigste »Handbuch zur politischen Videopraxis«89. Auch in den kommenden Jahren bleibt es das militante Milieu, das die Macht des Staates über den Rundfunk kritisiert und die Möglichkeiten der Gegeninformation erörtert (vgl. Lischi 2005: 94 f.; Uva 2015a: 89–100). Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre dann auch die etablierte Filmkultur Italiens intensiver mit dem Fernsehen auseinandersetzt, liegt der Fokus insbesondere auf seinen filmischen Eigenschaften: Zum einen produziert das Fernsehen selbst Filme, zum anderen füllen vor allem die neuen Privatsender ihr Programm mit älteren Kinofilmen. Es erscheinen zahlreiche Schriften, die sich mit produktionsspezifischen und institutionellen Fragen, der Rundfunkgesetzgebung, aber eben auch mit der Rekontextualisierung des Films im Fernsehen beschäftigen. Der Verband der Kinokritiker findet sich 1978 sogar zu einer Konferenz mit dem einprägsamen Titel I film in tv: cinema tradito? zusammen, um diese Problematik zu erörtern (vgl. SNCC 1978). Da sich die Fernsehproduktionen verstärkt filmischen Gestaltungsweisen bedienen, wird den Theoretikern zudem die Differenzierung der beiden Medien zu einer akuten Fragestellung. Nicht ohne Spott merkt die Zeitschrift Cineforum 1979 an, dass mit dem filmischen Spezifikum (specifico filmico, vgl. Kap. 2.1.1) wieder eine Thematik aufkommt, die eigentlich seit langer Zeit begraben war (vgl. Bozza 1979: 169).
89
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So der Untertitel zur deutschsprachigen Ausgabe, vgl. Faenza 1975.
5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
Als Petri sich im Rahmen seiner eigenen Fernseharbeit und seines letzten Kinospielfilms verstärkt mit der Television auseinandersetzt, konzentriert er sich eher auf das televisuelle Spezifikum: Als charakteristisches Merkmal des Fernsehens betrachtet er die Fähigkeit zur Live-Übertragung. Schon in seinen früheren Schaffensphasen äußert sich der Filmemacher wiederholt über das Konkurrenzmedium, wobei er stets auf die politische Dimension abhebt. Er sieht das Fernsehen hierbei vollkommen in den bürgerlich-kapitalistischen Machtapparat integriert: Seiner Ansicht nach kommt es dadurch zum Missbrauch eines an sich vielversprechenden Mediums, das er um 1970 als Herrschaftsinstrument »degno di Hitler e Mussolini« (AMNC ELPE84 [ca. 1970]: 7) beschreibt. Diese Ansichten präzisiert Petri nun, indem er auf den falschen Umgang mit der fernsehspezifischen Technologie hinweist: »Sfruttare fino in fondo la televisione in diretta avrebbe significato una sola cosa: noi saremmo diventati i protagonisti di una vera e propria rivoluzione culturale, e non gli oggetti, i bambini da consigliare, avvisare, ammonire, controllare« (AMNC ELPE118 [ca. 1977]: 3; Hervorheb. i. Orig). Es ist also zu betonen, dass Petri als Vertreter wie als Verfechter des Kinos im Fernsehen durchaus die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Kommunikation und Wirklichkeitserkenntnis sieht, ja diese sogar als wesensmäßig erachtet. In seinen Kommentaren zeigt sich eine gewisse Nähe zu den Ideen, die Hans Magnus Enzensberger in seinem Baukasten formuliert (vgl. Enzensberger 1970). Da für Petri das Fernsehen ausschließlich von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen bestimmt wird, geht er wie Enzensberger prinzipiell davon aus, dass das zentral gesteuerte Distributions- in ein Kommunikationsmedium vieler umgewandelt werden kann. Schon in einem Interview aus der Zeit um 1970 spricht er davon, dass er mit dem Fernsehen einen emanzipatorischen Austausch zwischen den verschiedenen Teilen einer Gesellschaft für möglich hält. Ein solch freiheitliches System klassenübergreifender Verständigung, an dem grundsätzlich jeder teilhaben kann, bildet für Petri einen elementaren Faktor für eine demokratischere Gestaltung des Zusammenlebens (vgl. AMNC ELPE84 [ca. 1970]: 4; AMNC ELPE118 [ca. 1977]: 1). Die Entfaltung dieser Potenziale knüpft Petri eben an eine Verwendungsweise, die dem Wesen des Fernsehens gerecht wird: Indem das Medium räumlich entfernte Ereignisse live, sprich im Moment ihres Geschehens, zeigen kann, biete es seinen Rezipienten einen besseren Zugang zu realen, ggf. gesamtgesellschaftlich relevanten Gegebenheiten. Hier nimmt Petri nun eine unverstellte Beziehung zwischen ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ an: Da die Zuschauer die vorgeführten Geschehnisse tatsächlich direkt miterleben, könnten sie diese in ihrer vollen Wahrheit erfassen. Der Filmemacher zielt damit auf den Umstand, dass die Live-Übertra-
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
gung Eingriffe- und Beeinflussungsversuche potenziell verhindert (vgl. ebd.: 2 f.). Die stattdessen gesteigerte Manipulationskraft, die er in fast allen seiner fernsehbezogenen Äußerungen anmerkt, ergibt sich für ihn konsequenterweise daraus, dass überwiegend zeitversetzt übertragen wird; das Fernsehen neigt aus Petris Sicht damit zu einer systemfreundlichen Aufbereitung der Fakten (vgl. ebd.: 3 f.). Ein weiteres, daran direkt anschließendes Problem sieht er darin, dass das Medium nur die Funktionen bereits vorhandener kultureller Formen und Praktiken übernimmt. Der Filmemacher hat die verschiedenen Programmformate im Blick, wenn er die Annahme äußert, dass sich das Fernsehen Sportveranstaltungen, religiöse Rituale, aber auch die Zeitungsnachrichten, die Literatur, das Varieté, das Theater und schließlich auch das Kino einverleibt. Es löst hierbei charakteristischerweise die spezifischen Erfahrungsmodi auf, die diese Veranstaltungsformen und Medien konstituieren: Die Buchlektüre wird ebenso wie der Besuch des Theaters, Kinos oder Fußballstadions durch eine nur pseudohafte, televisuell geprägte und folglich vereinheitlichte Erlebensweise substituiert (vgl. ebd.; Petri 1978: o. S. [1. Prima di andare a letto; 2. Messa e foot-ball; 3. La tele-realtà]). Politisch wiegen für Petri solche Ersatzleistungen in zweifacher Hinsicht schwer. Erstens übertragen die Zuschauer die Entscheidungsgewalt darüber, welche Unterhaltungs- und Informationsangebote sie nutzen, vollständig auf die Programmgestalter des Fernsehens; sie selbst verkommen zu bequemen, bloß passiven Konsumenten. Zweitens ist ihnen damit kein Anlass mehr gegeben, die eigenen vier Wände zu verlassen. Das Medium forciert schließlich den Rückzug ins Private, während es zugleich die äußere Welt in die Abgeschlossenheit des Heims transportiert. Damit löst es auf problematische Weise die Grenze zwischen der intimen, privaten und der öffentlichen, gesellschaftlichen Sphäre auf: Durch die Illusion des Dabeiseins stellt das Fernsehen nämlich eine lediglich parasitäre Form der Wirklichkeitserfahrung her, die nicht authentisch, sondern diskontinuierlich und manipulierbar ist. Erhalte das Herrschaftssystem dadurch selbst im häuslichen Refugium auf das Subjekt Zugriff, so werde die Fremdbestimmung total (vgl. Laudadio 1978; Petri 1978: o. S. [3. La tele-realtà]; AMNC ELPE118 [ca. 1977]: 1 f., 4). Letzten Endes wird also das Gegenteil von dem erreicht, was Petri als den eigentlich größten Nutzen des Massenmediums erkennt: Statt die Menschen durch ein neuartiges Kommunikationsmittel miteinander in Austausch treten zu lassen, werden sie voneinander isoliert. Im Zusammenhang mit Buone notizie vergleicht Petri diese Situation mit einer Mönchsklause, könne sich der Einzelne durch das televisuelle Lebenssurrogat doch problemlos in sein Zuhause wie in eine Zelle einschließen. Da das Fernsehen nur vom Schlechten der Welt berichte, fungiere es als modernes Memento mori (vgl. l. t.: 1979).
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5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
Der Regisseur geht davon aus, dass im Unterschied zu der vollkommen kon trollierten Television dem Kino noch ein widerständiges Moment zu eigen ist, zumindest dem Filmemachen für das Kino. Die Produktion eines Films stellt er daher erneut als handwerkliche Tätigkeit im Sinne jener authentischen Volkskultur dar, die er durch den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt im Schwinden begriffen sieht. Zugleich betont er nun aber die Autonomie der Ideenentwicklung bei der Filmproduktion, da diese allein innerhalb der Crew stattfinde; anders als beim Fernsehen können aus seiner Sicht politische Kon trollinstanzen nie vollständigen Zugriff auf diesen Prozess gewinnen. Auch wenn die Kinoindustrie das entstandene Produkt dann kommerziell ausbeutet, behandelt er zumindest die Herstellung eines Films als Handlungsform, die zu einem gewissen Grad selbstbestimmt ist: Im Vergleich zu seinen früheren Aussagen erkennt Petri dem Filmemacher und seinen Mitarbeitern größere Freiräume zu, ohne der Vorstellung einer vollkommen zwangsbefreiten Kunst anheimzufallen (vgl. Tassone 1980: 279 f.). Dadurch schafft er es, das Kino trotz seiner wirtschaftlichen und infrastrukturellen Krise als emanzipatorische Alternative zum neuen Leitmedium zu präsentieren. In seinen Kommentaren deutet sich an, dass er dies wiederum durch die Ersatzleistungen des Fernsehens und die damit einhergehende Aufgabenverschiebung begünstigt sieht: So beobachtet er, wie das Fernsehen in seiner Eigenschaft als filmisches Erzählmedium vor allem die marktgängigen, vom Kino etablierten Genres übernimmt und verbrauche. In letzter Konsequenz werde das ältere Medium auf diese Weise von der Zerstreuungsfunktion befreit (vgl. Oumano 1989: 279).90 Der Kinofilm sehe sich seinerseits dadurch zur Selbstreflexion gezwungen, schließlich erhalte er vom televisuellen Konkurrenzmedium die Möglichkeit, »wie das Theater ein autonomeres Ausdrucksmittel zu sein« (ebd.). Wie akut für Petri die Frage des Ästhetischen ist, zeigt sich daran, dass sich für sein Dafürhalten in diesem Bereich die Dominanzverschiebung vom Kino zum Fernsehen auf eindrückliche Weise bemerkbar macht: Er stellt fest, dass vor allem die jüngeren Filmemacher durch den starken Einfluss der Television zu einem völlig neutralen Stil tendieren (vgl. Faldini / Fofi 1984: 649). Dem versucht Petri entgegenzusteuern, indem er auch im letzten Abschnitt seiner Karriere an einem als volkskulturell akzentuierten Antinaturalismus festhält. Seine Konzeption richtet sich dabei weiterhin in erster Linie gegen audiovisuelle Darbietungsweisen, die den falschen Eindruck einer direkten wie objek90
Auszüge aus dem darin enthaltenen Interview werden auch im Katalog zur Biennale-Retrospektive publiziert, wo der Name der Autorin falsch geschrieben ist, vgl. Cunamo 1983.
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
tiven Wiedergabe der realen Welt hervorrufen. In dieser Hinsicht tritt mit dem Fernsehen nun ein neues, besonders mächtiges Gegenmodell auf den Plan: Durch seine mediale Vormachtstellung und seine Suggestivkraft wirkt es stark auf das gesellschaftlich vorherrschende Bild von Wirklichkeit ein. Die Bearbeitung von Les mains sales präsentiert Petri 1978 dementsprechend noch als Versuch, dem innerhalb des televisuellen Produktions- und Rezeptionskontexts entgegenzuarbeiten.
5.1.2 Prämissen und Konzeption eines antitelevisuellen Films
Dem Regisseur zufolge sind seine Filme darauf ausgelegt, die Zuschauer in ein kritisches Verhältnis zu dem treten zu lassen, was sie als ›Wirklichkeit‹ wahrnehmen: Bestimmte filmische Operationen sollen der unreflektierten Alltagswahrnehmung entgegenwirken, um auf diese Weise das Publikum zum eigenständigen Denken und letztlich auch zu einer selbstbestimmten Lebensführung anzuregen. Im Grunde formuliert er damit Absichten, die er schon in früheren Jahren auf die eigenen Regiearbeiten übertragt, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Konzeption eines politisch-popularen Kinos. Vor allem zu Beginn seiner letzten Schaffensphase beschäftigt sich der Regisseur mit der Erkenntnisproblematik jedoch stärker unter dem Aspekt einer unauthentischen, weil fremdbestimmten Wirklichkeitserfahrung. Führt Petri diese auf verzerrte, massenmedial perpetuierte Normalitätsvorstellungen zurück, so spricht er erneut im Anschluss an Debord von einer ›Gesellschaft des Spektakels‹, macht sich aber auch den von Jean Baudrillard geprägten Begriff des Simulacrums zu eigen. Um die damit bezeichnete Vorstellung einer Scheinrealität zu fundieren, bedient sich Petri dann vor allem Sartres Frühexistenzialismus: Besonders im Zuge der TV-Bearbeitung von Les mains sales setzt er sich intensiver mit den entsprechenden Theorien des Philosophen auseinander. Bemerkenswert ist dies insofern, als Petri diese zu Beginn seiner Regiekarriere noch als metaphysisch abgelehnt und nur als Modifikation des Marxismus hat gelten lassen. Damit bezieht der Filmemacher die Problematik der Scheinrealität nicht primär auf die Massenmedien, im Speziellen das Fernsehen, sondern auf die vorgelagerte Ebene des sozialen Alltagslebens. Mit Sartre stärkt er die Idee, dass das menschliche Dasein von einem Spiel sozialer ›Rollen‹ bestimmt ist.91 Der Regis91
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In der Sartre-Forschung hat insbesondere Winter darauf hingewiesen, dass sich die Theater- und Spielmotivik durch das gesamte Werk des französischen Philosophen und Autors zieht (vgl. Winter 1989; 1995: 40).
5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
seur bemüht in dessen Sinne wiederholt Metaphern aus dem Bereich des Theaters. So macht er anschaulich, dass in dem bestehenden Gesellschaftssystem Wirklichkeit nichts anderes als eine ›Fiktion‹ bildet: Übernehme der Einzelne nur konventionalisierte, als normal angenommene Denkmuster, Handlungsweisen und emotionale Haltungen, dann streife er sich Fremdes wie ein Kostüm über (vgl. Petri 1978: o. S. [5. Teatro e mondo]). Das Scheinhafte des menschlichen Daseins bleibt allerdings unbewusst, weil sich eine solche gesellschaftlich vordefinierte Erfahrungsweise der Welt perfiderweise als authentisch und wahrhaftig ausgibt; sie verbirgt ihren arbiträren Charakter. Jene Schemata, die festlegen, wie das Individuum zu denken, zu fühlen und zu handeln hat, wirken aus Petris Sicht demnach wirklichkeitskonstituierend (vgl. Tassone 1980: 244). Es wäre voreilig, von einer existenzialistischen Wende in Petris Denken zu sprechen. In den Jahren nach der Fernsehbearbeitung von Sartres Drama treten die psychoanalytisch geprägten Betrachtungsweisen, die er in der vorangehenden Schaffensphase ausbildet, wieder stärker in den Vordergrund. Maßgebend bleibt zwar die Sexualökonomie Wilhelm Reichs, doch lässt er in einem Interview, das er im Januar 1979 der US-amerikanischen Publizistin Ellen Oumano gibt, kennzeichnenderweise die Ideen Ronald D. Laings wieder anklingen. Der Regisseur beschreibt hier nämlich im Sinne des britischen Psychiaters das ›Rezitieren‹ sozialer Rollen als schizophrenen Vorgang: Übernimmt das Individuum gesellschaftlich vorgeprägte Verhaltensschemata, so spalte sich das Selbst auf. Aus Petris Sicht stellt die multiple Persönlichkeit in einer theaterhaft funktionierenden Gesellschaft demnach den Normalfall dar. Konsequenterweise erkennt er im Schauspieler »una figura molto importante nella cultura occidentale, in tutta la nostra cultura. […] L’attore è una proiezione di noi stessi e il pubblico una proiezione dell’attore. Se accetti questo principio come punto di partenza puoi capire tante altre cose della società« (Cunamo 1983: 98). Durch den Bezug zu Sartre wird es ihm nun allerdings möglich, zumindest auf Theorieebene Maßnahmen aufzuzeigen, mit denen der Zustand der alltäglichen ›Fiktion‹ überwunden werden kann. Er stärkt so die Stellung des Subjekts, wobei er das von Sartre theoretisierte ›Spiel‹ als subversive Praxis präsentiert: Der Mensch kann die prinzipielle Unendlichkeit seiner Handlungsmöglichkeiten erfahren, indem er in seinem Handeln nur selbstentwickelten, sprich von den gesellschaftlichen Normen unabhängigen Regeln folgt. Dadurch wird es ihm möglich, sich von sämtlichen ›Rollen‹ zu lösen (vgl. Petri 1978: o. S. [12. Gioco e serietà; 13. Serietà e malafede]). Auch hier deutet sich jenes politische Modell an, das Petri in seinen Grundzügen schon in den späten 1950er Jahren entwirft: Das Makroprojekt des gesellschaftlichen Systemwandels wird von der individuellen Lebensweise jedes Ein-
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
zelnen abhängig gemacht. Es ist schließlich das Subjekt, das durch die spielerische Reformation seines Alltagslebens oktroyierte Vorstellungen über die Familie, die Produktivität, die Sexualmoral und anderem permanent subvertieren und so eine freiheitliche Gesamtordnung forcieren kann. 1977 bringt Petri gegenüber Tognoni diesen Vorgang mit dem Prozess der Konsensbildung im Sinne Gramscis zusammen, wobei er der kommunistischen Partei noch eine moderierende Funktion zuschreibt (vgl. AMNC ELPE520 [1977]: Gf.). Doch bald darauf wird ihm die existenzialistische Freiheitsidee zum Argument, um sich mit dem Vorwurf des kleinbürgerlichen Paternalismus vom PCI zu distanzieren (vgl. Rossi 1979: 4 f.). Im Umgang mit der Problematik des ›schizophrenen‹ Rollenspiels schreibt Petri dem Kino ebenso wie dem Theater einen besonderen Stellenwert zu. Diese darstellenden Künste böten dem Publikum einen kurzen Moment der Befreiung, da sie die Zuschauer in der unilateralen Kommunikationssituation vorübergehend aus dem permanenten Zwang sozialer Fiktion lösen: Schließlich muss das Publikum im Rahmen einer Film- oder Theatervorführung seinerseits keine Rolle inszenieren, sodass es sich darauf beschränken kann, das Rollenspiel auf der Leinwand bzw. auf der Bühne zu beobachten (vgl. Cunamo 1983: 98). Doch nur allein dadurch, dass das Kino und das Theater Akte des Fingierens und Rezitierens zeigen, bringen sie die Rezipienten noch nicht zur Einsicht in ihre alltägliche ›Fiktion‹ und innere Spaltung. Petri setzt demnach weiterhin bei einem passiven, sich unbewussten Zuschauersubjekt an. Erst 1981 revidiert er diese Vorstellung mit fast resignierendem Tonfall: Die Leute seien sich heutzutage über ihre Lage durchaus im Klaren, sodass sie willentlich ein Kino ablehnen, das sie zusätzlich über die schlechten Seiten des Lebens aufklären wolle (vgl. Faldini / Fofi 1984: 286). Bis dahin nimmt er an, dass eine (filmische) Darbietungsweise bestimmten ästhetischen Prinzipien folgen muss, um das Publikum tatsächlich zur Selbsterkenntnis anleiten zu können. Petri hält hierbei im Grunde an seinen bisherigen Ideen fest, geht nun aber konkreter auf die filmontologischen, rezeptions- und darstellungsästhetischen Voraussetzungen ein, die er in seinen früheren Bemerkungen zu den Konzeptionen eines ›Kinos der Ideen‹ und des politisch-popularen Kinos kaum ausführt bzw. nur andeutet. So wird schon im Gespräch mit Oumano deutlich, dass filmische Selbstreferenzialität und die damit einhergehende Störung der ästhetischen Illusion weiterhin zentrale Bestandteile seines Programms bilden. Dem liegen Annahmen über die Eigenschaften des Films zugrunde, die Petri im Grunde schon in seiner Frühzeit als Kinoregisseur zum Ausdruck bringt: Der Regisseur betont jetzt erneut, dass er vom artifiziellen Charakter des Films ausgeht; unter diesem
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5.1 Petris Engagement für das (politische) Kino
Gesichtspunkt unterscheide sich diese Kunstform weder von der Literatur, der Malerei oder dem Theater. Aus diesem Kontext stammt folgende, viel zitierte Aussage: »Mi piace Stroheim e non mi piace Flaherty. Non mi piacciono i documentari. Mi fanno ridere. C’è il massimo della manipolazione, perché fingono di documentare quello che non è documentabile se non attraverso una interpretazione, cioè un’onesta manipolazione. […] Uno può dare soltanto un documento di se stesso, niente di più« (Cunamo 1983: 99). Im Vergleich zu den anderen Künsten besteht für Petri die besondere Problematik in dem Paradox, dass der Film auf der technischen Apparatur der Kamera basiert, diese aber wiederum von demjenigen, der sie bedient, bestimmt wird. Geht der Regisseur ausdrücklich davon aus, dass der Zugang zur Wirklichkeit nicht objektivierbar ist, so sieht er konsequenterweise auch jede Wirklichkeitsdarstellung von der subjektiven Perspektive ihres jeweiligen Produzenten geprägt. Petri spitzt dies hier dadurch zu, dass er den Film wie jedes andere Kunstwerk als Beeinflussung des Rezipienten deklariert: Der Selbstverweis erscheint so als notwendiges, ja einziges Mittel, um dieses filmspezifische Grundproblem auf ›ehrliche‹ Weise offenzulegen. Wo der Dokumentarfilm und der Neorealismus unterkomplex oder gar naiv erscheinen, wird das Fernsehen als neues, zeitspezifisches Phänomen sogar zu einem politisch-ideologischen Gefahrenfaktor: weil es den Interessen der herrschenden Klassen unterliegt. Bei seinen eigenen Filmen hält Petri weiterhin an der Idee eines produktiven Wechselspiels aus Involvierung und Distanzierung fest; dieses intendiert er in früheren Äußerungen ja mit dem Begriff des Grotesken. Geht er im Interview mit Oumano näher darauf ein, so besetzt er Emotionalisierung und Immersion dementsprechend ausdrücklich positiv. Dabei zeichnet sich die Vorannahme ab, dass die Zuschauer illusioniert werden, sobald sie nicht nur auf der Ebene des Intellekts, sondern auch auf der der Empfindungen angesprochen werden. Von einer solch schematischen Unterscheidung ausgehend spricht sich der Filmemacher für ein Gleichgewicht zwischen geistiger und emotionaler Beteiligung innerhalb eines Films aus. Die Darstellungsweise müsse jedoch nicht in jedem Filmabschnitt gleichermaßen selbstreferenziell-distanzierend und immersionsfördernd sein (vgl. ebd.: 97). Im Unterschied zu seinen früheren Kommentaren behandelt Petri die Gefühlskomponente weniger als elementare Voraussetzung für den angestrebten Be wusstwerdungsprozess. Er stellt das Einfühlungsangebot eher als Zugeständnis an die Zuschauer dar, durch das wiederum die Hierarchie zwischen dem Filmemacher und dem Publikum aufgelöst wird. Petri hat hierbei weiterhin die als intellektualistisch empfundenen, für die Politik der Form charakteristischen Verfahren der Verfremdung und Distanzierung im Blick, die jegliche Emotion
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
unterdrücken. Entstehen soll stattdessen »tra lo spettatore e lo spettacolo un processo dialettico, che non dev’essere autoritario né dal punto di vista dell’autore, ma nemmeno dal punto di vista dello spettatore« (ebd.). Dementsprechend äußert sich der Regisseur in Hinblick auf die konkrete Umsetzung dieses Programms erneut betont undogmatisch: Auch in seiner letzten Schaffensphase verweist Petri emphatisch auf das gesamte Spektrum an Ausdrucksmitteln, die der Film zur Verfügung stellt. Allerdings sind jetzt gewisse Priorisierungen zu erkennen, die ebenfalls im Zusammenhang mit seiner Antihaltung gegenüber der strukturalistischen Filmkritik und der Politik der Form zu sehen sind. Petri relativiert nämlich explizit die Bedeutung des Kameraverhaltens und der Montage, die dort als filmspezifische Gestaltungsmittel Vorrang genießen: Modernistische Techniken wie die Plansequenz oder eine unbewegte Kamera betrachtet er als übertheoretisiert, modisch und letztlich praxisfern (vgl. Tassone 1980: 251; Cunamo 1983: 97). Der Regisseur sieht hier nicht zuletzt das Problem, dass sich die Wahrnehmung der Zuschauer durch übermäßigen Gebrauch an solche innovativen, unkonventionellen Verfahren gewöhne und diese somit wirkungslos würden. Bemerkenswerterweise setzt sich Petri in diesem Zuge auch explizit von den eigenen Positionen seiner Anfangszeit ab, in der er den Bruch mit filmsprachlichen Konventionen noch zu einem entscheidenden Faktor für die Erneuerung des politischen Films erklärt hatte (vgl. Tassone 1980: 251). Er richtet sein Augenmerk programmatisch auf andere Ebenen des Films: »A me interessa prima di tutto raccontare una storia che fornisca al pubblico, con intenti drammatici, degli utili elementi di riflessione. E quindi anche il linguaggio si piega un po’ a questa nozione di utilità« (ebd.). Neben der Story werden Petri in diesem Sinn die Erzählstruktur und das Schauspiel maßgebend, während sich der Gebrauch der Kamera und die Montage jeweils funktional anzupassen haben. Das spezifische Modell, das sich in seinen Ausführungen herauskristallisiert, setzt dabei auf eine stark übersteigernde Figurenzeichnung sowie eine von Metaphern und Symbolen geprägte, nicht zwingend lineare Narration, die aber stets einen kohärenten Erzählzusammenhang bewahrt (vgl. ebd.: 242 f., 251; Faldini / Fofi 1984: 83). Dadurch mag sich auf der Rezeptionsseite ein permanenter Wechsel von Involvierung und Distanzierung einstellen, wie ihn der Regisseur gegenüber Oumano beschreibt. Zugleich kommen laut Petri über eine derart eigentümlich gestaltete Form aber auch jene pathologischen Zwänge zum Ausdruck, die die Filme an ihren Protagonisten vorführen (vgl. Tassone 1980: 243). Solche poetologisch verhältnismäßig präzisen Kommentare beziehen sich primär auf die Filme, die der Regisseur für das Kino dreht. Besteht das Ziel darin, gesellschaftlich dominanten Wirklichkeitsannahmen entgegenzuarbeiten, so
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5.2 Le mani sporche (1978) und Buone notizie (1979)
richtet sich dies nun eben auch gegen das Fernsehen. Das neue Leitmedium befördert ja aus Petris Sicht bei den Zuschauern eine unkritische Haltung: »Tutto quello che viene dal televisore ha parvenza di realtà. […] Lo ›dice‹ la televisione, dunque è vero« (Petri 1978: o. S. [15. Il nostro gioco]). Der Mehrteiler Le mani sporche ist dagegen konzeptionell darauf ausgerichtet, die suggestive Wirkung des Fernsehens von innen heraus zu unterwandern. Bezeichnenderweise soll dies über eine dezidiert theaterhafte Inszenierungsweise organisiert werden: »Tutto, scenografia, recitazione, luci, posizioni della macchina, tutto deve concorrere a portare il tele-spettatore a teatro« (ebd.). In Petris theoretischen Überlegungen zu diesem Fernsehfilm, die die RAI vorab in Form eines Pressebuchs herausgibt, deutet sich eine dreifache Wirkungsabsicht an. Erstens soll tatsächlich der Eindruck einer Theatervorführung entstehen, um den Zuschauern eine Erfahrung zu ermöglichen, die nicht televisuell überformt ist; Petris Ansicht nach löst das Fernsehen ja die Differenzen zwischen Künsten, Medien und Veranstaltungsformen auf, indem es ihre jeweils charakteristischen Erfahrungsmodi ersetzt. Dadurch soll Le mani sorche – zweitens – das Fernsehen auch als dezidiert fiktionales Medium, das auf problematische Weise aufbereitete Wirklichkeitsausschnitte als real präsentiert, kenntlich machen. Und drittens will Petri durch die theaterhafte Art und Weise der Inszenierung auch das Spiel sozialer Rollen, sprich das alltägliche ›Fingieren‹ als solches offenlegen (vgl. ebd.). Wird das Theaterspiel Petri demnach zum konzeptionellen Ausgangspunkt seiner Regie, so überträgt er hierbei im Grunde nur das Kernmotiv von Les mains sales auf das Fernsehen: Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Sartres Drama als idealer Prätext, um für die Television einen antitelevisuellen Film zu drehen.
