Österreich 1918 und die Folgen: Geschichte, Literatur, Theater und Film. Austria 1918 and the Aftermath History, Literature, Theater, and Film 9783205119050, 9783205782445


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German Pages [208] Year 2009

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Österreich 1918 und die Folgen: Geschichte, Literatur, Theater und Film. Austria 1918 and the Aftermath History, Literature, Theater, and Film
 9783205119050, 9783205782445

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böhlau

Literatur und Leben Neue Folge Band 76

Österreich 1918 und die Folgen Geschichte, Literatur, Theater und Film Austria 1918 and the Aftermath History, Literature, Theater, and Film

Herausgegeben von Karl Müller und Hans Wagener

Böhlau Verlag W i e n ' Köln' Weimar

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg, des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.ddb.de abrufbar. I S B N 978-3-205-78244-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2009 by Böhlau Verlag Ges. m. b. Η und Co. K G , Wien · Köln • Weimar http .-//www.boehlau.at http ://www.boehlau.de

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Prime Rate kft., 1047 Budapest

Inhalt

Vorwort

7

Peter Loewenberg Austria 1918: Coming to Terms with the National Trauma of Defeat and Fragmentation

11

Be'la Räsky Erinnern und Vergessen der Habsburger in Osterreich und Ungarn nach 1918

25

Robert Weigel „Um diese Zeit ist vieles hoffnungslos und krasser«: Das Schicksalsjahr 1918 als Kulmination und Fortsetzung des Brochschen Wertevakuums

59

Helga Schreckenberger Literarische Reaktionen zur ostjüdischen Zuwanderung nach 1918

71

Wolfgang Nehring Fronten ohne Front: Zur späten Analyse des Novembers 1918 durch Franz Theodor Csokor - in Dritter November 1918

89

Evelyn Deutsch-Schreiner „Es war, als würde Utopia Realität werden.« Wien 1924: Schnittstelle von Entwicklungen in den Darstellenden Künsten

103

Karl Müller „Inflation«: Literarische Spiegelungen der Zeit

123

Maria-Regina Kecht Weltgeschichte in Erinnerung: Kriegsgeschehen in den Texten von Bettina Baläka und Helene Floss

147

6

Inhalt

Fatima Naqvi Postimperiale und postnationale Konstellationen in den Filmen Michael Hanekes

165

Robert von Dassanowsky Finis Austriae, vivat Austria! The Re/Vision of 1918 in Austrian Film

179

Die Beiträger/innen und Herausgeber Personenregister

197 201

Vorwort

Die kulturwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren das Ende des Ersten Weltkrieges als Epochenschwelle, als gewaltigen »Einhieb von 1918«, der schließlich eine prinzipielle »Veränderung im Grundgeflechte« (Heimito von Doderer) Österreichs und Europas zur Folge haben sollte, verstärkt in ihren analytischen Blick genommen. Zunehmend wird nach den historischen Tiefendimensionen gefragt, ζ. B. nach den Vorgeschichten der bedrängenden Entwicklungen seit 1933/1934 (Ende der Ersten Republik, Beginn des autoritären Bundesstaates Osterreich) und 1938 (Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland) bzw. generell nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten dieser epochalen Umwälzung von 1918 bis zur Gegenwart, in der ein neues Europa im Entstehen ist. Z u Beginn der i98oer-Jahre dokumentierte der von Franz Kadrnoska herausgegebene und mit einem trefflichen Titel versehene, umfangreiche Sammelband die Kulturen der österreichischen Zwischenkriegszeit in ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit: Auflruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938 (1981). Friedrich Achbergers großes kultur- und literaturhistorisches Projekt zur Epoche nach 1918 konnte wegen des frühen Todes des Autors zwar nicht vollendet werden, aber wichtige Teile dieser grundlegenden Forschungsarbeit wurden 1994 unter dem Titel Fluchtpunkt 1938. Essays zur österreichischen Literatur zwischen 1918 bis 1938 von Gerhard Scheit herausgegeben. Weitere Arbeiten, die die Zeit nach 1918 in den Mittelpunkt des Interesses rücken und nach 2000 publiziert wurden, sind etwa Wendelin SchmidtDenglers gesammelte Aufsätze Ohne Nostalgie (2002), weiters Primus-Heinz Kuchers Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil Literatur und Kultur im Osterreich der Zwanziger Jahre (200 7), was - inzwischen als umfangreiches österreichisches Forschungsprojekt - nicht zuletzt eine kritische Revision des Text- und AutorinnenKanons unternehmen will, oder auch ein neuerer, von Helga Mitterbauer und Szilvia Ritz herausgegebener, kulturwissenschaftlich orientierter Sammelband zur Erkundung kollektiver und individueller Identität in Österreich und Ungarn nach 1918 (2007). Unser Sammelband enthält die Vorträge einer interdisziplinären Konferenz, die zu diesem vielfältigen Thema im Frühjahr 2008 von den germanistischen Seminaren der Universität Salzburg und der University of California, Los Angeles ( U C L A ) gemeinsam in Los Angeles abgehalten wurde. Die im vorliegenden Band abgedruckten Vor-

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Vorwort

träge der Konferenzteilnehmer aus Österreich und den U S A spannen einen weiten Bogen, sind unterschiedlichen Gegenstandsbereichen, Erkenntnisinteressen und Methodologien verpflichtet. Die Bewältigung des Traumas von Niederlage und Zerschlagung des Habsburgerreiches wird sowohl aus historiographischer als auch literatur-, theater- und filmwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet. Die Gemengelagen von Kontinuität und Neubeginn, Bewahrung und Aufbruch, Rückschau und utopischem Ausblick, Tradition und Avantgarde nach 1918 werden an vielen Beispielen exemplarisch analysiert. Der inhaltliche Bogen wird bis in die Gegenwart gespannt. Peter Loewenberg, Historiker und Psychoanalytiker, geht es um die Bewältigung des nationalen Traumas von Niederlage und Zerteilung des Habsburgerreiches. Dabei geht er den politischen und mentalen Gründen für den Zerfall des Habsburgerreiches nach (ζ. B. Nationalitätenproblem, Demoralisierung an den Fronten und auf den Schlachtfeldern, politische Ordnungsvorstellungen) und spannt einen weiten Bogen zu den bestimmenden Entwicklungen im Kleinstaat Osterreich nach 1918 unter Berücksichtigung der Südtirol-Frage. Bela Räsky befasst sich detailliert mit den in den beiden Nachfolgestaaten Österreich und Ungarn so unterschiedlichen Geschichts-Erzählungen über das gemeinsame Vielvölkerreich, wobei jeweils und besonders ihre konkreten politischen und geistigen Funktionen im Aufbau der beiden Gesellschaften sowohl nach dem Ersten als auch dem Zweiten Weltkrieg in den Blick kommen. Räsky entwickelt seine Thesen induktiv aus unterschiedlichen Quellen der Hoch- und Popularkulturen der beiden Länder und kann so die ideologischen Fundamente der in beiden Ländern so heftig betriebenen Geschichtskonstruktions-Arbeiten darstellen. Mit den literarischen Reaktionen auf die ostjüdische Zuwanderung in Wien beschäftigt sich der Beitrag von Helga Schreckenberger. Auf der Folie der neuen sozialgeschichtlichen Entwicklungen nach 1918 zeigt sie anhand von literarischen Texten verschiedener Genres aus der Feder von Hugo Bettauer,Joseph Roth und Franz Werfel, wie die in der Literatur thematisierten Ostjuden Wiens nicht zuletzt im Zuge der zunehmend bedrängenden zeitgenössischen Einwirkungen des biologistischen Denkens zum Anlass genommen werden, jüdische Identitäts- und Existenzmöglichkeiten zu erkunden. Wolfgang Nehring nimmt sich eines freilich nur auf den ersten Blick bekannten Theaterstücks Franz Theodor Csokors an, seines Dramas j . November 1918 (geschrieben 1935/36, Uraufführung 1937 am Burgtheater). Nehring liefert dabei eine detaillierte Rezeptionsgeschichte, fragt nach vergleichbaren geistigen Haltungen und Selbstverständnissen in der Zeit, etwa bei Hugo von Hofmannsthal und Anton Wildgans, und bietet