5.2
Der Mensch im televisuellen Zeitalter: Le mani sporche (1978) und Buone notizie (1979)
Die letzten Regiearbeiten von Elio Petri verbindet auf den ersten Blick wenig: Le mani sporche wartet als dreiteilige Dramenadaption für den staatlichen Rundfunk mit einem historischen Stoff auf, während der Kinospielfilm Buone notizie aus dem Folgejahr ein typisierendes Porträt des westlichen Kleinbürgers am Ausgang der 1970er Jahre bietet. Es ist die einzige Arbeit, bei der Petri neben dem Drehbuch und der Regie auch für die Produktion verantwortlich zeichnet. Doch sowohl der Film als auch der Mehrteiler bieten sich als kritische Auseinandersetzungen mit dem Fernsehen dar, das in dieser Zeit seine Führungsrolle innerhalb der italienischen Medienlandschaft festigt.
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
Als Petri Ende des Jahres 1977 der RAI die Bearbeitung von Les mains sales zusagt, wird er erstmals selbst für das Fernsehen aktiv. Er übersetzt Sartres Drama neu, um es im April und Mai 1978 in den Mailänder Studios der Rundfunkanstalt zu inszenieren. Die Ausstrahlung der drei Episoden erfolgt dann am 14., 15. und 19. November auf dem Kanal Rete 1. Le mani sporche bleibt letztendlich Petris einzige Regiearbeit für das Fernsehen, obwohl der Regisseur weitere Angebote erhält: Neben Les mains sales schlägt ihm die RAI im Dezember 1977 ein rund fünfstündiges TV-Biopic über Mussolini vor, das in Co-Produktion mit dem US-Sender NBC und der Produktionsfirma MCA entstehen soll. Zudem hat Petri die Möglichkeit, Carlo Castellanetas Roman Notti e nebbie, der von der politischen Polizei während des Faschismus erzählt, für das Fernsehen zu adaptieren (vgl. AMNC ELPE519 [1977]; Galimberti 1978; o. A. 1981). 1980 geht er sogar in die Vorbereitung für eine sechsteilige Serie mit dem Titel Cronache italiane, die eigentümliche Nachrichtenereignisse aus verschiedenen Regionen des Landes fiktional aufbereiten soll. Anhand solcher Geschehnisse, die er als ›Fensterchen zum Untergrund‹ beschreibt, will er einen profunden Einblick in das Wesen Italiens bieten (vgl. Cervone 1982; Fano 1982). Bei Le mani sporche erweist sich allein die gattungsspezifische Einordnung als schwieriges Unterfangen – auch weil der Dreiteiler Grenzen gezielt einzuebnen scheint. Zumindest stellt die Fernsehanstalt die Dramenadaption im Rahmen ihres Theaterprogramms vor (vgl. Autera 1978). Bei den hier zugerechneten Produktionen handelt es sich üblicherweise um abendfüllende Übertragungen genuiner Theaterinszenierungen, die im Fernsehstudio aufgezeichnet werden. Solche Sendungen bilden seit der Anfangszeit der RAI einen festen Bestandteil des fiktionalen Programmangebots, der nun auch prominente Kinoregisseure wie Marco Ferreri (Yerma, 1978) und Marco Bellocchio (Il gabbiano, 1978) anzieht. Petris Sartre-Verfilmung besticht dagegen durch eine mehrteilige Anlage und eine audiovisuelle Gestaltungsweise, bei der die Theatralität des Schauspiels und der Kulissen als ästhetisches Mittel fungiert. Le mani sporche weist damit auch Eigenschaften der sog. sceneggiate auf: meist mehrteiligen Bearbeitungen kanonisierter Werke der Weltliteratur, die sich durch eine filmische Produktions- und Gestaltungsweise kennzeichnen. Diese ergibt sich unter anderem aus dem bereits benannten Umstand, dass die Spielfilme und Mehrteiler, die die RAI seit Ende der 1960er Jahre finanziert und herstellt, oftmals auch im Kino gezeigt werden; als eines der ersten, sehr erfolgreichen Beispiele kann hier der Achtteiler Odissea (1968), eine Adaption des homerischen Epos, angeführt werden. Das staatliche Fernsehen entwickelt so eine Verwertungspolitik, wie sie innerhalb der bundesdeutschen Fernsehspielproduktion seinerzeit unter dem Schlagwort des ›amphibischen Films‹ debattiert
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5.2 Le mani sporche (1978) und Buone notizie (1979)
wird (dazu vgl. Rohrbach 1978). Le mani sporche wird dagegen nur im Fernsehen gezeigt. Dennoch spricht Petri interessanterweise ebenfalls von einem ›hybriden‹, ›amphibischen‹ Charakter (vgl. Laudadio 1978). Dies bezieht er nicht auf die Verwertungs-, sondern auf die Modi der Produktion ebenso wie der Gestaltung: Er kombiniere Elemente und Verfahrensweisen verschiedener Medien, sodass er im Fernsehen letztlich »un linguaggio cinematografico-teatrale« (Calcagno 1978; Militello: 107) ausbilde. Le mani sporche lässt sich nun so interpretieren, dass zwei Grundprinzipien des politischen Films, wie er sich in Indagine, La classe operaia und Todo modo abzeichnet, im Fernsehen neu ausgearbeitet werden: denn auch der Mehrteiler reflektiert anhand der Politik im (Fernseh-)Film menschliche Grundpro bleme und kehrt zugleich selbstbezüglich seinen fiktionalen Charakter hervor. Die Zeitgenossen interessieren sich vor allem für den ersten Aspekt, konkret: die Darstellung der Kommunisten. Schon in den Vorberichten wird angesichts des Historischen Kompromisses zwischen dem PCI und der Democrazia Cristiana stets auf die Aktualität von Sartres Stück verwiesen. Auch Petri gibt die Gegenwartsrelevanz der verhandelten Themen als maßgeblichen Grund dafür an, die Bearbeitung angenommen zu haben; außerdem sieht er für sich die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen mit der kommunistischen Partei aufzuarbeiten (vgl. Autera 1978; Calcagno 1978; Tornabuoni 1978). Unter dem Eindruck der wenige Monate zurückliegenden Ermordung von Aldo Moro wird Le mani sporche auch nach der Ausstrahlung im November als Kommentar zur politischen Lage Italiens interpretiert. Das kommunistische Milieu zeigt sich hierbei recht ungehalten: Der PCI sieht in dem Mehrteiler eine Kritik an seinem politischen Kurs und der hierarchischen Organisationsstruktur der Partei (vgl. L’Unità 1978; Militello 1978: 107). Dabei wird ernsthaft diskutiert, auf welche historischen Parteipersönlichkeiten die Protagonisten des Fernsehfilms Bezug nehmen (vgl. Zucchoni 1978; Petacco 1978). Bei Buone notizie beschwert sich dagegen mancher Rezensent darüber, dass die Auseinandersetzung mit dem Politischen zu abstrakt werde, »non seulement parce qu’aucun personnage n’est plaisant […], mais parce qu’il n’y a plus rien ni personne à détester« (Tournès 1980: 3). Auch Cinema Nuovo klagt darüber, dass Petri wie in einigen seiner früheren Arbeiten den Blick zu sehr auf die allgemeine Lage der Gegenwartsgesellschaft ausweite. Seine Interpretation bleibe dadurch oberflächlich und banal, während Probleme wie die Unfähigkeit politischer Instanzen, die ökonomische Ausbeutung oder die kulturelle und ideologische Versklavung ausgeblendet würden (vgl. f.p. 1980). Zwar mag Le mani sporche konkreter auf politische Themen in diesem engeren Sinn eingehen, doch stehen auch hier existenzielle Grundfragen im Vordergrund: Wie der Protagonist aus Buone
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notizie, ein namenloser Angestellter einer Fernsehanstalt (Giancarlo Giannini), kennzeichnet sich die Hauptfigur Hugo Barine (Giovanni Visentin), ein junger Kommunist bürgerlicher Abstammung, durch eine krisenhafte Beziehung zur Realität. Daher sieht Petri im Anschluss an die Ausstrahlung des letzten Teils ursprünglich sogar eine Diskussionsrunde vor, die die Daseinsthematik als eigentlichen Kern von Sartres Drama herausstellen soll: Da für den PCI nach 30 Jahren endlich die Regierungsmacht zum Greifen nahe ist, will er dadurch antikommunistischen Reaktionen vorbeugen (vgl. Tornabuoni 1977; Militello 1978: 107). Kreisen beide Arbeiten thematisch also um die Pseudowirklichkeit des menschlichen Daseins, so macht der Kinofilm Buone notizie durch die Medien im Film explizit auch auf die Rolle des Fernsehens aufmerksam. Beim Fernsehdreiteiler bleibt diese wiederum implizit: Le mani sporche bildet eine antirealistische Darstellungsweise aus, die dem Wirklichkeitseindruck der Television entgegenwirken soll. Hierbei kommt es im Rahmen der fernsehspezifischen Form seriellen Erzählens tatsächlich zu einer eindrücklichen Kombination filmischer Gestaltungsmittel und theaterhafter Inszenierungseffekte. Der Mehrteiler verweist so auch durch die spezifische Art und Weise der audiovisuellen Umsetzung auf die Problematik einer nicht authentischen Welterfahrung: Das Theater wird folglich nicht nur in seinem eigentlichen, sondern auch in seinem uneigentlichen Sinn sichtbar gemacht.
5.2.1 Alltägliches Spektakel als Wirklichkeitsillusion
Hugo gibt in Le mani sporche wiederholt zu verstehen, dass er sich lediglich wie ein Schauspieler auf der Bühne fühlt. Faktisch führt er zwar Handlungen aus, doch ist er sich über den ontologischen Status seiner Gesten und Taten unsicher; er nimmt sein Leben als irreal bzw. fiktiv wahr. Der Mehrteiler macht so das zentrale Problem individueller Sinnstiftung anschaulich: Hugo und seine Ehefrau Jessica beklagen ein mangelhaftes Realitätsempfinden, weil sie es jeweils nicht schaffen, Wirklichkeit auf selbstbestimmte Weise zu gestalten. Im Pressetext zur Fernsehinszenierung bedient sich Petri seinerseits Sartres Theoremen des Entwurfs, des Spiels und der Unaufrichtigkeit, um das Figurenverhalten zu erläutern.92 Der Mehrteiler schließt jedoch vor allem an Sartres Kritik jenes »Wechselspiel[s] zwischen gesellschaftlicher Konstitution und individueller Per92
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Die wenigen Studien zu der Bearbeitung neigen dazu, sich in den Analysen auf die Bemerkungen des Regisseurs zu beschränken. Besonders auffällig ist dies bei Prono 2015.
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sonalisation« (Winter 1989: 41) an, das vor allem in seinen Nachkriegsdramen verhandelt wird. Die Leitmetapher des Schauspiels bezeichnet demnach das soziale Rollenverhalten, das sowohl im Fernsehmehrteiler als auch in Petris letztem Kinofilm in den Fokus rückt. Während sich Hugo seinem ›Schauspiel‹ gewahr wird, ist dem Protagonisten von Buone notizie vollkommen unbewusst, dass seine Lebensweise nur festgefügte Denk- und Handlungsschemata erfüllt. Erschöpft sich das Dasein darin, dass der Einzelne lediglich nach vordefinierten Mustern und Annahmen über die Welt denkt und handelt, so wird das, was er als Wirklichkeit wahrnimmt, in beiden Filmen als unwirklich apostrophiert: Was Hugo mit seinen Selbstbeschreibungen explizit macht, deuten etwa auch René Magrittes surrealistische Gemälde L’Empire des lumières bzw. La géante und Quand l’heure sonnera an, die in die Kulissen integriert sind. In Le mani sporche wird das Rollenverhalten in der widersprüchlichen Lage der Hauptfigur augenscheinlich. Hugo reflektiert zwar sein ›Theater‹ und distanziert sich davon, versucht aber zugleich, durch den Part des politischen Mörders die quälende Frage nach seinem Ich zu verdrängen. In diesem Sinn gestaltet sich zum einen die Ehe mit Jessica nur als unernste Inszenierung von Haltungen und Emotionen: Das alltägliche Schauspiel ist für sie ein ironisches Spiel; das Motiv des Spiegels, das den gesamten Mehrteiler durchzieht, illus triert ihre Unsicherheit und ihren Hang zur Selbstreflexion. Zum anderen ordnet sich Hugo den Vorgaben des radikalen Parteiflügels vollkommen unter: Er erfüllt unhinterfragt die ihm übertragenen Aufgaben, übernimmt also nur die ihm zugewiesenen ›Rollen‹. Auf diese Weise versucht er, durch Anerkennung im sozialen Gefüge der kommunistischen Partei seine Existenz als bedeutsam zu erfahren. Die beauftragte Ermordung des ›Klassenverräters‹ Hoederer (Marcello Mastroianni), um die die Geschichte des Dreiteilers kreist, findet in seinem Inneren letztlich aber keine Rechtfertigung. Dies zeigt sich wiederum daran, dass Hugo die Tat im Nachhinein unwirklich vorkommt. Durch diese Aktion verwandelt sich Hugos Leben, das er bis dahin als Komödie wahrnimmt, in eine ›Tragödie‹. Schließlich führt der Mord schicksalshaft den Fall des Helden herbei: Nach seiner Haftentlassung setzt die Wiedereingliederung in die Partei voraus, dass Hugo seine Aktion und den damit assoziierten Decknamen Raskolnikoff, sprich die durch die Tötung Hoederers begründete Identität, ablegt. Da ihm in seinen Augen damit die einzige Möglichkeit genommen wird, dem eigenen Dasein Sinn zu verleihen, wählt er am Ende freiwillig den Tod. Während die Partei Hoederer zum politischen Märtyrer stilisieren kann, erweist sich für Hugo der in ihrem Auftrag begangene Mord letztlich als sinnlos.
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Charakteristischerweise orientiert sich der Jungkommunist nur an fremden Vorbildern und Modellen. Hierdurch verdrängt er die Möglichkeit, seine Existenz durch eine selbstbestimmte Lebensführung mit Bedeutung zu füllen. Dies manifestiert sich in Hugos Beziehungen zu den älteren Männerfiguren, in denen sich jeweils ein Vater-Sohn-Verhältnis abzeichnet: zu seinem leiblichen Vater, mit dem Hugo aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Bourgeoisie gebrochen hat; zu dem Parteifunktionär Louis, dem er in seinem ideologischen Dogmatismus zunächst blind nacheifert; und zu dem pragmatisch orientierten Hoederer, den Hugo aufgrund seines aus weltanschaulicher Sicht ›schmutzigen‹ Handelns zunächst zu töten beabsichtigt. Es ist diese seine Zielperson, die ihn zur Entdeckung seines Ichs, mithin zu einer emanzipierten Gestaltung des eigenen Daseins anleitet. Das Selbstbestimmungsideal vermittelt sich über Hoederers Verhältnis zur Wirklichkeit: Seine Person, seine Handlungen und alle von ihm berührten Objekte muten Hugo und Jessica im Vergleich zu ihrem eigenen, bloß scheinhaften Sein ›real‹ an. Grundsätzlich kennzeichnet sich Hoederer dadurch, dass er als Mitglied der kommunistischen Parteiführung eigeninitiativ jenseits der ideologischen Orthodoxie, in der Hugo aufgehen will, handelt. So beabsichtigt er, sich mit dem faschistischen Regenten und der bürgerlichen Pentagon-Partei zusammenzuschließen, um die Bevölkerung angesichts der bevorstehenden deutschen Invasion in den fiktiven Staat Illyrien schützen zu können. In seiner Funktion als Ersatzvater gibt er Hugo dadurch die Idee autonomen Handelns als Verwirklichung des Selbst vor: Das Subjekt schafft sich seine Wirklichkeit, indem es sein Leben durch ein selbst gesetztes Ziel nach eigenen Maßgaben organisiert. Hugo und Jessica entwickeln zwar ein Bewusstsein über ihr alltägliches Theaterspiel, bleiben aber unfähig, durch eine selbstdefinierte Rolle eigenmächtig ›ihre‹ Realität zu konstituieren. Die Frage der existenziellen Freiheit wird im Fernsehmehrteiler deutlicher auf den politikhistorischen Kontext bezogen als in der Vorlage. Bei Sartre bilden im engeren Sinn politische Fragen prinzipiell nur den Ausgangspunkt, um die Freiheit des Subjekts philosophisch zu erörtern: so etwa die Kollaboration mit dem Klassenfeind gegenüber der ideologischen Reinheit, die Legitimität von Lüge und Mord als Mittel, um die politischen Ziele zu erreichen, sowie die Rolle des bürgerlich geprägten Intellektuellen im Klassenkampf gegenüber dem Proletarier. Die Tötung von Hoederer erfolgt aber eben nicht aus politischen Gründen, sondern aus Affekt; schließlich fühlt sich Hugo von seinem Ersatzvater betrogen, als sich dieser Jessica annähert. Den konkreten Bezugshorizont weist der Erzählrahmen aus, um den Le mani sporche den Prätext erweitert. Am Anfang wie am Ende der Fernsehverfilmung ist jeweils der Zuschauerraum eines Theaters zu sehen, in dem Stalin als Personi-
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fikation eines autoritären Kommunismus in einer Loge über dem Parkett thront; in den Reihen unter ihm sitzt ein junges, stark politisiertes Publikum. Auf diese Weise wird ein neuer ›Stalinismus‹ thematisiert: Die Darstellung des jungen Hugo auf der innerdiegetischen Theaterbühne reflektiert folglich das Verhältnis zwischen einer prinzipiell freien Subjektivität und einem ideologisch strengen Autoritarismus, der um 1978 im außerparlamentarischen Milieu Italiens (wieder) Raum zu greifen scheint. Die Kritik von Le mani sporche zielt damit gerade nicht auf die traditionellen Kommunisten, wie der PCI vermutet. Stattdessen lässt sich dies als Verweis auf die zunehmende Gewalt unter den linksextremistischen Gruppierungen und Bewegungen interpretieren. Im Fernsehfilm richtet sich die Aggressivität der Radikalen vor der Bühne schließlich gegen das Stück selbst: Nach der Aufführung kommt es zu Tumulten unter den Zuschauern, wobei die wenigen positiven Zurufe von Vorwürfen wie »Provocatori!« und Parolen wie »La verità è rivoluzionaria!« oder »No al compromesso con la bor ghesia!« übertönt werden. Der freiwillige Verzicht auf die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens und die unvoreingenommene Erfahrung der Wirklichkeit machen den linken Revolutionär dem angepassten Kleinbürger aus Buone notizie gleich. Da der namenlose ›Mann‹ (so die Bezeichnung im Drehbuch, vgl. AMNC ELPE48 [1979]) fest in seiner Rolle verhaftet ist, hält er im Unterschied zu Hugo die sich ihm darbietende Realität unhinterfragt für ›wahr‹. Trotz der Allgegenwärtigkeit des Fernsehens stellt daher schon Della Casa (2015: 224) fest, dass Buone notizie kein Film über das Massenmedium an sich ist. Es erscheint vielmehr als zeitspezifische Kraft, die die Entfremdung des Einzelnen von der Welt forciert. Die karikierend stereotype Darstellung weist den Konformismus der Hauptfigur durch ein auffälliges Defizit an persönlichen Besonderheiten aus. Der nur graue Anzüge tragende ›Mann‹ scheint lediglich eine Hülle auszufüllen. Sein monotones, als konventionell betontes Dasein konstituiert sich in einem traditionellen Eheverhältnis mit einer jüngeren Frau und die Anstellung bei einer Fernsehanstalt. Besteht seine Aufgabe lediglich darin, das Fernsehprogramm auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig zu verfolgen, so bleibt der Zweck dieser Tätigkeit ebenso unklar wie irrelevant. Ein oberflächlicher Umgang mit Kunst weist schließlich seine charakteristische Trivialität aus: Der ›Mann‹ schmückt zwar seine Wohnung mit einer Reproduktion von Braque, sein Büro mit Picassos Guernica und zeigt sich als interessierter Leser; faktisch bleibt er bei seiner Lektüre aber immer auf der gleichen Buchseite. Dieser Mangel an Authentizität zeigt sich auch am Liebeshaushalt des Protagonisten. In der deformierten Erotik des Kleinbürgers bietet sich schließlich eine Charakterstruktur dar, die das Empfinden echter Gefühle nicht mehr
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zulässt. Statt einer befreiten, natürlichen Sexualität lebt der ›Mann‹ eine widersprüchliche Doppelung aus bigottem Moralismus und einer eindimensionalen, ordinären Fixierung auf das Geschlechtliche. Diese wird nun in seinen Beziehungen zu den weiblichen Figuren manifest. Die Frauen sind dabei grundsätzlich positiver besetzt, weil sie sich im Vergleich zum ›Mann‹ der Komplexität des Sexuellen bewusst sind: Die Unterlegenheit gegenüber dem weiblichen Ge schlecht vermittelt sich in mehreren Szenen auch über plakative Bildausschnitte, wenn der Protagonist etwa mit der winzigen Männerfigur in La géante assoziiert wird (Abb. 47).