Vorwort

9

eine präzise und kritische Analyse des theatralen Textes, dessen prägender Modus jener von Verlust und Trauer sei. Aber auch Csokors poetisch-ästhetische Kapazitäten werden einer kritischen Betrachtung unterworfen. Robert Weigel interpretiert das »Schicksalsjahr 1918 als Kulmination und Fortsetzung des Brochschen Wertevakuums«. Dabei berücksichtigt Weigel unterschiedliche Textsorten Brochs - Roman, Brief und Essay - und setzt sich mit Brochs Hoffnungen, Ängsten und Ideologemen auseinander: am Beispiel von Staatsorganisation, Diktatur, Führertum, Republik, Rätesystem, Revolution, Masse. Um die Theateravantgarden der Ersten Republik geht es in dem Vortrag von Evelyn Deutsch-Schreiner, der Grazer Theaterhistorikerin aus Wien. Das Jahr 1924 macht die Verfasserin als eine »Schnittstelle von Entwicklungen in den Darstellenden Künsten« aus, etwa am Beispiel neuer Theaterräume als visionäre Konzepte neuer Lebensmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang ist sie besonders an Friedrich Kieslers »Raumbühne« als zentralem Element der »Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik« im Rahmen des »Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien« (Herbst 1924) interessiert. Aber auch das neue »Theater ohne Zuschauer« von Jakob Levy Moreno oder Gertrud Bodenwiesers avantgardistische Leistungen im Bereich des Tanzes werden in ihren kulturhistorischen Kontexten analysiert. Der Beitrag Karl Müllers versucht, Beobachtungen zur Literatur nach 1918 von Friedrich Achberger und Wendelin Schmidt-Dengler weiterzufuhren. Die Erfahrung des Inflationären in vielen Bereichen des Lebens fand nämlich in einer großen Anzahl von literarischen und essayistischen Texten unterschiedlichster Qualität ihren Niederschlag und dürfte eine Art Grundbefindlichkeit der Zeit nach 1918 fassbar machen. Staatliche Organisation, ökonomische Verhältnisse, Lebensformen, Werte und Uberzeugungen, Traditionen standen zur Disposition. Texte u. a. von Joseph Roth, Stefan Zweig, Robert Musil, Hugo Bettauer, Rudolf Brunngraber und Robert Neumann in deren Auseinandersetzungen mit Erscheinungsformen des Inflationären kommen in den Blick. Maria-Regina Kecht macht sodann ein neues Kapitel des Buches auf und zeigt, wie intensiv sich zwei Autorinnen der Gegenwart überraschend, aber mit jeweils gut nachvollziehbaren Gründen, mit »1918« und dessen Folgen beschäftigen und dabei historisch glaubwürdige Zeitbilder entwerfen: Helene Floss mit ihrem Roman Löwen im Holz (2003) besonders im Gedenken an das Schicksal ihrer Großeltern in Südtirol, und Bettina Baläka im Roman »Eisflüstern (2006) als eine literarische Mahnung, dass 1918 nicht länger aus dem öffentlichen Bewusstsein von heute ausgeblendet bleiben möge. Maria-Regina Kecht analysiert die beiden Texte - »Weltgeschichte in Erinnerung« - sowohl hinsichtlich ihrer Qualität als faszinierende Erinnerungsnarrative, die

ΙΟ

Vorwort

oft Vergessenes ins Bewusstsein heben, als auch in Bezug auf ihre Aussagekraft über die weltanschaulichen Positionierungen dieser beiden jungen zeitgenössischen Autorinnen. In den zwei abschließenden Beiträgen geht es um Reflexionen des Jahres 1918 und des Danach im österreichischen Film, und zwar anhand von Filmbeispielen aus der Zeit unmittelbar nach 1918 bis zur Gegenwart. Während sich Fatima Naqvi auf »postimperiale und postnationale Konstellationen in den Filmen Michael Hanekes« seit den i97oer-Jahren konzentriert und diese in aktuellen interdisziplinären Diskursen über Erinnerung, Vergessen und Trauma kontextualisiert sowie die filmästhetischen Konstruktionen einer Ingeborg-Bachmann- bzw. Joseph-Roth-Vorlage analysiert (Drei Wege zum See, 1976 - Die Rebellion, 1993), bietet Robert Dassanowsky einen breiten Uberblick über die filmische Verarbeitung der Geschichte und des Endes der Monarchie seit den i92oer-Jahren - über die politischhistorischen Zäsuren der Jahre 1933/34,1938 und 1945 hinweg. Der breite Bogen reicht von nostalgischen Produkten rückwärtsgewandter Ideologie über nazistische Oster reich-Bilder bis hin zu den nach 1945 sowohl austriakisch-mythisierenden als auch entmythisierenden Filmen. Die Herausgeber Karl Müller, Hans Wagener

PETER

LOEWENBERG

Austria 1918: Coming to Terms with the National Trauma of Defeat and Fragmentation

The year 1918 in Austria is our center of gravity and the fulcrum for this conference and for my paper. But an axial year can, of course, not be comprehended in isolation. Therefore, to give events of 1918 context and coherence we will make brief expositions to the background of the Austro-Hungarian Monarchy, the nationalities question, and the consequences of the events of 1918 for the First and Second Republics. The Austro-Hungarian Empire, a multinational, polyglot, multi-ethnic and religious dynastic monarchy disintegrated and collapsed under the impact of a lost war in the fall of 1918. The House of Habsburg postulated a dynastic loyalty which was pre-national and which could not compete with the ascendant new nationalisms of the Czechs, Croats, Slovenes, Slovaks, Serbs, Jews, Ruthenians, Rumanians, Italians, Germans, and Poles. In the First World War these modern nationalisms tore the Austro-Hungarian state apart.

I. N A T I O N A L I T Y

No issue was more critical to the life of the Austro-Hungarian monarchy before the First World War than the problem of the nationalities and how to accommodate to them. The Austro-Marxists were far ahead of the German S P D in working with the nationalities question - they had to be. The issue of nationalism was the leading concern of Austro-Marxist theorists and one of the grounds on which they were challenged by the Bolsheviks, including a discerning essay by Josef Stalin, and the German and international Marxist left who ignored nationalism as a force and reduced issues of nationalism to changes in the economic means of production.1 A left Marxist, such as Rosa Luxemburg, who was herself Polish and Jewish, had no sensibility for nationalism as an autonomous political force. Surprisingly, this tunnel vision exists to this day. The ι

Hans Ulrich Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat: Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfragen in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Würzburg 1962.

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Peter Loewenberg

eminent Marxist historian Eric Hobsbawm (1917-) detests nationalism, therefore discounts its power and wishes it would disappear to the trash heap of history with other bourgeois institutions. This wish also determines his analysis. In 1990 he doubted »the strength and dominance of nationalism,« holding that it »will decline with the decline of the nation-state.. ..the phenomenon is past its peak.«2 Two decades ago Hobsbawm argued for nationalism as »a historic phenomenon, the product of the fairly recent past and unlikely to persist indefinitely.« The classic Austrian Social Democratic position on nationalities, enunciated at the party congress in Brünn [Brno] in 1899, called for a democratic federation of nationalities {Nationalitätenbundesstaat) with autonomous self-administration of national affairs by legislative chambers elected by equal and direct franchise. The party leader Victor Adler (1852-1913) doubted whether Renners ideas of personal choice were practical. Adler fought, unsuccessfully, to keep all the Socialist parties of the Empire in a unified party (Gesamtpartei).

2. K A R L RENNER ( 1 8 7 0 - 1 9 5 0 ) The Social Democrat who most systematically analyzed the nationalities question and proposed a comprehensive legal solution was Karl Renner (1870—1950).3 As early as 1899 he wrote Zur österreichischen Nationalitätenfrage and Staat und Nation. His work of 1902, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, offered a supra-regional personal definition of nationalism which is not bound to any territory.4 He envisioned

2

3

4

E.J. Hobsbawm, Nations and Nationalism Since iy8o: Programme, Myth, Reality. Cambridge 1990, pp. 182-183, and n. 22.This analysis prompted the New York Times to comment that Hobsbawm's »survey, conducted with the traditional Marxist loathing for anything so backward-looking, merely reveals nationalism's faults rather than proves that its emotions have lost their pulling power« (28 July 1990). In the 1970s Hobsbawm argued for nationalism as »a historic phenomenon, the product of the fairly recent past and unlikely to persist indefinitely.« E.J. Hobsbawm, Some Reflections on Nationalism. In: T.J. Nossiter, A. H. Hanson, and Stein Rokkan (eds.), Imagination and Precision in the Social Sciences London 1972, p. 406. Renners works on the nationalities question were published under pseudonyms because he earned his living as the librarian of the Austrian Parliament, i.e., as a government official. Peter Loewenberg, Karl Renner and the Politics of Accommodation: Moderation versus Revenge. In: P.L., Fantasy and Reality in History. New York 1995, pp. 119-141. Synopticus (pseudonym Karl Renner), Zur österreichischen Nationalitätenfrage. Wien 1899; Staat und Nation. Wien 1899; Rudolf Springer (pseudonym Karl Renner), Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Wien 1902.

Austria 1918

13

a dual nationality for each person, one the general state administration and the other a national administration of cultural affairs based on personal choice analogous to a religious confession. Belonging to a »nation« should be a matter of free choice which would, under Renners plan, be declared and enrolled in a nationality register in Wien. Thus each nation might constitute a majority in one area and a minority in others. He wrote in 1906: »We must organize the country according to two principles. We must put a double network on the map, an economic and an ethnic one. We must cut across the functions of the state. We must separate national and political affairs, we must organize the population twice, once nationally and once according to administrative requirements. In either case the territorial units will be different.«5

3. O T T O BAUER ( 1 8 8 1 - 1 9 3 8 ) Whereas Renner s approach was to the political and legal issues of nationality, Otto Bauer's focus was social and cultural.6 Bauer's book of 1907, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, was his most original contribution to socialist thought and the most lastingly significant of his writings. This book first made Bauer famous at age twenty-six. He elaborated on Renners nationalities program, but his definition of a nation was modern even by twenty first century standards. To Bauer, the nation was a community of fate (»Schicksalsgemeinschaft«), which he defined as »the collective experience of the same fate {gemeinsames Erleben desselben Schicksals.]« This common fate, in turn, shapes a commonality of character, and frequent intercourse demands a common language. Said Bauer: »Among people with whom I share a language, I also share intimacy.« To Bauer, the most important variable was a common history. It is this, he said, which determines all the other elements of a nation, such as territory, race, language, customs, religion, and finally the character of a people itself. A nation is the totality of the persons bound by a community of fate to a common character.7 5

Grundlagen und Entwicklungsziele

der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wien 1906, p. 208, as

quoted in Robert A . Kann, The Multinational Empire. Vol. 2. New York 1950, p. 159. 6

Peter Loewenberg, Austro-Marxism and Revolution: Otto Bauer, Freuds »Dora« Case, and the Crises of the First Austrian Republic. In: P.L., Decoding the Past: The Psychohistorical Approach. New Brunswick, N.J. 1996, pp. 161-204.

7

Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie.Wien

1907.1η: O.B., Werkausgabe. Vol.

I. Wien 1975, pp. 172,174,189. For a modern expression of this principle, where the author acknowl-

Peter Loewenberg

Η

It is significant that both Renner and Bauer were born and spent their childhood years in the Czech borderland of the Habsburg Empire. Renner was the youngest of eighteen children of a large Catholic peasant family in Moravia and learned Czech at home. Bauer's father was a prosperous Jewish textile factory owner in northern Bohemia. Otto learned Czech as a second mother tongue at home because both of his parents spoke it.

4 . D E C E P T I O N OF AUSTRIAN

THE

HOME FRONT DURING THE

WAR

I would like to trace with you the reactions to the war of one of Austria's major cultural figures, Sigmund Freud (1856-1939), whose three sons and son-in-law served in the Austro-Hungarian army. Freud was not immune to the intense passions that swept Europe in the late summer of 1914. As the war began Freud participated in the patriotic nationalism which inflamed the populace, including the political Left and the intellectuals, of all the belligerent countries. In the euphoric last days ofJuly 1914 he wrote to Karl Abraham in Berlin: »Zum ersten Mal in den letzten 30 Jahren fühle ich mich selbst als Österreicher; zugleich habe ich das Gefühl, dass ich diesem nicht allzu hoffnungsvollen Reich noch einmal eine Chance gebe. Die Moral ist überall ausgezeichnet. Auch der befreiende Effekt tapferen Handelns und das sichere Auftreten Deutschlands tragen wesentlich dazu bei.« [»For the first time in thirty years I feel myself to be an Austrian and feel like giving this not very hopeful Empire another chance. Morale everywhere is excellent. Also the liberating effect of courageous action and the secure prop of Germany contribute a great deal to this.«]8 Only three days later, on 29 July, Freud, ever the skeptic, asked Abraham: »Können Sie mir vielleicht sagen, ob wir in 14 Tagen halb beschämt an die Aufregung dieser

8

edges and cites the influence of Bauer, cf. Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communications: An Inquiry into the Foundations of Nationality. Cambridge, M A 1953, pp. 19-20,22,99. Freud to Abraham, July 26,1914, in Hilda C. Abraham and Ernst L. Freud (eds.),vi Psycho-Analytic Dialogue: The Letters ofSigmund Freud and Karl Abraham. New York 1965, p. 186.

Austria 1918

Tage denken werden?« [»Can you perhaps tell me whether in a fortnight's time we shall be thinking half ashamedly of the excitement of these days ...?«]9 Unlike most of Central Europe's intellectuals, for example Thomas Mann or Max Weber, Freud's early enthusiasm did not last through the first month of the war. Only three weeks after the outbreak of war, on 23 August 1914, Freud shared with Sandor Ferenczi (1873-1933) of Budapest a piece of his self-analysis of this turn from nationalist chauvinism to disillusionment with the war: »Der innere Vorgang ist der gewesen: Der Aufschwung der Begeisterung in Osterreich hat mich zunächst mit fortgerissen...hoffte ich ein lebensfähiges Vaterland zu bekommen, aus dem der Sturm des Krieges die ärgsten Miasmen weggeweht hätte und in dem die Kinder vertrauensvoll leben könnten. Ich habe wie viele andere plötzlich Libido für A[ustria]-U.[ngarn] mobilisiert....Allmählich stellte sich ein Unbehagen ein, als die Strenge der Zensur und das A u f bauschen von kleinsten Erfolgen....ich erlebe die Vergärung meiner Libido in Wut, mit der nichts anzufangen ist.« [»The inner process has been as follows: The rush of enthusiasm in Austria swept me along with it, at first ... I hoped to get a viable fatherland from which the storm of war had wafted away the worst miasmas and in which the children could live with confidence ... I suddenly mobilized libido for Austria-Hungary.... Gradually a feeling of discontent set in, [with] the strictness of the censorship and the exaggeration of the smallest successes ... I am experiencing the ferment of my libido into anger, which I can't begin to deal with.«] 10 By December 1914 Freud was writing to Frederik van Eeden in Holland of his bitterness at the atmosphere of pervasive lying propagated by governments: »Und nun blicken Sie auf die Vorgänge dieser Kriegszeit, auf die Grausamkeiten und Rechtsverletzungen, deren sich die zivilisiertesten Nationen schuldig machen auf die verschiedene Art, wie sie die eigenen Lügen, das eigene Unrecht und das 9

Freud to Abraham, July 29,1914, Ibid.

10

Freud to Ferenczi, August 23,1914. In: Ernst Falzeder and Eva Brabant (eds.), Sigmund

Freud-Sän-

dor Ferenczy. Briefwechsel. Vol. II/2, Wien etc. 1996. Ernst Falzeder and Eva Brabant (eds.) with the collaboration of Patrizia Giampieri-Deutsch; under the supervision of Andre Haynal; transcribed by Ingeborg Meyer-Palmedo; translated by Peter T. Hoffer; introduction by Axel Hoffer, The Correspondence of Sigmund Freud and Sandor Ferenczi, 1914-1919, Vol. 2. Cambridge, M A 1996, # 498, p. 13·

ι6

Peter Loewenberg

der Feinde beurteilen, auf die allgemeine Einsichtslosigkeit, und gestehen Sie mir zu, dass die Psychoanalyse ... recht gehabt hat.« [»Just look at what is happening in this wartime, at the cruelties and injustices for which the most civilized nations are responsible, at the different way in which they judge of their own lies, their own wrong-doings, and those of their enemies, at the general loss of clear insight; then you must confess that psychoanalysis has been right ,..«]11 Freud wrote Zeitgemäßes über Krieg und Tod [»Thoughts for the Times on War and Death«] (1915), one of his most penetrating culture critical, but also in the deepest sense, political commentaries, in the second year of the war. He was appalled that the war revealed »das kaum begreifliche Phänomen zum Vorscheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere wenden kann.« [»an almost incredible phenomenon: the civilized nations know and understand one another so little that one can turn against the other with hate and loathing.«]13 Freud was disgusted by the hypocrisy practiced by governments and pointed to the suspension, indeed the reversal, of all the acquired moral values of civilization in wartime. Long before it became fashionable to debunk the »spin management« of media war coverage, Freud was subversive of the enthusiasms and self-righteous tunnel vision of chauvinistic nationalism. In the Austria-Hungary of 1915 this is a highly political statement which in the guise of science defied the wartime censorship: »Der kriegsführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Betruges gegen den Feind, und dies zwar in einem Maße, welches das in früheren Kriegen Gebräuchliche zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Ubermaß von Verheimlichung und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die Stimmung der so intellektuell Unterdrückten wehrlos macht gegen 11

Freud to van Eeden, December 28,1914. In Ernest Jones, The Life and Work of Sigmund Freud. Vol. 2:

12

Alexander Mitscherlich, Angela Richards, and James Strachey (eds.), Sigmund Freud: Zeitgemäßes

Years of Maturity: 1901-1919. New York 1955, pp. 368-369. über Krieg und Tod (1915). Studienausgabe. Vol. IX. Frankfurt/M. 1974, p. 39. [Hereafter Krieg und Tod. »Thoughts for the Times on War and Death,« (1915), In: S.F., Standard Edition. Vol. 14, pp. 273-300, quotation on p. 279. [Hereafter »War and Death.«]

Austria 1918

jede ungünstige Situation und jedes wüste Gerücht. E r löst sich los von Z u sicherungen und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll.« [»A belligerent state permits itself every such misdeed, every such act of violence, as would disgrace the individual. It makes use against the enemy not only of the accepted ruses de guerre, but of deliberate lying and deception as well — and to a degree which seems to exceed the usage of former wars. The state exacts the utmost degree of obedience and sacrifice from its citizens, but at the same time it treats them like children by an excess of secrecy and a censorship upon news and expressions of opinion which leaves the spirits of those whose intellects it thus suppresses defenseless against every unfavorable turn of events and every sinister rumor. It absolves itself from the guarantees and treaties by which it was bound to other states, and confesses shamelessly to its own rapacity and lust for power, which the private individual has then to sanction in the name of patriotism.«]13 Freud accurately predicted the dangerous consequences of the denial of losses and the inflated successes claimed by war propaganda. The German and Austro-Hungarian publics were not psychologically prepared for the disastrous defeat and its costs when the military collapse came in 1918, resulting in the projection of blame for the loss of the war on the Left and the Jews.