Abb. 47 und 48: Buone notizie
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Die vier Frauen, mit denen er in Kontakt steht, sehen sich von ihm zu Objekten eines bloß körperlichen Verlangens degradiert. Seiner Gattin Fedora gegenüber trägt der ›Mann‹ ansonsten nur Abneigung oder sogar Indifferenz zur Schau. Ihre attraktive und zugleich einfältig anmutende Freundin Benedetta erscheint ihm als begehrenswertere Alternative zu der emotional abgenutzten Ehe. Die Arbeitskollegin Tignetti verweigert sich seinen Annäherungen apodiktisch, wobei sie ihm mit ihrer ironischen Distanz die Möglichkeit gibt, sich in den gemeinsamen Gesprächen über das Verhältnis von Mann und Frau selbstkritisch zu hinterfragen. Ada, die nymphomanisch veranlagte Ehefrau seines Jugendfreundes Gualtiero, will sich ihm dagegen physisch und emotional völlig hingeben. Gerade ihre amouröse Tabulosigkeit legt seine moralisch bedingten Selbstzwänge offen, aufgrund der er sich nicht seinen Begierden überlassen kann. Die vulgäre Ausdrucksweise des ›Manns‹ deutet einen Zusammenhang zwischen sexueller und intellektueller Unreife an: Indem er durch pejorative Begriffe das Geschlechtliche herabsetzt, wehrt er nach eigenen Worten jegliche geistige Tiefe ab; er ist unfähig, das Erotische in seiner Mehrdimensionalität zu erfassen. Obwohl er sich redlich darum bemüht, kann der ›Mann‹ letztlich mit keiner der benannten Frauenfiguren erfolgreich den Geschlechtsakt vollziehen. Stattdessen fällt er durch eine stark ausgeprägte Skopophilie auf, dargestellt als exzessives, lustvolles Schauen. In der zweiten Sequenz löst allein der Blick auf die TV-Bildschirme eine Erektion aus, ehe weitere (Bewegt-)Bilder ähnliche pseudolibidinöse Empfindungen anregen. Ob Spielfilme wie La montagna del dio cannibale (1978), Gemälde mit Aktmotiven, attraktive Nachrichtensprecherinnen oder Gualtieros Stereoskop mit pornografischen Lichtbildern (Abb. 48): Seit jeher scheinen visuelle Medien nur von einem übermäßigen Voyeurismus in Dienst genommen zu werden. Während das Fernsehen dies übersteigert, indem es Hardcore-Bilder einer Autofellatio zeigt, parodiert der Film seinerseits solche Stimulationsangebote. So wartet auch Buone notizie zwar mit Ansichten weiblicher Nacktheit auf, etwa in der Strandszene, in der Benedetta und Fedora ohne narrative Notwendigkeit mit entblößten Oberkörpern gezeigt werden.93 Doch statt die Schaulust des Publikums zu befriedigen, präsentiert der Film eine Krise der männlichen Erotik. Trotz der episodenhaften, deskriptiven Erzählweise durchläuft der ›Mann‹ eine signifikante Entwicklung. Als er gegen Ende des Films einen Sonnenuntergang beobachtet, glaubt er wahrhaftige Emotionen zu verspüren: Die katharti93
Pezzotta (2017) sieht darin eine kritische Referenz auf die italienische Erotikkomödie. Dies leuchtet durchaus ein, da solche Filme mit Edwige Fenech, Gloria Guidi oder Stefania Cassini in den 1970er Jahren sehr erfolgreich sind.
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sche Befreiung, die sich hier einzustellen scheint, weist das kitschige Motiv wie in La decima vittima als bloß pseudohaft aus. Forciert wird der oberflächliche Affektausbruch durch die mysteriösen Geschehnisse um Gualtiero, dessen Figur den tragenden Handlungszusammenhang herstellt. Nach Jahren ohne Kontakt taucht der Jugendfreund plötzlich auf, um der Hauptfigur seine paranoid anmutenden Ängste anzuvertrauen. Er wird dann tatsächlich ohne erkennbaren Grund in einer psychiatrischen Klinik ermordet, in die er kurz zuvor wegen seines Verfolgungswahns eingewiesen worden war. Überraschenderweise stellt er sich dann als Vater von Fedoras ungeborenem Kind heraus: Als sich der ›Mann‹ dennoch Gualtieros aufrichtigen Empfindungen für ihn bewusst wird, kann er endlich am Horizont die untergehende Sonne erblicken. Der jüdische, großbürgerliche Ex-Kommunist Gualtiero avanciert insofern zur Schlüsselfigur des Films, als mit ihm die Frage nach der Wahrheit der menschlichen Existenz aufgeworfen wird. Bezeichnenderweise fällt er durch ein dezidiert unkonventionelles Sexualverhalten auf, wobei seine offene Beziehung zu Ada die Erotik aus den moralischen Schranken der bürgerlichen Ehe befreit. Er selbst präsentiert sich als Onanist: Dies ist nicht als infantile Regression zu aufzufassen, sondern als Versuch einer authentischen Selbsterfahrung; das stets mitgeführte Buch La masturbazione verweist auf die zeitgenössische Sexualforschung, die die Onanie aufzuwerten versucht.94 Seine Affäre mit Fedora hat dagegen einen eher homoerotischen Hintergrund: Die Ehefrau des Protagonisten fungiert nur als Imago seines einzigen ›wahren‹ Freundes. Fedorda hofft, im Jugendfreund Gualtiero unbekannte Facetten ihres Gatten zu erfahren. Mit der Liebschaft versuchen beide jeweils, zu dem jüngeren, emotional noch unverpanzerten Wesen des ›Manns‹ zu gelangen. Konsequenterweise ist es der sexuell abnorm anmutende Gualtiero, der offenlegt, wie sehr die Wahrnehmung der Welt durch verfestigte Realitätsannahmen gelenkt wird – und zwar indem er diese durch ein irritierendes, scheinbar überzogenes Verhalten konterkariert. So werden Gualtieros Beteuerungen, das Ziel von Mordanschlägen zu sein, von seinen Mitmenschen stets als wahnhaft abgetan; Ada unterstellt ihm, die Wirklichkeit nicht mehr von einem Gangsterfilm im Stile Robert Siodmaks, mithin der Fiktion, unterscheiden zu können. Es ist aber der als pathologisch Stigmatisierte, der durch seine tatsächlich eintretende Ermordung seinerseits die ›Normalen‹ auf deren quasifiktive Existenz hinweist. Dementsprechend referieren mehrere semantisch verdichtete Szenen wiederholt auf die Diskrepanz zwischen Schein und Sein. So wird Gualtiero etwa der
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Es handelt sich um die italienische Ausgabe von Francis / Marcus 1975.
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Walzer, den er dem ›Mann‹ beibringt, zur Daseinsmetapher; während der Mensch glaube, elegant durch das Leben zu tanzen, krieche er lediglich wie ein Wurm dahin. Die Schlussszene pointiert dann die von Gualtiero ausgegebene Maxime: Er hinterlässt einen Briefumschlag mit der Aufschrift ›Da non aprire‹, die sich auch auf den darin enthaltenen Zettelchen findet. Das Kuvert hält demnach keine exklusiven Hinweise bereit, die die Hintergründe von Gualtieros Tod erhellen; Buone notizie verzichtet auf die Enträtselung und damit schlussendlich auch auf die Verbrechensauflösung. Statt über eine Wahrheit, die hinter den sichtbaren Ereignissen und Verhältnissen verborgen sein könnte, aufzuklären, kehrt der Film diese selbst hervor. Buone notizie verweist auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die es an sich in ihren offenkundigen Fehlentwicklungen zu begreifen gilt. Mit seinem Brief macht der Ermordete seinen Jugendfreund folglich darauf aufmerksam, dass er sich zuallererst der evident vor ihm liegenden Welt annähern muss: Diese ist ihm im Grunde nur durch den unhinterfragten Anschein von Normalität ›verschlossen‹. Als übermäßiges Sehen aus der Ferne verschärft das Fernsehen die Problematik einer fremdbestimmten Wirklichkeitserfahrung. Der ›Mann‹ akzeptiert nämlich als unkritischer Zuschauer die televisuell konstituierte Realität: Er wird zum passiven Konsumenten, der die auf ihn einfließenden Bilder willenlos und meist recht unbeteiligt aufnimmt. Nahezu jede Szene, in der er fernsieht, öffnet mit der bildfüllenden Nahaufnahme eines Bildschirms, um die Dominanz des Fernsehens in seiner Allgegenwärtigkeit zu unterstreichen. Der Auftritt eines TVHypnotiseurs stellt die quasihypnotische Wirkung auf die Rezipienten ostentativ aus: Das Publikum überlässt dem Fernsehen freiwillig die Entscheidung darüber, was als ›normal‹ und ›wahr‹ zu gelten hat. Daher vertraut der Protagonist nicht auf Gualtiero und dessen Gefühl, sondern schenkt den paranoid anmutenden Behauptungen erst Glauben, als das Fernsehen von der Ermordung des Jugendfreundes berichtet. Das kaleidoskopische Wirklichkeitsbild, das die Television entwirft, erweist sich in Hinblick auf die mitgeteilten Fakten prinzipiell nicht als falsch. In seiner Eigenschaft als ›Fenster zur Welt‹ funktioniert das Fernsehen eher wie eine Zerrlinse, wie schon der ironische Filmtitel andeutet: Mit seinen sensationslüsternen Schreckensnachrichten konstruiert es eine ausschließlich von Terror, Staatsbegräbnissen, Epidemien, Straßenkämpfen, Bränden, Inflation und Arbeitslosigkeit geprägte Gegenwart. Da der kleine Bildschirm ein elementarer Bestandteil sowohl des privaten als auch des beruflichen Lebensbereichs ist, hält er als permanenter Begleiter der Hauptfigur Tod und Verderben präsent. Dadurch wird das Individuum in ein paradoxes Verhältnis zu seiner Außenwelt gesetzt. Einerseits entsteht eine Haltung der Angst: Durch die permanente
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Präsenz der Gefahr fühlt sich der Fernsehrezipient selbst bedroht und klammert sich an sein eintöniges, nur in Konventionserfüllung erschöpfendes Leben. Dies wird ihm aber eben nicht zum Antrieb, um den eigenen Schematismus zu überdenken und Alternativmodelle zu erproben; der Protagonist hegt lediglich den Wunsch, ›nicht zu sterben‹. Andererseits nimmt der ›Mann‹ die Welt, von der er maßgeblich aus dem Fernsehen erfährt, auch nur wie im Fernsehen wahr. Wenn er außerhalb der eigenen vier Wände Gewaltakte, Drogenkonsum und sexuelle Handlungen beobachtet oder sogar Tote entdeckt (der Film zeichnet auch in den Alltagsansichten Roms ein überspitzendes Bild bislang unerreichter Verrohung), dann hat das für ihn stets einen gewissen Schauwert: Solche Ereignisse und Vorgänge verkommen zum Spektakel, das beim Protagonisten Furcht, Lust oder Ekel hervorruft. Sie interessieren aber nicht als Missstände, die über die gesamtgesellschaftliche Lage Auskunft geben. Damit festigt in Buone notizie die unkritisch angenommene Fernsehwirklichkeit die unkritische Haltung gegenüber den vorherrschenden Verhältnissen.
5.2.2 Realitätskritik eines antirealistischen Fernsehfilms
In diesem Zusammenhang lässt sich Le mani sporche als Gegenmodell auffassen, das ›Wirklichkeit‹ kritisch betrachtet und zugleich selbstreferenziell auf die wirklichkeitskonstitutive Kraft des Fernsehens hinweist. Als fernsehspezifisch hat bei der Umsetzung im Grunde nur die Form des Mehrteilers zu gelten. Diese bietet den notwendigen Raum, um das krisenhafte Verhältnis zwischen Subjekt und Wirklichkeit in all seinen Facetten zu beleuchten. Bei einer Gesamterzählzeit von rund 230 Minuten überschreiten die drei unterschiedlich langen Teile, die dienstags, mittwochs und sonntags jeweils um 20.40 Uhr ausgestrahlt werden, die übliche Spielfilmlänge nicht. Im Kontext der sich rasant verändernden Fernsehlandschaft Italiens fällt Le mani sporche allerdings durch eine betonte Langsamkeit auf. Die Sequenzen sind meist sehr lang gehalten, schon einzelne Szenen erreichen eine Dauer von über 20 Minuten. Dementsprechend sind zahlreiche Plansequenzen vorhanden, in denen Kameraschwenks, Zooms und Schärfeverlagerungen den Schnitt er setzen; auf diese Weise werden abrupte Unterbrechungen vermieden. Einige Rezensenten bemängeln daher eine gewisse Langatmigkeit: So merkt Luigi Lunari in der sozialdemokratischen Tageszeitung Avanti! schon vor der Ausstrahlung des ersten Teils an, dass Petri als Kinoregisseur das Stück problemlos auf die Länge eines einfachen Spielfilms hätte reduzieren können. Ein Kollege klagt dann über einen unnötig langsamen Erzählfluss, auch wenn durch die
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Fortsetzungsstruktur des Mehrteilers Spannung entstehe (vgl. Lunari 1978; C. S. 1978). Gerade eine solche Gestaltungsweise bietet den Rezipienten die Möglichkeit, den Dialogen, die oftmals in selbstreflexive Monologe umschlagen, zu folgen. Mit dem Mord ist zwar eine spezifische Aktion auf inhaltlicher wie formaler Ebene für das ansonsten eher aktionsarme (Fernseh-)Stück elementar: Hugos Tat bildet ja den Kulminationspunkt, in dem der politisch-öffentliche und der private Handlungsstrang um den Jungkommunisten und Hoederer zusammenlaufen. Da der Fernsehfilm wie schon das Drama von Sartre aber auf eine nachvollziehbare, verständliche Diskursivierung solch komplexer Themen wie Lebenssinn und Wirklichkeitskonstitution zielt, bekommt die reflektierende Rede über die Bedeutung des Mordes zwangsläufig mehr Raum als die Aktion selbst. Das Setting ermöglicht hierbei einen verfremdenden Blick auf die eigene Situation, indem es das Fernsehpublikum von seiner alltäglichen Lebenswelt entführt. Das Geschehen auf der Bühne im Film wird wie bereits im Sartre’schen Prätext in das fiktive Illyrien verlegt, wobei das Mobiliar und die Requisite ebenso wie die Kleidung der Figuren eine historisch getreue Szenerie der frühen 1940er Jahre entstehen lassen: einer Epoche, die die Zuschauer folglich nicht als ihre eigene wahrnehmen. Prinzipiell bieten auch andere Fernsehspiele und -theaterinszenierungen historische Stoffe dar, die Bezüge zum Zeitgeschehen zulassen oder gar forcieren. Ebenso lässt sich die Nähe zum Theater, die der Inszenierungsweise von Le mani sporche zugesprochen wird, bei sämtlichen Sendungen des RAI-Theaterprogramms feststellen.95 Zudem ist bereits Sartres Drama so angelegt, dass das Spiel im Spiel die ästhetische Illusion stört und dadurch zugleich die Scheinwelt des Menschen offenlegt (vgl. Winter 1989: 38; Nuy 2008: 71 f.). Auch in ihrem dramaturgischen Aufbau hält sich Petris Adaption sehr genau an die Vorlage. So bleibt die Einteilung der Komödie in sieben Akte bzw. ›Bilder‹ erhalten, obgleich diese durch die Mehrteiligkeit des Fernsehfilms in den Hintergrund tritt. Dementsprechend wird auch die analeptische Struktur übernommen: Nach Hugos Haftentlassung entfaltet die Rückblende, die die mittleren fünf ›Bilder‹ umfasst, die zwei Jahre zurückliegenden Ereignisse um Hoederers Ermordung. Folgt die Binnenhandlung dem Fünf-Akt-Schema, wie sie im Besonderen für das französische Regeldrama charakteristisch ist, so ist dies wie-
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Zur Theaterhaftigkeit von Le mani sporche vgl. Caldiron 2012: 104; Prono 2015: 216–218.
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derum mit einer streng symmetrisch angeordneten Abfolge der Schauplätze und Themen verbunden. Der Erzählrahmen, dessen Szenen im Mailänder Teatro Gerolamo gedreht werden, ist ebenso spezifisch wie programmatisch für Petris Fernsehadaption, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens eröffnet der Rahmen mit der Stalinfigur das Thema eines neuen Stalinismus, das konkret auf die politisierte Jugend im innerfiktionalen Zuschauerraum und auf der Bühne bezogen wird: durch Hugo, der sich anfangs durch die Sitzreihen bewegt und bedeutungsvoll nach oben zum sowjetischen Diktator blickt. Zweitens wird hier die Leitmetapher des Theaters etabliert, denn der Jungkommunist gibt sich offenkundig als Schauspieler, sein Schauspiel als Schauspiel zu erkennen. Le mani sporche unterscheidet sich damit insofern von den üblichen Theaterinszenierungen der RAI, als hier tatsächlich der Raum eines Theaters vorgeführt und zugleich funktionalisiert wird. Der metaphorische Gehalt der Theatersituation erschließt sich dann durch die Figurenrede auf der innerdiegetischen Ebene des aufgeführten Stücks, wo Hugo das Rollenspiel explizit macht und reflektiert. Drittens stellt die Eingangssequenz die Filmizität der audiovisuellen Umsetzung aus: Die Montage, Kameraschwenks und Zooms inszenieren die Blickverhältnisse zwischen Hugo, Stalin und dem politisierten Publikum. Auch bei den Aufnahmen der anschließenden Bühnenaufführung bietet der Fernsehmehrteiler trotz des kammerspielartigen Kulissenarrangements keine statischen Ansichten, die die Rezeptionssituation im Theater simulieren. Stattdessen ändern die sehr agile Kamera und die Montage innerhalb der beengten Innenräume permanent die Perspektive, rücken sehr nah an die Darsteller heran, stellen semantisch dichte Bildausschnitte her und verstärken emotionale wie spannungsreiche Momente. Solche Verfahren sind primär im Rahmen eines psychologisierenden Darstellungsprogramms zu sehen. So werden etwa Totalen und Halbtotalen, die die Bewegungen und die Handlungen der Personen im Raum zeigen, stets durch Groß- und Nahaufnahmen aufgelöst. Solche Einstellungen, die oft im klassischen Schuss-Gegenschuss-Verfahren miteinander verzahnt sind, intensivieren Szenen der Nähe, des Selbsteingeständnisses und der Konfrontation. Sie geben den Schauspielern die Möglichkeit, innere Zustände durch Nuancierungen im mimischen, gestischen und stimmlichen Ausdruck zu veranschaulichen. Zusätzlich hebt die mise en scène die Unsicherheit und die Gefangenheit der Figuren in diesem Mikrodrama von größter politischer Tragweite hervor: durch stilisierte Ansichten verdoppelter Fenster- und Türrahmen ebenso wie Spiegelungen, die als Reflexionsmetaphern innere Konflikte und die Undefiniertheit des Ichs betonen. Bei Hugo wird das existenzialistische Problem des Rollenspiels so als individuelle Sinnkrise evident gemacht, die sich im Konflikt
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zwischen ironischer Distanz und Verzweiflung über die Absurdität des eigenen Daseins äußert.96 Die innere Anspannung der wenigen Figuren lässt in der Intimität der beengten Räumlichkeiten eine latente Spannung entstehen, die angesichts der aktionsarmen Handlung auch unter rein dramaturgischen Gesichtspunkten zweckdienlich ist. Die extradiegetische, vollständig in Moll gehaltene Musik verstärkt diese visuell erzeugte Gesamtstimmung – und zwar durch ein Zusammenspiel stets langgezogener Streichermelodien und langsamer, stellenweise dissonanter Klänge eines Solo-Klaviers, die ebenfalls nie den Eindruck von Hektik aufkommen lassen. Nur selten werden Kulminationspunkte auf der Handlungsebene durch aufsteigende Melodielinien im Crescendo akzentuiert, wobei gerade die Mordszene auf jegliche musikalische Untermalung verzichtet. Darüber hinaus entwickelt die Musik, die im Umfang und in ihrem Facettenreichtum dem Score eines Kinospielfilms nicht nachsteht, auch kohäsive Qualitäten: Diverse Stücke stellen also über die Einzelfolgen hinaus akustische Verknüpfungen her. Neben der Titelmelodie ist beispielsweise für Hoederer ein personengebundenes Erkennungsmotiv vorhanden. Ebenso werden in der Rückblendenstruktur die erinnernden Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch ein musikalisches Thema markiert. Die Analyse der mise en scène und der Musik ließe sich fortsetzen – entscheidend ist, dass sich die Modi, mit denen die Darstellungselemente vor der Kamera in Szene gesetzt werden, auf etablierte Verfahren des Spielfilms stützen. Dabei kommen durchaus avancierte Mittel wie Schärfeverlagerungen und recht aufwendige Kamerabewegungen zum Einsatz, auch wenn das Ausdrucksspektrum der von Petri verwendeten ›amphibischen‹ Apparate gegenüber dem einer modernen Filmkamera insgesamt beschränkt bleibt: Selbst bei den Studioaufnahmen werden keine elektronischen Aufzeichnungsgeräte verwendet, sondern Kameras mit 35-mm-Film, bei denen die Crew während des Drehs wie beim Ampex-System das gefilmte Bild zeitgleich auf einem Monitor verfolgen kann (vgl. Laudadio 1978). In seiner Filmizität unterscheidet sich Le mani sporche kaum von anderen italienischen Fernsehspielen bzw. -filmen dieser Zeit, schließlich finden schon seit den 1960er Jahren filmische Verfahren und Produktionsweisen in den fiktionalen Bereich des Konkurrenzmediums Eingang. Doch während beim Fernse96
Petri bietet später eine psychoanalytisch orientierte Interpretation an: Er habe in seiner Bearbeitung der Beziehung zwischen Hugo und Hoederer eine homosexuelle Prägung gegeben (vgl. Faldini / Fofi 1984: 405); diese wird im Film aber nicht zwingend deutlich.