5 . T H E C O L L A P S E OF T H E D U A L M O N A R C H Y I N T H E

WAR

The decisive events that ended the Austro-Hungarian Empire occurred outside of Austria. The winter of 1917/18 was one of food shortages and deprivation in the Habsburg lands. On 14 January 1918 the flour ration was substantially cut. Ten thousand workers at the Daimler plant in Wiener Neustadt struck and others followed. 153,000 workers went on strike in Niederösterreich; 113,000 in Vienna; and 10,000 in the Styria. On 1 February 1918 the Fifth Habsburg Fleet, stationed in Kotor (Montenegro) mutinied. On April 10 1918 a Congress of the Oppressed Austrian Nationalities, consisting of Czech, Yugoslav, Polish, and Rumanian representatives, meeting in Rome, proclaimed their right of self-determination, denounced the Habsburg government as an obstacle to the free development of nations, and promoted the need to fight against it. 13

«War and Death,« (1915), Standard Edition. Vol. 14, pp. 2jewigen Wahrheiten< und Lehren aus der Geschichte (und dem Scheitern) denkt, so ist Osterreich — zumindest im 20. Jahrhundert - viel mehr von einem Denken in Brüchen geprägt, von Momenten, in denen man besser die Geschichte loslässt oder neu zusammensetzt. Ungarn hat dies nur in extremen Ausnahmefällen versucht und wurde letztlich doch immer von seinem Kontinuitätsdenken eingeholt. Dazu muss man natürlich wissen, dass Österreich ein Land ist, dessen Identifikationsfindung - im Gegensatz zu Ungarn - letztlich nicht über Geschichte abgelaufen ist, denn das wäre ein ungemein komplizierter, widerspruchsvoller Prozess gewesen. Österreich hat sein paradoxes Verhältnis zu seiner, nicht nur NS-Vergangenheit mit einer gewissen Ambivalenz, mit einer gewissen Schlamperei zu entlasten versucht; Ungarn ist - penibel die Geschichte auf- und abrechnend - in seiner Vergangenheit, nicht nur der habsburgischen, immer wieder stecken geblieben. 1918 stürzten sowohl Österreich als auch Ungarn in eine tiefe Krise. Während sich aber Österreich von Grund auf neu definieren, seine Geschichte neu schreiben musste (und daran vorerst auch scheiterte), konnte Ungarn seine Traditionsstränge behalten: Der Friedensvertrag von Trianon 1920 war sicherlich eine Tragödie, allein an der Substanz einer nationalen, über die Geschichte definierten Identität rührte er kaum. Im Gegenteil, er verstärkte das historische Denken sogar noch, schloss eine Epoche nicht ab, sondern war nur die Initialzündung für den weiteren Kampf um die Geschichte: Trianon machte Ungarn erst wirklich geschichtsobsessiv.

2

Vgl. dazu: Gernot Heiß, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus. In: Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edit Saurer und Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfahrige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 his 1945. Wien 1989, S. 39-76.

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918 I. Ö S T E R R E I C H

NACH 1918: HABSBURG

27

UNPLUGGED

1938 schrieb Karl Renner in seinem, sich den Nationalsozialisten so anbiedernden Werk Die Gründung der Republik Osterreich, derAnschlufi und die Sudetendeutschen rückblickend: »Die österreichisch-ungarische Monarchie, ihre Größe und ihr Verfall sind in diesen zwei Jahrzehnten beinahe zur verklungenen Sage geworden. Unglaublich, wie rasch im Bewußtsein der Mitwelt eine Großmacht untergegangen ist, die durch Jahrhunderte die Welt beherrschte.«3 Mag auch die Präsenz der Habsburger in der Literatur, in erster Linie der Kolportageliteratur oder dem frühen Film, oft das diametrale Gegenteil vermitteln, politisch war die Monarchie tatsächlich rasch vergessen. Selbst jene Literaten, die heute unter den großen Habsburgnostalgikern figurieren, schrieben habsburgfeindliche Texte: Joseph Roth polemisierte gegen die Dynastie, 4 Anton Kuh bemerkte lakonisch: »Was gestorben ist, hat tot zu sein«,5 und Robert Musil hielt fest: »Die Rede von der österreichischen Kultur, die auf dem Boden des nationalen Mischstaates stärker erblühen sollte als anderswo, diese so oft beteuerte Mission der sancta Austria, war eine niemals bewahrheitete Theorie.«6 Natürlich: Die Entzauberung war vielleicht nötig - wie Claudio Magris schreibt - , »um das Feuer der echten Verzauberung anzufachen, die nicht leeres, künstliches Gerede bleibt.«7 Aber dazu kam es erst später. Der Bruch war radikal: Sozialdemokraten — auch wenn sie bis 1918 an einer Reform der Monarchie mitgedacht hatten, ihre Auflösung ihnen gar nicht in den Sinn gekommen war - und Deutschnationale hatten ein klares Zukunftsbild, und auch die Verklärung der Monarchie seitens der Konservativen war gemäßigt bzw. bezog sich auf einen Großstaat, aber nicht unbedingt auf jenen der Habsburger. Ein Blick in die Memoirenliteratur bezüglich der Monarchie zeigt, dass — einerlei, ob die Habsburgermonarchie von den >Alt-OsterreichernNeu-ÖsterreichernAltenNeuennatürlich< im Vielvölkerreich hatte, von diesem geschaffen worden war und damit zu einer supranationalen Sendung, zum Großstaatsmenschen berufen war. Anton Wildgans hatte diesen bereits 1929 in seiner Rede über Österreich0 beschrieben, Oscar H. Schmitz in seinem aggressiv verklärten Der österreichische Mensch. Anschauungsunterrichtßir Europäer; insbesondereßir Reichsdeutsche,31 Leopold Andrian in seinem Österreich im Prisma einer Ideei2 oder Oskar Benda in seiner kulturkundlichen Einleitung zum Band Das Herz Europas. Ein österreichisches Vortragsbuch.33 Allein dieser österreichische Mensch blieb doch immer der Untertan, trug das alte Herr-Diener-Verhältnis der Monarchie in sich, wurde nie zum mündigen Bürger (erklärt). Und trotz aller Berufung auf die universalen Reichstraditionen blieb der Ständestaat, ohne die austrofaschistische Diktatur verniedlichen zu wollen, doch nur ein provinzieller Kleinstaat, oder, wie es Franz Theodor Csokor formulierte, der Ausdruck für die »Verwaldung Wiens.« 34 »Die neuen Regierenden erscheinen mir zu >schollenhafthistorische< Rechte, die eine Argumentationsbasis für Rückforderung verlorener Territorien bilden konnten.«40 Auch die politischen Plakate der Zeit zeigen, wie Ungarn seine traditionellen Kontinuitätsstränge nicht vollständig kappen konnte: Fast alle Plakate der Zeit, die die Republik fordern oder hochleben lassen, zeigen irgendeine stilisierte Monarchenkrone, aber niemals die symbolbeladene ungarische Stephanskrone. Diese scheint als Zeichen legitimer Entwurf des Plakatkünstlers Mihäly Biros für eine Herrschaft im kollektiven Gedächtungarische Ausgabe von Karl Kraus' Werken

BVCSUXTAIU

38

Vgl. Gergely Romsics, S. 176-188.

39

Moritz Csäky, Historische Reflexionen über das Problem einer österreichischen Identität. In: Herwig Wolfram und Walter Pohl (Hrsg.), Probleme

der Geschichte

Österreichs

und ihrer

Darstellung.

Wien 1991, S. 29-47; hier S.36. 40

Gabor Ujväry, Die Wiener Epoche der ungarischen Geschichtsschreibung. In: Helga Mitterbauer und Szilvia Ritz (Hrsg.), Kollektive Ersten

und individuelle

Weltkrieg. Wien 2007, S. 193-206; hier S. 195.