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hen mit solchen Mitteln üblicherweise eine realistischere Darstellung angestrebt wird, zielt die spezifische Gestaltungsweise von Le mani sporche auf gegenteilige Effekte. Diese generieren charakteristischerweise die Elemente vor der Kamera: Die theaterhafte Darbietung des Geschehens auf der innerfilmischen Bühne mutet auf den ersten Blick anachronistisch an, erinnert sie doch an das Fernsehspiel der 1950er Jahre. Was sich in der Frühzeit aus produktionstechnischen Beschränkungen ergibt, ist bei Petris Mehrteiler Ende der 1970eer Jahre angesichts der vollendeten ›Filmisierung‹ des fiktionalen Fernsehens als elementarer Bestandteil der ästhetischen Konzeption zu betrachten. Die Personen agieren als Darsteller in deutlich erkennbaren Kulissen, sodass die Inszenierung als solche augenfällig wird. Diese metafiktionalen Verweise exponieren wiederum die Leitmetaphorik, sodass das ›Theater‹ und das ›Schauspiel‹ über die Anfangssequenz hinaus stets präsent bleiben. Als Hugo vom Zuschauerraum auf die Bühne steigt, scheinen der Erzählrahmen und die innerdiegetische Ebene des aufgeführten Stücks nahtlos ineinander überzugehen. Dem Fernsehpublikum wird so suggeriert, dass es wie das Publikum im Film weiterhin einer Theateraufführung folgt. Faktisch wird aber schon in dem Moment, als Hugo die Bühne betritt, das Teatro Gerolamo verlassen. Hinter dem Eröffnungsbild, einer Reproduktion von L’Empire des lu mières, öffnet sich ein architektonisch komplexer Raum, der offenkundig die räumlich begrenzte Spielfläche des Theaters überschreitet: Es sind Studiobauten, die den Parteitreff, die Wohnung von Hugo und Jessica sowie Hoederers Arbeitszimmer darstellen. Das Szenenbild ist dabei keineswegs so reduziert und stilisiert wie bei den oft modernistisch gestalteten TV-Theaterinszenierungen aus dieser Zeit; die drei Studioräume sind ja historisch detailgenau eingerichtet, wodurch sie im Vergleich realistischer wirken. Von den neuen Möglichkeiten des in Italien erst 1977 eingeführten Farbfernsehens wird dementsprechend kaum Gebrauch gemacht, sodass trübe und dunkle Farbtöne vorherrschend sind. Die Kulissen werden aber wiederholt als solche wahrnehmbar gemacht – unter anderem durch die nur angedeuteten Außenräume, vor allem aber durch die Kamera, die durch aufwendige Fahrten Szenenwechsel organisiert, sich hierbei aus dem jeweiligen Set herausbewegt und dieses ansichtig werden lässt. Zudem wird die Beleuchtung als Gestaltungsmittel der Bühneninszenierung erkennbar. Besonders bei abendlichen Szenen und dunklen Räumen kommen Techniken wie die Zweipunktbeleuchtung und das Spotlight zum Einsatz, die jeweils markante chiaroscuro-Effekte erzeugen und die Gesichter der Schauspieler dramatisierend hervorheben. Darüber hinaus bilden die Darsteller in zahlreichen Szenen einen Stil aus, der eher dem des Theaterschauspiels entspricht. Dieses akzentuiert Regungen und
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5.2 Le mani sporche (1978) und Buone notizie (1979)
Bewegungen durch stilisierende Gesten, Gesichtsausdrücke und Sprechweisen, ohne notwendigerweise wie in Petris Kinospielfilmen ins overacting umzuschlagen. Auf diese Weise wird im Theater sichergestellt, dass das Publikum den dargestellten Gemütszustand erfassen kann; der Film lässt durch Groß- und Nahaufnahmen prinzipiell natürlicher wirkende Abstufungen im Ausdruck zu. In Le mani sporche fallen dagegen insbesondere die Darsteller von Jessica und Hugo durch eine betonende Präsentationsweise auf, die verdeutlicht, dass ihren Figuren das alltägliche Schauspiel bewusst ist. Dies wird dadurch verstärkt, dass gänzlich auf das postproduktive Sound Design ebenso wie die Nachsynchronisation verzichtet wird, wie sie damals beim Kinofilm noch üblich ist. Die innerdiegetische Klangsphäre ist stattdessen vom scheinbar unbearbeiteten Originalton geprägt, insbesondere den hallenden Stimmen der Schauspieler, die abhängig von ihrer Position im Raum und der Richtung, in die sie sprechen, variieren. Trotz der betonten Affinität zum Theater präsentiert sich Le mani sporche reflexiv als Fernsehadaption von Sartres Stück. Als das innerdiegetische Geschehen einsetzt, ist im Hintergrund ein Plakat der Pariser Uraufführung von 1948 zu sehen; am Anfang der Rückblende erscheint der Regisseur des Fernsehmehrteilers schließlich dann selbst im On. Im Unterschied zu seinen früheren CameoAuftritten streift Elio Petri hier nicht nur kurz durch das Bild, sondern übernimmt eine kleine Nebenrolle – bezeichnenderweise die eines kommunistischen Parteifunktionärs. Da er nach der Besprechung mit Hoederer als letzter die Treppe herunterkommt und einen Augenblick länger im Bild verharrt als die anderen, wird er regelrecht hervorgehoben. Dies ließe sich als persönliche Stellungnahme des Filmemachers interpretieren, schließlich gehört die von ihm verkörperte Figur zu der älteren Generation um Hoederer, die dem jugendlichen Extremismus auf wie vor der Bühne opponiert. Zugleich ist er aber der Produzent der für das Fernsehen gedrehten Version von Les mains sales: Diese unterstreicht ihr historisches Bewusstsein, indem sie sich ins Verhältnis zu dem exakt 30 Jahre älteren Bühnenstück setzt. Le mani sporche bietet sich als zeitgenössische Umsetzung für ein neues Massenmedium dar, die die dort verhandelten Themen auf die aktuellen Verhältnisse in der italienischen Linken bezieht. Hierbei wartet der Fernsehmehrteiler nun eben mit einer intermedialen Verknüpfung theatraler, filmischer und televisueller Erzähl- und Gestaltungsmittel auf. Die spezifische Anlage von Le mani sporche tritt gerade im Vergleich mit Petris letzter Kinoregie hervor, die trotz der thematischen Nähe in ihrer ästhetischen Machart gänzlich anders ausfällt. Unter diesem Gesichtspunkt schließt die Darstellung der unauthentischen Lebensweise in Buone notizie deutlicher an seine politischen Spielfilme aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre an. Auf den mit allerlei Unrat präparierten Außenschauplätzen begegnet der ›Mann‹ einem
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
betonten Übermaß an Gewalt und Sexualität; die demonstrativen, bisweilen metaphorisch aufgeladenen Aktionen der stark überzeichneten Figuren stellen primär die verhandelten Eigenschaften der Menschheit im televisuellen Zeitalter aus, sodass sie offensichtlich jede Wirklichkeitsnähe verweigern. Wie bei den früheren Arbeiten beklagen Kritiker daher eine nahezu surrealistische Konfusität (vgl. bspw. Savioli 1979; Grazzini 1979). Tornabuoni zählt Petri immerhin zu den wenigen Regisseuren Italiens, die angesichts der Kinokrise »modi nuovi d’esprimersi nel nuovo presente« (l. t. 1979) suchen. Im Umgang mit den filmischen Gestaltungsmitteln, konkret der Kamera, der Montage und der mise en scène, aber auch der Musik steht die Fernsehadaption von Les mains sales kaum hinter Buone notizie zurück; der Mehrteiler weist ja schon anfangs seine filmischen Qualitäten aus. Es ist jedoch das Theater, das als Leitmetapher die spezifische Verdeutlichungsstrategie bestimmt. Dieser ausgeprägte Bezug ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass Le mani sporche anders als Petris bisherige Literaturadaptionen sehr stark an der Vorlage orientiert ist. Es lässt sich daher letzten Endes nur darüber spekulieren, wie sich die Umsetzungen weiterer Fernsehprojekte von Petri ausgenommen hätten. Hier kann zumindest angesichts der bildästhetischen Besonderheiten noch von einer Hybridisierung aus Film und Theater gesprochen werden, wobei der Mehrteiler seinen metareferenziellen Charakter maßgeblich aus den theatralen Effekten der Inszenierung gewinnt. Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass auch durch die betonte Strenge im dramaturgischen Aufbau der Bezug zum Theater nahezu überbetont wird. Der für Petris Regiearbeiten charakteristische Selbstverweis gewinnt bei der genuinen Fernsehproduktion Le mani sporche nun neue Bedeutung. Immerhin scheint das Fernsehen Ende der 1970er Jahre den problematisierten Entfremdungszustand auf besonders effektive Weise zu festigen – so jedenfalls in Buone notizie. Im Unterschied zur Television, wie sie dort dargestellt ist, gibt der Mehrteiler über sein Verhältnis zur Wirklichkeit Auskunft. Le mani sporche legt die Scheinwelt der televisuellen Fiktion offen und verweist die Zuschauer hierbei auch auf ihr eigenes Dasein: Zu dessen Scheinhaftigkeit trägt in Petris letztem Kinofilm das Massenmedium Fernsehen ja maßgeblich bei. Der Zufall will es, dass die drei Folgen von Le mani sporche jeweils im Anschluss an die allabendliche Nachrichtensendung von Rete 1 ausgestrahlt werden: Diese bringen im Sinne des Films von 1979 die ›guten Meldungen‹ des Tages.
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5.3 Nicht realisierte Projekte
5.3
Zum Wandel der Leitmetaphorik: nicht realisierte Projekte
Die Metaphern des Theaters und des Schauspiels prägen nicht nur die Konzeption von Elio Petris einziger Fernsehregie. Sie durchziehen in dieser Zeit auch seine Kommentare über die Situation des Menschen in der bürgerlich geprägten und von der Television durchdrungenen Gesellschaft. Bei dem nicht realisierten Filmprojekt Zoo (1976/77) steht dagegen noch die Vorstellung des Gefangenseins im Zentrum. Das im Sommer 1977 mit Paul D. Zimmermann ausgearbeitete Drehbuch erzählt die Geschichte eines US-amerikanischen Immobiliengeschäftsmanns, der sich im Tierpark eine käfigartige Wohnstätte einrichten und sich darin ausstellen lässt. Auf diese Weise wird die Thematik einer vollkommenen Fremdbestimmung durch gesellschaftlich genormte Rollenbilder und Denkmuster entfaltet: Der Mensch verliert seine Eigenschaft als sich bewusstes Wesen und nähert sich wieder dem Tier an (vgl. AMNC ELPE63 [1977]). Angesichts der Gehege im Zoo ruft sich der Protagonist namens Bruce Grimes jene ›Käfige‹ ins Gedächtnis, in denen er im Laufe seines Lebens gelebt hat, so etwa die Schule oder sein Geschäftsbüro. Hier schließt das Skript an La classe operaia an, wo der Fabrikarbeiter mit dem Affen gleichgesetzt wird: In einer Szene liest der Psychiatrieinsasse Militina etwa einen Zeitungsartikel über einen Schimpansen aus dem Stockholmer Zoo, der sich seinerseits für einen Menschen hält. Das Motiv des Affenkäfigs taucht bereits in I giorni contati auf, wo die damit thematisierte Problematik ebenfalls vor allem die ausgebeuteten Klassen betrifft. Hier wird der Klempner Cesare mit einem im römischen Tiergarten eingesperrten Gorilla assoziiert. In diesem Sinn lassen sich auch die verschiedenen Affenbilder interpretieren, die in La proprietà zusammen mit Porträts von Marx und Mandrake Totals Schlafzimmer schmücken. Mit Albertone nimmt dieser Film wiederum die Theatermetapher vorweg. Den Zwiespalt, der sich in seinem Doppelleben als professioneller Dieb und Schausteller manifestiert, bringt Albertone auf der Bühne durch eine gespaltene Figur zum Ausdruck. Die übrigen Filmentwürfe aus Petris letzter Schaffensphase kreisen ebenfalls um Themen, die schon in seinen Regiearbeiten aus den vorangehenden Werkabschnitten verhandelt werden. Bei einem Projekt mit dem Titel Quartetto werden beispielsweise die Aspekte der Triebunterdrückung und Degeneration anhand der erotischen Beziehungen zwischen vier Streichinstrumentalisten reflektiert: In seinen Entwürfen des Films orientiert sich Petri an Leo Tolstois Die Kreutzersonate (1890) und dem darauf basierenden Streichquartett No. 1 (1923) des tschechischen Komponisten Leoš Janáček (vgl. Rossi 2015: 143). Obwohl das Biopic über Mussolini nicht zustande kommt, gibt der Filmemacher das Interesse an einem Film über den Faschismus nicht auf (vgl. Tassone
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
1980: 268). Im Oktober 1979 gibt ihm ein aktuelles Ereignis erneut Anlass, um in diesem thematischen Zusammenhang ein Filmprojekt anzugehen. Damals macht ein ungewöhnlicher Auftragsmord Schlagzeilen: Bei dem Täter, einem scheinbar unbescholtenen Vermessungstechniker, entdeckt die Polizei neben einem großen Waffenarsenal Hinweise auf Sympathien und Verbindungen zum rechten Terror. Der nicht umgesetzte Film mit dem Titel Ninni ist als fiktionale Aufarbeitung des Falls konzipiert (vgl. Petri 2006b). Er schließt insofern an Buone notizie an, als bereits dort eine faschistische Prägung des Kleinbürgers angedeutet wird; so tadelt der ›Mann‹ Fedora für ihr Verhältnis mit Gualtiero unter anderem aufgrund der Tatsache, dass es sich bei seinem Jugendfreund um einen Juden handelt. Ninni erweist sich als recht ungewöhnlich für Petri, da der Drehbuchentwurf wie eine klassische Kriminalerzählung aufgebaut ist: Nachdem der Täter in einem Feuergefecht mit der Polizei ums Leben kommt, können die Ermittler die Zusammenhänge des Mordes an einem einfachen Lokführer rekonstruieren. Mit der Suche nach dessen Motiv legen sie schrittweise auch die Charakterstruktur des Attentäters offen. Von diesen Projekten geht nur Zoo in die nächste Phase der Produktionsvorbereitung. Dabei ist zwischenzeitlich sogar geplant, den Film in Deutschland zu drehen, da die Handlung ursprünglich im Berliner Tiergarten verortet ist (vgl. Baldo 1977b). Jack Nicholson, der sich sehr für Zoo interessiert und die Hauptrolle übernehmen soll, ist allerdings durch anderweitige Engagements verhindert; zudem erweist sich die Produktion als zu kostspielig, sodass der Film letztlich doch nicht umgesetzt wird (vgl. Rossi 2015: 143). 1980 arbeitet Petri unter dem Arbeitstitel Autobus noch ein Treatment aus, das vom alltäglichen Leben eines römischen Linienbusfahrers erzählt: Das Verkehrsmittel bildet hier als Ort sozialer Begegnung metaphorisch die Gesellschaft samt ihren inneren Spannungen ab (vgl. Petri 2006a). Mit politischen Sachverhalten im engeren Sinn beschäftigt er sich erst wieder 1982, als er den Skandal um die Ermordung des ehemaligen französischen Staatssekretärs Jean de Broglie in einem Kriminalfilm zu verarbeiten beabsichtigt (vgl. Cervone 1982). Erst mit Chi illumina la grande notte? ergibt sich für Petri wieder die Möglichkeit, einen Film für das Kino zu drehen. Aufgrund seiner Erkrankung kann er das über zwei Jahre lang ausgearbeitete Projekt letzten Endes aber doch nicht mehr realisieren. Der Stoff greift eine eigentlich recht naheliegende Metapher fehlender Erkenntnis auf, die bereits A ciascuno il suo mit der von Randone gespielten Figur des Augenarztes Roscio einbringt: die Blindheit. Bereits der Titel deutet an, dass es in diesem (übertragenen) Sinn die ›Dunkelheit‹ zu erhellen gilt. Das Drehbuch referiert hierbei auf keine konkrete politische oder soziale Misslage, sondern stellt eben die mangelhafte Erkenntnisfähigkeit an
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5.3 Nicht realisierte Projekte
sich als wesentliche Herausforderung in dieser Phase der menschheitlichen Entwicklung aus. Tatsächlich lässt Petri über den Film mit Blick auf das Blindheitsmotiv verlauten: »Sarà una metafora su quello che è visibile e quello che non lo è, su quello che ci vogliono far vedere, e no; una metafora anche sul cinema dunque« (ebd.). Anschaulich gemacht wird das Problemverhältnis zur Wirklichkeit durch die Geschichte um den römischen Kinobesitzer Marcello. Für die Rolle ist ursprünglich Marcello Mastroianni vorgesehen, doch als dieser infolge der Planungsverzögerungen unabkömmlich ist, wird Ugo Tognazzi engagiert. Als unbescholtener Protagonist gerät der etwa 50-jährige Marcello durch Zufall in einen Konflikt internationaler Spionagedienste, der sich um eine gestohlene Summe von einer Million Dollar dreht: Auf einer Tiber-Brücke stößt er mit einem Sehbehinderten zusammen, der ihm einen Filmstreifen mit Hinweisen auf das Versteck des Geldes zuschiebt. Es stellt sich später heraus, dass der Mann namens Ferlinghetti zu einer Geheimorganisation von Blinden gehört. Mit der spezifischen Leitmetapher werden die von Marcello angenommenen Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt: Es sind die scheinbar Sehenden, die sich als ›blind‹ erweisen. Infolge seiner Verwechslung mit Ferlinghetti muss er zunächst einen Blinden mimen, ehe er kurzzeitig selbst das Augenlicht verliert und dadurch im übertragenen Sinn zum Sehenden wird. Konkret bezieht sich dies in Chi illumina la grande notte? eben darauf, dass Marcello dem Netz aus Agentenintrigen und Staatsaffären, das sich unter der Oberfläche des turbulenten Alltagslebens einer zunehmend verwahrlosenden Großstadt verbirgt, gewahr wird; hier schließt der nicht umgesetzte Film an den Handlungsstrang um den paranoiden Gualtiero aus Buone notizie an. Im Drehbuch findet sich eine explizite Anmerkung, der zufolge die Erzählstruktur an den Filmen Alfred Hitchcocks orientiert ist (vgl. Petri / Ferrini 1983: 108). Tatsächlich erinnert Chi illumina la grande notte? an einschlägige Werke des britisch-amerikanischen Regisseurs: denn auch das Drehbuch wartet mit einem Spionageplot auf, der durch das charakteristische Verwechslungselement initiiert und mit einem Liebesplot verflochten wird; Marcello verliebt sich in ein blindes Mädchen, das von Marie Christine Barault gespielt werden soll. Dem Helden mit seiner unschuldigen Schönen steht ein ebenso stereotyper Bösewicht gegenüber. Bei der nahezu dämonisierten Figur handelt es sich um einen vollkommen ideologiefreien Altspion, der aufgrund seines Opportunismus sogar schon für Hitler gearbeitet hat; diesen Part soll Eddie Constantine übernehmen. Auf der innerdiegetischen Ebene referiert Chi illumina la grande notte? nun nicht speziell auf Hitchcock, sondern auf Cary Grant: In seinem eigenen Lichtspielhaus führt Marcello mehrere Filme mit dem Schauspieler vor, der seinerseits
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
mehrmals mit Hitchcock zusammengearbeitet hat. Bezeichnenderweise sind die Vorstellungen Bestandteil einer Reihe, der er den Titel Cinema e nostalgia gibt. Auf diese Weise wird auf einer Metaebene letztlich auch das Kino in Zusammenhang mit der zentralen Erkenntnisthematik zum Reflexionsgegenstand. Hierin fließen Hommage und Selbstkritik zusammen: Für den Protagonisten sind diese Filme Ausdruck eines Kinos, das dem Mythos Hollywoods gemäß zum Träumen einlädt und die Wirklichkeit überformt: »Tutto si scioglieva … entravano tutti nello schermo … s’amavano, s’odiavano, si sparavano, piangevano, ridevano … tutto era sogno … tutto era bene o male … tutti erano bellissimi, anche i cattivi … uomini e donne bellissimi … un’altra razza … t’entravano dentro … tu diventavi bellissimo per un’ora e mezzo … ma adesso?« (Ebd.: 159) Nun wird Marcello eben durch einen solchen Film tatsächlich blind. Während der unbesuchten Vorführung eines Grant-Streifens dringen feindliche Spione in das Kino ein und halten sein Gesicht vor den Filmprojektor, sodass das gebündelte Licht seine Augen verbrennt. Wie Marcellos Lichtspielhaus, das Cinema Reale, andeutet, zielt Chi illumina la grande notte? auf das Wesen des Kinos. Als Unterhaltungsmedium verweist dieses zwar selbstkritisch auf seinen Beitrag zum ›Erblinden‹ des Menschen, erkennt nostalgisch aber zugleich die Kompensationsfunktion, die es besessen hat, an. Der nicht realisierte Film reflektiert 1982 demnach die Doppelnatur des Kinos, das seit jeher zwischen Realitätsflucht und Erkenntnisleistung changiert – mithin zu einem Zeitpunkt, als es bereits überflüssig und im Verschwinden begriffen zu sein scheint. Sein Bedeutungsverlust als geschönte Gegenwelt wiegt gerade angesichts einer Wirklichkeit, die ihrerseits nichts anderes als ›schlechtes Kino‹ bietet, umso schwerer: »intrighi di quattro soldi, sangue, massacri, budella di fuori in presa diretta … Noi eravamo più buoni, i nostri morti non solo erano finti, ma morivano con classe, con fantasia, e si capiva perché morivano … è colpa vostra se nessuno ama più il cinema … se Cary Grant ingiallisce … brucia … va a pezzi« (ebd.: 160), wirft Marcello seinen Peinigern in der Schlüsselszene vor. Dementsprechend wartet Chi illumina la grande notte? programmatisch mit einem Happy End auf, bei dem Marcello sein Leben retten, die schöne Blinde gewinnen und im letzten Moment dem Antagonisten die gestohlene Summe entreißen kann.
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5.4 Exkurs ins Theater
5.4
Exkurs ins Theater: L’orologio americano (1981/82)
Angesichts der stark am Theater ausgerichteten Konzeption von Le mani sporche erscheint es fast als logische Konsequenz, dass Elio Petri wenig später tatsächlich ein Stück für die Bühne inszeniert: 1980 bietet ihm das Teatro Stabile von Genua die Möglichkeit, bei der europäischen Erstaufführung von Arthur Millers The American Clock Regie zu führen. Schon vorher werden dem Filmemacher Produktionen für das Theater angeboten: Nach dem Kinostart von Todo modo wird etwa vermeldet, dass er in der kommenden Spielzeit am Turiner Teatro Stabile die Inszenierung von Plautus’ Tragikomödie Amphitruo übernehmen soll (vgl. o. A. 1976b). 1979 plant er mit dem Teatro Metastasio in Prato die Aufführung von Das Kapital, Curzio Malapartes biografischem Drama über Karl Marx (vgl. Carovani 1979). Bei Amphitruo und L’orologio americano zeichnen sich zumindest auf personeller Ebene enge Verflechtungen zwischen Film und Theater ab. Schon für Amphitruo sollen neben Petri die prominenten Schauspieler Flavio Bucci, Aldo Puglisi, Quinto Parmeggiani und Nestor Garay gewonnen werden. Zudem beabsichtigt der Regisseur, die musikalische Gestaltung Ennio Morricone anzuvertrauen (vgl. o. A. 1976b). Die allzu hohen Kosten für die Starbesetzung nimmt das wirtschaftlich desolate Teatro Stabile dann zum Anlass, um dem Regisseur im März 1977 kurz vor Probenbeginn das Engagement doch abzusagen (vgl. Baldo 1977b). Für L’orologio americano können Petri und die Verantwortlichen des Theaters in Genua dann tatsächlich eine hochkarätige Besetzung zusammenstellen. Die Szenografie von Petris einziger Bühneninszenierung übernimmt erneut Dante Ferretti, der auch schon bei Amphitruo engagiert werden sollte. Die Musik gestaltet der Filmkomponist Piero Piccioni. Außerdem sind mit Lino Capolicchio, Ferruccio De Ceresa und Marzia Ubaldi bekannte Schauspieler aus dem Kino- und Fernsehbereich beteiligt. Allein aufgrund der medialen Unterschiede können diese Arbeiten nicht ohne Weiteres als Fortsetzungen von Petris filmischem Werk behandelt werden. Eine theaterspezifische Betrachtung erweist sich aufgrund der Quellenlage allerdings als schwierig: Da es sich bei den Aufführungen ja um Live-Ereignisse, mithin ephemere Formen handelt, sehen sich spätere Betrachtungen mit dem grundsätzlichen Problem der Zugänglichkeit konfrontiert; von Petris Inszenierung des Miller’schen Stücks sind keine Aufzeichnungen bekannt. Dies scheint die wesentliche Ursache dafür zu sein, dass L’orologio americano bei Darstellungen von Petris Werk bislang kaum berücksichtigt worden ist.97 Neben Zeitungsberichten stützt 97
Eine Ausnahme bildet Curti, der aber vor allem auf den Premierenabend im Januar 1981 eingeht; vgl. Curti 2021: 288 f.
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
sich die folgende Annäherung daher auf die Ausgabe von The American Clock, die das Teatro Stabile anlässlich der Aufführung in Buchform herausgibt: Diese enthält die von Petri inszenierte Version des Dramentexts sowie verschiedene Szenenfotos (vgl. Miller 1981a). L’orologio americano feiert am 23. Januar 1981, wenige Wochen nach der frühzeitigen Absetzung des Stücks am New Yorker Broadway, im Genueser Teatro Duse Premiere. Weitere Vorstellungen finden zwischen dem 27. März und 18. April statt. In der Frühlingssaison des darauffolgenden Jahres geht der Regisseur mit dem Ensemble dann auf Tournee, um das Stück in mehreren italienischen Städten auf die Bühne zu bringen. Die Inszenierung zieht jeweils auch das Interesse der überregionalen Presse auf sich, unter anderem aufgrund der Tatsache, dass mit Elio Petri ein bekannter und hochdekorierter Filmemacher für die Regie verantwortlich zeichnet. Zumindest in seinen Aussagen über die Bearbeitung des Stücks stehen politische Darstellungsintentionen deutlich im Vordergrund. Er zielt darauf ab, mit dem Drama über die Große Depression in den USA die Lage im eigenen Land zu kommentieren. So sieht der Regisseur in The American Clock die Möglichkeit eines Vergleichs mit dem italienischen Faschismus: Er macht Ähnlichkeiten mit Franklin D. Roosevelts New Deal aus, da der Staat hier wie dort eine massive Lenkungs- und Interventionspolitik betrieben habe. Gleichzeitig soll durch den Blick in die Vergangenheit ein Bewusstsein für die Gegenwart Italiens geschaffen werden, da das Land Anfang der 1980er Jahre unter einer schweren Rezession leidet (vgl. Palieri 1980; Fano 1982). In den Vorüberlegungen zu Amphitruo sind politische Aspekte auffälligerweise kaum von Relevanz. Ohnehin mutet es mit Blick auf Petris Werkbiografie recht ungewöhnlich an, dass er überhaupt einen antiken Stoff für eine Umsetzung in Erwägung zieht. Bis dahin spielt die populare Kulturtradition Italiens für ihn ja nur poetologisch eine gewichtige Rolle, wobei er sogar explizit auf Plautus verweist (vgl. Kap. 4.1.1). Dies mag einleuchten, weil es sich bei diesem um einen der populärsten Komödiendichter Roms handelt, dessen Stücke sich den Mitteln der derb komischen Überzeichnung bedienen. Diese unterhalten nicht nur, sondern zeigen auch moralische Probleme der römischen Ständegesellschaft auf (vgl. Jahn 2009: 90). In Petris Bemerkungen deutet sich zwar ein autoritätskritischer Blick auf das Verhalten Jupiters an, der Amphitruos Gestalt annimmt, um mit dessen Frau Alcumene zu schlafen und Herkules zu zeugen: »Giove si comporta da autentico padrone che cambia i destini degli uomini e calpesta i loro diritti per suo divertimento« (Baldo 1977a). Die angesetzte Aufführung scheint dagegen eher auf eine historische Annäherung an das kulturelle Erbe Italiens, für das die Zuschauer sensibilisiert werden sollen, zu zielen: Der
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5.4 Exkurs ins Theater
Regisseur äußert die Absicht, das Publikum durch ein vollwertiges Spektakel zu unterhalten und zugleich dem Umstand, dass die Komödie über 2000 Jahre alt ist, Rechnung zu tragen; dadurch solle bei den Zuschauern Beklommenheit entstehen (vgl. ebd.). In der Berichterstattung über die Aufführungen von L’orologio americano fallen zwei Aspekte besonders auf: Die Rezensenten sehen einerseits intermediale Bezugnahmen zum Film, andererseits aber auch Anleihen beim Epischen Theater. Die Assoziationen mit den Konzeptionen von Bertolt Brecht und Erwin Piscator beziehen sich vor allem auf die atektonische Form des Stücks. In den Besprechungen wird dies oft nur sekundär auf Petris Regie zurückgeführt, die sich in dieser Hinsicht streng am Miller’schen Text orientiert. In der Aneinanderreihung der in sich geschlossenen Einzelepisoden besticht seine Inszenierung aus Sicht der Kritiker allerdings durch eine besondere Agilität, die manchem wiederum ›filmisch‹ anmutet (vgl. Langella 1981; Bonino 1981). Einer sieht dann das Wuchern der Sequenzen durch die Reduktion auf ein einziges Bühnenbild eingedämmt, sodass ihm die Darbietung wie eine lange Plansequenz vorkomme (vgl. ebd.). Es werden sogar konkrete Referenzen zu amerikanischen Kinofilmen ausgemacht, so etwa zu John Fords Grapes of Wrath aus dem Jahr 1940 (vgl. Savioli 1981). In Hinblick auf die fast überbetonte Nähe zum Film drängt sich allerdings die Vermutung auf, dass dieser Eindruck nur entsteht, weil es sich bei Petri eben um einen Filmregisseur handelt; die Zuschreibungen machen die behauptete Intermedialität nicht zwingend einsichtig. Petri nimmt seinerseits zwar bei Millers Stück eine kinematografische Erzählweise wahr, will aber seine eigene Umsetzung ausdrücklich so theatralisch wie möglich gestalten (vgl. Palieri 1980). Nicht mit dem Film in Zusammenhang gebracht wird dagegen die charakteristische Rückblendenstruktur, mit der L’orologio americano bzw. The American Clock wie zuvor schon Le mani sporche bzw. Les mains sales aufwarten; bei Sartre wird die Analepse üblicherweise als filmisch interpretiert.98 Auch bei diesem Stück simuliert die Retrospektion den Vorgang der Erinnerung: Im Brooklyn der späten 1970er Jahre ruft sich die zentrale Figur des Stücks, der Sportjournalist Lee Baum, die Zeit zwischen dem Crash der Wall Street 1929 und dem New Deal 1933 ins Gedächtnis, die er als Jugendlicher erlebt hatte. Seine Binnenerzählung vergegenwärtigt diese Jahre der Großen Depression durch insgesamt 25 aneinander montierte Episoden, die weder zeit- noch kausallogisch auseinander hervorgehen. Über die Geschichte der Fabrikantenfamilie Baum wird hierbei ein loser Zusammenhang hergestellt: Diese verliert ihren gesamten Reichtum und muss
98
Zur Filmizität der Rückblende bei Les mains sales vgl. Nuy 2008: 60.
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von Manhattan in das ärmliche Brooklyn ziehen. Die persönlich-private Handlungsebene wird wiederholt von Sequenzen unterbrochen, die Einblicke in die miserable Lage anderer Einzelpersonen und sozialen Gruppen bieten. In Petris Umsetzung werden die insgesamt 53 Charaktere des Stücks von 18 Schauspielern dargestellt, wobei bis auf Capolicchio, der die Hauptfigur verkörpert, jeder mehrere Rollen übernimmt. Prägend für das Drama sind die beiden Erzählerfiguren, die durch die Geschichte führen: Als solche tritt neben Lee der Geschäftsmann Arthur Robertson auf, der sich sowohl ironisch-kritisch zu den Ereignissen rund um die Wirtschaftskrise äußert als auch dem Publikum deren komplexe Mechanismen erklärt. Elio Pagliarani beklagt in seiner Besprechung sogar einen übermäßigen Gebrauch solcher Monologe, bei denen »l’attore fasciato di luce […] si rivolge al pubblico, come si usava in certi spettacoli impegnati parecchi anni fa« (Pagliarani 1980). Für Petris Bühneninszenierung ist die Wahl der Textfassung wesentlich. Die erfolglose Broadway-Aufführung basiert auf der vierten, bei der der private Leidensweg der Baums im Vordergrund steht. Das Teatro Stabile erwirbt für die europäische Erstaufführung auch die früheren Versionen von The American Clock, weil sich die Verantwortlichen stattdessen eher für das kollektive Drama der Großen Depression interessieren; dabei soll der Verweis auf die gegenwärtige Rezessionslage deutlich werden. (Vgl. Occhiuzzi 1980; Chiesa 1981) Übersetzer Gerardo Guerrieri arbeitet mit Petri schließlich eine fünfte, vom Autor autorisierte Fassung aus: Hierfür erweitern sie Millers dritte Version um mehrere Einzelgeschichten aus Studs Terkels Sachbuch Hard Times, das schon Miller bei der Ausarbeitung der Vorlage als Inspirationsquelle gedient hatte (vgl. Guerrieri 1981: 72). Die von Petri inszenierte Fassung bietet durch solche Erweiterungen eine freskohafte Darstellung, die die gesamte Tragweite der Wirtschaftskrise in den USA vor Augen treten lässt: Von der New Yorker Oberschicht bis zu den Farmern des Mittleren Westens sind alle von der Misere betroffen. Unabhängig vom geografischen Ort und sozialen Rang hat jeder zu leiden, da aufgrund der ungebremsten Spekulation einiger weniger der US-amerikanische Kapitalismus als Leitmodell zusammenbricht; das System scheitert durch die Begünstigung individueller Bereicherung letztlich an sich selbst. Zugleich wird einsichtig, dass die Krise nicht zu einem allgemeinen Umdenken und schließlich einer grundlegenden Reformation der ökonomischen Ordnung führt. Dies liegt auch am US-Kommunismus, der keine ernstzunehmende Alternative entwickeln kann: Manövriert sich die Opposition politikstrategisch selbst ins Abseits, so fällt ihr Versprechen von Gleichheit und Kollektivismus beim kleinen Mann auf wenig Resonanz; dieser betrachtet Erwerbsarbeit weiterhin als maßgebliche Voraussetzung der Existenzsicherung. Die junge Kommunistin Edie, von der Lee sich angezogen fühlt, fällt
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5.4 Exkurs ins Theater
dabei wie Hugo aus Le mani sporche durch einen weltfremden, nahezu unmenschlich anmutenden Dogmatismus auf (vgl. Miller 1981b: 126–129). Die Bühnenausstattung markiert klar die zeitliche und räumliche Differenz zur Situation Italiens in den frühen 1980er Jahren: Die Binnenhandlung, die Lee Baums Erinnerung an die frühen 1930er Jahre umfasst, wird dezidiert als USamerikanische Vergangenheit präsentiert. Die historischen Kostüme und das Mobiliar evozieren eine der dargestellten Ära entsprechende Atmosphäre. Daran schließt die Musik von Piccioni an, die Berichten zufolge deutlich am populären Jazz und Swing der Zeit orientiert ist (vgl. Langella 1981). Kehrt L’orologio americano die Ursachen der kapitalistischen Krise, ihre Folgen und das Verhalten der Menschen in der landesweiten Notlage hervor, so mag wie bei Le mani sporche allein die offenkundige Historisierung eine verfremdende Perspektive auf die aktuelle Situation konstituieren. Im Unterschied zum benannten Fernsehmehrteiler fällt hier das Bühnenbild aber äußerst reduziert aus. Der Regisseur scheint sich tatsächlich an Luchino Viscontis Miller-Inszenierungen aus den 1950er Jahren zu orientieren, wie er es vorab behauptet: Das Hintergrundbild zeigt eine stilisierte Ansicht der Skyline Manhattans, bei der das Chrysler Building repräsentativ im Zentrum platziert ist. Der davor befindliche Bühnenraum wird kaum ausgefüllt, da neben den historischen Möbeln nur wenige übergroße Gegenstände wie ein Kühlschrank, ein Grammophon, eine Jukebox oder Firmenlogos vorhanden sind: Diese den Schauspielern in ihrer physischen Präsenz ebenbürtigen Objekte unterstreichen die überhöhten Werte von Wohlstand und Konsum, sodass sie laut Petri »quasi al rango di voci recitanti« (Bonino 1980) erhoben werden (Abb. 49; vgl. Miller 1981a: o. S.). Der Regisseur erklärt die Objektvergrößerung als Referenz zum figurativen Realismus der US-amerikanischen Kunst, konkret die Pop Art, die ihm somit eineinhalb Jahrzehnte nach La decima vittima wieder zum ästhetischen Vorbild wird. Er leitet diesen Bezug aus Millers Vorlage ab, wobei er den Autor aufgrund seiner gegenständlichen Darstellungsweise selbst in die Nähe zur Pop-Literatur rückt (vgl. Bonino 1980; Palieri 1980). Deutlicher zeigen mag sich die Anlehnung an die Pop Art in der Gestaltung des Bühnenvorhangs, einer vielfach vergrößerten Reproduktion von Jasper Johns’ Flag (Abb. 50; vgl. ebd.). Das überdimensionale Sternenbanner verweist dabei auf den amerikanischen Mythos, der sich im Stück wiederum als substanzlos herausstellt. Die episodenhafte Erzählweise, die ans Publikum gerichteten Erläuterungen und die Bühnengestaltung verleihen der Darstellung der Großen Depression einen lehrhaften Charakter: Das Stück zeigt die kausalen Zusammenhänge einer historischen Krise auf, die wiederum Rückschlüsse auf die Jetztzeit zulässt. Besonders für das Publikum in Italien mag sich dieses Konzept eignen, schließ-
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Abb. 49 und 50: L’orologio americano
lich ist sein Konsum- und Wirtschaftssystem vom amerikanischen Modell geprägt; auch hier gibt die ›amerikanische Uhr‹ den Takt vor. L’orologio americano deutet 1981/82 daher auch die Zwangsläufigkeit einer solchen Entwicklung an, bei der das Streben nach Profit das System schlussendlich selbst erodieren lässt: Als nun Italiens ökonomische Lage nach Jahrzehnten der Konjunktur definitiv einbricht, scheint dem Land ein ähnliches Schicksal zu widerfahren wie den USA rund 50 Jahre zuvor.
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5.5 Zusammenfassung
Aus den verfügbaren Daten lässt sich ableiten, dass Petris einzige Bühnenregie weniger mit ›filmischen‹ Mitteln arbeitet, sondern eher auf Techniken zurückgreift, die das Theater und die bildende Kunst ausgeprägt haben. Bei La proprietà und Le mani sporche mögen gerade die intermedialen Bezugnahmen zum Theater den Erzähl- und Gestaltungskonventionen des klassischen Kinos und des fiktionalen Fernsehens entgegenwirken; im Bereich des Theaters sind Verfremdungs- und Verdeutlichungstechniken, wie sie bei der Inszenierung von L’orologio americano zum Einsatz kommen, dagegen bereits etabliert, ja gelten sogar als nahezu überholt. Daher nehmen die Kritiker Petris Regieleistung zwar insgesamt positiv, das dahinterstehende Konzept aber als wenig innovativ wahr. So merkt etwa der Corriere della sera an: »Mi pare che tutto ciò sia molto intellettualmente onesto, voglio dire, molto sincero, ma anche molto volontaristico e dunque fondamentalmente privo di lievito fantastico, molto didascalico e insieme sentimentale. Un po’ Piscator, un po’ Brecht, un po’ Thornton Wilder.« (De Monticelli 1981) Bemerkenswert ist immerhin der Umstand, dass auch in L’orologio americano die kritische Darstellung einer kapitalistischen Gesellschaft durchaus modern gestaltet ist: Aus der Erinnerung der Hauptfigur entwickelt sich eine episodenhaft erzählte Geschichte, die von innerdiegetischen Figuren auf einer extradiegetischen Ebene kommentiert wird, um die Zusammenhänge explizit zu machen. Zugleich hebt der reduktive Bühnenstil in den bloß angedeuteten historischen Settings das Figurengeschehen ebenso wie besonders aussagekräftige Objekte hervor. Unter solchen Gesichtspunkten mag sich L’orologio americano nun mit Pe tris Spielfilm-Œuvre in Zusammenhang bringen lassen, allerdings eben unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in der Umsetzung von Millers Stück ausschließlich die spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten der Bühneninszenierung genutzt werden.
5.5
Zusammenfassung: Revitalisierungsversuche eines politischen (Kino-)Films
Von diesen Tätigkeiten für die Bühne abgesehen ist das Theater auch für Elio Petris filmpraktisches und filmpoetologisches Spätwerk von zentraler Bedeutung: Dort fungiert es jeweils als Metapher einer unauthentischen Lebensweise, die das Ergebnis einer totalen Fremdbestimmung durch gesellschaftlich vorgegebene Denk-, Fühl- und Handlungsmuster ist. Im Kontext einer medialisierten Gesellschaft nimmt der Regisseur an, dass insbesondre das Fernsehen wesentlich an der Konstitution einer solchen bloß scheinhaften Daseinsweise mitwirkt.
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5. Endphase im Zeichen des Medienwechsels (1977–1982)
Die mit der Television verbundene medienkulturelle Verschiebung macht sich wiederum in seinem eigenen Werk auf markante Weise bemerkbar: Das Fernsehen wird also nicht nur zu einem zentralen Gegenstand seiner anthropologischen, gesellschaftspolitischen und ästhetischen Überlegungen, sondern eröffnet ihm als Regisseur auch neue Betätigungsmöglichkeiten. Le mani sporche, seine einzige Fernseharbeit, bietet sich hierbei als kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Leitmedium dar, die wie Petris letzter Kinofilm die erkenntnisverhindernde Kraft des Fernsehens im Blick hat. Unter ästhetischen Gesichtspunkten markiert Buone notizie dann keinen Bruch zu den fiktionalen Arbeiten, die in der vorangehenden Schaffensphase Petris Ausprägung des cinema politico begründen. Zwar erreichen den Regisseur ähnlich scharfe Kritiken wie bei seinen früheren Filmen, wobei mancher den fehlenden Bezug zum politischen Zeitgeschehen beklagt. Andere heben allein die Tatsache, dass er überhaupt eine kritische Annäherung an die Gegenwartsgesellschaft versucht, lobend hervor. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ende der 1970er Jahre dem politischen Kinospielfilm und anderen politischen Filmkonzepten ein allgemeiner Bedeutungsverlust widerfährt; ursächlich ist hier ein komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren. Zum einen wird durch die Entpolitisierung der Zivilgesellschaft und der Filmkultur politischen Filmkonzepten inner- wie außerhalb Italiens der Nährboden entzogen. Auch die Diskussion um den politischen Film kommt dadurch ins Stocken: Selbst der Großteil der Filmschaffenden, Kritiker und Theoretiker bringt den entsprechenden Regiearbeiten und Filmpraktiken nur noch wenig Interesse entgegen, sodass auch der politische Film nun eher zum Archivobjekt der Geschichtsschreibung wird. Zum anderen sieht sich Petris Idee eines politischen Films, der über etablierte Infrastrukturen Breitenwirksamkeit generiert, angesichts der tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise des Kinos seiner Prämissen beraubt. Eine Abgrenzung zum militanten Film oder der Politik der Form, wie sie der Filmemacher in der vorangehenden Schaffensphase vornimmt, erscheint an sich irrelevant, weil das Kino ohnehin zu einem Nischenmedium zu werden droht. Es ist daher nur konsequent, wenn Petri seine Vorstellung des Politisch-Popularen nicht mehr nur mit einer bestimmten Form des Kinospielfilms assoziiert, sondern mit dem Kino an sich. Vor allem das Fernsehen wird ihm zur Kontrastfolie, um die Wirkungsmöglichkeiten des älteren Mediums einsichtig zu machen. Wichtiger als ein großer Rezipientenkreis sind dem Regisseur jetzt die Freiräume, die das Kino gerade durch die Dominanz des Fernsehens gewinnt: Es könne politisches Potenzial generieren, weil es von der Unterhaltungsfunktion gelöst werde. Damit ändert sich im Grunde nur der Bezugsrahmen einer ästhetischen Konzeption, die in ihren wesentlichen Bestandteilen unverändert bleibt.