Identitäten

in Osterreich

und Ungarn

nach

dem

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918

37

nis des Landes so fest verankert, 41 dass sie offensichtlich auch 1918/19 nicht verunglimpft werden konnte. Die Plakate sind gewissermaßen die visuelle Auflösung der Hypothese, wonach die Ungarn auch im Neubeginn mit der Vergangenheit nicht wirklich brechen konnten. Ungarn kannte und kennt ja zwei große Geschichtskulte: jenen um den Staatsgründer Stephan den Heiligen und jenen um die Revolution 1848. Zweimal sollte jener um den Heiligen Stephan mittels des anderen großen Geschichtskultes eliminiert werden42 - und sowohl 1918/19 als auch 1945 stehen dabei fur den Versuch eines radikalen Neubeginns: Mit der Ausrufung der Republik(en) sollte gleichsam ein zweiter März anbrechen, die Geschichte in einer eschatologischen Erwartung endlich zu ihrem Ende kommen. 1919 wurde der 15. März zum Festtag der ungarischen Volksrepublik erklärt, womit das republikanische Ungarn die i848er-Tradition, die Entmachtung des Hauses Habsburg zum Grundstock seiner Existenz erklärte. Antihabsburgisch war auch die symbolische Umdeutung des öffentlichen Raumes: Plätze und Straßen wurden auf Initiative des Schriftstellers Gyula Krüdy43 umbenannt, die Denkmäler der dualistischen Epoche gestürzt, die Statuen der Habsburger, darunter jene Franz Josephs am Millenniumsdenkmal sogar zertrümmert.44 Die im März 1919 an die Macht gekommene Räterepublik setzte noch viel mehr auf die Symbolik eines Neubeginns: Der 1. Mai sollte nun den radikalen Bruch mit den traditionellen Geschichtskulten auch visuell umsetzen. Die Stadt wurde - bezeichnenderweise mithilfe von Pappmacherequisiten, als hätte man gewusst, dass es sich nur um ein Provisorium handeln kann - neu möbliert, die Denkmäler der alten Systeme verhüllt, der proletarische Internationalismus und die Weltrevolution in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten gestellt. Folgerichtig wurde der 1. Mai zum Gedenktag der Einheit des revolutionären Weltproletariats erklärt. Die Internationalisierung des Maikultes lief auf eine Auflösung der - oder beider - Nationalgeschichten hinaus. Gyula Krüdy kommentierte in seinem Die Geschichte muss neu geschrieben werden! später: »Vielleicht wird endlich das Geschichtsbuch erscheinen, auf dessen Blättern wir

41

Cornelia Grosser, Sändor Kurtän, Karin Liebhart und Andreas Pribersky, Genug von Europa. Ein

42

Arpäd von Klimo, Nation, Konfession, Geschichte. Zar nationalen Geschichtskultur Ungarns im euro-

Reisejournal aus Ungarn und Osterreich. Wien 2000, S. 155. päischen Kontext (1860-1948). München 2003, S. 185. 43

VÖrös Boldizsär, Kärolyi Mihäly ter, Marx-szobrok, feher Ιό. Budapest szimbolikus elfoglaläsai 19181919-ben [Mihäly Kärolyi-Platz, Marxstatuen, weißes Pferd. Die symbolischen Besetzungen Budapests 1918/19]. In: budapesti negyed, 3-4/2000, S. 67-89; hier S. 68.

44

Andräs Gero, Der Heldenplatz, Budapest als Spiegel ungarischer Geschichte. Budapest 1990.

Bela Risky

38

unseren in Mythos und Pedanterie zu Stein erstarrten, in ferner Nacht zu schreckenerregenden Statuen gewordenen Vorfahren in ihrer wahren, schwächlichen oder harten, aber menschlichen Gestalt begegnen können.« 45 Krüdy gilt ja - und seine Worte »Wir alle sind [...] mit Franz Joseph gestorben«46 unterstreichen dies nur - als einer der großen Nostalgiker der ungarischen Literatur bezüglich der Monarchie. 47 Inzwischen werden aber auch mehr und mehr »Aspekte seines Werkes erschlossen, die solche Annäherungsweisen hinterfragen und den Autor als einen durchaus modernen, die ungarische Prosaliteratur der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit erneuernden Schriftsteller herausstellen, die durch bestimmte narrative Eigenarten seiner Texte den vermeinten nostalgischen Ton, ihn eben fragwürdig machend, erzähltechnisch durchbricht.«48 Nach dem Sturz der Räterepublik sollte aber auch das autoritäre Horthy-Regime, das das Königreich Ungarn zwar restaurierte, die alten historischen Verbindungen zu den Habsburgern aber doch nicht mehr so direkt herstellen. Zwar bezog es sich in vielem - ebenso wie der Ständestaat - auf diese, verhielt sich aber dennoch zu ihnen ambivalent: So wurde die Franz Joseph-Statue am Millenniumsdenkmal 49 - ein reines Symbol - wieder aufgestellt, die konkreten Restaurationsversuche König Karls IV. aber verhindert - und nicht nur auf Druck der Entente. Es war die Revision des Vertrages von Trianon, die Wiederherstellung des Königreiches Ungarn, die zur allumfassenden Staatsdoktrin erhoben wurde, und mit dem Propagandaruf »Nein, nein, niemals« wollte man zurück in die Zukunft oder besser: nach vor in die Vergangenheit. Die kultisch-rituellen Feierlichkeiten historischer Persönlichkeiten oder Jahrestage 50 bzw. das konservative Geschichtsbild der Schulbü-

45

Gyula Krüdy, Die Geschichte muss neu geschrieben werden! In: Jozsef Farkas, Räterepublik und Kultur. Budapest 1979, S. 72-74.

46

Zitiert nach: György M . Vajda, Grablegung und Weiterleben der Monarchie in der ungarischen Literatur bis zur Mitte der 2oer-Jahre. In: Hungarian Studies 8/11993. Budapest, S. 83-97; hier S. 90.

47

Karl Markus Gauß, Die Wiederkehr des Monarchen. Oder wie die ungarische Literatur die Habsburger überwand. In: Neue Zürcher Zeitung, 25J26. März 2000, S. 49-50; hier: S. 49.

48

Magdolna Orosz, Monarchie im Gespräch - Wien in Budapest. Zur Erinnerungs- und Raumstruktur in Gyula Krüdys Meinerzeit. In: Amalia Kerekes, Magdolna Orosz, Gabriella Räcz und Katalin Teller (Hrsg.), Pop in Prosa in der deutsch- und ungarischsprachigen Moderne. Frankfurt a. M . 2007, S. 55-69; hier S. 56.

49

Katalin Sinko, Α toväbbelö historizmus. A Milleneumi emlekmü mint szimbolikus tärsadalmi akciok szintere [Der weiterlebende Historismus. Das Millenniumsdenkmal als Bühne symbolischer gesellschaftlicher Aktionen]. In: Anna Zädor (Hrsg.): Α Historizmus muveszete Magyarorszägon [Die Kunst des Historismus in Ungarn], Budapest 1993, S. 277-293.

50

Vgl. Miklos Szabo, Politikai evfordulök a Horthy-rendszerben [Politische Jahrestage im Horthy-

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918

39

eher51 zeigen, wie sehr die histori-

EZ IGYf

sche A r g u m e n t a t i o n wieder alles beherrschte: D i e Pflege oftmals erfundener Traditionen gehörte ebenso zu den Stützen des Systems wie im österreichischen Ständestaat. Reichsverweser Horthy ließ ζ. B. die A n g e hörigen der Armee mit sog. BocskaiMützen ausrüsten, was aber ebenfalls nur ein Ausdruck der A m b i v a l e n z gegenüber Habsburg war, steht doch für Bocskai jener siebenbürgische Heerführer des späten 16. Jahrhunderts, der, zunächst mit Kaiser Rudolf verbündet, dann gegen die Habsbur-

fUAQJA Α MAGYAR NSMIETI SXÖVETSSO , uiiNMYOMÄsa riLOS! Revisionistische Propagandaplakette nach dem Frie-

,

,,

rp.

densschiuss von inanon

ger für die Rechte der ungarischen Stände g e k ä m p f t hatte, also ein durchaus rebellisches Bild bezüglich der Habsburgermonarchie repräsen0 r tiert.

Auch die Umgestaltung zweier wichtiger Orte in der Hauptstadt diente der Verfestigung des neuen Staatskultes: A m Budapester Freiheitsplatz wurde das zentrale Mahndenkmal gegen den Friedensvertrag von Trianon errichtet, das sozusagen die Gebietsansprüche des Landes, die Wiederherstellung des Status quo ante in Stein meißelte, und mit seiner Gestaltung - vier Obelisken für die vier Himmelsrichtungen - durchaus Bezug auf den ungarischen König, also auch Habsburg nahm, der bei seiner Krönung ja schwört, das Land in alle Himmelsrichtungen zu verteidigen. Der Platz vor dem Millenniumsdenkmal wurde eine Totengedenkstätte des Unbekannten Soldaten, die ganze Anlage zu einem historischen Heldenplatz rekonfiguriert. Damit ergriff man »symbolischen Besitz vom Erbe der Monarchie und suchte darin eine historische L e gitimation ihrer Herrschaftsansprüche« 52 — allein eben ohne Habsburger.