308
5.5 Zusammenfassung
Jene filmische Verdeutlichungsstrategie mit ihren komischen und selbstreferenziellen Effekten, wie sie sich auch noch in Buone notizie beobachten lässt, wird von Petri nach wie vor mit der volkskulturellen Tradition des Grotesken assoziiert: Als den subalternen Massen eignender Darstellungsmodus widersetze es sich jener Wirklichkeitsillusion, die das von den herrschenden Klassen bestimmte Fernsehen seinerseits forciert. Auf ebendiese Wirkungsweise des Konkurrenzmediums zielt Petri dann auch ab, als er die metafiktionale Erzähl- und Gestaltungsweise von Le mani sporche ausdrücklich als antitelevisuell deklariert. Durch seine Vormachtstellung mag das Fernsehen zwar am Bedeutungsverlust des politischen Kinofilms mitarbeiten. Petris Kritik am neuen Leitmedium erweist sich in dieser Hinsicht aber nur bedingt als gerechtfertigt. Schließlich zeigen gerade Le mani sporche und seine weiteren Projektplanungen, dass sich Italiens staatliches Fernsehen als Plattform des politischen Films verdient macht – indem es unter anderem ältere Produktionen wie Indagine ins Programm aufnimmt und Regisseuren von Petris Format ermöglicht, neue, durchaus gewagte Arbeiten für das Fernsehen herzustellen. Hierbei lässt die RAI zum einen die Auseinandersetzung mit kontroversen Stoffen und politischen Themen zu. Zum anderen bietet sie Spielraum für ungewöhnliche Inszenierungsweisen, die wie in Le mani sporche einen televisuell erzeugten Wirklichkeitseindruck unterminieren mögen. Dies kann man wie der Filmemacher selbst als Absorption durch das Herrschaftssystem interpretieren, es ist jedoch unbestreitbar, dass sich der Rundfunk politischen Filmpraktiken als Verbreitungsmedium anbietet. Durch die veränderten Kontextbedingungen gerät leicht der Umstand aus dem Blick, dass in Italien, wo sich bis dahin eine reiche Tradition des politischen Films ausgebildet hat, weiterhin entsprechende Arbeiten exklusiv für das Lichtspielhaus produziert werden: Produktionen, die wie Buone notizie mithilfe unkonventioneller Erzähl- und Gestaltungsweisen eine kritische Perspektive auf die Situation des Menschen in einer westlichen, massenmedial durchdrungenen und zunehmend entpolitisierten Gegenwartsgesellschaft bieten. 1982 verschwindet mit Elio Petri einer der maßgebenden Vertreter eines solchen Kinos, dessen eigenwilliges Modell bisweilen äußerst kontrovers diskutiert wird. Die Debatte um den politischen Film scheint in Italien auch deswegen vorläufig zum Erliegen zu kommen, weil eben einer ihrer gewichtigsten Akteure verstummt: Bis zu seinem Tod ist der Filmemacher intensiv darum bemüht, einen Austausch zwischen Filmschaffenden und -kritikern anzuregen, um sich für das Überleben des Kinos als Medium gesellschaftlicher Reflexion einzusetzen. Dabei zeichnet sich in seinen filmbezogenen Kommentaren noch eine Position ab, die Petri angesichts der politischen und medienkulturellen Transformationen Italiens mit selbstkritischem Gestus explizit als unzeitgemäß ausweist: die eines dem Kommunismus nahestehenden Kinoregisseurs. 309
6.
Fazit und Schlussbetrachtung
Elio Petris Tod im November 1982 ruft großes Bedauern hervor. In Italien sieht manch einer gar das Ende einer Ära eingeläutet: Da kurz zuvor schon Valerio Zurlini und Franco Solinas verstorben sind, betrachtet Lino Micciché das Ableben des Regisseurs als »simbolo terribile di un cinema che rischia di morire con i suoi cineasti« (vgl. l. m. 1982). Für Giovanni Grazzini (1982) vom Corriere della sera verschwindet mit Petri »un punto di riferimento costante nel panorama del cinema ideologico e delle polemiche fra politica e spettacolo«. Auch außerhalb Italiens zollt man dem Regisseur und seinem Werk erneut Aufmerksamkeit und Anerkennung. Bezeichnenderweise wird in den Nachrufen vor allem der historische Wert seines Schaffens betont; in Deutschland beispielsweise bemerkt lediglich die Ost-Berliner Wochenzeitung Sonntag, dass mit dem italienischen Filmemacher »die Unentbehrlichkeit eines solchen Zugriffs zur Wirklichkeit plötzlich und auf bestürzende Weise einmal mehr ins Gedächtnis gerufen« (Bulgakowa / Hochmuth 1982) wird. Hier sind es also Beobachter aus einem linkstotalitären Staat, die der Konzeption von Petris bürgertums- und kapitalismuskritischen Filmen auch Anfang der 1980er Jahre noch eine gewisse Gegenwartsrelevanz zuschreiben. Der Tod des Filmemachers fällt mit dem Bedeutungsverlust von jenen Modellen zusammen, die bis dahin für den politischen Film in seiner ordnungskritischen Ausrichtung insgesamt maßgebend sind. Sein eigenes filmpraktisches und -theoretisches Schaffen antizipiert wiederum spätere Konzeptionen, die das Verhältnis zwischen politischer Aufklärung und filmischer Ästhetik neu aushandeln: Petri präsentiert seine selbstreflexiven, von Genremustern geprägten Regiearbeiten als Variation eines Politkinos, das die Unterhaltungsbedürfnisse der Zuschauer anerkennt. Anfang der 1980er Jahre scheinen auch unter ambitionierteren Filmemachern die Vorbehalte gegen einen solchen Ansatz abgebaut zu werden, doch ist seinerzeit dafür das theoretische Bewusstsein noch nicht ausgereift.99 Daher wird dem Œuvre des Regisseurs trotz anerkennender Worte vorerst noch eine eher ambivalente Haltung entgegengebracht: »Petri stand nicht an, derartige Geschichten mit Sex & Crime zu würzen und sie auch stilistisch, bei aller Vorliebe für eine gebrochene Erzählweise, einem breiten Publikumsgeschmack offenzuhalten« (HS 1982), heißt es etwa in der Frankfurter Rundschau. 99
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Als repräsentatives Beispiel für die gelungene Verquickung von Genrenarration und Selbstreflexivität führen Gradinari und Pause das Spätwerk Rainer Werner Fassbinders an; vgl. Gradinari / Pause 2018: 12.
6. Fazit und Schlussbetrachtung
Angesichts solcher Befunde ist es kaum verwunderlich, dass nicht die Art und Weise der filmischen Gestaltung, sondern die im Film dargestellte Politik schon früh die Erinnerung an den Filmemacher bestimmt. Ist sich etwa der West-Berliner Tagesspiegel sicher, dass »einige seiner Inszenierungen über den Tag hinaus Bestand haben [werden]« (F. R. 1982), so bezieht sich die Zeitung hierbei eben auf Petris international erfolgreichste Arbeiten, Indagine und La classe operaia. Ausgehend von der spezifischen Situation Italiens lässt sich mit der Aufarbeitung seines vielfältigen Schaffens allerdings ein differenzierterer Blick auf die Geschichte des politischen Films in jener Konjunkturphase etablieren: Erstens sind Petris Regiearbeiten als politisch wahrgenommene Filme damals recht populär und vieldiskutiert; sein heute international eher wenig berücksichtigtes Werk markiert filmhistorisch demnach ein unbedingt relevantes Modell. Zweitens reflektieren die Produktionen ihrerseits filmische und medienkulturelle Entwicklungen in jenem Zeitraum zwischen der frühen Nachkriegszeit, in der sich durch die neuen Realismen das ordnungskritische Paradigma Vorrang verschafft, und den frühen 1980er Jahren, als die darauffolgenden Leitmodelle vermehrt an Relevanz verlieren. Charakteristischerweise lassen sich an seinem Werk Berührungspunkte mit nahezu allen Konzeptionen des politischen Films, die in dieser Zeit wesentlich sind, ausmachen. Drittens arbeitet der Regisseur die von ihm selbst entwickelten Alternativen auch theoretisch aus, um diese innerhalb der kontroversen Debatten über politische Filmpraktiken zu verteidigen. Als prominenter Kritikgegenstand und fundiertes Gegenkonzept bietet sein Werk daher einen repräsentativen Einblick in die sich damals in Italien ausbildenden diskursiven Zusammenhänge. Die Historiografie neigt im Anschluss an die zeitgenössische Kritik schon früh dazu, durch eine Abwertung der spezifischen Darstellungsmodi die inhaltliche Ebene von Petris Arbeiten zu betonen; somit steht tendenziell eine Politik der Form einer Politik des Inhalts gegenüber. Letztere wird in Italien lange Zeit insbesondere mit den Filmen jener Regisseure assoziiert, die biografisch mit dem Neorealismus in Zusammenhang stehen und später zu tragenden Säulen des cinema politico werden: neben Petri etwa Rosi, Damiani, Maselli, Bolognini, Loy, Montaldo, Lizzani, Lattuada oder Pontecorvo. Beim italienischen Kino scheinen solche problematischen Zuschreibungen dadurch begünstigt zu werden, dass sich in den 1960er Jahren im Unterschied zu anderen Nationalkinos nicht die Idee einer ›Welle‹ etablieren kann. Erneuerungsbewegungen wie die Nouvelle vague, der Neue Deutsche Film, das brasilianischen Cinema nôvo und andere gründen ihre Kunstansprüche ja im Wesentlichen auf eine unkonventionelle Form. Bei ihren politischen Spielarten und Fortentwicklungen äußern sich subversive Ambitionen dementsprechend oft über bisweilen radikale filmkünstlerische Ges-
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
ten: Die politische Opposition geht demnach mit einer demonstrativen Absatzbewegungen vom konventionellen Erzählkino einher. Gerade bei Petris Regiearbeiten wird an den spezifischen Modalitäten des filmischen Diskurses ersichtlich, wie reduktiv die Vorstellung eines nur inhaltlich-thematisch ›politischen‹ Kinofilms ist. Allzu offensichtliche Aufwertungsversuche, die sich auf das Groteske oder eine Vermittlungsposition zwischen artistischem Autoren- und populärem Genrekino stützen, greifen zu kurz, ja reproduzieren vereinfachende, oft normative Differenzierungen. Eine verfahrensgeschichtliche Betrachtung kann dagegen den modernen Charakter dieser filmischen Konfigurationen von Politik erfassen, die im Unterschied zur Politik der Form (meist) auf den ostentativen Regelverstoß verzichten. Grundsätzlich lässt sich auch Petris filmpraktisches Werk jenem reflexiven Realismus zurechnen, der sich mit der modernen Filmästhetik ausbildet. Solche Filme bieten einen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Realität und versuchen hierbei, unreflektierte Denk- und Wahrnehmungsmuster zu unterminieren. Kommt es in diesem Zuge konsequenterweise auch zum Bruch mit filmischen Gestaltungskonventionen, so wird dadurch charakteristischerweise ebenfalls das Darstellungsmedium als solches exponiert. Der Film macht auf diese Weise darauf aufmerksam, dass er nicht Wirklichkeit konstituiert, sondern durch eine künstlich modellierte Welt eine alternative Sichtweise auf die gemeinsame Lebenswelt außerhalb des Kinos bietet. Elio Petris Regiearbeiten inszenieren nun oftmals Vorgänge des Schauens und Sehens, die beim Einzelnen nicht zu einem Erkennen der Wirklichkeit und damit der eigenen Situation führen: Formen apathischen, quasihypnotisierten Starrens (La decima vittima, La classe operaia, Buone notizie) bis hin zu naiv weltfremdem oder angstvollem, autoritätsbedingtem ›Erblinden‹ (A ciascuno il suo bzw. Indagine). Zudem werden die ungleichen Machtverhältnisse durch ungleiche Sichtbarkeitsverhältnisse, in denen sich der Einzelne den kontrollierenden Blicken des Anderen ausgesetzt sieht, gefestigt (Indagine, La classe operaia); allerdings läuft auch der Mächtige mit seinen Machenschaften Gefahr, ›gesehen‹ zu werden (Todo modo). In diesem Zusammenhang weisen Petris Regiearbeiten auf die Rolle der Medien und der Künste hin: Sie zeigen ästhetische Produkte und Artefakte, die den Zustand des Unbewusstseins fördern. Der Einzelne wird hier jeweils in ein unkritisches Verhältnis zu den als normal und unveränderlich aufgefassten Gegebenheiten gesetzt. In diesem Sinn wird die hohe Kunst genauso problematisiert wie massenkulturelle Vergnügungsangebote, weil sie die ausbeuterische, repressive Ordnung, in die sie selbst integriert sind, verschleiern und dadurch stärken. Das Fernsehen erscheint unter diesem Gesichtspunkt als technisch modernste Variation, die im Vergleich zu einer bloß dem Schönheitsprinzip
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
verpflichteten Kunst, dem US-amerikanisch geprägten Comic oder dem pseudokathartischen Zerstreuungskino einen noch höheren Wirkungsgrad erreicht. In Petris Werk wird die Thematisierung von Filmizität und Medialität damit zum konstitutiven Element seiner spezifischen Variation des politischen Films. Seine Filme selbst bedienen sich für die analytische Veranschaulichung politischer Verhältnisse im weiteren Sinn ja selbst unterschiedlichsten Stil- und Erzählformen: Modernismen der künstlerischen Nouvelle vague, des italienischen Autorenkinos oder der Pop Art ebenso wie Motiven und Schemata des Kriminalfilms, des haunted house oder der Komödie. Durch die Medien und Kunstwerke im Film werden aber konkrete Gegenmodelle etabliert, von denen sich Petris Regiearbeiten dann programmatisch abgrenzen; die Filme zeigen so auf, wie sie selbst politisch einzuordnen sind. Charakteristisch ist dies insofern, als die Regiearbeiten des italienischen Filmemachers im Unterschied zur Politik der Form eben nicht um jeden Preis vordefinierte Kommunikationsmodi und -schemata aufbrechen: Die Politik der Form basiert auf der Annahme, dass gesellschaftlich begrenzte Ausdrucksmöglichkeiten die Verständigung über Daseinsbedingungen und -erfahrungen erschweren oder sogar verhindern. Daher gilt es, das ästhetisch-mediale Regime anzugreifen, um die vorherrschenden Lebensverhältnisse sichtbar machen zu können. Militante Filmpraktiken entziehen sich dagegen durch alternative Kommunikationswege der Kontrolle des etablierten Machtapparats. Petris Filme für das etablierte Kino negieren in ihrer Umsetzung die vorhandenen Repräsentationsformen dagegen nie vollends. Statt vorgeprägte Ausdrucksmuster zu zerstören, werden diese sowohl thematisiert und reflektiert als auch funktionalisiert und unterlaufen – ebenfalls mit dem Ziel, jene vorgeprägten Denk-, Fühl- und Handlungsmuster anschaulich werden zu lassen, die in der vorherrschenden Sozialordnung das menschliche Miteinander bestimmen. Das klassische Erzählkino wird unter diesem Gesichtspunkt politisch insofern zum Problem, als es die Vorstellungen darüber, was ›normales‹ Denken, Fühlen und Handeln ist, sprich den common sense der Klassengesellschaft, tendenziell perpetuiert: Sein unreflektierter Realismus zielt schließlich auf die Plausibilisierung des Figurenverhaltens. In Petris Filmen kehrt die Darstellung der Verhältnisse in einem nur scheinbar demokratisch-freiheitlichen System stattdessen innere Vorgänge und Mechanismen hervor, um sie in ihrer sozialen Bedingtheit zu analysieren. Das filmpraktische Werk fällt durch zwei wesentliche Merkmale auf, die in variierender Ausprägung bei allen Regiearbeiten zu erkennen sind, unabhängig von der einzelnen Schaffensphase. Die verschiedenen Filme mögen so zum einen dramaturgische und audiovisuelle Konventionen auflösen oder zumindest infrage
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
stellen: Sie verwehren sich einer geschlossenen Form, subvertieren genregeprägte Figurencodierungen und Konfliktlösungsstrategien oder verstoßen offensichtlich gegen das klassische continuity system. Filme wie I giorni contati oder Un tranquillo posto di campagna warten sogar mit avantgardistischen Verfahren auf. Werden in Le mani sporche dramaturgische Schemata dagegen strikt eingehalten, so sind diese gerade in ihrer Schemahaftigkeit funktional. Zum anderen bleiben aber die verschiedenen Darstellungsebenen und -elemente meist funktional aufeinander bezogen. So sind etwa trotz der schon von der Frankfurter Rundschau konstatierten Vorliebe für gebrochene Erzählweisen die Aktionen der Figuren stets in einen organischen Handlungszusammenhang eingebunden, wobei das Gesten- und Mienenspiel der Darsteller demonstrativ ihre charakterliche und psychische Verfassung zum Ausdruck bringt. Schon in I giorni contati, verstärkt dann ab A ciascuno il suo, werden die verhandelten Problemkomplexe zudem jeweils durch auffällige Motive, Äquivalentsetzungen, Metaphern und Symbole pointiert und durch mehr oder minder ausführliche Redepassagen der Figuren expliziert. Im historischen Verlauf zeigen sich deutliche Verschiebungen. Diese gehen signifikanterweise mit den politischen Entwicklungen Italiens einher: Nach den avancierten Anfängen von L’assassino, I giorni contati, La decima vittima und A ciascuno il suo finden sich in den Kinospielfilmen nach 1968 kaum mehr modernistische Stilformen, sodass sich Un tranquillo posto di campagna als markanter Wendepunkt interpretieren lässt. Solche Gestaltungstechniken werden in diesem Film konsequentermaßen in eine umfassende ästhetik- und mediengeschichtliche Reflexion einbezogen, die um die politischen Wirkungsmöglichkeiten von Kunst kreist. Stehen bis dahin die mentalen, sozialen und kulturellen Auswirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Italien thematisch im Vordergrund, so rückt 1966/67 die Krise der Intellektuellen und der Künste in den Fokus, bevor tatsächlich auf aktuelle politische Ereignisse, Konflikte und Akteure Bezug genommen wird. Kurz nach dem Aufkommen der Protestbewegungen etabliert sich somit eine Variante des politischen Films, die sich von den damals ausbildenden avantgardistischen Ansätzen, militanten Praktiken und rein parabolischen Diskursen ebenso absetzt wie von dem eher konventionell erzählenden Politkino. Dabei wird mit dem Cinegiornale no. xyz und Documenti su Pinelli durchaus auch das Potenzial eines unabhängigen Kinos erprobt; Petri sieht mit dem zivilgesellschaftlichen Aufbegehren zunächst die Möglichkeit entstehen, durch solche Produktionen eine Liberalisierung der Filmpolitik zu forcieren. In seinen Spielfilmen setzt sich dagegen eine Verdeutlichungsstrategie durch, die sich vor allem auf einprägsame Metaphern, die Figurenrede und overacting stützt. Diese findet
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
ihre eindrücklichste Ausformung wiederum in La proprietà, wo das Mittel des extradiegetischen Monologs die Momente der sprachlichen Explikation und der filmischen Selbstreferenz zusammenführt; dabei wartet schon die militante Filmepisode Ipotesi sulla morte di G. Pinelli, in der sich professionelle Theater- und Filmschaffende ausdrücklich ihre berufsspezifischen Darstellungsmittel zunutze machen, mit ähnlichen, vom Epischen Theater inspirierten Darstellungstechniken auf. In La proprietà fehlt allerdings der konkrete Bezug zur politischen Gegenwart, sodass hier die Nähe zu den parabolischen Diskursen Buñuels, Ferreris, Pasolinis oder Makavejevs mit ihren weiter gefassten Blickwinkeln auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft augenscheinlich wird. Selbst Todo modo und Le mani sporche legen in der Auseinandersetzung mit der Christdemokratie und dem Linksextremismus den Fokus auf die psychischen Strukturen bzw. existenzphilosophischen Probleme, die den explizit thematisierten politischen Konflikten zugrunde liegen. Sowohl die Vorwürfe der Individualisierung als auch die der Generalisierung, die seinerzeit einer solchen Darstellung von Politik entgegengebracht werden, sind vor dem Hintergrund der damals verbreiteten Revolutionsutopien nachvollziehbar: Schließlich verorten die Filme die Ursachen vorherrschender Ungleich- und Unterdrückungsverhältnisse auf tieferen Ebenen des menschlichen Miteinanders und bringen hierbei Zweifel gegenüber der Wirksamkeit eines sofortigen Umsturzes zum Ausdruck. Wichtiger als eine genaue Analyse der Ausbeutungsverhältnisse, die An klage polizeilicher Überwachungsmethoden oder die Aufdeckung politischer Verschwörungen ist der durch den Vergesellschaftungsprozess ausgebildete Denk-, Fühl- und Handlungskonformismus, auf den sich die bestehende Ordnung stützt. Dementsprechend deutet sich jeweils die Idealvorstellung einer herrschafts- und repressionsfreien Gemeinschaft an, die die freie Entfaltung des Selbst zulässt. Wie schon Tovaglieri feststellt, stehen Petris Regiearbeiten somit den antiautoritären Denkweisen der Protestbewegungen nahe. Vor allem in den späteren Phasen seiner Karriere als Filmregisseur äußert Elio Petri wiederholt die Absicht, alle Mittel, die ihm das Medium bietet, in Anspruch zu nehmen. Er bezieht sich damit in erster Linie zwar auf den Unterhaltungswert einer spektakulären Darbietung; allerdings hebt er mit solchen Aussagen auch auf die Veranschaulichungsfunktion und das damit verbundene Gestaltungsprogramm ab. Faktisch werden bei seinen Regiearbeiten alle Informationskanäle des fiktionalen Films genutzt, um die Lebensbedingungen in der repressiven Klassengesellschaft zu verdeutlichen. So kommt es, dass selbst die stilistisch progressivsten Arbeiten nicht jene Bedeutungsoffenheit herstellen, die für die moderne Filmästhetik charakteristisch, in der Ausprägung einer radikalen ›Politik der Form‹ gar programmatisch ist.
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
Unter ästhetischen Gesichtspunkten sind die Filme wesentlich komplexer, als Petris Rede eines vereinfachenden, volksnahen Kinos andeutet. Immerhin werden filmische Wahrnehmungsgewohnheiten unterminiert und semantische Relationen etabliert, die nicht unmittelbar einleuchten – auch weil sie gelegentlich wie der umgekehrte Zeigefinger aus La classe operaia von etablierten Interpretationsmustern abweichen. Stützen und ergänzen sich die verschiedenen Ebenen des filmischen Diskurses gegenseitig, so wird prinzipiell sichergestellt, dass potenzielle Zuschauer unter der Annahme eines kohärenten Ganzen die dargestellten Sachverhalte erfassen können. Dies bedeutet aber nicht, dass die Rezeption das im jeweiligen Werk angelegte Bedeutungspotenzial dann tatsächlich ausschöpft. Zumindest sind sich Filmkritiker, Filmwissenschaftler und andere Interpreten, die sich auf systematische Weise mit Filmen auseinandersetzen, bis heute nicht über den Gehalt der vermeintlich so schematischen Darstellungen wie der des Kommissars aus Indagine, des Arbeiters aus La classe operaia oder des Präsidenten aus Todo modo einig. Und dies lässt sich nicht zwingend auf die Heterogenität ihrer Betrachtungsansätze zurückführen. Daher erweist es sich auch als gewinnbringend, Elio Petris Aussagen über das eigene Werk im Unterschied zu autorenzentrierten Betrachtungsweisen als eigenständigen Gegenstandsbereich zu erfassen. Seine filmpoetologischen Kommentare müssen als geschichtliche Daten behandelt werden, die im Kontext der politisierten Debatten zu sehen sind: Mithin lassen sich über sie die spezifischen Konstellationen in der Auseinandersetzung mit dem politischen Film rekonstruieren, die in Italien wie in den Filmkulturen anderer Länder äußerst konfliktreich verläuft. Petris zunehmend kämpferische, bisweilen polemische Rhetorik zeigt, dass sich seine Bemühungen um eine theoretische und historische Fundierung der von ihm vorgebrachten Konzeptionen vor allem gegen die Filmkritik und -theorie richtet: Als maßgebende Deutungsautoritäten tragen diese im Grunde schon seit Il maestro di Vigevano zur Marginalisierung der von ihm inszenierten Filme und der dahinterstehenden Konzeptionen bei. Als seinerseits gewichtiger Teilnehmer der Debatte entwickelt der Regisseur eine Strategie der Breitenwirkung. Er arbeitet kaum in sich geschlossene theoretische Schriften aus, sondern nutzt die ihm als erfolgreichem Filmemacher entgegengebrachte Aufmerksamkeit, um sich über verschiedenste Medien zu äußern, unabhängig von Format, intellektuellem Anspruch und weltanschaulicher Ausrichtung: Filmzeitschriften ebenso wie Tageszeitungen, Politik-, Literatur-, Lifestyle- und Jugendmagazine, Fernsehinterviews bis hin zu Pressekonferenzen und Fachtagungen. 1973 und 1982 kann er so tatsächlich weittragende, wenn auch nicht nachhaltig wirksame Diskussionen über die Rolle der Filmkritik und -theorie anstoßen.
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
Die gegen die dominanten Paradigmen gerichteten Kommentare markieren den Versuch eines Filmemachers, alternative Deutungsmuster in die Debatte einzubringen. Dem liegt eher eine politische Motivation zugrunde statt die künstlerische eines auteurs, der um die Herrschaft über das eigene Werk bemüht ist: Petri zielt im Geiste Gramscis schließlich auf einen konstruktiven Austausch über den politischen Film. Daher adressiert er in erster Linie jene Akteure, die dem gleichen politischen Spektrum wie er selbst angehören. Schon in den späten 1950er Jahren drängt er von der Position eines kommunistischen Filmschaffenden aus auf die parteiübergreifende Verständigung innerhalb des linken Milieus, um den progressiven Kräften nach der filmtheoretischen Debatte auch in der Filmproduktion zu einer Vormachtstellung zu verhelfen; so soll es gelingen, an einer langfristigen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse mitzuwirken. Bis in die 1970er Jahre hinein erscheint ihm der Film aufgrund seiner Breitenwirkung als attraktives Kommunikationsmittel, um den Alltagsverstand zu durchdringen: In der Zivilgesellschaft sollen mithin Dispositionen für eine freiheitliche Gesellschaftsform geschaffen werden. Petri präsentiert seine Filme dabei nicht als potenzielle Leitkonzepte für den ordnungskritischen Film. Vielmehr bietet er sie zuallererst als Alternativen bzw. Neuperspektivierungen zu den bestehenden an, um deren Verabsolutierung im theoretischen Diskurs entgegenzuwirken. Ihm gilt es, auf diese Weise die Entwicklung von neuen Modellen voranzutreiben: Der politische Film muss effizient auf den sich stetig verändernden gesellschaftlichen und politischen Bezugshorizont reagieren können. So entwirft er zusammen mit De Santis und Puccini zunächst einen Realismus, der sich in dezidierter Abgrenzung zum Neorealismus an volkskulturellen Darstellungstraditionen orientiert. Diese Variation verwirft er wenig später, indem er gestalterische Fragen in den Hintergrund schiebt und die inhaltlich-thematische Gegenwartsbezogenheit prioritär setzt. Anfang der 1960er Jahre zeigt sich Petri dann durchaus aufgeschlossen gegenüber dem filmkünstlerischen Antikonventionalismus der Nouvelle vague. Der bürgerlichen Kunstkonzeption, die sich darin abzeichnet, setzt er aber sein ›Kino der Ideen‹ entgegen: Die gewonnene Freiheit des filmischen Ausdrucks gilt es für die Darstellung zeitspezifischer Kernprobleme fruchtbar zu machen. In Zeiten zivilgesellschaftlicher Rebellion erweist sich ein solch artistisch ambitionierter Ansatz aufgrund der implizierten Widerständigkeit als ineffizient. Mit dem Entwurf eines politisch-popularen Kinos kehrt er zum tradierten Ideal des Volkstümlichen zurück, um intellektuell leicht zugängliche Spielfilme mit größtmöglicher Breitenwirkung politisch zu legitimieren. Damit opponiert Petri der Politik der Form ebenso wie dem militanten Kino, die sich bewusst einem breiten Publikum verschließen.
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
Dabei bewegt sich seine Argumentation keineswegs außerhalb der historisch jeweils vorhandenen Definitionsmöglichkeiten und Bewertungsschemata. So ist etwa Godards Modernismus als ästhetisches Vorbild nur gültig, sofern er sich mit der italienischen Traditionslinie eines ordnungskritischen Kinos seit dem Neorealismus in Einklang bringen lässt. Mit dem heute anachronistisch anmutenden Bezug zur Volkskultur schließt er dann wieder an die italomarxistische Tradition an, die damit das Widerständige gegenüber modernen Deviationen betont: Auf diese Weise distanziert sich Petri sowohl von der industriell organisierten Massen- als auch der bürgerlich geprägten Hochkultur. Durch eine dezidiert populare Interpretation vereinnahmt sich der Regisseur charakteristischerweise auch modernere Kunstströmungen und -konzepte wie den Expressionismus oder das Epische Theater, das ja der cinephilen Politik der Form ebenfalls als Referenzmodell dient. Mit solchen eigenwilligen Verknüpfungen, Verschiebungen und Perspektivierungen antwortet Elio Petri auf jene wirkungsmächtigen Konzeptionen, die auch heute noch in der Geschichtsschreibung des politischen Films oftmals vorrangig behandelt werden. Sein filmpoetologisches Schaffen lässt sich wiederum als einschlägiges Beispiel dafür betrachten, dass seinerzeit auch auf Theorieebene alternative Modelle ausgearbeitet werden. Durch die kontroversen Diskussionen und die daraus hervorgehende historiografische Verengung auf die genannten Paradigmen geraten sie in der Rückschau allerdings tendenziell aus dem Blick. Immerhin bestimmen Petris poetologische Entwürfe lange Zeit die filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinen eigenen Arbeiten. Mit Elio Petri lässt sich die zwischen den 1950er und den früheren 1980er Jahren vorherrschende Gemengelage folglich erst genauer ausleuchten, wenn die filmischen Artefakte und die Zuschreibungen der zeitgenössischen Deutungsinstanzen, auch die des Regisseurs selbst, differenziert betrachtet werden. An einem so heterogenen wie viel diskutierten Werk wie dem seinen wird dann ersichtlich, wie sehr die Geschichte des politischen Films nicht nur mit politischen Entwicklungen, sondern auch mit der Geschichte der Filmtheorie ebenso wie der aesthetic history of cinema im Sinne Bordwells und der Medienkulturgeschichte verflochten ist. Schließlich eignen sich Petris Regiearbeiten interfilmisch und intermedial unterschiedlichste Verfahren und Erzählformen an, um politische Sachverhalte erkenntnisfördernd darzustellen. Außerdem forcieren sie ihrerseits neue Entwicklungen, vergegenwärtigt man sich etwa Filme wie La decima vittima, der durch eine bis dato singuläre Pop-ArtÄsthetik auffällt, oder Indagine und La classe operaia, die jeweils an der Ausbildung von zeitspezifischen Strömungen des Polizei- bzw. des Arbeiterfilms mitwirken.
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
Gleichwohl wird an Petris Werk die grundlegende Herausforderung einer Geschichtsschreibung greifbar, die sich sensibel für inter- und transkulturelle Zusammenhänge politischer Filmpraktiken zeigt: Es gilt, die Spezifika der verschiedenen nationalen Kontexte, Ähnlichkeiten ebenso wie Transfer- und Verflechtungsprozesse zu erfassen. Bei dem hier behandelten Regisseur lassen sich beispielsweise filmpoetologisch wie -praktisch eigentümliche Verquickungen der Godard’schen Ausprägung der Nouvelle vague, der US-amerikanischen Pop Art oder des Epischen Theaters mit Film-, Erzähl- und Denktraditionen Italiens erkennen. Zugleich müssen die Eigenheiten und Eigendynamiken des cinema politico berücksichtigt werden, für das Petris Werk wiederum als herausragendes Beispiel behandelt wird: Diese Verdichtung innerhalb des italienischen Kinos fällt im Vergleich zu ähnlichen Entwicklungen in anderen Ländern durch die Menge und Pluralität der ihr zugerechneten Spielfilme auf. Eine Werkbetrachtung wie die vorliegende mag nun historiografisch fruchtbar sein, wenn man die Modellierung des politischen Films in erster Linie anhand der filmischen Artefakte sowie der zeitgenössischen Diskurse über die Filme vornimmt. Die politische Wirkung, die bei Elio Petri wie bei anderen Filmpraktikern und -theoretikern den Fluchtpunkt der Überlegungen bildet, bleibt dagegen ein blinder Fleck; schließlich lassen die genannten Parameter in dieser Hinsicht keine validen Aussagen zu. Es ist ja prinzipiell nicht ausgeschlossen, dass auch scheinbar ambitionslose Filme, die von den zeitgenössischen Kritikern nicht berücksichtigt werden, auf politische Zusammenhänge einwirken. Die Reception Studies stoßen hier an ihre Grenzen, da sie sich im Wesentlichen nur mit professionellen Akteuren auseinandersetzen. Ebenso mag sich die Haltung der institutionalisierten Politik zwar aus Zensurunterlagen oder öffentlichen Reaktionen erschließen lassen, diese entspricht aber nicht zwangsläufig der innerhalb der Zivilgesellschaft vorherrschenden Meinung. Einnahmen und Zuschauerzahlen, die im Falle von Petri sogar bei La proprietà noch recht bemerkenswert sind, können wiederum nicht als direkte Indikatoren allgemein dominanter politischer Einstellungen betrachtet werden. Möglichkeiten zur Behebung dieser Problematik mögen ethnologische, sozial- und politikwissenschaftliche Ansätze bieten, die auf Grundlage empirischer Datenerhebungen fundiertere Aussagen über den Einfluss von ›politischen‹ Filmen auf politische Prozesse treffen können. Mit der Erschließung der Rezeptionsseite durch solche Studien ließe sich eine weitere Dimension des politischen Films als historischem Phänomen erfassen. Demgegenüber lassen sich aus den Strukturen der filmischen Artefakte ebenso wie den Zuschreibungen von Produzenten und (professionellen) Rezipienten in erster Linie spezifische Denkfiguren des politischen Films ableiten. Diese hat eine Filmgeschichtsschreibung, die sich für die ästhetischen und medialen Eigen-
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
schaften der Produktionen interessiert, wiederum miteinander zu konfrontieren und einzuordnen. Dass in dieser Hinsicht noch Arbeit zu leisten ist, zeigt das hier erschlossene Exempel von Elio Petri, der noch zu den prominenteren Regisseuren seiner Zeit zählt: Im Umgang mit solchen Fällen müssen historische und historiografisch perpetuierte Urteile aufgebrochen werden, um die Filme wieder einem kritisch reflektierenden Blick zugänglich zu machen. Eine solche Aufarbeitung erscheint umso dringlicher, als die Filmkultur und die Geschichtsschreibung sich verstärkt mit den Werken von Filmemachern wie Elio Petri auseinandersetzen. Gerade bei Petri lässt sich dies als Anzeichen dafür auffassen, dass seinen Arbeiten erneut Relevanz für die Gegenwart zugeschrieben wird. Immerhin ist in den vergangenen 25 Jahren das Interesse an seinen Filmen und seiner Person stetig gewachsen: Seine Regiearbeiten werden auf modernen Datenträgern in unterschiedlichen Sprachfassungen veröffentlicht, es werden weltweit Retrospektiven veranstaltet und sogar Preise nach ihm benannt. 2018 arbeitet der Schriftsteller Paolo Di Paolo schließlich eine Bühnenversion jenes Films aus, auf den kurz zuvor auch schon Morettis Mia madre Bezug nimmt. Bei La classe operaia va in paradiso handelt es sich allerdings um mehr als nur eine Dramenadaption des gleichnamigen Kinofilms: Signifikanterweise fragt das Stück explizit nach der Aktualität eines politischen Films, der seinerzeit die Gemüter erhitzt hatte. Hierfür etabliert Di Paolo eine der Filmhandlung übergeordnete Erzählebene, auf der unter anderem der Produktionsprozess von La classe operaia nachgezeichnet wird. Zwischen Petri und Pirro kommt es hierbei zu intensiven Diskussionen, in die prägnante Zitate des Filmemachers und seines Co-Autors eingeflochten werden. Diese liefern nun konkrete Erläuterungen für die Situation des Massenarbeiters, die auf der innerdiegetischen Ebene des Kinofilms dargeboten wird. Aber auch die dahinterstehen Intentionen des politischen Regisseurs bzw. Drehbuchautors kommen in den zitierten Aussagen zum Ausdruck. Deren Bemühungen um eine adäquate Darstellung der unterdrückten Arbeiterklasse werden dann die heftigen Reaktionen damaliger Zuschauer und Rezensenten gegenübergestellt. Anhand dieser politisierten Auseinandersetzung entwickelt das Stück das Porträt einer über 40 Jahre zurückliegenden Ära, seit der sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiterschaft kaum geändert haben: Allerdings können die heutigen Kinobesucher, die Di Paolo in seiner Version von La classe operaia ebenfalls zu Wort kommen lässt, die Bedeutsamkeit der im Spielfilm verhandelten Themen für die Gegenwart nicht erfassen (vgl. Di Paolo 2018). Sicherlich sind Probleme wie die wirtschaftliche Ausbeutung oder staatliche Repression, die in Petris Regiearbeiten verhandelt werden, in großen Teilen der Welt trotz der allgemein veränderten politischen Gesamtsituation noch nicht
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6. Fazit und Schlussbetrachtung
überwunden, ja nehmen durch den technischen, medialen und ökonomischen Fortschritt neue Formen an. Auch die Art und Weise, wie diese Themen verhandelt werden, scheint nicht zwingend überlebt: Die Filme hinterfragen Gewohnheiten und Normalitätsannahmen ebenso wie etablierte Deutungsschemata politischer Ideologien; Zuschauer sehen sich demnach vor allem auf sich selbst verwiesen, sodass es gilt, die eigenen Einstellungen, Handlungsweisen und Gefühlslagen zu hinterfragen. Obgleich Petri damit inzwischen als Vorläufer eines bedingungslosen Filmaktivismus honoriert wird, scheint er für den politischen Film der Gegenwart nur noch von historischem Wert zu sein. Dies weist nicht zuletzt Morettis Mia madre mit dem Arbeiterfilm im Film aus, an dem die Regisseurin letztlich scheitert. Mögliche Gründe werden nachvollziehbar, wenn man sich die Fokusverschiebung in der Entwicklung des politischen Films vergegenwärtigt: In Petris Regiearbeiten deutet sich noch ein universeller Anspruch der politischen Botschaft an – heutzutage werden hegemoniale Machtstrukturen eher durch partikulare Perspektiven benachteiligter Einzelpersonen infrage gestellt. Morettis Protagonistin kann der Forderung, eine allgemein gültige Aussage über die gesellschaftliche Wirklichkeit zu treffen, ihrerseits gar nicht mehr nachkommen. Die politischen Botschaften, die sie seit Jahren bislang unermüdlich wiederholt, nimmt sie selbst nur mehr als leere Floskeln wahr.
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Quellenverzeichnis Werkverzeichnis Filme Roma ore 11 (Es geschah um Punkt 11); R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Cesare Zavattini, Gianni Puccini, Rodolfo Sonego, Basilo Franchina; Italien / Frankreich 1952; Dauer: 103 Min. Un marito per Anna Zaccheo (Fluch der Schönheit); R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Gianni Puccini, Elio Petri, Alfredo Giannetti, Salvatore Laurani; Italien 1953; Dauer: 101 Min. Donne proibite (Die Verrufenen); R.: Giuseppe Amato; D.: Giuseppe Mangione, Giuseppe De Santis, Elio Petri, Gianni Puccini, Bruno Paolinelli, Cesare Zavattini, Siero Angeli, Gigliola Falluto; Italien 1953; Dauer: 85 Min. Giorni d’amore (Tage der Liebe); R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Gianni Puccini, Elio Petri, Libero De Libero; Italien / Frankreich 1954; Dauer: 98 Min. Nasce un campione; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Antonio Guerra; Italien 1954; Dauer: 11 Min. Quando tramonta il sole; R.: Guido Brignone; D.: Gianni Puccini, Elio Petri, Paolo Ricci; Italien 1955; Dauer: 90 Min. Uomini e lupi (Frauen und Wölfe); R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Gianni Puccini, Elio Petri, Ugo Pirro, Cesare Zavattini, Tonino Guerra, Tullio Pinelli; Italien / Frankreich 1957; Dauer: 95 Min. I sette contadini; R.: Elio Petri; D: Cesare Zavattini, Luigi Charini, Renato Nicolai; Italien 1957; Dauer: 10 Min. Un ettaro di cielo; R.: Aglauco Casadio; D.: Aglauco Casadio, Elio Petri, Tonino Guerra, Ennio Flaiano; Italien 1958; Dauer: 86 Min. Cesta duga godinu dana (La strada lunga un anno); R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Maurizio Ferrara, Tonino Guerra, Elio Petri, Gianni Puccini, Mario Socrate; Jugoslawien / Italien 1959; Dauer: 154 Min. Vlak bez voznog reda; R.: Vejlko Bulajić; D.: Vejlko Bulajić, Ivo Braut, Stjepan Perović, Elio Petri; Jugoslawien 1959; Dauer: 115 Min. Le notti dei teddy boys (Die Nächte sind voller Gefahren); R.: Leopoldo Savona; D.: Leopoldo Savona, Tommaso Chiaretti, Elio Petri, Franco Giraldi; Italien 1959; Dauer: 82 Min. (dt. Fassung).
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Werkverzeichnis Il carro armato dell’8 settembre; R.: Gianni Puccini; D.: Bruno Baratti, Elio Bar tolini, Goffredo Parisi, Pier Paolo Pasolini, Giulio Questi; Italien 1960; Dauer: 93 Min. Il gobbo (Der Bucklige von Rom); R.: Carlo Lizzani; D.: Tommaso Chiaretti, Ugo Pirro, Carlo Lizzani, Vittoriano Petrilli; Italien / Frankreich 1960; Dauer: 96 Min. Vento del Sud; R.: Enzo Provenzale; D.: Giuseppe Mangione, Enzo Provenzale, Elio Petri, Armando Crispino; Italien 1960; Dauer: 96 Min. La garçonnière; R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Elio Petri, Tonino Guerra, Franco Giraldi; Italien 1960; Dauer: 88 Min. L’impiegato; R.: Gianni Puccini; D.: Gianni Puccini, Elio Petri, Nino Manfredi, Tommaso Chiaretti; Italien 1960; Dauer: 92 Min. L’assassino (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?); R.: Elio Petri; D: Elio Petri, Tonino Guerra, Pasquale Festa Campanile, Massimo Franciosa; Italien 1961; Dauer: 94 Min. I giorni contati; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Tonino Guerra, Carlo Romano; Italien 1962; Dauer: 94 Min. Il maestro di Vigevano; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Agenore Incrocci, Furio Scarpelli; Italien 1963; Dauer: 100 Min. I mostri; R.: Dino Risi; D.: Agenore Incrocci, Furio Scarpelli, Elio Petri, Ettore Scola, Ruggero Maccari; Italien / Frankreich 1963; Dauer: 118 Min. L’Italia con Togliatti; R.: Giorgio Alorio, Gianni Amico, Libero Bizzari, Francesco Maselli, Lino Micciché, Glauco Pellegrini, Elio Petri, Sergio Tau, Paolo Taviani, Vittorio Taviani, Marco Zavattini, Valerio Zurlini; Italien 1964; Dauer: 40 Min. Alta infedeltà (Ehen zu dritt) – Ep. Peccato nel pomeriggio; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Ruggero Maccari, Agenore Incrocci, Furio Scarpelli; Italien / Frankreich 1964; Dauer: 125/25 Min. Nudi per vivere; R.: Elio Montesti (Elio Petri, Giulano Montaldo, Giulio Questi); D.: o. A.; Italien 1964; Dauer: 78 Min. La decima vittima (Das zehnte Opfer); R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Tonino Guerra, Ennio Flaiano, Giorgio Salvoni; Italien / Frankreich 1965; Dauer: 88 Min. Carosello: Storie dal futuro – Al di là della mente; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri; Italien 1966; Dauer: 2 Min. A ciascuno il suo (Zwei Särge auf Bestellung); R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Ugo Pirro; Italien 1967; Dauer: 90 Min. Un tranquillo posto di campagna (Das verfluchte Haus); R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Luciano Vincenzoni; Italien / Frankreich 1968; Dauer: 102 Min. Carosello: Esperto di cavalli; R.: Elio Petri; D.: o. A.; Italien 1969; Dauer: 2 Min.
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Quellenverzeichnis Cinegiornale libero No. XYZ – di Roma. Discorso sulla rivoluzione in Piazza S. Pietro il giorno di S. Giuseppe (Dialogo con Cohn-Bendit); Italien 1969; Dauer: 19 Min. Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger); R.: Elio Petri; D: Elio Petri, Ugo Pirro; Italien 1970; Dauer: 115 Min. Documenti su Pinelli – Materiale no. 2. Ipotesi sulla morte di G. Pinelli; R.: Comitato dei Cineasti Contro la Repressione; D.: Comitato dei Cineasti Contro la Repressione; Italien 1970; Dauer: 13 Min. La classe operaia va in paradiso (Die Arbeiterklasse geht ins Paradies); R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Ugo Pirro; Italien 1971; Dauer: 111 Min. La proprietà non è più un furto; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri, Ugo Pirro; Italien / Frankreich 1973; Dauer: 101 Min. Todo modo; R.: Elio Petri; D: Elio Petri unter Mitarbeit von Berto Pelosso; Italien 1976; Dauer: 125 Min. Le mani sporche; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri; Italien 1978 (Rete 1, 14./15./19.11.1978); Dauer: 93/60/82 Min. Buone notizie Ovvero La personalità della vittima; R.: Elio Petri; D.: Elio Petri; Italien 1979; Dauer: 101 Min. Elio Petri. Appunti su un’autore; R.: Federico Bacci, Nicola Guarnieri, Stefano Leone; D.: o. A.; Italien 2005; Dauer: 84 Min.
Theater L’orologio americano; R.: Elio Petri; Textfassung: Arthur Miller, Gerardo Guerrieri, Elio Petri; Premiere: Tetro Duse Genua, 23.01.1981.
Texte Petri, Elio (1956): Roma ore 11, Mailand / Rom: Edizioni Avanti! Petri, Elio (2004 [o. J.]): L’inchiesta di Elio Petri. In: Giovanni Spagnoletti / Marco Gros si (Hgg.): Giorni d’amore. Un film di Giuseppe De Santis tra impegno e commedia, Turin: Lindau, S. 102–152. Petri, Elio (2006a): Autobus. Idea per un film. In: ders.: Un amore lungo. Tre inediti di Elio Petri, Mailand: Feltrinelli, S. 15–24.