System]. In: L . M . ( H r s g . ) , Λ ke't vildghdborü közötti Magyarorszdgrol [Uber das Ungarn der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen], Budapest 1984. S. 479-512. 51

Vgl. Mätyäs Unger, Α törtenelmi tudat alakuldsa közepiskolai törtenelemtankönyveinkben [Das Entstehen eines Geschichtsbewußtseins in unseren Geschichtslehrbüchern]. Budapest o. J.

52

Cornelia Grosser u. a., S. 234.

40

Bela Räsky

Aber ebenso wie der Austrofaschismus es verstand, moderne massenmediale Elemente in seine Propaganda zu integrieren, waren die politischen Kulte des HorthyRegimes medial gesehen nicht nur rückwärtsgewandt. Die Revisionspropaganda kann auch als ein durchaus modernes multimediales Massenspektakel gesehen werden,53 das alle Schichten und Bereiche des öffentlichen Lebens durchdrang: Von der Kreation ungarischer, nach verlorenen Städten und Landstrichen benannter Speisen, über die Ausgestaltung von Alltagsgegenständen, Feuerwerken,54 Filmen. Es gab in Ungarn fast nichts, das nicht an die Revision, an Groß-Ungarn erinnert hätte, und die Habsburgnostalgie, die eben mehr eine Nostalgie bezüglich des alten Ungarn war, war dabei bestenfalls nur eine Art Spin-off. Aber es gab auch eine zivile Gegenbewegung gegen diesen staatlichen Stephanskult, die aber wiederum die antihabsburgische 1848er Tradition, den heiligen Marx in den Mittelpunkt ihres Denkens stellte. Trianon und die Krise des ungarischen Staatsgedankens hatten eine Neuinterpretierung des politischen und historischen Mythos des Stephansreiches nötig gemacht, hatte sich doch dieser gegenüber dem ethnischen Nationsbegriff der Nachfolgestaaten als nicht konkurrenzfähig erwiesen. Die ethnische Nationskonzeption der literarischen und sozialreformerischen Bewegung der Volkstümler brach mit der staatsrechtlich-historischen oder kulturnationalen Tradition. Sie brach mit der gängigen Auffassung, die Ungarn seien eine große Nation, die aufgrund der frühen Staatsbildung prädestiniert sei, die anderen Nationen des Raumes zu fuhren und bot den Ungarn als kleiner Nation einen Platz unter anderen gleichen und gleichberechtigten kleinen Nationen an. Allein gegen den Revisionismus erwies sich keine Bewegung — sei sie literarisch oder politisch — immun. Als die beiden Wiener Schiedssprüche 1938 und 1940 Teile der Slowakei und Rumäniens wieder an Ungarn zurückgliederten, sollte selbst ein liberaldemokratisch eingestellter, bürgerlicher Schriftsteller wie Sändor Märai55 diesen Entscheidungen von Hitlers Gnaden zujubeln.

53

Ärpäd von Klimo, S. 248.

54

Akos Koväcs, Jätek a tüzzel [Spiel mit dem Feuer]. In: Mozgo Vi/äg (1999/8).

55

Vgl. dazu: Miklös György Szäraz (Hrsg.),/«/, hol α mültunk. A Trianon-jelenseg [Oh, wo ist unsere Vergangenheit. Das Phänomen Trianon]. Budapest 2005, S. 128-130.

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918 4. Ö S T E R R E I C H

NACH 1945: ZURÜCK NACH

41

OSTARRICHI

Nach 1945 war für Osterreich jede historische Kontinuität ein Störfaktor. Im Gegensatz zu Ungarn, das ja auf ein breites Reservoir an plausiblen und leicht abrufbaren historischen Gedächtnissen zurückgreifen konnte, um neue Kontinuitätsstränge herzustellen, waren in Osterreich solche Kontinuitäten mehrfach blockiert: Der Traum vom Reich, sei es deutsch oder katholisch-universal, war diskreditiert, die über eine eigene Sprache oder Ethnie definierbaren Stränge schwer herzustellen, und auch die antihabsburgische Tradition - weil im Kern großdeutsch - oder die Erste Republik - weil als gescheitert erachtet - boten keine positiv besetzten Ansatzpunkte. Dennoch versuchte Österreich anfänglich, seine neue Identität über die Geschichte zu finden. Die Zeit nach 1945 könnte man so auch als ein Experimentieren mit einer neuen großen historischen Erzählung betrachten: Die Frage nach dem Kern des Österreichertums, der österreichischen Geschichte, beherrschte dabei die Publizistik der wichtigen Zeitschriften. Die Geschichte wurde nun nicht nur einfach austrifiziert, sondern mehr noch: Sie wurde gewissermaßen >verkleinösterreichertReich der Unbegreiflichkeitenewigen Werte< der österreichischen Natur und Kultur, die pittoreske Landschaft, die musikalische Tradition oder die Volkskultur.«72 Es geht hier also gar nicht um die Re-Inszenierung von Geschichte, wie man auf den ersten Blick meinen würde, »sondern vielmehr um ihre absichtsvolle Devaluierung zum Gemeinplatz, zum Treppenwitz«,73 der dem Historischen letzdich nur ausweicht. Auch in den in den i95oer-Jahren so populären Habsburgerfilmen, die man als eine Art höfische Variante des Heimatfilms bezeichnen könnte, die ja an sich schon ein cineastischer Urlaub von Geschichte74 sind, entstand Geschichte quasi nur als Nebenprodukt, war sie nur die Kulisse fur die Landschaft, für die Heimat: Die Naturgeschichte wurde zur Geschichtsnatur. 7S Diese Filme lebten nicht »vom Fortgang der 69

Siegfried Mattl, Geschlecht und Volkscharakter. Austria engendered. In: Österreichische Zeitschrift ßir Geschichtswissenschaften 7,4 (1996), S. 499-515; hier S. 504.

70

Ernst Marboe, S. 16.

71

Michael Palm, Die Geburt der Nation aus dem Geiste der Operette. Musikalische Rhetorik am 1.

72

Ines Steiner, Kostümierte Interessen. Osterreichische Identität als Travestie in Wolfgang Liebe-

73

Ebd., S. 166.

April 2000. In: Ernst Kieninger u. a., S. 133-148 hier S. 135. neiners 1. April 2000. In: Ernst Kieninger u. a., S. 149-186; hier S. 159. 74

Hans Veigl, Hinter den Spiegeln: österreichische Identität. Zwischen Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn. Bemerkungen zur Konstituierung nationalen Selbstgefühls. In: Ernst Kieninger u. a., 1. April2000,

75

S. 225-298; hier S. 273.

Ines Steiner, Österreich-Bilder im Film der Besatzungszeit. In: Karin Moser (Hrsg.), Besetzte Bilder. Film, Kultur und Propaganda in Österreich 1945-55. Wien 2005, S. 203-255; hier S. 206.

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918

45

Geschichte, sondern vom Bilderbogen«:76 Das Zusammengehen »von habsburgischem Mythos und sozialpartnerschaftlicher Ästhetik scheint der österreichische Nachkriegsfilm perfekt zu illustrieren und bindet so die Geschichte, die erzählte wie die Historie, an den Mythos zurück.«77 Allein der Untertan blieb.