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Werkverzeichnis Petri, Elio (2006b): Ninni. In: ders.: Un amore lungo. Tre inediti di Elio Petri, Mailand: Feltrinelli, S. 25–164. Petri, Elio / Ferrini, Franco (1983): Chi illumina la grande notte? Soggetto e Sceneggiatura di Elio Petri e Franco Ferrini. Revisione di Sergio Donati. In: Ugo Pirro (Hg.): Elio Petri, Venedig: La Biennale, S. 103–180. Petri, Elio / Pirro, Ugo (1970): Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto, Rom: Tindalo. Petri, Elio / Pirro, Ugo (1973): La proprietà non è più un furto, Mailand: Bompiani.
Weitere Publikationen De Santis, Giuseppe / Puccini, Gianni / Petri, Elio (1954): La parola agli autori del film »Giorni d’amore«. In: L’Unità, Nr. 351 (19.12.1954), S. 8. Petri, Elio (1964): I film fanno le boccacce. In: Rinascita, Nr. 19 (09.05.1964), S. 28 f. Petri, Elio (1978): Brevi noti, riflessioni preliminari. In: Radiotelevisione italiana: La RAI-Radiotelevisione italiana presenta: Le mani sporche. Dramma di Jean-Paul Sartre. Traduzione, adattamento televisivo e regia di Elio Petri, o. O. Petri, Elio (1982a): Indifferente la sinistra verso il nostro cinema. In: Cinemasessanta 23, Nr. 146, S. 7 f. Petri, Elio (1982b): Breve incontro. In: Nuovi Argomenti 30, Nr. 1, S. 90–96. Petri, Elio (1982c): Ex. In: Nuovi Argomenti 30, Nr. 2, S. 14–16. Petri, Elio / Argentierti, Mino / Maselli, Francesco / Scola, Ettore / De Santis, Giuseppe (2000 [1982–84]): A Debate in Cinemasessanta (1982–1984). In: Jean A. Gili (Hg.): Elio Petri, Rom: Cinecittà Holding, S. 63–71. Petri, Elio (2007a): Scritti di cinema e di vita, hg. von Jean A. Gili, Rom: Bulzoni. - (2007b [1957]): I germi dell’odio e della speranza: lettera a Pietro Germi, S. 31–36 [Città aperta 1 (1957), Nr. 1]. - (2007c [1957]): Henri Beyle ringrazia, S. 37–40 [Città aperta 1, Nr. 1]. - (2007d [1957]): La lezione di Calle mayor, S. 41–44 [Città aperta 1, Nr. 2]. - (2007e [1957]): Non è un luogo comune, S. 50–52 [Città aperta 1, Nr. 3]. - (2007f [1957]): Il cinema italiano: un elefante castrato, S. 53–60 [Città aperta 1, Nr. 4–5]. - (2007g [1958]): Intellettuali di paglia, S. 78–83 [Città aperta 2, Nr. 9–10]. - (2007h [1964]): Giochi di squadra e specialità individuali, S. 90–92 [Cinema 60 5, Nr. 44]. - (2007i [1967]): Crisi o vitalità?, S. 93–96 [Cinema 60 8, Nr. 62–63]. - (2007j [1967]): Elio Petri ha fiducia nel cinema italiano, S. 97 [Cineforum 7, Nr. 62]. - (2007k [1980]): »Nuova Cucina« (1980), S. 115–148.
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Quellenverzeichnis - (2007l [o. J.]): Risposte alle domande scritte di Simon Mizrahi, S. 168–174. - (2007m [1979–1982]): Critica d’arte (1979–1982), S. 201–209. - (2007n [1982]): »Perché non ci vediamo mai?«. Tre lettere a Giuseppe De Santis, S. 211– 236. Petri, Elio (2013): Writings on Cinema & Life, hg. von Jean A. Gili, übersetzt von Camilla Zamboni und Erika Marina Nadir, New York: Contra Mundum Press.
Archivalien [AMNC] Archivio del Museo Nazionale del Cinema, Fondo Elio Petri, Turin ELPE1 – Petri, Elio (o. J.): Il fatto. ELPE7 – Chiaretti, Tommaso / Petri, Elio (o. J.): Il terzo fronte. Soggetto cinematografico di Tommaso Chiaretti e Elio Petri. ELPE12–13 – Petri, Elio / Romano, Carletto (1961): I giorni contati. Prima stesura. ELPE18 – Petri, Elio (o. J.): Scaletta Tranquillo posto. ELPE28 – Petri, Elio (1970/71): La classe operaia va in paradiso. Appunti per il soggetto (Luglio–Agosto 1970). Soggetto di Elio Petri e Ugo Pirro (Luglio 1970). Dialoghi definitivi (Agosto 1971). ELPE32 – Petri, Elio / Pirro, Ugo (1972): La proprietà non è (più) un furto. Soggetto e sceneggiatura di Elio Petri e Ugo Pirro. 1972. ELPE38 – Petri, Elio (1975): Todo modo. Sceneggiatura scritta di: Elio Petri. Con la collaborazione di: Berto Pelosso. ELPE48 – Petri, Elio (1979): ovvero Le buone notizie. La personalità della vittima. ELPE50 – Petri, Elio (o. J.): L’italiana. ELPE51 – Petri, Elio (o. J.): L’italiana. ELPE63 – Petri, Elio / Zimmermann, Paul D. (1977): Zoo. First Draft Screenplay 9/15/77 [PEA Produzioni Europee Associati]. ELPE72 – Vidal, Gore (o. J.): The Pope Must Die. ELPE76 – Petri, Elio (ca. 1961): Risposte di Petri ad un questionario. ELPE77 – Petri, Elio (ca. 1965): Inchiesta sui rapporti cinema–teatro della rivista Sipario. ELPE82 – Petri Elio (1970): Interviste cattive coi personaggi del momento. ELPE83 – Petri, Elio (1970): Nuova generazione. ELPE84 – Petri, Elio (ca. 1970): Risposte di Petri ad un questionario. ELPE86 – Rinaudo, Fabio (1971): L’artigiano in cerca di libertà.
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Archivalien ELPE87 – Petri, Elio (1971/72): Risposte di Petri ad un questionario americano. ELPE89 – Petri, Elio (1976): Risposta ad un questionario formulato da Jean Gili su ›Todo modo‹. Primi giorni d’agosto. 1976. ELPE118 – Petri, Elio (ca. 1977): Cosa è stato differito? ELPE131 – Centro Sperimentale di Cinematografia (1948): Lettera del Centro Sperimentale di Cinematografia a Elio Petri [31.03.1948]. ELPE168 – Petri, Elio (1962): Lettera di Elio [Petri] a Franco [Valobra] [06.03.1962]. ELPE227 – Petri, Elio (1966): Lettera di Elio Petri a Leonarda Sciascia [10.09.1966]. ELPE260 – Gallo, Mario (1968): Lettera di Mario Gallo a Elio Petri. ELPE295 – Calvino, Italo (1968): Lettera di Italo Calvino a Petri [21.10.1968]. ELPE301 – Petri, Elio (1969): Lettera a Ugo Pirro [25.01.1969]. ELPE303 – Tournier, Michel (1969): Lettera di Michel Tournier a Petri [11.03.1969]. ELPE318 – Petri, Elio (o. J.): Lettera a Pavolini. ELPE319 – Petri, Elio (1967): Lettera di Elio Petri a Vigorelli. ELPE343 – Petri, Elio (1970): Lettera di Elio Petri a Kasaj. ELPE351 – Petri, Elio (1970): Lettera di Elio Petri a Dino [De Laurentiis] [25.08.1970]. ELPE398 – Petri, Elio (1971): Lettera a Aggeo Savioli [21.10.1971]. ELPE410 – De Laurentiis, Dino (1972): Telegramma di Dino De Laurentiis a Elio Petri [22.02.1972]. ELPE446 – Petri, Elio (1973): Lettera di Elio Petri a Andrée Tournès [26.10.1973]. ELPE467– Petri, Elio (1974): Lettera di Petri a Enzo Siciliano [02.–05.07.1974]. ELPE471 – Nabokov, Dmitri (1974): Lettera di Dmitri Nabokov a Elio Petri [09.12.1974]. ELPE486 – Lanzilotta, Luigi (1975): Lettera di Luigi Lanzilotta a Alberto Grimaldi [29.07.1975]. ELPE491– Marchand, Jacques (1976): Lettera di Jacques Marchand a Michel Piccoli [22.01.1976]. ELPE493 – Petri, Elio (1976): Lettera di Elio Petri a Gregoretti [30.03.1976]. ELPE519 – Dal Monte, Gino (1977): Lettera di Gino Dal Monte a Elio Petri [14.12.1977]. ELPE520 – Petri, Elio (1977): Lettera di Elio Petri a Ilio Tognoni [24.12.1977]. ELPE526 – Petri, Elio (1978): Lettera di Elio Petri ad Alfredo Rossi [21.03.1978]. ELPE555 – Petri, Elio (1979): Lettera di Elio Petri a Jean-Paul Sartre [15.08.1979]. ELPE568 – Petri, Elio (1981): La crisi del cinema [11.08.1981].
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Quellenverzeichnis
[AAMOD] Archivio Audiovisivo del Movimento Operaio e Democratico, Rom o. A. (o. J.): Documento filmato sulla repressione in Italia. In: Fondo Unitelefilm, Busta 10, Fasc. 97: Documento filmato sulla repressione in Italia, S. 1–6. Ministero del Turismo e dello Spettacolo (1970): Einschreiben des Ministero del Turismo e dello Spettacolo an das Comitato dei Cineasti Contro la Repressione [30.11.1970]. In: Fondo Unitelefilm, Busta 14, Fasc. 162: Ipotesi sulla morte di Pinelli.
Filmverzeichnis Les 400 coups; R.: François Truffaut; D.: François Truffaut, Marcel Moussy; Frankreich 1959. 8½; R.: Federico Fellini; D.: Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli, Brunello Rondi; Italien 1963. Accattone; R.: Pier Paolo Pasolini; D.: Pier Paolo Pasolini; Italien 1961. L’albero degli zoccoli; R.: Ermanno Olmi; D.: Ermanno Olmi; Italien 1978. Allonsanfàn; R.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; D.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; Italien 1974. L’amore in città; R.: Michelangelo Antonioni, Federico Fellini, Alberto Lattuada, Carlo Lizzani, Francesco Maselli, Dino Risi; D.: Cesare Zavattini, Aldo Buzzi, Luigi Chiarini, Luigi Malerba, Tullio Pinelli, Vittorio Veltroni, Michelangelo Antonioni, Federico Fellini, Marco Ferreri, Alberto Lattuada, Dino Risi; Italien 1953. Angela Davis: portrait d’une révolutionnaire; R.: Yolande du Lauart; D.: o. A.; Frankreich 1971. Apollon: una fabbrica occupata; R.: Ugo Gregoretti; D.: Ugo Gregoretti; Italien 1969. L’avventura; R.: Michelangelo Antonioni; D.: Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini, Tonino Guerra; Italien / Frankreich 1960. Baba Yaga; R.: Corrado Farina; D.: Corrado Farina; Italien / Frankreich 1973. Bellissima; R.: Luchino Visconti; D.: Luchino Visconti, Suso Cecchi D’Amico, Francesco Rosi; Italien 1951. Ben Hur; R.: William Wyler; D.: Carl Tunberg, Gore Vidal, Christopher Fry, Maxwell Anderson, S. N. Behrman; USA 1959. Berlinguer ti voglio bene; R.: Giuseppe Bertolucci; D.: Giuseppe Bertolucci, Roberto Begnini; Italien 1977.
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Filmverzeichnis Blow up; R.: Michelangelo Antonioni; D.: Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra, Edward Bond; Italien / Großbritannien / USA 1966. Cadaveri eccellenti; R.: Francesco Rosi; D.: Francesco Rosi, Lino Januzzi, Tonino Guerra; Italien / Frankreich 1976. Calle mayor; R.: Juan Antonio Bardem; D.: Juan Antonio Bardem; Spanien 1956. Il caso Mattei; R.: Francesco Rosi; D.: Francesco Rosi; Tonino Guerra; Italien 1972. Chi lavora è perduto. In capo al mondo; R.: Tinto Brass; D.: Tinto Brass, Giancarlo Fusco; Italien / Frankreich 1963. Cleopatra; R.: Joseph L. Mankiewicz; D.: Sidney Buchman, Ranald MacDougall, Joseph L. Mankiewicz, Ben Hecht; USA 1963. Col cuore in gola; R.: Tinto Brass, Francesco Longo, Pierre Levy Corti; Italien / Frankreich 1967. I compagni; R.: Mario Monicelli; D.: Agenore Incrocci, Furio Scarpelli, Mario Monicelli; Italien / Jugoslawien / Frankreich 1963. Cristo si è fermato a Eboli; R.: Francesco Rosi; D.: Francesco Rosi, Tonino Guerra, Raffaele La Capria; Italien / Frankreich 1979. Il delitto Matteotti; R.: Florestando Vancini; D.: Lucio Manlio Battistrada, Florestano Vancini; Italien 1973. Il deserto rosso; R.: Michelangelo Antonioni; D.: Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra; Italien / Frankreich 1964. Deutschland im Herbst; R.: Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Hans Peter Cloos, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel; D.: Heinrich Böll, Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Hans Peter Cloos, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel, Peter Steinbach; BR Deutschland 1978. Diabolik; R.: Mario Bava; D.: Dino Maiuri, Mario Bava; Italien / Frankreich 1968. Divorzio all’italiana; R.: Pietro Germi; D.: Ennio De Concini, Alfredo Giannetti, Pietro Germi; Italien 1961. La dolce vita; R.: Federico Fellini; D.: Federico Fellini, Tullio Pinelli, Ennio Flaiano; Italien / Frankreich 1960. Dr. No; R.: Terence Young; D.: Johanna Harwood, Maibaum, Berkely Mather; Großbritannien 1962. L’eclisse; R.: Michelangelo Antonioni; D.: Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra; Italien / Frankreich 1962. Europa di notte; R.: Alessandro Blasetti; D.: Ennio De Concini; Italien / Frankreich 1959.
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Filmverzeichnis I misteri di Roma; R.: Libero Bizzari, Mario Carbone, Angelo D’Alessandro, Lino del Fra, Luigi di Gianni, Giuseppe Derrare, Ansano Giannarelli, Giulio Macchi, Lorenzo Mazzetti, Enzo Muzii, Piero Nelli, Paolo Nuzzi, Dino B. Partesano, Massimo Milda, Giovanni Vento; D.: o. A.; Italien 1963. Mondo cane; R.: Paolo Cavara, Gualitero Jacopetti, Franco Prosperi; D.: o. A.; Italien 1962. La montagna del dio cannibale; R.: Sergio Martino; D.: Cesare Frugoni, Sergio Martino; Italien 1978. Nerosubianco; R.: Tinto Brass; D.: Tinto Brass, Francesco Longo, Giancarlo Fusco; Italien 1969. La notte; Michelangelo Antonioni; D.: Michelangelo Antonioni, Ennio Flaiano, To nino Guerra; Italien / Frankreich 1961. Novecento; R.: Bernardo Bertolucci; D.: Franco Arcalli, Bernardo Bertolucci, Giuseppe Bertolucci; Italien / Frankreich / BR Deutschland 1976. Odissea; R.: Franco Rossi, Mario Bava, Piero Schivazappa; D.: Gian Piero Bona, Vittorio Bonicelli, Fabio Carpi, Luciano Codignola, Mario Prosperi, Renzo Rosso; Italien / Jugoslawien / BR Deutschland 1968. Ossessione; R.: Luchino Visconti; D.: Luchino Visconti, Mario Alicata, Giuseppe De Santis, Gianni Puccini, Sergio Grieco; Italien 1944. Padre padrone; R.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; D.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; Italien 1977. Partner; R.: Bernardo Bertolucci; D.: Gianni Amico; Italien 1968. Il pianeta degli uomini spenti; R.: Antonio Margheriti; D.: Ennio De Concini; Italien 1961. Pierrot le fou; R.: Jean-Luc Godard; R.: Jean-Luc Godard, Rémo Forlani; Frankreich / Italien 1965. Un pilota ritorna; R.: Roberto Rossellini; D.: Leone Rosario, Michelangelo Antonioni, Massimo Mida Puccini, Roberto Rosselini; Italien 1942. I pugni in tasca; R.: Marco Bellocchio; D.: Marco Bellocchio; Italien 1965. Riso amaro; R.: Giuseppe De Santis; D.: Giuseppe De Santis, Carlo Lizzani, Gianni Puccini; Italien 1949. Rocco e i suoi fratelli; R.: Luchino Visconti; D.: Luchino Visconti, Suso Cecchi D’Amico, Vasco Pratolini; Italien / Frankreich 1960. Ro.Go.Pa.G; R.: Jean-Luc Godard, Ugo Gregoretti, Roberto Rossellini, Pier Paolo Pasolini; D.: Jean-Luc Godard, Ugo Gregoretti, Roberto Rossellini, Pier Paolo Pasolini; Italien / Frankreich 1962.
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Quellenverzeichnis Roma; R.: Federico Fellini; D.: Federico Fellini, Bernardino Zapponi; Italien / Frankreich 1972. Roma città aperta; R.: Roberto Rossellini; D.: Roberto Rossellini, Sergio Amidei, Carlo Celeste Nagarville, Federico Fellini; Italien 1945. Romanzo popolare; R.: Mario Monicelli; D.: Agenore Incrocci, Furio Scarpelli, Mario Monicelli; Italien 1974. Sacco e Vanzetti; R.: Giuliano Montaldo; D.: Fabrizio Onofri, Ottavio Jemma, Giuliano Montaldo; Italien / Frankreich 1972. San Michele aveva un gallo; R.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; D.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; Italien 1973. Satanik; R.: Piero Vivarelli; D.: Eduardo M. Brochero; Italien / Spanien 1968. Sbatti il mostro in prima pagina; R.: Marco Bellocchio; D.: Sergio Donati, Goffredo Fofi; Italien / Frankreich 1972. Scipione l’Africano; R.: Carmine Gallone; D.: Carmine Gallone, Camillo Mariani dell’Anguillara, Sebastiani A. Luciani; Italien 1937. Sedotta e abbandonata; R.: Pietro Germi; D.: Pietro Germi, Luciano Vincenzoni, Agenore Incrocci, Furio Scarpelli; Italien 1964. Senso; R.: Luchino Visconti; D.: Luchino Visconti, Suso Cecchi D’Amico; Italien 1954. Sogni d’oro; R.: Nanni Moretti; D.: Nanni Moretti; Italien 1981. Il sospetto; R.: Francesco Maselli; D.: Francesco Maselli, Franco Solinas; Italien 1975. Sotto il segno dello scorpione; R.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; D.: Paolo Taviani, Vittorio Taviani; Italien 1969. Space Men; R.: Antonio Margheriti; D.: Ennio De Concini; Italien 1960. Spartacus; R.: Stanley Kubrick; D.: Dalton Trumbo; USA 1960. La sua giornata di gloria; R.: Edoardo Bruno; D.: Edoardo Bruno; Italien 1969. Terrore nello spazio; R.: Antonio Margheriti; D.: Ib Melchior, Callisto Cosulich, Alberto Bevilacqua, Mario Bava, Antonio Román, Rafael J. Savia; Italien / Spanien 1965. Tre operai (F. 1: Il rifiuto del lavoro; F. 2: Sapere le cose; F. 3: Fare politica; F. 4: Pubblico e privato); R.: Francesco Maselli; D.: Francesco Maselli; Carlo Bernari, Enzo Siciliano; Italien 1980. Trevico–Torino: viaggio nel Fiat-Nam; R.: Ettore Scola; D.: Ettore Scola, Diego Novelli; Italien 1973. Tutti a casa; R.: Luigi Comencini; D.: Agenore Incrocci, Furio Scarpelli; Italien / Frankreich 1960. Tutto a posto niente in ordine; R.: Lina Wertmüller; D.: Lina Wertmüller; Italien 1974.
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Sonstige Quellen Società Italiana Autori ed Editori (SIAE) (o. J. f): Annuario dello Spettacolo 1982. Tab. 37 – Cinema – Numero dei locali aperti al pubblico, secondo le grandi ripartizioni geografiche, https://www.siae.it/it/chi-siamo/lo-spettacolo-cifre/losservatorio-dello-spet tacolo, Datum des letzten Zugriffs: 09.08.2021. Società Italiana Autori ed Editori (SIAE) (o. J. g): Annuario dello Spettacolo 1982. Tab. 58 – Cinema – Film usciti nel 1982 ed in circolazione nello stesso anno, secondo il paese produttore, https://www.siae.it/it/chi-siamo/lo-spettacolo-cifre/losservatorio-dellospettacolo, Datum des letzten Zugriffs: 09.08.2021.
Sonstige Quellen Le Journal de cinéma (2013 [1970]), ORTF Télévision 2, 25.10.1970, Fassung: DVD, Criterion 2013 [Investigation on a Citizen above Suspicion], 15 Min. Kammerer, Peter (1976): Nachzügler des politischen Unterhaltungsfilms: Francesco Rosi und vor allem Elio Petri (Todo modo). In: SWF Kultur Aktuell, 10.05.1976, Fassung: Archiv, Südwestrundfunk (SWR), 4 Min.
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Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen sehr herzlich bedanken, die mich bei der Arbeit an der Dissertation und der Veröffentlichung des Buches begleitet und unterstützt haben. Das gilt zunächst insbesondere für die beiden Betreuer: Andreas Böhn, der mich stets rechtzeitig zur Konzentration auf das Wesentliche gemahnt hat; wer weiß, welchen Umfang der Text am Ende sonst angenommen hätte. Und Dennis Gräf, der mich während des Bachelor-Studiums ermutigt hat, meinen wissenschaftlichen Weg weiter zu verfolgen. Mit seiner Betreuungszusage hat sich für mich gewissermaßen der Kreis geschlossen. Ein besonderer Dank geht auch an Stefan Scherer: Schon in der Zeit des Master-Studiums und bei den gemeinsamen Projekten danach hat er mir geholfen, eine noch größere Sensibilität für die Machart ästhetischer Gegenstände auszubilden – und dadurch vielleicht mehr zu der Arbeit beigetragen, als mir selbst bewusst ist. Unbedingt erwähnen möchte ich außerdem all jene Personen, denen ich es zu verdanken habe, dass ich überhaupt eine so umfangreiche Sammlung historischer Materialien bearbeiten konnte: Carla Ceresa und ihre MitarbeiterInnen vom Archiv des Museo del Cinema in Turin, Claudio Olivieri vom Archivio Audiovisio del Movimento Operaio e Democratico in Rom, Viridiana Rotondi und Enrico Di Addario von der Cineteca Nazionale in Rom, Manuela Zulian und Marika Armini von den Archiven der RAI sowie Fritz Tauber vom Archiv der HFF München. Zu danken habe ich dem Karlsruhe House of Young Scientists (KHYS), von dem mich insbesondere während der Zeit des Stipendiums der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg gut betreut gefühlt habe. Zudem möchte ich auch den Verantwortlichen beim Verlag, Jerome P. Schäfer, Birgit Kugel und Johannes Fenner, meinen Dank aussprechen. Doch das wohl Wichtigste kommt zum Schluss. Herzlichster Dank gilt meiner Familie und meinen engsten Freunden: für die Unterstützung in jeder Situation, das Interesse – und auch das Verständnis dafür, dass die Doktorarbeit oft Vorrang vor allem anderen genossen hat. Besonders erwähnen möchte ich Tanja, die mich in dieser intensiven Zeit begleitet, erlebt hat, ertragen musste – und unseren Karl, der (glücklicherweise) nur noch das Ende des ganzen Prozederes mitbekommen hat.
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