5. Ö S T E R R E I C H

NACH

I960:

HABSBURG (DIGITALLY)

RE-MASTERED

Aber die großen Habsburgerfilme der Zeit waren auch schon ein Vorgriff auf Kommendes, sie schufen eine entpolitisierte und enthistorisierte Version von Geschichte, »gleichsam die Pop-Version eines National-Epos, das mit einigen wenigen Figuren als Väter und Mütter Österreichs auskam.«78 In Osterreich schien damit ein Weg gefunden, »die Wirklichkeit abzuschaffen und in einem Traum zu leben«:79 Also durchaus etwas Ähnliches, was wir in der Erinnerung oder Aufarbeitung der Habsburgermonarchie in der Zeit unmittelbar nach 1918 bereits kennen gelernt haben, eine Methode, die es immerhin auch ermöglicht hatte, die oder eine Geschichte abzuschließen. Mit dem Panoptikum, diesem abgespeckten Umgang mit Geschichte, setzte man sich von der Last der Geschichte ab und dachte — wie es teilweise das austrofaschistische Konzept bereits vorbereitet hatte - in Bildern. Das Konzept Osterreich der Zweiten Republik argumentierte nicht, es präsentierte und erzählte oder zeigte - an der Schnittstelle zwischen den Ausläufern des untergegangenen alten Österreich und dem Pragmatismus einer Zukunft, die diese Relikte wirtschaftlich verwerten sollte80 - nur mehr Bilder.81 Dies aber entspricht wiederum jener alt-österreichischen, barocken Tradition mit ihrem Sinn für Theatralisierung und Visualisierung, der wienerischen Lust am Spektakel, der Bevorzugung der visuellen vor der intellektuellen Wahrnehmung. Doch auch in der Blüte der großkoalitionären Zweiten Republik gab es eine reale Präsenz des alten Österreich - vom Milieu bis zum Modell. »Es will aber auch schei-

76 77 78 79 80 81

Elisabeth Büttinger und Christian Dewald, S. 184. Andrea Lang, Franz Marksteiner, Im Schatten seiner Majestät. Überlegungen zum österreichischen Nachkriegsfilm. In: Blimp. Film magazine (Fall 1995), S. 27-30; hier S. 29. Georg Seeßlen, Sissi - Ein deutsches Orgasmustrauma. In: Zeitmaschinen. Geschichtsbilder im Kino. Frankfurt am Main 1991, S. 65-79; hier S. 68. Ebd., S. 68. Elisabeth Büttner und Christian Dewald, S. 319. Ernst Hanisch, Die Schaulust der Österreicher. In: Hans Heinz Fabris/Karl Luger (Hrsg.), Medienkultur in Osterreich. Wien, Köln, Graz 1988; hier S. 35.

46

Bela Räsky

nen, dass diese Präsenz in mancher Hinsicht bereits eine Schimäre war, in dem Maße vielleicht, wie der Österreich-Begriff, als solcher überzogen und aufgebläht, gleichsam fingiert war.«82 Aber erwähnt gehört hier auch, dass die i90oer-Jahre auch noch jenes Jahrzehnt waren, in der die franko-josephinische Ära noch heiß war, das Stochern in der Asche noch Aufregung auslösen konnte, obwohl sich auch schon der Ubergang zu einer durchaus grimmigen Auseinandersetzung mit einer anderen, virulenteren Vergangenheit bereits hier ankündigte: Gerhard Fritschs 1956 in Osterreich erschienenes Moos auf Steinen und sein 1967 in Deutschland erschienener Fasching markieren diesen vielleicht am besten. So konnte die televisionäre Aufbereitung von Joseph Roths Radetzkymarsch Ostern 1965 noch ein ganzes Land in hellste Aufregung versetzen (wie ein Jahr zuvor - in einem anderen Kontext - Qualtingers Herr Kart). Nicht weil Regisseur Michael Kehlmann keine Massenunterhaltung geliefert hatte, keine nostalgische Aufbereitung, »keine Familienunterhaltung, keine schnell heruntergedrehte Konfektionsware, sondern eigentlich einen Autorenfilm«, 83 sondern — so banal dies klingen mag — weil er einen greisen Herrscher im Nachthemd gezeigt hatte. Der Ausstrahlung folgten wochenlange Pressepolemiken, in die auch der damalige Doyen der österreichischen Literatur, Alexander Lernet-Holenia, eingreifen musste: »Die Verzeichnung der Figur des alten Kaisers ist nichts weiteres als die letzte Konsequenz aus der Veroperettisierung nicht nur des Kaisers selbst, sondern auch des Hofes und der ganzen Monarchie. [...] Die Totengräber der großen Erinnerung, die wir haben sollten, sind also, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie wir selbst.«84 Und noch 1964 konnte der bloße Einreisewunsch des Staatsbürgers und Sohns des letzten Kaisers, Otto Habsburg, eine veritable Staatskrise auslösen: Wiewohl inzwischen aber auch klar ist,85 dass das Ganze wenig mit Habsburg oder der Geschichte zu tun hatte, sondern vielmehr ein Versuch der S P Ö war, die Große Koalition zu sprengen, Möglichkeiten einer kleinen auszuloten - also vielmehr für eine Modernisierung der trägen innenpolitischen Kultur als für eine Nostalgie oder Gegennostalgie spricht. Aber bereits in den i97oer-Jahren gab Bruno Kreisky seine TV-Interviews mit Vorliebe 82

83 84 85

Georg Schmid,Die »falschen« Fuffziger. Kulturpolitische Tendenzen der fünfziger Jahre. In: Friedbert Aspetsberger, Literatur der Nachkriegszeit und derfünfziger Jahre in Osterreich. W i e n 1984, S. 7-23; hier S. 12. A r n o Russegger, Michael Kehlmanns Radetzkymarsch (1965). In: Modern Austrian Literature (1994/4). Special Issue: Austria in Film, S. 4 0 _ 59! h i e r S. 48. Alexander Lernet-Holenia, Kurier (27. April 1965), zitiert nach: Arno Russegger, S. 46. Vgl. dazu: Margareta Mommsen-Reidl: Die österreichische Proporzdemokratie und der Fall Habsburg. Wien, Graz 1976.

Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918

47

unter einem Porträt Josefs II. - knüpfte also durchaus selbst an monarchische Traditionen an, wenn auch reformerischen von oben, also dem Untertanen wohlwollenden. Während visuell und kulturell also Habsburg in dieser Zeit auf den verschiedensten Ebenen doch auch immer präsent blieb, war die wissenschaftliche oder politische Auseinandersetzung, das Argumentieren und Räsonieren über die Monarchie nicht die Sache einer österreichischen Öffentlichkeit: Den habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur beschrieb ein Italiener; das »von Hugo Hantsch 1952 begründete und noch heute von der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften betreute Großunternehmen einer Geschichte der Franz-Josephs-Zeit von 1848 bis 1918 wurde von der Rockefeller Foundation initiiert, die Darstellung der Kunst- und Baugeschichte der Wiener Ringstraße geht auf eine Initiative der deutschen FritzThyssen-Stiftung zurück«,86 und die modernen Fragen zu den staatlichen, sozialen und kulturellen Krisen, den Lösungsmodellen zur Multiethnizität des Reiches stellten bezeichnenderweise US-amerikanische Historiker, wie Carl Schorske oder William M . Johnston. Die österreichische Wiederentdeckung der Monarchie wurde eine Sache der Massen-, Pop- und Eventkultur der i98oer-Jahre, als es u. a. zu einer Reihe von Landesund Großausstellungen zum Thema kam. Angefügt gehört aber, dass diese Ausstellungen eben nicht die Bilder der Kultur der Monarchie waren, sondern vielmehr der Kultur der westlichen Reichshälfte, zudem des deutschsprachigen Teils der Monarchie, vielleicht sogar nur der Kultur Wiens:®7 Wien wurde damals eben wieder zu einer M e tropole, die sich ihre historischen und kulturellen Wurzeln suchte. Die kulturelle Entdeckung der nichtdeutschsprachigen Kulturen des Raumes ging aber schon wieder auf das Konto des bundesrepublikanischen Feuilletons. Wie sehr Osterreich zu dieser Zeit bereits das Kleinstaatskonzept der Zweiten Republik verinnerlicht hatte, seine monarchische Vergangenheit nur mythisch, visuell und gestalterisch für sich entdecken konnte, zeigt auch, dass das politische Konzept Mitteleuropas88 nicht hier, sondern in den Nachbarstaaten entwickelt wurde. Das Aufgreifen der Diskussion in Österreich dürfte wiederum mit innenpolitischen Interessen zusammengehangen haben, verschiedene - in erster Linie konservative - Kreise leiteten nun 86

Helmut Rumpier, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. In: Herwig Wolfram (Hrsg.), Österreichische Geschichte Österreichs 18041914. Wien 1997, S. 14.

87

Lajos Pok, E g y nosztalgia forräsai es fordulatai. A monarchia visszapillanto tükörben [Die Quellen und Wenden einer Nostalgie. Die Monarchie im Rückspiegel]. In: Euröpai Szemle (1997/4), S. 81-93.

88

György Konräd, Antipolitik-

Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt a. M . 1984.

48

Bela Risky

eine besondere Rolle Österreichs in dieser Region ab. Dies war unbewusst auch eine Vorbereitung der Rolle Österreichs fur die Zeit nach der Wende, die sich aber paradoxerweise mehr ökonomisch als kulturell zeigen sollte. »Mitteleuropa war eine Allroundmetapher geworden, die alles und sein Gegenteil behaupten konnte, nostalgische Rückständigkeit und emanzipatorische Ansprüche, Verschlossenheit und Offenheit, Fortschritt und Reaktion.«89 Inzwischen ist das Verhältnis zur Habsburgermonarchie - wie oft zur Geschichte überhaupt - zu einem beliebig zitierbaren Panoptikum geworden, das Außenstehenden und selbstreferentiell in allen möglichen Formen präsentiert werden kann, bis hin zu einem negativen, fast schon denunziatorischen Gossip verbreitenden Schwarzbuch der Habsburger,9° das wochenlang auf den Bestsellerlisten rangierte. Die Monarchie und das Reich ist so rückwirkend und etwas schlampig - wie es in einem ungarischen Diskurs übrigens (noch) unvorstellbar wäre - ein Teil der republikanischen Geschichte und modernen Nationswerdung geworden, am besten illustriert durch eine miniaturisierte Replik der in der Schatzkammer ausgestellten römisch-deutschen Kaiserkrone in einem Souvenirladen in der Wiener Innenstadt: »Krone des Heiligen Römischen Reiches — Österreich« steht in lakonischer und historisch falscher Einfachheit darunter; dies illustriert vielleicht jenes paradoxe Verhältnis »zur Vergangenheit, ohne die Präsentation der deutschen Kaiserkrone in einem Wiener Souvenirladen

Krem« d e s hl. fciimi.scbte R e i c h e s O s t e r l ciolt v . ;:'-.!·Um diese Zeit ist vieles hoffnungslos und krassere Das Schicksalsjahr 1918 als Kulmination und Fortsetzung des Brochschen Wertevakuums

Der Österreicher Hermann Broch befasste sich in seinem literarischen Schaffen - im Grunde überraschenderweise — weit weniger mit seiner Heimat als seine Zeitgenossen. Beispielhaft sei hier nur verwiesen auf Stefan Zweig und Joseph Roth.1 Dabei spielte beim einen die existenzbedrohende Erfahrung des Exils, beim anderen die fragile politische Situation anfangs der dreißiger Jahre die ausschlaggebende Rolle bei ihrem verklärenden Blick auf die lange dahinsiechende und dann doch fast urplötzlich verschiedene Habsburgermonarchie. Sie müssen infolgedessen jenes Jahr 1918 als schicksalhafter empfunden haben als Broch oder Robert Musil,2 dessen fiktiver zeitgeschichtlicher Abriss gerade die Jahre vor dem Untergang thematisiert und kritisch beleuchtet. Zumindest auf fiktiver Ebene behandelt dagegen Broch weder das Osterreich Habsburgs noch das der Republik oder des Anschlusses.3 Vielmehr verlagert er seine freilich auch auf Osterreich zutreffende Kultur- bzw. Epochenkritik auf Deutschland, da ihm dieses repräsentativer erscheint für jenen Zerfall der Werte, den er in den Schlussroman der Schlafwandler-^Tv'Aogiz gleichsam als roten Faden einflicht, in jenen Roman also, der das zum Thema stehende Schicksalsjahr 1918 im Titel trägt. Das Jahr 1918 kommt für ihn damit nicht nur in der Fiktion einer (ersten) Kulmination des auf das Mittelalter zurückgehenden Wertzerfalls gleich, sondern dieser erreicht hier gewissermaßen einen >NullpunktDie Schlafwandlern In: Paul Michael Lützeler et al. (Hrsg.), Hermann Broch, Visionary in Exile. The 2001 Yale Symposium. Rochester, N Y 2003, S. 107-124; besonders S. iigf. Paul Michael Lützeler, Hermann Broch. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1988, S. 335-37 betont, dass bei seinem Entwurf sowohl des »europäischen Panoramas« als auch der »politischen Situation in Osterreich Brochs Augenmerk [...] der Rolle des Bürgertums« galt. John Hargraves, Introduction. In: J. H. (Ubersetzung und Einleitung), Hermann Broch. Geist und Zeitgeist. The Spirit in an UnspiritualAge. New York, N Y 2002. S. XIII-XIV.

>Um diese Zeit ist vieles hoffnungslos und krasser
end< of the European world - its politics, its art, and above all, its values«11 darstellt, steht dennoch Österreich, vor allem aber die »fröhliche Apokalypse Wiens«, im Vordergrund, die im Ersten Weltkrieg und gleichsam im Untergang der Monarchie mündete. Das im 19. Jahrhundert zunehmende Dahinschwinden der an einen, und zwar den christlichen, Zentralwert gebundenen Glaubenshaltungen bedeutete, dass die so entstandenen »autonomen Einzelsysteme« begannen, nicht nur mit einander zu konkurrieren, sondern sich gegenseitig zu relativieren, ja aufzuheben. Dies führte sowohl in der Kunst und Kultur als auch in der Politik zusehends zu einem Wertevakuum. Ist, wie Broch argumentiert, »jegliches Wert-Vakuum [ . . . ] Revolutions-Anlass«, bedarf es zu ihrer Durchführung einer »Trieb-Entfesselung«, 12 wie sie schließlich, obschon

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Zu der Problematik, ob es sich im Kontext Österreich 1918 überhaupt um eine Revolution handelte, siehe Norbert Leser, Gab es 1918 in Osterreich eine Revolution? In: Wilhelm Brauneder und N. Leser (Hrsg.), Staatsgründungen 1918. Frankfurt a. M . etc. 1999, S. 9-26; und Hans Hautmann, Der November 1918 - eine Revolution? In: Isabella Ackerl und Rudolf Neck, Osterreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Protokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978, Wien 1986. S. 159-167. Michael Steinberg,Translators Introduction. In: M . S. (Ubersetzung, Kommentar und Einleitung), Hermann. Broch. Hugo von Hofmannsthal and His Time. The European Imagination, 1860-1920. Chicago 1984, S. 1. Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. In: Η. B., Schriften zur Literatur 1 (= Kommentierte Werkausgabe, Band 9/1) Frankfurt a. M . 1976, S. 144.

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Robert G. Weigel

auf gemäßigt-österreichische Art und Weise, am Ende des verlorenen Krieges stattfand. 13 Zunächst täuschte man sich freilich über das Vakuum durch Dekoration (und damit interdependent) Lebensgenuss hinweg. Obschon das Dekorative wie auch das hedonistische Element durchaus in die Musik- und Theatertradition Wiens passte, ist dekorative, auf Schönheit bzw. Verschönerung, also Dekoration um der Dekoration willen, ausgerichtete Kunst nie echte Kunst, sondern vielmehr Kitsch, der sich zum Einen in ihrem »Un-Stil« offenbart und zum anderen in der sich aus dem Dekorativitätswillen ergebenden »Museumshaftigkeit«: Jenes vor allem die Hauptstadt Wien kennzeichnende »Museale«, das zum »Verfallszeichen«14 Österreichs überhaupt wurde, beschränkte sich jedoch nicht nur auf das Geistig-Kulturelle, sondern fand sich auch im Politischen. In Geschichte und Tradition verankert blieb Wien auch nach 1848 eine »Barock-Metropole«, für die es aber keine im Absolutismus verankerte »Barock-Politik mehr gab«. Die Monarchie bzw. ihre Repräsentanz, die Krone, befand sich spätestens seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in ständigen Rückzugsgefechten nicht nur von außen (Preußen), sondern auch im Innern: Zum einen musste sie sich den sich freilich eher gemütlich vollziehenden Demokratisierungsbestrebungen widersetzen, zum anderen den nationalistischen Bestrebungen innerhalb des Vielvölkerstaates, die wesentlich zu dessen Auflösung beitrugen.15 Trotzdem war es aber der Krone zugefallen, jenem »auseinanderstrebenden Konglomerat von Autonomien und Halbautonomien [...] eine sichtbare, juristisch haltbare Einheit zu verleihen.«16 Ohne sie war das im Grunde nur vom Wiener Bürgertum, der (deutsch-alpinen) Bauernschaft und dem allerdings »despektierlichen« Adel getragene Staatsgebilde »substanzlos«. Doch stellten das Bürgertum und die Bauernschaft nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung dar, auch wenn im gesamtösterreichischen Reichsrat das Dreiklassenwahlrecht den österreichtreuen Parteien die Mehrheit garantierte. Und obschon es so nach 1861 zu einem »letzten Blütezustand« der Monarchie kam, war es dennoch eine »Scheinblüte«,17 da die Nationalitätenfrage das Staatsgefuge zum »Staats-Vakuum« aushöhlte. Da aber die Staatssubstanz von der Krone verkörpert wurde, wurde sowohl der »noch

13

Es sei angemerkt, dass auch der Kriegsausbruch Triebe freisetzt - Freud sprach im Zusammenhang

14

Hermann Broch, Hofmannsthal, S. 148.

mit dem Krieg vom »Triebleben in seiner Nacktheit«. 15

Lothar Höbelt, >Wohltemperierte Unzufriedenheit^ Osterreichische Innenpolitik 1908-1918. In: Mark Cornwall (Hrsg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Der erste Vielvölkerstaat im Europa desfrühen 20. Jahrhunderts. Essen 2. Aufl. 2006, S. 77: »Das Prinzip der nationalen Autonomie [...] bedeutete die Aufteilung der Monarchie auf ihre Völker.«

16

Hermann Broch, Hofmannsthal, S. 154.

17

Ebd., S. 161.

>Um diese Zeit ist vieles hoffnungslos und krasser